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_HD57j^23l898_^ Handbuch der allgeme
RECAP
HANDBUCH
ALLGEMEINEN CHIRURGISCHEN
PATHOLOGIE UND THERAPIE
ÄRZTE UND STUDIRENDE
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Dr. ALBERT LANDERER
A. O, rU01''E8S0R DEK CHIKUKGIE UND CIIIKURGISCHEM OBEKAJiZT AM KAUL-OLGA-KUANKENHAUSE
ZU STUTTGART.
ZWEITE, NEUBEARBEITETE AUFLAGE
MIT 480 ABmLDUNGEN IN HOLZSCHNITT
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Open Knowledge Commons
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HANDBUCH
ALLGEMEINEN CHIRURGISCHEN
PATHOLOGIE UND THERAPIE
ÄRZTE UND STUDIRENDE
Dr. ALBERT LANDERER
A. O. PKOFESSOR DER CHIRURGIE UND CHIRURGISCHEM OBERARZT AM KAKL-OLGA-KKANKKNII AUSI
ZU STUTTGART.
ZWEITE, NEUBEARBEITETE AUFLAGE
MIT 480 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT
WIEN UNI) LEIPZIG
URBAN & yCirWAKZENBKRG
IS'IS
r ^7
Alle Kechte vorbehalten.
DEM ANDENKEN AN
CARL LUDWIG UND WILHELM BRAUNE
GEWIDMET
Vorwort zur ersten Auflage,
Die folgenden Vorlesungen sind grössfeutheils aus Vorträgen vor
\ Studirenden verschiedener Ältersclassen hervorgegangen. Ein Theil derselben
2 ist erweitert, meist sind sie auf einen engeren Baum zusammengezogen.
Allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie kann in ver-
* schiedensfer Weise aufgefasst und vorgetragen tverden. Auch sind die
I Grenzen dessen, was darin aufgenommen werden soll, schwankende und
subjective. — Ich habe die Instrumenten-, Operations- und Verhandlehre
beschränkt in dem Gedanken, dass diese Fächer in der Praxis, vom
Studenten in der Klinik und in Cursen gelernt tverden sollen. Ich möchte __
cmch^jii^ht_j:ntfernfj^n_J^r^ objmnj>rak:_
tische Medicin aus Büchern allein lernen könne. Die 'unmittelbare An-
schauung und frische Auffassung ist gerade in unserem Fache wichtiger^
und erspriesslicher^als^Jrockene BilchergeleJirsamkeit^ Der Gedanke,
welcher mich bei der Abfassung dieses Buches leitete, war der Wunsch,
dem praktisch thätigen Arzte oder Studirenden den inneren Zusammen-
hang^ der Vorgänge verständlich zu machen, welche sich vor seinen AugeU
abspielen, und ihm die Ziele anzudeuten, die Regeln klar zu legen, nach
welchen er sein Handeln einzurichten hat. Wer lernt, sich stets die ganze
^Kettejvon ersterUrsache Hsziir letzten .Wh-kima klar^ zu machen^ nnrd
' in Diagnose, Therap)ie und Prognose nie fehlgehen; wer dies nicht fasst,
wird zeUlebensjin Jhcher BoutinierhMb&ji^
Die Chirurgie ist zwrZeit in einem mächtigen Vmbildungsprocrss
begriffen; sie will sich aus einer beschreibenden Disciplin, was sie bisher
gewesen, herausarbeiten zu einer erklär endenWissenschaft. Manche reizende^
und fesselnde klinisrhe Sch;iI(Teri(ng muss damit fallen; an ihre Stelle^
hat (dne u^miger blendende strenge logische Folgerung zu treten; diese 2
irird sich aberdem Lernenden imt~ganz and^^ Energie einprägen und i
Hin sicher dnrcli's Ldx'u begleiten, /renn reizroJIr lliii>srh>- liihhr Jäiif/st
rerflof/eit sl)/d.
VI Vorwort.
Mai ich er wird in diesem Buche zuviel J.ihysi()logiß_undJ[^atholggie
finden. Dies ist Geschmackssache. So'fl nhcr das Gebäude unserer Wissen-
schaft zu sicherer Höhe geführt werden^ so hedu/rf es einer breiten festen
Grundlage und diese ist — neben scharfer klinischer Beobachtung —
"cloch in letzter Linie die Kenntniss des normalen und pathologischen
Lebens j des normalen und pathologischen Baues unseres Körpjers. In
dieser Hinsicht kann nicht zuviel geschehen, und jede Wissenschaft,
welche zur Hilfe herangezogen werden kann, wird durch Erweiterung
und Vertiefung unseres Wissens und Könnens lohnen.
Leipzig, Juli 1889.
Prof. Albert Landerer.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die Fertigstellung der zweiten Auflage hat sich durch unvorher-
gesehene literarische und praktische Arbeiten über Gebühr verzögert.
Das Buch ist nach verschiedenen Richtungen hin ein anderes ge-
worden. Durch das Aufgeben der Vorlesungsform ist soviel Raum ge-
wonnen worden, dass die Gebiete der chirurgischen Praxis durch aus-
führlichere Behandlung der allgemeinen Operations- und Verbandlehre
wesentlich eriveitert werdenkonnten. Durch das freundliche Entgegenkommen
der Herren Verleger konnten die Abbildungen fast auf das Doppelte
vermehrt werden. Trotzdem ist es durch gedrängtere Fassung gelungen,
den Umfang des Buches nicht unwesentlich zu verringern. Den ganzen
Plan und die Anlage des Buches zu ändern, habe ich mich nicht eni-
schliessen können. Für ein wirkliches Verständniss der Allgemeinen
Chirurgie ist es unerlässlich , wo immer möglich, a,uf ihre Grundlagt.
die Allgemeine Pathologie, zurückzugehen und aus ihr die Folgerungeri
für die Praxis zu entwickeln.
Stuttgart, im, Januar 1898.
Prof. Albert Landerer.
Inhalts verzeichniss.
Seite
Einleitung 1
I . Capitel : Oertliche Kreislaufs- und Ernährungsstörungen 4
Anämie und Hyperämie 4
Thrombose. Embolie. Oedem 12
Entzündung 21
Brand. Eegressive und progressive Metamorphosen 41
II. Capitel: Die Bacterien 50
Bacterien und Protozoen 50
III. Capitel : Verletzungen 67
Wundheilung und Eegeneration 67
Verletzungen durch stumpfe Gewalt. Quetschung etc 90
Blutung und Blutstillung. Blutersparung 98
Allgemeinwirkungen von Verletzungen und Operationen (Ohnmacht, Shock,
Delirium etc.) 126
Störungen der Wundheilung. Äccid enteile Wuudkrankheiten 134
Chronische, chirurgisch wichtige Infectionskrankheiten 175
Wundbehandlung 185
Wundvereinigung 209
Verbrennung und Erfrierung etc. . . • 218
Narkose 229
IV. Capitel : Allgemeine Operations-, Instrumenten- und Verbandlehre 251
V, Capitel; Geschwülste 309
Allgemeines 309
Geschwülste bindegewebiger Natur 318
Epitheliale Nenbildnngeu 342
Allgemeine klinische Diagnose, Therapie und Prognose der Geschwülste . 373
VI. Capitel : Krankheiten der Haut und des ünterhautzellgewebes 384
yj J] Inhalfsvcrzcicliiiiss.
Seite
VII. Capitel: Krankheiten der Knochen und (Jelenke 399
Entwicklung und I5au des Knochensysteins, pjnlwiekliinfrsstijrungen . . 399
Knochenbrüclie 414
Verletzungen der Gelenke . 454
Schussverletzungen und Kriegschirurgie 47U
Entzündung, Eiterung und Nekrose der Knochen 482
Gelenkentzündungen 494
Tuberculose der Knochen und Gelenke- 517
Verkrümmungen und Orthopädie 534
Anhang.
Krankheiten der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel . 549
Krankheiten der Nerven 560
VIII. Capitel : Krankheiten der Blutgefässe 565
IX. Capitel: Krankheiten des Lymphsystems 579
Einleitung.
Das Gebiet der allgemeinen chirurgischen Pathologie und Therapie. — Die ätio-
logisch-pathogenetische und die klinische Betrachtungsweise der Krankheiten. —
Humoral- und Cellularpathologie.
Die einzige sichere Grimdlag-e , die imerlässliche Bedingimg' rich-
tiger ^Cl^jikenbehandlimg, ist die -genaue Kenntniss vom Leben und von
der" Ziisanimens^etzung unseres Körpers in gesundem und krankem
*^ustand. Die Lebensvorgänge im gesunden Organismus und die Gesetze
"ihres Geschehens lehrt die jPli^^iolp^i^ . Die Patho^g^ hat diese selben
Processs im veränderten, im kranken ^ustanded^Körpers zu schil-
dern. .A^CJigsefl beiden Griindpfeilern, Physiologie und Pathologie, riiht
_die Lehre von der Krankenbehandhmg,, die Therapie,, Nur wer stets
wieder auf die grundlegenden Fächer zurückgreift , wer ihre f'ort-
schi'itte mit wachsamem Auge verfolgt und bestrebt ist, ihre Errungen-
schaften für' die Erkenntniss und Behandlung von Krankheiten zu
verwerthen , kann zu wahren Fortschritten in der Kunst des Arztes,
Krankheiten zu heilen, gelangen.
" T)ie Krankheit ist eine Störung der Norm , der normalen
Functionen , des normalen Baues des Körpers und seiner Theile. Die
Methode, Krankheiten zu .betrachten, ist eine doppelte — entweder die
"atiologisch-pathogenetische oder die pathologisch-anatomische. Die einzig
riclitige ist die ätiologisch-pathogenetische. Man beginnt mit der Er-
"^rschung des Krankheitserregers, der ersten Causa morbi. Nun ken-
nen wir die chemischen und physikalischen Eigenschaften eines
bestimmten Krankheitserregers, einer Bacterienart oder einer chemischen
Sul)stanz , wie Alkohol , Quecksilber u. dergl. Ihre Wirkungen können
in genau abgemessener Form am Thierkörper studirt werden. Die hier
erlangten Erfahrungen werden auf den menschlichen Körper übertragen ;
allerdings nur mit strenger Kritik. Der menschliche Organismus hat
seina ^Besonderheiten, die man stets im^ Auge behalteii muss unddie^
"Versuche, Erfahrungen, ,_ die man am Thierköri)er oder im Keagensgl^.
gemacht hat.^. ohne Weiteres auf den menschlichen Körper zu. über-
tragen, hat oft zu schmerzlichen Enttäuschungen geführt. Kennt man
nun die ganze Krankheit von ihrer ersten Ursache bis zu ihrer letzten
Folge, ist eine ununterbrochene Kette von erster Ursache bis zur letzten
Wirkung hergestellt, so sind für die Frage der Krankenbehandlung die
Wege geebnet. Unter Zuhilfenalime unserer Erfahrungen aus Arzneiwissen-
schaft und Chirurgie suchen wir die unheilvolle Kette von .Sti>rungen, die
Laiiderer, Alls}, chir. Pathologie u. Thi!rai«ie. 'J. AuH. 1
2 P^inleituiig.
der Krankheitserrej^er veranlasst hat, an der günstigsten Stelle zu diireh-
brechen und die Genesung' anzubalinen.
Dies ist die grundlegende Idee der einzig berechtigten Auffassungs-
weise der Pathologie und Therapie, der ätiologiscli-pathogenetischen,
die gegründet ist auf die Kenntniss der letzten der Kranklieit zu
Grunde liegenden Ursache und ihrer Entstehungsweise. Leider besitzen
\ wir nur für wenige Krankheiten vollständige Kenntnisse über alle Be-
dingungen und Vorgänge, von der ersten veranlassenden Ursache bis
zur letzten gesetzten Wirkung.
Für die meisten Fälle müssen wir uns mit einer anderen, minder
A'Ollkommenen Betrachtungsweise begnügen. »Sehr häufig kennen wir nur
die letzte Wirkung , die bestehende Veränderung des Körpers , welche
^ wir als Krankheit am Krankenbette, oft sogar erst beim Zerlegen
i des Körpers nach dem Tode vor uns sehen. Die erste Ursache der
"Krankheit, der Anfang des Unheils bleibt uns verborgen. Können
wir nun auch nicht überall bis zum letzten Grunde dessen vor-
dringen, was vor unseren Augen liegt, so ist deshalb unsere Mühe
keineswegs verloren, das, was wir haben und wissen, möglichst genau
kennen zu lernen und zu durchforschen. Selbst wenn es weiter nichts
wäre, als das Vorhandensein dieser oder jener Veränderung des Kör-
pers festzustellen, zu messen, zuzählen, zu zeichnen u. s. w., auch ohne
jede Aussicht, zur letzten Ursache vorzudringen. Vielleicht mag später''
einem Anderen, der auf unseren Arbeiten fusst. gelingen, was uns
heute versagt blieb. Wir begnügen uns für diese Fälle mit dem klinischen
und pathologisch-anatomischen Studium der Krankheit.
So kann denn die Darstellungsweise der Krankheiten nicht durch-
w^eg eine einheitliche, gieichmässige sein. Bald sind wir in der glück-
lichen Lage, dieselbe vom ätiologisch-pathogenetischen Standpunkte aus
zu betrachten und zu erklären; bald müssen wir uns mit klinischer
Schilderung und anatomischer Erläuterung begnügen.
Wie die Art und Weise, eine Krankheit zu erforschen und zu
betrachten, eine verschiedene sein kann, so sind auch unsere Anschau-
ungen über das Wesen und den Sitz der Krankheiten nicht immer die
gleichen gewesen. Früher — im Alterthum und Mittelalter und bis in
den Anfang dieses Jahrhunderts hinein — suchte man die Ursaclie^
aller Krankheiten, allgemeiner und örtlicher, in einer Verderbniss dei^
'^den Kö'^rper durchziehenden „Säfte" — humores (Humoralpatholo-
'gie). Indem diese Flüssigkeiten sieb zersetzten, sich verdickten, bald
hier , bald dort in normwidriger Weise sich absetzten , sollten sie die
Krankheitsproducte hervorbringen und so die Krankheiten bedingen.
Wir sind heute von diesen hypothetischen und phantastischen Anschaii;^
ungen, welche mit unseren Kenntnissen der Anatomie und Physiologie
nicht mehr zu vereinigen waren, zurückgekommen. Durch die Entdeckung^
der Zelle und die ihr folgenden bahnbrechenden Untersuchungen haben
wir uns — gestützt auf die Arbeiten Virchotv's — auf den Boden der
„Cellularpathologie" gestellt. Wir legen jetzt das Hauptgewicht auf
die Veränderungen der deii Körper aufbauenden, festen und beweglichen
Zellen. Was wir unter einer „Zelle" verstehen, ihr Bau, ihre Eigen-
schaften und Verrichtungen , ist aus der Physiologie und Gewebelehre
bekannt. Je mehr sich unsere Kenntnisse iiber den feineren Bau der
Zelle erweiterrimd vertieft haben, umsomehr müssen wir diesen kleinsten
(I
Einleituns
3
^heilen unseres Organisjnus eine gewisse Selbstständigkeit, ge\Yisse oft
specitisclie Eigenartigkeit des Baues , ihrer Lebensvorgänge und Ver-
ji-ichtangen und damit auch die Fähigkeit zu erkranken zusprechen.
Von einer „Pathologie der Zelle", als Grundlage der ganzen Patho-
logie, sind wir aber noch ziemlicli weit entfernt , wenn auch einzehie,"^
nicht ganz erfolglose Versuche in." dieser "Richtung .schon gemäclit sfiid.
Meist betrachten wir die Zellen in ihrer Zusammenfassung liiit"^
gleichartigen, zu höheren Einheiten , in ihrer Gruppirung zu „Geweben"
und Gewebssystemen. Die Krankheiten der Gewebe und Gewebssvsteme
beruhen zumeist auf quantitativen und auch qualitativen Aenderungen
des örtlichen Stoffwechsels und Alterationen der die Gewebe bildenden
Zellen. Will man diese Störungen verstehen , so müssen vor Allem die
normalen Verhältnisse , die normalen Vorgänge , welche sich in den
Geweben abspielen, genau bekannt sein. Zu ihrem Verständniss muss
man stets wieder auf die Physiologie zurückgreifen.
.lu. neuester Zeit ist die Berechtigung einer rein cellularpathologischen Betrach-
tung der Krankheiten von verschiedenen Seiten in Zweifel gezogen worden. Die Unter-
suchungen vou\ß«c/i-«er, Eoux , Behring u. A. haben gezeigt, dass man die _Iininuni-
sirung gegen Infectionskrankheiten (Diphtlierie, Tetanus), dass man heilende Einwirlcungen
bei solchen Krankheiten erreichen kann durch vollständig zellenfreie Korpjrsäfte, beson-
ders durch Blutserum, auch' durch entzündliche Transsudate. Ehrlich \\At gezeigt, dass
^ie Milch immun gemachter Ziegen die Jungen immun macht. Andererseits kann man
durch das Serum kranker Thiere andere Thiere vergiften. Derartige Erfahrungen ohne
Weiteres ge^eu die Cellulai'patliologie zu verwerthen , erscheint nicht" geinhi iVrtii;-f.
''Man~3a:rf^ich't vergessen , dass die Köfpersäfte , welche diese wirksamen rhrmisrhen
Substanzen enthalten^ innerhalb des Körpers in innigster Wechselwirkung mit den
zelligen Bestandtheilen des Körpers stehen , und dass diese Stoffe vielleicht aus den
Körperzellen ausgelaugt oder durch Zerfall von Zellen entstanden sind. Wir kommen
"bei der Besprechung der Entzündung wieder hierauf zurück. Diese That'sachen erschütj
F tern die__ cellularpathologische Auffassung vorerst nicht, aber "si^ müssen mii"'"V'8F^m-
i'seifigeF tJeberschäfzung- des cellularpathologisclien Standpunktes warnen.*"" ^'' ■'-
1*
I. Capitel.
Oertliclie Kreislaufs- und Ernährungsstöruugen.
Die normalen Schwankungen des örtlichen Blutgehaltes. — Functionelle Hyperämie. —
Anämie. — Arterielle Hyperämie. — Stauungshyperämie.
Die Grundlage unseres chirurgischen Wissens und Handelns ist
die genaue Keniitniss des örtlichen Lebens, des Kreislaufes, der
Ernährung, des Stoffwechsels der einzelnen Gewebe, und der Ab-
änderungen dieser Vorgänge — der örtlichen Kreislaufs- und Er-
nährungsstörungen.
Die Abnahme des in einer bestimmten Zeit durch ein Organ
strömenden Blutquantums bis zur völligen Blutleere oder Blutlosigkeit
desselben ist Anämie, die Zunahme der durch ein Gewebe fliessenden
Blutmenge Hyperämie.
Der Blutgehalt eines Gewebes ist auch unter normalen
Verhältnissen nicht immer derselbe. — Die Ursachen dieser
Schwankungen in der Blutfülle der Organe sind schon in physiologischem
Zustande zahlreich und zum Theil ziemlich verwickelt. Es handelt sich
bald um Veränderungen an den Gefässen und Nerven , bald liegt die
bedingende Ursache im Gewebe selbst.
Die LicMung der Arterien ist bestimmt durch die Gefässmuskeln und Gefäss-
uerven. Die Gefässnerven werden von den Centren in der Medulla oblongata, durch
psychische Einflüsse oder reflectorisch auf heftige Reize an der Peripherie, Schmerz,.
Reizung gewisser Nerven, der Nierennerven, der Nerven der Genitalien, des Plexus
coeliacus u. dgl. erregt. Die — viel häufigere — Erregung der Vasoconstrictoren hat
eine Verengerung des Lumens und damit eine Verminderung der durchströmenden Blut-
nienge — locale Anämie — zur Folge. Seltener treten die Vasodilatatoren in Wirkung
und es erfolgt dann Erweiterung der Gefässe mit Vermehrung und Beschleunigung des
Blutstromes. — Chemische Veränderung des durchströmenden Blutes vermag unmittelbar
die Gefässmuskeln oder richtiger die in der Gefässwand liegenden eigenen nervösen,
gangliösen Apparate zu beeinflussen. So bewirkt ein mit Kohlensäure überladenes Blut
unmittelbar Zusammenziehung der Arterien , ähnlich wirkt Morphium. Andere Gifte,
Atropin, Chloral , haben eine Erweiterung zur Folge. Selbst die Capillarwand scheint
unabhängiger rhythmischer Bewegungen fähig.
Ein überaus wichtiger Regulator der örtlichen Blutmenge und Blutströmuug ist
das Gewebe selbst. Jedes Organ regelt seinen Blutzufluss nach seinem Bedarf. Ein
arbeitendes Organ empfängt ungleich viel mehr Blut , als ein ruhendes. Nach Ranke
beträgt der Blutgehalt der Körpermusculatur beim Kaninchen in der Ruhe 36°/o i ^"^
Tetanus 66% der Gesammtblutmenge. Es wird immer nur das eben arbeitende Organ
mit Blut hinreichend gespeist, in den anderen dagegen ist der Stoffwechsel so lange ent-
sprechend herabgesetzt. Energische Function eines Organes schliesst die gleichzeitige eines
anderen bis zu einem gewissen Grade aus. — Ein arbeitendes Organ setzt seiner Durch-
strömung weniger Widerstand entgegen , als ein ruhendes. Es ist dehnbarer , wie der
Anämie. 5
arbeitende Muskel leichter dehnbar ist , als der ruhende (E. H. Weber). Der elastische
Widerstand des functionirenden Gewebes gegenüber dem einströmenden Blut ist so ein
geringerer geworden, das Blut kann leichter und in grösserer Menge einschiessen. (Vgl.
Landerer, Gewebsspannung, 1884.) Ist durch die reichliche Blutdurchströmung das Ver-
brauchte wiederersetzt, so schwindet die „functionelle Hyperämie" wieder, wenn sie
ihren Zweck erfüllt hat.
Manche äussere Einwirkungen wirken ebenso auf die Gewebe, wie auf die Blut-
gefässe und in gleichem Sinne. Kälte reizt die Ringmusculatur der Arterien zur Con-
traction , sie modificirt aber zugleich die Dehnbarkeit der Gewebe. AVärme lähmt die
Vasoconstrictoren und macht zugleich das Gewebe dehnbarer (Roy).
Die Zeichen der Verminderung- des Blutgehaltes eines Organes,
■der örtlichen Anämie, sind nicht zu verkennen. Der Körpertheil,
z. B. ein Bein , ist blasser, als sonst , oder als das Glied der anderen
Seite, häufig spielt die Farbe noch etwas in's Bläuliche. Dabei ist das
Glied schlaff, welk, fühlt sich kalt an; die Function ist herabgesetzt,
es ist kraftlos, ermüdet schnell. Meist hat der Kranke selbst in dem
Theile das Gefühl der Kälte und Schwäche und oft recht lebhafte
Schmerzen. Drückt man mit dem Finger auf die Haut und verdrängt
•das Blut vor IIb ergehend , so kehrt die Blutfarbe nur zögernd wieder.
Nadelstiche, seichte Einschnitte bluten wenig oder gar nicht. — Gegen
äussere Einwirkungen sind blutarme Theile viel weniger widerstandsfähig.
Leichter Druck, unbedeutende Quetschungen, kurze Einwirkung massiger
Kälte, vermögen das Gewebe zu ertödten. Die so entstandenen Ver-
letzungen heilen schlecht und langsam. — Plötzliche absolute Blutleere
eines Theiles lässt bei einer gewissen Dauer des Zustandes nur einen
Ausgang übrig, sofortigen Tod des Theiles. Bei allmälig eintretender
Verminderung der Blutzufuhr ist eine Art „Gewöhnung" möglich und
der Theil vermag — unter Herabsetzung oder Aufhebung seiner Lei-
stungen — mit einem Blutquantum noch auszukommen , das bei plötz-
licher Aenderung nicht mehr genügen würde, das Leben zu erhalten.
In jedem Fall von Anämie ist die Ursache aufzusuchen.
Oft ist örtliche Oligämie — Verminderung des Blutgehaltes ein-
zelner Theile — nur Theilerscheinung allgemeiner Blutarmuth,
allgemeiner Anämie. Ein Blick auf die blassen Schleimhäute, das bleiche
Gesicht klärt über diese Beziehungen auf und man thut gut daran, sich
über die letzte Ursache dieser allgemeinen Blutarmuth zu unterrichten,
ob sie nur auf vorübergehender Störung der Blutbildung — wie Chlorose.
Blutverlust u. s. f. — beruht oder ihre Entstehung einer dauernden
schweren Krankheit — der Lungen, der Nieren, Krebskrankheit, einer
schweren Infection oder dgl. — verdankt.
Die mangelhafte Blutversorgung ist bei allgemeiner Anämie besonders in der
Peripherie, an Fingern und Zehen oder der Nase ausgesprochen. Diese Theile sind kalt,
es kommt hier leicht zu chronischen Blutstockungen, Geschwüren, selbst zum wirklichen
Absterben.
Verminderung der örtlichen l)lutmenge bei normalem 151 ut-
gehalt des Gesammtorganismus erzeugen alle diejenigen Momente,
welche den A\''iderstand in den zuführenden Arterien vermehren.
In rascher Weise erfolgt eine solche Widerstandszunahme durch
Contraction der Ringmuskeln der Arterien. VirrJioir hat diese
Form der örtlichen Anämie als ,.Ischämie'\ Blutverhaltung, bezeichnet,
sonst wird sie wohl auch „spastische Anämie" genannt. Am häuti-steii
ist Kälte die Ursache. Ferner wird sie durch nervi)se Einflüsse hervor-
,gei-ufen, z. B. bei Nervenschmerz. Hieher gehören auch die eigenthiiiii-
ß I. Capitel. — Oertliche Kreislaufs- uiid Eniähniiif^sstöruiigen.
liehen vasomotorischen und trophischen .Störunj^en , welche man mit-
unter nach Nervenverlet'/ungen beobachtet und „Glanzfinger^, ^lossy
fingers genannt hat. Die Haut ist verdünnt, wie narbig und glänzend.
Verwandt sind jene Zustände der peripheren Theile, die sich nament-
lich bei nervösen und blutarmen Personen finden und welche man als
locale Asphyxie bezeichnet. Finger und Zehenspitzen werden unter
lebhaften Schmerzen Stunden lang leichenblass , oder bläulich , kalt
und empfindungslos. Bei längerer Dauer der Blutverhaltung kann es
schliesslich sogar zum Absterben der Fingerspitzen (ganz oder theil-
weise) kommen, zur „symmetrischen Gangrän." Man hat hiebei echte
Nervenentzündungen und Veränderungen in den Centralorganen gefunden.
Manche Gifte, besonders das Mutterkorn (Seeale cornutum, Ergotin), veran-
lassen gleichfalls eine länger andauernde Zusammenziehung der Arterien. Auch diese
Form der Anämie kann schliesslich bis zum Absterben einzelner Tlieile führen. Wir
machen von dieser Eigenschaft des Mittels Grebrauch zur Stillung von Blutungen,
namentlich in inneren Organen, wo wir mit unmittelbar wirkenden Mitteln nicht bei-
kommen können.
Andere Processe, welche das Lumen der zuführenden Arterien
beschränken , führen gleichfalls zu Anämie , Blutgerinnung inner-
halb der Gefässe (Thrombosis), Verdickungen der Wand, welche
die Lichtung mehr und mehr verengen. Hier ist besonders die End-
arteriititis obliterans zu nennen. Auch sie kann schliesslich zur völligen
Verlegung des Lumens führen. Sie findet sich bei vorgeschrittener
Syphilis , aber auch bei anderen Zuständen chronischen Siechthums
und namentlich im Alter. Sie kann den Blutzufiuss besonders zu peri-
pheren Theilen bis auf's Aeusserste herabsetzen und so den völligen
Tod der Theile veranlassen (Gangraena senilis und marantica). — Wird
vom Blutstrom ein fester Körper, ein Pfropf, in die Arterie eines Theils
eingetrieben (Embolie), so hat dies dieselben Folgen, und das Schicksal
des Theils hängt dann lediglich ab von dem Verhältnisse des Pfropfs
zum Lumen des Gefässes (partiell oder total verstopfender Embolus) und
von der Möglichkeit der Herstellung eines Collateralkreislaufs.
Anämie ist ebenso die Folge, wenn die zuführende Pulsader
von aussen her zusammengedrückt wird. Absichtlich oder unab-
sichtlich herbeigeführt, beschäftigen solche Zustände den Chirurgen sehr
häufig. Wir drücken die zuführende Arterie mit dem Finger zu (Digital-
compression), um den Blutverlust bei einer Operation, einer Amputation
zu beschränken. Ebenso suchen wir bei Verletzungen durch passend
angelegte „Compressionsverbände" oder eigene Apparate („Touruiquets")
den Blutzufiuss und damit den Blutverlust zu beschränken. Höchst uner-
freulich dagegen ist es , wenn zu anderen Zwecken angelegte unnach-
giebige Verbände, wie Gypsverbände, Heftpflasterverbände durch ihren
Druck die Blutzufuhr eines Gliedes beeinträchtigen oder gar ganz auf-
heben. Druck von Geschwülsten, schrumpfende Narben von ringförmigen
Geschwüren ara Unterschenkel, können den gleichen Effect geben.
Dann wirken gewisse Stellungen des Glieds anämisirend,
besonders hohe Lage. Ein senkrecht erhobener Arm wird nach wenigen
Minuten blass, kalt, die Pulswelle niedriger. Zur Beschränkung des Blut-
verlustes bei Operationen und in der Behandlung von Entzündungen an
Arm und Bein machen wir von dieser anämisirenden Wirkung der hohen
Lage (Elevation) ausgedehnten Gebrauch. Spitzwinklige Beugung
der Glieder setzt den Blutgehalt durch Knickung der zuführenden
Anämie. 7
Arterie, gleichfalls erheblieh herab. Auch hievon ziehen wir zur Stillung
von Blutungen Nutzen (s. Blutstillung).
Zustände der Anämie finden sich ferner bei einer Reihe anderer
Erkrankungen, wo der Zusammenhang zwischen diesen und der Minde-
rung des Blutzuflusses nicht so unmittelbar deutlieh ist. So sind gelähmte
Theile stets anämisch (Kinderlähmung) ; ebenso Theile , die nicht in
gewohnter Weise gebraucht werden, Glieder , die lange in Verbänden,
namentlich Gypsverbänden, liegen. Missgestaltete Glieder, welche nicht
in normaler Weise benutzt werden können, zeigen oft dauernd anämische
Zustände (vergl. pag. 4).
Mikroskopisch sieht man bei schwerer Anämie , örtlicher wie allgemeiner, an
durchsichtigen Theilen (Mesenterium , Zunge , Schwimmhaut des Frosches) die Arterien
sich auf's Aeusserste contrahiren, von Lumen und Blut in demselben ist oft fast nichts
mehr wahrzunehmen. Auch die Capillaren sind leer. Die Venen dagegen bleiben bluthaltig
und ihr Inhalt wird oft noch in eine zitternde Bewegung versetzt. Bei nicht völliger
Anämie kann sogar eine gewisse Anhäufung von rothen Blutkörperchen in den kleinsten
Venen erfolgen; daher auch die bläuliche Färbung anämischer Theile.
Das Schicksal eines anämischen Theiles ist abhängig von
der Möglichkeit, dass Blut auf anderen als den gewohnten Wegen in die
leeren Gefässe eindringt , von dem Vorhandensein von Anastomosen,
welche einen Blutzufluss auf andern Bahnen, einen Collateralkreislauf
ermöglichen. In weitaus den meisten Organen sind diese Seitenbahnen
überaus entwickelt und man sieht in der That, wenn man die Blut-
bahn an einer Stelle eines Gefässes unterbricht, den Blutdruck im jen-
seitigen Theil des Gefässes nur um einen ganz geringen Bruchtheil sinken
und nm* für kurze Zeit, wenige Secunden, bis höchstens einige Stunden.
Bei der Durchschneidung eines grossen arteriellen Gefässes schiesst
fast sofort auch aus dem peripheren Ende ein Blutstrahl , nur wenig
schwächer als der centrale, hervor. Hier handelt es sich um grosse,
arterielle Anastomosen, welche sich rasch erweitern. Schwieriger ist
die Entwicklung dieser Seitenströmungen, das Auftreten völliger Strom-
umkehrungen da zu verstehen, wo oft nur kleine Anastomosen zur Ver-
fügung stehen. Die Erhöhung des Druckes im centralen Theil des
Gefässsystemes kann nicht die Ursache sein, sie beträgt selbst bei
Unterbindung grosser Gefässe, wie der A. renalis , nur 10 Mm. Hg.
Am wahrscheinlichsten bandelt es sich um die Herabsetzung der Span-
nung in dem blutleeren Theil selbst, sowohl der Spannung im Gefäss-
system , als im Gewebe. In diesen druckfreien Raum strömt nun Blut
aus den benachbarten Theilen, wo normaler Druck besteht, so lange
ein , bis die Spannung überall eine gleiche geworden. Auch aus den
Venenanfängen kann Blut in dieser Weise in Regionen verminderter
Spannung zurücktreten.
In manchen Organen sind die Anastomosi'ii ungemein .spärlich entwickelt. Man
hat de.«halb die zu diesen führenden Arterien .,E n darterien"* genannt (('olinheimj.
(lenauere Forschungen haben zwar für fast alle Endarterien doch noch das Vorhanden-
sein von nicht ganz spärlichen Anastomosen nachgewiesen, z. B. für die Aa. coronariae
cordis, Gehirnarterien u. s. w. Bei langsamer p]ntwicklung des Verschlusses genügen sie,
um, allmählich sich erweiternd, die Circulation zu unterhalten. Bei plötzlichem Verschlu.ss
(Embolie) entsteht aber so hochgradiger Blutmangel , dass der betn-tfende Theil zu
Grunde geht.
Für die Entwicklung des CoUateralkreislaufes ist es natürlich
überaus wiclitig. dass die Arterien wände dehnbar und elastisch sind.
Sind sie starr und unelastisch (Alter. Atherom u. dcrgl.). so fallen die
Folgen ungemein viel schwerer aus. als in Gesundheit und Jugend.
3 I. Oapitul. — Ocrtliclif! Kreislaufs- und EriiäliruiigKStorungcn.
Die Folgen völligen Bhitabsclilusscs sind vielfach stiulirt.
Dauert derselbe nur kurze Zeit, z. B. wälirend einer Operation.
wo vs^ir, um Blutverlust zu vermeiden, imch v.Esmarch das Blut dureli
centripctale elastische Einwicklung austreiben und durch elastische Ab-
schnürung am Wiedereinströmen hindern , so folgt der L(>sung des
abschnürenden Schlauches zunächst eine mächtige Blutüberfiillung
(Hyperämie) und eine leichte Schwellung. Diese Beschleunigung des
Blutstromes wird auf Gefässlähmung (V), beruhend auf Ernährungsstörung
der Gefässwand, zurückgeführt und deshalb auch paralytische Hyper-
ämie genannt (vergl. Landerer , Gewebsspannung). Die Resor])tion und
Lymplibildung sind gesteigert. Im Laufe von Stunden verschwindet
diese Hyperämie wieder und Alles ist zur Norm zurückgekehrt.
Die Folgen längeren Blutabsclilusses sind uns von Thierexperimenten,
namentlich am Kaninclienohr, bekannt. Löst man das Band, welches das Ohr umschnürte,
nach 8 — 10 Stunden, so schwillt das Ohr beträchtlich an, das Gewebe ist mit reich-
licher Flüssigkeit erfüllt und dazwischen finden sich zahlreiche weisse Blutzellen. Nach
einer Abschnürung von 20 — 24 Stunden zeigt das Ohr ausserdem noch zahlreiche, dunkel-
rothe Verfärbungen, von Blutaustritten in das Gewebe herrührend. Bleibt das Unterband
2 Tage liegen, so ist die Verbindung zwischen dem Ohr und dem Körper überhaupt gelöst.
Weder Blut noch GcAvebsflüssigkeit treten mehr in dasselbe. Es ist todt, meist vertrocknet
(mumificirt) und schwarz. An der Grenze schliesst sich das Lebende gegen das Todte
durch eine demarkirende Entzündung ab. (Vergl. Brand.)
Die einzelnen Organe und Gewebe sind gegen völligen Blutabschluss sehr ver-
schieden empfindlich. Das Gehirn, die Lunge sterben schon nach einer Blutabschliessung
von wenigen Minuten ab. Die Nierenepithelien gehen nach einer Anämie von circa
7, Stunde zu Grunde u. s. w. Für uns Chirurgen haben die Untersuchungen von Leser
„über ischämische Muskellähmungen" grosses Interesse. Leser fand , dass nach einer
totalen Anämie von nur .3 Stunden im Kaninchenmuskel schon schwere , nur langsam,
in ca. 3 Wochen sich ausgleichende Ernährungsstörungen eintraten. Bei einer Blutleere
von ca. 18 Stunden stellte sich völliger Zerfall der Muskelfasern ein. — Sehr beach-
tenswerth sind die Ergebnisse von Ehrlich, und Brieger in ihren Untersuchungen über
die Aufhebung der Blutzufuhr zum Lendenmark. Unterbindung der Aorta abdominalis
— der bekannte Sfenson's,Q\\(i Versuch — bewirkt Aufhebung der ßlutzufuhr zum
Lendenmark. Wurde nach Va Stunde die Blutströmung wieder freigegeben , so erholte
sich wohl die weisse Substanz des Lendenriiarks , nicht aber die graue Diese war
dauernd geschädigt. — Entziehung der Blutzufuhr wirkt auf die verschiedenen Bestandtheile
eines Organs ganz verschieden. In dem zeitweilig abgeschnürten Bein sterben die Muskeln
ab und verschwinden; das Bindegewebe, die Gefässe, selbst die Nerven bleiben erhalten.
Die Nierenepithelien gehen zu Grunde, Gefässe und Bindegewebe der Niere dagegen
nicht. An die Stelle von Geweben höherer Dignität treten solche von niedi'igerem
Werthe; an die Stelle von Muskelfasern Bindegewebe oder Fettgewebe. Den Platz ner-
vöser Theile nehmen bindegewebige ein u. s. w. Selbst Gewebe , welche sich functionell,
anatomisch und genetisch so nahe stehen , wie Lendenmarkgrau und Lendenmarkweiss,
verhalten sich verschieden. Wir ziehen aus diesen Thatsachen den wichtigen Schluss,
dass die Widerstandsfähigkeit der verschiedenen Bestandtheile eines Organes derselben
Schädlichkeit gegenüber, hier dem Blutabschlusse gegenüber, eine verschiedene ist, dass
ein Gewebe theilweise absterben kann , theilweise erhalten bleibt. Dieser Gedanke ist
n. A. für die Lehre der parenchymatösen und interstitiellen Entzündung der Degenerationen
noch lange nicht genügend beachtet.
Am Krankenbette begegnet man Zuständen völligen plötzlichen
Blutabschlusses zu einem Bezirke seltener , noch am häufigsten , wenn
man einer Blutung wegen eine grosse Arterie unterbinden muss oder
wenn die wichtigste Arterie eines Theiles , z. B. die A. poplitea,
zerrissen oder zerschossen ist. Auch hier ist zimächst Kühle, Blässe
zu constatiren. Das Bein ist nicht zu gebrauchen. Der Kranke hat
sehr starke Schmerzen. Allmählich schwillt das Bein , wird blau
(oft gefleckt, marmorirt). Die Haut ist von kleinen oder grösseren
Blutungen durchsetzt. Die Oberhaut fängt an, sich von den tieferen
Arterielle Hyperämie. 9
Schichten der Cutis abzulösen. Es entstehen mit brauner bluthaltiger
Flüssigkeit gefüllte Blasen. Diese platzen und das Rete Malpig-hi liegt
nackt zu Tage. Trübes, rothbraunes Serum sickert aus diesen Epithel-
verlusten. Das in seiner Ernährung geschädigte Glewebe verfällt reissend
stinkender Fäulniss (feuchter Brand). — Kleinere Theile, Zehen,
Fingerspitzen können vertrocknen und mumificiren (trockener Brand).
Bei Operationen, Amputationen, Geschwulstexstirpationen verfallen oft
die äussersten Theile der Haut, womit wir die Wunde bedecken wollen,
ihrer ernährenden Gef ässe beraubt , der Anämie und damit dem Tode
(„Lappen- und Randgangrän").
Die Grundsätze der Behandlung örtlicher Anämie sind
Unterstützung der darniederliegenden Circulation und P^'ernhaltung aller
Schädlichkeiten. — Beengende Verbände sind zu entfernen; jede
Lagerung, welche dem Blutzufluss ungünstig ist, wie starke Beugung,
ist zu vermeiden; massig erhöhte Lage unterstützt den Abfluss des
Venenblutes. Vorsichtiges centripetales Massiren wirkt in gleicher Weise.
— Die Abkühlung wird durch warme Einpackungen, in Watte, Kräuter-
kissen u. dergl., hintangehalten. — Der schlimmsten Gefahr — dem Ein-
nisten von Mikroorganismen und den dadurch bedingten Fäulnisspro-
cessen — ist durch strenge Antisepsis vorzubeugen. Beiden Indicationen
können feuchtwarme antiseptische Umschläge (Sublimat 1 : 1000 — 5000)
entsprechen.
Chronisch-anämische Zustände fordern Anregung der Circulation
durch zweckmässigen Gebrauch des Gliedes, Massage und Elektricität,
warme Bedeckung u. dergl.
Bei vermehrter Blutzufuhr — arterieller Hyperämie —
erscheinen die Theile lebhaft geröthet, wärmer, etwas geschwollen,
ihre Spannung (Turgor) ist erhöht. Arterielle Hyperämie entsteht durch
all das, was die Widerstände — in den zuführenden Arterien, in den
Capillaren , im Gewebe — herabsetzt , in erster Linie durch Vermin-
derung des in den Arterien gegebenen Widerstandes — arterielle,
relaxative oder congestive Hyperämie, auch active Congestion
oder Fluxion genannt. Diese Zustände setzen eine ErschlafiPung oder
Lähmung der Ringmusculatur in den mittleren Arterien voraus. Fällt
der Widerstand in den mittleren Arterien, der etwa einem Drittel des
Gesammtbhitdrucks entspricht, ganz oder zum Theil weg, so muss sich
dies als ein beträchtlicher Kraftzuwachs für die Bhitbewegung in den
Capillaren geltend machen. Das Blut schiesst mit grosser Geschwindigkeit
durch die Capillaren, und konnnt nocli hcHroth und pulsirend in den
Venen an. Die Lym])lniienge ist hei arterieller Hyperämie nicht wesentlich
vermehrt.
Der Hyperämie nach Durchschneidiing der Gefässnervcn begegnet
man in der Praxis kaum Je, häufig dagegen der Hyperämie nach Li»sung
der elastischen Al)schnürung einer Extremität (vergl. pag. 8).
Ausserdem wirken gefässläinnend und damit hyperämisirend
Wärme; ferner psychische Einflüsse, welche zum Erröthen fiiiiren. Ob
auch die auf mechanischem Wege entstehenden lifUhungen durch
Reiben, Drücken, Massage u. s. w. hieher zu rechnen sind, ist eine
10 I- Capitel. — Oertliclie KiNjislaufs- iuhI KiTiilhrungsstörungen.
andere Frage, sie sind eher zur Entzündung zu rechnen. Schliesslich
entstehen Blutüberfüllung-cn auch durch unrnittelhare Erregung der
Gefässerweiterer (pag. 4).
Eine eigenartige Form der Hyperämie entsteht durch rasche Ver-
minderung der auf der Aussenwand der Gef asse lastenden Spannung,
wodurch sich dieselben plötzlich aufs Aeusserste , oft bis zum Bersten
erweitern (Aufsetzen von Schröpfköpfen), dann durch Verminderung des
Luftdruckes (bei Caissonarbeitern) , bei der plötzlichen Entleerung von
Ergüssen, welche unter starker Spannung stehen, Cysten u. dergl.
Eine Behandlung verlangt die arterielle Hyperämie nicht. — Kälte
— Eisumschläge oder Eisblasen — kann die erweiterten Gefässe zur
Zusammenziehung anregen.
Die venöse oder Stauungshyperämie entsteht durch Be-
hinderung des venösen Abflusses. Störungen des Blutabflusses
aus den grösseren Körpervenen in das Herz führen zu schweren all-
gemeinen Circulationsanomalien, zu allgemeiner Stauung und Cyanose.
Wir haben auf dieselben nicht einzugehen.
Plötzliche Unterbrechung des venösen Ab flusses bei freiem arteriellen
Strom führt rasch zu den schwersten Erscheinungen. Unter spannenden Schmerzen
nimmt das Glied eine graue, dann eine bläuliche , schliesslich schwarzblaue Farbe an.
Der Fingerdruck verdrängt die Färbung nicht mehr , wenigstens nur langsam und un-
vollkommen. Die Wärme des Gliedes nimmt ab. Die Gebrauchsfähigkeit ist vermindert,
bald ganz aufgehoben. Eine halbe bis eine ganze Stunde nach Beginn des Venenver-
schlusses fängt das Bein an zu schwellen, die Falten gleichen sich aus, das Glied ver-
wandelt sich in eine formlose Masse. Die Haut ist prall gespannt; nur mit Mühe ver-
mag der drückende Finger eine Delle in die Haut zu drücken, welche stehen bleibt und
erst langsam sich ausgleicht, es hat sich ein straffes, starres „Oedem" eingestellt. Bald
löst sich die Oberhaut in Blasen ab , die ein blutig gefärbtes Serum enthalten. Die
Blasen platzen und es sickert ein schmutzigbraunes, rothes Serum aus der blaurothen
fleckigen Epidermis hervor, das nur langsam und schlecht gerinnt. Die der schützenden
Oberhaut beraubten, ungenügend ernährten Gewebe verfallen leicht der Fäulniss und
dem Brande.
Unterbindet man beim Frosch die Vena femoralis, welche fast das ganze
venöse Blut aus dem Froschbeine zurückführt, so erweitern sich (Beobachtung der
Schwimmhaut) die Capillaren und die kleinsten Venen rasch, bis zum Doppelten. Die
Blutbewegung wird langsamer und kommt schliesslich zum Stehen. Mit jedem Puls-
schlag jedoch kommt eine Bewegung in die Masse, es schreitet eine Welle von den
Arterien durch die Capillaren nach den Venen hin fort, wird dort zurückgeworfen
und kehrt als rückläufige Welle zurück; es kommt zu einer eigenthümlichen rhythmi-
schen Hin- und Herbewegung des Blutes, einem Kommen und Gehen, dem bekannten
Va et vient. Die Maschen des die Blutgefässe umgebenden Gewebes füllen sich mit
Transsudat, Blutflüssigkeit und körperliche Elemente verlassen in Menge das Gefäss-
system. Das Transsudat ist bei venöser Stauung sehr dünn und gerinnt schlecht.
Es hält nur wenig Fixa , 1 — 2'/, gegen 3 — 5°,, in der Norm. Neben wenig weissen
Blutzellen finden sich rothe in grosser Zahl. Die Lymphmenge ist ausserordentlich ver-
mehrt. Die zelligen Bestandtheile des Gewebes sind zunächst nur wenig verändert. Da-
zwischen liegen , am reichlichsten unmittelbar um die Gefässe , grosse Mengen rother
Blutkörperchen, welche durch die Gefässwand ohne Verletzung ihrer Continuität hindurch-
gepresst sind (Blutung per diapedesin). Bei längerem Bestand der Störung kommt
es auch zu Zerreissungen der Gefässe und es erfolgen dann wirkliche Blutungen (per
r hex in).
Zum Entstehen dieser schweren Formen venöser Stauung ist es nöthig, dass die
abführenden Venen ganz verschlossen sind — wie es bei der Abschnürung eines Beines
mit elastischer Schnur unter alleinigem Freilassen der Arterie der Fall ist — oder dass
Avenigstens nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil der Venen wegsam bleibt. Das
Unterbinden der Hauptvene eines Theiles genügt nur beim Frosc^i, beim Menschen für
Stauungshyperämie. 11
geAvöhiilich nicht. Die Lehre Braune' s, dass Unterbindung der Vena femoralis un-
mittelbar am Poupar fschtn Bande zu völliger venöser Stase und damit zur Gangrän
des Beines führen müsse, ist durch die Erfahrungen am Lebenden nicht bestätigt
Avorden. Wie es scheint, steigt der Druck in den Venen so hoch an und dehnt die-
selben so aus, dass der Widerstand der Klappen überwunden wird und der Venenstrom
an manchen Stellen seinen Lauf umkehrt.
Auch bei Hunden und Kaninchen genügt die Unterbindung der Vena femoralis
zur Erzeugung vollständiger venöser Stauung nicht, es muss noch eine grosse Anzahl
anderer venöser Gefässe zum Verschluss gebracht werden. Cohnlieim legte eine elastische
Schnur um den Oberschenkel, spritzte dann von der Peripherie her Gips in die Venen,
liess ihn erstarren und öffnete dann die Ligatur wieder. So waren alle grösseren
Gefässe verstopft und es stellten sich schwere Stauuugserscheinungen ein. Doch auch
sie führten nicht zur Gangrän , wenn die Einspritzung unter Ausschluss von Fäulniss-
stotten gemacht war. Nach AVochen stellte sich die Circulation wieder her. Man sieht
daraus, Avas man, sonst normale Verhältnisse vorausgesetzt, der örtlichen Circulation
in dieser Richtung bieten kann.
Plötzlicher Verschluss grosser Venen begegnet dem Arzt
in der Praxis selten, noch am häufigsten sind es Verletzungen —
Schüsse oder Stiche in die Gefässe, Zerreissungen bei Streckung von
Ankylosen, Einrichtungen von Verrenkungen u. dergl. Oder man hat
bei Geschwulstausschälungen grosse Venen zu unterbinden. Es ent-
stehen dann oft Zustände peinlichster Ungewissheit für den Chirurgen,
ob die Circulation sich wieder herstellen wird oder nicht (vergl. pag. 10).
Zustände langsamen Verschlusses von Venen sind nicht selten
durch langsam wachsende Geschwülste oder schrumpfende Narben. Bei
langsamem Entstehen bleibt der Verschluss selbst grosser Venen oft
ohne jede Folgen und entzieht sich der Diagnose ganz. In dem Masse,
als die Lichtung der Vene sich mindert, erweitern sich andere Bahnen
und die Circulation vollzieht sich ohne jedes Hinderniss. In wieder
anderen Fällen bleibt allerdings der Verschluss grosser Venen nicht so
ganz symptomlos, so kommt es in den letzten Stadien des Brustkrebses
oft zu schweren Störungen im Arm durch Verschluss der Vena
axillaris.
In Innern Organen , welche äussern ungünstigen Einflüssen , wie Abkühlung,
Fäulniss, nicht ausgesetzt sind, gestaltet sich der endliche Ausgang etwas anders. AVird
die Nierenvene unterbunden, so verfallt das Organ nicht im Ganzen dem Brande oder
der Fäulniss, sondern nur einem partiellen Tode. Nach einigen Wochen findet man die
drüsigen epithelialen Gebilde verschAvunden, die bindegewebigen Theile und die Gefässe
sind erhalten geblieben.
Die schliessliche Wirkung des venösen Verschlusses berührt sich
mit der Wirkung des Blutabschlusses überhaupt. Vergl. Anämie, pag. 8.
Für die Behandlung schwerer venöser Stauung ist das
weitaus beste Mittel die verticale Elevation des Theiles. Nach kurzer
Zeit, oft schon nach einer halben Stunde, erfolgt selbst bei schweren
Stauungen Abnahme der Schwellung und der übrigen Erscheinungen.
Neben der Elevation sind centripetale Einwicklung mit elastischer oder
Flanellbinde, warme Einhüllungen des betreffenden Theiles nützlich.
Früher wurden gerne warme Pjähungen. Fomentationen, namentlich mit
Säckchen , die mit aromatischen Kräutern (Species aromaticae) gefüllt
sind , gemacht. Neben der Elevation sind oft zahlreiche , antiseptisch
ausgeführte, kleine Feinschnitte (Debridement) nützlich, um die Span-
nung zu vermindern.
Der Vorsclilag, bei Verletzung der Hanptvene einer Extrcinitüt auch die betreffende
Arterie (z. B. A. femoralis) zu unterbinden, i.st theoretisch schlecht begründet (ein hoher
arterieller Druck i.st zur Erhaltung der Ciiculation iiöthig). Dii; jiraktischc Erfahrung
spricht ebenso direct dagegen.
12 I- Oapitel. — Oertliche Kreislaufs- und Ernährungsstörungen.
Zustände c hr o n i s c h e r ö r 1 1 i c b e r B 1 u t s t a u u n g sind nicht so selten ,
so bei Venenverstopfungen (Thrombosen). Aehnlich wirken (;oin])ri-
mirende Geschwülste, Narben u. dergl., dann Erweiterungen der Stroni-
bahn, welche an sich natürlich zur Verlangsamung des in dem er-
weiterten Bett sich bewegenden Stromes führen — Venenerweiterungen
(Varicositäten). Die Folgen sind ungenügender Blutwechsel und dadurch
bedingte Ernährungs- und Functionsstörungen, Oedeme und Geschwürs-
bildungen. Bei lange dauernder Stauung entwickeln sich wichtige anato-
mische Veränderungen Die Parenchymflüssigkeit ist dauernd vermehrt.
Pigmentscholleu , die Ueberreste zerfallener Blutkörperchen , weisen
auf frühere Blutaustritte hin. Weisse Blutzellen sind nicht zu reichlich ;
die Bindegewebsfasern sind gequollen, plump und dick fhydropisch),
ebenso die Bindegewebszellen. Auch die Gefässwände sind verdickt.
Die epithelialen Gewebe sind in ähnlicher Weise verändert, gequollen
und wasserhaltiger, oft auch rareficirt* Die Zustände chronischer venöser
Stauung berühren sich mit der „Elephantiasis" oder „Pachydermie''
(s. dieses).
Die Behandlung chronischer Stauung ist eine mühevolle
und nicht immer lohnende. Hohe Lage des Theiles begünstigt den
venösen Rückflüss, den man noch durch centripetales Massiren, Ein-
wicklungen mit elastischen oder nassen Leiuenbinden unterstützt.
Bier hat massige venöse Stauung von längerer Dauer zur Behandlung tubercu-
löser Knochen- und Gelenkentzündungen verwerthet, in einem Theil der Fälle mit Erfolg
(s. Tuberculose der Knochen und G-elenke).
Die passive Hyperämie oder Senkungshyperämie hat für
den Chirurgen weniger Interesse als für den innei'cn Arzt. Bei Zu-
ständen, welche mit einem Erlahmen der Herzkraft, einem Sinken des
Blutdruckes verbunden sind, bleibt das Blut in den Venen liegen,
besonders an den abhängigsten Stellen, wo dem venösen Rückfluss
sich die Schwere als weiteres hinderndes Moment entgegenstellt. Schlecht
ernährt, verfallen diese Theile — die Kreuzbeingegend, die Fersen —
leicht der Oedembildung, der Entzündung, dem Druckbrand (siehe
dort). Nur von einer Aufbesserung der Herzkraft ist eine Beseitigung
der Störung zu erwarten.
Thrombose. Embolie. Oedem.
Blutgerinnung und Thrombusbildung. — Der rothe und der weisse Thrombus. —
Die weiteren Veränderungen des Thrombus. — Die Embolie und ihre Folgen. —
Zur Physiologie der Lymphbildung. — Stauungsödem. — Marantisches Oedem. —
Die übrigen Arten von Oedem.
Eine Reihe wichtiger Störungen der örtlichen Blutcirculation und
Ernährung entsteht bei Verlegung der Gefässlichtnng durch Gerinnungs-
vorgänge innerhalb der Gefässe (Thrombosis) oder in Folge von
Verstopfung durch Fremdkörper und Pfropfe, welche, vom Blutstrom
mitgerissen, in die Blutgefässe hineingetrieben werden (Embolie)
Die Blutgerinnung ist die Folge reichlichen Zerfalles der zelligen
Elemente des Blutes. Die fibrinogene Substanz entsteht durch Zerfall
der /elligen Elemente des Blutes. Das Fibrinferment bildet sich vor-
Blutgerinuung. — Thrombose. 13
wiegend aus den Leukocyten (Alex. Schmidt) und den Blutplättehen
(Bizzozero) , und zwar aus dem Zellkern (Leukonuclein , Lüievfeld-
Kossel). Das Leu-konuclein soll aus der. fibrmogenen Substanz das noch
lösliche Thrombosin abspalten, und dieses fällt mit den Kalksalzen des
Blutes (Hammarsten, Pekelharing) als Fibrin aus. Der Uebergang von
Bestandtli eilen der weissen Blutzellen in das Plasma im Beginn der
Gerinnung ist von Löicit (Piasmoschisis), von Lilienfeld (Karyoschisis)
direct beobachtet worden, ebenso wie Hauser und Zenker die Leukocyten
als unmittelbare Gerinnungscentren nachwiesen. Die Lehre Weigert's.,
dass es sich bei der Gerinnung um Processe von Coagulationsnekrose
der Leukocyten mit Kernzerfall etc. handle, ist so vertieft und ausgebaut.
Stetige Berührung mit der lebenden Gefässwand verhindert die
Gerinnung (Brücke). Tritt das Blut aus den Gefässen aus, z. B. bei
einer Blutung in das Gewebe, so erfolgt die Gerinnung des Blutes in
derselben Weise, wie wenn das Blut nach aussen entleert wird.
Die Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe (Thrombosis)
erfolgt jedoch nicht genau nach diesem Schema. Die Arbeiten der letzten
Jahre (Bizzozero^ Eberth und Schimmelhusch) haben gezeigt, dass zum
Zustandekommen eines Thrombus zwei Momente zusammenwirken müssen:
Veränderung der Gefässwand und Verlangsamung der Blutströmung
an der betreffenden Stelle. Aenderung der Gerinnungsfähigkeit des
Blutes ist gleichfalls wichtig.
Die frülier ausschliesslich geltende Ansicht von Virchow gilt daher zur Zeit nur
mit Moditicationen. Indem er den Process der Blutgerinnung innerhalb und ausserhalb
der Cletasse als im Wesentlichen identisch ansah , liess er die Bildung von Throml)en
zu Stande kommen durch Aufhebung der Lichtung des Gefässes, Compressions-
thrombose (bei Druck von Geschwülsten, Narben u. dergl.). Durch Stromverlang-
saniung soll die zweite Art, die Dilatationsthrombose entstehen, indem der Blut-
strom in dem erweiterten Bett langsamer fliesst oder gar stillsteht, in erweiterten
Arterien (Aneurysmen) oder Venen (Varicositäten). Die Alterationsthrombose
beruht auf einer Veränderung der Gefässwand, entzündlicher Natur oder bei Eauhig-
keiteu , wie sie bei der chronischen Arterienentzündung (Atherom) gefunden werden.
Hieher ist auch die vierte Art, die traumatische, zu rechnen, wenn die Gefässwand
durch eine Verletzung bei Unterbindungen beschädigt oder zerrissen wird. Durch
Wandveränderung und Stromverlangsamung zusammen mag die fünfte Form bedingt
sein, die marantische, wenn bei allgemeinem Darniederliegen der Ernährung und
des Kreislaufs Stillstand des Blutes und damit Gerinnungen desselben innerhalb der
Gefässe erfolgen. So einfach diese Virchow' sähe Lehre schien — Blutgerinnung durch
Stromverlangsamung oder Wandveränderung — so Hessen sich doch manche Erfahrungen
der Praxis, besonders seit Einfühning der Antisepsis, nicht damit in Einklang bringen,
namentlich die häufig wiederholte Beobachtung, dass Blut, selbst lange in Gefässen stag-
nirend, nicht gerinnt, wenn die Wand sich nicht entzündet und verändert (Baunigarien).
Andererseits führen Rauhigkeiten der Gefässwand , z. B. Zerreissung der T. intima und
media, nicht zur Gerinnung, so lange die Blutbewegung nicht verlangsamt ist (Zahn).
Eine tiefgehende Erschütterung erlitt die Virchow'sc\\e Lehre durch die Unter-
suchungen Zahn's, Avelchc zur Unterscheidung des „rothen" und „weissen" Thrombus
führten. Zahn studirte die Thrombusbildung durch unmittelljare Beobachtung am Frosch-
mesenterium. An der Stelle, wo die Gefässwand durch Verletzung oder chemische
Einflüsse (z. B. Auflegen eines Kochsalzkrystalles) geschädigt war, lagerten sich,
namentlich wenn die Circulation in dem blossgelegten Mesenterium sich verlangsamte,
weisse Blutzellen um weisse Blutzellen an , und bildeten einen Hügel , welcher in die
Lichtung des Gefässes hereinragte, um schliesslich fortgeschwemmt zu werden oder die
gegenüberliegende AVand zu erreichen und das Gefäss ganz zu verschliessen.
Nach Bizzozero, Eherih und SchimmeUjuscli, Löwit, die gleichfalls am lebenden
Thier direct beobachteten, lagert sich bei verlangsamter Circulation an chemisch (durch
Aetzung u. s. w.) oder physikaliscli (durch (Quetschung) veränderten Stellen der Gefäss-
wand hauptsächlich der dritte Bestandtheil des Blutes, die Blutplättchen, an. Sie kleben
zusammen (Conglutination) und bilden zunäclist einen in das Gefäs.slamen hereinragenden
14 •!• Capitel. — (Jertliclie Kreisliuifs- uimJ l''.rniUiiuiij^.s.stöi'u)ij<(:n.
Hügel, der schliesslich das Gcfäss verlegt. J>urcli „viskose Metamorpiiose" der J-'lättcheu
wird der Plättcheuthrombus schliesslich zu einer festen Masse, „Conglutinatioiisthronilnis".
Die weissen Blutkörperchen sollen hiebei keine Rolle spielen, doch ist die Möglichkeit,
dass auch sie durch Coagulation einen Thrombus bilden, niclit zu leugnen — ,.Coagn-
lationsthrombus".
Diese Thromben — im strömenden Blut gebildet — sind weisse Thromben,
d. h. sie enthalten rothe Blutkörperchen gar nicht oder nur in verschwindender Menge
im Gegensatz zum rothen Thrombus, der, durch gewöhnliche Blutgerinnung entstanden,
überwiegend rothe Blutkörperchen enthält. Als Mittelding zwischen beiden ist der ge-
schichtete Thrombus zu nennen, der abwechselnd weisse und rothe Schichten enthält.
Rothe Thromben kommen im lebenden Körper nicht zu häufig- vor.
Zu ihrer Entstehung bedarf es vor Allem einer schweren Erkrankung-
der Gefässwand, in erster Linie des Endotliels. Namentlich kommen
entzündliche Veränderungen, besonders bacterieller Natur, in Betracht.
vorzugsweise bei inficirten Wunden (Pyämie, Eitervergiftnngj und bei
der Venenentzündung (Phlebitis), dann auch in grossen Aneurysmen mit
stark veränderter Wand.
Zum Verschluss verletzter Blutgefässe bei Unterbindungen ist
weder der weisse, noch der rothe Thrombus nöthig. Derselbe erfolgt,
wie wir sehen werden, durch eine Wucherung und Verlöthung der
Gefässendothelien. Doch können beide Arten der Thrombusbildung
bei dem provisorischen Verschluss der Blutgefässe mitwirken, der rothe,
wenn bei schweren Verblutungen das träge fliessende und äusserst
gerinnungsfähige Blut gerinnt, und das Gerinnsel die Ader vorläufig
verstopft. Ein weisser Thrombus kann sich in den Fältchen der zer-
rissenen, zusammengekräuselten Intima vor der Unterbindungsstelle
bilden oder auf den Rauhigkeiten der Intima bei einer Stichverletzung,
und so zunächst die Oetfnung verschliessen, bis der Verklebungsprocess
der Intima erfolgt ist.
Die Folgen der Thrombose sind verschieden, je nachdem der
Thrombus das Gefässlumen nur theilweise ausfüllt, ])artiell o b-
struir ender Thrombus, auch „wandständiger" Thrombus genannt,
oder es ganz verschliesst , total obstruir ender Thrombus. Die
Folge einer Thrombose ist Anämie (s. pag. 8). — Die Venen sind die
eigentliche Stätte der Thrombusbildung. Bei den massenhaften Anasto-
mosen bleibt häufig jede Folge für Circulation und Ernährung aus; wird
jedoch eine grosse Vene thrombosirt, so kommt es zur venösen Stauung
(s. pag. 10). An peripheren, der Betastung zugänglichen Stellen (V. sa-
phena, V. femoralis) fühlt man (Vorsicht!) die Stelle der Thrombose
als einen cylindrischen , härtlichen, etwas empfindlichen Strang oder
Knoten; daneben hat man die Erscheinungen der Stauung.
Die weiteren Veränderungen des Thrombus sind nicht immer
dieselben. — Unmittelbar am Froschmesenterium beobachtet, werden
zunächst die Contouren der weissen Blutkörperchen , respective Blut-
plättchen, undeutlicher, der Thrombus gewinnt erst ein feinkörniges,
dann ein hyalines Aussehen und schrumpft. Nach Tagen findet man
an Stelle der weissen Blutkörperchen, respective des Fibrins bleibendes
Gewebe. Der Thrombus organisirt sich. Diese Metamorphose
machen sowohl der rothe als der weisse Thrombus durch. Alle neueren
Forschungen stimmen darin überein, dass es sich hiebei nicht handelt
um eine Organisation und Umwandlung der Bestandtheile des Throm-
bus, der rothen und weissen Blutkörperchen, zu bleibendem Gewebe —
zu Bindegewebe, sondern um ein Hereinwachsen von jungem Bindegewebe
Organisation des Thrombus.
15
und feinsten Bliitg-efässen von aussen in den Thrombus. Dessen Bestand-
theile verschwinden in dem Masse, als die ])indegewebig'en Theile
überhand nehmen. Es liegt also nicht eine Organisation des Thrombus
vor, sondern eine Substitution desselben durch eindringendes Binde-
gewebe und Gefässe.
Fig. 1 zeigt die Organisation eines weissen Thrombus. Bei a finden sich
glänzende, leicht körnige bis hyaline Massen, hervorgegangen aus den „conglutinirten"
Blutplättchen oder weissen Blutkörperchen. Zwischen sie scliieben sich Züge weisser
Blutzelleu h herein, an einzelnen Stellen junge, mit zarten Ausläufern versehene Spindel-
zellen c. Bei d findet sich eine längliche Spalte im Gefüge , die vielleicht die Circu-
lation von Lymphe oder Blut einleitet.
Fig. 2 ist in Organisation begriflener rother Thrombus. Sehr deutlich ist der
Unterschied zwischen ihm und dem weissen Thrombus. An Stelle der feinkörnigen
Massen hat man hier das charakteristische Mosaik der rothen Blutkörperchen. Die
Tunica media des Gefässes fast normal, nur von wenigen weissen Blutzellen durchsetzt.
Fig. 1.
Weisser Thrombus.
Die Gefässinnenhaut dagegen befindet sich in lebhafter Wucherung und sendet in
die Masse der rothen Blutköii^ercheu, zwischen welchen nur spärliche weisse Blutzellen
eingesprengt sind, bindegewebige Fortsätze hinein. Der Innenhaut benachbart sind
diese massiger und zeigen an den Stellen , wo sie sich theilen , grössere kernhaltige
Zellen; weiter nach dem Centrum des Thrombus zu sind die jungen Fasern noch
überaus zart und fein. Die Innenhaut ist in der Abbildung nicht deutlich genug
hervorgeholjen.
Indem der Thrombus schrumpft, können wandständige Throml)en
schliesslich fast ganz verschwinden oder zai einem unscheinbaren, von
Endothel überkleideten Höckerchen der Gefässwand werden. Von total
obstruirenden bleibt schliesslich nichts als ein dünner, bindegewebiger
Strang als liest des Gefässes. Das junge Bindegewebe, welches in den
Thrombus hineinwächst, wandelt sich schliesslich um in Xarbcngewebe
und der ganze Process der Organisation des Thromlms ist von anderen
ähnlichen, die wir bei der Wundheilung kennen lernen werden, z. B. der
Organisation des Blutgerinnsels, gewissen Vorgängen bei der Narben-
bildunu". in nichts voi-scliieden.
16
I. Capitel. — Oertliche Kreislaufs- und Eniährungsstörnngen.
In einzelnen Fällen wird der Thrombus auch wieder durchgängig,
er wird canalisirt (sinusartige Degeneration), namentlich an der
V. Cava inferior, am Zusammenfiuss der Vv. iliacae, bei sog. Phleg-
masia alba dolens. Die in ihn hineinwachsenden Gefässe gewinnen
nach beiden Seiten hin Anschluss, und indem das Gewebe zwischen
ihnen schrumpft, können sie sich erweitern und die Circulation von
einem Ende des Gefässes zum andern kann sich wieder herstellen.
Zum Theil kommen auch die Vasa vasorum in Betracht. — Scheraatisch
ist dieser Vorgang in Fig. 3 dargestellt.
Die Gefässe wachsen von beiden Seiten her in den Thrombus herein und ge-
winnen mit den von der Gefässwand , den Vasa vasorum, gelieferten neugebildeten
Fig. 2.
Eother Thrombus in Organisation.
Gefässchen Fühlung. Die Canalisation erfolgt in den peripheren Schichten des Thrombus
früher und ergiebiger als im Centrum.
Bei Ausbleiben der Organisation und Vascularisation erweicht
der Thrombus central. Die weissen Blutkörperchen zerfallen zu einem
fettigen Brei, welcher beim rothen Thrombus auch noch die Reste des
Farbstoffes der rothen Blutkörperchen enthält — ^ rothe Erweichung,
oder es kommt — wenn in den Thrombus eitererregende Stoffe ein-
geschlossen sind, zur Umwandlung in Eiter, zur gelben eitrigen Er-
weichung, puriformen Schmelzung. Gelegentlich kann ein Thrombus
auch verkreiden oder verkalken (Venensteine, Phlebolithen, Arterio-
lithen).
Bleibt der Thrombus auf den Ort seiner Entstehung, also die
wunde Gefässstelle, wo er sich gebildet, beschränkt, so ist er ein
Embolie. — Infarct.
17
„aiitochthoner" Thrombus. Sind die Bedingungen günstig, ist
namentlich die Circulation verlangsamt, so wächst er durch Auflagerung
neuer Schichten — fortgesetzter Thrombus. Schliesslich kann die
Thrombose bis zu einer Stelle des Gefässes vorrücken, wo noch rege
Circulation ist — bis zur Einmündung in das nächste grössere Gefäss.
Der vorbeischiessende Blutstrom reisst ein Stück ab und schwemmt es
mit fort; der Thrombus wird zum Embolus (vergl. Fig. 4).
Fig. 4 zeigt, wie ein Thrombus ia dem Seitenast einer gi'össeren Vene sich
bildet, durch schichtweise Auflagerung sich vergrössert, bis er höckerartig in das
Fig. 3.
Fig. i.
Lumen der Hauptvene hereinragt. Hier wird er
schliesslich vom Blutstrom losgelöst und weg-
geschwemmt.
Aus den Venen geht der Thrombus
durch das Herz in die Lungenarterien.
Bald bleibt er an einer Gabelung vorerst
hängen, in beide Gefässe hineinragend —
reitender Embolus, schliesslich wird
er in ein Gefäss eingetrieben, dessen Lichtung er mehr oder weniger
ausfüllt. Sind au.sreichende Anastomosen da, so stört er die Circulation
nicht. Die Lücken zwischen ihm und der Gefässwand füllen sich mit
weissen BlutkiU-perchen und Fibrin aus, von den Gefässwänden wächst
junges Gewebe herein; er wird organisirt, resp. substituirt (pag. 15).
Fährt er in eine Endarterie (s. pag. 1) , so wird der dahinter liegende
Theil anämi.sch und bleibt, je nach dem Verhalten der Gefässe, blutarm
oder füllt sich von den benachbarten Gefässen her mit Blut, so namentlich
in der Lunge; es entsteht ein hämorrhagischer Infarct, dessen
weiteres Schicksal das eines Blutergusses ist (s. Blutung).
War der Throinl)us mit eiter- oder fäulnisserregenden Stoffen
durchsetzt, so erregt er an der Stelle, wo er sich festgesetzt, denselben
l^rocess, wie am Orte seiner Entstehung: Eiterung oder Jauchung; es
bildet sich ein ..metastatischer" Herd oder Abscess.
I.andorer. All;^. chir. l'atliologio ii. Therapie. 2. AuH. 2
13 '■ ''iipilel. — OciUicIic Kn-islaufs- uiid Krniilii'iiiig.s.störuntfcn.
Kleinere Emboli können die Lungencapillarität passiren und sich
jenseits in Muskeln, Nieren u. s. f. festsetzen und dort eapilläre
Embolien erzeugen. Eine Reibe „Infectionskranklieiten", z. ß. die
Tuberculose, vermögen die Gefässwände zu inticiren, sie zu durcli-
brecben und 'J'hrombenbildung- im Gefäss zu veranlassen. Wird der
Tbrombus losgelöst und zum Eni))olus, so erfolgt eine Verscb]e))pung
des Giftes, eine Verallgemeinerung (Generalisationj des Leidens fall-
gemeine Miliartuberculose). Die „Metastasen", bösartige Neubildungen
— der Krebse und namentlich der Sarkome — vollziehen sich in der
gleichen Weise durch Bildung infectiöser Thromben und folgende
Embolien. Hieraus ergibt sich die hohe klinische Bedeutung der
Thrombose und Embolie ohne Weiteres.
Fremdkörper, von aussen durch Verletzungen in die Gefässbahn hereingelangt,
spielen praktisch nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist gelegentlich Hüssiges Fett,
■welches zur „Fettem bolie" der Lungencapillaren führt. Bei Zertrümmerung stark
fetthaltiger Knochenpartien, namentlich der spongiösen Enden der Röhrenknochen (am
Kme), auch bei Operationen gelangt flüssiges Fett in Tropfenform in Venen und wird
in die Lungencapillaren eingekeilt. Sind zahlreiche Capillaren verstopft, so können,
bei sonst geschwächten Individuen, schwere Respirationsstörungen, selbst der Tod die
Folge sein. Anderenfalls verschwindet das Fett allmälig wieder aus den Capillaren.
Durch verletzte Venen des Halses und der Brust, ebenso auch des Uterus
kann Luft in die Circulation eintreten. Die Luftblasen werden in die Lungengefässe ein-
getrieben und können in gleicher Weise wirken (L u f t e mb o li e), oder sie werden im Herzen
zurückgehalten, so dass die Arbeit des Herzens, Klappenschluss etc. unmöglich werden.
Nach RecMinghausen gibt es auch eine rückläufige Embolie, dem Blutstrom
entgegen; wenigstens in den grossen Unterleibsvenen, wo ein minimaler Druck herrscht,
kann sich ein Embolus , dem Strom entgegen , seiner Schwere folgend , nach der Peri-
pherie hin bewegen.
Die Behandlung der Thrombose und Embolie kann nur eine
vorbeugende sein. Der Thrombus darf nicht zum Embolus Averden.
und dies erreicht man am besten durch absolute Ruhe, bis er sich
organisirt hat (mindestens 10 — 14 Tage). Die Behandlung der Folge-
zustände besprechen wir an den einzelnen Orten.
Oedem ist die übermässige Ansammlung von Gewebsflüssigkeit
in den Gewebsspalten und Gewebszellen. Sammelt sich dieselbe in
grösseren vorgebildeten Räumen an, so reden wir von Hvdroperitoneum
(Hydrops Ascites), Hydrothorax, Hydropericardium u. s. f.
Die Gewebsflüssigkeit ist ein Transsudat aus dem Blute, das sich von diesem
wesentlich unterscheidet, weil das Filter (die Capillarwand") nur einem Theil des Inhaltes
den Durchtritt gestattet, den anderen zurückhält („elective Filtration'"). Die treibende
Kraft ist die Gewebsspannung, ein Derivat des Blutstroms (vgl. Lander er, Die GcAvebs-
spannung). Mit vollem Recht fasst man daher das Lj^mphsj^stem nur als einen Neben-
strom des Blutkreislaufes auf. Die Menge von Lymphe , welche für gewöhnlich selbst
in sehr ausgedehnten Bezirken gebildet wird, ist eine sehr geringe. Aus den grossen
Lymphgefässen am Oberschenkel des Hundes gewinnt man in Ruhe des Thieres nur
wenig Lymphe, kaum 15 — 20 Tropfen in 10 Minuten.
Verschiedene Momente veranlassen eine wesentliche Beschleunigung des Lymph-
stromes und eine Vermehrung der Lymphe. Zunächst ist es die Functionirung eines
Organes, z. B. active und passive Bewegungen. Auch Elevation begünstigt die Lymph-
bewegung. Ebenso wirkt directes Ausstreichen mit der Hand (Massage). Wenn es sich
bei der Lymphbildung auch nur um kleine Mengen Flüssigkeit handelt, so ist sie
deshalb für das Leben der Gewebe und Gewebszellen doch sehr wesentlich , weil sie
die Gewebszellen direct umspült. — Das Gewebswasser stammt (Heidenhain) theils aus
dem Blute, theils aus der Organlymphe , theils aus dem Wasser der Zellen und Fasern.
Es ist nach ihm nicht ein reines Filtrat, sondern zugleich ein Secret der Zellen der
Capillarwände. Manche Stoffe (kiystalloide Substanzen, Decoct von Krebsmuskeln,
Flussmuscheln, Pepton, Bacterienstoffwechselproducte u. s. f.) vermehren , in das Blut
eingebracht, die Lymphmenge sehr stark, ohne dass der Blutdruck steigt (Lymphagoga).
Oedem. 19
Ob es einen Zustand örtlicher Verminderung der Gewebsflüssigkeit
gibt, darüber ist nicht viel bekannt. Dass eine solche als Theilerscheinung allgemeiner
Wasserverarmung — Hydrämie — vorkommt, bei Blutungen, profusen Diarrhöen, Cholera,
Pylorusverschluss, Yerbrennungen, Peritoniten u. s. f., ist zweifellos. Bei manchen meist
zu den entzündlichen gerechneten Processen: Arthritis deformans, Tendinovaginitis cre-
pitans u. dergl. gewinnt mau den Eindruck, als ob eine örtliche Verminderung der
Gewebsflüssigkeit, der Sjaiovia etc. vorläge.
Oedematöse Tlieile zeigen Voliiiuszimahnie und Schwellung; die
normalen Contouren der Knochen, Muskeln verwischen sich, Falten
und Gruben gleichen sich aus, die Form wird plumper. Die Farbe
des Blutes, welche sonst durch die Haut schimmert, wird verdeckt durch die
massenhafte farblose Gewebsflüssigkeit und die Färbung wird eine
bleiche, wächserne, bei Stauungsödera in's Bläuliche spielend. Patho-
gnomonisch für Oedem ist, dass der Druck des Fingers eine Grube im
Gewebe, in der Haut erzeugt, welche sich nicht sofort, sondern erst
nach Minuten, selbst Stunden allmählich ausgleicht.
Dieses Stehenbleiben des Fingerdruckes ist das Zeichen der physikalischen Ver-
änderung der Gewebe, welche das eigentliche Wesen des Oedems ausmacht. Das
Gewebe ist dehnbarer und unvollkommen elastisch. (Vergl. Landerer, Gewebsspauuung.)
Oedematöse Gewebe fühlen sich kühl an. Ausserdem lassen sich
noch allerlei „trophische" Störungen an ihnen beobachten, — Ab-
sehilferungen , Neigung zu Druckbrand, langsame Resorption der in's
subcutane Gewebe eingespritzten Stotte u. dergl. m.
Von den verschiedenen Arten von Oedem ist das Stauungsödem
leicht zu verstehen (vergl. pag. 10).
Der in Capillaren und Venen fast zur Höhe des arteriellen angestiegene Blut-
druck presst Flüssigkeit in Menge in die Gewebe hinüber, die Spannung der Gewebe ist
erhöht, sie fühlen sich hart und gespannt an. Die Folge ist eine enorme Steigerung
der Lymphmenge ; die Lymphe ist dünn, blutfarbig, wenig zur Gerinnung geneigt. Nach
einiger Zeit — bei experimenteller Verschliessung der Venen etwa eine Stunde nach
Beginn des Versuchs — fängt die Lymphmenge an sich zu vermindern. Zu gleicher
Zeit tritt Oedem auf, der Theil fängt an siclitbar zu schwellen und der Fingerdruck
bleibt stehen. Das Stauungsödem ist ein sehr straffes, pralles Oedem, weil die Gewebs-
spannung hoch ist.
Weniger klar und einfach erscheinen Entstehung und Bedingungen
des marantischen oder hj^drämischen Oedems. Bei Leuten,
welche sehr geschwächt sind durch lange Krankheit (Krebs, Tuberculose,
dann besonders bei Herz-. Lungen-, Nierenaffectionen) finden sich —
dem Schwächezustand parallel — ödematöse Anhäufungen, namentlich
an Körperstellen, wo die Circulation an sich schon durch die Schwere
ungünstig beeinflusst ist, an den Füssen, um die Knöchel herum, bei
Bettruhe an Gesäss und Rücken. Diese Oedeme sind „schlaft'", selbst
weiche Gegenstände, Luftringe u. dergl., drücken tiefe Gruben in die
Haut ein. Das Aussehen der Haut ist wachsgelb oder grau, die Haut
ist kühl; leicht treten Ernälirungsstörungen, Druckbrand ein.
Auch experimentell ist das liydrämische Oedem noch nicht völlig erklärt.
Cohnheim und Lichtheim versuchten durch Erzielung künstlicher Hydrämie mit Hilfe
von Infusion grosser Mengen Kochsalzlösung in den Kreislauf diese „hydrämischen"
Oedeme zu erzielen. — Sie bekamen wohl Oedeme, aber nur in einigen inneren Organen,
Pancreas, Nieren u. s. f., und Ascites; ausserdem entstand eine kolossale Steigerung
der Lymphmenge; das charakteristische Oedem des Unterhautzellgewebes, das Oedema
anasarca, vermochten sie nicht zu erzielen. Beim echten marantischen Oedem hal)en
wir es mit niedrigem Blutdruck und langsamer Blutl>ewegung zu thun; in den Cohnheini-
schen Versuclien war Blutdruck und Stromgeschwindigkeit erlieblich gesteigert. Hydrämie
allein genügt nicht zum Zustandekommen dieser Oedeme, es müssen auch Ernährungs-
2*
20 I. Capitel. — Ocitliclie Kreislaufs- nml Ki'iiäfnungssUirangen.
Störungen dabei sein. Daher nennt man diese Oedeme hessei- marantische als hy-
drämisclie.
Mikroskopisch findet man bei Oedeni die JJindegewebsfasern
g-e(iuollen, plump, die Zellen gleichfalls gequollen, von unvegelmässiger
Form, oft blasig aufgetrieben, das Protoplasma meist stark lichtbrechend,
wie wasserhaltig. — Das ödematöse Transsudat ist sehr arm an Ei weiss
und gerinnt schlecht und langsam.
Selbst einzelne Zellen, nicht blos ganze Gewebe, können ödematöse
Veränderungen erleiden. Auch hier sind die Zellen gequollen , wie ge-
bläht, oft sehr glänzend, grösser als normal. Der Zustand dieser öde-
matösen Infiltration ist sehr ähnlich dem der „hydropischen" Degeneration.
Oft ist dieses Quellen der Zellen nur eine Vorstufe des gänzlichen Ein-
gehens derselben. Die „Mastzellen" mögen so entstehen.
Das „Oedem ex vacuo" entsteht da, wo andere Organe schwinden,
um starrwandige Höhlen (Schädelhöhle) auszufüllen.
Ferner gibt es Oedeme durch Nerveneinflnss — z. B. bei Hy-
sterischen, dann durch allerlei, im Wesentlichen den Entzündungserregern
ähnliche Ursachen — Vergiftungen (Schlangen-, Insectenbisse, Berührung
mit scharfen Stoffen , wie Brennnesseln , Urticaria) durch Hitze , Kälte
n. s. w. — Zu den chemisch erzeugten Oedemen gehört das Myxödem,
ein straffes, blasses Oedem, welches bei Ausschaltung der Schilddrüse
sich entwickelt.
Als Begleit- und Theilerscheinung anderer Processe, namentlich der Entzündung,
tritt Oedem auf — „entzündliches Oedem". Auch das „collater ale" Oedem,
welches um entzündete Stellen als äusserster Hof auftritt, ist weniger eine Folge der Cir-
culationsstörung, als die äusserste Welle der entzündlichen Veränderung. Manche Oedeme
Averden mit Thrombose oder Verstopfung der Lj^mphgefässe in Verbindung gebracht. Dies
ist bei Fällen vorgeschrittener krebsiger Infiltration, dann auch bei manchen Formen
von Elephantiasis der Fall.
Traumatische Oedeme sieht man nach Verletzungen, dann
nach angestrengten Marschübungen an den Füssen u. s. w. Als letzte
Nachwehe von Verletzungen und Entzündungen sieht man oft Oedem
auftreten, wenn Operirte aufstehen, die ihre Beine lange nicht gebraucht
haben. — - Manche Oedeme werden auf Ischämie bezogen (s. pag. 5).
Dass es schliesslich auch Oedeme als selbständige Erkrankungen
gibt, ist nicht zu leugnen; doch thut man gut daran, in jedem Falle
von Oedem auf's Pünktlichste nach örtlichen oder namentlich allge-
meinen Ursachen — Herz-, Nieren-, Lungen- u. dergl. Leiden — zu
forschen, ehe man sich mit der Diagnose „essentielles idiopathisches
Oedem" beruhigt.
Beseitigung des Grundleidens (Stauung, Marasmus) ist die erste Auf-
gabe der Behandlung des Oedems. Im Uebrigen ist dieselbe eine
mechanische. Alles, was den Lymphstrom begünstigt, hohe Lage, Ein-
wicklung mit Binden, vorsichtige Auspressung durch elastische Einwick-
luiigen, namentlich aber Massage sind zweckmässig. Ist die hydropische
Flüssigkeit in freien Höhlen (Peritoneum u. s. f.) angesammelt, so wird
sie durch Function mit einem Troicart entfernt. — Die Entleerung der
in die Gewebsmaschen eingelagerten Oedemfiüssigkeit durch capilläre
Drainage oder kleine Incisionen gibt meist nur vorübergehende ge-
legentliche Erfolge.
Eutzüudung. 21
Entzündung.
Die fünf Cardinalsymptome. — Schmerz. — Functionsstörung. — Hitze. — Röthe.
— Schwellung. — • Mikroskopisches und makroskopisches Verhalten entzündeter
Gewebe. — Die verschiedenen Formen der Entzündung. — Hyperämische, seröse
Entzündung. — Eiterung und Abscessbildung. — Hämorrhagische Entzündung. —
Brandige Formen. — Traumatische Entzündung, - — Verschiedene Entzündungs-
theorien. — Entstehungsweise und Erreger der Entzündung. — Ausgänge der
Entzündung. — Entzündliche Regeneration. — Allgemeine Behandlung der
Entzündung.
Die wichtigste und häufigste Störung- der örtlichen Circulation
ist die Entzündung. Die hauptsäclilichsten Erscheinungen dieses
Vorganges sind Jedem aus dem täglichen Leben bekannt. Bei jedem
schlimmen Finger kann man beobachten, dass entzündete Theile röther
sind als sonst, sich heisser anfühlen, dass sie geschwollen und dass
sie schmerzhaft sind. Es sind damit die Cardinalsymptome der
Entzündung, wie sie schon von den Alten festgestellt sind, der
Dolor, Rubor, Tumor, Calor genannt. Als weiteres fünftes Symptom
hat die neuere Zeit noch hinzugefügt die Functio laesa, die Func-
tionsstörung des entzündeten Theiles.
Die S c hm erzemp findung ist eine durchaus sabjective und man darf nur
mit Kritik Schlüsse daraus ziehen. Der .,Torpide" rührt sich kaum bei der Verschie-
bung zerbrochener Knochen; sensible und schlaife Naturen erliegen den leichtesten
Schmerzen vollständig, während der Energische, selbst um den Preis der Gesundheit,
sich nichts anmerken lässt.
Der Grad des Schmerzes ist überaus verschieden. Bei schleichend verlaufenden
chronischen Entzündungen ist es nur die immer wieder sich aufdrängende unangenehme
Empfindung in dem kranken Theile. Ein anderes Mal zeigt der Schmerz eine solche
Intensität, dass er jedes Bemühen , ihn auch nur einen Augenblick zu vergessen, über-
windet und schliesslich alles Denken und Fühlen absorbirt und auf sich concentrirt.
Die Art, der Charakter des Schmerzes kann mitunter für die Beur-
theilung des Falles Anhaltspunkte geben. Bei manchen schleichend, „chronisch'' ver-
laufenden Entzündungen, namentlich in tiefliegenden Organen, ist es nur ein Gefühl
schmerzlicher Schwere in dem leidenden Theil. Der Schmerz ist „heimlich'" oder
dumpf. — Die „rheumatischen" Leiden sind durch einen „reissenden'" Schmerz aus-
gezeichnet. Andei'e Schmerzen sind bohrend, besonders solche, welche von (syphilitischen)
Knochenafl'ectionen ausgehen; andere wieder brennend. „Klopfende'" oder ..pochende'"
Schmerzen, dem Arterienpulse synchron, kommen namentlich vor, wo sich die Ent-
zündung zur Eiterung anschickt. Wenn ein Nerv entzündet oder gedrückt ist, „strahlt'"
der Schmerz „aus'" auf andere Zweige desselben Nerven, selbst andere Nervengebiete.
Keineswegs entspriclit die Empfindung des Kranken immer genau der Stelle, wo das
Jjeiden seinen wirklichen Sitz hat. Die ..Localisation'" des Schmerzes ist eine selir
ungenaue. Druck auf den Stamm eines Nerven wird in der Peripherie empfunden.
Amputirte empfinden Störungen im Nervenstumpf als Schmerz in den längst verlorenen
Fingern oder Zehen , Hüftgelenkleidende verlegen den Schmerz oft in's Knie.
In anderen Fällen vermögen wir den Zusammenhang und die verbindenden Bahnen
gar nicht zu durchschauen ; so findet sich oft Schmerz in der rechten Scliulter liei
Attectionen der Leber. Häufig vermag der Kranke seine Schmerzen überhaupt nicht
zu localisiren, sie sind ..herumziehend, vage'" und lassen dann mehr auf eine allgemeine
als eine örtliche Erkrankung schliessen , auf anämische Zustände, tuberculöse oder
s^'philitische Leiden, rheumatische Attectionen, scliwere Nervenkrankheiten, namentlicli
im Beginn. Der Chirurg legt im Ganzen mehr Gewicht auf ..fixe"" Schmerzen, besDuder.^
wenn sie auf bestimmte kleine Bezirke beschränkt sind und stets genau auf
dieselbe Stelle verlegt werden. Die „fixen'" Schmerzpunkte, z.B. an den Knochen, in
der Nähe der Gelenke sind als erste Anzeichen tief im Knochen verborgen liegender scliwerer
(scrophulöser oder syphilitischer) Knochen- und Gelenkleiden sorgfältig zu beachten.
Auch die Zeit des Auftretens von Schmerzen darf man nicht au.sserAcht
la.ssen. Manche Schmerzen sind „intermittirend'" . Schmerzanfälle und dazwisclien vidlig
22 J- Ca|)it,el. — Oi'i'tliclK; Kri'islaiiJ's- und KI■llilllruilf.^^.stöl■ulJg^in.
freie l'ciusoii. Koinmeii die .Sclimerzeii imi] iioeJi ganz i'egehnäsHig zu Ijestimmten
Stunden, so legen sie den Gedanken nahe, da.ss das Leiden, z. \'>. der Nervenschmerz,
auf Malariainfection (VVechselfieber) beruhe. Die Nervenentzündung macht meist nielir
eine continuirliche Emptindung gegenüber der anfallsweise auftretenden Neuralgie.
Syphilitische Knochenleiden, bei Tage oft erträglich, sind berüchtigt durcli die heftigen
nächtlichen Schmerzattaquen — Dolores nocturni osteocopi. — Auch rheumatische Schmerzen
sind bei Nacht sclilimmer als bei Tage.
Eine andere Erscheinung ist aber ebenso sorgfältig zu beachten , die Ab-
Avesenheit oder auffallend geringe Intensität des Schmerzes bei Aifectionen,
wo man sonst heftige Schmerzen beobachtet. So gibt es Kranke, die auf thaler-
grossen Geschwürsflächen in der Fusssohle ohne Schmerz stundenlang gehen, die ganz
zerstörte Gelenke wie gesunde gebrauchen , die sich die Finger verbrennen , ohne es
zu empfinden. In solchen Fällen liegen Störungen der Nervenleitung oder schwere
Nervenleiden (Tabes) vor (neuroparalytische Entzündungen und Verschwärungenj.
Ein eigenartiger Zustand verminderter oder völlig aufgehobener Schmerzempfin-
dung ist mit gewissen psychischen Störungen (Melancholie, Tobsucht) verknüpft. Ebenso
ist die „Analgesie", die Verminderung oder Aufliebung des Schmerzgefühls charakteristisch
für Säufer, besonders im Säuferwahnsinn (Delirium tremens).
Der Schmerz ist eine Empfindung eigener Art, mit eigenen leitenden Bahnen
und wohl auch eigenen Centren (vergl. „gemischte Narcose").
Die Functionsstörung- entzündeter Theile ist zum Theil
bedingt durch den Schmerz, zum Theil durch die Beschädigung der
Gewebe, zum Theil durch die entzündliche Schwellung und Infiltration
der Gewebe. Der Störung in der Function geht oft eine kurze Steige-
rung derselben voraus (Drüsen, Schleimhautkatarrhe).
Die Entzündungshitze, der Calor, ist früher, namentlich
gegen Ende vorigen Jahrhunderts, Gegenstand besonders eingehender
Studien und lebhafter Controversen gewesen. Dass es dasjenige Symptom
der Entzündung ist, welches sich dem Kranken am eigenartigsten und
lebhaftesten aufdrängt, geht schon daraus hervor, dass die Benennung
des Processes in den meisten Sprachen gerade von dieser Erscheinung
her genommen ist (Intlammatio, Phlogosis u, s. w.).
Zahlreiche Fragen wurden mit Eifer discutirt : Wie hoch ist die Temperatur
eines entzündeten Theiles an sich und im Verhältnis zur Temperatur des zugeführten
Blutes und der des Körperinnern '? Ist der entzündete Theil eine Quelle erheblicher
Wärmemengen? Beruht das bei acuten Entzündungsprocessen nie fehlende Fieber auf
einer abnormen Wärmeproduction in dem entzündeten Theile?
Die Antwort , welche John Hunter gegeben , hat noch heute ihre Giltigkeit —
dass eine örtliche Entzündung die Wärme eines Theiles nicht über die Temperatur zu
erhöhen vermag, die man an der Quelle der Circulation findet. Hiatter's Aufstellungen
sind von Otto '[Veber angegriffen, von Jacobsohn, BiUrotli u. A. bestätigt worden.
Fast ausnahmslos fand sich die Temperatur in entzündeten Theilen niedriger, wenn-
gleich oft nur um wenige Zehntelgrade als in den inneren Theilen. Dass sie 4. 5 und
mehr Grade höher sein kann ( — 40") als die normaler, namentlich peripherer gleichnamiger
Theile , hatte schon Hunter gefunden. Wir werden somit die Möglichkeit erheblicher
Wäi'meproduction in Entzündungsherden und die Bedeutung derselben für die Ent-
stehung von Entzündungsfiebern von der Hand weisen. Selbst wenn wir den interes-
santen Berechnungen von Fiele alle Gerechtigkeit widerfahren lassen , dass ein solcher
Entzündungsherd, um ein Fieber von 39" oder 40" zu unterhalten, nur vielleicht 1 — IVa"
höher temperirt zu sein brauche , als das Blut. K. Böser suchte eine Quelle der Ent-
zündungshitze in der eigenen Wärmeproduction der die Entzündung erregenden Bacterien.
Der Kliniker wird die Möglichkeit einer Wärmeproduction im Entzündungsherd nicht
leugnen. Da aber ganz kleine Entzündungsherde — wie eine entzündete Fingerkuppe
— hohes Fieber erzeugen können, so bleibt für ihn kaum eine andere Erklärung, als
dass Fieber und Entzündungshitze wenn nicht ganz , so doch grösstentheils durch
die Einwirkung der aus den entzündeten Stellen aufgesaugten giftigen Producte der
Entzündungserreger, z. B. der Toxine der Eiterbacterien auf die Wärmecentren im Gehirn
entstehen (vergl. Fieber).
Die entzündlichen Circulationsänderungen lassen sich am
seh önsten bei directer Beobachtung unter dem Mikroskop, am lebenden
Entzündliche Circulationsstörung
23
Thier, am Mesenterium des Frosches, der Zunge oder der Schwimm-
haut desselben, dem Mesenterium des Kaninchens studiren (Colinheim).
Beim Mesenterium genügt die einfache Ausbreitung, Schwimmhaut und Zunge
müssen geätzt (z. B. mit verdünntem Crotonöl bestrichen) werden. Fig. 5 zeigt die
normale Circulation in der Schwimmhaut des Frosches, den centralen oder „axialen" Strom,
der die körperlichen Elemente, namentlich die rothen Blutkörperchen, enthält, und die
ruhende oder wenigstens beträchtlich langsamer fliessende Eandschicht. Diese hält in
grösseren Gefässen fast nur Plasma („plasmatische Randschicht"). Nur selten wird aus
dem rasch dahinfliessenden axialen Strom ein Blutkörperchen — rothe so gut wie nie,
häufiger sind es weisse — hinausgeworfen in die plasmatische Eandschicht, wird hier
eine Strecke weit langsam längs des Gefässrandes weiter gerollt, um schliesslich Avieder
vom Axenstrom gefasst und mitgerissen zu werden.
Bei der Entzündung nimmt
zunächst dieGesch windigkeit
des Blutstromes zu. In Arterien, Capil-
lareu und Venen schiesst das Blut
jetzt mit einer Geschwindigkeit, dass
in Arterien die einzelnen Blut-
körperchen nicht mehr zu erkennen
sind. Die Capillaren erweitern sich
beträchtlich. Viel mehr Capillaren
als sonst werden sichtbar. Eine
Eeihe von solchen , welche für ge-
wöhnlich nur Plasma führen , die
so eng zusammengezogen waren,
dass man sie leicht übersieht , er-
weitern sich und lassen körperliche
Elemente durch. An grösseren Ge-
fässen , Arterien und namentlich
Venen nimmt die Lichtung bis zum
Doppelten zu. (Vergl. Fig. 6.) Die
Erweiterung übertrifl't die bei arte-
rieller Hyperämie weit.
Nach dem Poisseiiille' sehen
Gesetz verhalten sich in capillaren
Röhren die Durchflussmengen , wie
die vierten Potenzen der Durchmesser.
Einer Erweiterung des Lumens auf's
Doppelte entspricht also eine Steige-
rung des durchfliessenden Blutes
aufs Sechzehnfache.
Nach kurzer Zeit (am Frosch-
niesenterium einer Viertelstunde bis
höchstens einer Stunde) tritt an Stelle
der Beschleunigung die Stromver-
1 a n g s a m u n g. — Die Bewegung
in den Gefässen, anfangs pfeilschnell, fängt an sich zu verlangsamen, zuerst in engen
Capillaren ; bald stagnirt das Blut auch in den Venen und nur in den Arterien bleibt
noch lange Bewegung, dem Puls isochron. Die Blutsäule wird nicht mehr viel vorwärts
geschoben , aber ihr noch eine zittei'nde Bewegung mitgetheilt. — Schon während der
Strom sich verlangsamte, fing in den Venen die Rand Stellung der weissen Blut-
zellen an bemerkbar zu werden. Die Zahl der weissen Blutkörperchen, welche aus
dem Axenstrom nach der plasmatischen Randschicht getrieben wird , nimmt rasch zu
und binnen Kurzem ist die Innenfläche des Gefässrohres aufs Dichteste besetzt , wie
gepflastert mit weissen Blutköi-perchen (Fig. Tb). In den Capillaren beobachtet man
diese Erscheinung nur wenig, in den Arterien so gut wie nie. Die weissen Blutkörperchen
werden als specifisch leichter in die Randschicht hinausgeworfen , wie der Papiei-pfropf
früher von der Erde angezogen Avird, als die Bleikugel (Weifjcrt). Der Randstellung
folgt die Auswanderung der Leukocyten aus den Gefässen in die Umgebung,
zuerst gesellen von Dutrocliet und \Wtller, in ihrer fundamentalen Bedeutung für die
Entzündung zuerst von Colmlieim erkannt. Zunächst sieht man ein Aveisses Blutkörperchen
einen Fortsatz gegen die Gefässwand hin vorschicken (Fig. lÜa); dieser Fortsatz bohrt
sich in die Gefässwand ein und durch dieselbe hindurch, um als ein kleines Knöpfchen
Schema der normalen Circulation in der Schwimmhaut;
des Frosches,
o Arterie , b Vene , c Capillaren (zum Theil nur Plasma
oder hin und wieder ein rothes Blutkörperchen haltend).
Ueher das Gefässnetz hreitet sich das polygonale Epithelnetz
der Schwimmhaut, die Pigmentzellen sind weggelassen.
24
I. Gapitel. — ^ertliche Kreislaufs- und Kriiäliriiii;?sst()nni;,'(;n.
Fig., 6.
Entzündliche Strombeschleunigung.
Benennungen wie in Fig. 5.
auf der Aussenseite des Gefässes zum Vorschein zu kommen. Allmalilieli scliiebt .sicli immer
mehr von dem Köqjer der Zelle nach; jetzt ist die Hälfte durch und die Zolle ist sandulir-
formig eingeschnürt (Fig. 10/^); der
äussere Tlieil hreitet sich fächerartig
und Fortsätze aussendend immer
mehr aus und zieht den Rest nacli
sich. Bald ist Alles draussen , das
Blutkörperchen ist frei I)ie Wand
hinter ihm ist unversehrt. Manchmal
treten mehrere Blutkörperchen liinter-
einander durch diesellje Stelle in
der Gefässwand hindurch.
Die Leukocyten benützen
wahrscheinlich die weiche Kittsub-
stanz zwischen den Endothelzellen
der Gefässe als Durchtritts.stelle
(Thoma, Arnold, Engelmann).
Während die Randstellung
der weissen Blutzellen wahrschein-
lich ein rein physikalischer Vorgang
ist, ist die Auswanderung derselben
aus den Gefässen ein activer Vor-
gang, eine Bethätigung ihrer Lebens-
und Bewegungsfähigkeit. Dies hat
Tlioma gegen Colinheim nachge-
wiesen. Berieselung des freigelegten
Mesenteriums mit 1 '/^.procentig. Koch-
salzlösung , welche die Bewegungen
der Leukocyten aufhebt , sistirt die
Auswanderung derselben , ohne die
übrigen Entzündungserscheinnngen,
die Circulationsänderungen zu stören.
Fig. 8 a stellt eine weisse
Blutzelle des Axolotl im Zustande
des Todes dar; die Form ist kugelig,
das Protoplasma körnig getrübt,
Kerne sind nicht zu sehen (nach
Lavdoivsky). Fig. 8 b zeigt eine
ebensolche im Zustande der Pseudo-
podienbildung, mit zwei, zum Theil
lang ausgezogenen Kernen. Die Zelle
schickt einen langen Fortsatz aus:
indem das Protoplasma längs des-
selben — in der Richtung nach dem
einen oder anderen Kern — hin-
fliesst, vermag sie zu wandern. —
Fig. 9 a ist ein zweikerniges, weisses
Blutkörperchen vom Menschen , bei
derselben Vergrössernng, a in Ruhe,
h und c in Bewegung (Pseudopodien-
bildung). Fig. 10 gibt die Auswan-
derung der weissen Blutzellen , bei
starker Vergrössernng. In Fig. 10 fc
leimt sich das Blutkörperchen an die
Gefässwand an; in 10 Z* fliesst es
durch, ist zu einem Theil draussen,
zum andern noch innerhalb des
Gefässes.
Dass entzündete Gefässe für
Leimlösungen leichter durchgängig
sind, als nicht entzündete, hat Wini-
warier nachgewiesen. Am entzün-
deten Mesenterium des Frosches trat
schon bei 25 Millimeter Druck Injectionsmasse in das GeAvebe über, am normalen erst
bei 75 Millimeter.
Entzündliche Strom verlangsamung.
Benennungen dieselben.
Bei ä Austritt rother Blutkörijerehen.
Auswanderuno; der weissen Blutzellen.
25
Bei schweren Entzündungen treten aucli rotke Blutkörperchen durch die unver-
letzten Gefässwände durch [Diapedesis (Fig. 7 d]).
Je mehr neue Blutkörperchen durchtreten, um so weiter rücken
die anderen von den Gefässen ab, sie verbreiten sich in den Geweben,
infiltriren sich in diese (entzündliche Infiltration) und erscheinen bei
weichen Geweben , z, B. dem Mesenterium , sogar frei auf der Ober-
fläche. Indem sie hier und auch im Gewebe über den Gefässen sich
ausbreiten, auf der Oberfläche zerfallen und Gerinnung' veranlassen, deckt
sich allmählich ein undurchsichtiger Schleier über das Ganze, die weiteren
Vorgänge verdeckend. Doch ist zumeist auch der Process seinem Ende
nahe gekommen. Das empfindliche Mesenterium wenigstens ist — durch
den Contact mit den allerlei Schädlichkeiten der Aussenwelt — dem Tode
nahe. In Fig. 7 sieht man die Grenzen der Epithelien der Schwimm-
Fig. 8. ■ Fig. 10.
haut verwischt, die Kerne undeutlich, verwaschen, das Protoplasma
der Zellen getrübt.
An der Schwimmhaut oder Zunge des Frosches lassen sich Modificationen her-
vorrufen , für welche sich das Mesenterium nicht eignet. Vor Allem kann man hier
sehen , dass sehr leichte Entzündungen durch ganz schwache Aetzmittel nur Strom-
heschleunigung zeigen , an die unmittelbar die Rückkehr zur Norm sich anschliesst.
Zur .Stromverlangsamung und irgendwie beträchtlichen Emigration ans den Gefässen
kommt es hier ül)erhaupt nicht. Dann lassen sich — durch scharf begrenzte Touchirung
der Schwimmliaut oder der Zunge mit dem Höllenstein-Stift — sehr hübsch die ver-
schiedenen Stadien der Entzündung und die normalen Circulationsverhältnisse neben-
einander beobachten. Von der Trübung des Aetzmittels etwas verschleiert, sieht man
in der Mitte, wo der Aetzstift gewirkt hat, völlige Stase; darum liegt eine Zone der
Verlangsamung, dieser folgt ein Bezirk mit Circuhitionsbeschleunigung und schliesslich
kommen Tlieile mit normaler Circnliition.
Veranlasst werden die farljlosen Blutkörperchen zur Auswanderung
durch die chemotactischen Eigenschaften der ausserhalb der Gefässe,
in den Geweben enthaltenen abnormen Steife. Unter Chemotaxis ver-
stehen wir die von lYc/fn- entdeckte, von Lchcr, Mamirf, Biir.hner auch
für Leukocyten nachgewiesene Fähigkeit gewisser cheiiiiseher Stoffe,
kleinste Lebewesen (Bacterien, Leukocyten u. s. w.) anzulocken (positive
2Q I. Capitel. — Owtliche Kreislaufs- und Ernährungsstöi'uugijii.
Chemotaxis oder Chemotropismus) oder abzusfossen (negative Ch.j.
Positiv cliemotactisch (Leukocyten anlockend) sind die Stoffwechsel-
iwoducte der Bacterien (Leber, Masmrt) und die Eiweissstoffe ihrer
Zellleiber (Proteine) (^J^McÄner^ selbst in Verdünnungen 1:3000; negativ
chemotactisch sind u. a.: Ammoniak, Leucin, Tyrosin, Harnstoff.
Entzündliche Transsudation und Leukocytenauswanderung dienen
dem Zweck , den Entzündungserreger fBacterienj im Gewebe wegzu-
schaffen oder zu zerstören und dem Gewebe zur Wiederherstellung
der Beschädigung (Regeneration) Material zu liefern.
Das Transsudat ist nicht nur als eiweiss- und salzreiche Er-
nährungsflüssigkeit für die Restitution des Gewebes wichtig. Das Blut-
plasma und das Blutserum haben schon bei normaler Zusammensetzung
bactericide Wirkung, d. h. das Vermögen, Bacterien abzuschwächen und
zu tödten. Entzündliches Transsudat besitzt diese bactericide Fähigkeit
in noch erhöhtem Masse (BuchnerJ.
Auch die Leukocyten betheiligen sich an dem Kampf mit den
Entzündungserregern. Es ist eine schon vor Jahren gemachte Beobachtung,
dass die weissen Blutkörperchen Fremdkörper, z. B. Farbstoff-, Fett- und
Pigmentkörnchen , aber auch
'^' ■ Bacterien in sich aufnehmen und
-^ — ^ zum Theil auch in sich verar-
r^/'^^) beiten, verdauen, fressen können
f ' \^ (Phagocytose). Sie können da-
/ - ' durch zu grossen Kugeln mit
^cLj»^-^^ trübem Inhalt (Fett-, Pigment-
körnchenkugeln) anschwellen.
^ Metschnikoff hat in der Phago-
cytose, in dem Auffressen, der Verdauung und Vernichtung der Bacterien
durch die Leukocyten das Wesen der Entzündung gesucht und auf Grund
dieses einen Theilvorgangs der Entzündung diese kurzweg als einen
Vorgang von Kampf um's Dasein in Barwin'^Qhtva Sinne bezeichnet,
wobei der Organismus die Leukocyten als mobile Armee dem Feind
entgegenwerfe. Fig. 11 zeigt (nach Metschnikoff) Leukocyten. die einen
Milzbrandbacillus in sich aufnehmen a — c, bei c ist der Bacillus in
3 Stücke zerfallen. Ob die Leukocyten im Stande sind, Bacterien von er-
heblicherer Virulenz in sich aufzunehmen und zu verdauen, ist von
Baumgarten bezweifelt worden , der annimmt , dass Leukocyten nur
schon abgetödtete Bacterien , Bacterienleichen , in sich aufnehmen und
weiterschaffen. Wenn aber das entzündliche Serum hohe bacterien-
vernichtende Eigenschaften hat (BuchnerJ^ so würde die mechanische
Fortschaffung der durch das Serum abgeschwächten oder abgetödteten
Mikroorganismen Seitens der Leukocyten genügen.
Die Fähigkeit der Phagocytose kommt aber nicht nur den Leuko-
cyten zu, sondern ebenso — vielleicht noch in erhöhtem Masse den
fixen Gewebszellen — Bindegewebszellen, Lymphgefäss- und Blut-
gefässendothelien, Capillarendothelien u. dergl. m. Diese haben sogar
die Fähigkeit , Leukocyten , selbst zu mehreren , in sich aufzunehmen,
vermuthlich als Material für Theilung, Vermehrung und Regeneration
der Zellen. Die Leukocyten können somit auch als Material für den
entzündlichen Wiederersatz verlorener Zellen, die Regeneration, dienen.
Die Aufnahme der Leukocyten in Zellen ist wohl ein Anlass zur Bildung
Entzüuduugsröthe. 27
der bei der Regeneration sich regelmässig findenden grossen, mehr-
kernigen und Riesenzellen (Fibro-Osteo-Sarkoblasten u. s. w.) (Ziegler).
Im Gegensatz zu anderen Anschauungen lässt Ch-aivitz die Zellen der entzünd-
liclien Infiltration nicM oder nur zum geringsten Theil durch Auswanderung von Leuko-
cyten aus den Blutgefässen in den Entzündungsherd gelangen , sondern zum grössten
Theil dort entstehen durch Theilung der vorhandenen Gewebszellen und durch Eückkehr
der normal im Bindegewebe latenten und unsichtbaren „Schlummerzellen" zum embryo-
nalen Charakter und zur Proliferation.
Die makroskopischen Beobachtungen über den Rubor
inflammatorius sind theils Experimenten am Kaninchenohr entnommen,
theils stammen sie von klinischen Erfahrungen.
Durchschneidet man am Kaninchen den Halssympathicus, so entsteht eine starke
arterielle H;yperämie des Ohres dieser Seite. Wird nun dieses Ohr zudem künstlich in
Entzündung versetzt , so erreicht die Gefässerweiterung noch einen viel höheren Grad.
Die entzündliche Gefässerweiterung übertrifft die arterielle noch um ein Erhebliches.
Bei klinischer Beobachtung z.B. einer Wundrose am Vorderarm zeigt
schon das rasche Gehen und Kommen der Röthe unter dem Drucke des Fingers die
Circulationsbeschleunigung. Eine örtliche Blutentziehung, eine grössere Anzahl kleiner
Einschnitte (Debridement), liefern sehr viel mehr Blut , als am gesunden Arm. Aus
der Zeit der Aderlässe ist es bekannt, dass der Aderlass am entzündeten Arme be-
deutend mehr Blut liefert als am gesunden.
Der Farbenton der entzündlichen Röthe ist ungemein ver-
schieden. Ein sattes, frisches Roth, „Scharlachröthe'"', findet sich
besonders bei acuten Exanthemen, beim Scharlach, bei der Wundrose;
eine Beimischung von Blau ist namentlich dem chronischen oder den
schweren, mit Stauung oder Stase verbundenen Entzündungen eigen.
Bei tiefliegenden Entzündungen, z. B, bei Knochenentzündungen, ist die
Entzündungsröthe ein blasses bläuliches Rosa, aus welchem erweiterte
Venen sich herausheben.
Wichtig ist das Verhalten der Röthung gegenüber dem Finger-
druck, Bei acuter Entzündung schiesst das Blut in demselben Augen-
blick, wo der Fingerdruck nachlässt, in die blasse Stelle wieder ein,
bei Entzündung mit Stauung nur langsam. Lässt sich die Röthung
durch den Finger nicht ganz wegdrücken , bleibt eine gelbe oder
röthlich1)raune Verfärbung zurück , so ist das ein Zeichen , dass schon
Blut aus den Gefässen in das Gewebe ausgetreten ist (vergl, Fig, 7 d).
Die Entzündung ist nicht mehr frisch.
Neben der Farbe ist auch die Ausdehnung, die Form, die Umgrenz ung,
der Rand der Eöthung der Beachtung werth. Man hat diffuse Eöthungen , die
unmerklich und allmählich in die normale Umgebung sich verlieren, bei tiefen Abscessen,
welche langsam nach der Obei-fläche fortschreiten, circumscripte dagegen mit scharf ura-
rissenen Rändern bei Entzündungen der Haut selbst. Die Händer sind zackig und strahlig
bei der Wundrose, geradlinig bei Verbrennungen, artiliciellen Entzündungen, Blasen-
pflastern , Senfteigen , trockenen Schröpf köpfen u. s. f. ; hier reicht die Eöthung genau
so weit, wie die schädigende Einwirkung. Manche Entzündungen bilden langgestreckte
schmale Streifen, wahrscheinlich Entzündung eines Lymphgefässes, einer Vene (Lymph-
angitis , Periphlebitis) : breitere Streifen entsprechen einer entzündeten Sehnenscheide.
Sorgfältige Beachtung solclier scheinbarer Kleinigkeiten bringt oft sofort Licht in die
Diagno.se.
Die Lymph menge ist beträchtlich vermehrt, auf das Sechs-
bis Zehnfache (Lassar). Sie ist dabei viel concentrirter , zeigt bis
8 Procent Fixa (gegenüber 4 Procent in der Norm), hält namentlich
viel mehr weisse Blut/.ellen und gerinnt dementsprechend viel leichter
und schneller. Steigert sich die Entzündung bis zum Tod der Oe\vel»e.
so hiirt die Lymjthljiidung ganz auf. Diese Aenderungen in der Lynipli-
bildung machen sich bemerklicli durch Anschwellung der Lymphgefässe
23 I. Cajjitel. — Oertliclio K)(!i.slauiK- und Ki)iälirini}^ss1öruiiy;(;n.
und beträchtliche Vergrösserung der Lymphdrüsen. — Die Resorption
ist in entzündeten Theilen vermehrt und hesclilcunigt.
Zur Beobachtung der Entzündung an ge fässlosen 'J'lieilen ist die
Cornea viel benutzt worden. Der Knorpel mit seinem trägen Stollweehsel verliält
sich zu passiv. — Wird die Cornea geätzt, so trüben sich nicht nur das Ejnthel und die
Corneazellen der Stelle selbst , auch ein wechselnder Bezirk ringsum („Degenerations-
zone") zeigt Veränderungen in Epithel und Zellen, Quellung und Trübung. Bald sieht
man vom Rande der Cornea her theils die Wanderzellen der Cornea, theils weisse
Blutzellen in den Saftcanälen der Cornea nach dem geätzten Bezirk hinwandern. Ebenso
wandern aus dem Conjunctivalsack durch das gelockerte Cornealepithel und von der
vorderen Kammer her durch die Descemefsche Haut weisse Blutzellen ein. Die ganze
Cornea quillt, ihre Oberfläche ist unregelmässig, das Gewebe gelockert. Erst später und
nur bei schwereren Störungen beginnen vom Rande der Cornea her sich Gefässschlingen
nach der kranken Stelle liin auszubilden , bald von allen Seiten , bald streifenförmig
nur von einer Stelle aus; damit unterscheidet sich dann der Process nicht mehr von
dem in gefässhaltigen Theilen.
Die entzündliche Schwellung- ist jedenfalls die constanteste
Erscheinung der Entzündung. Sie fehlt nie, auch nicht in gefässlosen
Theilen; Röthung, Schmerz, Wärmegefühl fehlen nicht so selten. Die
Schwellung ist in den Formen ihres Auftretens sehr verschieden.
Die entzündliche Anschwellung fühlt sich bald schlaffer, bald
straffer an. Entscheidend ist der Körpertheil, welcher von der Schwellung
betroffen wird; lockere Gewebe, wie das Präputium, die Schleimhaut
des Halses, die Haut der Lider bieten schlaffe Schwellung dar, an
anderen Geweben, namentlich solchen in dicken Kapseln oder unter
derben Fascien, ist die Schwellung straff. Je länger eine Schwellung
besteht, um so straffer und härter wird sie meist. Statt der Flüssigkeit,
welche die Hauptmasse ausmacht bei acuter entzündlicher Schwellung,
enthalten die Gewebe im Laufe der Zeit dann mehr körperliche Ele-
mente und faseriges Bindegewebe. Sie bedingen die grössere Härte.
Die entzündliche Schwellung ist die Folge der physikalischen Aenderungen der
Gewebe, die leichter dehnbar geworden sind und deren Elasticität eine unvollkommene
geworden ist (vergl. hanclerer, Gewebsspannung). Die entzündliche Volumszuuahme
ist nicht möglich ohne eine vermehrte Dehnbarkeit der Gewebe. Dass die Elasticität
eine unvollkommene geworden ist, geht u. A. aus der Faltenbildung etc. bei der Ab-
schwellung hervor.
Die bei frischen und schweren Entzündungen an den Geweben
zu beobachtenden Erscheinungen tragen im Wesentlichen iusge-
sammt den Charakter der Degeneration. Bald hat man trübe Schwellung
(parenchymatöse Degeneration), Verflüssigung und Vacuolenbildung
z. B. bei Verbrennungen, Verfettung (bei gewissen Vergiftungen).
Coagulationsnekrose u. s. w., oder die Zellen sind aus ihrem normalen
Zusammenhang gelöst (bei Aetzungen und Verletzungen). Selbst die
eingewanderten Zellen verfallen im Entzündungsherd theilweise der
Zerstörung. Dazwischen findet man dann eingewanderte Zellen, die
Producte der beginnenden Regeneration u. s. w., so dass das Bild im
Einzelnen schliesslich schwer zu deuten ist.
Die Praxis hat dazu geführt, verschiedene Formen und
Stadien der Entzündung zu unterscheiden. Eine einheitliche ana-
tomische oder ätiologische Gruppirung ist zur Zeit noch nicht möglich.
Sind vorwiegend die specifischen Gewebsbestandtheile betroffen,
hat man die Entzündung eine parenchymatöse genannt, eine inter-
stitielle dann, wenn die Veränderungen hauptsächlich am Zwischen-
bindegewebe als zellige Infiltration und Bindegewebswucherung auf-
fallend sind.
Seröse, adhäsive, eitrige Entzündung. 29
Die leichteste Form und das erste Stadium der Entzündung ist
die hyperämisclie Entzündung- (vergl. pag. 23). Transsudation und
Lymphbildung sind ebenfalls gesteigert. Wo die Transsudate in freie
Räume oder unmittelbar nach aussen treten können , nimmt dieser
seröse Erguss unsere Aufmerksamkeit unmittelbar in Anspruch und wir
reden von seröser Entzündung. Hiebei tritt oft der Erguss mehr
in den Vordergrund, so in Gelenkhöhlen, in der Scheidenhaut des Hodens.
Hieher gehört auch ein Theil der Schleimhaut-Katarrhe, wo vor-
wiegend Hyperämie und seröse schleimige Ergüsse auf die Oberfläche
zu beobachten sind. Jede Entzündung kann mit der Hyperämie ein-
setzen. Die entzündliche Hyperämie wird wieder rückgängig oder geht
in ein anderes Stadium über. Die brandigen Entzündungen können
gleich mit Blutstockung einsetzen.
Die „adhäsive" Entzündung besteht darin, dass zwei binde-
gewebige Flächen direct aneinandergelegt oder nur durch eine dünnste
Schicht — Blut, Faserstoffgerinnsel — getrennt, mit einander verlöthen
(seröse Flächen). Die reparatorischen Veränderungen treten so in den
Vordergrund , dass diese Form der Entzündung besser bei der Wund-
heilung besprochen wird.
Eine höchst interessante und häufige Form der Entzündung ist
die eiterige Entzündung.
Die Bedingungen der Eiterung sind in den letzten Jaliren von den ver-
schiedensten Seiten experimentell studirt worden.
Früher hielt man die Eiterung für eine Steigerung der entzündlichen Hyperämie
und glaubte, wenn die weissen Zellen, welche aus den Blutgefässen austreten, nur zahlreich
genug wären, so flössen sie schliesslich zu jener Emulsion zusammen, die man Eiter nennt.
Die Ansicht von Cohnheini, Councilman u. A., dass Eiterung nur durch Bacterien
hervorgerufen werden könne, hat sich nicht halten lassen. „Eiterung ist keine specifische
Eeaction auf einen specifischen Eeiz." (Rinne, Langenheck's Archiv, Bd. 39.) Auch
Chemikalien, Bacterienptomaine und abgetödtete C'ulturen machen Eiterung. Alle nur durch
Chemikalien erzeugten Eiterungen heilen nach ihrer Entleerung sehr rasch, verbreiten sich
nicht weiter und machen keine Metastasen (Unterschied von den bacteriellen Eiteraugen).
Wohl ist beim Menschen Eiterung ohne Mikroorganismen bisjetzt nicht nachgewiesen,
am Thier lässt sich jedoch Eiterung ohne „Bacterien" durch chemisch stark wirkende
Stoffe (sog. Acria, wie Argentum nitricum, Terpentinöl, Crotonöl, Quecksilber, Cadaverin
u. a.) hervorrufen (Grawitz und de Bary , Virchow's Archiv, Bd. 108 und 116;
Rosenhach und Kreibohm, Langenheclc s Archiv, 37).
Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass kleine Mengen von Eitererregern, ausser
wenn sie von ungewöhnlicher Virulenz sind, zur Erzeugung von Eiterung nicht aus-
reichen. Massige Mengen von Staphylokokken werden von den antibacteriellen schützenden
Einrichtungen des Organismus vernichtet, wenn sie subcutan oder intraperitoneal injicirt
werden (Rcichel , Rinne, Grawitz). Noch viel leichter wird der Körper mit ihnen
fertig bei intravenöser Injection derselben.
Die Untei'suchungen von Rinne {Langenheclc' s Archiv, 39) und Grawitz,
Vini Reichel {Langenheck's Archiv, 42 und 49) haben ferner ergeben, dass zum Zustande-
kommen der Eiterung noch weitere begünstigende Momente hinzukommen müssen ;
ganz besonders eine Schädigung oder Vernichtung der Schutzkraft des Körpers
{Rosenhach, Passet, Grawitz u. A.). Entweder es müssen die Ptomaine der Eiterkokken
mit übertragen werden, die die Zellen chemisch schädigen und auch ohne Bacterien Ab-
scedirung hervoiTufen können (für Rinne eine Conditio sine ijua non) oder chemisch
reizende Stoffe, wie Cadaverin , Ammoniak etc., müssen neben den Kokken einverleibt
werden. Oder dieselben müssen in einen „todten Winkel" eingeführt werden , wo die
Zellen ihre bacterienvernichtende Kraft nicht ausüben können. Begün.stigend wirken in
diesem Sinne Verletzungen und Blutergüsse {Rosenhach, Fasset, (irairiiz u. A.). Nacli
Reiche/ begünstigen einfache Incisionen die Eiterbildung wenig, wohl aber buchtige
Wunden, z. B. Muskelwunden.
Auch erhölite Disposition des Körpers kann begünstigend wirken. So soll
{Reiche!, Langenheck's Archiv, 44) verminderte Alkalescenz des Blutes die Entwicklung
30 '• Oajiitel. — ■ 0(!rtlicli(; Kroisliiiifs- iiml iMiiJJliniii^s.stöi'unK'üi.
der Kokken begünstigen, vermehrte Alkalescenz ihr entgegen wirken, lilutverlu.st, Hydrämie
begünstigen die Eiterung (Gürlner, lieichel); Zuckerharnruhr und älinlielie Constitutions-
anomalien mögen ähnlich wirken. Alles, was eine länger dauernde Einwirkung der
Kokken auf die inticirte Stelle herbeifühi-t, was die Resorption stört oder iiindert, z. B.
Unterbindung einer Hauptarterie, begünstigt die Eiterljildung ; was die Resorption fördert,
wirkt der Eiterung entgegen (RpÄchel, Rinne).
Oertlich wirkt eine energische Zellwucherung den Eiterkokken entgegen, während
sie in ödematösen Theilen rasch wachsen und sich verbreiten (Graiviiz).
In 200 Abscessen fand Karlinsky 82nial S taph ylococc us aui'eus (Fig. 12).
45mal Streptococcus pj^ogenes (Fig. 13), 55nial Staphylococcus albus, Tmal Staphylo-
coccus citreus , 6mal Micrococcus tetragenus, 3mal Bacillus foetidus , 2mal den Fried-
Zö'nf^er'schen Bacillus, theils allein, theils gemischt nebeneinander.
Bacterium coli fand sich • — zum Theil allein — in gashaltenden jauchigen
Phlegmonen (Fränkd, Tavel und Lanz), z. B. in Strumaabscessen. Bacterium coli
scheint übrigens keine bacteriologische Einheit zu sein , sondern ist vielleicht identisch
mit Bacillus neapolitanus (Emmerich), Bac. foetidus u. a. Es soll auch Meningitis,
Endokarditis etc. erzeugen können (Park, Chir. Centralbl., 1894, Nr. 21).
Auch der Proteus vulgaris {Hauser) macht jauchig eitrige Processe (Brunner,
Mtinchener med. Wochenschr.. 1895, 5), ebenso kann der Typhusbacillus , der Diplo-
coccus pneumoniae, der Gonococcus, der Eotzbacillus gelegentlich Eiterung erzeugen.
In einem Leberabscess fanden Grimm (Langenheck's Archiv, 48), Nasse
{Langenheck' s Archiv, 43), Berndf (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 40) Protozoen.
Um die aus den Gefässen über-
'^'^' ■'"^' ^^' ^^' getretenen Entzündungsproducte und die
präexistenten Gewebsbestandtheile in
^, , Eiter überzuführen , bedarf es einer
5 C " •" Verflüssigung derselben, zum Mindesten
,^ V einer Yei'hinderung der Gerinnung, die
jf^";\// ja sonst sich einstellt, wenn weisse Blnt-
!° i' !,' Zellen nnd Plasma aus den Gefässen
•"'^ ii austreten. Yermuthlich ist die Ursache
\^, ,. hievon in der eigenartigen Wirkung der
. ■'"'*. ./'"• eitererregenden Mikroorganismen zu
i,, ••'■"' suchen. Dieselben „verflüssigen feste
Nährböden" , Gelatine , Blutserum u.
Staphylococcus pyogenes und Streptococcus pyogenes. dergl., auf denen sie gezüchtet werden.
1 ° .
Reincultur. Vergr. Zeiss Immers. — Oc. 5. und man ist geneigt . diese Eigen-
thümlichkeit mit der Fähigkeit der-
selben , Peptone zu bilden , in Verbindung zu bringen. Peptone gerinnen nicht und
verhindern, dem Blute oder der Lymphe zugesetzt, die Gerinnung.
Die zur Zeit sich iiocli maniiichfacli widersprechendeii Ansichten
lassen sich ungefähr dahin zusammenfassen : Abscesse ohne Mikro-
organismen gehören in der Praxis zu den grössten Seltenheiten (z. B.
durch Injection von Calomel). Zum Zustandekommen von Eiterung ist
es nöthig, dass Mikroorganismen von nicht zu schwacher Virulenz und
in nicht zu kleiner Menge an Orte gelangen, wo die Bedingungen ihrer
Entwicklung günstig sind durch gleichzeitige Anwesenheit von Stoffen,
die die Gewebe chemisch schädigen, z. B. Toxine , oder todte Winkel,
wie Blutergüsse, Fremdkörper u. s. f., oder dass das betreffende Gewebe
oder der Gesammtk(5rper durch schädigende Momente in seiner Wider-
standsfähigkeit geschwächt ist.
So lange der Eiter in den Lücken zwischen den noch erhaltenen
Gewebstheilen sitzt, sprechen wir von eitriger Infiltration der
Gewebe. Sind aber diese gleichfalls eitrig eingeschmolzen und ist der
Eiter zu einer förmlichen Höhle zusammengeflossen (confluirt), so hat
man den „Abscess", die Eiterhöhle, vor sich. Die Abscesse. welche
in dieser Weise durch die angegebenen Mikroorganismen entstehen,
sind die „heissen oder acuten Abscesse", im Gegensatz zu den
chronisch entstandenen „kalten".
Acute Abscesse. — Fluctuation. . 31
Die klinischen Erscheinung-en der heissen Abscesse sind
meist ziemlich prägnant. Beginn und Verlauf ist ein rascher, in einigen
Tagen oder Wochen sich abspielend. Röthung und Schmerzhaftigkeit
sind stark ausgesprochen. Die Schmerzen sind klopfend, dem Pulse
isochron; daneben ist oft noch das Gefühl der Spannung vorhanden.
Die meisten acuten Abscesse haben das Bestreben, nach aussen durch-
zubrechen. Unter hohem Drucke stehend, müssen sie sich nach dem
Orte geringsten Widerstandes hin weiter verbreiten und werden ihnen
ihre Wege durch die anatomischen Verhältnisse des Entstehungsortes
vorgeschrieben. Meist sind es Räume lockeren Bindegewebes,
Spalten zwischen Muskeln , längs der Gef ässe u. dergl. , in denen sie
sich weiter verbreiten. Auf der anderen Seite setzen oft derbe Binde-
gewebszüge, Fascien , Gelenkkapseln oder gar Knochenwände ihrer
Durchbrechung schwere Hindernisse entgegen und werden dadurch die
Eiteransammlungen zu Umwegen genöthigt. Die acuten Abscesse legen
nicht so weite Wege zurück wie die chronischen , weil in den Grenz-
bezirken der Entzündung die Gewebsspalten sich durch adhäsive Ent-
zündung verlöthen und so dem Weiterdringen einen gewissen Damm
entgegensetzen. Meist drängt der Abscess auf ziemlich geradem Wege
nach der Obertläche — nach der äusseren Haut, einer Schleimhaut oder
serösen Höhle. Nur selten und nur kleine Abscesse vermögen eingedickt
für einige Zeit, für Monate, selbst Jahre und Jahrzehnte zu ruhen, um
dann, durch irgend einen ungünstigen Zufall (eine kleine Verletzung)
wieder manifest zu werden. Ebenso ist die Abkapselung der Ab-
scesse, die Umschliessung durch eine derbe schwielige Biudegewebs-
lage ein selteneres Vorkommniss (Hirnabscesse).
Auch ohne Züchtung lässt es sich oft schon nach den klinischen Erscheinungen
mit einer gewissen Sicherheit feststellen , welcher Mkroorganismus die Ursache des
Abscesses ist. Die Staphylokokkenabscesse entwickeln sich rasch, in wenigen Tagen
nuter hohem continuirlichem, gleichmässigem, nur geringe Morgenremissionen (1") zeigendem
Fieber, sehr heftigen Schmerzen, starker Störung des Allgemeinbefindens. Die Röthung
ist lebhaft , die Spannung des Eiters stark, so dass dieser bei der Eröffnung in hohem
Strahl herausspritzt. Nach der Entleerung erfolgt meist rasche Heilung.
Der Streptokokkenabscess entwickelt .sich langsamer, das Fieber ist un-
regelmässig, meist nicht so hoch, die Eöthung weniger lebhaft, die Schmerzen nicht so
intensiv ; die Spannung des Eiters ist gering. Nach der Entleerung bleibt eine Neigung
zum Weiterschreiten und zu Senkungen zurück und die Heilung erfolgt langsam
und zögernd.
In stinkenden und gashaltigen A bscessen findet man meist noch Bacterieii.
z. B. das Bacteiium coli, den Proteus u. s. f.
Ist der Abscess in eine gewisse Nähe der Oberfläche gelangt, so
bietet er das klinisch äusserst wichtige Symptom der Fluctuation.
Legt man die Zeigefinger beider Hände auf den l)etrettenden Theil
auf und gibt mit dem einen Finger einen leichten Stoss. so setzt sich der-
selbe — wenn freie Flüssigkeit vorhanden — nach bekannten hydro-
statischen Gesetzen durch die Flüssigkeit hindurch ungeschvvächt auf den
anderen Finger fort und dieser fühlt deutlich eine He])ung. Je dünnei- die
Flüssigkeit, um so deutlicher die Fluctuation. Bei starker Spannung
der Wände geht das Gefühl der Fluctuation fast ganz verloren; in
dünner , wenig gespannter Flüssigkeit ruft ein kurzer Stoss fönnlichc
Wellen — sichtbar und fühlbar — hervor, Undulation. So leicht
es ist, der Oberfläche nahe Flüssigkeitsergüsse durch die Prüfung auf
Fluctuation zu erkennen, so schwer ist es bei tiefsitzenden. Das Gefühl
32 T- Capitel. — Oertliclic Kreislaufs- und Eniälirungsstörungen.
der „Pseudofluctuation" vermögen weiche, zellenreiche Geschwülste,
Muskeln, ein schwangerer Uterus u. dergl. hervorzurufen.
Der Durchbruch des Abscesscs erfolgt nach aussen durch
Verdünnung der Haut. Fast immer findet man dann die Spitze der
sich konisch zuspitzenden Abscessdecke nekrotisch und blau. Man
soll die Spontaneröffnung nicht abwarten, sondern so früh als
möglich den Abscess eröffnen und dadurch umfänglichere
Zerstörungen verhüten. Ein zu früh gesetzter Schnitt wird unter
dem Schutze der Antisepsis nie schaden. Selbst der eitrigen Infil-
tration kann man durch frühe kleine (1 — 2 Centimeterj die Fascie
durchsetzende Einschnitte (Debridement multiple) meist Halt gebieten.
Der fertige Abscess erfordert einige Vorsichtsmassregeln bei der Er-
öffnung, namentlich in der Nähe grosser Gefässe oder Nerven. Es
ist ein grober Fehler, mit tief eingestochenen spitzen Messern nach dem
Eiter zu suchen. Man schneidet nur Haut und Fascie mit dem Messer
ein und bohrt sich dann mit spitzer Kornzange in die Tiefe. Quillt der
Eiter hervor, so zieht man die Zange halb geöffnet heraus und er-
weitert stumpf die Oeffnung. Dieses Verfahren ist auch unbedingt der
Eröffnung mit dem Troicart vorzuziehen, wo ich die Haut auch immer
vorher mit dem Messer spalte. Ist ein Theil des Eiters — nicht zu
schnell — abgeflossen, so kann man, wenn nöthig und wenn der Abscess
gross ist, stumpf oder mit an der Spitze geknöpftem Messer erweitern,
bis man mit dem Finger untersuchen kann.
Abscesse müssen „drainirt" werden, um völligen Abfluss des
Eiters zu sichern. Zwischen den Armen einer Kornzange oder durch
die Canüle des Troicarts schiebt man ein gefenstertes desinficirtes
Gummirohr ein, das man an die Haut auf der einen Seite des Schnittes
annäht oder durch einen Seidenfaden, eine Sicherheitsnadel u. dergl.
vor dem Hineingieiten schützt. Das früher übliche Auswaschen der
Abscesse mit antiseptischen Flüssigkeiten ist nutzlos, kann aber oft
Schaden bringen. Noth wendig ist, dass der Abscess an dem tiefsten
Punkte eröffnet und drainirt wird. Jede Stelle, aus der der Eiter
nicht leicht und vollständig abfiiessen kann, ist für sich zu drainireu.
Das Auswischen mit steriler Gaze oder das Ausräumen mit dem
scharfen Löffel kann mitunter nöthig sein. Ein wohl aufsaugender
Verband deckt das Ganze. (Ueber die Heilungsvorgänge in Abscessen
siehe Wundheilung.) Eigene neugebildete Wandungen, „Abscessmem-
branen", haben acute Abscesse nicht, ihre Wände sind gebildet von den
auseinandergedrängten, entzündlich veränderten und verlötheten Geweben.
Die eitrige Infiltration trägt klinisch alle Zeichen der acuten
Entzündung (siehe pag. 21 ff.), nur ist die Fluctuation nicht deutlich.
Die Behandlung besteht in Hochlagerung, wenn möglich verticaler
Elevation des betreffenden Theils und antiseptischen Umschlägen (z. B.
Sublimatlösung 1 : 3000). Nehmen Schwellung, Schmerzhaftigkeit und
Fieber nicht binnen 24 Stunden merkbar ab, so macht man eine
grössere Anzahl kleiner Einschnitte (1'5— 2-5 Centimeter lang) durch
Haut und Fascie (Debridement multiple). Zunächst kommt blutiges
Serum, später mitunter auch Eiter aus den Schnitten (die durch Ein-
bohren einer spitzen Kornzange vertieft werden können).
Der Eiter bildet eine Emulsion von Milch- bis Ealimconsistenz , Aveiss bis
gelblich, alkalisch reagirend, geruchlos oder fade riechend (Pus bonum), in einzelnen
Fällen (siehe pag. 30 und 31) und in der Nähe des Darmes aashaft stinkend.
Eiter. — Fibrinöse und croupöse Entzündung. 33
Der Eiter setzt sich zusammen aus den aus den Blutgefässen ausgetretenen
weissen Blutkörperchen und Plasma, aus den die Eiterung bedingenden Mikroorganismen
und aus den Trümmern der abgestorbenen , erweichten und verflüssigten Gewebe. Die
Eiterkörperchen sind vorwiegend Abkömmlinge der ausgewanderten weissen Blut-
zellen in verschiedenen Stadien der Degeneration , wenngleich die Möglichkeit nicht ge-
leugnet werden soll, dass dieselben auch durch Theilung der lixen Bindegewebskörperchen
entstehen können {Grmvitz lässt auch die Eiterkörperchen aus seinen Schlummerzellen
entstehen).
Die Eiterkörperchen mögen aus der Milz, den Lymphdrüsen u. s. w. herstammen.
Während der Abscess sich bildet , circuliren im Blut stets massenhafte Leukocyten,
deren Menge mit der Eröffnung des Abscesses plötzlich absinkt.
Die Eiterkörperchen sind meist polynucleär, etwas grösser als weisse Blutkörper-
chen, gewöhnlich körnig getrübt. Erst nach Essigsäurezusatz oder durch starke Kern-
färbeniittel treten einer oder mehrere Kerne hervor. Sie halten Fetttröpfchen, wenn der
Eiter fetthaltigen Körpertheilen entstammt, ferner sind regelmässig Mikroorganismen, be-
sonders Kokken in ihnen eingeschlossen. Daneben finden sich Zellen , welche schon
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weiter im Zerfall vorgeschritten sind — Körnchenkugeln u. dergl. (Fig. 14 C), wo ein
Kern nicht mehr sichtbar zu machen ist. Löst sich ihr Zusammenhang, so zerfallen sie
zu einem feinkörnigen Detritus , welcher überall zwischen den Zellen suspendirt ist
(Fig.UC'j.
Die Form ist meist eine kuglige, nur ein Theil zeigt noch die Fähigkeit, sich
zu bewegen und Fortsätze zu bilden. Ausserdem trifft man im Eiter Trümmer zerfallenden
Gewebes , Fetzen von Bindegewebsfibrillen , elastischen Fasern , Muskelfasern u. dergl.
(Fig. li D a und />), Epithelien (z. B. vom Urogenitaltractus), Speisereste (bei Abscessen,
die mit dem Darmcanal in Verbindung gestanden). Grosse Fetttropfen liefert Vereite-
rung des Knochenmarkes.
Das Eiterplasma stellt eine blassginingelbe Flüssigkeit dar, die spontan nicht
gerinnt und Eiweiss, namentlich Peptone enthält. Die Salze sind ungefähr in dem Ver-
hältnisse der Blutsalze vorhanden.
Fig. 14 A ist Eiter aus einer osteomyelitischen Fistel , zahlreiche Eitei'zellen
mit deutlichen mehrfachen Kernen, sehr Avenig Kokken. 14 -B Eiter von einem Pana-
ritium iMitnommen , hält Kokken in etwas grösserer Jlenge , die grösseren Stapliylo-
kokkeii, die kleineren Streptokokken; die Eiterköi-perchen znm Theil monojuicleär, zum
Theil ohne sichtbaren Kern. 14 C ist Eiter von einem pyämischen Abscess, die Eiter-
Landerpr, Allg. chir. Pathologie u. Theraj)ie. 2. Aufl. 3
t>^ T, Ca|)it(!l. — Oertlidi« Kreirslaufs- und Ernäbruiig.sstöran,u;eii.
körpeiclHMi sind in dür Form weniger gut erbalten, iiornlo.s, zum Tlieil ziM'falleiid, daneben
enorme Mengen Kokken, namentlicb kbiine streptoeoceusartige. (Säimntlieb JJeckglasj)rä-
l)arate naeli (?rf/m doppelt gefärl)t. Hartn. 8. Oc. IV.) 14 D ist Eiter obiie Färbniig
und Zusatz, Detritus baltend. — Die Zalil der P^iterkörpereben im Cubikmillinieter beträgt
cirea 400.000—1,500.000. Trübe Exsudate entbalten von eirca 50.000 aufwärtH. Der
p:iter besitzt massige bactericide Eigenscliaften. Ausser dem grünen Eiter kann eine
auf speeifiscben Bacterien beruhende rotbe und eine auf Blutpigment b(-rubcnde orange-
rotbe Farbe vorkommen. — Ueber blauen Eiter s. Ijei Wundinfection.
In andeven Fällen gerinnt das Exsudat, welches die Gefässe ver-
lässt — fibrinöse Entzündung. Am deutlichsten ist dies zu beobachten,
wenn das Transsudat auf freie seröse Flächen tritt. Man hat einen
Filz von Fibrinfäden, meist wirr durcheinandergeschlungen, darin ein-
geschlossen weisse Blutzellen in wechselnder, oft geringer Zahl fveru-1.
pag. 13). Ausser auf serösen Flächen findet man solche fibrinöse
Einlagerungen auch in Wundspalten u. dergl. Das Fibrin wird schliess-
lich resorbirt und substituirt, wie der Thrombus (vergl. pag. 15). Sonst
können fibrinöse Exsudate auch verfetten, verkreiden und verkalken.
Auch innerhalb der Gewebe und ihrer Spalten begegnet man
gerinnenden fibrinösen Ergüssen . namentlich bei der Einwirkung von
Aetzmitteln. Gerinnende Exsudate tragen neben der Wucherung der
Gewebszellen durch Verschluss der Gewebsspalten wesentlich dazu bei,
die Entzündung an der Propagation zu hindern und die Entzündung
zu begrenzen.
Bei der croupösen Entzündung hat man ein gerinnendes fest-
haftendes Exsudat auf der Oberfläche von Schleimhäuten. Auch die
oberen Schichten der Schleimhaut gehen in demselben auf, nachdem
ihreEpithelieu eine eigenartige nekrobiotische Veränderung erlitten haben
(Heubner). Ein anatomischer Unterschied zwischen croupösen und
diphtheri tischen Entzündungen ist nicht zu machen. Meist sind
Mikroorganismen, seltener ätzende Stoffe die Ursache.
Bei den hämorrhagischen Entzündungen verlassen rothe
Blutkör])erchen mit den weissen die Gefässe theils auf dem Wege der
Auswanderung' (Diapedesis, Fig. IcT], oder die Wand wird z. B. durch
die zerstörende Wirkung von eingedrungenen Mikroorganismen so brüchig,
dass sie zerreisst und das Blut durch ein Loch durchtritt (Blutung per
rhexin). Seltener beruht der hämorrhagische Charakter der Entzündung
auf einer erhöhten Disposition des Kranken zu Blutungen überhaupt
(angeborene hämorrhagische Diathese, Hämophilie oder erworbene hä-
morrhagische Diathese, Scorbut u. dergl.) oder auf mechanischer Miss-
handlung einer entzündeten Stelle (Entzündungen am Bein im Umher-
gehen). Meist ist die Ursache eine besonders schwere Mikroorganismen-
infection. So sind die hämorrhagischen Formen der acuten Infections-
krankheiten, Scharlach, Masern, Pocken („die schwarzen Blattern ''), als
die schlimmsten seit lange gefürchtet. Der Chirurg kennt diese hä-
morrhagischen Entzündungen namentlich von den schwersten, fast aus-
nahmslos tödtlichen Formen der Blutvergiftung her (s. dort).
Die schliinmsten Formen der Entzündung sind die jauchigen
und brandigen Entzündungen. — Bei diesen durch Mikroorga-
nismen (meist sind es Bacillen, Bacillus tremulus, Bacterium coli,
Proteus u. s. w.) bedingten Processen verfallen die Gewebe fast in dem
Augenblick ihrer Erkrankung schon der Zerstörung und wandeln sich
in eine faulige, oft aashaft stinkende Masse um, bestehend aus zer-
Brandige und traumatische Entzündung. 35
fallenden Geweben, zersetztem Blut, oft mit G-asentwicklimg innerhalb
der Gewebe; eine rotlibraune oder grünliche Jauche füllt die Gewebs-
spalten an. Diese Formen von Entzündung scheinen sofort mit Blut-
stockung einzusetzen; die Gewebe sterben sofort ab, und so bilden
diese Arten der Entzündung den Uebergang zum eigentlichen Brand.
Zu wirklicher Entzündung kommt es, wenn der Körper nicht mittler-
weile zu Grunde gegangen, nur da, wo der Process zum Stehen ge-
kommen, wo noch lebendes Gewebe erhalten ist. Dieses wird in „de-
markirende Entzündung" versetzt, schliesst sich gegen das todte ab und
stösst es schliesslich ab (s. Brand).
Bei der traumatischen Entzündung ist der Anlass eine me-
chanische Zerstörung von Gewebsbestandtheilen und Gefässen. Das
betroffene, z. B. gequetschte Gewebe bildet einen Herd, in dessen Maschen
Blut und Gewebstrümmer eingelagert liegen. Nur ganz spärliche weisse
Blutzellen finden sich darin. Hyperämie und Auswanderung von weissen
Blutzellen i?t auch im späteren Verlaufe nur wenig ausgesprochen, da-
gegen treten früh die Erscheinungen der Ptegeneration hervor, in Gestalt
von Bildung epithelioider Zellen , Kerntheilungsfiguren in den Zellen u. s. f.
Auf der anderen Seite fehlen auch Oedeme nicht.
Die traumatische Entzündung bildet ein Mittelglied zwischen Entzündung,
Wundheilung und Regeneration.
Noch einige "Worte über die n e u r o p a r a 1 y t i s c h e Entzündung. Es ist noch
nicht lange her , dass man der Ansicht Avar , gestörter Nerveneinfluss , Nervendurch-
schneidungen , Nerven- oder Eückenmarksentartungen führten an sich schon zur Ent-
zündung. Zwar hatte schon VircJwiv die Aufhebung des Nerveneinflusses als Eutzün-
dungsursache energisch zurückgewiesen : „Wir können sowohl an gelähmten , als an
ganz und gar nervenlosen Theileu durch directe Irritamente dieselben Eeizungsvorgänge
hervornifen, welche wir an unveränderten und nervenreichen Theilen erzeugen können.
Schnelligkeit, Grad und Ausdehnung der Processe mögen verschieden sein, die Processe
selbst sind es nicht. Mit dem Nachlass der Innervation tritt nur ein Nachlass der
"Widerstandsfähigkeit der Theile oder kurz eine grössere Disposition zu Erkrankungen
hervor.'^ Diejenigen Beobachtungen, welche noch bis zuletzt zu Gunsten des Vorkommens
echter neuroparalytischer Entzündungen angeführt wurden , sind jetzt als auf anderen
Ursachen beruhend erkannt worden. Die Corneavereiterung nach Trigeminusdurch-
schneidung lässt sich vermeiden, wenn das Auge vor jeder Verletzung auf's vSorgfältigste
bewahrt wird. Bei der „sj-mpathischen'' Ophthalmie, der Entzündung des anderen Auges.
nachdem das erste verletzt war, ist Ueberwandening der Mikrokokken in der Opticus-
scheide von einem Auge zum anderen nachgewiesen worden (Deitfschmann)., Und
auch die ,,Vaguspnei;monie'", die Lungenentzündung nach Vagusdui'chschneidung ist auf
Mikroorganismen zurückgeführt. Die Nerven haben keinen Einfluss auf die Entstehung
der Entzündung, wohl aber wird der Verlauf durch Aufliebung des Nerveneinflusses un-
günstig beeinflusst (s. chron. Entzündung).
Die Zahl der Theorien über das Wesen der Entzündung ist eine fast un-
endlich grosse. Die Alten begnügten sich mit der Aufstellung der vier Cardinalsymptome und
mit der Frage, welches der vier Symptome das wichtigste und die Grundlage des ganzen
Vorganges wäre. Celsiis hielt den Rubor für das Avichtigste , das Uebermass des Blutes.
Andere wandten die Lehre von den vier „Qualitäten", der heissen und kalten, der
trockenen und feuchten Qualität und ihrer „Complexionen" auf die Entzündung an.
Diese sollte ein Uebermass der heissen Qualität, l)isweilen in Complexion mit der
trockenen sein. Den Alexandrinern schien die Entzündung eine übennässige Anhäufung
des Blutes in dem kranken Theile, so dass es sich aus den Enden der Blutadern in
die Arterien, welche sich die Alten bekanntlich mit Luft gc^füUt dachten, verirren, dort
festsetzen und zersetzen sollte. Das ]\nttelalter, welches die Ansicliten der Alten kritiklos,
in philologischer Manier weiter commentirte, k::m von diesen Anschauungen nicht los.
Ein mächtiger Anstoss zu neuer selbständiger Auffassung und Forschung musste
auch in die Lehre von der Entzündung koinmiMi durch die Entdeckung des Kreislaufes
durch Servet und Harveij im sechzehnten Jahrhundert. Die Ae nderungen derCir-
culation wurden nun mit besonderer Vorliebe studirt. Beherr.sclit wurden die \\\-
3(5 J- Capitel. — Oertlichi! Kreislaufs- und Ernähiunj.^sstiJrung(;ii.
schauungen von der „Stasenthcorifs", welche besoiirlo's von Hoerhave ausgeVjildet wurde.
Als wesentliches Moment der Entzüiulung sah hoerhave die Stockung des Blutes in
den entzündeten Geweben an. Poisseuüle und auch Mayendie nahmen eine Eindickung
des Blutes an, eine Erhöhung seiner Klebrigkeit, welche es weniger leicht durch die
Gefässe durchschlüpfen lasse. Die Anwesenheit reichlichen Faserstoffes im Aderlassblut
bei Entzündungsüebern, die sogenannte Crusta infiammatoria, Hess an eine Vennehrung
des Faserstoffes denken (Simon) oder an eine erhöhte Gerinnungsfähigkeit desselben
(Rohitansky). Cruveilhier stellte sogar als Ursache der entzündlichen Stase direct
eine Gerinnung des Blutes in den Capillaren hin. Die letztere Annahme wurde von
Paget als hinfällig erkannt ; Blut aus entzündeten Theilen, welches drei Tage lang durch
Ligaturen abgespei'rt gewesen, war, als es aus der Ader entleert wurde, gerade so flüssig,
Avie normales.
Nach der Entdeckung der Gefässmuskelu suchte man die Entzündung durch
Gefässkrampf mit folgender Gefässerschlaff'ung zu erklären (Brücke, EisenmannJ. Henle
dagegen stellte als wichtigste circulatorische Erscheinung die Gefässlähmung auf, die
die entzündliche Hyperämie bedinge. Durch Erweiterung des Strombetts soll dann die
entzündliche Stromverlangsamung , schliesslich die Stase entstehen. Wenn ein Strom
plötzlich in ein erweitertes Bett tritt, so liiesst er langsamer. Dieses Gesetz gilt jedoch
nur für Röhren grossen Kalibers. Auf capilläre Bohren — und die Gefässe, in welchen
sich die Entzündung abspielt , sind im Sinne des Physikers alles capilläre Räume —
hat das PoissemUe-Jacobsohn'sche Gesetz Anwendung, dass die Durchflussmengen sich
verhalten wie die vierten Potenzen der Durchmesser. Einer Erweiterung des Lumens
einer Capilläre aufs Doppelte entspricht somit eine Vermehrung der durchfliessenden
Blutmenge aufs Sechszehnfache. Die Erklärung der Stromverlangsamung als einer
Dilatationsstase würde also wohl für gi'osse Gefässe vom Kaliber einer Aorta oder Fe-
moralis passen; .nicht aber für kleine Arterien , Venen und Capillaren. In welcher
Weise die Circulationsänderungen entstehen , ob reflectorisch , ob durch directe Beein-
flussung der Gefässmuskeln oder der nervösen Plexus der Gefässwand, darüber liess
sich noch viel weniger Einigung erzielen. — Andere Theorien legten den Schwerpunkt auf
Veränderungen der Gewebe, in das die Gefässe eingebettet liegen. Broiissais
nahm eine erhöhte Vitalität der Gewebe an. Nach Virchoto beruht die Entzündung auf
„Aenderungen der Gewebszellen, Avelche sie in die Lage setzen, aus der Nachbarschaft,
sei es ein Blutgefäss oder ein anderer Körpertheil, eine grössere Quantität von Stoffen
an sich zu ziehen, aufzusaugen und je nach Umständen umzusetzen". Der Punkt, der
hiebei nicht klargestellt war, sind die Circulationsänderungen. Für ihre Entstehung
bietet die Virchoiv sc\iq Darstellung keine Erklärung.
Auf der Annahme moleculärer (chemischer) Veränderungen' der Gefässwand,
welche diese für Flüssigkeiten und weisse Blutzellen durchlässiger macht , und welche
ausserdem ihre Anziehungskraft für die körperlichen Elemente des Blutes ändert, beruht
die Cohnheim'sche Entzündungstheorie. Dass die Gefässwand durchlässiger ist, poröser,
darüber kann ein Zweifel nicht bestehen, dies zeigt die unmittelbare Beobachtung
(Cohnheim) und das Experiment {Winitvarter, vergi. pag. 25). Die circulatorischen Aende-
rungen sind jedoch dem Verständniss durch diese Annahme nicht näher gerückt und es
bleibt schwer verständlich, wie dieselbe Ursache bald den Durchtritt des Blutes durch
die Gefässe erleichtern soll, bald erschweren. Dies ist der wunde Punkt der Cohnheim' sehen
Entzündungstheorie.
Ich suche die Erklärung für die Aenderungen in Blut- und Lymphbewegung in
den von mir nachgewiesenen Veränderungen der physikalischen Beschaffenheit der Ge-
webe und auch der Gefässe. Durch die Einwirkung der Entzündungserreger werden
die Gewebe leichter dehnbar und besonders bei starker Veränderung wird die Elasticität
derselben eine unvollkommene. In Folge des verminderten Widerstands, den die Gewebe
ihrer Durchströmung entgegensetzen , kommt es zur entzündlichen Strombeschleunigung
lind Steigerung der Lymphbewegung. Bei schwerer Störung wird das Gewebe unelastisch
und die Kraft des strömenden Blutes erschöpft sich nutzlos in unelastischem Stoss
(Stromverlangsamung). Ein Analogon der entzündlichen Stromverlangsamung ist die
Stromverlangsamung in den erweiterten und starren, unelastischen, atheromatösen Arterien,
speciell der Aorta (vergl. Landerer, „Gewebsspannung". Leipzig 1894 und .,Zur Lehre
von der Entzündung", Volkmann's Kliu, Vorträge, 1885).
Dass bei der Entzündung neben diesen physikalischen Aenderungen der Gewebe,
auf die ich zuerst aufmerksam gemacht habe, auch sehr wichtige, bisher nicht genau
studirte chemische Veränderungen einhergehen , zeigen verschiedene Beobachtungen.
Buchner fand , dass das entzündliche Serum eine sehr viel stärkere bacterien vernich-
tende Kraft hat, als das gewöhnliche Serum. Und dass die weissen Blutkörperchen
durch chemische Einflüsse in die Gewebe herübergelockt werden (Chemotaxis), ist eben-
falls nicht zu vergessen.
Entzünduugstheorien. — Entzündungserreger. 37
Die Entzündung — ein complicirter Vorgang, wie schliesslich alle Lebensprocesse —
ist nicht von einem Gesichtspunkte aus zu erklären und nicht mit einigen Worten zu
defieiren. Die Entzündung deshalb aus der Reihe der pathologischen Begrift'e ganz zu
streiuhen , wie es Thoma will , dies verbietet schon die unerlässliche Rücksicht auf die
tägliche Praxis.
Eine die heutigen Anschauungen über das AVesen der Entzündung wohl am
besten deckende Definition ist die von Ziegler: „Die Entzündung ist ihrem Wesen
nach eine durch irgend eine Schädlichkeit bewirkte, mit pathologischen Exsudationen
aus den Blutgefässen verbundene örtliche Gewebsdegeneration , an welche sich zur Re-
generation oder auch zur Hypertrophie führende Clewebswucherungen bald früher , bald
später auschliessen."
So sehr auch die Meiniing'en auf dem Gebiete der Entzündung'
noch auseinandergehen, so bildet sich doch über manche Punkte all-
mählich eine gewisse Uebereinstimmung- aus.
So ist die früher viel erörterte Frage der „Entzündungsreize"
heute so ziemlich dahin erledigt, dass die erste Ursache der Entzündung
eine durch innere oder äussere Schädlichkeit g-esetzte Schädigung der Ge-
webe h\( Weigert). Der E n t z ü n d u n g- s e r r e g' e r ist entweder eineVerletzung
— Trauma, Hitze, Kälte, oder ein chemisches Agens, Bacterien, diffe-
rente Chemikalien, Blutmang-el und ähnliche Momente. Die so gesetzte
Gewebsläsion oder -degeneration veranlasst dann die als Entzündung
bekannten Aenderungen in Blutströmung" , Lymphbewegung, Stoffwechsel
und Regeneration des betroffenen Gewebes. Ausgelöst werden die Circu-
lationsänderungen bei der Entzündung mit physikalischer Nothwendig-
keit durch die pag. 36 besprochenen Aenderungen in den physi-
kalischen, besonders den elastischen Eigenschaften der Gewebe.
Die Schädigung der Gewebe durch den Entzündungserreger lässt
sich oft schon unmittelbar nach der Einwirkung als Nekrose erkennen,
in Form von Gerinnung (Coagulation) bei Chemikalien , von völliger
Auflösung und Verflüssigung bei thermischen Einflüssen (Verbrennung).
In anderen Fällen wird die Necrose erst nach Beginn der Entzün-
dungserscheinungen deutlich ; bei chronischen Infectiouen (Tuberculose,
Syphilis u. s. w.), kommt es oft erst spät zur wirklichen Nekrose (s.z. B.
Tuberculose). Dass auch hier die Schädigung der Entzündung voraus-
geht, darf man wohl annehmen.
Es ist auch nicht gleichgiltig, darauf zu achten, w'o die Entzündung^ erreger
zuerst einwirken. In überwiegender Häufigkeit ist das Gewebe das zuerst und haupt-
sächlich Getroffene. Verletzungen, Verbrennungen treffen stets zuerst die Gewebe, ehe
sie die Gefässe erreiclien. Ebenso siedeln s-ich 3Iikroorganisraen, die häufigsten Entzün-
dungserreger, zuerst im Geweihe an. Nur ein kleiner Theil der Entzündungserreger
setzt, auf embolischem Wege lierangebracht, zuerst an der Gefässwand an. Das Innere
des Gefässes bietet — wegen des überaus lebhaften Flüssigkeitswechsels — sogar keinen
besonders günstigen Boden für die Entwicklung von Entzündungen, namentlich bactc-
rieller Xatur. Spritzt man Faulflüssigkeit in die Gewebe, so bekommt man schon nach
wenigen Stunden lebhafte Entzündungserscheinungen. Bringt man dagegen einen äusserst
infectiösen Embolus in die Ohrarterie des Kaninchens, so beobachtet man erst naili
circa 1^'., Tagen die Anfänge von Entzündung (Cohnheim).
Die Frage, ob die Entzündung ein „zweckmässiger" Vorgang oder ob dieselbe
ein schädlicher Process sei, ist damit schon erledigt. Der Entzündniig.serregei' .setzt
immer eine für das (fewelje und den Organismus unerwünschte Schädigung. Die übrigen
„reactiven" I<]rsclieiiinngen seitens Circulation , Lymphl)ildung , Regeneration etc. sind
für den Organismus nützliche Vorrichtungen. Es ist kaum zweifelliaft , dass eine so
energische Dnrcliströmung eines kranken Theiles mit Blut (das Sechzehn- und Zwanzig-
fache der Norm) eine so reichliche Zufuhr neuen Materials und so gründliche Ab-
sclnven)inung des A'ei-brauchtt'n, wie sie die auf's Vielfache in der Entzündung gf!steigerte
Lvinplibildnng mit sich bringt, für die geschädigten Gewebe die denkbar günstigsten
Eriiälirungs- und Erholungsbedingungen schafl't.
^■3S^ T. Capitel. — Ocrtliclie Kreislaufs- und Eniährnngsstöniiif^eii.
Die regenerativen und liypcrtrophisclien Vorg-änj,^c lassen (;l)enso
kaum eine andere Deutung zu. Die in Darwin'^chGm Sinne aufgestellte
Behauptung, dass die Entzündung eine im Laufe der Entwicklung er-
worbene und vervollkommnete Schutzeinrichtung des Organismus gegen
auf ihn eindringende Schädlichkeiten, eine „Waffe im Kampf um's
Dasein" sei, kann daher nicht ohne Weiteres als eine ungereimte
zurückgewiesen werden. Ich glaube also, dass wir die entzündlichen
Erscheinungen als reparatorische auffassen dürlen und müssen, und die
degenerativen Processe, welche wir finden, lediglich auf Rechnung der
Entzündungserreger zu setzen haben.
Diese Ansicht bestätigen auch die Ausgänge der Entzündung.
— Ein grosser Theil wird spontan rückgängig. Am deutlichsten
ist dies bei den Fällen, wo es nur zur Hyperämie kommt. Unmittelbar
an diese schliesst sich die — oft vollständige — Rückkehr zur Norm,
Restitutio ad integrum an. Durch die günstigen Ernährungs-
bedingungen sind die Schäden reparirt, die Entzündungserreger vernichtet
oder fortgespült. Die Exsudate werden durch den Lymphstrom fort-
gespült, nekrotische Theile und körperliche Exsudate werden resorbirt
oder substituirt (vergl. pag. 15). Das wieder normal gewordene Gewebe
setzt dem Blutstrom den alten gewohnten Widerstand entgegen und
dämmt die Circulation in ihre alten Grenzen ein.
Makroskopisch erkennt man das Rück gängig werden der Ent-
zündung an dem Nachlassen der Röthung; häufig mischt sich jetzt
dem Roth ein bräunlicher oder gelber Farbenton bei. Die Schwellung
nimmt ab, die Oberhaut runzelt sich. Das Oedem bleibt gewöhnlich
noch am längsten stehen. Die Schmerzen verschwinden. Mit einer
reichlicheren Abstossung der Oberhaut in Schuppen oder gar in grösseren
Fetzen gewinnt die Haut ihr normales Ansehen wieder, häufig bleibt
sie noch einige Zeit zarter und etwas pigmentirt oder anders gefärbt.
Auch das Infiltrat zwischen den Weichtheilen wird aufgesaugt.
Die entzündliche Regeneration besteht in einer Neubildung
der verlorenen Gewebe seitens der noch erhalten gebliebenen. Alle neueren
Untersuchungen stimmen darin überein, dass die Regeneration der
Muskeln ausgeht von den erhaltenen Muskeln, der Nerven von den
Nerven u. s. w. Es sind Fortsatzbildungen , Theilungen der Kerne
und der protoplasmatischen Theile (vergl. Wundheilung). Wucherungs-
vorgänge kann man bei gewissen Formen der Entzündung schon früh
beobachten. An den Bindegewebszellen, Lymph- und Blutgefässendo-
thelien lassen sich schon nach 8 Stunden die ersten Kerntheilungs-
figuren erkennen. Die weissen Blutzellen, welche ja an solchen ent-
zündeten Stellen stets überreichlich sich finden , spielen bei der
Regeneration keine Rolle , höchstens insoferne sie den fixen Gewebs-
bestandtheilen vielleicht als Bildungsmaterial dienen (vergl. pag. 26,
Phagocytose).
In manchen Fällen können auch, die Regenerationsvorgänge über das Mass des
Normalen hinausgehen, es kann zu .,Luxusproductionen", zu entzündlicher Hypertrophie
kommen (Samuel).
In einer Reihe von Fällen kommt der entzündliche Process gar
nicht zu einem richtigen Abschluss, weder zu völliger Restitution, noch
zum örtlichen Tode ; es entwickelt sich allmählich eine Art von bleibendem
stationärem Zustand, die Entzündung wird chronisch. Die Ursache
Ausgänge der Entzündung. — Chronische Entzündung. 39
hievon ist entweder ungenügende Ernährung der betreffenden Theile und
damit ungenügender Ersatz oder fortdauernde Einwirkung entzündungs-
erregeuder Momente.
Bei venöser Stauung ist die Zufuhr von Ernährungsmaterial eine so geringe,
dass die neugebildeten Gewebe sofort wieder zerfallen. Aufhebung des Nervenein-
Üusses , Nervendurchschneidungen , Rückenniarksatfectionen setzen die Lebensfähigkeit
der Gewebe gleichfalls so erheblich herab , dass die kleinste Störung , eine leichte Ver-
letzung , die sonst in zwei Tagen heilt , zu Monate bis Jahre dauernden , selbst iinheil-
baren Störungen, namentlich Geschwürsbildungen führt. Aehnlich ist es bei Leuten,
welche allgemein geschwächt sind , Lungen-, Herzkranken , Greisen. Oft sind es fort-
gesetzte lind wiederholte Verletzungen , welche immer und immer wieder beschädigend
und zerstörend einwirken und der Heilung Einhalt thun.
Dann ist es in der Natur mancher Entzündungserreger begründet , dass die von
ihnen hervorgerufenen Processe von Anfang an langsam und schleppend verlaufen, so
bei Sj'philis , Tuberculose , Lepra und anderen ., chronischen" Lifectionskrankheiten.
Gewöhnlich entwickeln sich die Veränderungen, welche sie an den GcAveben hervorrufen,
nur langsam und allmählich , die Hyperäniie fehlt oft gänzlich. Zur Eiterung führen
sie spät oder gar nicht.
Die mikroskopischen Bilder , welche chronische Entzündungen liefern , sind oft
schwer zu deuten wegen des In- i;nd Durcheinandergreifens von degenerativen Vor-
gängen , welche auf die Einwirkung des Entzündungserregers zurückzuführen , und
progressiven reparatori sehen Bildungen, welche den Heilungsvorgängen zuzuzählen
sind. Chronisch entzündete Theile zeigen häutig Verfärbungen , namentlich bräunliche
Pigmentirungen , entstanden durch frühere entzündliche Blutaustritte. Ebenso fühlen
sie sich meist anders an, bald verdünnt, häufiger verdickt (intiltrirt) und verhärtet
(induiirt). Mikroskopisch findet sich meist reichliches Bindegewebe, so derb und zellenarm,
wie es sonst nur Narben zeigen : daneben hat man alle möglichen Zeichen der Zer-
störung — Verlust der Kerne, unregelmässige Zellformeu, Quellungen, Trübungen des
Protoplasmas , dazwischen weisse Blutzellen in geringer Anzahl , ferner Spindelzellen,
epithelioide und Riesenzellen (Tuberculose), Verdickung der Gefässwände u. dergl. m.
Doch fehlen auch productive Vorgänge , Kerntheilungsfiguren nicht. Es spielen so Ent-
artung und Regeneration , Schwund und Anbildnng in so merkwürdigen Combinationen
in einander, dass der betroffene Theil oft in seiner Form und Gestalt ein total anderer
wird und man von „deformirenden"' Entzündungen sprechen kann.
Wenn man — trotz vieler gegentheiligen Auffassungen — die
Entzündung als einen zweckmässigen, zur Beseitigung und Ausgleichung
von Störungen dienenden Vorgang ansieht, so ist damit das thera-
peutische Verhalten zur Entzündung von selbst gegeben. „Anti-
phlogose" als solche treibt heute Niemand mehr.
Methodus antiphlogistica war überaus entwickelt und in kunstvolle Systeme
gebracht. Manche hiehergehörigen Massregeln haben auch heute noch ihren Werth,
andere nicht. Eine Bekämpfung der entzündlichen Hyperämie , als eines in hohem
<irade nützlichen Vorganges, erscheint zwecklos. Die Beseitigung der entzünd-
lichen Stase ist möglich durch Erhöhung des Blutdruckes oder Verminderung
der Widerstände. Das erstere ist kaum durchzuführen , höchstens bei chronischen Ent-
zündungen . wo durch gute Ernährung mit dem Steigen des Blutdruckes etc. auch die
Entzündung zum Ablauf kommen kann. — Hier wäre ein Versuch von CohnJieim zu
nennen. Spritzt man einem Frosche, in dessen freigelegtem Mesenterium es zur ent-
zündlichen Sta.se gekommen, 1 Ccm. O'ß"/,. Kochsalzlösung in eine Vene, so steigt der
l'.lntdiuck , die Stase löst sich — wenigstens für einige Zeit. Jedenfalls i.st Alles zu
vermeiden, was den Blutdruck zum Sinken bringt, besonders' Aderläs.se. Erzeugt
man bei einem Frosche , in dessen entzündetem Mesenterium der entzündliche Strom
anfängt sich zu verlangsamen und eben Randstellung <ler weissen Blutzellen sich aus-
iiildet, durch Abschneiden eines Beines hochgradige Anämie, so sieht man die Strom-
verlangsamung sofort in völlige Stase übergehen.
Die Verminderung des AVider sta n des lässt sich erzielen durch ört-
liche Blut e n tz ieh ungen, mit Blutegeln, Schröpfköpfen oder zahlreiehen kleinen
Incisionen (Debridement). Auch hier kann man an der entzündeten Schwimmhaut des
Frosches (^GcnzmerJ die Stase direct sich lösen sehen. Energi.scher und ohne die
scliädlirhe Nebenwirkung, welche jede Blutentziehnng hat, ist die hohe Lage, die
Elevation , welche ich für Entzündungen an den Extremitäten nicht genug empfehlen
40 '• Capitel. — Oertliche Kreislaufs- unil Ernähi'ung.sstörungiin.
kann. Diircli sie wird die Entleerung der Venon enerjiiscji untersUJlzt und damit aucli
die Entleeiung der ('ai)illaren bewirkt. iJie liolie .Spannung-, die auf die Gewebe und
die Cireulation äusserst ungünstig einwirkt, wird dadurch sclinell vermindert. — Ent-
spannende Einschnitte können oft die Cireulation wieder in Gang hiingen und dem
Brande vorbeugen.
Auf alle Fälle bedürfen alle acuten, infectiösen Entzündungen
absoluter Ruhe, im Bette, auf Schienen, in Kapsel verbänden u. dergl.,
um eine Weiterverbreitung- der Entzündung zu verhindern.
Ob entzündete Tlieile warm oder kalt zu halten sind, ob Eisbla.se, kalter
Umschlag oder Priessnitz'scheT Umschlag (Sfach Mull, in Wasser ausgeningen, darüljer
Guttaperchapapier, das Ganze reichlich mit Watte oder Wolle gedeckt) oder auch warme
Bähungen anzuwenden sind, darüber sind die Acten noch keineswegs geschlosseii. Wanne er-
weitert die Gefässe und macht die Gewebe leichter dehnbar. Man kann also durch feuchtwarme
Umschläge oder warme Bähungen Begünstigung der Hyperämie und rascheren Ablauf
der Entzündiing erreichen. Kälte, am besten in Gestalt der Eisblase, erzeugt Contrac-
tion der Gefässe, vermindert den Blutzufluss und setzt namentlich die Erregbarkeit der
Nerven herab. Während die anästhesirende Wirkung der Kälte wohl nie im Stiche
lässt, habe ich sonst meist nur eine — selten wünschenswerthe — Verschleppung und
Verzögerung des Vorganges gesehen. Bei manchen Organen (Gehirn, Herz) ist die
beruhigende Wirkung auf Sensorium und Cireulation allerdings sehr erwünscht.
Bei Verletzungen , Verstauchungen , Knochenbrüchen dient Eis lediglich als Anodynum.
Eine Eisblase vermag nach mehr.stündiger Einwirkung die Hauttemperatur um 15 — 20"
zu erniedrigen. Ebenso kann sie nach längerem Liegen selbst durch dicke Muskel-
schichten bis auf den Knochen , durch die Bauchwand auf die Därme wirken und die
Temperatur daselbst um mehrere Grade heruntersetzen. Bei tage- und wochenlangem
Liegen habe ich gelegentlich Erfrierungen der Haut gesehen.
Selbstverständlich ist in dem Bisherigen nur eine symptomatische
Behandlung skizzirt , wie man die ungünstigen Erscheinungen zu ver-
hindern oder zu beseitigen sucht. Die allein zielgerechte Behandlung,
der Indicatio causalis entsprechend, verlangt dem Entzündungserreger
selbst direct zu Leibe zu gehen. Dies ist nun leichter gesagt, als gethan.
Den meisten Entzündungserregern — Bacterien — können wir zur Zeit
nur unmittelbar entgegenwirken , indem wir die natürlichen Schutz-
vorrichtungen des Körpers unterstützen. Einen Theil derselben — die
Eitererreger — können wir durch Einschnitte nach aussen entleeren.
(Siehe Behandlung der einzelnen Krankheiten.)
' Für chronische Entzündungen ist oft ein wichtiges Mittel zu
ihrer Beseitigung eine künstlich erzeugte acute Entzündung. Gewisse
chronische Entzündungsformen heilen ab, wenn über den betreifendeu
Theil eine acute Entzündung hingeht , namentlich werden chronische
seröse Ergüsse oder alte Infiltrate in dieser Weise oft resorbirt. So
heilt eine Hydrocele, ein Hygrom, ein chronischer Glelenkerguss oft
durch Einspritzung von einigen Gramm Jodtinetur in die Höhle. Oder
wir streichen bei chronischen Entzündungen Jodtinetur auf die Haut,
reiben eine Jod-, Quecksilber- oder Ichthyolsalbe auf die Haut, um
die Resorption zu fördern (?). Seltener und nur auf der Haut verwenden
wir andere stark entzündungserregende Substanzen (Canthariden-
präparate, Tart. stibiatussalbe, verdünntes Crotonöl, Schmierseife u. s. f.).
Diese Behandlungsweise der Entzündung , welche früher allgemein mit
Eifer geübt wurde, ist heutzutage fast ganz in Misscredit gekommen.
So oft man diese „ableitende", „derivatorische" Behandlung aber
begraben hat, erscheint sie doch immer wieder und spukt weiter, wenn
nicht in den Köpfen der Aerzte, so doch der Laien — vielleicht weil
die Erfahrung der Praxis doch hin und wieder für sie spricht.
Feuchter und trockener Brand. 41
Die schädlichen Stoffe, die „Noxen", sollten abgeleitet werden nach der Haut,
dem Darm oder den Nieren. Nun werden nicht blos chemische Gifte , sondern auch
Mikroorganismen auf diesem Wege ausgeschieden und es ist theoretisch und praktisch
gleich erprobt, manche Krankheiten, Syphilis u. dergl., mit Abführcuren oder mit einer
Steigerung der Harnentleerung (Diurese) und Schwitzcuren zu behandeln. Auch durch
die Haut und den Schweiss werden Mikroorganismen ausgeschieden. Weniger zweck-
mässig will es erscheinen , innere Entzündungen durch Erzeugung eines Entzüiidungs-
herdes auf der Haut zu bekämpfen , so z. B. Fontanellen (ein ausgeschnittenes oder
ausgebranntes Loch in der Haiit wird durch eine eingelegte Erbse am Heilen gehindert),
Moxen (kleine Brandwunden , mit Grlüheisen , Räucherkerzen , Cigarren erzeugt und in
Eitening ei'halten), Haarseile zu setzen (ein Stück Lampendocht oder dergl. wird durch
eine Hautfalte gezogen und so Eiterung unterhalten). Wenn die Entfernung zwischen
dem kranken Theile und der Haut nicht zu gross ist, pflegen gewisse Wirkungen nicht
auszubleiben, z. B. ein Senfteig (Senfmehl mit etwas Wasser zu einem Brei gerührt,
in Leinen geschlagen und 5 — 15 Minuten liegen gelassen) mildert die Schmerzen bei
leichten Entzündungen der Pleura , der Muskeln. Aehnlich können Blasenpflaster (aus
Canthariden , si^anischen Fliegen bereitet) wirken. Ob es sich hier um Reflexe seitens
des Gefässapparates handelt , wie eine Reihe sorgfältiger Experimente wahrscheinlich
machen , lassen wir dahin gestellt. Für uns Chirurgen stellt sich doch von Zeit zu
Zeit der Anlass zu einer solchen Behandlung ein und es lässt sich nicht leugnen,
dass ein energischer Anstrich mit Jodtinctur oder Jodjodkaliumglycerin mitunter bei
Gelenkaffectionen, einer Epididymitis, einer Drüsenschwellung gute Dienste thut. Ebenso
lassen manche Aerzte sich Erfolge bei Anwendung des Glüheisens (Cauterium actuale)
am Rücken auf Rückenmarksleiden nicht abstreiten. Die Ignipunctur (mit einer
glühenden Platinnadel , Paquelin , werden kleine Brandwunden in Haut und ünterhaut-
zellgewebe erzeugt) bei manchen Knochen- und Gelenkentzündungen ist von Kocher
empfohlen.
Die in chronisch entzündeten Theilen stagnirende Lymphe zu
entfernen, den Bhitstrom zn beschleunigen, eignet sich auch vorzüglich
die Massage, verbunden mit zweckmässigen activen und passiven
Bewegungen.
Trotzdem Kappeier experimentell nachgewiesen , dass Staphylokokken aus ent-
zündlichen Herden durch Massage nicht verschleppt werden , spricht die praktische
Erfahrung gegen die Massage bei frischen, infectiösen Entzündungen.
Brand. Regressive und progressive IVIetamorphosen.
Feuchter und trockener Brand. — Die verschiedenen Arten des Brandes. —
Ursachen des Brandes. — Behandlung. — Nekrobiose. — Coagulationsnekrose.
— -Atrophien. — Pseudohypertrophie. — Die Degenerationen. — Parenchy-
matöse Degeneration. — Fettentartung. — Amyloid- — Schleimige - — Colloid-
Entartung. — Verkalkung. — Metaplasie. — Hypertrophie.
Zwischen Leben und Sterben, auf dem Wege von voller Ge-
sundheit zu Tod und Vernichtung gibt es eine grosse Anzahl von
Etappen und Zwischenstufen.
Den völligen örtlichen Tod eines Theiles, Brand, Gangrän,
Nekrose. Sphacelus, zn erkennen, ist nicht immer leicht, namentlich
wenn der Zustand erst in Entwicklung ist. Die Blässe, Kälte, Welkheit
und Functionsnnfähigkeit thcilt die Gangrän mit der Anämie; dieselben
Sym])t()nie l)ei dunkler, blauer Verfärbung und Schwellung mit der
venösen Stauung ( vergl. ])ag. 5 und 8). Die Prüfung , ob der Finger-
druck ein Konnnen und Gehen des Blutes erkennen lässt, führt
nicht innner zu einem zweifellosen Ergebniss. Ist wirkliche Gangrän
vorhanden, so konnnt es bei tiefen Stichen oder Schnitten in die Haut
nicht mehr zu wirklichem fortdauerndem Bluten, höchstens sickert
etwas blutige, später bräunliche Flüssigkeit her\(n-.
42 I- Capitel. — Oertliche Kj'i'-islaufK- iiml ?]i'i)ähjiiiigs.st<)ruiifreri.
Die Gang-rän tritt in zwei klinisch mit Recht unterschiedenen
Hauptformen auf, dem trockenen Brand (Mumificationj und dem
feuchten Brand (Sphacelus).
Beim trockenen Brande ist die wichtigste Veränderung der
todten Gewebe der Wasserverlust. Die Gewebe schrumpfen , trüben
sich körnig. Die Haut wird schwarz, lederartig hart, faltet und runzelt
sich; das Ganze kann so trocken und fest werden, wie altes Holz,
dass es beim Daraufklopfen förmlich klingt. Der trockene Brand lässt
— mangels der nöthigen Flüssigkeit — Fäulnissprocesse nicht zu.
Deshalb ist der trockene Brand die günstigere Form. Zersetzungs-
producte, welche in die Circulation übertreten könnten und dort Schaden
anrichten, werden nicht gebildet und der mumificirte Theil bleibt, bis
er abgestossen wird, ein unschädliches Anhängsel des Körpers.
Anders beim feuchten Brand. Nur in innern , tiefliegenden,
vor dem Eindringen von Fäulnisskeimen geschützten Theilen (Gehirn,
abgebundenen Stücken von Geschwülsten in der Bauchhöhle u. s. w.)
bleibt die Fäulniss aus. Bleibt Infectiou aus, so werden die gangränösen
Gewebe theils resorbirt und durch einwachsendes Bindegewebe ersetzt;
oder sie zerfallen allmählich zu breiartigem Detritus, der je nach dem
Gehalt an Blutfarbstoff rothe oder gelbe Erweichung genannt wird.
Mikroskopisch findet man in Plasma suspendirte Körnchenkugeln,
feinste Körnchen, Fett- und Häminkrystalle u. derg:l.
Der faulige. Zerfall gangränöser T heile erfolgt in derselben Weise wie
aticla sonst Eiweissköi-per faulen. Zunächst sickert z. B. bei einem brandigen Fusse
dünne , bräunliche Flüssigkeit durch das Corium durch , hebt die Hornschicht in rasch
platzenden Blasen ab; die frei werdende Lederhaut nimmt eine grünliche Farbe an,
wird matsch und schmierig, und bald bricht durch die Haut faulige, stinkende, braun-
rothe Jauche hervor , gemischt mit Tropfen ranzigen Fettes , Muskelfetzen u. dergl.
Unzählige Mikroorganismen verschiedenster Art tummeln sich in der Brandjauche; die
Bacillen der Eiweissfäulniss, Stäbchen, häufig mit endständigeu kolbigen Verdickungen
{Sporenbildung), von Trommelschlägelform. Wenn die Sporenbildung mehr in der Mitte
des Bacillus erfolgt und hier eine Auftreibung erfolgt , sehen sie wetzsteinförmig aus.
Dann finden sich alle möglichen Formen von zum Theile in lebhafter Bewegung be-
findlichen schraubenförmigen Vibrionen, Mikrokokken u. A. m. Kurz, das Bild gewöhn-
licher Fäulniss.
Der feuchte Brand zieht, wenn an der Grenze des Lebenden
Fäulnissproducte (vergl. Bacterien) aufgesaugt werden , den Körper in
schwere Mitleidenschaft, namentlich in den ersten Tagen. Es entsteht
eine gefährliche Erkrankung des Gesammtorganismus („septisches
Resorptionsfieber", Faulfieber) (s. Septicämie), dabei können sich die
Fäulniss- und Eiterungsprocesse in Lymphspalten , Sehnenscheiden
u. s. f. centralwärts fortsetzen und zu umfangreichen Zerstörungen,
Jauchungen und Eiterungen führen. Geht der Kranke nicht mittler-
^weile zu Grunde, so schliessen sich die Gewebsspalten durch adhäsive
Entzündung ab und es bildet sich an der Grenze des Lebenden und
?odten die demarkirende Granulation (s. Wundheilung). Die
Stelle der Trennung heisst Demarcationslinie oder -Rinne.
Die Ursachen des Brandes sind schwere äussere Einwirkungen,
Verletzungen, namentlich Zertrümmerungen, Zerquetschungen u. dergl.
(traumatische Gangrän). Auch leichter Druck genügt, wenn er an-
haltend wirkt; so machen vorspringende Kanten von Verbänden,
Schienen leider häufig örtliche Brandstellen (an der Hacke, Condylus
internus humeri) — Druckgangrän, Decubitus. Auch ein schlechtes
Verschiedene Formen des Brandes. • 43
Lager kann an den gedrückten Stellen, besonders am Kreuzbein, Decu-
bitus hervorrufen. Dann sind Verbrennungen und besonders Erfrierungen
zu nennen (Frostgangrän); seltener sind es chemische Einwirkungen,
Verätzungen u. dergl. Gewisse Mikroorganismen (Gangrene foudro-
yante, progressive Gangrän, Hospitalbrand) wirken ebenfalls direct er-
tödtend auf Gewebe.
Eine häufige Ursache zum Brand sind Behinderungen in der
Blut zufuhr, wie sie bei Anämie und venöser Stauung, bei Thrombose
und Embolie , dann auch bei den schweren , mit Blutstockung ver-
knüpften Entzündungen erwähnt sind. Gefässerkrankungen, welche mit
Verdickung der Gefässwand und in Folge davon mit Verengerung,
selbst Verlegung der Gefässlichtung einhergehen (Arteriitis obliterans)
führen schliesslich zur Gangrän. Diese Gefässveränderungen sind häutig
im hohen Alter (Gangraena senilis), dann auch bei anderen
Schwächezuständen, vorgeschrittener Syphilis u. dergl.
Beim Altersbrand beginnen unter heftigen Schmerzen die Zehen sich blauroth
zu verfärben , bald wird die Haut schwärzlich und damit ist dann die Diagnose ge-
sichert (z. B. gegenüber der Gicht). Das hohe Alter und die deutlich zu fühlende
Arterienveränderung lassen keinen Zweifel übrig. Die Radialis fühlt sich wie ein harter,
mit Kalkplatten durchsetzter Strang an.
Wir kommen auf diese Fälle von „angiosklerotischer Gangrän"
nochmals bei den Erkrankungen der Gefässe zurück. Auch das
Arterienatherom führt gelegentlich zu Gangrän. Verletzungen der Haupt-
arterien eines Theils führen gleichfalls zur Gangrän durch Anämie.
Bei Streckung im Winkel steif gewordener Glieder im Knie, bei der Einrichtung
veralteter Verrenkungen, avo die Gefässe oft mit den Knochen verwachsen sind, wird
leider dann und wann einmal die Arterie (A. poplitea, brachialis) zerrissen. Sonst sind
es üeberfahrungen, Schüsse und ähnliche Verletzungen.
In vielen Fällen ist es ein hoher Grad von Schwäche der Gewebe
selbst, namentlich bei schwerer allgemeiner Erschöpfung, welcher diese
leichten, von gesunden Theilen kaum empfundenen Schädlichkeiten
sofort zum Opfer fallen lässt.
Wo die Zeichen des Brandes ohne nachweisbare Ursache oder
auf unbedeutende Einwirkungen hin eintreten, „Spontangangrän",
muss man an das Vorhandensein gewisser, die Widerstandsfähigkeit
der Gewebe herabsetzender Krankheiten denken. —
Bei heruntergekommenen, durch andere Krankheiten, Scharlach, Masern u. dergl.
geschwä(;hten Kindern fallen oft zunächst die Weichtheile des Mundes , die Wangen-
schleimhaut, dann aber auch die übrigen Weichtheile der Lippen, des Gesichtes einem
brandigen Zerfall anheim. In wenigen Tagen wandeln sich dieselben in schwärzlich
grünliche, schmierige Massen um , welche schichtweise abzulösen sind. Auch hii-r sind
Mikror)rganismen mit im Spiel, welchen die schlechtgenährten Gewebe nur wenig Wider-
stand entgegensetzen. ]\Ian hat den Vorgang Noma, Wasserki'ebs, genannt.
Die diabetische Gangrän befällt meist grössere oder kleinere
Bezirke von Haut und Unterhautzellgewebe. Nach äusserst langsamer
Abstossung des Todten bleiben hartnäckige, schmierige Geschwüre.
Das allgemeine Siechthum, der Nachweis von Zucker im Harn führen
zur Diagnose. Analog sind die Fälle von kachek tisch er Gangrän
(Kachexie = Siechthum), die l)ei allerlei schweren Allgemeinerkran-
kungen eintreten können und oft als „multiple kachektische Hautgangrän"
auftreten, wo zahlreiche Hautstellen dem Brande verfallen.
Durch Aufhebung der Verbindung mit den zugehörigen nervösen
Ccntren kommt es zur neurotischen Gangrän (vergl. pag. ?>b}.
44 !• Capitel. — Oertliche Kreislaufs- und Eriiälirunj^sstörurif^en.
Diese Art von Gangrän tritt uns in der Praxis , namentlich bei Er-
krankungen des Rückenmarkes, bei Wirbelbriichen und (seltener)
bei Wirbelverrenkungen entgegen. Ganz plötzlich verfärbt sich die
Haut an allen Stellen, wo Druck ist (an Kreuzbein, Schulter-
blättern, Waden, Haken), blau und fast von Stunde zu Stunde sieht
man die Gewebe dem Brande verfallen. In wenig Tagen lösen sich
alle Weichtheile ab, ausgedehnte Knochenentblössnngen, Jauchungen
u. s. f. treten ein. Dieser acute Decubitus ist eine äusserst unan-
genehme Complication der betreffenden Leiden.
Durch Krampf der Arterienmusculatur soll die symmetrische Gangrän zu
Stande kommen , wo hei schlecht genährten , nervösen Personen die Fingerspitzen der
Reihe nach allmählich absterben und abgestossen werden. Durch Arterienkrampf ent-
steht auch die Gangrän bei Vergiftungen, z.B. mit Mutterkorn, Seeale cornutum
(Kriebelkrankheit). Die durch Mikroorganismen bedingten Gangränformen — Ganga-ene
foudroj^ante, Milzbrand, Hospitalbrand u. dergl. — besprechen wir bei den accidentellen
Wundkrankheiten .
Die Behandlung des Brandes ist zunächst eine vorbeugende.
Bei den durch Circulationsstörungen und Gewebsschwäche bedingten
Fällen sind alle Momente, welche die Blutbewegung fördern, zu berück-
sichtigen. Massige Elevatiou, feuchtwarme, antiseptische Umschläge,
vorsichtiges centripetales Massiren u. dergl. neben kräftiger Ernährung
sind nützlich. Ist das wirkliche Absterben nicht mehr zu vermeiden,
so ist die Fäulniss auszuschliessen und möglichst der trockene Brand
anzustreben , am besten durch energisch austrocknende , antiseptische
Verbände (Holzstoff, Torf, Kohlenpulver). Die brandigen Theile müssen
trocken und geruchlos sein.
So lange erhöhte Temperatur besteht, ist auch irgendwo noch ein fauliger Herd
mit ungenügender Entleerung der Faulflüssigkeiten anzunehmen und man muss durch
Einschnitte in den bereits abgestorbenen Theilen die Austrocknung begünstigen und
etwaige Eiter- und Jaucheverhaltungen im noch lebenden Gewebe durch dreiste In-
cisionen eröffnen.
Das Todte ist zu entfernen, am besten durch Auslösung in einem
Gelenke, und damit die Quelle der Fäulniss auszuschalten. Zugleich
sucht man durch starke , fäulniss widrige Stoffe die Zersetzung einzu-
schränken durch Bepuderung mit Jodoform oder Wattebäusche in
starker Chlorzinklösung (1 : 8) getränkt (bei Noma). Oft wird man
in die Lage kommen, durch eine Operation (Amputation oder Exarti-
culation) das Todte und Kranke zu entfernen. Die Frage, wann und
wo zu operiren ist, ist oft schwer zu entscheiden. Operirt man weit
central wärts, z. B. bei Brand des Unterschenkels oben im Oberschenkel,
so operirt man wohl meist im Gesunden und wird gute Wundverhält-
nisse haben, aber man opfert Theile, die vielleicht noch zu erhalten
waren. Operirt man dem Brandherd nahe, so operirt man in inticirten
Theilen und bekommt meist schlechte Wundheiluiig, vielleicht auch
tödtliches Resorptionsfieber.
Wenn die Kräfte des Kranken ausreichen , so wartet man, bis
die Demarcation sich gebildet hat, die entzündlichen Erscheinungen
in den Geweben abgelaufen sind, die Gewebsspalten sich verschlossen
haben, d.h. bis zur 3. — 4. Woche. Bringt man den Kranken durch bis zu
vollendeter Demarcation, so heilen die Amputationswunden meist schnell.
Verfällt der Kranke rasch und muss man vor erfolgter Demarcation.
also in den ersten Tagen operiren, dann gehe man soweit nach dem
Centrum, dass man in wirklich gesunden Theilen operirt.
Neki'obiose. — Coagiüationsnekrose. 45
Die Fälle von Gangrän durch Erkrankung- des Gefässsystems
oder Gewebsschwäclie bieten dem operativen Eing-reifen keine guten
Aussichten. Immerhin glückt mitunter der Versuch. Bei diabetischer
Gangrän mag man es zunächst mit antidiabetischer Ernährung ver-
suchen. Ist der Kranke nicht zu elend, so warte man auch hier nicht
zu lange mit dem Eingrilf. In manchen Fällen verschw^indet die
Zuckerausscheidung erst nach der Operation (König).
Die Weichtheile an der Operationsstelle — von den kranken
Gefässen gleichfalls schlecht ernährt — fallen leicht wieder der Gangrän
anheim.
Zustände , wo Tod und Leben in einander und durcheinander
spielen, wo Theile eines Gewebes, ja nur Theile einer Zelle absterben,
nennen wir nekrobio tische.
Diese Vorgänge sind durchaus nicht alle pathologisch ; wir finden Beispiele genug
im normalen Getriebe des Organismus. Den gewöhnlichen Erueuerungs- oder Ersatzvor-
gängen im Körper gehen Abstossungen auf nekrobiotischem Wege parallel. In dem
Masse, als neues Epithel auf der Haut gebildet wird und das alte sich von der er-
nährenden Schicht entfernt , erleiden die älteren Schichten Veränderungen , die wir als
Verhornung bezeichnen, das Protoplasma nimmt Farbstoffe weniger an, der Kern
verschwindet und die ganze Zelle wird zu einem trockenen Plättchen , das schliesslich
abgeschilfert wird. Auf pathologischem Gebiete findet sich die Verhornung als häufige
A''eränderung epithelialer Neubildungen, namentlich bei den Krebsen wieder.
Die von Weigert entdeckte „Coagulationsnekrose" beruht aut
einer Gerinnung des Eiweisses der Zellen und Gewebe. Die Tlieile
gleichen in der That geronnenem Eiweiss oder Käse schon makro-
skopisch. Die Ursachen, welche zur Coagulationsnekrose führen, sind
denen des gewöhnlichen Brandes ähnlich, doch nicht so intensiv. Die
betroifenen Gewebe bleiben immer noch durchströmt, wenn auch nicht
von Blut, so doch von Lymphe.
Die Coagulationsnekrose betrift't ganze Gewebsstücke, welche dabei in grauweisse
oder gelbliche, trockene, fibrinähnliche Massen sich umwandeln. Es sind dies meist
durch Embolie bedingte ., weisse Infarcte" in der Niere, Milz, Placenta; dann ent-
stehen unter dem Einflüsse von Mikroorganismen Coagulationsnekrosen ; die Verkäsungen
bei tuberculösen Entzündungen gehören hieher. Es können auch nur einzelne, besonders
empfindliche Gewebsbestandtheile der Verkäsung anheimfallen; so können bei unge-
nügender Blutzufuhr die Epithelien einer Schleimhaut dieser Veränderung erliegen,
während Gefässe und Bindegewebe erhalten bleiben (vergl. pag. 8). Die so entstandene
Coagulationsnekrose der Schleimhautepithelien ist bekannt als Diphtheritis der Schleim-
häute. Bei den Muskelfasern ist die wachsige Degeneration hieher zu rechnen.
Die der Coagulationsnekrose verfallenen Zellen färben sich nicht
mehr oder schlecht. Meist, aber nicht immer, sind die Kerne ver-
schwunden. Man hat körnige, blassgelbe Massen, bald wenig, bald
.stärker fetthaltig, hin und wieder sind deutliche Schollen zu erkennen.
Auch einzelne Zellen können theilweise nekrotisch werden, zum anderen
Theile lebendig bleiben. Die Kerne können dabei erhalten bleiben
(wachsige Degeneration der Muskeln), sogar in grösserer Anzahl vor-
handen sein (tuberculöse Riesenzellen). Coagulatiousnckrotische Theile
können später erweichen oder verkalken.
An die nekrobiotischen Processe schliessen sich eng an die De-
generationen und Atrophien.
Wir sprechen von Atrophie bei einer Abnahme eines Organes
in toto. in allen seinen Theilen, der Zahl und Masse nach. Als Aplasie
46 I. ('a|)itol. — Oertliclio Kreislaufs- iiinJ KinäliniiiKs.stöninj^oii.
(Hypoplasie) wird die angeborene ungenügende Entwicklung eines
Organs bezeichnet.
Atrophie eines Theiles begegnet den Chirurgen nicht selten.
Wir weisen sie durch Messung und Vergleichung mit dem Theile der
anderen Seite nach, z. B. am Arm und liein. Wir schliessen sie auch
aus der Verminderung der Function. Atrophische Theile sind ])lutfirm.
blass, kühl , welk , oft zeigen sie auch chronische Stauung , neigen zu
weiteren Ernährungsstörungen, Oedemen, Geschwürsbildungeu. AA'ir l;e-
gcgnen diesen Zuständen von Atrophie bei drüsigen Organen und
Muskeln, aber auch bei Haut und Knochen.
Eine der häufigsten Ursachen der Atrophie ist die Stömng
oder Aufhebung der Verbindung mit den nervösen Centralorganen oder
Erkrankung dieser trophischen Centren; also bei Kervendurchschnei-
dungen , Nervenquetschungen , Lähmungen peripheren und centralen
Ursprungs u. s. f., am häufigsten bei der Poliomyelitis ant. acuta oder
,, essentiellen Kinderlähmung" .
Ferner entsteht Atrophie durch Nichtgebrauch. (Schwund der
Musculatur in Gypsverbänden u. dergl. oder durch absichtlichen Nicht-
gebrauch bei Simulanten und Betrügern.)
Auch durch anhaltende ungenügende Blutzufuhr entsteht Atrophie
(s. pag. 8, Anämie).
Mikroskopiscli findet man bei der Atrophie oft nur Verkleinerung der specifischen
Elemente, z. B. Terschmäleiaing der Muskelfasern ; ein anderes Mal ist das Zwischen-
gewebe vermehrt und namentlich reichliche Einlagerung von Bindegewebe wahrzunehmen.
Das Bild nähert sich dann sehr dem chronischer Entzündungen massigen Grades.
Wieder ein anderes Mal ist zwischen reducirtem erhaltenem Ge-
webe massenhaftes Fettgewebe eingelagert. Der Umfang, z. B. des
Muskels, kann dabei bis auf's Doppelte vermehrt sein und daher führen
diese Zustände auch den Namen „Pseudohypertrophie", d. h. un-
echte Hypertrophie. Dem Wesen nach ist es jedoch ein rein atrophi-
scher Vorgang , wie pcbon die fast völlige Vernichtung der Function
solcher Muskeln erweist.
Die Behandlung der Atrophie verlangt, Blut in überschüssiger
Menge einem solchen Theile zuzuführen. Man erreicht dies theils durch
Gebrauch des Theils (functionelle Hyperämie), theils durch andere Mittel
(Massage und Elektricität). Wärme pflegt den Kranken subjectiv
angenehm zu sein und ist nicht ohne Nutzen. Dass , wo es möglich,
die Verbindung mit den Centralorganen wieder herzustellen ist , z, B.
durch Nervennaht, ist selbstverständlich.
An die reine Atrophie reihen sich die Degenerationen oder
Metamorphosen. Das Gemeinsame dieser Vorgänge ist, dass an die
Stelle einer Gewebsart eine andere physiologisch minderwerthige oder
ganz werthlose tritt, welche dementsprechend an Stottwechsel und Cir-
culation auch geringere Ansprüche macht. Es handelt sich also häufig
um eine Art Substitution oder Metaplasie.
Bei der Pigmentatrophie findet man neben Verminderung der
Parenchymbestandtheile Ablagerung körnigen Pigments in und zwischen
den Zellen, vielleicht als Rest untergegangener Gewebsbestandtheile.
Die leichteste Form der Degeneration ist die trübe Schwel-
lung, parenchymatöse Degeneration (albuminöse Infiltration).
Meist betrifft diese Veränderung innere, besonders drüsige Organe, Leber, Nieren,
doch auch Muskeln. — Die Theile sind etwas geschwollen, ihre Farbe matter, die
Atrophie. — Vei'schiedene Degenerationen. 47
Schnittfläche trüber. Die Zellen sind weniger scharf contourirt , oft deutlich plumper
und etwas grösser , das Protoplasma durch feinste Körnchen (vermuthlich moleculäre
Eiweissgerinnungen) getrübt , die Kerne normal oder gleichfalls getrübt , oder von den
in Essigsäure sich lösenden Körnchen überdeckt. Earbstoife werden weniger leicht auf-
genommen. Die trübe Schwellung findet sich als erste Veränderung bei schweren
fieberhaften Krankheiten , besonders schweren Infectionen , Blut- und Eitervergiftung,
Wundrose, Scharlach, Typhus , dann auch bei Metallvergiftungen (As, P), hochgradiger
Blutarmuth. Während man früher geneigt war, sie auf die hohe Temperatur und hier-
durch bedingte Eiweisscoagulation zu schieben, betrachtet man sie jetzt mehr als directe
Folge der circulirenden Gifte. — Die trübe Schwellung bildet sich, mit dem glücklichen
Ende der Allgemeinerkrankung, meist wieder zurück, kann jedoch auch in andere
Degenerationen übergehen. Oder es schliessen sich wirkliche Entzündungserscheinungen
an. Von Vielen wird sie als erste Stufe entzündlicher Gewebsveränderung aufgefasst
und parenchymatöse Entzündung genannt.
Nahe steht die hydrophische Degeneration, eine Vergrösserung der Zellen
durch Flüssigkeitsaufnahme, wie sie sich namentlich bei chronischem Oedem findet.
Die fettige Entartung ist von der Fetteinlag-eriing-, der Fett-
infiltration wohl zu unterscheiden. Bei letzterer handelt es sich um die
Entwicklung- von Fett zwischen den Gewehsbestandtheilen , aber auch
innerhalb der CTewebselemente durch Ablagerung, z. B. in den Leber-
zellen. Bei der Fettinhltration hat man mehr grosse, abgrenzbare Fett-
tropfen, bei der Fettdegeneration gleichmässigere Durchsetzung der Zellen
mit feinsten Körnchen. Bei der fettigen Entartung handelt es sich
um eine Umwandlung der Protoplasmazellen in Fett. Die Zellen sind
mit feinsten glänzenden Körnchen erfüllt, die in Aether und Alkohol
löslich sind und mit Ueberosmiumsäure sich schwarz färben (im Ge-
gensatz zur trüben .Schwellung, wo sich die Körnchen in Essigsäure
lösen). Diese Körnchen können zu wirklichen Tropfen zusammenfliessen.
Gelegentlieh kommt es auch zur Bildung von Fettsäurekrystallen. Die
fettige Entartung betrifft die Musculatur, Drüsen u. dergl. und entwickelt
sich namentlich in Folge von Sauerstoffmangel, bei Vergiftungen (Phos-
phor. Chloroform, Jodoform, Aether, Stoffwechselpi'oducte der Bacterienj.
bei Fieber und endlich bei Lähmung der Muskeln.
Die Amyloidentartung geht mit einer glasigen Verquellung der
bindegewebigen Theile der Gev/ebe, namentlich der Wände kleiner
Gefässe und Capillaren einher. Diese sind verdickt, die glasige Sub-
stanz färbt sich mit Jod-,iodkaliumlösung mahagonibraun und mit
Methylviolett roth. Das Amyloid ist ein veränderter Eiweisskörper.
der vermuthlich aus dem Blut in die Capillarwand und bei grösseren
G^efässen auch in die Media abgelagert wird. Es^kann auch \vieder
resorbirt werden. Makroskopisch sehen die Organe (Leber, Milz, Nieren)
mattglänzend, speckig aus. weshalb man auch von „speckiger Entartung'"
spricht. Für den Chirurgen ist diese Entartung insofern wichtig, weil sie
bei langem Siechthuni eintritt und Kranke mit jahrelangen Eiterungen
schliesslich an der Amyloidentartung zu Grunde geben. Ablagerungen
von Amyloidsubstanz finden wir in Geschwülsten , in Narben , Granu-
lationen u. s. f, dann im Alter in der Prostata als geschichtete Amy-
loid körperchen (^Corpora amylaceaj. Hier müssen sie zum Theil au.^
dem Epithel hervorgegangen sein. Walirscheinlich sind diese Gebilde \(>n
dem AmyloYd der Gefässe specitisch verschieden.
Bei Kachexie und in einzelnen Sarkomen hat man auch eine pathologischf Gly-
kogen a 1) 1 a g c. r u n g Ijeobachtet.
Bei der der physiologischen Schleinibildung analogen schleimigen Ent-
artung quellen die Zellen zu glashellen Massen auf, daneben können noch Reste der
Zellen erhalten bleil)en. Die faserige Grundsubstanz des Bindegewebes, aber auch
48
I. Capitel. — Oertliclie Kreislaufs- uml Eriiälirun^^sstörungen.
Epitliclicii uütolii'gcji dieser Veräiiderniig, welcln; najucutlich in Gesell wiilsti;)! auftritt,
jedoch auch bei gewissen krankhaften Zustäaden an Knochen , Knorpel , Fettgewebe,
Sehnenscheiden, Synovialmembrane)) sich einstellt.
Ihr nahe steht die Colloiden tartung, der eigentlich nur epitheliale Bildungen
unterworfen sind. In den Epithelien (besonders der Schilddrüse) treten helle Kugeln
auf, welche die Zellen sprengen und zum Theil zum Verschwinden bringen. Sie fliessen
dann zu grösseren Kugeln zusammen. ICssigsäure und Alkohol , welche Schleim zur
Gerinnung bringen , verändern Colloid nicht. In der Schilddrüse und auch in der
Prostata tritt die Bildung von Colloidkugeln im Alter ganz regelmässig auf.
In Fig. 15 ist eine in colloider Entartung begriffene Schilddrüse dargestellt (nach
Woelfler). Bei a sind noch normale Drüsenblasen , bei b zeigt sich in der Mitte eine
glänzende glasige Masse, bei c ist die Blase stark ausgedehnt durch grosse, stellenweise
perlenartig glänzende Massen , welche ihre Abstammung aus Zellen durch ihre Anord-
nung noch zu verrathen scheinen. Die noch vorhandenen, zum Theil schon verändeiten
Epithelien sind an den Eand gedrängt.
Eine hyaline Entartung des Bindegewebes, mit Volumszunahme und
glasiger Verquellung, dem Amyloid wohl nahestehend, von diesem jedoch durch mangelnde
Fig. 15.
.Jodreactiou zu unterscheiden, wird gelegentlich in der Schilddrüse und sonst im Binde-
gewebe gesehen.
Hieher gehört auch die pathologische M u c i n- und P s e u d o m u c i n a b 1 a g e r u n g.
"Wichtig ist noch die Verkalkung. In schlecht ernährten Theilen, der Mittel-
haut kranker Gefässe, tnberculösen Lymphdrüsen, im Innern grösserer Geschwülste lagern
sich in Form staubiger Trübungen der Zellen Kalksalze ab. Dieselben bestehen haupt-
sächlich aus kohlensaurem und phosphorsaurem Kalk und sind in Säuren löslich. Es
können sich auch grössere Kalkconcretionen bilden.
Die Ablagening von harnsauren Salzen, welche sich in Form glänzender
Nadeln, namentlich in den Gelenken bei der echten Gicht absetzen, werden wir bei den
Gelenkentzündungen näher besprechen. Auch ihr gehen nekrotische Zustände _der be-
troffenen Gewebe voraus.
Die nahen Beziehungen von Degeneration und Entzündung sind
nicht zu verkennen (vergl. pag. 37). Bei der Behandlung dieser Zu-
stände kann es sich nur um Aufbesserung der allgemeinen und ört-
lichen Ernährung handeln. Doch dies ist meist leichter gesagt, als
gethan. Ein Theil dieser Processe ist einer Rückkehr zur Norm fähig.
Metaplasie. — Hypertrophie. 49
Bei der Metaplasie tritt an Stelle eines Gewebes ein anderes, oft nicht einmal
sehr nahe verwandtes. Als Typus dieser Veränderungen gibt Virchow gewisse physio-
logische Metamorphosen des Knochens an; wo bei Embryo und Kind Knorpel, findet
sich später Knochensnbstanz. Auch diese kann mit dem Wachsen des Knochens zum
Theil wieder verschwinden und jetzt tritt Markgewebe auf. Dieses erst als rothes,
später als gelbes u. s. w. Erfolgt ein Knochenbruch , so stellt sich wieder für kurze
Zeit Knorpel ein , dann wieder Knochengewebe. Auch dieses schwindet wieder und
macht wieder dem Markgewebe Platz. Beim Embryo besteht das Unterhautgewebe aus
Schleimgewebe , später wird dies zum Unterhautfettgewebe. Doch kann auch dieses
wieder zu Schleimgewebe sich zurückbilden. In Fettgeschwülsten ist gerade diese Meta-
plasie oft anzutreffen. — Innerhalb physiologischer Grenzen scheinen die Metaplasien
mit veränderten functionellen Beanspruchungen parallel zu gehen.
Hypertrophie ist die Zunahme eines Organs in allen seinen
Theilen mit gleichzeitiger Steigerung der Leistungsfähigkeit. Am
häufigsten findet sich Hypertrophie als Folge regelmässigen, jedoch nicht
übertriehen gesteigerten Gebrauchs (Arbeitshypertrophie). Die func-
tionelle Hyperämie übercompensirt die Abnützung (vergl. pag. 5) und
das Organ kann wachsen, seine Elemente können der Masse und wohl
auch der Zahl nach zunehmen.
In anderen Fällen ist die Hypertrophie eine vicariirende, wenn
ein Organ die Function eines gleichartigen oder verwandten zu Grunde
gegangenen übernehmen muss — eine Niere für die andere, Lymph-
drüsen und Knochenmark für die Milz u. s. f. — Die Hypertrophie ist
eine bleibende oder vorübergehende. Jedenfalls liegt es nicht im Wesen
der Hypertrophie, dass ihr später die Atrophie folgt.
Häufig zeigen die hypertrophischen Theile nicht eine ganz genaue Wiederholung
lies ursprünglichen Tj'pus. Es finden sich Unregelmässigkeiten der Anordnung, Ab-
weicliungen in Grösse und Form der Zellen. Diese progressiven Bildungen stellen eine
Brücke dar zu den GeschAvülsten. Sie finden sich namentlich in drüsigen Organen, wo
die Hypertrophie unmittelbar in die Geschwulstbildung (Adenom) übergehen kann, aber
auch i)ei glatten Muskeln (Myome). Jede Hypertrophie, welche nicht auf eine der ge-
nannten Ursachen zurückgeführt werden kann, ist verdächtig, dass sie nur eine Vor-
stufe einer geschwulstartigen Neubildung darstellt.
Als eine meist erwünschte Selbsthilfe des Organismus bedarf die
echte Hypertrophie einer Behandlung nicht.
L (i I) (1 c r ■• r , -Mlp. '-liir. I'atlir.Infc'i«- ii. rini:i)iii
IL Capitel.
Die Bacterien.
Eintheilung der Bacterien. — Die verschiedenen Arten und Gattungen. — Fort-
pflanzung und Stoffwechsel. — Saprophyten und Parasiten. — Die Wirkungsweise
der pathogenen Bacterien ist die einer Vergiftung. — Virulenz. — Die Thore
und Wege der Infection. — Localisation und Prädisposition. — Die Ausscheidung
und Vernichtung der Bacterien. — Immunität. — Schimmel- und Sprosspilze. —
Protozoen.
Die häiifi.iisteu Krankheitserreger . denen wir in der Praxis be-
gegnen, sind die Mikroorganismen. Diese niedersten Lebewesen
werden meist Bacterien, d. i. Stabthierchen , Stabpflänzchen oder
Spaltpilze, ftchizorayceten genannt. Zellen, deren kleinster Durch-
messer circa 1 u. (O'OOl Millimeter), der grösste vielleicht das 3 — 4fache
beträgt, bestehen sie meist ans einer eivveissartigen Substanz (Myco-
l)rotein, Xenclä). Gegen die Peripherie hin verdichtet sich dieselbe zu
einer gelatinösen Hülle, einer Art Membran, welche kohlenhydrat-(Celln-
lose), in einzelnen Fällen selbst fetthaltig sein soll. Jenseits derselben
findet sich häufig wieder eine durch Quellung der Membran entstandene
schleimige Masse (Zoogloea). welche die einzelnen Individuen zu ver-
schiedenartigen Gruppen und Verbänden vereinigen kann. Das ganze
Individuum ist als eine Zelle anzusehen. Zellkerne sind vielleicht vor-
handen fSchoftelius), jedoch bei den gewöhnlichen Färbungen nicht zu
erkennen. Die Hülle scheint elastisch , namentlich bei schraubig ge-
wundenen Exemplaren und läuft bei einzelnen Formen in geissel- oder
cilienartige, der Bewegung dienende Fortsätze aus.
Ein Theil der Forscher — • Nagelt, früher BülrotU — leugnete jede Specificität
der Arten, die Kugel-(Coccus-)forni sollte in die Stäbchen-(Bacillus-)form übergehen
können, je nach äusseren Bedingungen; und derselbe Pilz sollte bald die Buttersäure-
gährung, bald die Eiweissfäulniss, bald diese oder jene Infectionskrankheit des Menschen,
Diphtheritis , Milzbrand u. s. w. bedingen können. Weder die Form . noch die physio-
logischen Eigenschaften seien constant. — Den entgegengesetzten Standpunkt vertritt
Cohn, welcher auch für die Bacterien eine Eintheilung in ebenso scharf charakterisirte
Arten verlangt , wie für höhere Pflanzen. Noch entschiedener ist Koch, welcher füi'
die A^on ihm aufs Genaueste untersuchten pathogenen, d. h. krankheitserregenden Pilze
einen ganz constanten, höchstens in Kleinigkeiten schwankenden Artcharakter verlangt
und durch seine Züchtungen in Dutzenden von Generationen auch nachgewiesen hat.
Die Erfahrungen des praktischen Arztes zwingen gebieterisch, dem Standpunkte Cohn-
Koch's beizutreten. Die Versuche Buchner's, Milzbrandbacillen in die unschädlichen,
in Heuaufgüssen sich entwickelnden „Heubacillen" (Bacillus subtilis) durch allmähliche
Veränderung der Nährböden umzuzüchten und umgekehrt, sind nicht einwandsfrei.
Ein Theil der Bacterien ist streng monomorph, d.h. er tritt stets nur in
einer Wuchsform auf; während einzelne Arten (Cladothrix, Beggiatoa) pleomorph sind,
d. h. sie zeigen verschiedene Wuchsformen (kugelige, schrauben- und stäbchenförmige).
Hauptfonneu der Bacterieii. 51
Die drei Haupt formen, in welchen die den Chirurgen be-
schäftigenden Spaltpilze auftreten, sind die Kugel-(Coccus), (vergl.
Fig. 16), Stäbchen-(Bacillus) und die Schraubenform (Spirillum).
Sehr passend nimmt de Bari/ als Vergleich eine Billardkugel, einen
Bleistift und einen Korkzieher. Dazwischen gibt es Uebergänge vom
gekrümmten Stäbchen zur Schraube; ein ovaler Coccus sieht wieder
einem kurzen dicken Stäbchen mit abgerundeten Kanten ziemlich
ähnlich. Manche Abweichungen der Form, wie Keulen- oder Trommel-
schlägelform der Bacillen hängen mit Entwicklungsphasen (Sporen-
bildung) zusammen oder gehen dem Zerfall des Bacteriums voraus
(„Involutionsformen").
Durch die schleimigen Aussenhüllen der Bacterien werden die
Crlieder eines Stammes verknüpft, zu „Verbänden" vereinigt. Ruhende
Haufen nennt man „Zoogloea" (vgl. Fig. 16), bei weniger fest verbundenen,
beweglichen spricht man von „Schwärmen". Indem sich Kokken, ihrer
Entwicklungsrichtung entsprechend , zu Reihen aneinanderlegen , ent-
steht eine Kette — Kettenkokken (Streptokokken). Eine solche Kette
kann Aehnlichkeit mit einem gekrümmten Stäbchen gewinnen. Legen
sie sich zu Haufen — traubenförmig — aneinander, so hat man den
Traubencoccus, Staphylococcus, wenn zu vieren, den Mikrococcus tetra-
genus u. s. w. (Fig. 16).
Die Bacillen (Stäbchen) reihen sich aneinander zu fadenartigen
Formen. Diese Gebilde, auch „Scheinfäden" genannt, sind oft von
beträchtlicher Länge, gestreckt, winklig geknickt oder schraubenförmig
gewunden. Die Entstehung aus einer Anzahl kleinerer Elemente ist
bald durch deutliche Trennungslinien gekennzeichnet, bald sind die
Grenzen der Einzelindividuen kaum angedeutet oder nur durch be-
stimmte Reagentien sichtbar zu machen. Manche dieser langen Fäden
scheinen auch nur ein Einzelindividuum zu repräsentiren.
Will man die Bacterien in Gruppen eintheilen, so würde sich
am meisten die Theilung in Kokken (d.h. Kugelformen), Bacterien i. e. S.
(Stäbchen) und Spirobacterien (Spirillen, Spirochäten, Vibrionen, Schrauben-
formen) empfehlen. Die alte Ehrenherg-Cohi'^Qh.Q Classificirung war:
Tribus I. Sphaerobacteria , Kugelbacterien , Gattung 1 Mikrococcus.
Tribus II. Mikrobacteria , Stäbchenbacterien , Gattung 2 Bacterium.
Tribus III. Desmobacteria, Fadenbacterien, Gattung 3 Bacillus, Gattung
4 Vibrio. Tribus IV. Spirobacteria , Schraubenbacterien , Gattung 5
Spirillum, Gattung 6 Spirochaete. Die Hauptformen der Bacterien sind
in Fig. 16 halbschematisch nach Baumgarten (Vergr. ca. 700) dar-
gestellt.
Von den Lebenseigenschaften und Bedingungen der Bacterien ist
ganz besonders wichtig die Kenntniss der Fortpflanzung der Bac-
terien. Zunächst vermehren sich dieselben durcli Theilung. Der
betreffende Bacillus oder Coccus wächst etwas in die Länge . schnürt
sich dann in der Mitte ein, theilt sich durch Hereinwachsen der Mem-
bran völlig und die beiden Hälften wachsen rasch zu einem normal
grossen Individuum heran. Häutig bleiben die Glieder noch verbunden
zu Fäden oder Ketten. Die Theihmg geht sehr rasch von statten,
der ganze Process ninunt bei manchen Bacterien nur etwa eine halbe
Stunde in Ans])rnch. Bei ganz ungest<»rtcr Vermehrung würde sich
somit ein solches Bacterium binnen 24 Stunden auf 2S Piillionen ver-
52
n. Capitel. — Oci-tliche Kreislaufs- iiiid KniahningssWrungen.
mehren können. — Daneben bilden die Bacterien „Sporen" oder Daiier-
formen , den Samen der Pflanzen verft-lcichbar. Es sind dies kleine
rundliehe bis ovale, stark lichtbrechende Korperchen , welclie von den
meisten Farbstoffen mit den gewöhnlichen Methoden nicht gefärbt
werden , wahrscheinlich , weil sie eine äusserst widerstandsfähige und
schwer zu durchdringende Membran haben. Die Sporen bilden sich
auf Kosten der Substanz des Mutterorganismus, für den die Sporen-
bildung meist den Anfang vom Ende bildet. Häufig zeigt dieser vor der
Sporenbildung Unregelmässigkeiten der Form, „Involutionsformen".
Manche Bacillen nehmen Keulen- oder Trommelschlägelform an :
das Mutterbacterium färbt sich weniger intensiv mit Farbstoff'en , die
Contouren sind nicht mehr so deutlich und schliesslich zerfällt es und
Fig. lli.
Jt
Formen der Bacterien (nacli Baumgarten). Circa 700faclie Vergrösserung.
die Spore ist frei. Ein Theü der Bacterien bildet die Sporen im
Innern des Mutterorganismus — ..endogene" Sporenbildung. Diese
Bacterien werden auch „endospore" Bacterien genannt.
Figur 17 ß zeigt üppig wuchernde , überaus gleichmässige Vegetation von
Milzbrandbacillen, theil weise zu langen Fäden ausgewachsen; von einem Ausstrich aus
der Milz. IIb Sporenbildung, die gefärbten, dunkel gehaltenen Partien sind die
Bacillen, welche viel weniger gleichmässig, stellenweise plump und undeutlich sind (im
Holzschnitte nicht ganz entsprechend gegeben). Die Sporen sind zum Theile durch
Zerfall der Bacillen frei geworden. In 17 c sind nur die Sporen gefärbt, die Substanz
de]' Bacillen ist ungefärbt geblieben (Ueberhitzungspräparat). b und c ßeincultureu
Vergr. Zeiss, Immers. Vi 21 Oc. 5.
Andere Mikroorganismen haben ectogene Sporen bildung.
Diese entstehen nicht ausserhalb des Mutterorganismus, sondern an den
Enden, häufig an der Stelle, wo die kettenweise aneinandergereihten
Kokken oder Bacterien gelenkartig zusammenhängen, auch arthrogene
Lebensbediiiffunffen der Bacterien.
53
Sporenbildiing- und Artlirosporen genamit. — Die Kokken scheinen
keine Sporen zu bilden, jedenfalls keine endogenen. Den Anlass zur
Sporenbildung sucht man im Nahrungsmangel der Mikroorganismen.
Die Sporeu werden mit Recht als „Dauerformen" der Bacterien bezeichnet. Die
ausgewachsenen Bacterien ertragen keine Hitze über 11'^; die meisten gehen schon bei
50—55° zu Grunde. Die Sporen dagegen werden selbst durch Temperaturen von
100 — 120° erst nach längerer Einwirkung getödtet. Gegen Kälte sind Bacterien Aveniger
empfindlich, und Sporen fast ganz unempfindlich. Milzbrandsporen, bei— 110'-' ein-
gefroren , blieben entwicklungsfähig. Selbstverständlich ist dieses Verhalten für prak-
tische Fragen — Yernichtung der Bacterien, d. h. Desinfection — überaus wichtig.
Von einer Anzahl von Bacterien kennen wir eine Sporenbildung
nicht und diese scheinen sich nur durch directe Theilung zu ver-
mehren.
Die Bacterien sind für ihren Lebens- und Entwicklungsgang,
ihren Stoffwechsel und ihre Fortpflanzung an eine Reihe von Be-
ding u n g e n gebunden.
Zunächst ist eine gewisse Temperatur unerlässlich. Man hat
für die Bacterien ein „Temperaturoptimum" aufgestellt, bei dem sie
Fig. 17 a.
Fig. 17 b.
am besten gedeihen. Für viele ist die Temperatur des menschlichen
Körpers die angemessenste Wärme; für die meisten 30—40'^ C. Da-
neben unterscheidet man als die Temperaturgrenzen, wo sie eben noch
gedeihen, ein Minimum und Maximum. Für jene, die nur im mensch-
lichen Körper wohnen, sind nur geringe Schwankungen nach oben und
unten möglich; für andere, welche auch ausserhalb des thierischen
Körpers zu existiren vermögen, kann das Minimum bis 18", bis 10"
und noch tiefer heruntergehen und das Maximum sich bis 50°, in
einzelnen Fällen 65'' hinauf erstrecken.
Die Spaltpilze bedürfen zu ihrem Fortkommen der Feuchtigkeit,
d. li. einer gewissen W^assermenge , wie nur feuchte Gegenstände der
Fäuhiiss anheimfallen können, völlig trockene (Mumien) von ihr nicht
angegriffen werden. Sie vermögen grösstentheils nur in alkalischen
oder neutralen Medien sich ungestört zu entwickeln. Stärkere saure
Reaction, z.B. der Magensaft, hebt bei den meisten das Wachsthum
auf (Schimmel))ilzcn ist saure Reaction zuträglicher). Ein Theil der-
selben liedarf zu ihrem Leben dringend des Sauerstotfzutritts , „aiiro-
bische" Bacterien (Fastenrj. Andere können ihn entl)eiiren oder er
ist geradezu schädlich fiir ihre Entwickhing („anacroljischc Formen).
Jene halten sich in einer Nährlösuim- an der 01)erfläche , häufig dort
54 "• ('Hpitcl. — J)io l'jiuteriüii.
eine Art Haut (Kahnihaut) bildend, diese sinken in der Flüssigkeit zu
lioden; daneben gibt es Zwisclienstnfen , welche wenif^ .Sauerstoff
braueben oder für die er indifferent ist. Aenderungen aller dieser Lebens-
bedingungen werden von den »Sporen in viel grösserem Umfange und
viel länger ausgehalten, als von den Bacterien selbst.
Ausserdem bedürfen die Bacterien zu Leben und Fortpflanzung
mineralischer Bestandtheile, Schwefel, Phosphor, Kali, Calcium, die sie
aus anorganischen Salzen oder organischen Stoffen entnehmen. Au8
den organischen Stoffen (Eiweiss) nehmen sie auch den nöthigen Stick-
stoff, den sie aber auch aus Ammoniakverbindungen — Aminen fz. B.
Propylamin), Amidosäuren (Leucin . Asparagin), Amiden (Harnstoff),
Ammoniaksalzen und (ein Theil) sogar aus salpetersauren Salzen ent-
nehmen können. Die Eiweis>skörper werden theilweise als Peptone
assimilirt.
Der Stoffwechsel der Bacterien ist wichtig, ebensowohl durch
die Stoffe, welche die Bacterien in sich aufnehmen, als diejenigen,
welche sie abgeben. Corpusculäre Theilchen können sie nicht in sieb
aufnehmen; was sie bedürfen, anorganische und organische Stoffe,
Eiweiss und Salze , rauss ihnen in gelöster Form sich bieten oder
wird von ihnen gelöst. Von ihrem Standort, ihrem ..Nähi-boden", ihrer
„Nährlösung", ziehen die Bacterien die ihnen zusagenden Stoffe mit grosser
Energie an sich. Ein Theil derselben vermag nur todte Stoffe zu verar-
beiten; diese Bacterien werden als „Saprophyten" (G-a-oo?, faul) be-
zeichnet. Andere dagegen vermögen auch lebenden Körpern die ihnen
nöthigen Stoffe zu entnehmen, sie sind „Parasiten". Zwischen beiden
gibt es Zwischenformen; es finden sich Mikroorganismen, welche für
gewöhnlich saprophytisch leben, aber gelegentlich oder in gewissen Ent-
wicklungsstadien als Parasiten auf dem Thier- und Menschenkörper
leben können („facultativ parasitische" Mikroorganismen), gegen-
über den „obligaten Parasiten", welche ausschliesslich und ganz im
Thierkörper leben.
Die Eigenschaft gewisser Mikroorganismen , ebensogut ausserhalb wie im thie-
rischen Körper existiren zu können , ist praktisch natürlich wichtig. So können die-
Bacillen des Milzbrandes, der Cholera in feuchter Erde, in Wäschestücken u. dergl.
leben und sich vermehren, um vielleicht nach Wochen erst wieder auf ein Thier über-
tragen zu werden und hier parasitisch zu vegetiren. Andere, wie die Tuberkelbacillen,.
können sich nur im Thierkörper vermehren , wenn auch ihre Dauerformen sich längere
Zeit ausserhalb des Körpers zu halten vermögen; aber sie können wenigstens auf
Menschen und Thieren verschiedener Arten und Gattungen leben. Andere wieder, wie-
die Syphilis- und Leprabacillen, sind auf das Parasitenthum beim Menschen beschränkt
und können sich ausserhalb des menschlichen Organismus nicht erhalten ; sie finden.
auf Thieren ihre Existenzbedingungen nicht und sind daher nicht auf sie übertragbar.
Die Gefährlichkeit eines Pilzes , die Häufigkeit seiner Uebertragung auf den Menschen
muss eine um so grössere sein, je mehr er in der Aussenwelt verbreitet und je weniger
eine nnmittelbare Uebertragung von Mensch zu Mensch nöthig ist (Cholera, Strepto-
und Staphylococcus). ■ — Die Botaniker sind geneigt , anzunehmen , dass die Bacterien
erst im Laufe der Zeit den Parasitismus „erworben" haben, dass sie ursprünglich reine
Saprophyten gewesen und die Fähigkeit , im lebenden Körper zu existiren , erst durch
„Anpassung" erlangt haben.
Mikroorganismen, die im Körper krankhafte Veränderungen her-
vorrufen können, nennen wir pathogene.
Die pathogenen Bacterien entziehen ihrem Wirth , dem Thier-
körper, die zum Leben absolut noth wendigen Eiweisssubstanzen , die-
Kohlenhydrate , den Sauerstoff u. dergl, Sie nehmen dieselben nicht
Producte der Bacterien. 55
nur aus den ernährenden Flüssigkeiten , dem Blute , der Lymphe,
sondern auch aus den geformten Theilen, den Zellen, nehmen sogar Be-
standtheile der Zellen selbst in sich auf und erzeugen so entweder
eine Ernährungs- und Lebensstörung der Zelle (Atrophien u. dergl.)
oder völliges Absterben derselben. Sie zerlegen diese Stoffe in ihrem
Innern und deponiren die Producte ihres Stoffwechsels , ihre Abfall-
und Auswnrfsstoffe in die Gewebe des Wirthes.
Die Producte der Bacterien sind je nach der Art des Bac-
teriums verschieden, wenn auch einige ziemlich constante darunter vor-
kommen, so die gewöhnlichen Producte des Eiweisszerfalls, Ammoniak
und seine Derivate, die verschiedenen Amine, CO2, HoS, Indol, Scatol,
Phenol, Asparagin, Leucin, Tyrosin u. dergl.
Einzelne Bacterien bilden Farbstoffe, zum Theil nur mit dem
Sauerstoff der Luft, meist unter Lichtabschluss ; so erzeugen der Bacillus
prodigiosus, die Bacillen der rothen Milch einen rothen Farbstoff, der
Bacillus pyocyaneus blaue, grüne, braune Farbstoffe u. s. w. Ebenso
gibt es Bacterien, die reducirende Eigenschaften haben (Indigblau
im Nährboden wird zu Indigweiss reducirt). Einige Bacterien vermögen
auch Lichterscheinungen zu erzeugen (phosphorescirende Bacterien).
Dann gibt es Bacterien, die Säuren oder Alkali produciren. So
bilden die Choleravibrionen salpetrige Säure.
Wichtiger ist die Bildung von Fermenten (Enzymen). Am
deutlichsten ist dies bei Bacterien, die den festen Nährboden, auf dem
sie wachsen, verflüssigen („verflüssigende" und „nicht verflüssigende"
Bacterien). Die Verflüssigung beruht auf der Bildung eines leimlösenden,
])eptonisirenden Ferments. Daneben kennen wir diastatische (Stärke in
Zucker umwandelnde), ferner invertirende (Rohr- und Milchzucker in
Glykose umsetzende) Fermente.
Schon seit Jahren wissen wir, dass die Bacterien auch alkaloid-
artige, giftige Stoffe erzeugen. Sie stammen aus dem Zellleib der
Bacterien selbst (Büchner) und sind nicht (?) entstanden durch Zer-
legung der Eiweisskörper der Nährflüssigkeit. Die alkaloidähnlichen
Körper theilt man zur Zeit nach Brief/er in ungiftige — Ptomaine
genannt — und giftige — Toxine. Sie werden (nach Brieger) durch
Auskochen der zerhackten Organe mit schwach salzsäurehaltigem Wasser
und eine ziemlich complicirte Weiterbehandlung gewonnen. Dann unter-
scheidet man hitzebeständige Stoffe aus dem Zellinhalt der Bacterien ■ —
von ^Mr/mer Proteine genannt (Anthracin, Malle'in, Pyocyanin, Tuber-
culin , Pneumonokokkenprotein u. s. w.). Die hitzeunbeständigen hat
man Toxalbumine genannt. Die letzteren werden besonders durch
Abtiltriren der Bacterienleiber von der Nährflüssigkeit mit bacterien-
undurchlässigen (Thon-) Filtern gewonnen oder durch Vacuumdestillir-
apparate. Die hitzebeständigen erhält man am einfachsten durch Er-
hitzen der Culturen. Andere exactere Methoden (Dialyse, Ausfällung)
sind sehr complicirt.
Die liacterien besitzen auch die Eigenschaft des Chemotropismus
oder der Chemotaxis in hohem Grade (vergl. pag. 2ö). d. Ii. in
Flüssigkeiten suspendirt werden sie durch ihnen zuträgliche Stoffe an-
gelockt, durch andere abgestossen. Meist zeigen sie auch wie die
Leukocyten . Thermotaxis oder Thcrmotro))ic, d.h. sie werden
durch ihnen zusagende Wärmegrade angelockt.
56 n. C'apitel, — Die Bacturien.
Die Wirkung der Bacterien auf ihren Träger ist also weniger
aufzufassen als eine Störung der Ernährung desselben, als eine Sauer-
stoftentziehung (Pasteur), oder als eine mechanische Wirkung, z. B.
Versto])fung der Capillaren mit Mikroorganismen bedingt. Die wesent-
liche Wirkung der Bacterien ist als eine directe Vergiftung des
Wirthes anzusehen. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben wird dies
deutlich machen.
Die „Sprosspilze" (Hefe , Saccliaromyces cerevisiae) erzeugen in den ihnen zu-
sagenden Nährlösungen (Weinmost, Biermaische u. dergl.) aus den Kohlenhydraten
Kohlensäure und Alkohol. Die Sprosspilze, von denen man z. B. in frischem gährenden
Moste enorme Massen zu sich nimmt , schaden nichts , nur das Product ihres Stort-
wechsels , der Alkohol , erzeugt , in den Organismus eingeführt , die bekannten ver-
giftenden Wirkungen.
Die producirten Gifte sind je nach der Art des Mikroorganismus
verschiedener Natur, ihre Wirkung auf den Organismus ist ebenso eine
verschiedene. Daher die ditferenten Krankheitsbilder, welche wir durch
die verschiedenen Mikroorganismen entstehen sehen.
Die Intensität, mit der die Mikroorganismen ihren Nährboden
angreifen und zersetzen, mit anderen Worten die Giftigkeit oder
Virulenz ist eine sehr verschiedene. Manche sind kaum im Stande, den
Zellen des thierischen Organismus ihr Eruährungsmaterial streitig zu
machen, sondern werden von diesen meist rasch überwältigt — Schimmel-
pilze. Andere dagegen vermögen sich in den Geweben zu halten und
mit den Zellen den „Kampf um's Dasein" mit rascherem oder lang-
samerem Erfolge aufzunehmen.
Die Giftigkeit oder die Virulenz, d. h. die Fähigkeit, den Organismus des Wirthes
anzugreifen, krank zu machen und unter Umständen zu vernichten, ist bei derselben
Bacteriengattung nicht immer die gleiche, constante. Sie wird — • absichtlich oder un-
absichtlich— abgeschwächt, wenn der Mikroorganismus unter Bedingungen versetzt
wird , die seinem Fortkommen ungünstig sind — TJebertragung auf Thiergattungen,
die wenig empfindlich für ihn sind, z. B. des Schweinerothlaufes auf Kaninchen, des Milz-
brandes auf Frösche u. dergl., ferner durch Züchtung auf künstlichem Nährboden,
besonders solchen , die ihm nicht sehr zusagen. Oder die Nährböden werden mit ent-
wicklungshemmenden Mitteln — Carbolsäure, verdünnter Schwefelsäure u. s. w. versetzt.
Das Verfahren ist unsicher. — Pasteur ist die Abschwächung des Milzbrandes dadurch
gelungen, dass er Milzbrandbacillen bei höherer Temperatur (42 — 43'') züchtete (24 Tage
lang I. schwächerer vaccin, 12 Tage laug II. stärkerer vaccin, womit er Thiere gegen
subcutane Impfung , nicht aber gegen Fütterungsmilzbrand immun machte). Je höher
die Temperatur, um so kürzer braucht sie zu wirken, um abzuschwächen, über 45'^' nur
Stunden, über 50° nur Minuten.
Einwirkung des Sonnenlichts (langsamer auch des diffusen Tageslichts), erhöhter
Druck, comprimirter 0 und COj setzen die Virulenz herab.
Eine Steigerung der Virulenz wird am sichersten und raschesten erzielt
durch Weiterzüchten von Bacterien in ihnen zusagenden , sehr empfänglichen Thiergat-
tungen, besonders auch jungen Thieren. oder man inficirt das betreffende Thier mehrmals
hintereinander. Es gelingt auch die Virulenz zu steigern oder manche Thierarten erst
empfänglich zu machen , wenn man gleichzeitig zwei verschiedene Bacterienarten in
die Thierkörper einführt , z. B. Tetanusbacillen und Bacillus prodigiosus , Streptococcus
und Proteus vulgaris; Streptococcus und Diphtheriebacillus. — Werden Streptococcus
und Bacillus prodigiosus zusammen auf künstlichem Nährboden gezüchtet, so steigert sich
die Virulenz des Streptococcus.
Die Steigerung der Virulenz bei Fortzüchtung im lebenden Organismus ist auch
die Ursache, weshalb Infectionen direct vom kranken Thier oder Menschen (z.B.
pyämische Infectionen der Chirurgen bei Operationen) meist so überaus schwer und ge-
fährlich sind.
Die Einwirkung der Bacterien auf die Zellen zeigt sich
als Schädigung, selbst Nekrose der Zellen und meist Entzündung. Unter
dem Zusammenwirken der gestörten Ernährung . der Giftwirkung und
Schutzvorrichtungen. — Immunität. 57
der Lebeiisäussenuig-en der geschädigten Zellen entstehen jene merk-
würdigen, zwischen Tod nnd Leben liegenden, nekrobiotischen Zell-
formcD, wie die Riesenzellen , Mastzellen , epithelioiden Zelleo , Lepra-
zellen 11. s. f. neben Stellen , wo völliger Tod durch die Mikro-
organismen hervorgerufen ist. Anderen Mikroorganismen, z. B. denen der
progressiven Gangrän, fallen die Zellen des Körpers rettungslos und
sofort, ohne irgend ein Zeichen des Widerstandes, einer „Reaction'"
zum Opfer. Andere Male hat man parenchymatöse Degeneration, Ver-
flüssigung der Zellen u. s. w.
Die Schutz- und Abwehrmittel des Organismus gegen-
über den Bacterien sind zahlreiche — locale und allgemeine.
Locale Gegenwehr leistet das von Bacterien befallene Gewebe
in der reichlichen Blut- und Lyniphdurchströmung, wie wir sie bei der
Entzündung kennen gelernt haben. Die normale Gewebsflüssigkeit,
das normale Plasma besitzt hohe bactericide Eigenschaften , die des
entzündlichen sind noch viel stärker (H. Büchner).
Dazu kommt die bacterienvernichtende Kraft der Gewebszellen
und weissen Blutkörperchen, die Pbagocytose (vergl. pag. 26). Durch
adhäsive Entzündung (siehe pag. 29) und Zellwucherungen schliessen
sich die benachbarten Gewebe gegen weiteres Eindringen und Vor-
schreiten der Bacterien ab. Ebenso wird ein Theil der Mikroorganismen
in den Lymphdrüsen zurückgehalten , zerstört , abgekapselt oder nach
aussen entleert. Allerdings gibt es Bacterien von so hoher Virulenz
(z. B. Rauschbrandbacillen) , dass die Gewebe hier keine wesentliche
Gegenwehr zu leisten vermögen.
Das Blut, besonders das Blutserum, besitzt hohe bacterien-
vernichtende Eigenschaften ausserhalb des Organismus und im
Körper. Selbst beträchtliche Mengen von Eitererregern , durch intra-
venöse Injection dem Blute beigemischt, gehen rasch darin zu Grunde.
Ebenso geht es den Bacterien , die in nicht zu grosser Menge aus
den Geweben in's Blut übertreten.
Ausser der Vernichtung der Bacterien in Säften und Geweben
können Bacterien ausgeschieden werden (lebend und todt) in den
Excreten der Drüsen und Schleimhäute (Harn, Koth, Auswurf, im Schweiss
(v. Eiselsherg). auch durch Abkapselung können sie — für Zeit oder
immer — aus der Circulation ausgeschaltet und dadurch unschädlich
werden. (Dass sie lange lebens- und entwicklungsfähig im Körper
liegen bleiben können, ist auf pag. 61 erwähnt.)
Unter den allgemeinen Schutzmassregeln des Körpers (vom Blut
abgesehen) ist die wichtigste die Immunität.
Manche Bacterien vermögen auf bestimmten Thiergattnngen nicht
zu haften und zu gedeihen, so ist die Feldmaus nicht empfänglich gegen
die Mäu8ese])ticän)ic. der die Hausmaus olnie AVeiteres erliegt. Es ist dies
eine ange])orene natürliclie Immunität (LJncmpfänglichkeit).
Es ist l)ekannt, dass, wer gewisse bacterielle Krankheiten (In-
fectionskrankheitenj einmal überstanden hat , nur in äusserst seltenen
Fällen zum zweiten Mal daran erkrankt und auch dann meist viel
leichter, als das erste Mal — erworbene natürliche Immunität.
Solche Krankheiten sind u. .\. von acuten Infectionskrankheiten
Masern, Scharlach, Pocken. Keuchhusten, von chronischen Syphilis. In
diesen Fällen dauert die Immunität meist durch das £:anze Leben des
58 n. Capite]. — Die Bacterioi.
betreffenden Individuums. Eine kurz dauernde Immunität (Monate) soll
bei Diphtlierie , Strepto- und Staphylokokkenkranklieiten , Cholera zu
beobachten sein. Gewisse Infectionskrankheiten — in erster Linie die
Tuberculose — lassen keinerlei Unernpfänglichkeit gegen neue Infection
zurück, im Gegentheil, die Disposition scheint eher zu wachsen.
Es ist selbstverständlich , dass der Arzt bemüht ist , die Unem-
pf'äng'lichkeit künstlich herbeizuführen, künstliche Immunität. Die
Erzeugung- einer künstlichen Immunität ist das Ziel der heutigen
wissenschaftlichen Therapie der bacteriellen Erkrankungen. Die Wege,
auf denen man dieses Ziel zu erreichen suchte, sind sehr zahlreich.
Ein selten geübtes Verfahren ist, sehr geringe, allmählich an-
steigende Mengen von Infectionserregern einzuverleiben. Hiedurch ge-
winnt der Organismus schliesslich die Fähigkeit, auch schweren, sonst
unbedingt trjdtlichen Infectionen zu widerstehen.
Ein oft und zum Theil mit gutem Erfolge betretener Weg ist
der, durch Einverleibung abgeschwächter Culturen gegen voll-
virulente Infection fest zu machen; dies gelingt z. B. durch Durch-
schicken der Mikroorganismen durch den Körper wenig emjjfäng-
licher Thiere. Auch Fütterung mit Bacterien hat — durch Abschwäehung
derselben durch die Salzsäure des Magensaftes — gelegentlich Immuni-
sirung erzielt.
Die älteste erfolgreiche Methode auf diesem Gebiete ist die Kuh-
pockenimpfung von Jenner. Die Menschenpocken werden durch
absichtliche oder unabsichtliche Uebertragung auf das weniger empfind-
liche Rind abgeschwächt. Wird diese abgeschwächte Erkrankung auf
den Menschen übertragen , so genügt diese durchgemachte schw'ächere
Erkrankung meist, ihn gegen die echten schweren Menschenpocken
unempfänglich zu machen. So lässt sich der Schweinerothlauf im
Kaninchen abschwächen u. A. m.
Auch ausserhalb des Organismus lassen sich Mikroorganismen in
der (pag. 56) erwähnten Weise abschwächen und dann zu Immunisirungs-
versuchen verwenden.
Auch durch chemische Mittel hat man Immunität erzielt , so hat
Behring Meerschweinchen und Kaninchen durch Vorbehandlung mit
Wasserstoffsuperoxyd immunisirt gegen Diphtherie, ebenso durch locale
Behandlung der Diphtherie mit Jodtrichlorid.
Ein anderes Verfahren bedient sich der durch Siedhitze abge-
tödteten Culturen oder der durch Filtration gewonnenen sterilen Bac-
terienproducte. Eine eigentliche Immunität ist so bis jetzt wohl kaum
erzielt worden, nur eine gewisse Gew()hnung und erhöhte Widerstands-
fähigkeit gegen die Toxine und die 3Iikroorganismen (vergl. Krebs-
beb an dlung).
Besser sind die Erfolge bei massiger Erhitzung (60—70"), ob
man nun nachher filtrirt hat oder nicht {Smith gegen Schweineseuche,
Roger gegen Streptokokken, Fränkel gegen Diphtherie).
Wirksame Impf-, respective Immunisirungsstofte sind auch durch
Filtration gewonnene , sterile Körpersäfte von Thieren , die der be-
treffenden Infection erlegen sind. Bei der Pasteur'^Qh^n AVuthimpfung
werden getrocknete Organstücke der inficirten Thiere übertragen.
Ueberaus wichtig für die praktische Verwerthung ist die von
verschiedenen Forschern (NutaU- Flügge, Fodor , Büchner) gemachte
Theorien der Immunität. ■ 59
Entcleckmig" gewesen, dass das Blutserum dieser immunisirten Thiere,
andern Tliieren subcutan injieirt, diesen auch einen gewissen Grad von
Immunität verleiht. Praktisch zum Ausdruck gekommen ist diese Er-
fahrung in dem Behrinfschen Diphtherieheilserum, dessen Erfolge nicht
mehr bezweifelt werden können.
Auch gewisse Secrete haben immunisirende Wirkung, der Harn
(Behring) und die Milch. Gegen Tetanus immunisirte Ziegen über-
trugen die Immunität auf ihre gesäugten Jungen; ja, es konnten sogar
aus der Milch Schutzstoffe isolirt werden (Ehrlich und Brieger).
Ueber die Vorgänge im Organismus, durch welche die Immunität
erzielt wird , ist bis heute noch keine völlige Klarheit erzielt.
Die Krschöpfungstheorie (Pasteur, Klehs), dass die specitischen
Nährstoffe der betreffenden Bacterien im Organismus verbraucht seien
und diese deshalb ihre Existenzbedingungen nicht mehr linden können,
dass der Boden für die Bacterien steril wird, ist heute aufgegeben.
Ebensowenig gilt die Theorie Metschnikoffs, der annimmt, die
Leukocyten , vielmehr Phagocyten, würden bei der Immunisirung im
Kampfe gegen die Leukocyten geübt.
Chttiweau hat dann die sogenannte Retentionstheorie aufgestellt,
dass der Körper unter dem Einfluss der Immunisirung Stoffe bilde und
späterhin zurückhalte , die eine Neuansiedlung und Entwicklung von
Bacterien verhindern. Erst glaubte man, dass zum Zustandekommen der
Immunität die Ueberwindung einer Infection mit lebenden Bacterien
nothwendig sei. Aber schon Salomon und Smith zeigten , dass man
Tauben durch Uebertragung der bacterienfreien Stoffwechsel producte,
also auf rein chemischem Wege gegen Schweinecholera immunisiren
kann. Behring und Kitasato zeigten weiter, dass man Thiere durch
innnunisirendes Serum nicht nur gegen Infection mit Tetanusbacillen,
sondern auch gegen Intoxication mit den Tetanustoxinen unempfänglich
machen kann. Ehrlich zeigte ferner, dass man Thiere auch gegen
Gifte, die nicht von Bacterien herstammen , sondern gegen Pflanzen-
gifte (Abrin, Ricin) „fest" macheu kann. Daraus hat dann Behring den
Schluss gezogen, dass während der Immunisirung, besonders während der
tieberhaften Reaction sieh Gegengifte, Antitoxine, „Antikörper" bilden,
welche das Gift der Bacterien zerstören, indem Gift und Gegengift sich
zu einem für den Organismus unschädlichen Körper verbinden.
Hiegegen, d.h. gegen die Annahme einer directen chemischen
Neutralisation, wendet sich BucJmer, denn ein Gemenge von Tetanus-
toxin und -antitoxin , das Mäuse intact lässt , tödtet noch Meer-
schweinchen. Er nimmt an, dass es sich nicht um Giftzerstörung,
sondern um rasche Immunisirung handle.
Gruher glaubt, dass die immunisirenden Stoffe die Hülle der
Bacterien verändern, klebrig machen (deshalb Glabriiicine genannt) und
dass die Körpersäfte dann wegen der grösseren Permeabilität der
Membran die Bacterien leichter abtödten können.
Vielleicht liegen bei verschiedenen Infectionen verschiedene Vor-
gänge vor.
Wenn die praktischen Erfolge des Di))lithcricheilseruüis /unächst
mehr zu Gunsten Biliriug's zu sprechen scheinen, so sind dafür ge-
wichtige experimentelle Ergebnisse nur durch die Ih/r/ijirr'>^che Theorie
zu verstehen.
ßQ II. Capitel. — Dia Biicterieti.
Antitoxine sind auch schon verhältnissniässig rein dargestellt
worden, so das Tetanusantitoxin als weisses Pulver durch Buchner.
Schliesslich darf der Praktiker nie die Thatsaclie vergessen, dass
wir auch durch Einverleibung klarer chemischer Körper Infections-
krankheiten heilen können — Malaria durch Chinin und Arsenik,
Syphilis durch Quecksilber und Jod, Tuberculose durch Zimnitsäure
u, A. m.
Dass es eine Reihe bacterienwidriger und bacterienvernichtender
chemischer Stoffe — Antiseptica — gibt, werden wir bei der
Wundbehandlung sehen.
Mitunter gelingt es, eine Bacterienart an einem Standort durch eine andere zu
verdrängen. So kann ein Erysipel einen Lupus (Tuberkelbacillen) zur Ausheilung
bringen. Emmerich impfte Thiere , welche er bereits mit Milzbrand inficirt hatte,
einige Stunden nachher an derselben Stelle mit Erysipelkokken, das Erysipel kam zum
Ausbruche, aber der Milzbrand nicht, während die nicht mit Erysipel geimpften Control-
thiere an Milzbrand starben. Haben nun hier die Erysipelkokken die Milzbrandbacillen
vernichtet oder hat, was nicht unmöglich ist, die die Wundrose begleitende Entzündung
so gewirkt? — Dass in Nährlösungen oft ein Pilz den andern verdrängt, darauf hat schon
Nägeli aufmerksam gemacht. In Weinmost, Traubenzuckerlösungen wachsen zunächst
die Sprosspilze und bilden Alkohol. In diesem entwickeln sich dann die Pilze der
Essiggährung, deren Wachsthum bisher von den Sprosspilzeu zurückgedrängt war. Auf
dem Essig gerathen die Schimmelpilze. Haben sie die saure Reaction der Lösung durch
Aufnahme der Säure neutral gemacht , so treten die Fäulnisspilze hervor. Es kommt
aber auch im Menschen vor , dass ein Pilz dem anderen den , Nährboden bereitet : so
scheinen die Streptokokken sich häufig auf und in den durch den Diphtheriepilz er-
zeugten croupöseu Pseudomembranen zu entwickeln und dann in den Organismus ein-
zudringen. Manche der „septischen" und „pyämischen" Formen der Diphtherie mögen dieser
„Mischinfection" ihre Entstehung verdanken.
Für praktische Zwecke ist es überaus wichtig zu wissen, auf
welchem Wege die Bacterien in den Körper gelangen, die Thore und
Wege der Bacterieninfection zu kennen.
Die gewissenhaften Versuche Meissner's, welche durch Hauser's nicht minder
exacte Untersuchungen bestätigt wurden, lassen kaum Zweifel darüber bestehen, dass
unter normalen Verhältnissen Bacterien — wenigstens Fäulnissbacterien — ■ in den
thierischen Geweben nicht enthalten sind. Die Möglichkeit, dass rein zufällig einmal
Fäulnissbacterien oder andere in geringster Menge, wie sonstige feste Partikelchen, Russ-
stückchen u. dergl., in Gewebe, Lj'mph- oder Blutbahnen hineingelangen, z. B. von den
Lungen aus , ist nicht zu leugnen. In den obersten Schichten der Darmschleimhaut,
namentlich im Blinddarm , hat Eibbert Mikroorganismen innerhalb der Epithelien ge-
funden, in der Submucosa fehlten sie. Vielleicht spielen hier die Epithelien die Rolle
der Mefschnikoff'schen Phagocyten.
Die Eingangspforten sind am häufigsten Wunden, und zwar
vorwiegend frische Wunden. Manche Mikroorganismen , z. B. Staphylo-
kokken, können auch in die unversehrte Haut, wenigstens die Drüsen-
mündungen, eindringen, indem sie zunächst in die Drüsen und Follikel
der Haut gelangen und von hier aus in die Tiefe gehen (Garre). Für
andere Infeetionskrankheiten bilden die Schleimhäute, namentlich
des Respirationstractus und des Darms, die Haupteingangspforte. Für
wieder andere sind es die Schleimhäute der Genitalien, und zwar nicht
blos für die Bacterien der eigentlichen Geschlechtskrankheiten , z. B.
des Trippers , sondern wahrscheinlich auch anderer Infeetionskrank-
heiten , der Tuberculose , namentlich bei Frauen. In vielen Fällen
gehen die Bacterien durch Vererbung von der Mutter oder selbst
dem Vater auf das Kind über — „hereditäre" Syphilis oder Tuber-
culose.
Eingangspforten und Localisation der Baclerien. gl
Nach zalilreiclien Untersuchungen bildet die Placenta keinen
sicheren Schutz für den Fötus gegen den Uebertritt von Spaltpilzen;
besonders wenn Blutungen , Epithelverluste , Entzündungen vorhanden
sind (Birch- Hirschfeld). Jani- Weigert fanden im Sperma Tuberculöser —
selbst solcher ohne tuberculöse Herde in den Geschlechtsorganen —
Tuberkelbacillen. Diese Untersuchungen sind anderweit bestätigt
worden.
Von dem Orte der Infection gelangen die Bacterien in die Lymph-
bahnen und von da in\s Blut und circuliren hier, wenn nicht stets
neue Einbrüche erfolgen, nur für kurze Zeit. Dieses Verhalten ist für
einige Bacterien mit Sicherheit erwiesen — für Tuberkelbacillen bei
allgemeiner Miliartuberculose , für Typhusbacillen, für Staphylokokken
bei fiebernden Verwundeten; für alle ist es wahrscheinlich („Eruptions-
stadien" der Syphilis, der acuten Exantheme u. s. f.). Schinimelbusch
bat gezeigt, dass schon eine halbe Stunde, nachdem eine frische Wunde
am Schwanz der Maus mit Milzbrandbacillen inficirt war, Bacillen in
der Leber zu finden waren.
Nachdem sie im Blute circulirt haben, „localisiren" sich die
Bacterien an verschiedenen Stellen. Leber, Milz, Knochenmark, letzteres
namentlich beim wachsenden Thiere, sind besondere Prädilectionsstellen
für die massenhafte Ablagerung corpusculärer Stoffe. Es scheinen dies
vorwiegend Orte mit langsamerer Circulation oder mit engmaschigem
Capillarnetz (gewisserraassen Sieb mit feinen Poren) zu sein. In gleicher
Weise lagern sich diese Stoife an solchen Stellen in besonderer Masse
ab, welche schon vorher der Sitz von Entzündungen oder Verletzungen
gewesen, deren Circulation also gleichfalls eine gestörte ist (Schiiller).
In die gesunden Gewebe übergetreten , geht ein grosser Theil der
Bacterien zu Grunde — von gewissen stark pathogenen natürlich abge-
sehen, die sofort eine schwere Allgemeinerkrankung heibeiführen. Die
Zeit, innerhalb welcher diese Vernichtung erfolgt, scheint sehr ver-
schieden. Wyssoli-oivitsch konnte noch nach drei Monaten aus der Milz die
Sporen von Bacillus subtilis zur Auskeimung bringen. Nach Bibbert
werden — vom gesunden Thiere — selbst pathogene Kokken , wie
Staphylokokken, in reichlicher Menge eingespritzt wieder ausgeschieden.
Aeusserst beachtenswerth sind die ferneren Ergebnisse Bibbert's und
Ortli's. Sobald im Gefässsystem eine Verletzung gesetzt war, eine
Klappe , z. B. eine Valvula semilunaris , durchstossen oder auch nur
etwas Intima aI)gestossen war , so vermochten sich hier die Bacterien
anzusiedeln und brachten schwere Veränderungen hervor. Waren seit
der Verletzung 3 — 4 Tage verstrichen , so dass die wunden Stellen
sich inzwischen wieder mit Endothel hatten bedecken können, so
wurden diese Punkte auch nicht mehr angegritfen, sondern die Mikro-
organismen in gewöhnlicher Weise ausgeschieden. Injicirte Bumm in
eine gesunde liarnblase Staphylococcusculturen , so wurden dieselben
wieder ohne Schaden ausgeschieden. AVar die Blase vorher mechanisch
oder chemisch insultirt oder wurde die Harnentleerung gestört, so ent-
standen eitrige Blasenentzündungen.
Diese Versuche; und Beo])achtungen gewälireii uns einen Einblick in die Frage
der „Prädisposition". AVie bekannt, kommt es oft vor, dass von zwei Menschen,
die sich derselben Ansteckungsgefahr aussetzen, der eine erkra)ikt, der andere
nicht. "Wie diese Versuche zeigen , bedarf es des zeitlichen Zusammentreft'ens von
62
II. Capitel. — Die Hacffiriüii.
Fig. 18.
d
Bacterieninvasion und einer verletzten oder kranken Stelle, wo sie haften können. I.st
dieses unglückliche Zusammentreffen gerade nicht vorhanden , so wird die Ansteckung
überwunden. Dieses interessante Verhältniss des „Locus minoi'is resisti^ntiae", wie ein
solcher an sicli sclion veränderter und für weitere Localisationen besonders begünstigter
Fleck genannt wurde, hat Huber genauer beleuchtet. Da gesunde, kräftige Leute solclie
Punkte seltener und in geringerer Zahl aufweisen, sind sie auch den meisten Infections-
krankheiten gegenüber weniger prädisponirt , als schwache, die schon vorher irgendwo
krank sind.
Localisiren sich die Bacterien an einem l)estimmten Punkte . so
vermehren sie sich daselbst und bilden Colonien. Eine junge Strepto-
kokkencolonie in der Niere ist in Fig. 18 zu sehen, wo auch die De-
generation des Nierengewebes deutlich ist. Wo die Mikrokokken fmj
liegen, sind die Epithelien zerfallen zu undeutlich l)egrenzten, körnigen
Massen (d), die Kerne fehlen ganz oder
sind kaum noch zu erkennen. Einige
weisse Blutzellen zeigen den Beginn der
Entzündung. Das übrige Nierengewebe —
im unteren Theil der Abbildung — ist
intact (Hartn. Obj. 8, Oc. IV). Verbreiten
sich die Mikroorganismen in der Wand
der Blutgefässe und gelangen in das
Innere der Gefässe, so können sie fort-
geschwemmt werden , allein oder mit
Blutgerinnseln, die sich unter ihrem Ein-
fluss gebildet haben. So entstehen auf
embolischem Wege neue und wieder neue
Localisationen und entsprechend der Zahl
derselben wird die Krankheit durch diesen
Einbruch in 's Gefässsystem schliesslich
„generalisirt". (Vgl. pag. 18.)
Für die Behandlung von Bac-
terieninvasionen des Körpers sind schon
auf pag. 57 eine Reihe von Winken gegeben. Wo uns sogenannte
Specitica (Quecksilber und Jod gegen Syphilis, Chinin bei Malaria,
Salicylsäure gegen Gelenkrheumatismus u. s. w.) nicht zur Verfügung
stehen, wo die immunisirenden Methoden, die Antitoxine im Stiche
lassen , wo eine mechanische Entfernung durch Incision oder Aus-
kratzung nicht möglich ist , besitzen wir nur in Mitteln , welche den
Kreislauf heben und damit die Ausscheidung und Vernichtung der
Bacterien befördern, Hilfe. In erster Linie ist hier eine energische
Balneotherapie zu nennen, ebenso Hydrotherapie (Schwitzbäder u. s. f.).
Manche Mittel , welche die Oxydationsvorgänge im Organismus be-
schleunigen oder erhöhen , so namentlich Arsenik , werden bei chro-
nischen Infectionen gelegentlich mit Nutzen verwerthet.
Die wissenschaftliche Bacteriologie , die Reinzüclitung von Bacterien ist ganz
besonders durch B. Koch auf ihre heutige Höhe gebracht worden. Schon Pasteur war
es gelungen, durch Weiterzüchtung in geeigneten Thierkörpern „Eeinculturen" zu
erhalten, wo nur Individuen einer Art sich fanden. AVeniger sicher gelang die Isolirung
einzelner Arten aus Nährlösungen (Nährbouillon, weniger geeignet Pil'anzensäfte u. dergl.),
wenngleich diese zur Weiterzüchtung einmal gewonnener Eeinculturen sich gut eignen.
Die Schwierigkeit war beseitigt, als Koch den festen Nährboden erfand durch
Zusatz erstarrender Stoffe (Gelatine, Agar) zu den Nährflüssigkeiten. Die Bacterien-
mischung wird dem durch leichtes Erwärmen verflüssigten Nährboden zugesetzt, durch
vorsichtige Bewegungen wird gemischt und die Flüssigkeit dann auf eine Glasplatte
Züclitunss verfahren .
63
ausgegossen, wo die Gelatine, durch Eis gekühlt, rasch erstarrt. Aus jedem einzelnen
Mikroorganismus wächst nun bei dieser Plattencultur eine Colonie heran (vergl. Fig. 19).
aus der mit geglühter Platinöse die gleichartigen von einem Mutterbacterium abstammenden
Bacterien entnommen und weiter auf andere Nährböden übertragen werden können.
Fig. 20 und Fig. 21 zeigen kleinere und grössere Colonien von Staphylococcus
(Eitercoccus), die im Begriffe sind, die Gelatine zu verflüssigen.
Fig. 19.
Gelatineplatte mit verschiedenen Inseln.
Die Weiterzüchtuug kann nun auf festem Nährboden stattfinden — z. B. in Rea-
gensrohrchen. die Gelatine, Glycerinagar enthalten, oder auf sterilisirten Kartoil'elhälften
oder -Scheiben (siehe Fig. 22) (Kartolfelcultur des Micrococcus tetragenus, nach Schenlc)
oder in flüssigen Nährböden (Bouillon u. s. w.). Weiteres, sowie Abbildungen verschiedener
Cultuien, Besonderheiten des Wachsthums der einzelnen Bacterienarten ist bei acciden-
tellen Wundkrankheiten, Eiterung, Tuberculose u. s. w. nachzusehen.
Fig. 20.
Kleinste Inseln
Grössere Insel
Aeltere Insel
in der Mitte
verflüssigend
Fig. 21.
Inseln vom .staphylococcus pyogenes aureus auf der Gelatinoplatte.
Auch die Spross-fHefe-) und Schimmelpilze .sind im Stande.
Krankheiten l)cim ^lenschen /,u erzeui^-en. Diese Pilze — den Bacterien
im Bau und liesonders in ihrer Entwicklung fernstehend — gehören zu
den chloroi)hylllosen Thallophyten.
Die Sprosspilze (Saccharomyces cerevisiae etc.), die Erreger der
Alkoholgährung, finden sich in den olicrn Theilen des menschlichen
Darmcanals als harmlose Sapro])hyten , doch hat Busse eine unter
einem der Pvämie älinlichen Bilde zum Tode führende Sprosspilz-
crkraukuiig lieschrieben (Naturf.-Vers. 1895). Es sind ovale, oft Va-
64
II. Capjtel. — Die Bacterieii.
cuolen (Höhlen) enthaltende Zellen, die sich durch KnoBpung (Sprossung)
vermehren (vergl. Vig. 23).
Heute wird auch der im Munde und Rachen atrophischer Kinder
und Greise weisse Ueberzüge und aphthöse, oft nicht ungefährliche
Entzündungen erzeugende Soorpilz (Monilia Candida, Mycoderma al-
bicans) zu den Hefepilzen gerechnet [(Flaut) vergl. Fig. 24|. Früher
wurde er als Oidium albicans zu den Schimmelpilzen gestellt. Dieser
pathogene Sprosspilz vermag nicht nur in die Schleimhaut des
Pig. 22.
Fig.
Sprossverband (Knospung)
Mutterzelle
_- Vacuole
Kartoffelcultur des Micrococcus
tetragenus conoentricus.
Hefezellen (Saccharomyces cerevisiae).
goofach vergrössert.
Mundes einzudringen , er macht auch gelegentlich innere Metastasen
in den Nieren (Schmorl).
Die Schimmelpilze haben für den Chirurgen eine geringe Be-
deutung. Ich habe allerdings fest anhaftende Schimmelvegetationen von
Aspergillus glaucus (vergl. Fig. 25) auf den Zehen gesehen, ebenso
linden sie sich gelegentlich im Gehörgang, in Lungencavernen u. s. w\
Für gewöhnlich rein saprophytisch auf der Oberfläche des menschlichen
Körpers vegetirend , haben sie doch in seltenen Fällen auch in den
Kreislauf einzudringen vermocht (Bibbert) und sind in Gehirnabscessen
(Zenker^ Paltauf) gefunden worden. Die Eintrittspforte war der Darm.
Fig. 2i
Fig. 24.
Sterigmen mit Sporen
Fruchtkopi
Conidien
Faden
Soorpilz (Monilia Candida).
Hyphe
Mycel
Aspergillus glaucus.
Eine weitere Gruppe — die Faden pilze — sind die Erreger
von Hautkrankheiten. So ist das Achorion Schönleinii der Erreger
des Favus (Stägige Cultur auf Rinderblutserum) in (Fig. 26 nach
Plaut). Das Trichophyton tonsurans (vergl. Fig. 27) ist der Erreger des
Herpes tonsurans u. s. w. Der Madurafuss (s. diesen) soll gleichfalls durch
einen Fadenpilz bedingt sein (Chionyphe Carteri).
Die Protozoen (Protisten), niederste schmarotzende Thiere, aus
einer kernhaltigen Zelle bestehend, lenken zur Zeit die Aufmerksamkeit
mehr auf sich, als bisher, seitdem es nicht mehr angezweifelt werden
Protozoen.
65
karm, dass sie Krankheiten beim Menschen und Tbier erzeugen
können. Vier Classen kommen in Betracht: Rhizopoden, Infusorien,
Sporozoen (Gregarinen) und Plasmodien.
Von den Rhizopoden finden sich die Amöben (einzellige, kern-
haltige Gebilde aus weichem , pseudopodienaussendendem Protoplasma)
Fig. 26.
Fig. 27.
Segmentirter
Schlauch
(8. Tag)
Mycelschläuehe des Trichophyton tonsurans aus einer
Beincnltur auf Malzaufguss.
>
fi'fi
1^
Malari aplasmodi en .
Halbmondförmige, sichelförmige Körperchen und freie
geisseltragende Körperchen (nach Jaksch).
Nenn Tage alte Strichcultur des Favus-
pilzes auf Rinderblutserura (nach Plaut).
als harmlose Schmarotzer im Darm, aber
auch als Erreger der (Amöben) Dysenterie
(Ruhr). A uch in Leberabscessen sind zwei-
mal Amöben gefunden worden (Grimm).
Von den Infusorien findet man
geissei- und wimpertragende Formen harm-
los schmarotzend in Darm , Scheide etc.
(Trichomonas vaginalis, intestinalis).
Wichtiger sind die Sporozoen oder Gregarinen, die bei Thieren
nachgewiesenermassen Krankheiten machen , so erzeugen sie die Coc-
cidiengescliwnlst des Kaninchens, die Eisballengeschwulst des Pferdes,
die J/^.vrAer'schen Schläuche in den Muskeln der Schafe u. s. w.
Jung sind es hüllenlose, vermuthlich kernhaltige Protoplasma-
kliimpchen, die in Epithelien schmarotzen. Nachher bildet sich eine Hülle
und die Sporozoen verlassen dann ihre Stätte. Später ballt sich das
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Theraiiie. 2. Aufl. 5
66
IL Caiiitel. — Die Bactoriun.
Protoplasma zu vier Sporocystcji zusammen, in diesen bilden sich kuglige
oder ovale Sporen, die je zwei sichelförmige Keime enthalten.
Durch reactive Entzündung' seitens des befallenen Gewebes, die
sich besonders als Bindegewebsentwicklung , Ein- und Abkai)sclungs-
versuche, bisweilen mit Verkalkung darthun, können förmliche Ge-
schwülste entstehen.
Beim Menschen soll das Molluscum contagiosum und das Carci-
nom (?) nach L. Pfeifer auf Sporozoeninvasion beruhen (siehe Neul>il-
dungen), ebenso die sogenannte Pagefs Disease of the nipple.
Fig. 29.
3 4
Protozoen aus der Niere der Gartenschnecke.
1 Nierenzelle, eia kernhaltiges Plasmodium von Klossia helicina einschliessend.
2 Sporen haltige Cyste desselben Parasiten in hochgradig vergrösserter Nierenzelle.
3 Encystirte Klossia (Kern nicht erkennbar). 4 Spore mit Keimen (links) und freie
sichelförmige Keime (rechts).
Kaum mehr anzuzw^eifeln ist, dass die Malaria auf der Anwesen-
heit von Plasmodien im Blute beruht.
Als Beispiel einer auf Protozoen beruhenden menschlichen Krank-
heit sei Fig. 28 (Malariaplasmodien , nach Jaksch) hier mitgetheilt —
halbmondförmige und sichelförmige Körperchen , mit einem die Farbe
leicht aufnehmenden äusseren Theil (Ectoplasma) und einem inneren,
wenig leicht zu färbenden (Entoplasma), das kernhaltig ist; daneben
freie geisseltragende Körperchen.
Fig. 29 nach Birch-Hirschfeld zeigt Protozoen aus der Niere
der Gartenschnecke. 1. Eine Nierenzelle, ein kernhaltiges Plasmodium
enthaltend (Klossia helicina). 2. Sporenhaltige Cyste, Nierenzelle sehr
vergrössert. 3. Encystirt (Kern nicht mehr sichtlDar). 4. Keimhaltige
Spore und rechts die freien sichelförmigen Keime.
III. Capitel.
Verletzungen.
Wundheilung.
Klaffen der Wunde. — Blutung. — Heilung per primam reunionem. — Die ver-
schiedenen Arten der Heilung per secundam intentionem. — Granulationsbildung
und Ueberhäutung. — Organisation des Blutgerinnsels. — Heilung unter dem
Schorf. — Verklebung der Granulationen. — Wunden gefässloser Theile (Cornea,
Knorpel). — Regeneration (Muskeln, Nerven, Sehnen, innere Organe). — Die Narbe
und ihre weiteren Veränderungen. — Krankheiten der Granulationen. — Besondere
Arten von W^unden (Hieb-, Lappenwunden u. dergl.).
Der Cliii'urg muss die Vorgänge der Wundheilung genau kennen,
wenn er in der chirurgischen Praxis nicht als müssiger Beobachter der
Heilung der Wunden zuschauen , sondern sie mit kundiger Hand zu
bestimmten Zielen leiten will.
Nehmen wir den einfachsten Fall, eine frische Schnittwunde,
die ohne Substanzverlust Haut, Unterhautzellgewebe bis in die Muscu-
latur glatt durchtrennt , im Gesicht oder auf dem Kopf. Das Erste,
was man beobachtet, ist das Klaffen.
Die Ursaclie des Klaffen s ist sehr einfach. Die meisten Theile des Körpers
sind in ihrer Zusammenfügung über ihre elastische Ruhelage hinaus gedehnt und treten
deshalb , wenn sie getrennt werden , auseinander. Der Grad des Klaffens der Haut ist
ein verschiedener. Muskeln klarten Immer stark, am meisten solche mit langen Sehnen.
Durch einen Säbelhieb am Handgelenk durchtrennt, treten die Sehnenenden der Vorder-
armmuskeln oft 6 — 8 Cm. und mehr auseinander. Frisch durchschnittene Nerven weichen
zunächst nur wenig auseinander, doch ziehen sie sich später oft stark zurück. Knorpel
und Knochen klarten gar nicht. Fett quillt oft stark über die Wunde hervor. Bei
mageren Personen klarten die Wunden überhaupt weniger.
Die zweite wichtige Erscheinung ist die Blutung. Entsprechend
den verschiedenen Arten von Gefässen sind drei Arten von Blutungen
zu unterscheiden — arterielle — im Strahle, dem Pulse isochron
vermehrt, spritzt hellrothes Blut aus den Arterien. Bei venöser
Blutung (piillt das Blut schwarzroth , unter geringem Drucke ziemlich
gleichmässig aus der Wunde hervor; bei der parenchymatösen oder
capillären i.st es ein Hervorsickern aus kleinen und kleinsten, kaum
sichtbaren Oetfnungen, Capillären und kleinen Venen, wie aus den
Poren eines Schwammes. Die Farbe des Blutes steht der venösen Be-
schatfenheit näher als der arteriellen.
Es ist eine jedem Laien geläufige Erfahrung, dass die Menge
des sich ergiessenden Blutes l)ald, auch ohne äusseres Zuthun, abnimmt,
meist ganz versiegt. Am wenigsten ist bei arterieller Blutung Aussicht
(38 III. Capitel. — Verletzungen.
auf spontanes Aufhören der Blutung-. Doch ist es nicht selten, dass
selbst aus Gefässen von der Stärke einer Arteria radialis, die Blutung
schliesslich von selbst zum Stehen kommt. Arterielle Blutungen ver-
langen die rasche Hilfe des Arztes (siehe Blutstillung). Venöse und
capilläre Blutungen kommen leicht durch comprimirende Verbände, Kälte,
hohe Lage des verletzten Theiles u. dergl., auch von selbst ohne jedes
Zuthun zum Stehen,
Durchschnittene Arterien retrahiren sich vermöge ihrer Längs-
musculatur stark, das Lumen tritt dadurch in's Gewebe zurück. Indem
dieses aufquillt und sich wie eine Art Deckel darüberlegt , wird dem
ausfliessenden Blut der Austritt erschwert. Mit der Durchschneidung
des Gefässes fällt die erweiternde Wirkung der Längsmusculatur weg,
die Ringmusculatur vermag nun ohne Widerstand zu wirken und durch
ihre Contraction das Gefäss vollends zu verschliessen. Anämie reizt
zudem die Ringmuskeln zur Zusammenziehung. Durch diese Momente
kommt die Blutung aus kleinen und mittleren Arterien zum Stehen. Grosse
Arterien sind zu unterbinden.
Bei den Venen sind dieselben Kräfte thätig. Wenn die Gefäss-
muskeln schwächer sind , ist auch der Blutdruck in ihnen geringer.
Die Annahme , dass bei durchschnittenen Venen die Blutung aufhöre,
weil die vis a tergo fehle, wenn die zugehörigen Arterien durchschnitten
seien, ist bei der Leichtigkeit collateralen Zuflusses nicht haltbar.
Das Verquellen des Gewebes wirkt auch mit für die spontane
Stillung der Blutungen aus Capi Ilaren. Auch diese retrahiren sich
und umso leichter wird die in's Gewebe zurückgetretene Lichtung ver-
legt. Als weiteres Moment für den Verschluss der Capillaren kommt
hinzu die Quellung der Endothelien an der durchschnittenen Stelle.
Eine einzige Endothelzelle vermag durch ihre Anschwellung das Lumen
unwegsam zu machen.
Auch die Blutgerinnung (siehe pag. 13) wirkt als ein w^esent-
liches, aber nicht zu überschätzendes Moment bei der Blutstillung mit.
Der Wundschmerz einer frischen Wunde, meist ein Gefühl von
Brennen, ist bei normalem Verlauf in einigen Stunden wieder verschwunden.
Nehmen wir an , die Wunde sei genau vereinigt , ein Wundrand
sei angeschmiegt an den andern , kein fremder Körper , kein Blut-
gerinnsel liege dazwischen. Jetzt beginnen die Processe, die zur Heilung
der Wunde führen.
Die mit blossem Auge zu verfolgenden Vorgänge an einer asep-
tisch, d. h. ohne Entzündung und ohne Störung und durch erste Ver-
einigung (per primam intentionem, p. p. i.) heilenden Wunde
sind wenig in die Augen fallend. Die der Wunde benachbarten Theile
sind etwas härter , leicht infiltrirt , ebenso die Wundränder und Um-
gebung im geringen Grade geschwollen, aber mehr ödematös als ent-
zündlich, nicht geröthet, eher blässer als sonst. Die Ursache dieser
Erscheinungen ist die (übrigens unbedeutende) Circulationsstörung durch
den Verschluss zahlreicher Gefässe und die Schädigung der Gewebe
unmittelbar durch die Verletzung. Die Wundspalte erscheint als
schmaler Graben , bedeckt von einem Streifen geronnenen Blutes.
Dieses ist weich bei einem für Feuchtigkeit undurchlässigen Verband ;
zum „Schorf" oder zur Kruste vertrocknet, wenn die im Coagulum
enthaltene Flüssigkeit frei verdunsten kann.
Heilung p. p. i. — Primäre Wundverklebung. ß9
Ueber die Art und Weise der ersten Verklebuiig- von Wund-
flächen, besonders über den Stoff', der frische Wunden in den ersten
Stunden zusammenhängt, ist man auch heute noch nicht völlig- im
Klaren. Die Ansicht Hunter's, dass das geronnene Blut die Wunde verklebe
und dass aus ihm die dauernde Narbe sich aufbaue , ist heute völlig-
verlassen. Zvrischen die Wundflächen ergossenes Blut ist im Gegentheil
der Vereinigung in hohem Grade hinderlich und eine der häufigsten
Ursachen des Ausbleibens rascher Verklebung. Die meisten Autoren
(Zieghr-Krafft) fanden fast ausnahmslos zwischen den Wundflächen
eine — oft allerdings sehr schmale — • Fibrinschicht als Bindemittel
eingelagert. Woher das Fibrin kommt , aus geronnenem Blut , zer-
fallenen Leukocyten, ob durch Zerfall des verletzten Gewebes selbst,
steht noch dahin.
Nach Thierscli's Ansicht ist es das gequollene Gewebe selbst,
namentlich das mit Blut und Plasma durchtränkte Bindegewebe (Fig. 31 «,
32 cj, welches sich unmittelbar verklebt (etwa wie zwei heisse Siegel-
lackstangen, die sich aneinanderlegen). Dass ein solches unmittelbares
Aneinanderkleben und Verwachsen von Wundflächen — ein zuerst von
Maccartney aufgestellter und von ihm immediate reunion genannter
Heilungsmodus — wirklich vorkommt, ist in neuerer Zeit von Graser
(Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 27) festgestellt worden, wenn auch nur
für einzelne Theilstrecken von Wunden. Auch Busse (Virchow's Arch., 134)
vertritt diese Ansicht.
Mikroskopisch zeigen an einer frischen Schnittwunde der
Weichtheile einige Stunden nach der Verletzung die Gewebe entlang der
Wundspalte V e r ä n d e r u n g- e n d e g e n e r a t i v e r N a t u r . Die Bindegewebs-
fibrillen sind unregelmässig- in ihrer Form, aufgequollen und mit Blut-
farbstoff (grünlich) durchtränkt. Hin und wieder liegen Blutkörperchen,
in Häufchen oder Streifen , zwischen den Fasern des Unterhautzell-
gewebes (Fig. 31 6'). Die durchschnittenen Muskelfasern haben sich
zurückgezogen in die zum Theil leeren zusammengefalteten Sarcolemm-
schläuche (Fig. Slg). An einzelnen Stellen sind Schollen von Muskel-
substanz ausgetreten, deren Querstreifung undeutlich geworden und die
statt dessen einen eigenthümlichen CoUoidglanz zeigen. An injicirten
Präparaten sieht man, wie die in die Gewebe zurückgetretenen Gefässe
sich zu konischen Spitzen zusammengezogen haben und einen Thrombus
meist nicht enthalten (Fig. 30 a). Die Kerne der der Wunde benach-
barten Gewebe färben sich schlecht oder gar nicht, können auch ganz
verschwunden sein; die Zellen sind plump und gequollen. Daneben
sind weisse Blutzellen zunächst in kleiner Anzahl in die Gewebe
eingesprengt, jedoch lange nicht so zahlreich, wie bei Entzündungen.
Bei ganz aseptischen , nicht misshandelten Wunden können Leuko-
cyten auf grössere Strecken ganz fehlen. Hin und wieder findet sich
auch körniger Detritus u.' dergl. Diese Veränderungen der Gewebe (mit
Ausnahme der Leukocyten) sind die P^olge unmittelbarer Beschädigung
durch die Verletzung. Selbst das schärfste Messer trennt nicht, ohne zu
quetschen und zu zertrümmern.
Die A\'unds palte sell).st bietet keineswegs überall das gleiche
Bild. An einzelnen Stellen sind die durchtrennten Theile so eng an-
einandergefügt, dass von Zwischensubstanz nicht viel zu sehen ist
(Fig. 32). Die ge(|Uollenen, grünlich gefärbten Gewebstheile liegen fast
70
IJI. ('ai)itcl.
ViTlct/.nii^rcn.
unmittelbar aneinander. Nur spärliche rothe und noch weniger weisse
Blutkörperchen liegen zwischen ihnen und sind seitlich etwas noch in
die Gewebsspalten eingesprengt. Wir haben hier den Vorgang der
immediata reunio (Verklebung ohne Zwischensubstanz) vor uns. An
einzelnen Stellen von Wunden kann man diesen Process wohl beob-
achten, entlang grösserer Wnndspalten ist er noch nicht beobachtet
(vergl. Graser 1. c).
Fig. 30. Fig. 31.
V
i
Fig. 30. Injectioii einer 5 Stunden
alten Wunde der Zunge des Meerschwein-
ohens (nach TJiiersclt) zeigt bei a und a'
ein Gefäss , in welchem ein in Alkohol
geschrumpfter Carminleimpfropf enthalten
ist. Die stachlichen Fortsätze dieser Masse,
ebenso wie der Inhalt des Gefässes h standen
in unmittelbarer Verbindung mit den
feinsten Streifen c, c von Injectionsmasse,
Avelche zwischen den Zellen d, d der Wund-
spalte liegen. Bei e Muskelfasern mit nor-
malen Capillaren.
Auffallend contrastiren mit
solchen Stellen , wo schon nach
2J: Stunden die Trennungsstelle
kaum zu finden ist, andere, wo
die Wundränder auseinandergewichen oder vielmehr nicht vereinigt worden
sind. Hier liegt eine Lache von rothen Blutkörperchen dazwischen, von
feinsten Fibrinfäden durchzogen und zusammengehalten , dazwischen
spärliche weisse Blutzellen. Das ergossene Blut drängt sich hier und dort
zwischen die Weichtheile hinein.
Interessant ist es, das Verhalten der Gefässe an iuji-
cirten Präparaten zu studiren. In einiger Entfernung von der Wund-
spalte hören die Gefässe auf, d. h. die Injectionsmasse macht Halt, in
grösseren Gefässen endigt dieselbe oft mit kolbiger Anschwellung, der Stelle
entsprechend, wo das Gefäss sich verschlossen hat (Fig. 30 a). Durch
Primäre Wundverklebiing.
71
die Gefässwand hindurch setzen sich jedoch, namentlich von Capillaren
aus, feinste Strömchen von Injectionsmasse fort, welche sich anscheinend
in den Räumen zwischen den Gewebsbestandtheilen , den Intercellular-
lücken verbreiten , die Wundspalte durchsetzen und so ein System
"lefnster communicirender Röhren darstellen. Vermuthlich circulirt in
diesen feinsten Räumchen zumeist nur Plasma und wenige Leukocyten,
wodurch die Ernährung der in der Wundspalte liegenden Theile be-
sorgt wird. Thiersch hat dieses System „plasmatische Circulation"
_^'enannt. Er" glaubt , dass aus diesen Saftcanälen durch Aneinander-
fügung der sie begrenzenden Zellen bleibende Gefässe werden können
(Gefässneubildung, siehe pag. 72).
Fig. 32.
Dies sind die ersten Anfänge der Wundverklebung, die erste
unvollkommene Circulation von Ernährungsflüssigkeit in der Wunde.
Die weiteren Veränderungen zeigen Fig. 31 und 32 (von einer
26 Stunden alten Wunde).
An Stellen, wo die Aneinanderfügung der getrennten Theile eine
sehr genaue gewesen (Fig. 31«), bat man ]\Iühe, die Trennungslinie
überhan])t zu erkennen. Nur eine leichte Trübung der Gewebe durch
Blutfarbstoff, wenig rothe Blutkörperchen und eine unbedeutende Ein-
lagerung von Leukocyten weisen auf die Verletzung hin. An anderen
Stellen (b^hj dagegen zeigt sich die Wundspaitc als deutlich sichtbarer
Streifen. Man sieht darin weisse Bhitkürperchen und rothe; letztere
zum Theil noch wohlerlialten, zum Tiieil in verschiedenen Stadien des
Zerfalles. Dazwischen lassen sich stärker lichtbrechende Streifen und
Fasern (Fig. 32 c, Fig. 31/> erkennen. Diese sind vermuthlich nicht
Fil)rinfäden, sondern gequollene Bindegevvel)sfasern. Dass es sich nicht
72 in. f-'upitel. — Verletzungen.
um Ein- und Auflagerungen auf die Wundspalten handelt, lässt sich
an den Stellen (Fig. 31 c, c) erkennen , wo die Wundränder während
des Schneidens auseinandergewichen sind. Der Riss geht mitten durch
die Massen durch und die Veränderung der Gewebe ist auf l)eiden
Seiten der Wundspalte gleichmässig zu sehen. Im oberen Theil der
Wunde in Fig. 31 ist die Vereinigung keine ganz genaue gewesen.
Links ist das Epithel eingestülpt und ein halbabgelöster Zellgeweljs-
kegel d^ an welchem die Veränderungen des verwundeten Gewebes
schön zu sehen sind, ist dazwischen geklemmt. Zur Seite der Wund-
spalte ist das Unterhautbindegewebe verquollen und blutig durchtränkt;
bei e sind mit ßlut strotzend gefüllte Gefässe. Ebenso ist das Fett-
gewebe mit Blut und Leukocyten durchsetzt (Fig. 31 <^/ Bei (/ sind
durchschnittene Muskelfasern mit ausgetretenen, zum Theil eolloid ent-
arteten und schollig zerfallenden Stücken abgebildet (Fig. 31, Hartnach,
Obj. 4, Oc. II).
Die Fig. 32 gibt bei stärkerer Vergrösserung (Hartn., Obj. 8,
Oc. IV) einen Theil der Wundspalte von derselben Wunde. Die Wund-
spalte, welche fast quer durch das Bild zieht, zeigt ein eigenartiges,
in Zeichnung und Holzschnitt nur schwer wiederzugebendes Gefüge.
Eine glasig-glänzende , anscheinend streifige Masse c wird durchsetzt
von meist zerfallenden rothen Blutkörperchen. Ausserdem finden sich
schon in Menge andere, in Anilinfarben sich stark färbende Zellen.
Ein Theil derselben sind zweifellos Leukoeyten, andere sind proto-
plasmareicher, theilweise mehrkernig. Wieder andere zeigen mehr
Spindelzellentypus. Eine deutliche scharfe Abgrenzung der Wundspalte
gegen die angrenzenden Gewebe findet sich nicht, so dass auch dieses
Bild gegen die Annahme einer Einlagerung zwischen die Wuudränder
spricht. Auch das benachbarte , weniger veränderte Gewebe ist mit
Blut durchsetzt, das zum Theil innerhalb der Gefässe geblieben (d).
zum Theil in eigenthümlich streifen artiger Anordnung (h) (Lympbspalten
und Lymphgefässe?) im Gewebe enthalten ist. Auch hier sind im Gewebe
Veränderungen der zelligen Elemente zu bemerken. Vergrösserung,
Unregelmässigkeit der Form, Andeutung von Kerntheilungsfiguren (a),
bei /Fettgewebe.
Im weiteren Verlaufe der Wundheilung verschwinden die rothen
Blutkörperchen immer mehr aus der Wunde, und in dem Masse, als
sie sich mindern, werden junge spindelförmige Bindegewebszellen in
den Geweben an den verletzten Stellen häufiger. Aehnlich den in
Fig. 35 gezeichneten Gebilden, schicken sie zarte, faserige Fortsätze
zwischen den übrigen zelligen Elementen hindurch und bilden so ein
äusserst feines, die Wundränder verbindendes Flechtwerk, dem ähnlich,
das bei der Organisation des Thrombus (Fig. 2) geschildert wurde.
Auch mehrkernige „epithelioide" und wirkliche Riesenzellen werden
gefunden (vergl. Fig. 35).
Die Herkunft der spindelförmigen Elemente, die man in frischen Wunden
findet, ist nocli nicht mit Sicherheit festgestellt. Die überwiegende Mehrzahl der Autoren
lässt sie durch eine Wucherung der präexistenten G-ewebe entstehen , man findet Kern-
theilungen in den Bindegewebszellen (Fig. 32 a), in den Endothelien der Blut- und
Lymphcapillaren , in den Zellen der Adventitia der Gefässe. Sie sieht man als die
Mutterstätten der Spindelzellen (vergl. Fig. 35) in den Wunden an. Mitosen finden sich
nicht vor dem zweiten Tag. — Busse (1. c.) lässt auch das kleinzellige Infiltrat der
Wunden nicht durch auswandernde Leukoeyten zu Stande kommen, sondern im Anschluss
an Graivitz durch Umbildung der Bindegewebszellen, Rückbildung der Grundsubstanz
Gefässneubildtins
73
Tind aus fi-eien Kernen entstehen. Sie sollen auch an der Bildung der Xarbe sich
betheiligen.
G-i-aser (Lang. Ai'chiv, Bd. 37) lässt ebenfalls bei der Besprechung der Ver-
klebung seröser Flächen die Xarbe — nachdem die Endothelien der Serosa zu G-mnde
gegangen sind — entstehen durch Proliferation der präexistenten zelligen Elemente,
des perivasculären Gewebes, der Gefässendothelien etc. Wanderzellen und Fibrin tragen
nichts zur Terklebung bei.
Cohnheim und seine Schüler (Senfüeben, Tillmanns) Hessen die Elemente der
jungen Xarbe aus den ausgewanderten Leukocyten hervorgehen. Doch hat Niemand die
direete Umwandlung von Leukocyten in spindelförmige Elemente gesehen. Auch nimmt
man an, dass das Torhandensein mehrerer Kerne in den Leukocv"ten, Avie man sie meist
in "Wundspalten und ihrer Umgebung findet, nicht progressiver Natur ist, sondern im
Gegentheil Zerfall (Karj-olyse) bedeutet. Die Leukoc^-ten dürften auch in den Wund-
spalten nur secundäre Bedeutung haben, zur Beschleunigung der Eesorption der Fibrin-
massen , als Ernährungsmaterial für den AutT)au neuer Zellen von den obigen Mutter-
zellen aus u. dergl. In rein aseptischen, durch unmittelbare Vereinigung verklebenden
"Wundspalten finden sich Leukocj-ten nicht oder nur ganz vereinzelt (Graser).
Die Bilduns von Saftröhi-en aus
Fig.
Zellen der Adventitia kleiner Venen, die
nachher auch zu Blutcapillaren werden,
hat Gräser gezeigt (endocellulare Gefäss-
bildung).
Um diese Zeit, zu Ende des
er.?teu Tages, sind die Wimdräuder
aucli durch ein anderes ueuge-
bildetes Gewebe vereinigt, dies sind
neue Gefässe. Diese entwickeln
sich von den vorhandenen Ge-
fässen aus. Es entsteht von den
Zellen der Capillarwand aus durch
Mitose zunächst ein solider proto-
plasmatiseher , kegel- oder zelt-
tormiger Fortsatz , welcher einen
langen Faden in die Wundspalte
hereinsendet. Gefässhildung durch
Sprossenbilduug (Fig. 33 a nach
ZiegJer). Dieser Zapfen wird von
hinten oder vom Centrum her hohl fh) und es treten zuerst Plasma
und weisse Blutkörperchen . später rothe Blutkörpereben in den
Canal ein. Die protoplasmatischen Fortsätze tiiesseu von beiden Wund-
räudern her zusammen (c, c), nehmen an Masse zu. werden hohl und
öffnen sich eines ins andere, und damit ist die Gefässverbiudung her-
gestellt. Mau sieht also hier eine endocellulare Gefässneubildung
durch Hohlwerden einer fadenförmigen, kernhaltigen Zelle (h. cj. Schon
5 — 10 Stunden nach der Verletzung lassen sich Gefässcheu neuer
Bildung injiciren und nach in Stunden ist die Verbindung (Inoscu-
lation) derselben durch die Wundspalte hindurch eingetreten. Die
Möglichkeit einer Gefässhildung aus der plasmatischen Circulation ist
oben und pag. 70 angedeutet.
Das die Wundspalte bedeckende Epithel Itildet sich von den
tiefsten weichen Schichten des Rete MalpTpii aus und schiebt sich
gewöhnlich etwas auf das verletzte Bindegewebe herein. Das juuge
Epithel bildet sich durch Karynkinese und Theilung der vorhandenen
Epithelzellen. Meist ent.steht eine bleibende Kerbe, an der Stelle der
Verletzung, etwas tiefer als eine Cutis])apille (Fig. 31j.
74 III- (Kapitel. — Vin'Iciziinj^eii.
Selbst Drüsen können sich in atypischer Weise nenbilden. Manchmal tritt bei
der Wundheilnng an Stelle von Cylinderepithel Pflasterepithel fz. B. in der Luftröhre).
Statt Flimmerepitliel scheint sich Cylinderepithel zu entwickeln.
Ist es nicht gelungen, die Wunde vollständig als Linie („linear")
zu vereinigen , weil die Wunde zu stark klafft , oder zu viel Gewebe
durch die Verletzung verloren gegangen ist und der „Substanzverlust"
zu gross ist, um die Wundränder glatt aneinanderlegen zu können, so
hat man statt einer schmalen Rinne einen Graben oder eine flache
Grube, die durch Heilung per secundam intentionem oder —
diese Ausdrücke sind keineswegs gleichbedeutend, obwohl sie von
Vielen promiscue gebraucht werden — per granulationem oder auf
dem Wege der Eiterung zur Heilung kommen soll. Die Vorgänge,
welche unter diesen Bedingungen die Ausfüllung des Defectes und den
Abschluss nach aussen vermitteln, erscheinen für das unbewaffnete Auge
von denen der prima reunio sehr verschieden; in Wahrheit jedoch
sind es ganz dieselben gewebsbildenden Processe , wie bei der prima
reunio.
Die Blutung kommt in derselben Weise zum Stehen, wie bei der
prima intentio. — Auch die verletzten Gewebe zeigen dieselben Ver-
änderungen , sie sind aufgequollen , mit Blutfarbstoff durchtränkt , von
rothen Blutkörperchen in grosser Menge durchsetzt. Man braucht sich
nur die in Fig. 31 aneinandergefügten Wundränder auseinandergelegt
zu denken und man hat das Bild einer frischen Wunde mit Substanz-
verlust. Natürlich liegt auf den Geweben, zum Theil sich in sie hinein
fortsetzend , ein Filz geronnenen Blutes , rothe Blutkörperchen , durch
zarte Faserstofffäden zusammengehalten, nur hin und wieder eine weisse
Blutzelle. Binnen wenigen Stunden nehmen auch hier die rothen Blut-
körperchen rasch ab und die weissen zu. Schon nach 24 Stunden ist
die Wunde austapeziert mit einer Schichte Fibrin mit weissen Blut-
zellen , neben welchen die rothen zurücktreten.
Zu dieser die Wundgrube ausfüllenden Masse von Wanderzellen
gesellen sich nun auch neugebildete Gefässe, die sich gleichfalls schon
nach 16—20 Stunden injiciren lassen. Ihre Bildung erfolgt in der-
selben Weise, wie bei der Heilung per primam intentionem: durch
Sprossenbildung. Auch hier finden sich schon frühe spindelförmige
Elemente, epithelioide Zellen (siehe Fig. 35). So baut sich aus
jungen Spindelzellen, jungen (befassen und Leukocyten eine neue
Bildung auf, die die Wunde auszufüllen bestimmt ist. Jede neue
Capillare bildet die Grundlage und den Stamm einer solchen Bildung,
welche besteht aus einem Gefässe in der Mitte und in concentrisch
darum gruppirten Spindelzellen und weissen Blutzellen. Verbunden
wird das ganze durch eine schleimige halbflüssige Intercellularsubstanz.
Dieses neue Gebilde, denkbar einfachsten BaueS; heisst Granulation
(von granulum , das Körnchen). Seine Oberfläche ist eine gekörnte,
jeder Stelle eines grösseren Gefässcheus entspricht eine kleine Er-
hebung des Niveaus. Zwischen den Bezirken zweier Gefässe ist eine
leichte Einsenkung. So bekommt das Ganze eine warzige Oberfläche.
Diese einzelnen Erhebungen werden .,Granulationspapillen" genannt
(vergl. Fig. 38 a).
In Fig. 34 ist eine noch junge Granulation dargestellt. In der
Mitte verläuft eine weite blutgefüllte Capillare (aj im Längsschnitt ge-
Heilung per secundam iutentionem.
75
troffen. Längs des Endothels zeigen sich schon geringe Mengen
spindelförmiger Bindegewebszellen als erste Anlage einer Adventitia
capillaris. Im unteren Theil des Präparats finden sich reichliche Leuko-
cyten, daneben bei h reichliche Spindelzellen. — Bei c sind schon derbere
Bindegewebszüge , die an manchen Stellen, e, Gefässe in leerem, zu-
\f
\ ° ^
\\~
Fig. 35.
sammengefallenem Zustande enthalten. Bei / beginnt ein weiter, mit
rothen Blutkörperchen erfüllter Raum, ohne deutliche Wandungen.
Diese sinusartigeu blutgefüllten, wandungslosen Hohlräume finden sich
so constant in Granulationen und gleichen einander so sehr, dass ich
sie nicht für Artefacte oder Blut-
ergüsse iu's Granulationsgewebe
halten möchte. Tkiersch ^ist es
gelungen, solche Tläüme~ von den
Gefässen aus zu injieiren.
Die in Granulationen, ebenso
wie in Wunden sich findenden eigen-
artigen zelligen Bildungen sind in
Fig. 35 (nach Ziec/Ier) dargestellt.
Protoplasmareiche Spindelzellen (a),
dann grosse Zellen mit viel
Protoplasma und pseiidopodienähn-
lichen Ausläufern (Fig. 35 h).
Daneben mehrkernige Zellen , epithelienartig und daher epithelioide
Zellen genannt fc). schhesslich Zellen mit einer iMassc von Kernen —
Riesenzellen (dj. Diese Zellen gehen vermutlilich, wie schon bemerkt,
aus den verschiedenartigen präexistenten Gewel)szellcn hervor. Das
Material zur Bildung gewinnen sie anscheinend durch Aufnahme von
Leukocyten (Phagocytose) (Zicf/Icr).
76 in. Capitul. — Verletzungen.
Die mit blossem Aug-e zu verfolgenden Veränderungen
einer frischen durch Granulation heilenden Wunde sind folgende.
Unmittelbar nach der Verletzung lassen sich durch die dünne Schichte
geronnenen Blutes noch die durchschnittenen oder blossliegenden Ge-
webe, Muskeln, Fettgewebe, Fascien einzeln erkennen. Nach 24 Stunden
ist die Wunde bedeckt mit einem undurchsichtigen, trüben Schleier
von gelbbrauner schmutziger Farbe. Es ist nun nicht mehr zu er-
kennen, was für Gewebe die Wunde bilden. Die Wunde ist in eine
missfarbige Fläche verwandelt. Am ausgesprochensten ist dieses Stadium
etwa in der Mitte des zweiten Tages, nach circa 36 Stunden. „Die
Wunde ist unrein," lautet der technische Ausdruck. Diese unreine
Schichte besteht aus Fibrin, abgestorbenen Bindegewebsfasern, Detritus-
häufchen, Fettzellen, Körnchenkugeln, weissen und rothen Blutkörperchen,
Muskelfetzen, Mikroorganismen, Blutfarbstoffkrystallen u. dergl. m. Sie
ist um so dünner, je weniger misshandelt die Wunde ist und je asep-
tischer, je entzündungsloser die Wunde heilt.
Am Ende des dritten oder im Verlaufe des vierten Tages er-
scheinen, die unreine Schichte durchbrechend , kleine rothe Pünktchen
in der Wunde; es sind die Fleisch wärzchen, die Granulationen. Rasch
mehren sich diese rothen Knöpfchen, sie fliesseu mit einander zu-
sammen, und die ganze Wundfläche ist schliesslich ausgefüllt von einer
prachtvoll rothen ^ leicht körnigen Bildung, die Wunde hat sich
gereinigt; die frische Wunde ist zur Granulationsfläche
geworden.
Die Zeit , welche bis zur fertigen Bildung der Granulation vergeht , schwankt
nach der Energie des Kreislaufes , dem Kräftezustand des Körpers im Ganzen und der
Eigenart der verletzten Stelle. Bei sehr geschwächten Individuen (Magenoperationen
bei Magenkrebs) ist es selbst nach Ablauf von 8 — 10 Tagen noch nicht zu einer
richtigen Granulationsbildung gekommen : bei kräftigen jungen Individuen kann sie
schon nach drei Tagen fertig sein. Blutreiche Gewebe mit gut entwickeltem, engmaschigem
Capillarsystem , Muskeln, Unterhautzellgewebe, Lippen, Zunge, weisen nach 2 — 3 Tagen
Granulation auf. Auf Fascien dauert es mindestens eine Woche, an Sehnen 10^14 Tage.
In spongiöser Substanz der Knochen sind ungefähr 14 Tage nöthig und bis aus der
Compacta eines Eöhrenknochens, z. B. der Einde des durchsägten Femur oder Humerus^
Granulationen hervorsprossen, 3 — 4 Wochen.
Das von offenen Wunden unmittelbar nach der Verletzung abfliessende primäre
Wundsecret ist eine stark roth gefärbte, dünne, fleiscliAvasserähnliche Flüssigkeit, die
reichlichen Blutfarbstoff, daneben rothe, zum Theil noch wohl erhaltene Blutkörperchen,
weisse Blutkörperchen dagegen nur spärlich enthält. Nach 36 bis 48 Stunden sind
Blutfarbstoff und rothe Blutkörpercheu fast ganz verschwunden ; das Wundsecret ist
jetzt eine graugelbliche , schleimige Flüssigkeit. Neben ziemlich viel weissen Blut-
körperchen enthält sie massenhaft Elemente , welche vom Zerfall von Zellen und Ge-
websfasern herstammen , Körnchenzellen , Fetttröpfchen , zerfallende Bindegewebsfasern,
Muskeliibrillen u. s. w. Mehr und mehr nähert sich das Wundsecret der Beschaffenheit
des Eiters, und wenn die Granulation fertig und die Wunde rein ist , ist es zu dick-
lichem, gelbem, rahmigem Eiter geworden (pus bonum et laudabile) (vergl. pag. 33). Bei
aseptischen Wunden hat man eine spärliche , graue, vorwiegend schleimige, zellenarme
Flüssigkeit.
Anfangs sind die Granulationen überaus weiche, leicht zerreiss-
liche und hinfällige Gewebe.
Die Granulationen resorbiren in Lösung befindliche Stoffe sehr schnell ; aus Farb-
stoffaufschwemmungen nehmen sie körperliche Elemente in geringer Menge auf. Für
Bacterien sind sie gleichfalls nicht oder nur schwer durchgängig (Schvnnielbitsch). —
Lymphgefässe fehlen in den Granulationen, ebenso Nerven.
Aus der Granulation soll nun die Karbe werden.
Einsäumende und inselförmige Ueberliäutung.
77
Das Gefüge der Granulation wird bei längerem Bestehen ein
derberes, festeres. Die einzelnen Granulationspapillen heben sich
schärfer von einander ab.
Untersucht man eine schon längere Zeit, d. h. mindestens eine Woche bestehende,
Granulation (Fig. 36), so findet man um die Gefässlücken herum in concentrischen Ringen
Zelllagen, welche bereits zweifellose Spindelform zeigen, und zwischen den zelligen Bestand-
theilen ausgesprochene verschieden breite Bindegewebszüge (Fig. 36 a). Gefässe sind
viel spärlicher als in Fig. 34. Neben zwei weiten Gefässen finden sich Stelleu, die wie
eng zusammengezogene Gefässe ohne Lumen sich ausnehmen (h) und wieder andere (c),
wo die concentrisch gelagerten Zellen anzudeuten scheinen , dass hier ein Gefäss vor-
handen gewesen ist. li und c sind vermuthlich Gefässe in Rückbildung.
Auch die Zellen, aus welchen die Granulation besteht, werden andere ; sie sind,
wie Fig. 37 (nach Ziegler) zeigt, im Vergleich mit Fig. 35 protoplasmaärmer, indem
Fig. 36.
c a
Fig. 37.
.^v\^^M#Yi^^^^^^^^^^
A'^^'ÄS
' H.
I V
"5^
^\
i\^N
sich dieses zu Fasern umwandelt. Schliess-
lich kann das Protoplasma fast ganz
zurücktreten und es bleibt nur eine dünne
protoplasmaarme Platte mit Kern und um
sie herum Bindegewebsfasern (Fig. 37 a
bis c). Das Ganze gewinnt so das Aus-
sehen gewöhnlichen jungen Bindegewebes
Cd). Diese in Fig. 35 und 37 abgebildeten
(i zelligen Elemente nennt man Fibro-
blasten.
Die weiteren Veränderungen einer Granulation sind in Fig. 38
(halbsehematisch) dargestellt. Bei a ist ein schön entwickeltes Gefäss-
bäumchen mit zahlreichen Seitenästen; das Gefiige der Granulation
ist noch ein weiches. Die Rundzellen überwiegen , nur ganz wenig
Spindelzellen sind vorhanden und so gut wie keine Fasern. Je mehr
man nach h und gar nach c kommt , um so mehr ändert sich der Bau
der Granulation. Die Gefässe w^erden dünner und zusehends spärlicher.
Die Rundzellen machen Spindelzellen Platz und diese w-ieder w^eichen
faserigem, zellenarmem Bindegewebe (c). Zugleich werden die Ein-
senkungen zwischen den Granulationen tiefer und tiefer und der Bau
des Ganzen nähert sich dem pa])illären Bau der Haut. Die „Granu-
lationspapillen"' werden zu ..Narbenpapilleir'.
Auf diesen derljen geschrumpften Granulationen vermag nun auch
das Epithel (ej zu haften. Das junge Epithel entsteht durch Theilung
aus den tiefen weichen Schichten des Rete Malpighi und schiebt sich
vom Rande der Wunde auf die Granulation herein („einsäumende
Ueberliäutung").
78
III. (Japitel. — V(;rl<;i'/inij;cii.
Zwischen die Granulationspapillen senkt sich das Epithel tief
ein und lässt diese hiediirch noch schärfer hervortreten CFig. yj^d).
Erst die älteren Schichten fangen an nach der Oberfläche liin zu ver-
hornen und damit der 0 »,0 3 "•"'
jungen Narbe eine
solidere Decke zu ^ ^^
geben (e'J. Makro-
skopisch erscheint
dieses junge Epithel
als ein matter grauer
Saum, durch welchen
die Granulation röth-
lich durchschimmert.
An Wunden, wo
die tiefere drüsen-
fiihrende Schicht
des Unterhautzell-
gewebes noch er-
halten geblieben, wie
bei oberflächlicheren
Brandwunden,
kommt zur^epithel-
bildenden Leistung
des ßete Malpighi
am Rande der Wunde '^
noch die Epithelpro-
duction von den Aus-
führungsgängen der
Schweiss-, Talg-
drüsen und Haar-
bälge hinzu. Bei /
liegt ein seitlich an-
geschnittener Haar-
balg , aus dessen
Mündung sich junge
Epithelien (g) auf die
Oberfläche der Gra-
nulation ergiessen
JDiese Stellen ,glan:
duläl-ef Epithelprp::^
cTuctiön erscheinen
als mattgraue Inseln
inmitten der glänzend
Töflien Granulation.
Der Vorgang wird
deshalb als inselförmige Ueberhäutung bezeichnet.
Die Irrthümlichkeit der früheren Annalime, dass Epitlielien ans Grannlations-
zellen anf nietaplastiscliem Wege hervorgehen können , ist durch Tlderscli erwiesen.
Auf alten Granulationen (grossen Brandwunden) bilden sich gelegentlich flache epithel-
ähnliche Bildungen, die aber nicht dauernd und eher den Endothelien zuzuzählen, jeden-
falls keine echten Epithelien sind.
Heilung unter dem Schorf. 79
,Thierscli nimmt auf Grund der Arbeiten Schrön's an , dass die Hornzellen des
^Stratum corneum überhaupt nur von den Drüsen der Haut , Schweiss- und Haarbalg-
drüsen gebildet werden , nicht vom Stratum Malpighi aus. Wo also diese fehlen , auf j
Narben sowohl, wie an gewissen normalen Körperstellen (Lippenroth, Fingernägel, Eichel- \
Oberfläche), fehle auch die Hornschicht , welche der Haut und der Narbe ihren eigen- /
thümlich matten Glanz verleiht. An diesen Stellen liegt das spiegelnd glänzende. -
glatte Stratum pellucidum bloss, das wohl trocknen kann, aber nie jenes matte Ansehen ,
erlangt. In der That trifft diese Beobachtung für grosse, rein durch einsäumende Ueber- )
häutung geheilte Wunden zu. Diese Narben bleiben immer spiegelnd glatt und werden ]
leicht wieder wund.
Zum Vevsclilusse einer granulirenden Fläche ist somit das
Zusammenwirken zweier Processe absolut notbig — einer Verände-
rung der Granulation , die wir im Wesentlichen als eine Schrumpfung,
einen Uebergang in Spindelzellengewebe und Verödung der Gefässe be-
zeichnen können, und der Bildung neuen Epithels. Bleibt einer dieser
beiden Factoren aus oder kommt nicht zur genügenden Wirkung , so
kommt es auch nicht zur Bildung einer gesunden Narbe. Beide Vor-
gänge sind an gewisse Grenzen gebunden. Die Schrumpfung der
Granulation ist oft eine ungenügende, wenn sie auf unnachgiebigem
Grunde ruht, z.B. dem Knochen direct aufsitzt; ebenso ist die ein-
säumende Ueberhäutung nicht im Stande, einen Epithelsaum breiter als
5—6 Cm. zu liefern. Erst in neuerer Zeit sind wir durch Thkrsch
gelehrt worden , auch solche . früher unheilbare Wunden durch künst-
liche Aufpflanzung von Haut zum dauernden Verschluss zu bringen.
Neben der Heilung durch Granulationsbildung werden noch einige
andere Arten der Heilung per secundara reunionem unterschieden. Die
histologischen Vorgänge sind auch hier dieselben und es ist mehr das
makroskopische Verhalten, welches sie eigenartig erscheinen lässt.
Bei der „Organisation des Blutgerinnsels" ist die Wunde
(ein Substanzverlust oder eine nicht vereinigte Schnittlinie) zunächst
ausgefüllt mit einer festhaftenden, nicht ohne erneutes Bluten abzieh-
baren Schicht geronnenen Blutes. Im Laufe von Tagen verblasst das
anfangs blutiothe Gerinnsel , nimmt eine gelblichgraue oder orange-
rothe Farbe an und wird zugleich trockener, krümlich oder streifig.
Dabei wird die Wunde zusehends kleiner, theils zieht sie sich zusammen,
theils schiebt sich der grauweissliehe Saum neugebildeten Epithels auf
dieselbe herein. Wenn die Epithelränder sich erreicht haben, sind von
dem Gerinnsel nur noch einige gelbe Faserstoffgerinnsel auf der jungen
Narbe oder an den Verbandstoffen übrig. Ausser spärlichem gelblichem
Schleime bildet sich kein Secret.
Die mikroskopischen Vorgänge sind ganz dieselben, wie bei der
„Organisation" des Thrombus (pag. 15). Das Gerinnsel wird von
jungem Bindegewebe und neugebildeten Gefässen durchwachsen , und
während rothe Blutkörperchen und Faserstoff verschwinden, nimmt ihre
Stelle diese bindegewebige neue Bildung ein. Es ist ein reiner Sub-
stitutionsvorgang. Nur geht bei der „Organisation des Blut-
gerinnsels" die Bildung neuen Gewebes statt vom Endothel der
Intinia , wie dort , von den Bindegewebszellen , den Endothelien der
Lymph- und Bhitgefässe, den Zellen der Adventitia aus. Auch hier
kehren die in Fig. oö und ;)7 geschilderten Zellenformen wieder
(epithelioide. Riesenzellen, grosse Spindelzcllen u. s. f.).
Die Organisation des Blutgerinnsels kommt nur bei ganz keim-
freien , vor Vertrocknung und Misshandlung geschützten Wunden vor
//
gQ ni. Capitel. — Vcrieteuiig«;)).
(Lister). Neuerdings hat Schede seine „Wundbehandlung untei- dem
feuchten Blutschorf" auf diesen Vorgang gegründet.
Wunden innerer Organe, Risse der Leber, der Niere u. dergl.
heilen, wenn Mikroorganismen ausgeschlossen sind, in einer der .Substi-
tution des Blutgerinnsels durchaus entsprechenden Weise. Die Blutge-
rinnsel werden durchwachsen von denselben spindelförmigen Elementen
bindegewebiger Natur, die besonders von den Endothelien der Capillaren
imd den Zellen der Adventitia capillaris ausgehen. Auch die Gefässneu-
bildung erfolgt in der pag. 72 geschilderten Weise; und ebenso der Ueber-
gang dieses jungen (Graniüations-)Gewebes in Narbe (vergl. pag. 77).
Hohle Räume scheinen in den ersten Stunden von einem Fibrin-
netz und Wanderzellen erfüllt zu werden (Tillmanns) ; auch dieses Ge-
webe wird später substituirt, wie der weisse (und der rothej Thrombus
(siehe pag. 15).
Die Einlieilung von Fremdkörpern macht sich etwas verschieden, je
nach der ' chemischen Beschaflenheit des Körpers. Ist derselbe in den Körpersäften
""^aiiz unlöslich, wie Glas z. B., so bildet sich eine schmale Hülle concentrisch geschich-
"teten Bindegewebes darum. Handelt es sich um chemisch differente Körper • — Kriochen-
^Zijucke,' unreine Holzsplitter , Tüchfetzen , Tuberkelknoten u. s. w. — , so kann, wenn
die Zälil und Virulenz der Eiterkokken nur eine massige ist, eine Abkapselung
stattfinden. Man hat nach aussen eine concentrisch geschichtete Kapsel aus zellarmen
"Bindegewebsfibrillen , die nach innen übergeht in richtiges Granulationsgewebe^. Die
""Granulationen können geeignete Fremdkörper (Knochensplitter) durch Eesorption vom
"TElande her allmählich verkleinern (vQrgl. Osteomyelitis infectiosa), selbst ganz aufzehren.
Tter Fremdkörper kann auch in einer kleinen Menge seröser bis eiteriger Flüssigkeit
schwimmen. — Sehr alte Kapseln zeigen Verkalkung.
Bei kleinei'en Wunden, Kratz-, Riss- oder kleinen Quetschwunden,
vertrocknet das auf der Wunde liegende Blutgerinnsel zu einer braunen
trockenen Kruste oder Schorf, der fest aufsitzt. In den nächsten
Tagen wird er schwärzlicher und trockener. Nach einigen Tagen oder
Wochen fällt der Schorf ab und darunter liegt eine napfförmig vertiefte,
junge Narbe. Diese zieht sich rasch zusammen, erreicht das Niveau
der Haut und ist schliesslich von einer gewöhnlichen Narbe in nichts
verschieden. Die mikroskopischen Vorgänge sind bei dieser Heilung
unter dem trockenen Schorf einfach. Eine sparsame Bindegewebs-
und Gefässneubildung mit geringer Einlagerung von Rundzellen schliesst
die verletzten Gewebe ab , junges Epithel streckt sich darauf herein.
Durch Granulationsverklebung heilen andere Wunden —
Abscesshöhlen, deren Wände sich aneinander legen, granulirende Haut-
lappen, die an andere Stellen verpflanzt werden, rinnenförmige Wunden
Dammrisse) u. dergl. Die einander gegenüber liegenden Granulationen
^drängen sich gegen einander an, die Gefässe derselben stossen zusammen,
^erschmelzen und damit ist die Verbindung vollzogen. Dieser Vorgang
ist nur bei minimaler Secretion der Wundflächen möglich. Stagnirt
Wundflüssigkeit zwischen denselben , so ist es für die Granulationen
unmöglich, zu verkleben.
' Die Granulationen zeigen verschiedene beachtens werthe Ano-
malien.
Sie können ödematös sein, blass, wasserreich und blutarm, wenn der ganze
Körpertheil ödematös ist. Schwammige (fungöse) Granulationen erscheinen gleichfalls
wie ödematös — ohne Oedem der Umgebung. Statt frischen Roths zeigen sie ein
graues Weiss, oft körnige Flecken dazwischen. Diese Art der Granulation ist namentlich
tuberculösen Processen eigen. Die fungösen Granulationen sind häufig auch „croupös"
belegt. Das "Wundsecret ist zu einem fest anhaftenden, nur unter Blutung abziehbaren
^//V^ ^■'^%y'ifr-ru^. ^'
Wuudeu sefässloser Theile.
Tl>%
(
Fibriubelag geronnen. Auch nicht tuberculöse Granulationen zeigen gelegentlich diese
Veränderung. Stark wuchernde, leicht blutende und schmerzhafte er ethische Granu-
lationen linden sich an schlecht gehaltenen, namentlich mechanisch misshandelten Wund-
tlächen. Knopfförmig einen iiid^ Ti^ füluvuilrn l-;itrrgaug (Fist_el)_ überragende
Granulationen lassen auf einen m 'aer^Tiefe zurürkgi'luiltrnen Fremdkörper (todte
Knochenstücke, Kugeln, Tuclifetzen^ verlorene Drainröhren, Unterbindungsfaden u. dcrgl.)
schliessen^_ Spiegelnde , zurückgesunkene Granulationen t'nffT^man liei selir herunter-
gekommenen Personen an, kurz vor dem Tode und an der Leiche.
Schmutzige Beläge, brandige Fetzen, schmieriger Zerfall weisen auf weitergehende,
zerstörend wirkende Momente hin — die GranulationsHäche ist zum ., Geschwür"' geworden
(siehe Geschwüre). Am besten }verdeu solche schlechte Granulationen durch Aetemittel
(Höllenstein, Argentum nitricum) zerstört oderTlurch Abkratzen mit dem sq^arfen „^Löffel
eivETerut. Üeberhaupt sind bei grossen granuürencTCTTTTacTiÄl die (jranulalionen^esonders^
ancTen^Eändern durch wiederholte Aetzungen mit Höllenstein kurz zuhalten; sie werden
ladurch zum Schrumpfen gebracht
, und das Epithel haftet leichter, die Fig- 30-
[Heilung wird beschleunigt.
Die Wunden gefäss-
loser Theile sind besonders
an der Hornhaut studirt.
Ein glatter, scharfer Schnitt
in der Hornhaut , der nicht bis in
die vordere Kammer dringt, erzeugt
an dem Hornhautgewebe nur wenig
Veränderung ausser etwas Auf-
faserung , Lockerung und Quellung
der Fasern. _Binnen__weni^ .Tagen
Avird der ganze Spalt von jungem_
" Epithel ausgefüllt, welches von dem
"rylindrischen Epithel der tiefsten
_Sc]ücht jles Corneaepithels geliefert
wird (Fig. 39 a — a' nach r. Wijss.l^
ist dit' Wunde eine penetiirrnilc ge-
wesen , so klatft der Schnitt au
dem hintern, der vordem Kammer
zugekehrten Theil, und das hintere
Drittel der Wunde wird ausgefüllt
von einer glasig verquollenen Masse,
von der sich nicht mit Bestimmtheit
sagen lässt , ob es .sich um ein-
gelagertes Fibrin oder verändertes
Hornhautgewebe handelt (Fig. 39 b
bis a'). Das Epithel der Membrana
Descemeti geräth gleichfalls in
Wucherung (Fig. 39 c). Die vordere Hälfte der Wunde wird, wie bei nicht perforirenden
Wunden , von neugebildetem Epithel eingenommen. Die Ansammlung von wandernden
Hornliautkörperchen und weissen Blutzellen in der Nähe des AVundspalts ist bei asep-
tischen AVundeji eine sehr geringe.
Erst gegen Ende der ersten Woche fängt das Hornhautgewebe selbst an, sich zu
regen und eT wachsen nun von den fixen Hornhautzellen lange , spiessartige Ausläufer
_^egen die Wundspalte herein und gewinnen, zu Fasern auswachsend , nach der andern
^eite hin Fühlung. In dem Masse, als sie zahlreicher Averden, di'äugeu .sie das Epithel,
jvelches zapfeuaitig in das Hornhautgewebe hereinragte, gegen die Oberfläche zurück
juid es bleibt schliesslich nur eine flache Einkerbung zurück. Gefässneubildung vom
Rande her findet sich bei einer nicht entzündeten , einfachen Schnittwunde nicht. Bei
grösseren Substanzverlusten, besonders wenn viel Epithel verloren ging, geht der Ersatz
sehr viel langsamer.
In Fig. 40 (nach Soiftlchcn) sind die Hornhautzellen in Pioliferation. Bei a
sind alte protoplasmareiche, theilweise mehrkernige Hornhautzellen, welche junge Fasern
ih) aussenden, zum Theil sich faserig auflösen (c). Die jüngsten Bildungen .sind ganz
dünne Fasern mit langgezogenem Kern und äusserst sjjärlichem Froto|dasmahof darum
(^H<irnhautsijiesse~). draivHz und Sfrirker lassen Hornhautzidlen an<]i aus Inter-
cellularsubstanz liervorgehen.
I
Landf^rer, Allu- chir. Pathologie u. 'riiiTapie. 2. AuH.
6
82
JJI. (Jajjitcl. — V'(;rlf;iziitigo)i.
Noch träger verliiilt sich bei Verletzimgen der Knorpel. Sclinitt-
wunden in Gelenkknorpeln zeigen sich nach Wochen mit einem Fibrin-
gerinnsel erfüllt. Dieses Gerinnsel wird durch Bindegewebe ersetzt,
dabei fasert der Knorpel sich auf, die Knorpelkapseln werden undeut-
lich, die Knorpelzellen werden mehrkernig ; aber selbst nach einer Reihe
von Monaten zeigt der Schnitt sich nur durch eine bindegewebige Narl^e
erfüllt. An anderen Stellen, z. B. den Rippenknorpeln, füllt sich die
Schnittrinne gleich von Anfang mit jungem Bindegewebe aus. Eine
wirkliche Regeneration des Knorpels scheint höchstens bei Kindern
vorzukommen.
Bei der bisherigen Darstellung der Wundheilung sprachen wir
eigentlich ausschliesslich von der Heilung von Wunden im Bindegewebe
und Epithel. Bei Ver-
letzung anderer Gewebe
handelt es sich neben
der bindegewebigen
Narbe auch um Wioder-
ersatz und Neubildung,
um Regeneration der
verletzten specitischen
Gewebe (Muskeln, Ner-
ven, Sehnen etc.). Colm-
heini hielt die weissen
Blutkörperchen für das
Muttergewebe auch
dieser specitischen Ge-
webe. Heute weiss man,
dass diese bei der Rege-
neration nicht direct be-
theiligt sind, höchstens
liefern sie durch Phagocytose seitens der specifischeu Gewebselemente
etwas Baumaterial für die Regeneration. Die neugebildeteu Gewebe
entstehen ausnahmslos durch Proliferation von den präexistenten speciti-
schen Gewebszellen.
Die Regeneration der quergestreiften Muskeln zeigt Fig. 41.
Zunächst sieht man — als Folgen der Verletzung — degenerative Vor-
Eegeneration der Muskelfasern. g3
gänge ; bei a ist eine durch die Verletzung zu einem Wulst zusammen-
gedrehte Faser, darüber eine spitz ausgedrehte, bei h eine alte Muskel-
faser, die sich in ihrem Sarkolemmaschlauch zurückgezogen hat, bei c
ist die Faser in eine colloide Scholle verwandelt. Die ersten regene-
rativen Erscheinungen zeigen sich in einer auf dem Wege der Kern-
theilung sich entwickelnden Wucherung der Muskelkerne. Mitosen sind
schon vom zweiten Tage an zu erkennen. Diese Wucherung und Ver-
mehrung der Muskelkerne sieht man sowohl an solchen Kernen , die
lebenden Fasern aufliegen (in der linken Hälfte des Präparates). Hier
sieht man auch die contractile Substanz sich in die Länge strecken
und zu neuen Fasern (Muskelknospen) auswachsen ((i,/, g). Daneben sieht
man aber auch ausser Verbindung mit den Fasern (dem Sarkoplasma)
stehende Muskelkerne sich vergrössern ; ein Theil dieser Kerne scheint
sich gleichfalls mit Protoplasma umgeben und zur Bildung von neuen
Muskelfasern (e, /, g) Anlass geben zu können (Volkmann) .
Dazwischen findet auch eine Neubildung von Bindegewebe statt,
das zu neuen Sarkolemmschläuchen führt (zwischen ch und g). Beider
Regeneration der quergestreiften Muskeln geht die Neubildung also
nur von den specifischen Gewebszellen aus.
Die Regeneration der glatten Muskelfasern erfolgt durch
eine Wucherung der Muskelkerne. Daneben hat man eine Wucherung
des Muskelbindegewebes, das zur Bildung neuer Sarkolemmaschläuche
führt.
Beträgt der Zwischenraum zwischen den Muskelstücken über 2 Cm.,
so vermag die Muskelneubildung diese Lücke nicht zu überbrücken ;
es bleibt eine Narbe aus Bindegewebe eingeschoben, in diese gehen die
Muskelfasern beiderseits über, wie in eine Sehne. Der Muskel erscheint
mit einer Inscriptio tendinea (wie der M. rectus abdominis) versehen.
Die Function wird — wenn die Zwischensubstanz kurz und derb ist —
hiedurch nicht erheblich gestört.
Wird ein Nerv durchschnitten, so ziehen sich die beiden Enden
zunächst etwas zurück ; centrales und peripheres Ende zeigen Zertrüm-
merung der Markscheide und der Achsencylinder (traumatische Degene-
ration), in die Lücke ergiesst sich Mark aus den eröffneten Markscheiden
und etwas Blut aus den verletzten Gefässen. An ihrer Stelle findet
man nach einigen Tagen eine grauröthliche sulzige Masse, welche den
Substanzverlust überbrückt. Eine leicht spindelförmige Anschwellung
zeigt die Stelle der Durchschneidung an. Diese junge Bildung, obwohl
nicht deutlich nervöser Natur, soll schon 50 — 70 Stunden nach der
Verletzung nervöse Erregungen leiten können und es kann so in sehr
seltenen Fällen nach so kurzer Frist die Function des Nerven in dieser
Weise wieder hergestellt sein.
Die V e r ä n d e r n n g e n an d u r c li s c li n i 1 1 e n e n N e r v e n f a s e r n sind in Fig. 42
bis 47 (nach Eiclihorst) zu verfolgen. Fig. 42 ist eine normale Nervenfaser (Frosch-Iscliiadi-
cus). fs die (äussere) Fibrillenscheide, mit sjiärliclien Kernen, zwischen ilir und dem (grauen)
Achsencylinder die (schwarz gehaltene) ScJurann'i^che Scheide , bei < /'Z ein Kern der
Sehn- ann' sehen .Scheide und ebenda eine licinvi er' sehe Einschnürung.
Fig. 43 ist das centrale Ende, 8U Stunden nach der Durchschneidung. Bis zur
nächstobern lianvier'sehen Einsclinürung ist die Ditt'erenzirung zwischen Marksclieide
nnd Achsencylinder verschwunden, man hat eine feinkörnige Masse , das untere Ende
ist spitz zugedreht.
Fig. 44 stellt das periphere Ende vier Tage nach der Dunlisclmeidung im
Stadium der sogenannten Markgerinnung dar.
84
III. Caijitel. — ViTl(!tziiiigi;ii.
Fig. 45 am siebenten Tag nach der Dui'clisclmeidung- , mit, heKimiendei- Maik-
degeneration, das Mark zerfällt in einen fettigen Theil, der re.sorbii-t wird, und einen
eiweisshaltigen, der zurückbleibt.
In Fig. 46 (spät. Stadium) ist das Mark fast ganz zerfallen und resorbirt,
dafür findet sich jetzt eine starke Vermehrung der Kerne der Schwann' fiche}) Scheide.
Der Achsencylinder verschmilzt mit dem eiweisshaltigen Rest der MsÄkscheide zu einer
nicht mehr dift'erenzirbaren Masse.
Die Regeneration geht von dem Achsencylinder des centralen Stumpfes aus
(continuirliche Regeneration, Notthoft, Ströbe). Fig. 47 zeigt das Auswachsen einer neuen
Nervenfaser aus dem alten Achsencylinder (70. Tag). Doch können aus dem centralen
Fig. 42.
Fig. 43.
Fig. 44.
Isolirte Nervenfaser aus
dem N. ischiadicus des
Frosclies in der Pibrillen-
scheide. Vergrösserung
eoofach. Osmiumprä-
parat, seil Scliwann'sche
Scheide, fs Fibrillen-
scheide.
Aus dem Suralaste des Kaninchens.
30 Stunden nach der Durchschneidung.
Osmiumpräparat. Vergrösserung 600fach.
Immersionssystem.
Stadium der Markge-
rinnung am 4. Tage der
Durchschneidung. Aus
dem Suralaste eines
Kaninchens. Osmiurnjirä-
parat. Vergrösserung
GOOfach. Immersions-
system.
Achsencylinder auch (durch Spaltung) mehrere neue Fasern hervorgehen. Die neuen Fasern
sind zunächst marklos, später umgeben sie sich mit einer vom Centrum nach der Peripherie
fortschreitenden Markscheide (von den gewucherten Nenrilemmkerneu gebildet). — Beim
Säugethier sieht man schon am Anfang der dritten Woche neue Nervenfasern, v. Bnngner
nimmt „discontiuuir liehe Regeneration" der Markscheide und der Achsencylinder aus
den wuchernden Zellen der Schwann' ?,c\\&xy Scheide (den Neuroblasten) an, die von
Notthoft und Ströhe für bindegewebiger Natur angesehen werden und nach diesen
nichts zur Regeneration der nervösen Elemente beitragen.
Fig. 48 zeigt die Nervenregeneration beim Warmblüter (nach Gluck). Von den
alten Achsen cy lindern (a) wachsen zarte Fortsätze aus , die an einzelnen Stellen zu
kernhaltigen langgestreckten Spindeln anschwellen ; diese Spindelzellen wachsen sich von
beiden Seiten entgegen, vereinigen sich und bilden so die erste Verbindung zwischen
Nervenregeneration.
50
den beiden Nervenstümpfen (Elemente nervöser Natiir oder Granulationszellen'?). Sie
sollen in Achsencylinder übergehen können (b). Daneben junge marklose Nervenfasern
(c), aus den Achsencylindern hervorgehend. Zwischen diesen Elementen Leukocyten (d)
und junge gewucherte Neurilemmkerne. Diese Fig. 48 stellt die sogenannte prima
reunio nervosum vor, die, von Gluck angenommen, von fast sämmtlichen anderen Autoren
bestritten wird.
Kommt keine Eegeneration zu Stande, so degenei'iren allmählich, in 5 — 10 Jahren,
auch die centralen Fasern, sowie die betreffende Ganglienzelle, also das ganze betreifende
Neurom (Amputationsstümpfe).
Xissle will 14 — 10 Tage nach Läsion des Nerven auch Veränderungen in der
Ganglienzelle gefunden haben (regenerativer oder degenerativer Natur'?).
Fig. 45.
Fig. 46.
Fig. 47.
Beginnende Mark-
degeneration. Aus dem Sural-
aste eines Kaninchens. Os-
miiuiipriliiarat. Vergrösserung
eOOfach. Immersionssystem.
Spindelförmige Anscliwellung
ii\it Markresten und Kernnestern
aus dem Suralaste eines
Kaninchens. 4. Woche. Osmium-
carminprüparat. Vergrösserung
400fach. Immersionssystem.
Directes Auswachsen einer
regenerirten endogenen Nerven-
faser aus dem Achsencylinder
des centralen Nervenstumpfes.
Aus dem Ischiadicus des Frosches.
70. Tag. Osmiumpräiiarat. Ver-
grösserung öOOfach. Immersions-
svstem.
Im c e n t r a 1 e n Nervensystem werden wohl Fasern regenerirt, aber sehr träge ;
aueli au Ganglienzellen werden spärliche Mitosen beobachtet. Die Neuroglia (nervöser
Natnr) zeigt spärliche Mitosen ; Bindegewebe und Gefässe bilden im Centrahiervensystem
die Narbe, bei grossen Defecten die AVand der Cyste.
In Fig. 49 ist ein mit Ueberosmiumsäure gefärbter Längsschnitt
durch die Trennungsstelle eines Nerven 21 Tage nach der Verletzung
bei schwacher Vergrösserung. Nach oben und unten fällt die durch
die Uelterosniiumsäure grau gefärbte alte Nervensul)stanz auf; in den»
spindelig aufgetriel)enen Mittelstück (dem Nervencallus) sind bereits
niarkhaltige (graugefärbte j junge Nervenfasern neben noch nicht mark-
haltiiren zu erkennen, dazwischen Rundzcllen und Neurileniinkerne. —
86
Ur. Capitel. — Vorli-Izunj^eii.
Fig. 50 zeigt einen durchschnittenen Nerven bei Lupenvergrösserung,
19 Tage nach der Verletzung. Zwischen den alten Nervenstücken ist
ein verschmächtigtes, noch nicht völlig markhaltiges .Schaltstück neuer
Bildung. — lieber 2 — 3 Cm. grosse Lücken vermag die nervöse Neu-
bildung nicht zu überbrücken (s. Nervenplastik). Kommt eine Vereinigung
nicht zu Stande , so schliessen sich die Nerven mit kolbigen Ver-
dickungen ab. Das Mark in dem peripheren Theil zerfällt: aucli der
Axencylinder wird allmählich undeutlich. Dasselbe ist der Fall bei
Amputationen; auch hier endigt der durchschnittene Nerv mit einer
kolbigen oder spindelförmigen Anschwellung , deren Hauptbestandtheil
Bindegewebe ist. Die sensibeln Fasern atrophiren centripetal.
Fig. iS.
Fig. 49.
Fig. 50.
.wi\llli| /
Neue Nerven wachsen auch in gänzlich abge-
trennte und wieder angeheilte Stücke ein , ebenso
in Theile, die von anderen Stellen und anderen
Personen transplantirt sind. Die Regenerations-
fähigkeit von Ganglien, Gehirn und Rückenmark ist äusserst beschränkt.
Die durchschnittene Sehne zieht sich zunächst stark zurück. Der
Raum zwischen beiden Enden wird ausgefüllt durch das Zusammenfallen
der Sehnenscheide und durch Blut.
Bei der Regeneration der Sehnen wird stets ein Zwischen-
stück zwischen den beiden Stümpfen gebildet. Je kürzer der Zwischen-
raum ist (Sehnennaht!), je weniger Blutgerinnsel dazwischen liegen,
umso rascher und vollkommener ist die Regeneration. Den grrssten
Theil des neuen Gewebes bilden die Zellen des umgebenden Binde-
gewebes (Peritendineums), des zwischen den Sehnenbündeln liegenden
Bindegewebes, die Endothelien der Gefässe (vergl. Organisation des
Blutgerinnsels). Erst spät proliferiren die Sehnenkörperchen. Die
Wuudeu inuerer Organe. Narbe.
87
Fig. 51.
Zwischensubstauz ist noch lange Zeit durch ihre Unregelmässigkeit
mikro- und makroskopisch von der alten Sehnensubstanz zu unter-
scheiden (Busse, Deutsehe Zeitsehr. f. Chir., Bd. 33).
Die Heilung und Regeneration bei Wunden innerer Or-
gane ist von Barth {Langenheck'' s Archiv, 45) für die Niere studirt
worden. Längs des Schnittes finden sich stets ausgedehnte degenerative
Veränderungen , vorwiegend Verfettungen , namentlich der Epithelien.
Stets findet sich Fibrineinlagerung zwischen den Wundrändern. Nekro-
tische Partien und Fibrin werden von Leukocyten durchsetzt und von
Granulationsgewebe, das vom präexistenten Bindegewebe ausgeht, durch-
wachsen und resorbirt. Die Regeneration zeigt sich in reichlichen
Mitosen seitens der Epithelien, noch reichlicher seitens der die binde-
gewebige Narbe aufbauenden Endothelien der Capillaren , der Zellen
der Gef ässadventitia , der fixen Bindegewebszellen , der Zellen der
fibrösen Kapsel u. s. w., die gross, rundlich oder polygonal werden
(Fibroblasten , Fig. 35). Auch das umgebende Gewebe ist durchsetzt
mit Leukocyten , hyperämisch und zeigt
reichliche Karyokinesen. Neugebildet werden
gerade und gewundene Harnkanälchen,
Glomeruli so gut wie nicht. Schliesslich er-
reicht der Process mit Schrumpfung des
Granulationsgewebes zur Narbe sein Ende.
KünuneU nahm eine ausgedehntere Nieren-
regeneratioü bei successiver Abtragung wahr.
An der Leber stellte Ponfick eine
grosse Regenerationsfähigkeit fest, solange
die grossen Gefässe der Porta erhalten
waren. Die regenerativen Processe sind
denen bei der Niere analog.
Den Verschluss der Blutgefässe be-
sprechen wir bei der Blutung (s. dort).
Das Endresultat der meisten Ver-
letzungen , vieler Entzündungen , der Ab-
schluss fast aller unserer operativen chirurgischen Eingriffe ist die
Narbe. Sie besteht aus einem überaus derben, zellen- und gef äss-
armen Gewebe, hauptsächlich aus Bindegewebsfasern mit wenig spindel-
förmigen platten Zellen (Fig. 51). Der Unterschied gegenüber
der Fig. 37, einer der Vernarbung nahen Granulation, ist nur ein
gradweiser, das junge unfertige Gewebe, die Rundzellen und jungen
Gefässe .sind verschwunden, verdrängt durch die starren Bindegewebs-
fasern a. Die Stellen , w^o die Fasern und Spindelzellen concentrische
Anordnung zeigen, sind verödete Gefässe.
Entgegen anderen Autoren {Ehertlt u. A.) behauptet Grawitz die Entstehung der
Granulation und der Karbe aus den Sehlummerzellen und der Intercellularsubstanz, in
der Molecüle (GrannhiV) von Kernen und Zellsubstanz übrig geblieben seien, ilie nun
erwachen und wuchern. Die Intercellularsubstanz ist ihm nicht ein Product der Zell-
abscheidung, sondern Metamorj^hose der Zellen. Es wäre eine gewisse Rückkehr zur
i'reien Zellbildung (^.Intercellularpathologie").
Die A'iirgänge der Schrumpfung und Verödung, welche die Granulation in die
junge Narbe üljerführen, bleiben der Narbe auch für ihr späteres Leben zu eigen. Die
Narbe , wie sie eben ans der Granulation hervorgeht , ist kein fertiges Gewebe. Sie
ändert sich noch jahrelang, sie zieht sich immer mehr zusammen und wird immer
gefässärmer. Anfangs ein lireiter, hlutigi'other derber Striemen, wird sie im Laufe
gg ' in. Capitel. — Verletziiiigeii.
dtsr Jalirc und .lalirzeliiite zur R-liinzeud weissen, kaum niehi- siclit- und fiildbareu
Linie. So erwünscht diese Narbe nsc lirump fung- an jnanclieii Stellen ist, z.B. im
Gesieht, wo hässlich entstellende Narben von Jahr zu Jahr weniger störend werden:
so furchtbar können ihre Wirkungen auf der anderen Seite sein. Grosse Narben
von Verbrennungen am Halse können den Kopf mit unwiderstehlicher Gewalt auf die
Brust niedergezogen festhalten (siehe Verbrennung). Narben von ringiormigen Geschwüren
an den Extremitäten führen zu schweren Circulationsstörungen in den Theilen jenseits,
ja sie schnüren den peripheren Theil förmlich ab und führen geradezu zum Brand
derselben („Selbstamputationen"). Gelenke können in spitzem Winkel festgestellt
werden u. dergl. Und zwar sind es nicht blos die Narben der Haut, auch Fascien-
schrnmpfungen, entzündliche und vernarbende Processe in Muskeln können zu solchen
oft entsetzlichen Verziehungen (Contracturen) führen. In Canälen (Harnröhre , Speise-
röhre, Darm, Scheide) führen Entzündungen oder Verletzungen zu ringförmigen Narben,
welche im Laufe von Jahren , oft erst Jahrzehnten sich concentrisch zusammenziehen
und die Lichtung des Canales aufs Aeusserste verengern können (Stenosen, Stricturen).
Lippen , Augenlider werden durch Vernarbungen nach aussen oder innen umgestülpt
(En- und Ectropium) und es entstehen hässliche Entstellungen. Die Schnitte so zu
führen, die Narbenbildung so zu leiten , dass die spätere Schrumpfung keinen Schaden
bringt, ist eine Hauptkunst des Chirurgen.
Die Narbe ist trotz ihrer Derbheit ein hinfälliges, wenig widerstandsfähiges Ge-
webe, namentlich das Narbenepithel. — Grosse Narben werden sehr leicht wund , sie
zerreissen oder zerspringen förmlich , z. B. an Gelenken , welche durch schrumpfende
Narben in Winkelstellung festgestellt sind (Ankj'loseu oder Contracturen) und die so
entstandenen wunden Stellen heilen überaus schwer.
Granulationsflächen , die während der Heilung schlecht gehalten , namentlich
mechanisch misshandelt , gescheuert wurden, heilen oft mit übermässiger Bindegeweb.?-
neubildung, sie geben Anlass zur Narbenwu eher ung. Die Narbe bildet dann einen
rothen, bis 1 Cm. sich über die Haut erhebenden hässlichen Wulst , mit dünnem, spie-
gelndem Epithel bedeckt. Anatomisch ist nur eine unvollständige Schrumpfung und
Rückbildung nachzuweisen. Das Ueberstreichen mit CoUodium oder Jodtinctur oder
Einpinseln mit Ichthj'olum purum hat mir einige Male gute Dienste gethan. Sonst
bleibt nur die Ausschneidung übrig. — Der üebergang der wuchernden Nai'be in die
Narbengescliwulst , das Keloid (siehe Neubildungen), ist ein unmerklicher und werde
ich dort auf die oft unüberwindlichen Schwierigkeiten erfolgreicher Behandlung hiuAveisen.
Nach Jahren schrumpfen solche hypertrophische Narben manchmal ohne sichtbaren
Anlass plötzlich von selbst.
Auf grossen, häufig wieder aufbrechenden Narben, von Unterschenkelgeschwüren,
Brandwunden, entwickeln sich gelegentlich Narbenkrebse. (Siehe Neubildungen.)
Schnittwunden entstehen durch successive Trennung- der Gewebe.
Schneidende Instrumente (Messer , Scheere u. dergl.) wirken wie eine
Säge, durch Zug Schichte um Schichte trennend (die Schneide selbst
des bestgeschliflfenen Messers sieht unter dem Mikroskope wie eine
Säge aus). Auch die Hiebwunden werden durch scharfe Instrumente
hervorgerufen. Hier macht sich ausserdem noch eine Druckwirkung-
geltend, weil das Werkzeug, Säbel u. dergl., mit einer gewissen Kraft
geführt wird. Die Beschädigung der Gewebe längs der Wundspalte
ist hier nicht so minimal wie bei den Schnittwunden; doch ist sie nuV
selten eine so starke, dass nicht die Prima reunio möglich Aväre und
in fast allen Fällen erreicht würde. Je stumpfer das Instrument und
mit je geringerer Geschwindigkeit es eindringt, um so eher stirbt ein
Theil der Gewebe an den Wundrändern ab und es kommt zur Granu-
lationsbildung und Heilung auf langsamem Wege. — Dringen Hiebwunden
schräg zur Körperoberfläche ein , so kann der eine Wundrand unter-
minirt, selbst lappenförmig fast oder ganz abgelöst werden — Lappen-
wunde. Die Stelle, an welcher der Lappen noch hängt, welche die
Verbindung mit dem übrigen Körper noch vermittelt, heisst die Brücke
des Lappens; ist dieselbe sehr schmal, so reden wir von Stiel. Bei
Schnitt-, Hieb- und Sticlnvunden. 39
der HeiluDg' solcher Wunden mnss der Lappen gut auf der Unterlage
angedrückt sein, doch kommt es oft genug vor, dass er wegen ungenügender
Ernährung ganz oder wenigstens an den Rändern abstirbt (Lappen-
und Randg-angrän).
Ist der Theil ganz aus seinem Zusammenhang mit dem übrigen
Körper gelöst, so liegt eine Ab hieb wunde vor (am Schädel ,,Apo-
skeparnismus" genannt). Wenn der abgetrennte Theil — eine Nasen-
spitze, ein Stück Ohr, ein Stück Schädelhaut — nicht zu massig und
dick ist, so heilt er gut angedrückt mitunter wieder an. Die plasmatische
Circulation scheint zur Ernährung zu genügen, bis Gefässe hereinwachsen.
Wir kommen bei der chiruroisehen Plastik hierauf wieder zurück.
Bei Stichwunden handelt es sich weniger um eine Trennung
der Gewebe, als ein Auseinanderdrängen derselben. Das spitze Instru-
ment schiebt die Weichtheile auseinander und diese scliliessen sich,
wenn es durchgetreten, hinter ihm wieder; an grösseren Gefässen gleitet
es meist vorbei, ohne sie zu verletzen.
Nadeln können fast den ganzen Körper durchwandern, ohne ii'gend welche
Spuren ihres Weges zu hinterlassen. Selbst in's Herz kann man sie stechen — zur
Wiederbelebung Chloroformirter hat man dies mitunter gethan (!) ohne schwere Folgen.
— Grössere Instrumente , Troicarts , Bajonette u. dergl. hinterlassen natürlich deutliche
Stichcanäle , die aber nur wenig bluten , da die Gewebe rings gequetscht sind und
grössere Gefässe nur selten verletzt sind.
Bei Stichen mit scharfen Instrumenten, Messer-, Degenstichen, wirkt das scharfe
Instrument auch schneidend und verletzt , was ihm in den Weg kommt. Hier können
Gefässe in der Tiefe angeschnitten werden und beträchtliche Blutungen erfolgen. Seltener
ergiesst sich das Blut durch den Stichcanal nach aussen , meist kommt es zu tiefen
inneren Blutungen in Körperhöhlen oder das Blut wühlt sich in die Gewebe hinein und bildet
hier Blutgeschwülste (Hämatome) oder traumatische Aneurysmen (siehe Blutung). Oder
es werden Nerven in der Tiefe verletzt. Dann hat man heftigen Schmerz, und in einem
Theil der Fälle Lähmung des Nerven.
Soll man beurtheilen , was ein Stich in der Tiefe Alles verletzt
haben mag, so hat man vor Allem die Richtung zu beachten, in der
der Stich mutlimasslich erfolgt ist.
Hat der Verletzte im Momente , wo er den Stich empfing , eine ungewöhnliche
Stellung eingenommen , so können Stichcanäle zu Stande kommen , die man zunächst
für unmöglich halten möchte. So erinnere ich mich eines Knaben, der mit stark ge-
beug-tem Hüftgelenk von einem Baume herab auf einen Pfahl fiel. Dieser drang unter
der Gesässfalte in die Hinterfläche des Oberschenkels ein, ging durch diesen hindurch
und gelangte unter dem Lig. Poupartii , ohne dort eine äussere Wunde zu machen,
in die Fossa iliaca. Nach 2'/'.,jäliriger Eiterung an der Hintei^fläche des Oberschenkels
wurde durch einen Schnitt über dem Lig. Poupartii ein halbfingerlanger Holzsplitter aus
der Darmbfingrube entfernt. Es trat sofort Heilung ein. In horizontaler Bettlage, wie
man die Kranken zu untersuchen pflegt , bildete der Stichcanal eine melirfach winklig
geknickte Linie.
Ebenso bat man das verletzende Instrument darauf anzu.sehen,
ob nicht ein Stück davon in der Wunde zurückgeblieben sein kann,
z. B. Ijei eineiii jMesser die Spitze abgeljrochen ist. Kleine Fremdköriier
kimnen, wenn sie frei von Mikroorganismen sind, durch eine bindege-
webige Neubildung abgekapselt werden (vergl. ])ag. <S()). Äleist kommt
es aber zur Eiterung.
Der Verlauf einer Stichwunde wird lediglich dadurch be-
stimmt, ob das Instrument keimfrei (aseptisch) oder unrein gewesen ist.
Mit asei)tischer Hohlnadel oder Troicart kann man ung-estraft in die
9() JII. Capitel. — V<;rlet,zungeii.
Tiefe dringen, um mit angesetzter Spritze durch eine „rrobepunotion"
Eiter, Blut oder Serum in der Tiefe nachzuweisen und anzusaugen,
Ist das Instrument unrein, d. h. sind Mikroorganismen daran, so werden
diese oft in beträchtliche Tiefe eingeimpft und es entstehen dann scliwere
tiefe Eiterungen oder Jauchungen, die nur schwer ihren Weg nach aussen
linden und das Leben durch Uebertreten giftiger .Stoffe in das Blut
ernstlich gefährden können.
Bei den Stichwunden, wie sie durch zufällige Verletzungen, Holzsplitter u. dergl.,
bei Eaufliändeln erfolgen , ist deshalb stets peinliche Aufmerksamkeit in der Beob-
achtung des Falles geboten. Neben strenger antiseptischer Behandlung der Wunde und
Einlegung eines Drainrohres , wenn der Stichcanal weit genug ist , ist zweimal täglich
die Temperatur zu bestimmen und beim Verbandwechsel die Umgebung der Wunde zu
betasten. So lange die Temperatur normal bleibt, ist meist Alles in Ordnung. Kommt
Fieber und bilden sich gar teigige Anschwellungen, so ist sicher Eiterbildung im Gange.
Um Weiterverbreitungen der Eiterung („Eitersenkungen") vorzubeugen , ist sofort aus-
giebig zu incidiren und zu drainiren (vergl. pag. 32).
Die meisten Stichwunden heilen schnell und leicht. Bleibt eine
Sticliwunde längere Zeit offen und eitert, so ist mit grosser Wahr-
scheinlichkeit anzunehmen , dass noch ein fremder Körper darin sitzt.
Pfeil schlisse und Lanzenstiche bluten wenig und verlangen
dieselbe Behandlung, wie Stichwunden.
Pfeil- oder Lanzenspitzen, die in der Wunde stecken, werden am besten entfernt,
wenn nötliig, mit Hilfe seitlicher Einschnitte (Widerhaken). Ist die Spitze der Haut
nahe, so kann sie durchgestossen werden, oder darauf eingeschnitten werden. Sitzt der
Fremdkörper in der Nähe eines grossen G-efässes, so ist unter Esmarch' scher Blutleere
einzuschneiden und das Gefäss zu unterbinden. Nur selten dürfte es zweckmässig sein,
ihn sitzen zu lassen , bis eine demarldrende Entzündung die Umgebung abschliesst.
Von vergifteten Pfeil- etc. Wunden sprechen wir bei den Wundinfectionen.
Eingestochene Nadeln führen nur selten zur Eiterung. Unter
geringen Schmerzen wandern sie weit hin durch den Körper, oft von
der Hand bis zum Oberarm, dem Fusse bis zum Oberschenkel. Sind
sie der Haut nahe, so lassen sie sich als kleines , auf Druck empfind-
liches Knötchen fühlen. Wenn man darauf einschneidet, so werden
sie am besten durch Druck von der Seite oder von hinten her nach der
Wunde hin herausgedrückt. An geeigneten Stellen können sie mit Hilfe
der Böntgen-^itrahlen nachgewiesen werden.
Verletzungen durch stumpfe Gewalt.
Erschütterung. — Dehnung. Zerrung und Zerreissung. — Quetschung. — Blut-
erguss. — Hämatom. — Resorption der Blutergüsse. — Behandlung der Quetschung.
— Massage. — Quetschwunden. — Eigenthümlichkeiten derselben. — Neigung
zu Eiterung und Jauchung. — Behandlung der Quetschwunden. — Riss- und Riss-
quetschwunden. — Bisswunden.
Bei den Verletzungen durch stumpfe Gewalt kommt es
nicht zur Trennung der äusseren Decken.
Bei der Erschütterung (Commotio, Concussio) scheint durch
eine mit breiter Fläche und nicht zu grosser Geschwindigkeit ein-
wirkende Gewalt (Sturz, Stoss bei einem Eisenbahnunglück u. dergl.),
eine Art Dnrchrüttelung des Körpers, eine „Vibration" zu Stande zu
kommen. Erschütterungserscheinungen kennen wir eigentlich nur von
den nervösen Geweben (Centralnervensystem , Rückenmark, Nerven-
Erschütterung. Zerrung. 91
plexus, Sinnesorganen und peripheren Nerven). Die wesentlichen Er-
scheinungen sind schwere Functionsstörungen, erst aufgehobene, später
oft krankhaft gesteigerte Thätigkeit. Bekannt sind die Erscheinungen
der Hirnerschütteriing — völlige Bewusstlosigkeit , schwere Störungen
der Herzthätigkeit und Athmung, die unmittelbar in den Tod übergehen
k( innen.
Mikroskopisch linden wir nichts , Avenigstens nicht mit unseren jetzigen Hilfs-
mitteln. Namentlich sind Blutergüsse keineswegs für Erschütterung charakteristisch.
Dass wirkliche dii'ecte Beschädigungen der Zellen vorhanden sein müssen, geht aus der
oft Wochen-, selbst nionate- und jahrelangen Dauer der Functionsstöruug bei der Er-
schütterung hervor. Solche langdauernde Störungen sind ganz besonders nach der
Erschütterung des Rückenmarks bei Eisenbahnunfällen beobachtet (Eailway-spine).
In Folge von Gehirnerschütterungen lindet man nach Jahren und Jahrzehnten, wenn
die Verletzten im „traumatischen Irresein" zu Grunde gehen , fettige Degenerationen,
bindegewebige Atrophien und Verkalkungen der Ganglien der Grosshirnrinde. — Bei
der Commotio thoracis, die man bei Sturz auf weichen Grund sieht, haben die Ver-
letzten bei völlig erhaltenem Bewusstsein mit hochgradiger Athemnoth zu kämpfen,
sind sprachlos ; der Puls ist nicht zu fühlen u. s. f. (Erschütterung der gangliösen
Apparate des Herzeus, auch der Lunge?) — Bekannt ist auch das Gefühl der Ver-
nichtung, das man bei einein Stoss gegen die Magengrube empfindet (Aenderungen in
der GefässfüUuug , wie beim Goliz'schen Klopfversuch oder Erschütterung des Plexus
coeliacus?).
Auf E r s c h ü 1 1 e r u n g p e r i p h e r e r N e r V e n bezieht man den eigenthümlichen
Zustand der Empfindungslosigkeit, der in der Umgebung von Schusswunden stunden-
bis tagelang nach der Verletzung zu beobachten ist. Auch eine Erschütterung
von Knochen scheint vorzukommen (Gefässzerreissungen im Mark?). Die übrigen
Gewebe des Köi'pers sind gegen Erschütterung wenig empfindlich.
Die Behandlung der Erschütterung ist Ruhe; unter Um-
ständen Anregung der darniederliegenden Functionen , z. B. der Herz-
thätigkeit, durch Excitantien (Kampher, Aether, Wein). Oertlich kann
später Massage nützlich sein.
Durch Einwirkung von Zugkräften entstehen Dehnung, Zer-
rung, Zerreissung — die eine der höhere Grad der anderen. —
Die Gewebe werden über die Grenze ihrer Dehnbarkeit „ausgedehnt''.
Eine mit blossem Auge zu sehende Zusammenhangstrennung ist bei der Deh-
nung und Zerrung nicht vorhanden — wohl aber mikroskopische Veränderungen. An
gedehnten Muskeln sind die Muskelfasern hier und dort schmächtiger, die Fibrillen
zum Theil zerrissen ; dabei können die Sarcolemmaschläuche erhalten sein und in ihnen
Schollen von Muskelsubstanz liegen oder auch diese sind zerrissen und zusammengefaltet.
Kleine Blutungen fehlen nicht. An Gefässen lassen sich Eisse in der Intima und Media
erkennen. An gedehnten Nerven finden sich Aenderungen der Blutfülle, Injectionen,
kleine Blutungen, Unregelmässigkeiten der Markscheiden. Auch in bindegewebigen
Theilen greifen ähnliche Veränderangeu Platz — Zusammenhangstrennungen an einzelnen
Stellen, Blutungen in Sehnen, Fascien, Gelenkhändeni.
Die Zerrung — ein plötzlich oder ruckweise erfolgender Zug —
setzt nur dem Grade nach stärkere Veränderungen als die Dehnung.
Bei beiden ist die Wirkung — bei Muskeln, Gelenkbändern u. dergl.
— oft auf kleinere Bezirke, wo die Gewebe weniger widerstandsfähig
sind, beschränkt und kann es hier zu wirklichen kleinen Zerreissungen
kommen. Kleine Blutergüsse fehlen an diesen Stellen nicht.
Die Erscheinungen der Dehnung und Zerrung sind Schmerz
und Functionsstörung. Der Schmerz ist häufig auf die Stelle der
Dehnung loealisirt (ähnlich dem loealisirten Schmerz bei Knochen-
brüchen). Ebenso ist die Schwellung, die übrigens nicht inmier vor-
handen zu sein braucht, oft eine örtlich beschränkte.
92 J^I- Oa]jitel. — Verletzungen.
Bei der Behandlung- steht obenan die Massage, daneben tragen
Friessnitz' sähe Umschläge, Einreibungen mit »Salben u. dergl. einiges
zur Beschleunigung der Heilung bei. Meist gelingt es in wenig Tagen,
die Folgen der Dehnung und Zerrung zu beseitigen. Doch können ge-
zerrte Muskeln dauernd eine gewisse functionelle Schwäche behalten
und überdehnte Gelenkbänder schlaff bleiben. Auch hier ist Massage,
energisch und consequent durchgeführt, besser als Schonung (durch
umgelegte Binden, "Wasserglas- und Gypsverbändej.
Besonders leicht werden Narben gedehnt (Bauchbrüche nach Bauchschnitten).
Bei der Zerreissung kommt es zu makroskopischen Zusammen-
hangstrennungen. — Bald ist es eine äussere Gewalt, welche die Ge-
webe zerreisst , wenn ein Arm , die Hand von einer Maschine erfasst
wird, oder es ist eine energische Muskelzusammenziehung, welche die
Zerreissung bewirkt. Die Trennung erfolgt an der Stelle geringsten
Widerstandes.
Bei annähernd gleicher Zugvvirkung erfolgt die Trennung nicht immer an derselben
Stelle. So kann eine sehr energische Zusammenziehung des M. quadriceps femoris erzeugen :
eine Ablösung der Tuberositas tibiae in der Knorpelfuge bei jugendlichen Individuen :
eine Zerreissung des Lig. patellae oder einen queren Bruch der Kniescheibe, schliesslich
kann auch der Quadriceps selbst an der Stelle , wo er über dem Knie anfängt sehnig
zu werden, zerreissen. Besonders leicht reissen schon vorher kranke und weniger ■wider-
standsfähige Partien — entzündete Muskeln oder Sehnen (siehe Trommlerlähmung).
Die Gewebe sind äusserem Zug gegenüber sehr verschieden wider-
standsfähig. An einem abgerissenen Arm bleiben oft noch Brücken
von Haut, dann Nervenstränge und Gefässe erhalten, Muskeln, Bänder,
Fa seien dagegen sind glatt durchrissen. Nicht selten wird ein Theil,
z. B. ein Finger, ganz ausgerissen. Die Beugesehne bleibt dann fast aus-
nahmslos mit dem abgelösten Finger in Verbindung ; sie reisst am Ueber-
gang in die Muskelsubstanz ab. An der Stelle einer Zerreissung zeigt
sich meist eine unregelmässige, zackige Trennungslinie, in welche ein
grösserer oder kleinerer Bluterguss eng eingefilzt ist. In denselben ein-
geschlossen sind halb abgerissene Gewebsfetzen. Auch jenseits der
Trennungsstelle sind die Gewebe nicht normal, sondern zeigen die bei
der Dehnung beschriebenen Veränderungen. Die Heilungsvorgänge bei
Zerreissungen sind ganz dieselben, wie bei der Heilung von Schnitt-
wunden oder Substanzverlusten (siehe Organisation des Bkitgerinnsels
und Regeneration).
Die Stelle des Risses ist z. B. an Muskeln und Sehnen zu fühlen
und zu sehen; anfangs als weiche Vorwölbung, die durch den Blut-
erguss bedingt ist, später, wenn dieser geschwunden ist, fühlt man die
Lücke. Dazu kommt noch als zweites Hilfsmittel der Diagnose der
Ausfall der Function bei Muskeln , Sehnen , Nerven (motorische und
sensible Lähmung); das Schlottern von Gelenken in bestimmter Rich-
tung, wenn das fixirende Band zerrissen; die Circulationsstörungen bei
Gefässzerreissung (siehe Blutung).
Der Bluterguss ist durch Massiren zu entfernen und die Auf-
saugung desselben durch feuchtwarme Umschläge zu beschleunigen.
Dann sind die Stümpfe möglichst anzunähern. Gelingt dies nicht durch
Verbände, so sind die Theile durch die Naht zu vereinigen, am besten
wenn die schwerste Störung in den Geweben abgelaufen ist, d. h. nach
1 — 2 Wochen. Die Gefahren einer Störung der Wundheilung sind
dann nicht mehr so gross.
Zerreissuag. Quetscliung. 93
Bei der Besiirechiing der Quetschwunden gehen wir auf die fast
ganz gleiche Behandhing der Risswunden ein.
Quetschung (Contusio) entsteht durch Druckkräfte. Eine
stumpfe , durch ihre flache Oberfläche zum Eindringen in den Körper
wenig geeignete Gewalt drückt die Gewebe zwischen zwei unnach-
giebigen Flächen zusammen, bis sie seitlich ausweichen und so zer-
sprengt und zerrissen werden. Gussenbauer definirt die Quetschung
als „Zerreissung durch Druck". Doch handelt es sich auch um un-
mittelbare Zerdrückung der Gewebe,
Höhere Grade der Quetschung sind die Zerquetschung, Zer-
trümmerung und Zermalrauug.
Wo eine Qiietschung erfolgt ist, finden sich, die Gewebe in den verscliiedensten
Arten und Graden mechanischer Beschädigung. Zerrissenes, gequollenes, blutig infil-
trirtes Bindegewebe ; auseinandergerissene , in Schollen zerfallene Muskelfasern , zum
Theil in-, zum Theil ausserhalb ihrer Sarcolemmaschläuche ; zerdrücktes , zu Tropfen
zusammengeflossenes Fett und all dies durchtränkt und gefärbt mit Blut , das theils
noch intacte rothe Blutkörperchen enthält, zum Theil sind auch diese aufgelöst und
der Blutfarbstoft' imbibirt sich ditfus in die Gewebe. Natürlich sind diese Veränderungen
in verschiedenem Grade ausgesprochen , von einer einfachen Durchsetzung eines sonst
fast normal scheinenden Gewebes mit rothen Blutkörperchen und ödematöser Durcli-
tränknng (Quetschung leichtester Art) oder Beule (Sugillation) , bis zu völliger Zer-
mnlmung, wo die Gewebe aufgegangen sind in einem blutigen schmierigen Brei.
Neben der Quetschung der unmittelbar getroffenen Stelle können
Zerreissungen, Abreissungen, Abwälzungen, Abdrehungen benachbarter
Theile vorhanden sein.
Schwellung, Schmerz und Verfärbung der Haut durch aus-
getretenes Blut bezeichnen die Stelle der Quetschung. Dazu kommt
noch die Functionsstörung durch den Schmerz und durch die Zer-
trümmerung der Gewebe. So lange das Blut in den tiefen Schichten
sitzt, verfärbt sich die Haut nicht. Man hat dann nur die Schwellung.
Für die Schwellung durch Blutung ist die rasche Entstehung , binnen
einiger Stunden , charakteristisch gegenüber der im Laufe von Tagen
sich entwickelnden entzündlichen Schwellung. Die Schwellung fühlt sich
teigig ödematös an, und nicht selten hat man bei dem Zerdrücken oder
Verschieben von Blutgerinnseln das Gefühl eines weichen Knisterns,
eines leichten Crepitirens (Schneeballknirschen). Der Schmerz ist bei
Quetschungen meist das Gefühl dumpfer Spannung gegenüber den leb-
haft klopfenden und bohrenden Entzündungsschmerzen.
Erst wenn das Blut — bei tief liegenden Blutergüssen , z. B. Verrenkungen oft
erst nach Tagen — bis auf eine Strecke von IVa— 1 Mm. an die Oberfläche heran-
gekommen ist, entwickelt sich jenes bekannte Farbenspiel, jenes Durcheinander
von Braun und Blau, Gelb und Grün. Die Farbennüance beruht nicht, wie man bis-
her annahm, auf Umwandlung des Blutfarbstoffes zu den Pigmenten Bilirubin , -verdin
u. dergl., sondern hängt ab von der Lage der färbenden Schicht. Je tiefer das Blut
und je massiger der Erguss, um so mehr erscheint die Färbung blau ; je oberflächlicher,
um so mehr tritt Gelb und Eoth hervor. Ob arterielles Blut oder venöses, ist ziemlich
gleichgiltig; doch sollen arterielle Blutungen mehr roth färben. Die in's Gewebe aus-
getretenen rotlien Blutkörjjercheii können lange ziemlich wohl erhalten bleiben; später
geben sie bei erhaltener Form den Farbstofl' durch Auslaugung ab (Schatten), oder
zerfallen bröcklig unter Bildung von Pigmentschollen. Der anfangs diflus in den
Geweben vi'rtheiltc Farbstoff" kann nachher in Gestalt von l'igmentkörnchen ausfallen.
Bei der Färbung der Haut sind vorwiegend Farbstoff' und Pigment, viel weniger noch
t'rhaltene rothe Blutkörperchen liethfiligt. Aneh für die Blutergüsse in der Conjnnctiva
gilt dasselbe (Eschtveilety.
94 lli. (!u|)itel. — VerlctzuiiKfjri.
Die Jicsorption des in die Gewebe ergossenen Blutes erfolgt
hauptsächlich durch die Lyniphgefässe. Die rothen Blutkörperchen werden
zum Theil mit erhaltener Form von weissen Blutkörperchen aufgenommen,
zum Theil zerfallen sie und ihre Trümmer werden weggespült. Die
Lymphdrüsen zeigen sich bald stark mit Pigment durchsetzt. Während
der Resorption grösserer Blutergüsse kommt es oft zu leichten Fieber-
steigerungen — 39*^ (Aufnahme von Fibrinferment in die Circulation ?j.
Früher war die Behandlung der Quetschungen eine zu-
wartende. Bei starken Schmerzen Eis, sonst Umschläge mit Aqua
plumbi oder Priessnifz'sche Umschläge , auch Ueberschläge mit Franz-
branntwein (Spirit. vin. Gallici) oder eine Einreibung mit flüchtigem
Liniment (Ol. olivarum 4, Liquor Ammonii caustici 1), Spiritus campho-
ratus oder saponatus oder beide zusammen. Eine kunstgerechte Ein-
wicklung von der Peripherie nach dem Centrum, mit Flanellbinden.
Leinenbinden oder gewobenen elastischen Binden kommt hinzu. Bei
unbedeutenden Quetschungen mag dies genügen. — Ist der Bluterguss
gross, so kommt es zur Bildung von grossen Gerinnseln. Unter Aus-
laugung des Blutfarbstoffes verwandelt sich das Gerinnsel in eine
krümliche Masse von der Farbe dünner Choeolade und der Consistenz
eines trockenen bröckligen Käses. In dasselbe w^achsen nun Binde-
gewebe und junge Gefässe in der pag. 15 geschilderten Weise hinein
und schliesslich hat man dann eine massige Neubildung und derbe
Schwiele , die sich im Laufe der Jahre vielleicht wieder zurückbilden
kann. Während dieser ganzen Zeit sind aber die Patienten von Be-
schwerden nicht frei, sie leiden an Steifigkeit von Muskeln und Gelenken,
Muskelschwäche u. s. w. Knochenquetschungen, wie das Kephalhämatom
der Neugeborenen, können sogar zu Knochenauswüchsen Anlass geben.
Dass die regenerativen Vorgänge in Muskeln u. dergl. durch das Zwischeu-
schieben eines solchen derben Gerinnsels gestört, selbst ganz aufge-
halten werden können, ist ohne Weiteres klar (siehe pag. 83). — Ist
der Bluterguss sehr gross und das Gewebe ganz zertrümmert, so kommt es
überhaupt nicht zu einer völligen Durchwachsung des Ergusses mit Binde-
gewebe und Gefässen. Dann wird der Erguss durch eine bindegewebige
schwielige Kapsel abgekapselt, es entsteht eine Blutgeschwulst,
ein Hämatom, eine rundliche, derbschwielige Geschwulst, welche
über gänseeigross sein kann (siehe bei Blutung). Diese Geschwulst
bleibt ganz stationär oder verkleinert sich nur sehr langsam im
Laufe der Jahre. Natürlich stört ein solches Hämatom den Träger
erheblich.
Zu diesen lästigen Veränderungen, welche im Gefolge schwerer
Quetschungen sich einstellen können , darf es der Arzt nicht kommen
lassen. Das Blut muss weg, ehe es zur Organisation, zur Bildung von
Schwielen und Hämatomen kommt; das beste Mittel hiezu ist die Massage
(vergl. unten). Das Massiren muss gerade bei Quetschungen zart und
auf Grund exacter Diagnose ausgeführt werden. So soll z. B. bei Zer-
reissung eines Streifens des Seitenbandes am Fussgelenk (Lig. deltoides)
die Massage genau auf diesen Punkt concentrirt werden. Die Heilung
dauert dann oft nur eben so viel Tage, als früher Wochen, und der endliche
Erfolg ist ein viel vollkommener als bei der zuwartenden Behandlung.
Nur sehr selten kann es sich empfehlen, Blutergüsse in gequetschten
Weichtheilen auf operativem Wege zu entfernen. Function mit einem
(-iuetscliwundeii. 95
Troicavt oder Einschneiden und Ausräumen der Coag-ula kann höchstens
mitunter bei Blutergüssen in Gelenke angezeigt sein.
Sind bei einer Quetschung auch die äusseren Decken getrennt,
so hat man eine Quetschwunde. Bei den Quetschwunden fehlen die
glatten reinen Ränder der Schnittwunden; die Wunde zeigt in Grund
und Räudern zertrümmerte, blutig durchtränkte Gewebsfetzen Quetsch-
wunden bluten wenig, auch wenn grosse Gefässe vom Caliber einer
Radialis , selbst einer Axillaris verletzt sind. Die Arterie wird durch
die Quetschung zusammengedrückt und oft förmlich zugedreht. Auch
der Schmerz ist gewöhnlich ein massiger, dumpfer. Quetschwunden
eignen sich wegen ihrer necrotischen Ränder sehr schlecht zur Prima
ilitentio. Ist nur wenig zerquetscht, so ist eine Heilung unter dem
Blutschorf oder unter dem trockenen Schorf möglich und die necro-
tischen Partien werden resorbirt. Meist aber konnnt es zur Gi'anu-
lationsbildnng und diese löst dann den mechanischen Zusammenhang
zwischen den todten Fetzen und dem lebenden Gewebe — demar-
kirende Granulation. Dies dauert natürlich lange Zeit. Bei zer-
quetschten Fascien , Sehnen kann es oft mehrere Wochen dauern , bis
sie sich abstossen.
Auch sonst bieten die Quetschwunden der Heilung keine günstigen
Chancen. Die mit Blut durchsetzten, halb oder ganz ertödteten Ge-
webe sind ein äusserst günstiger Boden für die EntAvicklung von Mikro-
organismen. Zudem sind die Quetschwunden meist schon bei der Ent-
stehung verunreinigt (Maschinenschmutz, Erde, Strassenstaub u. s. w.).
So sind denn gequetschte Wunden von Alters her übelberüchtigt wegen ihrer
häutigen , schweren Complicationen. Und es sind nicht blos die un-
mittelbaren Wirkungen schwerer Quetschungen auf den Gesaninit-
organismus, Gehirnerschütterung, Shock u. dergl., namentlich sind es die
furchtbaren Eiterungen und Jauchungen oder die ' schweren , stürmisch
verlaufenden fäulnissartigen Processe, welche sich in solchen Wunden
abspielen (Verletzungen durch grobes Geschütz).
Es gilt daher als erster Grundsatz für die Behandlung der
QuetschM'unden: Ausschluss der Infection.
Nach gründlichster Reinigung der Wunde und ihrer lJmgc1)ung
(Rasiren . Reinigen mit Seife , Schwefeläther , antiseptischer Lösung)
wird die Wunde selbst mit antiseptischer Lösung ausgewaschen . alle
Fremdkörper . Blutgerinnsel auf"s Sorgfältigste entfernt. Ist der Sub-
stanzverlust nicht gross, so schneidet man alles Ge(iuetsclite. das
meist durch Blut blau oder schwarz verfärbt , sugillirt erscheint . mit
Scheere und Pincette fort, die gequetschten Wundränder werden ab-
getragen , die Blutung gestillt und die Wunde durch Nähte vereinigt,
in die Fk-ken kommen Drainröhren , Avelche das Wundsecret ableiten.
Ist die völlige Aneinanderfügung der Wundränder nicht möglich . so
kann man sie wenigstens durch Nähte annähern („Situationsnähte'')
und die Heilung- etwas abkürzen, üeber das Ganze konnnt ein
antiseptischer Deckverband. Ist eine Excision des Gequetschten und
Vereinigung der Wunde nicht viJllig möglich , so behandelt man die
Wunde nach ebenso gründlicher Reinigung offen (siehe Wuiulbehand-
lung). Die Heilung dauert natürlich dann länger.
Bei schweren Quetschungen ist namentlich die eine Frage
oft sehr schwer zu l)eantworten: Wie weit sind die Gewebe durch die
9f5 IJi- Capitel. — Verletzungen.
Verletzung' ertüdtet, wie weit kiiiinen sie sich noch erliolen oder nicht?
Sorgfältige Prüfung der Circulation mit dem Fingerdrnck , Einstiche
oder kleine Schnitte, um die Sensibilität und die Intensität der Blutung
festzustellen (vergl. pag. 8 und pag. 5j, sind für die Diagnose wichtig.
Wo keine wirkliche Blutung aus kleinen Einschnitten erfolgt , ist der
Tlieil verloren. Eine Amputation darf nur in wirklich lebenden.
d. h. blutenden Theilen gemacht werden. Die Farbe gequetschter
Theile ist keineswegs charakteristisch; selbst bei schwersten Quet-
schungen ist die Haut unmittelbar nach der Verletzung zunächst nur
wenig verändert.
Gelingt es nicht, die Infection mit Mikroorganismen bei au.s-
gedehnten Quetschungen, z. B. Ueberfahrungen . auszuschliessen, so
gehen Eiterung und Zersetzung in den halbtodten Geweben rapid vor
sich. Der Grund der Wunde verwandelt sich in grünliche, schmierige,
stinkende Massen. In Muskelinterstitien . in Sehnenscheiden geht die
Jaucliung rasch vorwärts , es kommt zu Eiterverhaltungen und Eiter-
senkungen. Dazu kommt noch die Gefahr der Nachblutungen bei ver-
eiterten Quetschungen (Arrosion der Gefässwände). Dabei wird das
Befinden des Kranken rasch ein sehr schlechtes; er bekommt hohes
Fieber (39— 40^); der Puls wird frequent; Appetit und Schlaf sind
schlecht; von Tag zu Tag wird der Kranke elender und kraftloser.
Hier kann nur noch ein rasches Eingreifen Piettung bringen. Tiefe,
lauge Incisiouen legen die Jaucheherde und Eiterreteutiouen frei; das
Secret ist durch lange, fingerdicke, gefensterte Gummiröhreu abzuleiten.
Mau darf mit dem Forschen nach Eiterverhaltungen oder Eitersenkungen
nicht nachlassen, bis die Temperatur normal geworden ist und nirgends
mehr Schwellung, Röthung und Sehmerzhaftigkeit nachzuweisen ist.
Feuchte antiseptische Umschläge (Solutio Hydrarg. bichlor. 1:2—5000,
Sohlt. Ac. salicyl. borici l'0 : 6"0 : 300"0u. dergl.) sind zweckmässig, ebenso
kann es mitunter vortheilhaft sein, die Wunden beständig mit kräftig
wirkenden antiseptischen Lösungen berieseln oder durchspülen zu lassen
(Irrigation). LiJsimgeu von essigsaurer Thonerde 2'' ,;, und besonders
Chlorwasser eignen sich hiezu (siehe Wundbehandlung).
In seltenen Fällen können auch permanente Bäder angezeigt sein,
worin man bald den ganzen Körper oder nur einzelne Theile (Arm,
Fuss) eintaucht (permanentes Voll- und Halbbadj. Der Zusatz von
Antisepticis (Salicylsäure . Borsäure u. dergl.) ist weniger wesentlich,
als häufiger Wechsel des Badewassers und richtige Temperatur des-
selben (36—380 c.).
Kommt bei ausgedehnten schweren Zerquetschungen , Ueberfah-
rungen u. dergl. die Amputation in Frage, so handelt es sich nicht
nur darum, wo amputirt werden soll, d. h. wie weit die Gewebe noch
lebensfähig sind (siehe oben), sondern auch wann. Ist nicht dringende
Anzeige zur sofortigen Vornahme der Operation gegeben (Blutung!), so
wartet man oft besser, bis die schwere Allgemeinwirkung der Verletzung,
der Shock (siehe dieses) vorüber, der Puls wieder annähernd normal ist
u. s. w. Ein guter Antiseptiker. der die Infection sicher vermeiden kann,
mag auch örtlich noch Manches erhalten . wo man unter ungünstigen
äusseren Verhältnissen (Schlachtfeld. Landpraxis) amputiren muss.
Besondere Sorgfalt erheischt die Beurtheilung von Quetschungen
innerer Organe, Darm. Blase, Lunge, Gehirn.
Decollement. — Eisswunden. 97
Diese Verletzungen erscheinen oft auf den ersten Blick ganz harmlos. Erst nach
1 — 2 Tagen zeigt sich die Gangrän des Darmes und eine tödtliche Perforationsperitonitis,
eine schwere traumatische Lungenentzündung u. s. w.
Besonders schwierig ist die Beurtbeilimg von Zermalmung-en,
Ueberfahrung-en , Verletzungen, welche durch eine mit breiter Fläche
einwirkende stumpfe Gewalt entstanden sind.
So erinnere ich mich eines Falles , wo durch einen vor üb er streif enden Wagen
die ganze Haut eines Beines von der Fascie förmlich abgewalzt war , ohne erheb-
liche Hautwunde. Die Haut erschien nur wenig verändert, etwas bläulich verfärbt,
kühl, schlaff und auffallend verschieblich. Die Prüfung der Empfindlichkeit ergab
wegen der Apathie des Verletzten kein sicheres Eesultat , kleine Einschnitte lieferten
nur wenig dunkles Blut; Puls nirgends zu fühlen. Der Versuch, im Unterschenkel, im
unteren Drittel des Oberschenkels zu amputiren , musste aufgegeben werden, weil die
Haut ganz von ihrer Unterlage gelöst war. Auch bei der schliesslich vorgenommenen
Amputation im oberen Drittel des Oberschenkels zeigte sich die Haut nur wenig besser.
In dem abgenommenen Glied waren Muskeln, Knochen, Nerven, von unbedeutenden
Blutergüssen abgesehen, normal; die Haut jedoch überall total von der Unterlage abge-
löst und ein Bluterguss zwischen Haut und Fascie. Die Haut war durchwegs nekrotisch.
Die Gefässe waren ganz leer. Der Unglückliche erholte sich nicht wieder, sondern starb
am folgenden Tage; auch über dem Stumpf war die Haut mittlerweile brandig geworden.
Trifft eine Gewalt annähernd tangential den Körper , so wird die Haut von der
Fascie^oberflächliches D.) öder Haut und Fascie von (icm unterliegenden Theil abge-
hoben, abgewalzt (tiefes D.), D e c ollem e n_t,^raunuitii|Ui' ( MoreI-LavaUee)(
Köhler, Deutsche Zeitschr. f. CÜiir.. Bd. 3^.'^Ma]ihat dann (oft erst nach emipT-
bem erkbaij^'nen schlotternden Sack, dessen Decke kaum oder nicht blutig sutfundirt,
nicht geröthet, höchstens etwas ödematös und kaum schmerzhaft ist. Crepitiren, Schneeball-
knirschen , wie bei Blutergüssen , fehlt , man hat rings einen etwas härteren Wall , in
dessen Innerem weiche, schwappende Fluctuation. Die Flüssigkeit zeigt Lagewechsel.
Beim Anhauchen der Haut bildet sich eine centrale Delle. Vom Abscess unterscheidet
sich die AnschAvelluug durch den Mangel aller entzündlichen Erscheinungen. Diese
schwappende Beule hält kein Blut , sondern gelbe oder etwas röthliche , schlecht ge-
rinnende Lymphe (Piincfion !). Es ist ein Lymphextr avasat (fälschlich Lymph-
abscess genannt, Beincll). — Bei Compressionsverband, .lodanstrich , verschwindet das
Decollement im Laufe von Wochen. In hartnäckigen Fällen kann Entleerung durch
Function mit folgender Injection von einigen Cubikeentimetern Jodtiuctur, die man nach
einigen Minuten durch die Canüle wieder austreten lässt, angezeigt sein. Auch Incision
und Auswaschung mit 3— 57oigei' CarboUösung sind empfohlen. Kommt es zur Gangrän
der Haut, so ist Hauttransplantation zu machen.
Bei den Risswunden werden durch eine stumpf einwirkende
Gewalt die Gewebe gedehnt und unter Ueberwindung ihrer Festigkeit
und Elasticität der Zusammenhang derselben aufgehoben. Es sind
Continuitätstrennungen mit unregelmässigen Trennungslinien. — Die
Quetschung und dementsi)rechend die Nekrose kann dabei eine gering-
fügige sein. Reine Risswunden eignen sich deshalb oft ganz wohl zur
ersten Vereinigung, namentlich wenn man die Wundränder noch glatt
schneidet. So kann man bei ausgerissenen Fingern meist ohne Mühe
die Wundränder zur Naht zusammenfügen und eine prima reunio er-
zielen. Ist bedeutendere Quetschung mit dabei, so hat man eine Riss-
quetschwunde. Beurtheilung und Behandlung sind genau wie bei
Quetschwunden.
Di'- Eigenschaft gequetschter Wunden, wenig oder gar nicht zu bluten, gab An-
lass zur Erfindung eigener Instrumente, mit denen Theile , besonders sehr blutreiche
gestielte Gesehwülste , abgequetscht wurden. Der P'craseur von Cliassaignar besteht
aus einer Kette von Gliedern , weiche in eine Zahnstange eingreifen und so allmählich
zum Anziehen und Dureliquetschen gebracht werden. Der Constricteur von Mriis-so/ieurc
wirkt durch alhnäliliches .\nzii'hen einer Schlinge aus Eisendraht (s. Instrumentenh.'hre).
Der Schutz gegen Blutung, namentlich gegen Spätbliitungeii , ist unsicher, ebi-iisowi'nig
schützt das Ecrasemeiit gegen Infection , wie beluinptet wurde, und so werden die.se
Instrumente zur Zeit wenig benützt.
Landerer, Allg. chir. Pathologie «.Therapie. 2. Aull. 7
98 I^^- Cajiitel. — Verletzungen.
Biss wunden sind Rissquetschwunden. Meist sind sie durch die den Zähnen
entsprechende Stellung der Wunden ausgezeichnet. Sie bluten Avenig. Nur ein kleiner
Theil heilt jjer primam intentionem , denn gewöhnlich sind die Zähne der Beissenden
mit Infectionskeimen so beladen , dass die Wunde damit förmlich geimpft wird. Am
ehesten heilen noch Bisse von Hunden u. dergl., wenn die Bisse an von Kleidern ge-
deckten Stellen sitzen und die Zähne vorher gewissemiassen abgeputzt sind. Bisse von
Menschen an Händen, im G-esicht, heilen fast nie per primam intentionem. Weitaus
am schlimmsten sind Pferdebisse. Ein Pferd kann die Knochen des Vorderarmes quer
durchbeissen ; dann sind stets so abscheuliche Quetschungen dabei, dass Weichtheile und
Kuoclien auf weite Strecken absterben und langdauernde lüterungen fast unvermeidlich sind.
Bisswunden sind als verunreinigte Wunden zu behandeln. Neben energischer
Reinigung ist in erster Linie der freie Abfluss der Wundflüssigkeiten, erst in zweiter
Linie die Vereinigung der Wundränder anzustreben. Feuclite antiseptische Umschläge
sind die zweckmässigste Behandlung.
Bei Schlangenbissen , Bissen durcli toUwüthige Thiere ist die Uebertragung des
Giftes die Hauptsache und werden wir diese daher gesondert besprechen.
Blutung und Blutstillung.
Arterielle, venöse und capilläre Blutungen. — Ursachen der Blutungen: Blutungen
bei Verletzungen, aus Abscessen, Neubildungen. Nachblutungen; spontane Blu-
tungen. — Hämophilie und hämorrhagische Diathese. — Blutstillung. — Unter-
bindung. — Der definitive Verschluss des Blutgefässes und die Bildung der
Gefässnarbe. — Andere Blutstillungsmittel: Compression, Styptica, Kälte, heisses
Wasser. — Venöse Blutungen. — Lufteintritt in die Venen. — Blutersparung.
— Esmarch'sche Blutleere.
Die Verblutung. — Klinisches und Experimentelles. — Behandlung der Ver-
blutung. — Analeptica. — Transfusion und Infusion. — Aderlass und örtliche
Blutentziehung.
Lymphorrhagie und Lymphabscess.
Wir unterscheiden arterielle, venöse und capilläre (paren-
cliymatöse) Blutungen (vergl. pag. 66).
Die arteriellen Blutungen erkennt man an dem im Bogen aus der
Wunde hervorschiessendeu hellrothen Blutstrahl, dem „Spritzen". Bei
unregelmässigen buchtigen Wunden oder Stichwunden kann jedoch ein
Gerinnsel auch bei Arterienverletzungen die Gefässwunde vorübergehend
schliessen. In dem Augenblick , wo man den Kranken sieht , steht
vielleicht die Blutung; kaum hat man den Rücken gewendet, so kann
eine ungeschickte Bewegung das Gerinnsel lösen und der Kranke ver-
blutet, ehe wieder Hilfe zur Hand ist. Das einzig correcte Verfahren
ist, blutende Wunden — von Stichwunden abgesehen — so zu reinigen,
nöthigenfalls zu erweitern, dass keine Gerinnsel zurückbleiben. Man
muss die Wunde völlig übersehen und die Quelle der Blutung erkennen
können.
Innere Blutungen, wo das Blut in eine seröse Höhle, Pleura,
Peritoneum oder in den Darmcanal, die Harnwege fliesst, lassen sich
nur aus den später mitgetheilten Symptomen der Verblutung erkennen.
Ebenso kann es Schwierigkeiten machen; die Zerreissung oder die
Verletzung eines grösseren Gefässes , z. B. der Arteria poplitea. zu
erkennen, wenn keine Wunde da ist oder durch die enge Stichöffnung
Blut nicht austritt. Es ist dann der Puls unterhalb der verletzten
Stelle schwächer, zugleich hört man, so lange die Stichöffuung in der
Arterie nicht durch ein Gerinnsel verstopft ist, ein systolisches Blasen
oder Rauschen längs der Arterie. Ist die Arterie völlig durchtrennt,
die Continuität des Blutstromes überhaupt aufgehoben, so fehlt jedes
Geräusch und natürlich auch der Puls (v.Wahl).
Blutung. — Hämorrhagische Diathese. 99
Am häufigsten sind die Blutungen traumatische (Verletzungen
durch scharfe Instrumente, Messer, Säbel und dergleichen). Bei Ver-
letzungen durch stumpfe Gewalt, Quetschungen , Bisswunden , ebenso
bei Schussverletzungeu kommt es seltener zu schweren Blutungen.
In Abscessen kann die Gefässwand durch Mikroorganismen, Fremd-
körper (Projectile, Knochensplitter) erweicht, „usurirt" und schliesslich
durchlöchert werden — Abscessblutungen. Dies kommt besonders in
chronischen (tuberculösen), nicht aseptisch gehaltenen und in pyämischen
Abscessen vor. Hieher gehören auch die berüchtigten Nachblutungen
bei der Eiter- und Blutvergiftung (Pyämie und Septicämie). Sonst bleiben
Arterien und Venen in grossen Abscessen meist intact , weil sich
ihre Wand durch entzündliche Wucherung verdickt. Die Ursache der
hartnäckigen und oft wiederkehrenden Blutungen aus Neubildungen
scheint ungenügende Festigkeit der Gefässwände. der „embryonale"
Charakter derselben zu sein. Sie sind bald mehr parenchymatös, doch
kommen auch schwere arterielle Blutungen aus Krebsen vor , die das
plötzliche Ende dieser furchtbaren Leiden herbeiführen.
Bei Gefässerweiterungen — allgemeinen und örtlichen — ist
der Ausdehnung des Gefässes entsprechend , die Wand verdünnt und
weniger widerstandsfähig gegen den Blutdruck — • bei Arterienatherom,
örtlichen Arterienerweiterungen (Aneurysmen), Venenerweiterungeu (Phle-
bectasien).
Bei den spontanen Blutungen scheint ein genügender äusserer
Anlass zur Verletzung des Gefässes zunächst zu fehlen. Ihre Ursache
ist in abnormer Brüchigkeit der Gefässe zu suchen. Diese Vermin-
derung in der Festigkeit der Gefässwand kann in örtlicher oder all-
gemeiner Erkrankung begründet sein.
Bezeichnend für die hämorrhagische Diathese ist die erhöhte
Disposition zu Blutungen und die mangelnde Neigung zum Verschluss
der Blutgefässe. Angeboren ist die Hämophilie oder Bluter-
krankheit.
lu gewissen Bluterfamilien erblich, wird sie hauptsächlich durch die Mutter auf
die Söhne übertragen, ein Theil der Familienmitglieder, besonders weiblichen Geschlechtes,
bleibt frei, kann aber die Krankheit vererben. Auf die geringfügigste Veranlassung hin
erfolgen andauernde Blutungen nach aussen und in die Gewebe. Jede Entzündung
zeigt hämorrhagischen Charakter. — Zahnfleischblutungen, Darmblutungen, wochenlange
Blutungen aus kleinen Schnitt-, Eiss- und Quetschwunden bringen die Kranken auf's
Aeusserste herunter; doch steht dann die Blutung manchmal von selbst und auffallend
schnell sind die Kranken wieder gesund und blühend. Eigentliümlich ist das häufige
Vorkommen von Gelenkaft'ectionen , die in Blutungen in's Gelenk bestehen und meist
zur Verödung desselben führen, ebenso habe ich umfangreiche Blutungen in die Muskeln
mit folgendem Schwund derselben gesehen. Hämophilen gelangen selten ül)er die Pubertäts-
jahre hinaus; dann kann die hämorrhagische Diathese allmählich zurücktreten. Operationen
bei Hämojihilen verlaufen fast ausnahmslos tödtlich. — Das Blut gerinnt bei Blutern
in ganz regelmässiger Weise; die Ursache ist wohl in den Gefässendotlielien zu suchen.
Bei Unterbindung stellt die Blutung für i-inige Tage , ebenso bei der Anwendung der
Styptica, des Glüheisens, um dann immer aufs Neue wieder loszubrechen, denn zum
definitiven Verschluss der Gefässe kommt es eben nicht oder nur schwer. Elevation
scheint nocli am wirksamsten zu sein.
Erworbener hämorrhagischer Diathese begegnen wir bei
der Leukämie . dem Scorbut , dem Morb. maeulosus . schwerem lang-
dauerndem Icterus, dann bei schweren Infectionskrankheiten. .septischer
BlutvcrgiCtung. Flecktyphus. Bocken, Test u. dergl. Auch bei Morbus
Addisoiiii halie ich äiinlichc Zufälle ii'esehen.
100
III. Capitel. — Verletzungen.
Die Blutung-en durch Diapedesc haben wir bei der Entzün-
dung schon erwähnt, die rothen Bhitkörperchen treten durcli die unver-
letzten Gefässe hindurch (Fig. 7, d). Manche eigenthiimliclie Jilutungen,
das Bhitschwitzen , Blutweinen u. dergl., mögen hierher gehören. Die
Veränderungen, welche die Gefässwände für rothe Blutkörperchen durch-
gängig werden lassen, sind unbekannt. (Vergl. pag. 27. j
Ergiesst sich das Blut nicht nach aussen oder in eine Körper-
höhle, so verbreitet es sich, wie bei der Quetschung, im benachbarten
Fig. 52. Gewebe. Ist es nicht zu massen-
haft , so wird es resorbirt oder
organisirt. Bei Verletzungen
grosser Gefässe kommt es zur
Bildung grosser Blutgeschwülste,
Hämatome.
Der oft über kindskopfgrosse
Blutklumpen ist zu gross , um ganz
von jungem Bindegewebe durchwachsen
zu wei-den. Die bindegewebige Neu-
bildung bleibt auf die Randpartien
beschränkt,, höchstens einige binde-
gewebige Septa ziehen nach dem Innern
herein. Die flüssigen Bestandtheile
werden resorbirt; ebenso wird das
Pigment bald grösstentheils ausgezogen.
Das Fibrin bleibt, als der am schwersten
lösliche Tlieil, zurück , als eine bröek-
liche , chocoladenfarbene , später gelb-
liche trockene Masse.
In Fig. 52 ist eine alte Blut-
geschwulst, 27,i Jahre, aus der Darm-
beingmbe eines Bluters dargestellt (nach
Virchoiv). Die bindegewebige Kapsel
enthält den in einzelne Bröckel zer-
fallenen Blutkucheu. Diese Massen
werden mit der Zeit immer trockener
und können schliesslich verkreiden und
verkalken. Im Innern von Geschwülsten,
z. B. Muskelgeschwülsten des Uterus,
Geschwülsten der Schilddrüse , finden
sich oft solche Reste alter Blutergüsse,
doch fehlt hier meist eine deutliche
Kapsel.
Der neugebildete Sack kann, bei seitlich verletzten Arterien, mit
dem Gefäss in offener Verbindung bleiben und es ist dann ein „trau-
matisches falsches Aneurysma" entstanden, in dem das Blut ganz
oder theilweise flüssig bleiben kann. Es bildet sich unmittelbar, d. h.
in Stunden nach der Verletzung eine rasch wachsende Geschwulst aus,
die meist pulsirt und häufig dem Puls synchronische blasende Geräusche
vernehmen lässt. Das traumatische Aneurysma bildet sich am häufigsten
nach Stich Verletzungen, wenn das Blut durch die enge äussere Wunde
nicht nach aussen sich entleeren kann.
Bei der Behandlung der Blutungen ist stets in erster Linie
zu erstreben die Verschliessung des Gefässes am Orte der Ver-
letzung, am besten durch Unterbindung. Ist das Gefäss ganz
durchschnitten, z. B. bei einer Amputation, so fasst man die spritzende
Stelle mit einer ^ö&er/e"schen Pince hemostatique (vergl. Fig. 53).
Unterbinduns
101
Schliesst man das Instrument durch die ineinander g-reifenden Haken
an den Griffen, so klemmt es die Arterie zu und die Blutung liört auf.
Man lässt die Pincette herabhängen oder von einem Assistenten
sanft \orziehen, dadurch tritt die Arterie, mit etwas adventitiellem Ge-
webe daran, etwas hervor und man legt um diesen kleinen Kegel einen
desinficirten Catgut- (Darmsaite) oder Seidenfaden (s. Wundbehandlung),
schlingt denselben einmal durch (Fig. 53), zieht ihn langsam, aber fest,
am besten mit auf den Faden festgesetzten Zeigefingern an und setzt
einen zweiten Knoten in gleicher Weise fest darauf. Dies ist der
„Schifferknoten". Schlingt man den Faden doppelt durch („chirur-
Fig. 53. Fig. 54.
gischer Knoten". Fig. 54), so würde dieser doppelte Knoten zur Noth
genügen , da er sich nicht leicht von selbst löst, doch ist es besser,
noch einen einfachen darauf zu setzen.
Ausser den mit einem Griffe zu schliessenden KöberU'schen Pin-
cetten sind nocli andere l'nterbindungsinstrumente im Gebrauch , zu-
nächst die Schieljcrpincetten, deren gebräiiclilichste , von Fricke
angegeben . von Langenbeck zweckmässig modificirt ist (Fig. 54). Sie
fassen breiter und erfordern mehr Uebung , weil zum Anlegen und
Schliessen zwei Ilandgrilfe iiötliig sind. Aehnlich gebaut, aber mit
sebr breitem Maul und daher namentlich für grosse Oetfnungen , z. B.
seitliche Kinri.^se in Arterien ddcr Wmich . passend, ist die />/V>r'sche
Artcriciipincctte (Fig. 5^). (lan/. spitz, mit zwei scharfen Zähnen, in
102
JJI. Capitel. — Verlctzungon.
welche ein gegenüberliegender Zahn der anderen Branche einspringt,
ist die Liston'aahG Artericnpincette. Sie fasst nur ganz kleine Gewebs-
theile und ist daher für kleine, schwer zu fassende Gefässe , z. li. die
Arterien der Kopfschwarte, geeignet. Eine Anzahl anderer gebräuch-
licher Arterienpincetten ist in Fig. 55 dargestellt (nach LöhJcer), a nach
Fricke, b nach Amussat , c nach v. Gräfe , d nach Charrüre. Fig. 56
gibt eine Arterienklemme nach Spencer WeUs\ Fig. 57 die von v. Berg-
mann gebrauchte Pincette.
Sind die Knoten geschürzt, so öffnet man die Pincette, zieht den
Faden leicht an , um zu prüfen , ob er fest sitzt und schneidet dann
die Fäden, 1-2 Mm. über dem Knoten, mit der Scheere kurz ab.
Soll die Unterbindung sicher wirken , so muss die Intima zerreissen
und sich nach dem Lumen hin zusammenkräuseln.
Fig. 55.
'«Bg'
Um nicht den Faden in der Wunde lassen zu müssen, dreht man
die gefasste Arterie mehrmals um ihre Längsachse, bis die Pincette ab-
reisst — Torsion — (Fig. 58, „freie" Torsion) und rollt so die Arterien-
wände zusammen, namentlich die Intima soll zusammengedreht werden.
Diese Art der Torsion eignet sich für kleine Haut- und Muskelarterien
ganz gut. Bei diesen genügt es meist schon, wenn man — im Beginn
der Operation — sie durch eine Arterienklemme schliesst. Nimmt man
diese nach 5—10 Minuten oder später ab, so steht auch die Blutung.
Bei der „begrenzten" Torsion (Ämussat) (Fig. 61) nach Löhker
fasst eine Pincette die vorgezogene Arterie quer und eine zweite Pin-
cette dreht das vorstehende Stück der Arterie so lange, bis sie ab-
reisst. Wenn auch if^rc^ocÄ (Chir. Centralbl., 1894, 27) die A. femoralis
160mal ohne Nachblutung torquirt hat, so halte ich doch für Arterien
von etwa der Stärke einer A. labialis aufwärts die Unterbindung für
das Normalverfahren.
Das Vorziehen der spritzenden Arterie mit dem Arterienhaken
(Fig. 59), um die Ligatur machen zu können, ist veraltet.
Unterbinduiigsinstrumente. — Torsion.
103
Nun bleiben aber, z. B. die Gescbwulstoperationen, Fälle genug,
wo die Arterie sich nicht genau isoliren und einzeln unterbinden lässt.
Fig. 56.
\^
Fig. 61.
liier lasst iiuiu zuuäcli.st mehr Gewebe mit und kann
(1,11111 \ icllcirlit iiocli mit breiten Schiebern {Liier, Fig. 58) beikonimen;
104
III. Capitel. — Verletzunj^en.
aber das Umlegen und Knoten des Fadens ist dann oft scliwer oder
unmöglich; man bindet die Pincette leicht mit ein, und wenn man diese
abnehmen will, gleitet auch der Faden ab.
Hier hilft oft die Umstechung der blutenden Stelle, indem
man mit gekrümmter scharfer Nadel die Gewebspartie umgeht , oder
wenn das Gewebe nicht zu straff ist, mit stumpfer Nadel (iJechanips'Hcher
Fig. Ö2.
Nadel, Aneurysmanadel), in deren Oehr ein Faden eingehängt ist, Fig. 60).
Man führt die Nadel in der Entfernung von Yo — 1 Centimeter um das
blutende Gefäss herum. Sehr zweckmässig macht man solche Um-
stechungen vor der Durchschneidung an schwer zugänglichen Stellen,
z. B. in der Tiefe des kleinen Beckens bei Operationen an der Gebär-
mutter, und zwar nach beiden Seiten hin. Man schneidet erst nachher
zwischen den Durchstichligaturen durch (Fig. 62).
Gelingt es wohl, die blutende Stelle mit der Arterienpincette zu
fassen , aber nicht einen Faden umzulegen , ist auch die Umstechung
Fig, es. nicht möglich , so lässt man die (vernickelten und
aseptischen!) Pincetten liegen. Besonders geeignet
sind hiezu ausser den Köberle sehen und Langenheck-
schen Pincetten die von Pean angegebenen Pinces
für Uterusexstirpation (vergrössertes Modell von
Fig. 56) oder die Zangen nach Pean-KöherU
(Fig. 63), wenn es sich um grössere Flächen handelt.
Kleine blutende Stellen werden mit der Charrüre-
schen Pincette (Fig. bbd) abgeklemmt. Nach 48
bis 72 Stunden können diese Pincetten ohne Gefahr
der Nachblutung — bei aseptischem Verlauf — ab-
genommen werden.
Die Acupressur (Fig. 64 nach Wolzendorff) und
die Acufilopressur (Fig. 65) sind veraltet, ebenso die per-
cutane Umstechnng nach Midäeldorpf, wobei die blutende Stelle
gegen eine auf der Haut liegende Heftpflasterrolle mit einem
von aussen her um die blutende Stelle herumgeführten Faden
angedrückt -wird.
Besonders schwer sind oft seitliche Wunden in Arterien und Venen
(durch Stichwunden, Ausreissung von Aesten aus dem Stamm) zu stillen. Wo es nicht
darauf ankommt, die Durchgängigkeit des Gefässes zu erhalten, wie dies bei den Scheukel-
und Acliselgefässen nöthig ist, durchschneidet man das Gefäss ganz und unterbindet in
gewöhnlicher Weise doppelt. Will oder kann man das nicht, so kann man bei seitlichen
Venenwunden die Wunde mit einer Arterienpincette fassen und diese müidestens 24
Stunden liegen lassen (seitliche Abklemmung). Oder man versucht, hinter der
Umstechuug. — Seitliche Gefässwundeii.
105
Pincette vorsiclitig eine Abbinduiig zu maclien — seitliche Ligatur, die aber nur
bei kleinen Löchern möglich ist {Braun, Langenbeck's Archiv, 28). Bei grossen Längs-
rissen kami mau au die Venennaht denken. Unter dem zuklemmendeu Finger oder
der Klemmpincette Avird mit Hagedorn' scheu oder drehrunden Nadeln und feinem Catgut
(oder Seide) eine fortlaufende Naht gelegt. Schede (LangenhecTc's Archiv, 43. Bd.) hat
so eiue Vena cava inf. mit Erhaltung des Lumens genäht. Sollte keines dieser Verfahren
möglich sein, so bliebe antiseptisehe Tamponade, eventuell mit Compression
{Küster, Niehergall, Deutsche Zeitschr. f. Chir., 33, Lit.).
P';l*ifP|i||
s,iiMiiilii5Wlfi
Jassinoivskg hat experimentell die Heilung seitlicher Arterienverletzungen dar-
gethan durch Arteriennaht, durch fortlaufende Naht von Adveutitia und Media
(lutima blieb frei) mit iVinsten. (CoujuuctivaJ-Nadehi xind Seide. Heidenhain hat eine
Art. axillaris mit iibfrwendliclfer fortlaufender Catgutnaht mit drehrunden Nadeln
Endothel gegen Endothel genäht. Nach der Naht ist 5 — 10 Minuten Compression uöthig.
Einfach und sicher ist das Liegeulasseu von Pinces (bei Venen 24, bei Arterien
48—72 Stunden).
In einzelnen Fällen greift man schliesslich, z. B. bei acteriellen
Blutungen aus tiefen, buchtigen Höhlen zur Unterbindung der zu-
führenden Hauptarterie fern von der blutenden Stelle, am „Orte der
Wahl", z. B. die A. femoralis in der Weiche bei Blutungen am Ober-
schenkel. Die Raschheit, mit der sich der Collateralkreislauf herstellt,
Fig. G6.
rückt die Möglichkeit einer Wiederkehr der Blutung, einer „Nach-
blutung" in bedenkliche Nähe.
irnterbindet man so ..in der Coutinuität", d. h. an einer Stelle,
wo das Gefäss nicht verletzt ist, so ist das Gefäss an den bekannten
Ligaturstcllcn aufzusuchen. Die Adventitia wird vorsichtig in einem
Kegel aufgchol)en . dieser in der Fig. 60 angegebenen Weise eröffnet,
die Arterie mit stuni])for Ilohlsonde vorsichtig isolirt, die Aneurysma-
106 ^J^I- Capitel. — Voictzuiigori.
nadel schonend lierumgeführt, die Arterie in einem Aljstand von ^2 ^>^^
2 Cm. zweimal mit ruhig und fest angezogenem Faden abgebunden und
I ^^, , _ in der Mitte durchschnitten (Fig. 67, nach Löh/cer).
Zur Ausführung der Ligatur bedient man sich da,
A wo es möglich ist, der Es mar cIi' nchen elastischen
I Abschnürung. (.Siehe unten.) Zweckmässig ist es,
' ehe man die Unterbindung am Orte der Wahl macht,
erst nochmals unter Esmarcli'naher Einwicklung den
Versuch zu machen , die blutende Stelle direct zu
unterbinden. Man darf sich vor grösseren Ein-
schnitten zur Freilegung nicht scheuen. Auch der
manuellen Compression und des Tourniquets
(siehe unten) kann man sich hiebei bedienen.
Wo die Blutung aus einem physiologisch werthlosen oder aus
einem zu entfernenden Theil, z. B. aus einer Geschwulst, erfolgt, ist oft
die elastische Ligatur sehr zweckmässig. Man umgeht mit einem
wohldesinficirten Gummischlauch die Basis des Theils (am besten mehr-
mals), zieht den Schlauch lang aus, so dass er sich stark spannt, presst
die Enden vorläufig mit einer Arterienzange zusammen , schlingt über
dieser zwei Knoten und entfernt die Zange wieder oder bindet die
Schlauchenden mit einem Seidenfaden fest zusammen. Elastische Liga-
turen können versenkt werden , namentlich in die Bauchhöhle. Oder
man nimmt den Schlauch wieder ab , nachdem man die blutenden
Flächen durch tiefgreifende, fest angezogene Nähte vereinigt hat, z. B.
bei der Exstirpation von Gebärmuttermyomen.
Eine exacte Vernähung der Wunde stillt gleichfalls Blutungen,
namentlich parenchymatöse und venöse. Besonders die versenkte Naht
(siehe Naht) ist hiezugeeignet. In Verbindung mit der Umstechung lässt sich
so eine gute Blutstillung erzielen. Für arterielle Blutungen genügt sie nicht.
Hat man im Augenblicke gar nichts zur Hand , so lassen sich
selbst schwere Blutungen durch forcirte Beugung im nächst oberen
Gelenke zum Stehen bringen, bei Blutungen am Bein, z. B. im Hüft-
gelenke (siehe Fig. 68). Bei Blutungen an der oberen Extremität
bindet man die Ellbogen auf dem Rücken zusammen (siehe Fig. 69)
und comprimirt so die A, subclavia zwischen Schlüsselbein und erster
Rippe. Bei Blutungen unterhalb des Knies sind Verbände nach Art
von Fig. 68 (wobei jedoch das Knie durch weitere Bindentouren spitz-
winklig gebeugt gegen den Oberschenkel anzubinden ist), und unterhalb
des Ellbogens nach Fig. 70 anzulegen. Diese Verbände sollen auch zur
definitiven Blutstillung verwendet werden können (v. Adelmann). Die
Stellung müsste aber hiezu 8 — 10 Tage lang (!) eingehalten werden.
Ausser den qualvollen Beschwerden sind Oedeme, Gelenksteifigkeiten,
selbst Brand peripherer Theile zu fürchten. Bis man Rath zu andern
Verfahren geschafft, ist die forcirte Beugung zur provisorischen Blut-
stillung zu empfehlen. — Ein sehr wirksames Blutstillungsmittel, be-
sonders für capilläre und venöse Blutungen (Krampfaderblutungen) ist
die vertieale Suspension, die auch eine Reihe von Tagen gut er-
tragen wird.
Ein wichtiges Blutstillungsmittel ist auch die Compression.
J. Wolff hat empfohlen , minutenlange Compression mit festen Gaze-
bauschen zur Stillung der Blutung auch bei grossen Operationen , wie
Mammaamputationen u. s. w., zu verwenden. Hier kommt zwar die
Forcirte Beug-ung. — Compression.
107
Blutung- aus kleineren Gef ässen zum Stehen , bei grösseren Arterien
(A. thoracica longa, Aa. perforantes, A. subscapularis ! !) ist die tempo-
räre Compression höchst unsicher, dagegen ist sie bei anderen
Operationen — Gaumennaht , Amputation des Penis , Exstirpation
blutreicher Tumoren u. s. w. — sehr werthvoll.
Nützlich ist oft auch der antiseptische Compressionsver-
band zur Stillung von Blutungen aus Geschwüren, Neubildungen u. dergl.
Auf die Wunde kommt zunächst ein anti- oder aseptischer Verband,
darauf werden Watte , Moos , Holzwatte , oder antiseptisch präparirte
Schwämme gepackt und mit einer ruhig und fest angezogenen elastischen
Binde befestigt. (In den peripheren Theilen darf keine Stauung sich
zeigen I)
Fig. 68.
Wo weder Unterbindung, noch antiseptische Tamponade mit Com-
pressionsverband etc. möglich sind, kann die dauernde Digitalcom-
pression noch helfen. So liess einst mein Lehrer V. v. ßrims eine
blutende Carotis, deren Loch zu tief sass, um unterbunden werden zu
können, 3 Wochen lang durch seine Klinicisten gegen den 6. Hals-
wirbel digital com])riniiren und die Blutung- stand.
Die blutstillende Wirkung der Kälte (Eisblase ist besser, als die
oft gewechselten Eiscompressen) ist unsicher. Wirksamer als kalte
Ausspülungen und Eiswassereinspritzungen sind bei Blutungen aus
Körperhöhlen , den weiblichen Genitalien , dem Mastdarm u. s. w., avo
man die l)lutende Stelle nicht zu Gesicht bekommen und mit Tampo-
nade auch nicht zukonnnon kann. Einspritzungen heissen Wassers von
40 — 4.')'^ C. (nicht /.u inx-rsi-hrcitondes Max. öO"). Auch hcisser Wasser-
(laiiipr i^t rill gutes lläiiiostaticuni . das die prima rciinin nicht stört.
108
III. Oupite). — Vorlotzungen.
Wo man zukommen kann, leistet auch die Glühhitze (Cauterium
actuale) oft gute Dienste. Man überfährt die blutende Fläche mit
Glüheisen, Glühkupfer oder der Piatina candens ( Pacf/urdin' acher
Brenner). Die schwächeren Hitzegrade der Rothglühhitze wirken
besser blutstillend als die Weissglühhitze. Dasselbe gilt von der Gal-
vanokaustik. Die Araber kannten die Unterbindung nicht und
stillten selbst Blutungen aus (nicht zu starken!) Arterien mit dem
Glüheisen.
Nur in vereinzelten Fällen, Blutungen aus der Nasenhöhle, tiefen
buchtigen Abscessen, aus bösartigen Neubildungen bieten die Styptika
(blutstillende chemische Stoffe) Nutzen. Sie wirken gerinnungserregend.
Fig. 69.
Fig. 70.
Die Blutgerinnung hat aber für den Gefässverschluss nur untergeordnete
Bedeutung (siehe unten).
Am häufigsten gebraucht ist die Eisenchloridwatte, Watte in
Liquor ferri sesquichlorati getaucht. Dieselbe verätzt die Weiehtheile
sehr und der nicht aseptisch bleibende Schorf stösst sieh nachher unter
oft stinkender Eiterung ab. Die Fasern des Penghawar Djambi
(Haare eines indischen Farns), durch Jodoformbeimischung aseptisch
gemacht, verfilzen sich sehr fest mit dem Gewebe , das von ihnen gar
nicht angegriffen wird. Sie können sogar einheilen. — Weitere ver-
altete und selten gebrauchte Blutstillungsmittel sind eine Reihe stark
ätzender Mittel, Terpentinöl [Bülroth] (sehr schmerzhaft), Liquor Bellostii
(salpetersaures Quecksilberoxydul), Aqua Binelli u. dergi. Gut blut-
stillend und dabei stark antiseptiscb sind Bäusche, getaucht in lOpro-
centige wässerige Lösung von essigsaurer Thonerde.
Styptica. — Blutungen aus Venen.
109
Ausserdem streut man pulvensirtes Colophonium auf oder Antipyrin-
pulver ; darüber kommt ein Druekverband. Antipyrin wird auch in 5pro-
centiger Lösung in die Nasen-, Gebärrautterhöhle eingespritzt (Henoque).
Ebenso soll Citronensaft , Wasserstoffsuperoxyd (Neudörffer) gut blut-
stillend wirken.
Von inneren Mitteln ist noch weniger zu erwarten. Man ver-
wendet sie bei inneren Blutungen , wo man nicht beikommen kann,
aber fast mehr, ut aliquid factum esse videatur. Seeale cornutum
(Mutterkorn) in Pulvern zu 05 Grm. 2 — 4stündlich, als Fluidextract zu
20 Tropfen 2 — 3mal täglich, oder subcutan (1:4 Aq. dest. frisch bereitet)
1 Ccm. Imal täglich. Das Seeale regt die Vasoconstrictoren zur Con-
traction an (siehe pag. 6). Ausserdem scheinen wirksam Hydrastis
canadensis (30 — 40 Tropfen des Fluidextractes 3 — 4 mal), Hamamelis
virginica (20 Tropfen des Fluidextractes alle 2 Stunden), Extract. Gossypii
3— 4mal täglich, 20 — 30 Tropfen. Auch Bryonia alba (Petrescu), Gera-
Fig. 71.
nium maculatum fShoemaker) , Lamium albura (Florcdn) , Salipyrin
(Kmjser) (1"0 p. D., 3'0 p. d.) werden empfohlen.
Die Blutungen aus Venen stehen meist von selbst, docli können sie auch
gelegentlich , wenn grosse Venen angerissen, z. B. ein Ast aus einem grösseren Stamm
ausgerissen wird, zu furchtbaren Blutungen, welche das Operationsfeld im Nu zu einem
schwarzen brodelnden See umwandeln, Anlass geben. Geht es, so fasst man die Eänder
des Loches mit breitem Schieber oder flach angesetztem Köberle und verfährt nach
den pag. 104 gegebenen Regeln. Die seitliche Venenligatur heilt — bei Asepsis —
ganz glatt durcli Verklebung der Tntima mit Erhaltung des Lumens. Sonst ist hier der
Platz für antiseptische Tamponade.
Ein höchst fatales Ereigniss bei Verletzung gewisser Venen ist der Luftein-
tritt in die Venen. Unter unheimlich schlürfendem Geräusch wird in die Venen
des Halses, der oberen Thoraxpartie und der Achselgegend, in welchen während der
Einatlimung negativer Druck herrseht. Luft eingesaugt. Der einzige Fall, wo Luft in die
Schenkelvene eingetreten sein soll (Diqmiiiren), ist nicht sicher. Lufteintritt in die
Venen des frisch entbundenen Uterus ist dagegen ziemlich häufig vorgekommen, beson-
ders in flacher Lage oder wenn der Steiss erhöht lag. Ein paar Blasen schaden nicht
'viel (Jürgensen): tritt aber eine bedeutendere Mengi; Luft auf einmal ein, so steht
110 in. Capitol. — V<;rlot'/uii-<'ii.
das Herz monKuitan still. Bei der Autopsie fiiidct mau das reelite Herz mit stark
schaumigem Blut gefüllt; doch ist die eigentliche Todesursache Luftembolie — Ver-
schluss der Lungencapillareu durch eingekeilte Luftblasen. — iJie ]iehaiidlmig kann nur
eine vorbeugende sein; man comprimirt die grossen Venen des Halses central mit dem
Finger, oder besser, man unterbindet sie doppelt vor der Durehschneidung. J^ei Uterus-
ausspülungen niuss die Spülflüssigkeit frei von Luftblasen sein.
Für den endgiltigen Verschluss verletzter Blutgefässe ist
die Blutgerinnung ohne P^edeutung. Allerdings kann ein Blutgerinnsel,
z. B. bei Stichwunden, die Oeffhung im Gefäss vorübergehend verlegen
und der Thrombus kann dann in der pag. 15 angegebenen Weise or-
ganisirt werden und so eine dauernde Gefässnarbe entstehen. Die
Verwachsung der Gefässwunde erfolgt durch verlöthende
Wucherung des Gefässendothels. Die Intima ward (siehe pag. 67)
Fig. 72. bei kleineren Gef ässen durch die
Contraction der Ringmuskeln zur
Berührung gebracht, bei der Unter-
bindung durch den schnürenden
Faden , wobei die Intima meist,
aber nicht immer f Schimmelhiisch) ^
zerspringt. In Fig. 71 sind Ad-
ventitia (c) und Media (a) in Falten
eingestülpt, ebenso die Intima fe).
Die Gefässendothelien wuchern,
sie schicken Fortsätze aus, welche
nach dem Lumen des Gefässes hin-
wachsen und dort mit gleichartigen
von der anderen Seite her ver-
schmelzen. So werden binnen
wenigen Tagen die zwischen den
Falten der Intima bleibenden Räume
ausgefüllt mit gewuchertem Ge-
fässendothel , zwischen dem sich
— . y , . ^ ((r7W(1i'i auch feinste, von den Vasa vasorum
" (i v<^ x^ \ , -1. s^ f]{||V. gelieferte, neugebildete Gef ässchen
^ ■<\'\\ U^A ^ 7^==^"^ ''^feTi entwio.kpjn.
1 ,9',\\\'\S(!'W \ ^ ^5S ^^ö- '^l ist eine unterbundene
\^ ?m \\^ y^^^^^J^^ entwickeln
Fig. 71
Carotis nach 5 Tagen bei schwacher
Vergrösserung nach B.aah. Die Falte e der Fig. 71 ist in Fig. 72 bei
starker Vergrösserung dargestellt. Die Wucherung der Spindelzellen c
der Intima ist sehr schön zu sehen, ebenso die Bildung von Ausläufern
derselben. Dazwischen zeigen sich Massen von Detritus (d)^ Reste von
Blut, welches zwischen die Intima eingeschlossen war; h Media.
Nicht weniger instructiv sind Fig. 73 und 74 nach Zahn. In
Fig. 73 ist ein Querriss der Arterienwand dargestellt, herbeigeführt durch
eine einmalige Umschnürung der Arterie; der Faden wurde jedoch so-
fort wieder abgenommen und die Lichtung des Gefässes wieder frei-
gegeben. Auch hier erfolgte eine Gerinnung des Blutes nicht, der
Blutstrom schoss ungestört an der Wunde vorüber. Die Zerreissung
der Intima und eines Theiles der Media ist aber ohne Weiteres zu er-
kennen. Von der Intima haben sich bereits junge Endothelien (a) auf
den Riss herübergeschoben ; bei h sind einige farblose Blutkörperchen
zu sehen. — Fig. 74 zeigt einen ebensolchen Querriss von der Innen-
Gefässnarbe.
111
fläche des Gefässes her gesehen. Der Defect in der Intima wird ledig-
lich durch einsäumende Endothelbildung- von dem erhaltenen Endothel
her ausgefüllt. Die dunklen Stellen sind Lücken, wo sich diese Epithel-
neubildungen noch nicht erreicht haben und noch die Media blossliegt.
Media _
•) Stelle des
Eisses
^ a
^^
Von weissen Blutzellen, die etwa auf der Media festkleben und zu
Endothelien umwandeln, ist nirgends etwas zu sehen, a a sind die
Grenzen des alten Endothels , das Endothel zwischen diesen Linien
ist neu.
Cohnheim und seine Schüler Hessen den Gefässverschluss durch auswandernde
weisse Blutzellen zu Stande kommen. Sie stützten sich auf das Experiment , dass bei
mit Zinnoberemulsion eingespritzten Thieren auch in den die Gefässe verschliessenden
Massen zinnoberhaltige Zellen gefunden wurden. Dass solche zinnoberhaltige Leukocyten
auch hier einwandern und ihren Zinnober
an andere Zellen abgeben können, ist
zweifellos ; der Uebergang eines weissen
Blutkörperchens in eine Gofässendothelie
oder eine Bindegewebszelle der jungen
Gefässnarbe ist damit aber nicht erwiesen.
Ein Thrombus bildet sich in
dem konischen Ende des Gefässes
nicht. Das Blut ist, auch wenn es
gerinnt , der Entwicklung der Ge-
fässnarbe höchstens hinderlich, weil
die Wucherung der Endothelien, statt
unmittelbar zu verschmelzen , erst
den Thrombus durchsetzen muss.
Auch in den äusseren Schich-
ten des Gefässes, namentlich der
Adventitia, findet eine IMndegewebs-
neubildung statt, welche besonders
die durch den Faden bedingte Ein-
schnürung überbrückt und ausfüllt,
so dass dieselbe oft ganz verdeckt
wird. Die Unterbindungsstelle er-
scheint so äusserlich nur als eine
des Gefässes. Diese Entwicklung
bindungsstelle herum trägt natürlich wesentlich zur Sicherung des Ge-
fässverschlusses bei, und man hat sie deshall) auch äussere Gefäss-
narbe genannt (Fig. 75 Z*), gegenüber der durch Endothelwuclierung
ent.stehendeii inneren Gefässnarbe (Fig. 75a). Die Gefässnarbe
schrumi)ft mit der Zeit wie jede Xarbc zu einem dünnen bindegewebigen
Faden, welcher die sich konisch zuspitzenden verschlossenen Gefäss-
kaum sichtbare Verschmächtigung
von Bindciiewcbe um die Unter-
112
III. C'apitel. — Voilet/.inigi;)).
enden verknüpft. Haben die Gefässenden sich weit zurückgezogen, so
kann sich auch anderes Gewebe zwischen sie legen (Fig. 75 c) und
eine unmittelbare Verbindung beider Gefässe erfolgt dann nur durch
die den Collateralkreislauf vermittelnden Gefässe (Fig. 7ßj. Der in
der Fadenschlinge abgeschnürte, allerdings sehr kleine Theil des Ge-
fässes zerfällt nekrobiotisch, wird resorbirt und an seine .Stelle tritt
neugebildetes Bindegewebe.
Pig. 75.
Fig. 76.
DerUnterbindungsfadeii musste frülier
das Gefäss „durchscliueiden", d. h. wenn das in der
Schlinge gefässte Gefässstück durch, deniarkirende
Eiterung aus seinem Zusammenhang gelöst war,
ging der Faden durch eine Oeffnung in der Wunde
ab. Dies dauerte selbst bei kleinen Arterien nicht
leicht unter 6 Tagen, bei Arterien, wie die A. fe-
moraüs, nahm dieser Vorgang 3, 4, selbst 5 "Wochen
in Anspruch. Heute lassen wir den desinficirten,
bacterienfreien Faden liegen und überlassen ihn
der Eesorption. Dies geht bei Catgut (Darmsaiten)
ziemlich rasch , der Faden trübt sich körnig,
quillt, fängt an sich aufzufasern, in seine
Lücken drängen sich weisse Blutzellen und
junges Bindegewebe herein, immer mehr schwindet der körnige Detritus und an
seine Stelle tritt Bindegewebe, das mit dem jungen Gewebe in der Fadeuschliuge
continuirlich verwächst. Bei Catgut dauert dieser Vorgang durchschnittKch 2 bis
4 Wochen. Viel langsamer und unvollkommener gehen diese Substitutionsprocesse bei
desinficirter Seide vor sich. Hier kann man noch nach Monaten die Schünge oft nur
wenig verändert und aufgefasert finden. Im Uebrigen ist der Process der gleiche.
Sind die Unterbindungsfäden nicht tadellos keimfrei („aseptisch"), so kommt es oft nach
Monaten, wenn die Wunde längst geheilt ist, zur Bildung kleiner Abscesse in der Narbe
und zur Ausstossung der Fadenschlinge.
Zur Herstellung des CoUateralkreislaufes erweitern sich
nur diejenigen Gefässe, welche Blut in die bisher von der unterbun-
denen Arterie gespeisten Bezirke leiten, namentlich Seitenäste, welche
zu arteriellen Anastomosen führen. Doch kann sich auch eine unmittel-
Blutersparung.
113
bare Circulation aus dem centralen in das periphere Ende wiederher-
stellen , indem sich die Vasa vasorum erweitern und über die Unter-
bindimg-sstellen weggehen. Eine Reihe kleiner Gefässe entspringt aus
dem einen Ende und geht brückenförmig nach dem anderen hinüber
(Fig. 76). Der Process erinnert in Manchem an die Canalisation des
Thrombus (Fig. 3).
Fig. 76 stellt die Bildung des CoUateralkreislanfes in der Carotis eines Schafes
nach Ebel dar. Ausser einigen grösseren Seitenästen, welche etwas rückwärts von der
Unterbindungsstelle abgehen und sich zu stärkeren arteriellen Verbindungsbahnen er-
weitert haben, geht auch ein Geflecht feinerer Gefässchen — aus den Vasa vasorum
hervorgegangen — unmittelbar von einer Ligaturstelle zur anderen.
Fig. 77.
Fig. 78.
Schlauchklemme.
Reichlich ebenso wichtig wie die Blutstillung; ist die Bluterspar-
niss bei Operationen. Die grössten Erfolge auf diesem Gebiete gibt
die von Esmarch eingeführte künstliche Blutleere.
Esmarch Hess die Extremität, von unten anfangend, bis l'/a Handbreit über die
r)l)erationsstelle hinauf mit Gummibinde einwickeln ; dann wird eine zweite elastische
Binde umgeschnürt und die erste abgenonimen (vergl. Fig. 77-79). Sie muss so fest liegen, dass
auch die Arterie comprimirt wird, sonst bck(jmmtman nur eine unangenelime venöse Stauung.
Sitzt die Binde gut. so kann man ganz im Blutleeren opcriren und ausser dem Vortheil,
kein Blut zu verlieren , lassen sich die Theile — nicht mit Blut überschAvemmt und
durchtränkt — viel klarer übersehen ; es lässt sich präpariren , wie an der Leiche. —
Doch hat dieses Verfahren auch seine Schattenseiten. Naeli Lösung des Schlauches
tritt eine enorme Hyperämie i'iii und es ist eine grosse Anzalil Gefässe zu unter-
Landcrer, Allg. chir. Pathologii; u. ThiTapie. 2. Anfl. 8
114
JH. Capitel. — Vorletzungcii.
binden, viel mehr, als wenn man oliint IJliitli-i'i'c. uin^riil hat. Ausserdem ist, da
die Resorption seitens der Tlieile eine erhöhte ist, ein Theil der \'er}riftun(:;en mit
Antisepticis, namentlich Carbolsäure, mit dieser künstlichen Hyperämie in A'erbindung
zu bringen. Diese Hyperämie wird als paralytische, d. h. auf Gefässerschlaffunjr lieruliend,
aufgefasst. Tempo läre Anämie wird allgemein als entzündungseiTegend anerkannt und
auch diese Hyperämie ist als eine entzündliche geringen Grades aufzufassen. Die Er-
höhung der Resorption, Lymphbildung u. s. f. spricht auch dafür (vergl. pag. 28).
Auch wenn man alle sichtbaren Gefässe vor Abnahme des Schlauehs
unterbindet, ist der endliche Blutverhist durch das ewige Sickern ans
kleinen und kleinsten Gelassen oft nicht viel kleiner, als wenn man
ohne Blutleere operirt hätte. Zur Vermeidung- dieser störenden und auf-
haltenden Nachblutung sind nun einzelne Chirurgen wieder zur Digital-
compression der zuführenden
Hauptarterie zurückgekehrt (vergl.
Fig. 80). Es lässt sich damit nahezu
so blutleer operiren, wie mit dem
Schlauch. Doch setzt es einen
absolut verlässigen, speciell darauf
eingeübten , nngewöhnlich aus-
dauernden Assistenten voraus, wie
er dem praktischen Arzt nicht zur
Verfügung steht.
Ein wesentlicher Fortschritt
wurde erreicht durch die von
J. W^o//' eingeführte Combination
von Elevation und Abschnü-
rung. Das durch 3 — 5 Minuten
senkrecht erhobene Glied wird —
nachdem das Blut vollends mit der
Hand ausgestrichen ist — elastisch
abgeschnürt ohne Einwicklung. Das
Bein wird so nicht völlig blutleer,
doch stört das Bischeu Blut, was
noch darin ist, nicht. Die Hyperämie
nach Abnahme des Schlaucbs ist
viel geringer und w4rd noch be-
schränkt, wenn man bei Lösung des Schlaucbs die zuführende Arterie
5 Minuten comprimirt und das Bein eine viertel bis halbe Stunde hoch-
halten lässt oder hochlegt.
Ein weiteres Verfahren ist, die abschnürende Binde erst abzunehmen,
nachdem alle irgendwie auffindbaren Gefässe unterbunden sind und
die Wunde völlig vereinigt und verbunden ist. In Verbindung mit der
Etagennaht durch verlorene Nähte (s. Naht) ist dies Verfahren allerdings
geeignet, eine Operation, eine Amputation z. B., ohne einen Tropfen Blut-
verlust auszuführen , doch setzt das Verfahren Erfahrung imd sorgfäl-
tige spätere Ueberwachung des Kranken voraus.
Bei einer infectiösen Entzündung ist die centripetale Einwicklung, die überhaupt
jetzt ausser Gebrauch ist, verboten wegen der Möglichkeit, infectiöse Stofte in die Cir-
culation hereinzupressen. Man schnürt in Elevation entfernt vom Operationsfeld ab.
Durch den Druck der elastischen Abschnürung sind Nervenlähmungen (mit
günstiger Prognose) beobachtet worden (3 Fälle, v.Freij, ref. Chir. Centralbl., 1894, pag. 38).
Senn beschuldigt den scharf einschnürenden Schlauch ; der eine Fall, den ich (N. radialis
am Oberarm) erlebt habe, entstand durch die elastische Binde.
Blutersparung- Tourniquets.
115
Neuher nimmt statt der elastischen Binde sterile nasse Leinenbinden zur Ab-
sclinürung.
In früherer Zeit waren zur Abschnürung bei Blutungen und
vor Operationen die Aderpressen oder Tourniquets üblich. Eine
mit Leder überzogene feste Polster -Pelotte, etwa hühnereigross,
wird auf einer Stelle, wo die Arterie gegen einen Knochen leicht
comprimirt werden kann, z. B. die A. brachialis in der inneren Biceps-
furche, durch einen Riemen mit Schnalle festgeschnallt- Die Pelotte
kann durch eine Schraube noch fester gegen das Gefäss und gegen
den unterliegenden Knochen angedrückt werden (Schraubentourniquet
von Petit . Fig. 81). Solche Aderpressen lassen sich leicht improvisiren.
In ein Taschentuch schlingt man einen derben , eventuell doppelten
Knoten, legt diesen auf die Arterie und knüpft das Taschentuch auf
der anderen Seite des Gliedes. Statt des Knotens kann man irgend
einen festen rundlichen Gegenstand, einen Stein, einen zusammenge-
drehten Handschuh in das
Taschentuch einhüllen , die '^' ^^'
Zipfel desselben an ihren
Enden knoten (Fig. 83). Oder
man steckt einen Knebel (einen
Holzstab, einen Schlüssel, ein
Messer) durch die Schlinge und
zieht durch Drehen desselben
die Schlinge fest („Knebel-
tourniquet", Fig. 82).
Die Tourniquets sind
heute im Operationssaal ver-
lassen, höchstens als Irnjiro-
visation für die erste Hilfe
bei Unglücksfällen und auf
dem Schlachtfeld werden sie
gebraucht und gezeigt. Auch
hier werden sie besser durch
die Esjiiarch'schc elastische
Binde, elastische Hosenträger
etc. ersetzt.
In einzelnen Fällen kann die Compression der Aorta abdominalis
durch ein Tourniquet angezeigt sein. Fig. 84 gibt das Tourniquet für
Aortencompression von Brandts. Leider sind alle Aortencompressorien
unsicher.
Risse (Deutsche med. Wochenschr., 18i)6, 5) empfiehlt zur Blutersparung die tempo-
räre Unterl)indung grosser Arterien (Carotis, Iliaca u. s. w.) wie im physiologi-
schen Experiment, mit einem elastischen Band, das durch eine Arterienklemme befestigt
wird, oder mit einer Arterienklemme, deren Branchen mit Gummischhäuchen armirt
sind. Die Blutersparniss sei bedeutend, Thrombose selten. Das Verfahren ist jeden-
falls bei Atherom und im Alter nicht zulässig.
Durch beständige kalte oder heisse Ueberrieselungen lässt sich
eine gewisse Blutleere auch erreichen, ebenso hat J. Wolf durch me-
thodische Compression den Blutverlust z. B. bei Gaumenoperationen
wesentlich herabgesetzt.
Al)er auch wo eine Abspeninig nicht niiiglich ist, an Koiif und
Rumpf, lässt sich viel lUut ersparen durch sofortiges Anlegen von
116
III. Capitel. — Verletzungen.
Pincetten auch an kleinste Gelasse (die später nicht unterbunden zu
werden brauchen), ebenso durcli Compression mit Gazebäuschen da, wo
eben das Messer nicht arbeitet. Arn allerwiehtigsten aber ist die
Fig. 82.
Fig. 83.
doppelte Unterbindung grösserer Gefässe vor der Durchschneidung.
Hier zeigt sich Erfahrung und gute topographisch-anatomische Schulung.
Der Versucli, vor Operationen Blut in gewissen Bezirken, z. B. den Beinen, dnrcli
elastische Absclinürung abzusperren und dies nachher wieder der Circulation zurück-
zugeben, hat bis jetzt keine brauchbaren Ergebnisse gehabt.
Blutverlust. CoUaps. ]^]^7
Trotz dieser Fülle von Mitteln zur Behandlung der Blutung-
bleiben doch noch Fälle genug- übrig, wo der Verlust an Blut bei einer
Operation oder Verletzung- eine bedenkliche Höhe erreicht und schwere
Folgen für Gesundheit und Leben hei-beiführt.
Massiger Blutverlust wird von Gesunden ohne viel Unan-
nehmlichkeiten und Nachwehen ertragen, Müdigkeit und Abspannung,
nervöse Gereiztheit, Durst, später Hungergefühl sind Alles. Die bleiche
Gesichtsfarbe, das Gefühl verminderter Leistungsfähigkeit sind schon
nach wenigen Tagen wieder verschwunden.
Bei schwerem Blutverlust sind die Er£:cheinungen ernster. Der
Kranke wird bleich, der Puls kleiner und häufiger. Es stellen sich Un-
ruhe , Angstgefühl , Beklemmung auf der Brust , Beschleunigung der
Athmung und Lufthunger ein. Bald wird es dem Kranken schwarz
vor den Augen, die Ohren klingen ihm, er bricht zusammen, das Be-
wusstsein umflort sich, der Puls verschwindet. Im Liegen tritt vielleicht
eine kurze Besserung ein, doch kehrt die Unruhe in verstärktem Masse
wieder; der Kranke greift in die Luft, die Gesichtszüge verfallen, die
dunkelgeränderten Augen werden starr, die Pupillen weit; es stellt
sich Aufstossen (Singultus) und Erbrechen ein. Unter schnappenden
oder schluchzenden, immer seltener werdenden Athemzügen und einigen
Zuckungen tritt der Tod ein. Wirkliche Verblutungskrämpfe — beim
verblutenden Thier die Regel — finden sich selten beim Menschen.
Ein anderes Mal — und dies ist gerade nach Operationen der
häufiger beobachtete Fall — spielt sich die Scene der Verblutung nicht
so. stürmisch ab. Die Kranken sind nach der Operation sehr schwach,
elend und apathisch, der Puls ist fadenförmig oder nicht zu fühlen,
Extremitäten und Nase kühl, die Lippen und Schleimhäute bleich, die
Gesichtsfarbe fahl, wachsgelb. Trotz warmer Einpackungen, horizon-
taler Lage etc. erholen sich die Kranken nicht , alle stärkenden Ge-
tränke werden weggebrochen. Hin und wieder scheint sich der Zustand
zu bessern, doch bald kommt wieder eine Ohnmacht, aus der man
den Kranken nur mit grösster Mühe erwecken kann. Binnen Kurzem
kommt wieder ein erneuter Anfall von Schwäche, wo Puls und Bewusst-
sein schwinden — ein Collaps — und in diesem geht der Kranke
schliesslich, 12 — 24 Stunden nach der Operation, zu Grunde.
Unsere Kenntnisse über Blutung und Verbhitungstod und damit
auch unsere therapeutischen Auffassungen sind ganz besonders durch
die experimentellen Arbeiten C. iMdivifJs und seiner Schüler gefördert
worden. Sie haben uns exacten Aufschluss gegeben über die Verände-
rungen des Blutdrucks, der Stromgeschwindigkeit des Blutes, der Blut-
mischung bei schweren P>lutungen; sie haben uns auch über die wirk-
liche, letzte Ursache des Todes bei der Verblutung Klarheit gebracht
und damit unserem therapeutischen Vorgehen feste Normen vorgezeichnet.
Das Verhalten des Blutdrucks bei der Verblutung zeigt beifolgende
Curve (Fig. 85).
I»ii-.scll)ii — zusammciigcdrängt — ist von einem G K<iT. seliwiTcn kräfti};-('ii Hund
cntiionimen , der aus der A. carotis verblutet wurde, das Kymoj^raphion ist mit der
A. femoralis verbunden. Die Abnahme von 60 Com. Blut = f/o ^es Köri)ergewichts,
ändert den Druck niclit. Darauf werden 90 Ccm. = l'/j^/o abgenommen. Erst jenseits
2''/(,, zwisclien 120 — 150 Ccm. sinkt der Druck um ein Beträclitliches und dabei werden
die Pulse kli'iner. Im Laufe von h Jlinuten hebt sich aber der Druck wieder fast zur
ursprüngliciien Hillie. Nun wcnlen wieder 60 Ccm. abgenommen. Der Blutverlust be-
118
111. Capitel. — Verletzungen.
Verblutung. 119
trägt damit S'/aVo ^^^ KörpergewicMs, ungefähr die Hälfte der Blutmenge des Thieres.
Jetzt sinkt der Druck beträchtlich, die Pulse werden sehr viel kleiner, sind kaum ein
Viertel so hoch wie anfangs; das Thier wird sehr unruhig, die Athmuug stürmisch,
rasche tiefe Eiuathmungen wechseln mit ebensolchen energischen Ausathmungen. Man
erkennt dies an den enorm steilen Senkungen und Hebungen der Curve. (Die einzelnen
Erhebungen entsprechen jedesmal einem Pulse. Die Hebung und Senkung der ganzen
Curve je einem Athemzug.) Doch auch jetzt tritt noch einmal eine gewisse Beruhigung
ein ; die Pulse werden grösser , die Athmung ruhig ; auf erneute Blutung von 60 Ccm.
= 47.//o Körpergewicht, dasselbe Schauspiel wieder mit enormem Tiefstand des Drucks
(anfangs 180 — 190 Mm. Hg, jetzt 50 — 60 Hg) und steiler Athemcurve. Nochmals Be-
ruhigung und ein leichtes Wiederaufsteigen des Drucks. Auf eine letzte Blutung von
circa 40 Ccm. = (5'27u) Abfall der Curve zur Abscisse. Tod. Dauer des Versuchs
25 Minuten.
Diese Curve führt uns ohne Zwang zur Unterscheidung von drei Graden
der Blutung. Bei Blutungen ersten Grades bis etwa 2% des Körpergewichts,
einem Viertel der Blutmenge beim (Menschen circa 1000—1200 Ccm.
entsprechend) ändert sich der Blutdruck gar nicht. Blutungen zweiten
Grades, bis circa 4^0, ist dagegen eine beträchtliche Blutdrucksenkung
eigen thümlich, die Pulse werden sehr klein und zahlreich. Wenn man
jene Blutungen als leichte bezeichnen will, so müssen diese als schwere
angesehen werden. Jenseits 4% bis 4,5 — 5% fängt dann die Periode
des raschen Verfalls des Blutdrucks an, wo es fraglich bleibt, ob der
Druck sich wieder hebt oder zur Abscisse sinkt. Es sind diese
Blutungen als äusserst gefährliche, meist tödtliche anzusehen.
Den Schwankungen des Blutdrucks gehen parallel Veränderungen
der Stromgeschwindigkeit und der Concentration des Blutes. Beide
nehmen, dem Blutdruck entsprechend, ab. Natürlich leidet, wenn ein
dünneres Blut langsamer durch die Adern fliesst, die Ernährung em-
pfindlicher Organe, namentlich des Gehirns und der nervösen Centren;
daher die Unruhe, die stürmische Athmung u. s. f.
Die letzte Todesursache bei der Verblutung wurde früher
in dem Verluste an den dem Blute specifischen Stoffen , den rothen
Blutkörperchen, in dem Hämoglobinmangel und damit der ungenügenden
Sauerstoft'zufuhr gesucht. Heute wissen wir, dass der Mangel an
Hämoglobin bei dem Verblutungstod nicht in erster Linie in Frage
kommt, er sinkt hier nie unter 40%, während er bei anderen Krank-
heiten und experimentell auf lO^/o und weniger herabgedrückt werden
kann (r. Ott bis 3%, olm^ das Leben unmittelbar zu gefährden). Die Ge-
fahr ist das Sinken des Blutdrucks auf eine Stufe, dass derselbe
zur Ueberwindung der Widerstände im Gefässsystem und damit zur
Bewegung des Blutes nicht mehr hinreicht. Derselbe genügt eben
noch , das Blut in die Capillaren und in die Venen zu treiben , nicht
aber hindurch und in's Herz zurück. Dasselbe bleibt in den Venen,
namentlich des Unterleibs (vergl. pag. 7) liegen. Das rechte Herz
wird nicht mehr genügend gefüllt, damit erlahmt das Herz und die
Circulation hiirt auf. Es kommt also ein Missverhältniss zwischen Ge-
fässraum und Gefässinhalt zu Stande, der Gefässraum ist für seinen
Inhalt zu weit geworden („Leergehen der Herzpumpe").
Das Verhilltniss von Gefässraum und (lefässinhalt ist für alle Aende-
riingen der Circulation äusserst wichtig. Beide sind keineswegs constant. Die Blntmenge
unterliegt sehr beträchtlichen täglichen physiologischen Sclnvankungen. lleichliclies Trinken
vermehrt die Blutmenge — natürlich nur die Flüssigkeitsmenge , nicht den Gehalt an
Blutkörperchen um 1 — 2"/.,; die Absonderung der Vei'dauungssäfte vermindert sie um
1 — 2" (, des Körpergewiclits. Die Blutmenge schwankt also täglich innerhalb weiter
Grenzen, ungefähr um die Hälfte. H'orni-M/illcr injiciite Thieren noch das Ändert-
]^20 -^^I- *^'apitßl- — Veiietzuiigfiii.
halbfache ihrer Bhatmenge und dei' Üluldruck stiej^ trotz dieser Yeiiiiehiuri;^ des Blut-
gehalts auf das Zweieinhalbfache nicht wesentlich. Von Kochsalzlösung können noch
viel grössere Mengen eingespritzt werden (Cohnheim und Lichtheim). Was ist es nun,
was den Gefässraum diesen grossen Schwankungen seines Inhalts stets angepasst er-
hält? Dies ist die Arterienmusculatur, hauptsächlich die lÜngmuseulatur der mittleren
Arterien. Dieselbe steht unter der Herrschaft der Gefässnerven und der vasomotorischen
Centren in Medulla oblongata und oberem Halsmark. Je nachdem ihr Tonus zu- oder
abnimmt, wird die Gefässbahn enger oder weiter. Die Arterienmusculatur ist es auch,
welche durch die Verengerung der Gefässe bei leichten Blutungen (27o Körpergewicht)
den Druck hochhält, und erst Avenn der Inhalt so gering wird, dass alle Verengerung
der Gefässe nicht mehr genügt, verfällt der Druck. Lähmt man die Gefässmuskeln,
z. B. durch Durchschneidung des Halsraarks, so sinkt zunächst der Druck sehr stark,
und Avenn man jetzt eine Blutentziehung macht , ist von Constantbleiben des Druckes
keine Rede mehr. Nimmt man jetzt auch nur 1% weg, sinkt der Blutdruck sofort
und die Thiere gehen durch einen Verlust von 1— 27o. der sie sonst nicht berührt
hätte, zu Grunde. Ebenso Avirkt die „Ueberfüllung" des Gefässsystems in den ange-
führten Worm-Müller's,ch(ii\ Versuchen lähmend auf die Gefässmuskeln. Spritzt man
einem Hund 150% seiner Blutmenge zu seiner normalen Blutmasse ein und lässt ihn
dann verbluten , so kann es vorkommen , dass man nicht einmal so viel Blut aus den
erweiterten und überdehnten Gefässen Avieder herausbekömmt, als man eingespritzt hat.
Das Thier ist an Verblutung gestorben , obgleich es noch mehr Blut hält, als vor dem
Beginn des Versuchs; allein an der Blutdrucksenkung. Diese Beobachtungen sind von
grosser praktischer Tragweite.
Die Beobachtungen am Thier haben nns aber noch weitere prak-
tisch verwerthbare Aufschlüsse gebracht.
Die Curve (Fig. 85) zeigt, dass auch bei schweren Blutverlusten
nach einiger Zeit der tief gesunkene Blutdruck doch wieder anfängt
zu steigen. Dies ist nicht die Wirkung einer Contraction der Gefäss-
musculatur, sondern bedingt durch Uebertritt von Flüssigkeit aus den
Geweben in's Blut. Sinkt der Blutdruck unter den Werth der Span-
nung der Gewebe, so kehrt sich der Strom um, und statt dass wie
sonst, Plasma aus dem Blut in's Gewebe übertritt, ergiesst sich jetzt
Gewebsflüssigkeit in das Gefässsystem und füllt dieses wieder auf.
Damit vermag sich auch wieder eine gewisse Spannung herzustellen,
der Druck steigt und die Circulation kommt aufs Neue in Gang mit
vermindertem und vor Allem verdünntem Blut.
Die Frage, Avelche man oft in Laienkreisen besprochen hört , Avie viel ein Mensch
Blut verlieren kann, ehe er stirbt, beantAvortet sich nach dem oben Gesagten
von selbst. So viel, wie seine Gefässe entbehren können und das ist total verschieden,
je nach dem Zustand seiner Gefässe. Ein gesundes Gefässsystem vermag sich auch
einer enorm verminderten Blutmenge noch anzupassen; bei kranken, unelastisch ge-
A\'ordenen Gefässen mit entarteter functionsunfähiger Musculatur kommt es sofort zu
jenem fatalen Missverhältniss zAvischen Gefässraum und Gefässinhalt , das zum Verfall
des Blutdrucks und damit zum Aufhören der Blutbew^egung führt. Gerade wie bei
Thieren mit durchschnittenem Halsmark und gelähmten Gefässen. Fast in keiner Be-
ziehung finden sich so grosse individuelle Verschiedenheiten , Avie in der Widerstands-
fähigkeit gegen Blutverlust. Junge Leute, Frauen ertragen meist Adel; Greise, Trinker,
Raucher, Leute mit atheromatösen, verkalkten Gefässen gehen durch einen Blutverlust
von V2 Liter zu Grunde. Jedenfalls lässt sich aus der Menge des verlorenen Blutes,
selbst wenn man dieselbe annähernd genau abschätzen könnte, durchaus keinen Schluss
ziehen, ob der Kranke in Gefahr ist oder nicht. Bierfreiind {Langenheck's ArchiA', 41)
nimmt einen Blutverlust von 3200 Ccm. als tödtlich an.
Selbstverständlich wirken bei Operationen noch Hilfsursacheu mit, um ein un-
glückliches Ende herbeizuführen; besonders das Chloroform, Avelches an sich schon den
Blutdruck erheblich herabsetzt und den Hämoglobingehalt vermindert.
Nicht sorgfältig genug kann man die Kranken vor der Operation untersuchen
auf Veränderungen der Gefässe (Atherom), Herzfehler, Zeichen von Alkoholmiss-
brauch, u. dergl. Nicht dringend genug kann man warnen A'or zu tiefer und zu langer
Chloroformirung.
Behandlung der Verblutung. 121
Zwei Hauptaufgaben ergeben sich hieraus für die Behandlung
der Verblutung: Einwirkung auf Herz und Gefässe, um den Blut-
druck hoch zu halten und Wiederanfüllung der Gefässe.
Man geht etwa in folgender Weise vor: Wird der Puls schlecht
und zeigen sich die auf pag. 117 geschilderten Symptome, so greift
man zunächst zu den Analepticis. Es sind dies Reizmittel für das
Herz — Aether subcutan, mehrere Pravaz'sche Spritzen (zu 1 Gem.),
Solutio Camphorae oleosa (Camphorae tritae 10, Ol. amygdalarum 4"0)
ebenfalls subcutan. Bei Kranken, die noch schlucken und das Ge-
trunkene nicht wieder wegbrechen , hat es meist nicht viel Noth.
Heisser Kaffee, Fleischextract in heissem Wasser, Gewürzwein, Sect
u. dergl. sind hier wirksam. Anderenfalls kann ein Clysma (1 Theil
Spiritus auf 5 — 6 Theile Wasser, lau, 60 Grm. alle 15—20 Minuten)
wirksam sein. Dazu legt man den Kranken mit dem Kopf zu tiefst,
packt ihn in heisse Decken , gibt Wärmflaschen an die Füsse, lässt
ihn unter der Decke reiben, besonders den Unterleib vorsichtig kneten.
Hat man nicht in 15 — 20 Minuten Erfolg, so gilt es, rascher und
ohne den Umweg des Darms, den Gefässen den nöthigen Inhalt
wieder zu geben.
Von der Autotr ansfu sion ist nicht viel zu erwarten. Die vier Extremitäten
sollen centripetal eingewickelt werden und so das in ihnen enthaltene Blut der Circu-
lation der inneren Organe zur Verfügung gestellt werden. In den Extremitäten ist
aber beim Verbluteten, wie ich gezeigt habe, so gut wie kein Blut, und so wiixl damit
nichts gewonnen. Nach Autotransfusion ist Thrombose der Vv. femorales beobachtet
worden.
Die subcutane In jection von 0,77oPti-ysiologischer Kochsalzlösung benütze
ich regelmässig nach langdauernden schweren Operationen zur rascheren Erholung und
Beseitigung der Nachwehen der Narkose ; auch in der Nachbehandlung verwende ich
sie oft. Ich injicire durchschnittlich 300 Ccm. auf einmal, gehe aber auch bis 800 Ccm.
Ich injicire mit einer 50 Ccm. haltigen Spritze mit starker Hohlnadel oder mit dem
Infusor (siehe unten) und wähle meist den Oberschenkel zur Einspritzung.
Bei sehr schweren Blutungen ist die subcutane Injection nutzlos,
denn es wird vom Unterhautzellgewebe hier nichts mehr aufgesaugt.
Es muss Flüssigkeit direct in's Gefässsystem eingebracht werden durch
die Transfusion oder Infusion.
Unter Transfusion verstehen wir die Ueberführung von Blut von einem Menschen
auf den andern. Keine Operation hat eine so wechselvolle Geschichte , ist bald als
Panacee gepriesen und für alle Leiden empfohlen worden, bald in der Achtung der Aerzte so
tief gesunken. Heutzutage verwerfen wir sie fast allgemein. Blut zuzuführen ist in
der Behandlung der Blutung unnöthig, weil es nicht der Blutmangel ist, an dem die
Kranken zu Grunde gehen. In einen anderen Körper überführtes Blut ist aber ge-
fälirlich, weil es äusserst schädliche Stoffe enthalten, ein tödtliches Gift für den Körper
sein kann. Schon lange wissen die Aerzte, dass die Transfusion nicht immer glatt ab-
läuft. Sehr häufig folgen unmittelbar im Anschluss an die Einführung von Blut in
den Kreislauf Kreuzschmerzen, später ein Schüttelfrost mit folgendem Fieber, dann
Hautausschläge verschiedener Art, namentlich Quaddeln Avie bei Nesselsucht, Blutharneu;
schmerzhafte, selbst blutige Diarrhöen u. dergl. In noch anderen Fällen bleiben die
Kranken dem Arzt während der Operation unter den Händen. Die Operation, welche
lebensrettend wirken sollte , hat das Leben direct vernichtet. Ich habe solche Fälle
zweimal erlebt und muss gestehen, dass mich selten ein Misserfolg so niedergedrückt
hat. Bei der Section finden sich frische Gerinnsel im Herzen, in den Lungenarterien,
welche embolisch verschlossen sind, auch in anderen Gefässbezirken, in den Cai)illaren
des Darms. Es handelt sich um eine Vergiftung mit Fibrinferment. Tritt das
Blnt aus der Ader, so bildet sich bekanntlich Fibrinferment etc. (vergl. pag. 12) und
es tritt Gerinnung ein. Gelassenes Blut entliält immer Fibrinferment, auch wenn es
geschlagen, defibrinirt ist; viel mehr, wenn das Schlagen nicht .sofort vorgenommen,
sondern Avenn man das Blut erst hat .stehen und gerinnen lassen und dann durch ein
Tuch gepresst und so die Gerinnsel entfernt hat.
122 III- Capitel. — Verletzungen.
Bringt man fermenthaltiges ßlut in den Kreislauf ein, so entstehen Gerinnungen,
die entweder sofort tödten, oder ein Krankbeitsbild erzeugen, das den bei Transfusion
beobachteten Erscheinungen durchaus gleicht; capilläre Embolien, im Darm namentlich,
mit folgenden blutigen Diarrhöen, hohes Fieber, Blutharnen u. dergl. Zwar kann die
lebende Gefässwand Fibrinferment bis zu gewissen Mengen neutralisiren. Da man aber
nie weiss, wie viel Ferment das injicirte Blut enthält , kann man auch nie wissen, ob
der Kranke die Sache überstehen wird oder nicht. Zudem haben zahlreiche Unter-
suchungen (v. Ott) gezeigt, dass das übergepflanzte Blut vom Organismus gar nicht weiter
verwendet wird. Es ist abgestorben. Das Blut, welches man überträgt, ist also gefährlich
und unnütz, weil unbrauchbar.
Dieser Vorwurf trifft auch die „directe Ueberleitung ganzen, nicht
d efibrinirten Blutes" durch directe Verbindung einer Arterie des Blutspenders
mit der Vene des Blutempfängers, indem man in die Radialis des Spenders und die
V. mediana des Empfängers Canülen einbindet und dieselben durch einen Schlauch
oder besondere Apparate verbindet. Auch hier bilden sich in dem Schaltstück
Gerinnungen und es kann Fibrinferment entstehen.
Gerade wie bei den normalen Ausgleichsvorgängen der Verlust
an Blut zunächst durch Plasma und nicht durch Blut ersetzt wird, so ist
es auch unsere erste Pflicht, die Gefässe wieder zu füllen und damit
den nöthigen Blutdruck wieder herzustellen. Hiezu wurde zunächst
eine einfache alkalische Kochsalzlösung (1000 Aq. dest., 7'0 Natr. chlorat.)
verwandt und dieselbe in genügenden Mengen (circa 800 — 1000 Ccm.)
eingespritzt. Eine sofortige Hebung des Blutdrucks ist in den Experi-
menten nie zu verkennen , ebenso vermisst man in der Praxis eine
unmittelbar belebende Wirkung der Infusion von Kochsalzlösung fast
nie. Leider hält dieselbe nicht immer an, sondern sehr häufig erliegen
die Kranken nach Stunden einem zweiten Anfall von Schwäche. Ich
fügte deshalb einen Zusatz von 3<'/o Zucker hinzu und die Erfolge
sind mit dieser Lösung sowohl bei Thierversuchen, als beim Menschen
ganz wesentlich bessere geworden. (Sacch. alb. 80'0, Aq. dest. 1000 0,
Natr. chlor. 7'0.) Der Blutdruck steigt dabei noch rascher wieder an,
der Uebertritt von Gewebsflüssigkeit und Blut erfolgt schneller. Ueble
Folgen sind bislang weder von der Kochsalzlösung, noch von der
Zuckerkochsalzlösung beobachtet. Die Reconvalescenz ist bei letzterer
Lösung eine sehr kurze und glatte.
Für manche Fälle — Vergiftungen mit Kohlenoxyd, Chloral,
Morphium, Chloroform, Aether u. dergl. — wird auch heute noch von
einer Anzahl Chirurgen an der Verwendung von Blut zur Transfusion
festgehalten. Man wird — bei sehr schweren Verblutungen — auch
dann zur Bluttransfusion greifen , wenn die Kochsalzinfusion zu ver-
sagen droht. Immerhin hat man mit dieser Zeit gewonnen.
Ich rathe hier, das defibrinirte Blut mit 4 Theilen gewöhnlicher
Kochsalzlösung zu mischen (z. B. 200 Ccm. defibrinirtes Blut mit 800 Ccm.
Kochsalzlösung). Man bekommt so die nöthige Menge Flüssigkeit und
die Gefahr ist geringer ^ weil in derselben Zeit weniger Ferment ein-
geführt wird , dasselbe also leichter vom Gefässsystem unschädlich ge-
macht werden kann. Meine Erfolge mit der gemischten Transfusion
sind sehr schöne.
Zur Ausführung der Infusion legt man durch einen 2'/.j Cm. langen Haut-
schnitt die Vena mediana basilica bloss , isolirt dieselbe 2 Cm. weit aus ihrer Scheide
mit Pincette und einigen flachen Messerzügen. Mit einer Aneurysmanadel führt man
drei desinficirte Seidenfäden um die Vene. Der untere wird sofort geknotet und kurz
abgesclinitten, er soll die Vene nach unten verschliessen ; der Faden im oberen Winkel
wird nur lose geknotet, ein Schifferknoten, und darauf gesetzt eine einfache Schleife.
Jetzt schneidet man in die Vene mit scharfer kleiner Scheere eine dreizipfelige AVunde,
Transfusion. Infusion.
123
schiebt die mit Infusionsflüssigkeit gefüllte Glascauüle ein (Fig. 86) und bindet dieselbe
mit dem mittleren Faden, der in die verjüngte Stelle der Canüle zu liegen kommt, fest.
Nun verbindet man die Canüle durch, einen Kautschukschlauch mit dem Infusionsapparat.
Dieser besteht aus einer langen, etwa 100 Cm. fassenden graduirten Bürette, in
Avelche die vorher durch steriMsirte Leinwand filtrirte, auf 40" erwärmte Infusions-
flüssigkeit eingebracht wird. Zweckmässig ist noch ein T-Stück einzuschalten, als Luft-
fänger und zum Ablassen von Flüssigkeit. Ist alle Luft aus dem Apparat heraus, so
löst man die Schleife und lässt die Flüssigkeit eintreten, langsam, nicht über 30 Ccm.
in der Minute. Der Druck übersteigt 50 Ccm. Flüssigkeit nicht (gemessen von der
Wunde bis zum Niveau der Flüssigkeit). Durch Heben und Senken des Infusors lässt
sich der Druck sehr leicht abändern.
In der Eile muss man oft mit der Spritze injiciren. Man setzt dieselbe in den
kurzen, an die Canüle angefügten Schlauch ein \mä spritzt langsam, mit weicher Hand,
nicht stossweise ein. In den
Zwischenpausen verschliesst '^'
man den Schlauch mit einer
Schlauchklemme oder einer
Arterienpincette.
Ist die Infusion zu Ende,
so knotet man den oberen Faden
und schneidet die Fäden kurz
ab , schneidet das Stück Vene
zwischen den Ligaturen heraus.
Drei Nähte schliessen die AVunde,
auf die ein antiseptischer Ver-
band kommt.
Die Menge des zu
Injicirendeu darf nicht zu
klein sein, Blut nicht über
300 Ccm. wegen der Ge-
fahr der Fermentintoxica-
tion ; Kochsalz- oder Koch-
salzzuckerlösung , Blut-
mischung bis 800 bis
1000 Ccm. Einige schwär-
merische Verehrer der Blut-
transfusion glauben , ihre
Verletzten mit einer Unze
(30 Ccm. Blut = 2 Ess-
lötfel) vom Verblutungstod
gerettet zu haben.
Die Technik der Blut-
transfusion ist dieselbe, wie die
der Kochsalzinfusion. ■'
Der Aderlass, welcher das Blut liefert, ist pag. 125 beschrieben. Während das
Blut in das Gefäss springt, wird es sofort energisch, 8 Minuten lang, mit einem aus-
gekochten Quirl oder Holzstab geschlagen, dann 2nial durch sterile Leinwand in ein
Gefäss, das in Wasser von 38° steht, filtrirt; jetzt ist es zur Injection geeignet. Sie
wird mit Infusor oder Spritze gemacht.
Die arterielle Transfusion ^ifi<e/er^ defibrinirten Blutes mit der Spritze in
das periphere Ende der Arteria radialis hat gegenüber der venösen Transfusion nur
Nachtheile. Bei arterieller Infusion von Kochsalzlösung (in das jx'riphcre Ende der
Radialis) hat Kümmell Gangrän der Hand gesehen.
Die peritoneale Transfusion (Ponfick), wo defibrinirtcs Blut in die Bauch-
höhle i-ingespritzt wird, wirkt viel zu langsam, weil in schweren Fällen nicht mehr
rascli genug resorbirt wird, und ist de.shalb unsiclier. Ein Theil der Patienten ist an der
folgenden Bauchfellentzündung gestorben. Kochsalzlösung (3H") kann olinc Schaden in
grossen Mi-ngen ()iis 1500 Ccm.) in die Peritonealliölile gdiraclit wrrdi'ii. Die Rcsorjjtion
der Kochsalzlösung erfolgt sc1iim-11.
X24 III- C'apitc'l. — Vurlctzuiigcii.
Ziemssen hat wiedeiiiolt die subcutane Jnjectioii von iJefibiinirteii] Jllut (je .'30 Ccm.)
mit gutem Erfolg bei Anämien gemacht. Die intravenöse Koehsalzinfusion liat bei
schwersten Ohohjrafällen in der Hamburger Epidemie 1892 noch 'A'd^'j,, Genesungen
ergeben. Sie ist auch bei Anämie versucht worden (Sahli, v. Ziemssenj. Die erste
Infusion von Kochsalzlösung am Menschen habe ich — nach zahlreichen experimentellen
Vorarbeiten — am 24. Mai 1881 gemacht. Die Injektionen von künstlichem Blutserum
nach Hayem sind wegen mancher übler Nebenwirkungen zur Zeit noch nicht zu
empfehlen. Die Injection von entkalktem, nicht gerinnungsfähigem Blut (Wrifjhtj, von
peptonisirtem Blut ( Schmidt-MüJilheim) sind vorerst noch als gefährlich zu verwerfen,
ebenso die Infusion von Milch (Landois).
Die Enclerfolge der Transfusion und Infusion sind schwer
abzuschätzen, weil man nie mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass
der Kranke nicht auch ohne Transfusion durchgekommen wäre. Die
Kochsalzinfusion gibt bei gesunden, an Blutmangel leidenden Personen
(Wöchnerinnen) die besten Resultate. Die intravenöse Zuckerkoch-
salzinfusion gibt wesentlich bessere und nachhaltigere Ergebnisse.
Die sicherste Indication der Infusion bleibt immer die Wahr-
nehmung, dass man mit allen anderen Mitteln nicht vom Flecke kommt.
Man hat in dem Verhalten der Athmung einen Anhaltspunkt gewinnen
wollen \ diese soll bei Blutungen erst tief sein und selten ; beginnt die
Gefahr, so soll sie flach und hastig werden; es droht dann der Ueber-
gang in das letzte Stadium, wo nichts mehr zu machen ist, mit seltenen,
wenn auch wieder tieferen Athemzügen (vergl. die Curve Fig. 85j. Die
Indication zur Transfusion ist gegeben, wenn die Wirkung der
Infusion nachzulassen droht.
Von Nachwehen des Blutverlustes findet sich häufig Fieber
bei Anämischen ; der Zerfall der Körpergewebe ist ein erhöhter , die
Harnstoffausscheidung vermehrt. Ein hoher Grad von Körperscliw^äche,
Neigung zu Ohnmacht, Schwindel bleiben noch einige Zeit zurück.
Der Ersatz des Verlorenen dauert nach dem Kräftezustand ver-
schieden. Das Minimum des Hämogiobingehaltes findet sich erst am
4. bis 5. Tage nach der Blutung, ebenso das Minimum der Blutkörperchen-
zahl. Die Regeneration der normalen Blutkörperchenzahl dauert im
Mittel 17 Tage, .bei kräftigen Männern oft nur 11 — 12 Tage, bei Frauen
länger; am längsten bei Greisen und Kindern {Bierfreimd 1. c). Kinder
unter einem Jahr können durch einen Blutegelstich auf Jahre hinaus
blutarm werden.
Die Kranken sind möglichst kräftig zu ernähren , häufige kleine
Mahlzeiten, hauptsächlich aus Milch, Fleischspeisen und Eiern bestehend,
dazu Rothwein , kräftiges Bier in kleinen , oft wiederholten Gaben.
Vor Allem ist Ruhe nöthig, geistige und körperliche, und frische Luft.
Dabei wird oft das Verlorene übercompensirt ; wenigstens für einige
Zeit kann man mehr Blutkörperchen pro Cubikmillimeter finden , als
vorher. Dies ist auch die Erklärung, warum unsere aderlasslustigen
Vorfahren diese so gut ertrugen — so lange sie gesund waren.
Was ich bisher über Blutung gesagt, wird auch leicht ein Urtheil
über den Werth und die Berechtigung des Aderlasses ermöglichen.
Durch die gewöhnliche Menge abgelassenen Blutes (500 — 1000 Ccm. =
IVo Körpergewicht des Menschen) wird der Druck nicht wesentlich
herabgesetzt (siehe Curve Fig. 85). Sicher ist nur die später ein-
tretende Verdünnung und Verschlechterung des Blutes, die einem ge-
sunden Menschen nichts, einem kranken sehr viel schaden kann. Dass
ein energischer Aderlass bei drohendem Lungenödem u. dergl. lebens-
Aderlass. Blutegel.
125
Fig. 87 a.
Fig. 87 ö.
rettend wirken kann , habe ich mehrmals erlebt , ebenso bin ich von
der Nützlichkeit des Aderlasses bei Vergiftungen, eventuell mit folgender
Infusion (siehe oben) überzeugt. Nur
die kritiklose Anwendung des Ader-
lasses, wie sie in früheren Jahrzehnten
geübt wurde und jetzt auch z. B. bei
Chlorose wieder empfohlen wird, halte
ich für unberechtigt.
Man umschnürt den linken Oberarm
mit einer festen Binde , so dass der Radial-
puls nicht verschwindet , aber die Venen
schwellen. Nach gründlicher Reinigung der
Ellbeuge und der Lancette — ein kleines
Messerchen , beweglich zwischen zwei Schild-
krotplatten angebracht , zweischneidig , mit
gerstenkornartiger Klinge (Fig. 87 a) — sticht
man diese oder besser ein gewöhnliches spitzes
Messer in die Vena mediana cubiti basilica
(Fig. 87, ni) circa Vg — '/j Cm. ein, so dass man
sicher ist, die vordere Wand der Vene getrennt,
nicht aber das ganze Gefäss durchstossen zu haben. Im Herausziehen schlitzt man das
Gefäss, seiner Richtung parallel, etwa 1 Cm. weit auf. Aus der Vene bricht nun ein
Strahl schwarzen Blutes hervor. Läuft das Blut nicht gut, so lässt mau Bewegungen
mit den Fingern machen oder zieht die Binde etwas fester an. Nachher kommt ein
antiseptischer Verband auf die Wunde; die Blutung steht von selbst. Eine Naht ist
nicht nöthig. Nach vier Tagen ist die Wunde geheilt. Der Aderlassschnäpper , ein
aus einem Kästchen durch Federkraft vorgeschnelltes Messerchen zur Oeff'nung der
Vene, sollte wegen seiner Schmutzigkeit verboten werden.
Auf die Nützlichkeit örtlicher Blutentziehungen habe ich
pa^". 32 hingewiesen.
Der Blutegel, Hirudo officinalis, beisst sich auf rein gewaschener,
von'^TTäareh befreiter Haut, die ihi "Nothfalle mit etwas Milch oder Blut
bestrichen werden kann, mit seinem dreizahnigen Gebiss unter geringem
Schmerz fest und entzieht 10 — lÖCcm. BUit; lässt man tüchtig nach-
bluten , indem man die sich bildenden Gerinnsel durch feucht-warme
antiseptische Wattebäuschchen immer wieder abwischt , so kann man
bis 20 — 30 Ccm. bekommen. Die Blutung wird gestillt durch Andrücken
von steriler Watte oder .Jodoform - Penghawar Djambi; wenig zweck-
mässig sind Zunder (Schwamm) und Eisenchlorid watte.
Der künstliche Blutegel (von Heurteloup) ist in seiner jetzigen
Gestalt so gut wie unbrauchbar.
"'....Schröpfen, ein beliebtes Volksmittel, ist für manche schmerzhafte Afi'ectionen
— leichte Rippenfellentzündungen, rheumatische Beschwerden — nicht ohne Erfolg. —
Aus einer Metallkapsel, dem Schröpfschnäpper, der vorher abgekocht sein muss, werden
durch den Druck einer gespannten Feder eine Anzahl (20, 25) kleiner Messerchen,
Vi — 1 Cm. tief, je nachdem sie gestellt werden, in die Haut, auf die man den Kasten
aufsetzt, eingetrieben. Um die Blutung zu vermehren, wird ein gläserner Schröpfkopf
auf die blutende Stelle aufgesetzt, den man vorher über einer Spiritusflamme erwärmt
hat. Die Luft im Schröpfkopf wird so verdünnt und das Blut in den luftverdünnten
Raum eingezogen. Der „trockene Schröpfkopf — ohne Wunden — macht durch die
Luftverdünnung eine örtliche Hyperämie und ist bei Neuralgien u. dergl. nicht ohne
jeden Nutzen. Als Concession an die Wünsche der Patienten kann man das Schröpfen
wohl gestatten, nur müssen Schröpfschnäjjper und Haut rein sein.
Verletzungen von Lymphgcfässen ohne äussere Wunde sind
jedenfalls — bei Quetschungen — häutig genug. Nur in ganz seltenen
Fällen kommt es zu Ansammlungen von Lymphe, ähnlich den Häma-
126 III. Caintel. — Verletzungrjn.
tomen, LyiTi])lig-escliwulst, Lympliabscess. Nach einer Verletzung
durch stumpfe Gewalt entsteht eine nicht geröthete und so ziemlich
schmerzlose, schwappende, schlaffe Anschwellung, mit wenig Neigung
sich zu vergrössern, aber auch ohne Tendenz zur spontanen Rückbildung.
Die Probepunction liefert bernsteinfarbene, klare Flüssigkeit, die nach
einiger Zeit si)ontan gerinnt zu weichem flockigen Gerinnsel und im
Uebrigen allen Eigenschaften der Lymphe entspricht. Weder einfache
Function noch Compression führen sicher zum Ziele; Injection von Jod-
tinctur, noch besser breite Spaltung, Auswaschung mit einer starken
antiseptischen Flüssigkeit (Carbollösung 5 — 8%) mit folgendem compri-
mirenden autiseptischen Verband sind angezeigt. Der Lymphabscess
ist identisch mit dem pag. 97 beschriebenem Decollement.
Die Eröffnung grösserer Lymphgefässe mit Erguss der Lymphe
nach aussen, Lymphorrhagie, gehört gleichfalls zu den sehr seltenen
Ereignissen. Meist heilen Lymphgefässe, die ja bei jeder Operation
in Menge verletzt werden, ohne Weiteres wieder zu. Wenn es gelegent-
lich zu länger dauerndem Lympherguss — Lympborrhoe — kommt,
so mag es sich vielleicht um Verletzungen eines schon vorher erweiterten
Lymphgefässes. eines Lymphvarix , handeln. Meist wird das Aus-
sickern der gelblichen, wasserklaren, schliesslich spontan gerinnenden
Flüssigkeit ohne grosse Beschwerden ertragen , selbst w^enn der Aus-
fluss lange Zeit dauert; die übrige Wunde heilt und nur noch ein
feiner Gang — eine Lymphfistel, aus welcher die Flüssigkeit aus-
sickert — führt von der Haut zum Gefässe. Doppelte Umstechung
und Ausbrennen der Fistel sind vielleicht noch das beste Mittel gegen
das hartnäckige Leiden. Bei frischen Wunden genügt meist eine
tiefe Naht oder die Tamponade. Früher galten Lymphverluste für sehr
gefährlich.
ö
Allgemeinwirkungen von Verletzungen und Operationen.
Ohnmacht. — Collaps. — Shock. — Fett- und Luftembolie. — Traumatisches Em-
physem. — „Gemischte" Todesfälle. — Delirium tremens und nervosum. — Die
„Diathesen" in ihrem Einfluss auf Verletzungen.
Nicht blos durch den Blutverlust, auch in anderer Weise wirken
Verletzungen und Operationen oft in empfindlichster Weise auf das All-
gemeinbefinden der Verletzten zurück.
Rein nervös bedingt und verhältnissmässig unschuldig ist die ge-
wöhnliche Ohnmacht, welche jede starke Gemüthsbewegung erregbarer
Personen begleitet. Der Gesichtsausdruck wird ein ängstlicher, suchender ;
abnorme Gefühle im Leib treten auf, Ekel, Brechneigung — ,,es wird
mir schlecht," lautet die übliche Klage. Das Gesicht wird leichenblass,
einige tiefe seufzende Athemzüge, die Hände machen unsichere, krampf-
hafte Griffe, die Pupillen werden weit, der Blick wird starr und gläsern
und langsam sinkt der Kranke zusammen. Der Puls ist klein und
frequent, noch häufiger gar nicht zu fühlen ; die Athmuug selten und
oberflächlich. Wir suchen die Ursache der Ohnmacht in Anomalien
der Blutvertheilung (Ansammlung von Blut in den reflectorisch gelähmten
Unterleibsgefässen und dadurch bedingter Gehirnanämie) und bringen
dieselbe in Analogie mit dem 6ro/fe'schen Klopfversuch.
Ohnmacht. Collaps. Shock. \21
Die einzig richtige Behandlung ist, den Kranken flach, horizontal
liegen zu lassen. Dadurch kommt das Blut am leichtesten wieder zum
Gehirn geströmt. Lüftung der Kleidung, kaltes Waschen des Gesichtes,
Riechen starker Substanzen sind auch ganz zweckmässig, aber meist
mehr , ut aliquid fieri videatur. Absolut verkehrt ist es , solche
Kranke wieder aufrichten zu wollen. Man lässt sie eine halbe Stunde
in einer stillen Ecke liegen, dann ist Alles wieder gut. — Eine freund-
liche Ermuthigung vor der Operation, ein Trunk kalten Wassers , die
Aufforderung, wiederholt tief zu athmen, lenken die Aufmerksamkeit
des Kranken ab und beugen oft der Ohnmacht vor.
Die vou hysterischen Weibern oder betrügerischen Personen erheuchelte Ohnmacht
wii'd an dem wenig veränderten, höchstens gewaltsam verzogenen Gesichtsausdruck, dem
ruhigen kräftigen Puls, den normalen und erregbaren Pupillen, der erhaltenen Schmerz-
und Refiexerregbarkeit leicht erkannt.
Dass Leute aus Schreck oder Furcht vor einer Operation plötzlich
— vielleicht an durch Vaguserregung bedingtem Herzstillstand — ge-
storben sind, solche Fälle sind sicher festgestellt.
So wenig eine gewöhnliche Ohnmacht den erfahrenen Arzt auf-
regt, so ernst ist die Bedeutung anderer nervöser Erscheinungen, welche
durch Verletzungen hervorgerufen Averden, des Collapses und des Shocks.
Der Collaps ist eine unter allen Erscheinungen der Ohnmacht
eintretende Herzschwäche. Er ist — im Anschluss an Operationen,
innere und äussere Blutungen, schwere Verletzungen auftretend — ein
sehr bedenkliches Symptom des Erlahmens der Herzkraft. Er geht
oft unmittelbar in den Tod über. Für die Behandlung sind so ziemlich
alle die pag. 121 bei der Blutung besprochenen Massnahmen heranzu-
ziehen — in erster Linie die Analeptica und subcutane Kochsalzinjection,
ferner wenn diese nicht helfen, intravenöse Infusion von Zuckerkoch-
salzlösung oder Transfusion von Blut und Kochsalzlösung.
Der Shock tritt als Folge einer schweren Verletzung — Sturz,
Ueberfahrung^ Verletzung durch schweres Geschütz u. dergl. — auf in
Form einer schweren Erschütterung und Erschöpfung des ganzen Nerven-
systems.
Bei der torpiden Form des Shocks liegen die Verletzten matt und gänzlich
erschöpft auf der Trage, das bleiche , graue Gesicht ist schlaff und ausdruckslos ; die
Pupillen weit, die Augen gläsern. Der Puls ist klein, frequent, meist nicht zu zählen,
die Haut kalt und welk, die Athmung flach und wenig häuflg, die Temperatur oft um
mehrere Grade herabgesetzt. Die Kranken liegen, wie sie gelegt werden und sind total
apathisch. Urin und Stuhl gehen Ijald spontan ab, l»ald sammeln sich Massen Urin an,
ohne dass in der gelähmten IJlase Drang zur Entleerung einträte. Meist wendet sich
binnen Stunden die Sache entweder zur Besserung, indem der Puls sich hebt, die Haut
wärmer wird, die Muskel- und Geistesschwäche abnimmt, oder unter Zunahme der Herz-
schwäche und der Theilnahmslosigkeit geht der Kranke im Laufe der nächsten Stunden
zu Grunde. Doch können sich Zustände von Shock über ein bis zwei Tage hinziehen
und schliesslich doch noch zum Tode führen.
Bei der erethischen oder irritativen Form des Shocks, die ich nament-
lich nach Verbrennungen, aber auch nach schwereren Maschineuverletzungeu gesellen
habe, .sind das Ausseiien. das Verhalten der Haut, die Muskelscliwäche ganz die gleichen.
Der Puls ist gerade so elend, wie bei der torpiden Form und unterscheidet dieses \er-
halten der Circulation diese Art Shock ganz streng von hysterischen Zufällen und vor-
übergehenden Geistesstörungen (Delirium). Im Uel)rigen bieten die Kranken das Bild
äusserster ängstlicher Aufregung; die Kranken sdireien laut, oft immer denseil)en Satz,
werfen sicli hin und iier. sind jedoch viel zu sciiwach, um auch nur ein Bein rühren
zu können. Die Progr.osi; dieser Form ist günstijrer. als die der torpiden Form, wenn
sie auch nicht al).soiut günstig ist. Maiiclunal irclit dii^ tnrjiidc durch die eretbisihe
Form in Genesung über.
J28 III. Capitel. — Vi;)'l(!t/,ii)iK<;ii.
In der Leiche an Öhouk Verstorbener findet sieh nielits Charakteristisches und
wird dieser negative Befund von manchen Autoren als uneriässlieh bezeichnet, um
Shock diagnosticiren zu dürfen. Die Ursache des Shock sucht man zur Zeit in einer
plötzlichen Uebermiidung und Erschöpfung der nervösen Functionen , wäiirend man
früher — in Analogie mit dem 6^0^/0'schen Klopfversuch — an eine Hlutüljei-Jüllung
der Bauchorgane und hiedurch bedingte Gehirn anämie dachte.
Die Unterschiede in den klinischen p]rscheinungen zwischen Shock und Gehirn-
erschütterung und Ohnmacht, mit welch letzteren Shock vielfach zusammengeworfen
wurde, sind deutlich genug; vor Allem ist es das psychische Verhalten — bei Gehirn-
erschütterung und Ohnmacht Bewusstlosigkeit, beim Shock die psychischen Functionen
erhalten, aber in eigenartiger Weise verändert.
Die Behandlung des Shocks ist Euhe und Stimulantien. Warme
Einpackungen, Injectionen von Aether oder Campheröl (1 Theil in 4Theilen
Ol. amygd.), Klystiere mit Alkohol und Wasser (1:6 — 1:10), Koch-
salzinfusion sind angezeigt. Ehe man heissen Wein oder Kaffee gibt,
versucht man erst mit einem Esslöff'el Wasser, ob der Kranke überhaupt
noch schluckt. Im schweren Shock zu operiren, ist durchaus zu ver-
werfen ; die Kranken gehen ausnahmslos während oder unmittelbar nach
der Operation zu Grunde, ob man nun narkotisirt hat oder nicht. Es
genügt, den verletzten Theil in einen anliseptischen Verband zu hüllen
und abzuwarten, bis wieder guter Puls und annähernd normale Tempe-
ratur und psychisches Verhalten da sind.
Im Anschluss an chirurgische Operationen sollte es nicht zum
Shock kommen. Je weniger Angst der Kranke vor der Operation hat,
je besser er körperlich und geistig vorbereitet ist , je weniger er Blut
verliert, je weniger er sich abkühlt, je kürzer Operation und Narkose
dauern, je weniger concentrirte Antiseptica zur Anwendung kommen,
kurz je besser Alles bei der Operation „klappt", um so geringer ist
die Gefahr, dass es nachher zum Shock kommt.
Der Fettembolie, als seltener Begleiterscheinung schwerer
Knochenverletzungen , haben wir pag. 18 gedacht. Einen klaren Sym-
ptomencomplex macht sie nicht, man denkt an sie, wenn nach schweren
Knochenbrüchen, Brisemeut force von Ankylosen u. dergl. (Campheröl-
injectionen!) Dyspnoe und Pulsstörungen sich einstellen. Manche Chirur-
gen schieben jeden ungünstigen Ausgang auf Fettembolie, andere sehen
sie so gut wie nie.
Auch die Luftembolie ist pag. 18 erwähnt.
Eine im Ganzen seltene Complicatioh der Verletzungen ist die
Anhäufung von Luft in den Maschenräumen des Bindegewebes, das
traumatische Emphysem. Es schliesst sich an Verletzungen der
Athemwege von der Stirnhöhle herunter bis zur Lunge, besonders an
Verletzungen der Lungen durch Rippenbrüche an. Bei Thieren (Wild)
kommt es nicht so selten durch Ansaugung von Luft in äussere Wunden
zu Stande; Gräfe hat so entstandenes Emphysem bei Operationen in
Beckenhochlage gesehen. Oertliches Emphysem an der Stelle der Ver-
letzung ist bei Brustverletzungen eine ziemlich gewöhnliche Erschei-
nung, allgemeines traumatisches Emphysem dagegen ist eine entschiedene
Seltenheit.
Die Diagnose macht man aus der blassen Schwellung, welche dem Finger deut-
liches Knistern bietet und tympani tischen Percussionsschall gibt. Fieber und Schmerzen
fehlen meist gänzlich. So lange das Emphysem nur im Unterhautzellgewebe bleibt, wo
die Luft, besonders entlang der Gefässe sich ausbreitet, macht die Sache dem Kranken
meist wenig Beschwerde. Geht es aber längs der grossen Halsgefässe nach dem Media-
stinum, so kommen schwere Erstickungserscheinungan und die Kranken können,
Hautemphysem. — Delirium tremens. 129
trotzdem der Luftrölirenscliiiitt zur rechten Zeit gemacht ist, au Erstickung zu Grunde
gehen. Doch kommen Fälle, die ein sehr übles Aussehen bieten, bisweilen noch durch.
Die Luft verschwindet oft erst nach Monaten : während Sauerstoff und Kohlensäure
leicht resorbirt werden, scheint der Stickstoff äusserst langsam zu verschwinden.
Leichte Fälle verlangen keine Behandlung, höchstens Eis und
elastische Wattedriickverbände. In schwereren Fällen sind Function und
Incisionen nützlich. Eine Freilegung der Lungenwunde mit Bildung
eines offenen Pneumothorax, so dass die Luft frei auszischen kann,
statt in's Unterhautzellgewebe mit jedem Athemzug hereingepumpt zu
werden, hat mir in mehreren Fällen gute Dienste gethan. Schliesslich
kommt, wie gesagt, die Tracheotomie an die Reihe.
Die differentielle Diagnose gegenüber den jauchigen Gasansammluugen bei
Gangrene foudroyante u. dergl. wird durch das wenig gestörte Allgemeinbefinden, die
Fieberlosigkeit, den ruhigen Puls , den Mangel jeglicher Entzündungserscheinungen am
Orte der Gasansammlung gestellt.
Nach all dem , was ich über die verschiedenen Gefahren Ver-
letzter und Operirter gesagt habe, wird es nicht Wunder nehmen, wenn
wir auch Todesfälle beobachten, wo wir eine genaue Diagnose nicht zu
macheu vermögen, und wo wir schliesslich die Summirung einer An-
zahl von Momenten beschuldigen müssen , die an sich vielleicht nicht
zur Vernichtung des Lebens genügt hätten. Blutverlust, Narkose, Shock,
Abkühlung, Resorption antiseptischer Mittel, lauge Dauer der Operation,
beginnende Blutvergiftung, früheres Siechthum, Potatorium, Gefäss- und
Herzerkrankuugen, Fettembolie u. dergl. mehr wirken zusammen. Man
hat solche Todesfälle gar nicht übel „gemischte Todesfälle" genannt.
Diese nicht ganz aufzuklärenden üblen Ausgänge von Operationen
haben sorgfältige Operateure , welche jeden kleinen Umstand genau
berücksichtigen und bedenken, selten zu beklagen. Sie sind bei wohl
vorbereiteten Operationen entschieden weniger häufig, als bei rasch in
Scene gesetzten Operationen aus dem Stegreif.
Unter den üblen Ereignissen , welche nicht unmittelbar an Ver-
letzung oder Operation sich anschliessen, und nicht auf Wundinfection
beruhen, die dem Chirurgen aber doch mitunter viel zu schaffen macheu,
nimmt das Delirium tremens eine wichtige Stelle ein.
Das Delirium tremens s. alcoholicum oder der Säufer-
wahnsinn ist eine unter dem Einfluss der Verletzung oder Operation
plötzlich hervortretende acute Geistesstörung (Manie) bei chronischer
Alkoholvergiftung. Sie ist vorwiegend eine Krankheit der hart arbei-
tenden männlichen Bevölkerung, doch habe ich sie auch bei Weibern
der unteren Stände und Puellae publicae gesehen. In Wein- und Bier-
ländern ist das Delirium tremens selten, in Schnapsgegenden ist jeder
Arbeiter jenseits des 35. Jahres verdächtig.
Das Delirium fängt allmählich an. Die Kranken, durch die Ver-
letzung aus ihren Gewohnheiten herausgerissen, vielleicht auch in eine
ganz neue Umgebung — ein Hospital — plötzlich versetzt, fühlen sich
unbehaglich und benehmen sich eigenthündich und sonderbar. Das
erste Sym])tom ist unruhiger, durch Träume, oft auch lautes Reden
gestörter Schlaf. Bald entwickelt sich eine enorme Unruhe bei
den Kranken; erlaubt es ihr Zustand, so gehen sie planlos umher,
schwatzen hier und dort das confuseste Zeug. Dabei wird eine grosse
Miiskelunruhe und beständiges Zittern aulfällig, welches durch den
ganzen Körper geht und ja bei Gewohnheitssäufern, auch ohne Delirium,
Land^rer, Allp. cliir. Pathologie u. TIk rapie. 2. Aufl. 9
130 III- Cai>itel. — Verletzuiif^i;n.
stets vorbanden ist. Von ihm f'ülirt die Krankheit den Namen De-
lirium tremens, üas Zittern demonstrirt sich am besten , wenn man
den Kranken beide Arme mit ges])reizten Fingern wagrecht hinaus-
halten und zugleich die Zunge herausstrecken lässt. Die Kranken
zupfen an der Bettdecke, ziehen und ändern an den Verbänden u. dcrgl.
mehr. Der Gesichtsausdruck ist bald ängstlich , bald übertrieben
heiter.
Bald stellen sich bei dem Kranken auch wirkliche Sinnes-
täuschungen ein — Hallucinationen und Illusionen — , welche
ihn gerade wie einen gewöhnlichen Geisteskranken, Tag und Xacht
nicht zur Ruhe kommen lassen.
Illusionen sind falsclie Deutungen wirklich vorhandener Sinneseindrücke, wenn
ein Kranker den Arzt für seinen Oberst hält oder einen chirurgischen Operationssaal
für eine ,,Fleischerhalle" erklärt. Hallucinationen sind Wahnvorstellungen , ohne dass
Sinneseindrücke überhaupt stattgefunden haben. So sieht der Kranke mit Delirium
tremens Millionen von Mäusen oder Käfern auf seinem Bette, nach welchen er vergeljlich
hascht, oder endlose Heereszüge, Millionen von Stiefeln , welche an ihm vorüberziehen
und dergl. mehr.
Die Delirien sind sehr verschiedener Natur und verschiedenen
Grades, bald nur eine unschuldige Geschwätzigkeit und Aufdringlich-
keit , bald werden die Kranken , besonders wenn sie gereizt werden,
gefährlich und in hohem Grade aggressiv. Weiber sind meist verliebt
(„nymphomanisch") und oft sehr spasshaft. So geht es Tage und
Nächte fort und neben der Schwächung der Kranken durch diese be-
ständige Aufregung ist es die völlige Schlaflosigkeit, welche die
Kranken mehr und mehr erschöpft.
Für die Heilung von Wunden und Verletzungen ist eine beträcht-
liche Herabsetzung oder völlige Aufhebung des Schmerzgefühles
äusserst wichtig. Die Kranken hantiren mit gebrochenen Armen wie
mit gesunden ; laufen auf Beinen mit grossen Wunden , selbst Ampu-
tationsstümpfen umher. Wie dann diese Glieder nach Kurzem aussehen,
kann man sich denken.
Eine fernere ungünstige Erscheinung des Delirium tremens ist die
fast constante Verweigerung des Genusses von Spirituosen.
Der Kranke zeigt meist einen unbesieglichen Widerwillen gegen alle spiri-
tushaltigen Getränke, selbst Arzneien. Dem Herzmuskel fehlt so der
durch die Gewohnheit zur Nothwendigkeit gewordene Reiz und ebenso
hängt die gänzliche Appetitlosigkeit der Kranken mit dieser plötzlichen
Entziehung zusammen.
Der weitere Verlauf, die Ausgänge des Delirium tremens
sind äusserst verschieden.
In günstigen Fällen schlafen die Kranken nach 1 — Stägiger Ex-
citation ein , oft ziemlich plötzlich , und erwachen aus einem langen
Schlaf müde und angegriifen, aber klar und ruhig und fast immer ohne
Erinnerung an das unmittelbar Vorhergegangene. Ein anderes Mal
kommt es nur schwer und spät zu dem wirklich kritischen tiefen Schlaf;
die Kranken ruhen wohl einige Stunden, fangen dann aber wieder an
zu toben. Diese protrahirteren Fälle werden ebenso wie die furibunden
Delirien mitunter durch einen plötzlichen Tod complicirt. Das Herz,
den enormen Anforderungen nicht gewachsen , des gewohnten Reizes
und genügender Ernährung entbehrend, erlahmt plötzlich und die Kranken
brechen — inmitten ihrer Tobanfälle — zusammen. Oder es entwickelt
Delirium tremens. 131
sich eine Lung-enentzüiidiuig-, der die Kranken, wie alle Trinker,
widerstandslos schnell erliegen. Eine weitere Gefahr droht von Seiten
der Operationswunde oder der Verletzung. Die misshandelten Wunden
werden sehr leicht inficirt, es kommt zur Eiterung, selbst zur Jauch ung
und die Kranken gehen durch Blutvergiftung zu Grunde. Ebenso kann
ein einfacher Knochenbruch unter Durchbohrung der Haut von innen nach
aussen sich mit einer Wunde und folgender Blutvergiftung compliciren.
Von der Behandlung ist zunächst die Prophylaxe wichtig.
Die Aufgabe ist, durch zeitige Darreichung der nöthigen Mengen Spiri-
tuosen den Ausbruch zu verhindern. Man gibt bei verdächtigen Pa-
tienten sofort nach der Verletzung soviel Schnaps, Wein oder Bier, als
der Kranke nimmt. Bei verschämten Trinkern — und Trinkerinnen —
kann man den Spiritus in Arzneiform geben : Tinct. amar. 100, Tinct.
aromat. 10—20-0, Spir. vin. 30— 500, Aqu. dest. 150 0, Syr.spl. 10— SO'O,
halbstündlich ein Esslöffel. Nehmen die Kranken willig ihr gewohntes
Quantum, so pflegt auch das Delirium auszubleiben oder milder zu
verlaufen. Verweigern sie den Alkohol, so gelingt es meist nicht, den-
selben verdeckt, in Arzneiform oder Klysmen beizubringen. Hier ver-
sucht man mit Morphium, am besten mit etwas Atropin (Rp. Morph,
mur. ro, Atrop. sulfur. 001, Aq. dest. 30"0. MDS. Zur subcutanen
Injection, mehrmals täglich Ys — 1 Spritze) Beruhigung zu erzielen. Die
Erfolge sind selbst bei grossen Gaben, welche die Maximaldose über-
schreiten, ziemlich unsicher ; der Morphiumschlaf ist oft nur eine kurze,
immerhin erwünschte Unterbrechung. Auch Chloralhydrat (in Clysmen)
kann versucht werden. Strychnin (0'003 p. D., O'Ol p. d.) wird vielfach
empfohlen. Auch Magenausspülungen sind oft nützlich , die Kranken
nehmen darnach wneder Speise und Trank. Protrahirte warme Bäder
leiten manchmal den Schlaf ein.
In der Behandlung der Delirien gilt als oberster Grundsatz
das ,,no restraint". kein Zwang, denkbar grösste Freiheit und Nach-
giebigkeit seitens der Umgebung. Wird der Kranke in eine Tobzelle
oder eine Zwangsjacke gezwängt, so tobt er sich darin — gequält
von ängstlichen Wahnvorstellungen — zu Tode. Lässt man ihn in
Begleitung eines handfesten Wärters oder Freundes frei umhergehen,
so kommt es wohl zu kleinen Ptaufereien , aber meist nimmt das De-
lirium einen ruhigen Verlauf.
Der Schutz der verletzten Stelle macht meist grosse Mühe, beson-
ders an der unteren Extremität; selbst mit den festesten Gypsverbänden
und schwersten Gypsumgüssen werden die Kranken in wenigen Stunden
fertig.
Die Diagnose des Delirium tremens ist für denjenigen, der es
einmal gesehen , nicht schwer. Früher hielt man , bis zu den Unter-
suchungen Suffon's, das Delirium für eine Gehirnentzündung. Die
Fieberlosigkeit , der Mangel von Krämpfen und Contracturen bilden
wichtige Unterschiede. Von anämischen und Fieberdelirien lässt sich
der Säuferwahnsinn durch die niedrige Temperatur und das Verhalten
des Pulses, das Allgenicinl)efinden abtrennen. Auf die l'nterschiede
gegenüber der Jodoformvergiftung , den Delirien bei Blutvcrgittungen
wird l)ci Bcsi^rechung dieser Krankheiten hingewiesen werden.
Die Prognose des Delirium tremens ist nicht mit Sicherheit zu
stellen. Die gemiithlichen Formen geben im Ganzen eine bessere Aus-
9*
1)32 ^I^- Capitel. — Verlctzungfin.
sieht, als fiiribiincle Delirien. So lang-c der Puls voll und kräfti;^- und
nicht zu fref|uent (80 — 90) ist, droht keine unrnitteibai-e OefaJjr. Geht
er in die Höhe oder wird er gar unregelniässig, so leisten meist auch
die Excitantien — Aether, Carnpher subcutan — nicht mehr viel. Geht
die Temperatur in die Höhe, so ist dies als sehr ungünstiges Zeichen
aufzufassen. Es muss sorgfältig nach Complicationen — Lungenent-
zündung, Vv^undstörungen — geforscht w^erden.
Die pathologische Anatomie des Delirium tremens ist die
des chronischen Alkoholismus — Degenerationen und folgende binde-
gewebige Atrophien, namentlich Verfettung des Herzfleisches, Arterien-
atherom, Schrumpfung der Leber ; bindegewebige Verdickung der harten
Hirnhaut, chronischer Magen- und Darmkatarrh.
Das Vorkommen des Delirium träum ati cum s. nervös um, einer plötz-
lichen Geistesstörung nach Operation oder Verletzung wird zur Zeit ebenso bestritten, wie
die Irrenärzte das Vorkommen der damit analogen Mania transitoria anzweifeln. Nach
Rose sind die bisher als Delirium nervosum beschriebenen Fälle in Wahrheit Säufer-
wahnsinn.
In älteren Schriften und auch jetzt noch namentlich in der
französischen Literatur, begegnet man oft langen Auseinandersetzungen
über den Einfluss der Diathesen oder Constitutionsanomalien —
angeborner oder erworbener Anlagen und Dispositionen zu allen mög-
lichen Krankheiten — auf den Verlauf von Wunden , Verletzungen
und Entzündungen. Wir sind heute viel mehr geneigt, einen unbefrie-
digenden Wundverlauf auf einen technischen Fehler des Arztes zurück-
zuführen , doch bleiben immerhin noch Fälle, wo eine abnorme Körper-
beschaffenheit des Kranken ihre Wirkung äussert.
Dass es Leute gibt, bei denen jede Wunde oder Entzündung viel
langsamer und mit allen möglichen unerwarteten und unerwünschten
Zwischenfällen heilt, die eine „schlechte Heilhaut" haben, ist altbekannt
und nicht zu bestreiten. Meist sind dies schwächliche Constitutionen
oder die Betreffenden leiden an irgend einer chronischen Krankheit,
welche nur noch nicht so weit vorgeschritten ist, dass w^ir sie mit
Sicherheit zu erkennen vermögen, Tuberculose, Herz- oder Nierenleiden.
Oder sie haben früher Krankheiten durchgemacht, deren äussere Spuren
vielleicht getilgt sind, welche aber in inneren Organen wichtige Ver-
änderungen zurückgelassen haben.
Die Syphilis beeinflusst den Wundverlauf nur selten unmittelbar.
Bei zahlreichen Syphilitischen, die ich operirt, habe ich nur zweimal
Störungen der Wundheilung gesehen, welche auf sie zu beziehen waren.
Bei einem Studenten, der sich einige Wochen vorher angesteckt hatte,
verwandelte sich eine Stirnwunde in ein richtiges syphilitisches Geschwür,
das erst unter Quecksilberbehandlung heilte. Ebenso sah ich die Ex-
stirpationswunde einer Fettgeschwulst bei einer jungen Dame sich in
ein Geschwür umwandeln , das nach längerer erfolgloser anderer Be-
handlung schliesslich auf Jodkaliuragebrauch rasch heilte. Dass aber
Syphilis die Widerstandsfähigkeit gegen Operationen nicht immer, aber
häufig herabsetzt, ist für mich kein Zweifel. Es sind in erster Linie
die syphilitischen Veränderungen an Herz und Gefässen zu beschuldigen.
Aehnlich verhält es sich mit Tuberculose und Scrophulose.
Meist heilen bei Tuberculosen die Wunden so glatt, wie bei Gesunden.
Doch gibt es oft langwierige Heilungen , vielleicht weil die Kranken
überhaupt geschwächt sind ; gerade wie auch sonst bei heruntergekom-
Constitutionsanomalien. 133
raenen Kranken, im letzten Stadium des Krebses, von Nierenkrank-
heiten u. s. f. die Wunden schlechter, besonders viel langsamer heilen.
Manchmal aber schliesst sich an eine Verletzung- oder eine andersartige
Entzündung unmittelbar eine tuberculöse Entzündung an. So erinnere
ich mich einer Anzahl Fälle, wo bei Tuberculosen an gonorrhoische
Blfsenentzündungen sich tuberculöse Blasenleiden anschlössen, die sich
auf dem schon vorher kranken Boden entwickelten.
Vernetiü unterscheidet eine Reihe von Diathesen als sehr wichtig: eine rheu-
matische, auf welche wir weiter unten zurückkoimnen werden, bei der es sich —
meiner Meinung nach — meist um alte Sjqjhilis oder die Folgen eingreifender Queck-
silbercuren oder um beides zusammen handelt. Dann soll die arthritische Dia-
these — die Anlage zur Gicht — die Aussichten der Verletzungen trüben; ebenso
der sogenannte „Paludisme", die schwere Durchseuchung des Körpers mit dem Gifte
des Wechselflebers. Dass diese Ea-ankheiten Einfluss haben können, will ich nicht
lengneu, doch habe ich hier in Deutschland nicht viel davon gesehen. Dass in anderen
Ländern, in anderen Klimaten, anderen Lebensgewohnheiten das Verhalten der Bevöl-
kerung vielfach ein anderes ist . ist keine Frage. Namentlich ist das Wechselfieber
anderwärts viel folgenschwerer. Bei Leuten, die längere Zeit in den Tropen gelebt,
habe ich auch auffallend schlechten Wundverlauf gesehen.
Die Zuckerharnruhr, Diabetes mellitus, vermag in ungünstigster
Weise auf den Wundverlauf einzuwirken, da bei "solchen Kranken die
Gewebe sehr leicht der Gangrän verfallen (s. pag. 45). Jedenfalls ist
sofort eine antidiabetische Behandlung einzuleiten (Ausschhessung aller
der Nahrungsmittel, welche sich im Organismus in Zucker umwandeln
können, also in erster Linie der stärkemehlhaltigen Stoffe). Mitunter
verschwindet allerdings der Zuckergehalt im Urin erst, nachdem der
Brandherd (ein gangränöses Bein) durch Amputation entfernt ist. Absolute
Gegeuanzeige zum Operiren ist Diabetes nicht.
Herzfehler stören die Wundheilung erst, wenn sie nicht mehr
conipensirt sind, Oedeme, Cyanose sich entwickeln; auch bei Nieren-
krankheiten sind es mehr die vorgeschritteneren Stadien.
Einige Constitutionsanomalien, welche die Neigung zu Blutungen
befördern, habe ich pag. 99 namhaft gemacht.
Wichtig ist es, das Alter der Patienten mit ihrem Aussehen zu vergleichen.
Entspricht das Avirkliche Alter der Schätzung nicht, sind die Leute zu früh gealtert,
so ist dies ein schlechtes Zeichen. ..Präsenile" Leute brechen oft nach einer schweren
Verletzung oder Operation unmittelbar zusammen. Andererseits ertragen Leute, die
sich „gut conservirt" haben, selbst in hohem Alter noch bedeutende Eingriffe über Er-
warten gut. Hohes Alter als solches ist keine Gegenanzeige gegen Operationen (Kraskej.
Geschlecht, Beruf, Lebensgewohnheiten und Bace sind nicht ohne
Einfluss. Frauen zeigen — selbst bei zartem Körperbau — oft über-
raschende Zähigkeit. Nervös und geistig übermässig in Ansprucli ge-
nommene Menschen halten viel weniger aus, als geistig stumpfe Ar-
beiter, der Fabrikarbeiter weniger, als der Bauer u. dergl. m.
Der Alkohol missbrauch bereitet dem Chirurgen oft unange-
nehme Ueberraschungcn. Der Alkoholist ist äusserst empfindlich gegen
Blutverlust, er chloroformirt sich schlecht; auch wenn er vom Delirium
tremens verschont bleibt, ist seine ganze Constitution so unterwühlt,
Verdauung. Ernährung, Kreislauf so gestört, dass er selbst unbedeu-
tenden Stiirungcn zum Ojjfer fällt. Oft ist eine von Anfang an mit
gänzlicher Prostration einhergehende (,. asthenische") Lungenentzündung
die unmittelbare Todesursache. Fette Trinker sind besonders gefährdet.
Fette Leute ertragen wegen der schlechteren Bcschattenheit vun Herz
und Gcfässen überhaupt viel weniger, als magere.
134 ni. Capitol. — Verletzungen.
Inwieweit andere üble Gewohnheiten, starkes Rauchen, .Morpliium-
missbrauch mitwirken, ist noch nicht ausgemacht. Sicher sind sie nicht
ohne Bedeutung.
Störungen der Wundheilung.
Mechanische Störungen. — Randgangrän. — Verhaltung von Blut und Wund-
secret. — Aseptisches Fieber. — Fremdkörper in der Wunde.
Bacterielle oder accidentelle Wundkrankheiten. — Die gewöhnliche
Wundentzündung. — Wundfieber. — Allgemeines über Fieber und Fieber-
behandlung. — Die Behandlung entzündeter W^unden. — Lymphgefäss- und
Lymphdrüsenentzündung. — Phlegmone.
Der ideale Wundverlauf, wie er pag. 67 und ff. geschildert ist,
wird leider nicht immer erzielt. Seit Einführung der antiseptischen
Methode ist er die Regel geworden, doch sind Ausnahmen immer noch
nicht selten. Der Verlauf einer Wunde kann infolge von Störungen,
die man als solche mechanischer Art bezeichnen kann, und durch
andere, die auf Bacterienübertragung beruhen, ein anormaler werden.
Die letzteren sind viel häufiger und praktisch ungleich bedeutungsvoller.
Als Störungen mechanischer Art sind Fälle zu nennen, wo
es wegen zu grosser Entfernung und Spannung der Wundränder nicht
möglich ist, eine genaue Vereinigung derselben und damit eine prima
reunio zu erzielen , ferner solche , wo die erste Verlöthung durch das
Absterben der der Wunde benachbarten Theile, die „Randgangrän",
vereitelt wird, vergl. pag. 89. Die Randgangrän tritt besonders da auf,
wo man z. B. nach Entfernung grosser Geschwülste die Haut unter grosser
Spannung gew^altsam durch die Naht zu vereinigen sucht. Die durch
die übermässige Ausdehnung blutarm gewordenen Theile verfallen dem
Brand und der Defect ist schliesslich grösser, als vorher. Seitdem man
durch die Thiersch'sche Hautaufpflanzung solche Defecte decken kann,
verzichtet man auf solch gewaltsames Zusammenziehen der Wundränder.
Wichtiger ist die Ansammlung übermässiger Mengen von
Wundsecret im Innern der Wunde. Etwas Secret ergiesst sich
immer zwischen die Wundränder. Wenn es nicht zu viel ist, wird es
leicht aufgesaugt. Ist aber die Naht zu dicht und functioniren die
Drainröhren nicht genügend , ist auch vielleicht die Blutstillung nicht
sorgfältig gewesen, so wird das Secret in die Gewebe hineingcpresst
und zum Theil resorbirt. Wie ich schon bei der Besprechung der
Quetschung, der Blutung und Transfusion mitgetheilt habe, stirbt
Blut , das aus den Gef ässen ausgetreten ist , ab , und wirkt — in die
Circulation zurückgebracht — giftig- Man bezeichnet die Erschei-
nungen, die dadurch entstehen, als Fermentintoxication. Das so
entstehende Fieber hat man, weil es ohne Mitwirkung von Mikroorganis-
men entsteht, nach Volkmann als aseptisches Fieber bezeichnet. Ausser
der massigen Temperatursteigerung (meist nur — SS'ö«, selten über 39")
führt das aseptische Fieber — zum Unterschied von den infectiösen
Fiebern — nur zu geringer Störung des Allgemeinbefindens. Der Puls
ist nur wenig beschleunigt, circa 80, Appetit normal, keine Kopf-
schmerzen, nicht das sonstige für Fieber charakteristische Krankheits-
gefühl. Eigentlich zeigt nur das Thermometer die Störung an. Eine
Veihaltung von Wiindsecret. — Aseptisches Fieber. l?>b
Behandlung ist nicht nöthig-, man lernt es bald durch exacte Blutstillung
und genügende Ableitung der Secrete — durch Drainröhren — zu ver-
meiden.
Das aseptische Fieber findet sich überall , wo die Producte des
Gewebszerfalls in die Circulation aufgenommen werden — bei grösseren
Quetschungen , Knochenbrüchen u. dergl. (s. bei Theorie des Fiebers).
In der Diagnose des „aseptischen" Fiebers ist Reserve geboten.
Mancher sucht damit eine ganz gewöhnliche Wundinfection vor sich
und Andern zu beschönigen.
Für die Unterscheidung von infectiösem Fieber ist ausser der
mangelnden Allgemeinstörung wichtig , dass an der Wunde selbst
Schwellung und Röthung fehlen, doch fühlt sich die Haut gespannt an
und ist oft eher etwas blässer. Manchmal ist Fluctuation zu fühlen
und damit die Anwesenheit freier Flüssigkeit nachzuweisen.
Verhaltung von Wundsecreten führt häufig zur Vereite-
lung der Prima inten tio. Oft kann das Lösen einiger Nähte und
Einschieben einiger Gummidrainröhren die Prima intentio noch retten:
meist aber geht die Wunde in ihrer ganzen Länge auseinander und
heilt nun durch Granulationsbildung, aber statt in 6 Tagen , vielleicht
erst in ebenso viel Wochen.
Fremdkörper, die in der Wunde zurückbleiben, können gleichfalls die
Heilung stören — Gewehrkugeln, Messe) spitzen , in die Wunde hineingeglittene Drain-
röhren, Seidenfäden, Knochenstückchen u. dergl. Meist verursachen sie eine ziemlich
lebhafte Entzündung Sind sie ganz frei von Mikroorganismen, so bleibt ein Wundwinkel
offen und ans ihm entleert sich dünnes aseptisches Secret. Vielleicht heilt die kleine
Wunde (Fistel) für einige Tage zu, dann bricht sie wieder — unter Schmerzen —
auf u. s. w., bis der Fremdkörper mit dem biegsamen scharfen Löifel, der Curette, heraus-
geholt wird oder durch die hinter ihm sich zusammenziehenden Granulationen allmählich
herausgeschoben wird. Der Verdacht, dass ein Fremdkörper in einer Wunde steckt,
wird bestärkt , wenn die Granulationen an der äusseren Oeflfnung des Canals einen
üppig wuchernden, leicht blutenden, nach aussen umgeschlagenen wulstigen Eing bilden.
Nur selten heilt der — ganz aseptische — Fremdkörper ein und wird abge-
kapselt (s. pag. 80).
In ihrer klinischen Bedeutung verschwinden diese Vorfälle neben
den durch Mikroorganismenentvvicklung bedingten Wundstörungen, den
bacteriellen oder accidentellen Wundkrankheiten.
Die Ueberzeugung , dass es sich bei den Störungen der Wundheiluug nicht um
chemisclu; Umsetzungen der Säfte oder Gewebe unter dem Einflüsse des Luftzutritts,
des Sauerstotfs oder um chemische Luftverderbniss u. dei'gl. handle, brach sich schon in
den ersten Decennien dieses Jahrhunderts allmählich Bahn. Henle sprach es aus, dass
sowohl bei diesen als bei anderen ansteckenden Kiankheiten: Pocken, Cholera U.A.,
die Ursaclie nur in belebten , vermehrungsfähigen kleinsten Organismen gesucht werden
könne. Diese Ansicht fand um so beifälligere Aufnahme , nachdem die von Liebig
vertretene chemische Theorie der Fäulniss durch Pasteiir's epochemachende Entdeckungen
als unhaltbar erwiesen war. Pasleur wies nach, dass ohne Mikroben (Mikroorganismen)
keine Fäulniss, keine Gährung möglich ist, auch bei ungoliindertem Luftzutritt.
Grossartig in ihrer Einfachheit sind die grundleg^Miden Pasteur'^idhQw Versuche.
Fäulnissfähige Flüssigkeit wurde in Glaskolben, in deren Stopfen eine offene Glasröhre
angebraciit war, melirere Stunden lang gekocht, so dass anzunehmen war, dass alle
entwicklungsfähigen Keime in der Flüssigkeit zerstört seien, dass sie „sterilisiit" sei.
Wurde nun die Glasröhre umgebogen, dass die Spitze nach unten sah, so blieb jede
Zersetzung aus, weil die Mikroorganismen nicht, der Schwere entgegen , in die Flüssig-
keit eindringen konnten, ül)gh.'ich Luft natürlich frei zutreten konnte. Li der anderen
dagegen, deren ofl'ene Spitze frei nach oben sah, wo also auch ]\Iikrol)ien liereinfallen
konnten, trat Fäulniss in gewöhnlicher Weise ein. Ebenso Hess sich Fäulniss verliüten,
13(3 JII. Capitel. — Verletzungen.
wenn die Glasröhre wolil nach ol)en gerielitet blieb, die OetlnmiK aber durch einen
vorher erhitzten Wattepfroj)!' verschlossen wurde. Au(;h hier konnte Luft zutreten, nicht
aber Fäulnissbacterien , welche in dem engen Maschenwerk der Watte zurückgehalten,
abfiltriit werden.
Die Anwendung der Pasteur'sch&n Sätze über Fäulniss und Gähiung auf die
Wundentzündung und das Wandfieber wurde namentlich von Billroth gemacht und
näher ausgefühlt. Den nicht mehr zu widerlegenden ))raktischen Beweis der Wahrheit
erbrachte dann die auf den Fasteur'schen Arbeiten fassende Lisier'scbfi anti.septische
Methode. Sie zeigte, dass, wo es gelingt, die Mikroorganismen auszuschiiessen oder un-
Kchädlich zu machen, auch Wandentzündung und Wundfieber au.sbleibt. JJie nähere
Bekanntschaft mit den Mikroorganismen der AVundinfection , die Kenntniss einzelner
Arten verdanken wir den grundlegenden Arbeiten liobert Kocli'f;. Wichtige weitere
Detailarbeiteu sind von liosenhach, Garre, v. Eiselsherg, Passet, Brunner, lieicliel u. A.
ausgeführt worden.
Bei den acuten accideutellen Wundkrankheiteu kommen im
Wesentlichen dieselben Mikroorganismen in Betracht, die schon als
die Erreger der Eiterung beschrieben sind (pag. 30).
Die wichtigsten und weitaus häufigsten Erreger sind der Staphylo-
coccus und der Streptococcus.
Der Staphylococcus ist ein typischer Coccus (Fig. 88) (vergl. auch
Fig. 12), der sich ganz besonders in Krankenzimmern, Operationssälen
(v. Eiselsherg), aber auch sonst fast überall, in der Luft, am Boden u. s. w.
findet. Er ist überdies ein fast regelmässiger Bewohner der Mund-
höhle und wird auch auf der äusseren
^ig- SS- Haut (siehe Furunkel) fast nie vermisst.
„s=^ 1^ ;°^g DerStaphylococcus wächst schon
^J-^ >o°l/ , °''° ^r°°"o bei Zimmertemperatur, noch rascher
'&fßi^ im Brütofen auf Gelatine, Agar, in
'•^ptÄ^^^ Bouillon, auf Kartoffeln, kurz so ziem-
lich auf allen Nährböden. Fig. 89 gibt
"'^*|sfc'°°-5='v^' """^ "».°I Gelatineculturen von Staphvlococcus
■" ' aureus m verschiedenen btadien der
Staphylococcus pyogenes aureus. Eutwicklnug. Dcr Staphylococcus vcr-
flüssigt die Gelatine lebhaft (Fig. 89),
er bildet Pepton aus Eiweiss, fällt Casein aus Milch u. s. w. In dünnen
Schichten zeigen die Kokken Eigenbewegung.
Er kommt in verschiedenen Varietäten vor; die häufigste und
infectionskräftigste Form ist der Staphylococcus aureus, dann folgt der
albus, schliesslich der citreus. Sie gehen ineinander über. Passet hat im
Eiter noch weitere Varietäten gefunden, den Staphylococcus cereus albus
und Staphylococcus cereus flavus. Dieser bildet auf der Gelatine, die er
nicht verflüssigt, wachs- oder stearintropfenähnliehe Beläge (vergl.
Fig. 90 nach Sehende). Die Staphylokokken sind die häufigsten Eiter-
erreger (vergl. pag. 30). Ihre eiter- und entzündungserregende Wirkung
ist durch zahllose Experimente (A.bscesse, Osteomyelitis, eiterige Ge-
lenksentzüudungen, Endokarditis ulcerosa u. s. w.) und durch reichliche
klinische Beobachtung festgestellt. Die Toxine der Staphylokokken und
die abgetödteten Culturen erzeugen ebenfalls Entzündung, Eiterung,
Fieber, Schüttelfrost.
Nächstdem ist der wichtigste Coccus der Wundinfection der
Streptococcus pyogenes, als Eitererreger gleichfalls pag. 30 er-
wähnt. Die klinischen Unterschiede der Staphylokokken- und Strepto-
kokkeneiterung sind pag. 31 besprochen.
"^sas
Erreger der Wundinfection.
137
Der Streptococcus pyogeues ist identisch mit dem Streptococcus
erysipelatis (Fehlehen, Benimgarten). Er verflüssigt die Gelatine nicht,
er bildet auf der Platte feine , tropfenförmige Colonien und (Fig. 9 L)
wächst wohl auf den meisten Nährböden (Gelatine, Agar, Kartoffel,
Bouillon), artet aber sehr rasch aus, indem er seine Virulenz schon
in wenigen Generationen fast völlig verliert, so dass er kaum noch
Verflüssigter Theil
Ansesammelte
Bakterienraasse
Impfstich im
niclitverflüssigten Theile 1|
Verflüssigter Tbeil der
Gelatine
Am Grunde des
Verttüssigungstrichters
angesammelte
Bakterienmasse
Gelatinestichcultur des Staiiliylococeus pyogenes aureus in zwei verschiedenen Formen.
Ent/iiiKlnii- erregt, wenn er nicht täglicli neu auf Bouillon oder
menscliliclies Blutserum übertragen und im l'.i'iitofcn weiter gezüchtet
wird. Ik'sondcrs rasch degenerirt er lici Zimmertemperatur. Er variirt
dann auch in der Grösse und die Anordnung zu Ketten verwischt
sich. — Iki Thieren finden sich zahlreiche Streptokokkenkrankheiten,
deren Beziehungen zum Streptococcus hominis noch iiidit khu- sind —
188
III. Capitel. — Verletzungen.
der Drusenstreptococcus beim Pferd, der .Stre|)tococeu.s der Wild-
seuclie, der Streptococcus septicus der Maus u. a. rn.
Bei Wundrose und Puerperalfieber wird er fast regelmässig
gefunden ; auch bei anderen Processen wird er häufig gesehen , doch
meist neben anderen Pilzen, besonders neben dem Staphylococcus.
Pig. 90.
Fig. 91.
Oberflächenbelas
Impfstich
Belag an der
Einstichstelle
Impfstich .
Gelatinestichcultur des Staphylococcus
cereus flavus.
Gelatinestichcultur des Streptococcus
pyogenes
Als seltene Erreger von Wundstörungen können ferner alle die
auf pag. 30 genannten eitererregenden Mikroorganismen in Frage
kommen — Bacterium coli , Proteus vulgaris , Mikrococcus tetragenus,
Bacillus pyogenes foetidus, Friedländer'' scher Bacillus, der bei Pneumonie,
Empyem u. dergl. gefundene kapselhaltigeDiplococcus pneumoniae (vergl.
Fig. 92) u. A. , soweit nicht noch bei specifischen Störungen (Anthrax,
Tetanus, Rotz u. A.) auch die specifischen Erreger zu nennen sind.
Wundentzündung. ]^39
Ein meist harmloser Parasit eiternder Wunden ist der Bacillus des blauen
Eiters, Bacillus pj'ocyaneus. Er ist ein schlanker Bacillus (Fig. 92) , der äusserst
hartnäckig den von ihm einmal befallenen Wunden anhaftet. Er findet sich besonders
in Holzwatteverbänden. Am ehesten wird er durch feuchte Sublimatverbände vertrieben.
Erst bei Sauerstoffzutritt entwickelt der Bacillus, dessen Varietäten pyocyaneus und
pyofluorescens sind, Farbstoffe, ausser dem gewöhnlichen blauen und grünen, auch braunes
Pigment (Schimmelbusch, Volkmann's kl. Vortr., 1893, Nr. 62).
Nach Ledderhose (Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. XXVIII) vermag der B. pyocj'aneus
Entzündung und Eiterung zu erregen und Kr annhals (Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. XXXVII)
beschreibt 8 klinische Fälle von Pyocyaneusinfection , wo er allein , unter zum Theil
typhösen Erscheinungen multiple Eiterungen mit bluthaltigem Eiter, Blutungen, Petechien,
pustulöse Eruptionen erzeugt hat. Im Gegensatz hiezu nahm Sclmnmelbusch an , dass
er giftige, locale und allgemeine Wirkungen besitze, aber die Eigenschaften eines in-
vasiven, pathogenen Organismus ihm abgehen. Sein Toxin wirkt temperaturherabsetzend.
Der rothe Eiter beruht gleichfalls auf einem specifischen Bacillus mit abge-
rundeten Enden.
Die klinischen Formen der accicientellen Wundkrank-
heiten zeigen meist einen ausgesprochenen typischen Charakter, doch
fehlen auch Mischformen zwischen den einzelnen nicht. Bei manchen
Fis,' 02 Fig. 93.
0
^Cv-
N
s:m i~^^ y \j<:
^'\^>^
y CS
l'nuumoniedii-iltk kk n (iiul /f//sr/j Der Bacillus des blauen Eiters. Keincultur.
Zeiss' Immers. 1/12. Oc. 5.
fallen mehr die örtlichen Veränderungen an der Wunde in's Auge, bei
anderen mehr die Störungen des Allgemeinbefindens.
Eine der häufigsten Wundstörungen ist die gewöhnliche Wund-
entzündung.
Die älteren Aerzte waren der Ansicht, dass überhaupt jede Wunde
mit Entzündung und eigentlich durch Entzündung heile. Sie sahen
nur selten als unerklärte Ausnahme eine aseptisch, d. h. ohne Entzündung
heilende Wunde und so nahmen sie an, die Wundränder müssten sich
röthen , anschwellen , schmerzhaft werden , die Nähte müssten in die
schwellende und sich hebende Umgebung einschneiden; es müsste eine
missfarbige eiterähnliche Flüssigkeit von der Wunde abgesondert
werden. Derartige Veränderungen zeigen sich gewöhnlich 18 bis
30 Stunden nach der Verletzung, um sich je nach ihrer Intensität in 3 bis
6 Tagen allmälig wieder zurückzubilden. Bei Entzündung massigen
Grades wird die prima reunio nicht gestört; die Wuiulheilung erfolgt
eher rascher, als l)ei eiitzündnngslosem Verlauf.
Bei der Wundcntziinduiig fehlt auch meist das (septische) Wund-
fieber nicht. Das Wundfieber zeigt einen wesentlich anderen Charakter,
als das aseptische Fieber. Es beginnt selten am ersten , meist am
2. — 3. Tag nach der Verletzung und erreicht seinen Höhepunkt am
140 ^^i- f^iipitol. — V(irlotzuiif,'(;n.
3. — 5. Tag'. Die Temperatur steigt auf l-iO", selbst 40". Labei ist
stets ein ausgespi'oehciies Krankheitsgefülil vorliaTiden. Der Kranke
fühlt sich unwohl; bald fröstelt er, bald fühlt er sich heiss, er ist an-
gegriffen, klagt über Kopfschmerzen, der Appetit ist schlecht, die Zunge
belegt, der Schlaf kurz, durch schlechte Träume unterbrochen; der
Puls erhöht, 90 — 100; der Urin ist dunkel, oft vermindert, durch
rasch ausfallende Harnsalze roth getrübt. Die Wunde selbst schmerzt
oft nicht besonders. Dieses Fieber ist als ein Resorptionsfieber
aufzufassen, gerade wie das aseptische auch. Doch handelt es sich
hier um die Producte der Mikroorganismen, welche sich in der Wunde
angesiedelt haben und vermehren , hauptsächlich des Staphjloeoccus
pyogenes. Ausser Peptonen und Amidoderivaten , welche für die Cir-
culation nicht gleichgiltig sind, bildet er auch Toxine, welche ver-
giftend auf den Organismus zurückwirken (s. pag. 55). Dass eine
rege Resorption aus Wunden stattfindet, geht aus den Befunden
V. Eiselsberc/s hervor. Derselbe konnte im Blut fiebernder Verletzter
fast ausnahmslos Mikroorganismen , vorwiegend Staphylokokken nach-
weisen. Damit stimmen die Beobachtungen EschericK's, welcher in der
Milch fiebernder Puerperae Mikroorganismen fand.
Schon seit Jahren ist es bekannt, dass in dem Wnndsecret selbst tadellos asep-
tisch geheilter Wunden Mikroorganismen , namentlich Kokken gefunden werden , sogar
in beträchtlicher Anzahl (Ogston). Schimmelbusch hat an Stückchen 'Wundrand, welche un-
mittelbar vor der Naht abgetragen Avurden , die verschiedenartigsten Mikroorganismen,
selbst Staphylococcus gefunden und sogar auf Nährböden zur Auskeimung gebracht.
Und dabei heilten die Wunden aseptisch und tadellos. Zum Zustandekommen von In-
fectiou und Fieber gehören also ausser den Mikroorganismen noch weitere begünstigende
Momente , besonders Verhaltung von Wundsecret.
Trotz zahlreicher, sorgfältiger und geistreicher Untersuchungen sind wir noch weit
davon entfernt, uns eine zufriedenstellende Vorstellung von dem Wesen und der Ent-
stehungsweise des Fiebers und der EoUe, die es im Haushalte der Natur spielt, machen
zu können. — Fieber- und Temperatursteigerung (Hyperthermie) dürfen nicht als
identisch angesehen werden und es ist ungerechtfertigt, wenn das Thermometer im
Mastdarm mehr als 38" zeigt, von Fieber zu sprechen. Es gehören zum Begriffe
„Fieber" noch eine Eeihe anderer Erscheinungen — Veränderungen der Circulation, des
Pulses, des Stoffwechsels, der Verdauung, des AUgemeinbeiindens, des psychischen Ver-
haltens. Die Erhöhung der Eigenwärme ist allerdings das wichtigste Symptom.
Vor Allem ist auch Fieber und Fieber nicht Dasselbe. Die verschiedenen Fieber
differiren nach den verschiedensten Richtungen hin.
Bekanntlich zeigen die Fieber die verschiedensten Typen. Bald ist der Gang
der Temperatur in ihren Morgen- und Abendschwankungen sonst genau dem physio-
logischen Verhalten parallel, nur um 1 , 2, 3 Grad höher, wir nennen ein solches Fieber
eine Febris continua. Ein anderes Mal liegen zwischen den Temperaturerheb uugen,
den Spitzen der Curve grössere Senkungen, als sie einer Tagesschwankung entsprechen,
die bekanntlich O'ö" — 1° beträgt, ein Fieber mit solchen ,.Relapsen" z. B. von 40" bis 38°
nennen wir Febris remittens. Fällt zwischen hohen Spitzen die Temperatur zur
Norm , oder unter die Norm (subnormale Temperatur) und besteht so für einige Zeit
keine Temperatursteigeruug, so hat man eine Febris intermittens. Das Ansteigen
der Temperatur erfolgt entweder im Lauf eines halben bis 2 Tage oder noch langsamer
bis zur Höhe (Akme) oder innerhalb weniger Stunden ; in letzterem Falle wird ein
Schüttelfrost — grosses Frostgefühl, mit Zittern und Zähneklappern — selten ver-
misst. Aehnlich erfolgt der Abfall des Fiebers langsam, „lytisch", oder rasch, „kritisch'",
dann häufig unter Ausbruch eines reichlichen (kritischen) Schweisses.
Puls, Blutdruck, Stromgeschwindigkeit sind bei verschiedenen Fiebern ganz ver-
schieden, bald beschleunigt und erhöht, bald findet das Umgekehrte statt, je nach dem
Wesen der fiebererregenden Ursache. — Die Ansicht Hueter's, dass es sich beim Fieber
um capilläre Stasen und ausnahmslos um starke Stromverlangsamung handle, ist keines-
Fieb ertlieorien . 141
wegs für alle Fieber giltig, höcbstens für die auf Blutvergiftung beruhenden septischen
und die .,adj'namischen" Fieber.
Die interessanteste Erscheinung des Fiebers bleibt immer die Erhöhung der
Eigenwärme. Diese kann entstehen durch Steigerung der AVärmebildung oder durch
Verminderung der Wärmeabgabe. Die letztere Ansicht , die alte Traube'sche Theorie,
dass Fieber durch Vermin derung der Wärmeabgabe bei unveränderter Production,
durch Wärmestauung entstünde, ist heute unhaltbar. Zahlreiche Experimente {Lieber-
meister, Se)iator u. A..) haben gezeigt, dass der Fiebernde viel mehr Wärme abgibt
als der Gesunde. Mit Recht weist jedoch Fick darauf- hin, dass die Organe der Wärme-
abgabe im Fieber nicht normal functioniren können; denn beim Gesunden sind sie im
Stande, selbst ganz kolossale Wärmemassen, z.B. bei starker Muskelarbeit, spielend
wegzuschaffen , ohne Erhöhung der Eigenwärme , besonders durch die Schweissbildung.
Für das Froststadium gewisser Fieber , des Wschselfiebers , wo die Haut blass , die Ge-
fässe contrahirt sind und durch die Zusammenziehung der glatten Hautmuskeln die
sogenannte Gänsehaut entsteht, hat die Annahme einer Wärmeverhaltung keine Schwierig-
keit. Anders steht es bei solchen Fiebern , wo die Röthung der Haut glauben lassen
sollte, dass eher mehr Wärme abgegeben würde. Dass jedoch das Fieber auch gefäss-
contrahirend wirkt , selbst in inneren Organen , wo man es am wenigsten vermuthen
sollte , geht aus den Versuchen , welche Colinheim mit Mendelsohn angestellt hat,
hervor. Das Volum der Niere nahm im Fieber constant um bis 20 Vol. -Procent ab,
und zwar zweifellos nur durch Gefässcontraction. So gut Avie in der Niere , kann es
schliesslich auch in der Haut der Fall sein und es muss trotz der scheinbaren Hyperämie
der Haut die Wärmeabgabe eine ungenügende sein , wenigstens im Verhältniss zu der
zweifellos enorm gesteigerten Wärm ep r oduction. — Dass diese wesentlich er-
höht ist. geht nicht allein aus directen Messungen hervor, auch die Vermehrung der
Kohlensäureausscheidung, die Zunahme der Sauerstoffaufnahme und die Steigerung der
Harnstoffbildung weisen darauf hin.
AVie nun diese Alteration der Wärmeökonomie , die Vermehrung der Production
und die Aenderungeu der Abgabe, wie diese Abweichungen in Stoffwechsel und Blut-
circulation zustande kommen , darüber können wir uns höchstens hypothetische Vor-
stellungen gestatten. Ohne die Annahme von Wärme- und Stoff w echselcentren
kann man nicht wohl auskommen. Solche scheinen in der Gegend der Grosshirn-
ganglieu, an der Aussenfläche des Corp. striat. und des Thalam. opt. zu liegen (Äron-
solin, Sachs). Nach ihrer Zerstörung gelingt es nicht mehr, Fieber zu erzeugen;
ebenso ist dies bei curarisirten und tief narkotisirten Thieren nicht mehr möglich
(Mendelsohn, Zuniz).
Wie nun das Fieber eigentlich entsteht, darüber sind wir noch nicht zur Klarheit
gelangt. — Der ^f^%, Fieber auf künstlichem Wege durch Einspritzung fiebererregender
(pyrogener) Mittel zu erzeugen , ist oft genug betreten worden. Die Zahl dieser Stoffe
ist eine sehr grosse; ausser Jauche u. dergl. sind namentlich Fibrinferment (Alexander
Schmidt, Edelberg , Kramer), Histozym (Sclimiedeberg), Hämoglobin, Magen- und
Pankreassaft, Pepsin (Bergmann) verwandt worden. Es sind dies meist fermentartig
wirkende oder fermenthaltige Stoffe. Aber auch nicht fermenthaltige Stoffe vermögen,
in die Circulation eingebracht, Fieber zu erzeugen; so kann man durch Einspritzung
von Brunnen- und destillirtem (sterilem) Wasser Fieber erzeugen. Gemeinsam scheint
allen diesen Stoffen die Fähigkeit zu sein, weisse und rothe Blutzellen aufzulösen.
Für viele Fälle von Fieber würde die Annahme genügen , dass Zerfallsproducte von
Zellen, in die Circulation eingebracht , die Temperatursteigerung . die gesteigerte 0- Auf-
nahme, und CO.j -Abgabe, die gesteigerte Harnstoffausscheidung bedingen. Ein wesent-
licher T'nterschied zwischen den aseptischen Fiebern (s. oben) bei Knochenbrüchen,
subcutanen Blutungen, Quetschungen, nach Blutverlusten, bei Anämie, nach Transfusion
u. s. w. und den septischen Fiebern {Wundfieber , Wundrose , Pyämie , Sepsis u. dergl.)
würde dann nicht zu machen sein.
Mau muss annehmen, dass diese — von aussen eingebrachten oder im Organis-
mus entstehenden — Stoffe die betreuenden Centren erregen und so die Aenderungeu
in Circulation, Wärmeabgabe, Stoffverbraucli u. s. w. herbeiführen, welche wir als Fieber
bezeichnen. Das Fieber wäre somit als eine Vergiftung aufzufassen, vielleicht eine Art
Fermentintoxication. Die Temperatursteigerung wäre die Folge einer Reizung des
Temperaturcentrums durch das vergiftete Blut; ähnlich wie die Grosshirnrinde und die
grossen C'.'utren unmittelbar beeintlusst werden durch das mit Chloroform oder Allcohol
geschwäiigert(! Blut. — Dass die Erregung dieser Centren nicht durch die periiiheren
Ners'en erfolgt, ist zweifellos. Wird Jauche in ein Bein ges))ritzt, dessen sämmüiche
Nerven durchschnitti-n sind, so wird das Entstehen des Fiebers in keiner Weise ge-
hindert. — Das experimentell erzeugte Fieber entsteht , wenigstens bei Ein-spritzung
142 I^I- C^'ajjitel. — Verlotzungfiii.
von Bacterienaufscliwemiiiungen , nicht unmittelluir nach dci- luji.-ction , mc-ist erst
eine lialbe Stunde, eine Stunde nachher. Vielleicht Inlden sich die pyrogenen Stoffe
eben erst in dieser Zeit durch die Einwirkung der Mikroorganismen auf die Blut-
körperchen.
Für andere seltene Fieberformen, besonders die „nervösen" Fiebei' (bei Hysterischen,
das TJrethralfieber beim Einführen von Kathetern in die Harnröhre u. A. m.j müsste
man eine Entstehung durch directe Eeizung der Temperaturcentren annehmen.
Herz hält das Fieljer für eine Zellerkrankung, wobei durch AVassei-bindung
(Quellung) Wärme frei werde.
Dass die verschiedenen Fieber so sehr verschiedenen Charakter zeigen, kann auf
die Verschiedenheit der erregenden Ursachen zurückgeführt werden. Es ist anzunehmen,
dass jeder der angeführten Stoffe, Fibrinferment, Histozym, Pepsin u. s, w. auch besondeie
Eigenthümlichkeit ihrer Wirkung zeigen, dass das eine mehr das Centrum der Wärme-
bildung, ein anderes vielleicht mehr das der Circulation, die vasomotorischen Centren
angreift und daher die Verschiedenheit der klinischen Bilder.
Die Ansichten über die Rolle, welche das Fieber im Haushalte des
Organismus spielt, sind heute noch getheilt; doch greift diese Frage zu tief in die
tägliche Praxis ein, als dass sie nicht eine kurze Besprechung verlangte.
Die Einen, in erster Linie Liehermeister und Jürgensen , sehen im Fieber den
schlimmsten Feind des Organismus. Die Temperaturerhöhung allein schon soll das
Leben des Ganzen und seiner Theile gefährden, indem dadurch die parenchymatöse
Degeneration (s. pag. 46) innerer Organe entstünde. Die praktische Folge dieser
Ansichten war energische Bekämpfung des Fiebers durch kaite Bäder und iieberwidrige
Mittel. — Temperatursteigerung als solche macht aber keine parenchymatösen Degene-
rationen. Islaimyn hat Kaninchen wochenlang im Wärmekasten bei einer Bluttemperatur
von 41'5" mit Steigerungen bis 43'' gehalten, ohne dass die Thiere daran zu Grunde
gingen. — Andererseits hat man versucht, mit Hilfe der neueren Fiebermittel und der
Bäderbehandlung bei Infektionskrankheiten, z. B. Unterleibstyphus, das Fieber ganz aus-
zuschalte.i und die Patienten während der ganzen Dauer der Krankheit auf normaler
Temperatur zu halten. Die Gefahr war damit keineswegs beseitigt, wie man gehofft
hatte ; im Gegentheil, die Kranken fühlten sich gerade so elend, die Sterblichkeit war
sogar eher eine erhöhte (Riess hatte eine Mortalität bei Typhus abd. von 24'2 Procent),
die Zahl der Recidiven eine vermehrte.
Diese Beobachtungen mussten dazu führen, die entgegengesetzte Ansicht zu stützen.
Es ist dies die von Pflüger, Nothnagel, Naunyn vertretene Auffassung des Fiebers —
die übrigens ihre Verfechter schon in grauer Vorzeit gefunden — dass das Fieber ein
zweckmässiger Vorgang sei, vermöge dessen der Organismus sich der ihm einverleibten
Schädlichkeiten rascher, gründlicher und energischer entledige; eine Steigerung des
Stoffwechsels und der Vorgänge des Lebens, Avelche dem Organismus im Kampfe mit
Schädlichkeiten zu Hilfe kommt, dass der alte Satz gelte: „Das Fieber heilt durch
Feuer reinigend."
Manches spricht zu Gunsten dieser Hypothese. Es ist bekannt , dass Mikro-
organismen, z.B. die Recurrensspirille , schon durch Temperaturen von 40" geschädigt
Averden, ebenso dass anderen Mikroorganismen Temperaturen um 36° bis 37" zuträglicher
sind, als über 40°. Behring hält das bei der Immunisirung eintretende Fieber für
wesentlich zum Znstandekommen der Immunität, Es ist also nicht ausgeschlossen, dass
die mit dem Fieber verbundene Temperaturerhöhung, sowie die übrigen Aenderungen in
Circulation und Stoffwechsel, dem Organismus im Kampfe mit den Mikroorganismen zu
Hilfe kommen. Dann ist es wohl kaum fraglich, dass erhöhte Temperatur des Körpers,
Avie wir sie oft in Schwitzcuren , heissen und Dampfbädern u. s. f. künstlich herbei-
führen , uns bei der Ueberwindung kleinerer Schädlichkeiten , leichter Erkältungen und
Katarrhe entschieden behilflich ist; und diese Behandlung lässt uns bei dauernder con-
sequenter Durchführung auch für schwere chronische Infectionskrankheiteu, wie Sj-phiUs,
nicht im Stiche.
Schliesslich ist es eine alte Erfahrung, dass gerade diejenigen Infectionsprocesse,
wo es zur Entwicklung richtigen Fiebers nicht mehr kommt , prognostisch schlechte
Aussicht geben. Die schwersten Blutvergiftungen verlaufen oft mit Temperaturen bis 38°,
selbst mit subnormaler Temperatur. Wenn es bei alten Leuten mit Lungenentzündung
nicht mehr zur Temperatursteigerung kommt, ist der Fall meist verloren. Es fehlt die
„Reaction" des Organismus , sagten die alten Aerzte. Wie leicht überwinden Kinder,
bei denen sich rasch hohe Temperaturen einstellen, alle Arten von Krankheiten. Ebenso
steht es mit Personen , welche zu Fieber geneigt sind. Auch sie zeigen allerlei Er-
krankungen gegenüber hohe Elasticität.
Lj'mphangitis und Lymphadenitis. ]^43
Die Chirurgen haben schon seit Jahren dem Fieber gegenüber diesen Standpunkt
eingenommen. Schon vor Einführung der Antisepsis war die Ueberzeugung allgemein
verbreitet, dass bei den Fiebern, mit denen wir es zu thun haben, die Antipyrese zwecklos
sei. Bei den gutartigen Wundfiebern ist sie unnöthig. bei den bösartigen — Septikämie
und Pyämie — machtlos. — Heute wissen wir , dass es unsere vornehmste Pflicht ist,
ihrer Entwicklung zuvorzukommen. Wenn sie aber einmal da sind, so müssen wir uns
auf Erhaltung der Kräfte des Kranken beschränken. Wir verwenden laue Bäder , um
Hautthätigkeit und Circulation anzuregen; Chinin, Salicylsäure, Antipyrin verordnen wir
gelegentlich, aber ohne grosses Vertrauen auf ihre Wirksamkeit.
Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zur Besprechung
der Wundentzündung- zurück. In einer grossen Anzahl von Fällen wird
die prima intentio nicht gestört. Nach 2 bis 3 Tagen fangen die Wund-
ränder an abzuschwellen, die Haut faltet sich, wird blass und blättert
sich ab. Aus den Nahtcanälen sickert etwas eiterige Flüssigkeit. Die
junge Narbe selbst ist oft verschwindend spärlich. Auch das Wund-
fieber verschwindet, wie die Entzündung, nach 2 — 3 Tagen wieder.
Eine besondere Behandlung ist kaum nöthig. Zweckmässig sind
Umschläge mit dünnen Sublimatlösungen 1 : 5000 — 1 : 2000, zur Des-
infectiou der Oberfläche und der austretenden Secrete. Anch Aqua
plumbi, Chamillendecocte (ein altes Hausmittel) u. A. ni. sind, weil
fäulnisswidrig, zulässig.
Das Wundfieber erheischt ausser Bettruhe keine Behandlung. —
Knappe Diät, ein leichtes Laxans, kühlende Getränke (Selters- , Soda-
wasser, Limonaden), Verbot der Spirituosen, bei nervösen Personen oder
starkem Kopfschmerz ein kalter Umschlag oder eine Eisblase auf den
Kopf werden genügen.
Ist die Röthung , Schmerzhaftigkeit und Schwellung der Wunde
sehr heftig, die Temperatur hoch, so handelt es sich um Verhaltung
von Eiter in der Wunde.
Lässt sich Fluctuation nachweisen, oder tritt bei sanftem Druck aus einem Wund-
winkel oder aus einem Nahtstich Eiter, so Avird diese Annahme zur Gewissheit. Dann
ist dem Eiter Abfluss zu schaffen. Man. löst an mehreren Stellen die Naht und lässt
den Eiter hervortreten. Gummiröhren, in die Wundwinkel eingeschoben, sorgen für
dauernden Abfluss des Eiters. Alle 3 — 4 Stunden gewechselte feuchte antiseptische
Umschläge (Sublimat 1 : 3000), mit Guttaperchapapier gedeckt, kommen auf die AVnnde. —
Selten gelingt es noch eine Heilung p. p. i. zu erreichen. Häufig geht die Wunde in
ihrer ganzen Ausdehnung auseinander. Das Fieber hört auf, sobald die Secrete sich
ungehindert nach aussen entleeren können. Die AVunde heilt per granulationem ;
in ebenso viel Wochen, als sie bei normalem Verlauf Tage in Anspruch genommen hätte. —
Ueber die Beziehungen dieser Wundentzündung zu den schwereren Formen der acciden-
tellen Wundkrankheiten, zur Blut- und Eitervergiftung reden wir später.
Eine Spätform der Wundentzündung ist charakteristisch für unge-
nügende Sterilisation der Seiden- und Catgutfäden (besonders bei Ligaturen, ver-
senkten Nähten etc.). Der AVundverlauf ist bis zum 3. bis 5. Tag ganz normal . die
Temperatur im AVesentlichen afebril. Dann steigt die Temperatur auf 38" bis 388",
aas der wenig oder gar nicht, oder nur an einzelnen Stellen gerötheten Wunde tritt
etwas Eiter aus, die Temperatur fällt in den nächsten Tagen, es bihh'u sich von hervor-
quellenden Granulationen umgebene Fisteln, aus denen in den nächsten Wochen, oft
erst nach Monaten Seidenschlingen treten, wenn man sie nicht, was praktischer ist,
vorher mit dem scharfen Löflel holt. Soliald keine Fremdkörijer mehr darin sind,
schliesst sich die Fistel.
Nur selten sind bei dieser Form der Wundentzündung Lymph-
gefässe und Lymphdrüsen in sichtbarer Weise bctlieiligt. Die Ent-
zündung der Lyni))ligefässe und Lymphdrüsen, Lymphangitis
und Lympliaden itis schlichst sich häufiger an kleinste ol)erflächliche
Verlet/.ungen der Haut an, wie sie l)esonders an Fingern und Zehen so
144 III- Capitel. — Verletzungen.
oft vorkommen. ■ — Die Lymphgcfässe und Lymphdrüsen de.s be-
treffenden Körperbezirkes schwellen an und werden schmerzhaft. Wer
es einmal gesehen hat , wird die charakteristischen langgestreckten
schmalen rothen Streifen an der Innenfläche des Vorderarmes bei
inficirten Wunden der Hand, die Streifen längs der Vena saphena bei
Attectionen des Fusses stets wiedererkennen. Auch am Oberarm folgen
diese Streifen dem Verlauf der Gefässe, und so könnte es mitunter
scheinen, als läge eine Entzündung dieser, eine Venenentzündung
vor (Phlebitis). In der That aber ist es nur eine Entzündung der die
Venen umspinnenden Lymphgcfässe (Periphlebitis). (S. Krankheiten der
Venen.) In anderen Fällen tritt die Lymphgefässentzündung mehr als
ein verschlungenes Netz gerötheter Streifen auf — Lymphangitis
reticularis.
Die Entzündung der Lymphdrüsen macht sich zunächst durch
schmerzhafte Empfindungen, hauptsächlich bei Bewegungen bemerklich.
Bei Entzündung der Leistendrüsen wird das Gehen , bei Achsel- und
Ellbogendrüsen Bewegung des Armes schmerzhaft. Die Drüsen lassen
sich als verschiebliche, druckempfindliche Knollen durchtasten. Die
Haut ist anfangs noch nicht geröthet. Der weitere Verlauf ist wesentlich
von der Behandlung abhängig. Energische Reinigung der die Ent-
zündung veranlassenden Wunde (entzündeter Finger oder Zehen), Sorge
für freien Abfluss der Secrete durch Einschnitte und Drainage, anti-
septische Umschläge , dann völlige Ruhe des betreffenden Gliedes , an
der oberen Extremität Anlegen einer Schiene und eines Armtragetuches ;
bei Affectionen der Beine Bettruhe. Hochlagerung ist besonders bei schweren
Fällen nöthig. Auf die entzündeten Lymphgcfässe und Drüsen kommen
nasse Compressen in Gestalt Priessnitz'sahev Umschläge, mit Zusatz von
antiseptischen Flüssigkeiten, z. B. Sublimat 1 : 2000 bis 1 : 5000. Die Ein-
reibung resorbirender oder resolvirender Mittel ist bei Lymphgefäss- und
Drüsenentzündung sehr gebräuchlich, aber wenig wirksam. Graue Queck-
silbersalbe (Ung. ein.), Jodsalben (Kai. jod. l'O : Ad. suill. lO'O), Bepin-
selungen mit Jodtinctur oder Jodglycerin (Jod. pur. 1-0, Kai. jod. 20,
Aq. dest. und Glyc. je 10"0), Ichthyolsalben (1 : 4) werden verwendet.
Das Fieber ist bei Lymphangiten meist nicht sehr hoch , selten über
39°; das Allgemeinbefinden weniger gestört als bei der Wundentzündung.
Salzwedel empiielilt bei Lymphangiten und beginnenden Plilegmonen alle 4 bis
6 Stunden gewechselte Umschläge mit 60 — 90% Alkohol, wobei das bedeckende
Guttaperchapapier perforirt werden muss. Die Entzündung soll sich darunter rasch
zurückbilden.
Häufig verschwinden bei dieser Behandlung die Erscheinungen
binnen wenigen Tagen wieder. Nehmen dieselben trotzdem zu , so
wird es meist zur Eiterung kommen, selten entlang eines Lymph-
gefässes ; fast ausnahmslos sind die Lymphdrüsen der Sitz der Eiterung.
Zunächst verlöthen die einzelnen Drüsen untereinander zu einem
knolligen, schmerzhaften, auf der Unterlage (der Fascie) und gegen die
Haut nicht mehr verschiebbaren Packet. Verwächst dieses Packet
mit der Haut und fängt diese an sich zu röthen , so ist Eiterung
kaum mehr zu vermeiden. Zweckmässiger, als Auflegen einer Eisblase
sind dicke feuchtwarme antiseptische Umschläge. Kataplasmen oder
Breiumschläge — mit Leinsamen , gekochten Semmeln , Hafergrütze
u. dergl. gefüllte erhitzte Leinwandbeutel — passen kaum mehr zu den
Ljaupliadenitis. — Phlegmone. ]^45
antiseptischen Anschauungen unserer Zeit. Die harte Geschwulst fängt
an , auf der Spitze weich zu werden , man kann Fluctuation nach-
weisen, und wenn man einschneidet, spritzt dicker Eiter, oft mit Fetzen
nekrotischen Drüsengewebes vermischt , heraus. Man geht mit dem
Finger ein und findet vielleicht noch nicht ganz zerfallene haselnuss-
bis walnussgrosse Drüsen auf morschem Stiel sitzend; man kann sie
mit dem Finger oder dem scharfen Löffel mühelos herausheben, und
wenn man sie nachher durchschneidet, sieht man die blassröthliche oder
graue Drüsensubstanz von zahllosen kleinen Eiterherden durchsetzt.
Nachdem alle Buchten und Winkel nachgesehen und Drainröhren ein-
gelegt sind , kommt über das Ganze ein durch eine elastische Binde
angedrückter antiseptischer Compressionsverband. Zweckmässig ist
es oft, die Abscessbildung nicht abzuwarten, sondern wenn eine
Rückbildung nicht eintritt, das ganze Drüsenpacket wie eine Geschwulst
zeitig zu exstirpiren.
Bei der Lymphangitis scheinen nach Bosenhach's Angaben häufiger
Streptokokken sich zu finden, doch sind auch Staphylokokken und beide
zusammen gefunden worden.
In anderen Fällen schliesst sich an Verletzungen eine Phleg-
mone an, ein mehr örtlicher Process. Von der Wunde ausgehend,
entwickelt sich eine schmerzhafte Entzündung, starke Röthung mit aus-
gedehntem entzündlichen Oedem ringsuui. Mitunter gelingt es noch, durch
feuchte Umschläge (Sublimatlösung 1 : 3000 — 1 : 1000 oder Alkohol) oder
zahlreiche kleine Einschnitte (Debrideraent) die Eiterung zu vermeiden.
Meist lässt sich diese nicht verhindern , es kommt zur Abscessbildung
und diese ist in der mitgetheilten Weise (pag. 32) zu behandeln. Bei
der Phlegmone scheinen besonders Staphylokokken die Erreger zu sein.
Phlegmonenbildung schliesst sich an Wunden aller Art, kleinste Risse
ebensogut, wie grosse Operationen an; ganz besonders complicirt sie
Quetschwunden , von welchen die Infection nicht ferngehalten wird.
Fieber und die übrigen Resorptionserscheiuungen fehlen nicht , bleiben
aber meist innerhalb massiger Grenzen.
Kocher empfiehlt gegen Staphylomykosen Debridement mit dem PcKfuel in' sehen
Thermokauter, und alle 3 Stunden frische Tampons mit Jodtinctur in die Incisiouen ein-
zulegen. Abscesse sollen mit milden antiseptischen Lösungen (abwechselnd um Ver-
giftung zu vermeiden) ausgespült Averden, wie 4:procentige Borsäure-, Iprocentige Thymol-,
Iprocentige Lysollösungen u. dergl. So sollen septische Processe allmählich aseptisch werden.
Die Wundrose (Erysipelas) und ihre Behandlung. — Pyämie (Eitervergiftung). —
Septikämie (BlutvergiftungJ. — Weitere septische Processe.
Ernster und häufig das Leben direct bedrohend ist die Wund-
rose, Rothlauf, Erysipelas traumaticum. Neben örtlichen
Veränderungen an der Wunde sind hier schwere Allgemeinerscheinungen
stets vorhanden.
Den Erreger des Erysipels hat zuerst FeJde/sen in dem Streptococcus erysipelatis
erkannt, rein gezüchtet und durch Uebertragung auf Menschen (zum Zweck der Heilung
inoperablen Krebses) wieder Erysipel erzeugt. Der Feld eise n'mili^ Eryslpelcoccus ist
nach BauvKjarten , C. Fraenlcel , R. Pfeiffer identisch mit dem gewöhnlichen Strepto-
coccus pyogenes (s. pag. 30). Der Eryslpelcoccus ist auch ein Eitererreger. Die Diffe-
renz der klinischen Bilder der Streptokokkenkrankheiten sollen nur von der Verschieden-
heit der befallenen Gewebe herrühren — er macht in der Haut Wundrose, im ünter-
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Therapie. -2. AuH. JQ
X46 ^11- f Kapitel. — V(irl(;tziiii{^<;ii.
hautzellguwebc Eiterung und Abscoss. Jordan {Lang'.s Aniliiv 42j, ebenso Bonoine,
wollen aucli tj'pische Erysipele durch Stapliylococcus beobachtet haljen (V). Neben
Streptococcus findet sich namentlich in späteren Stadien oft Staphylococcus rFelsenthalj.
Der Erysipelcoccus ist während des Bestehens der Wundrose auch iui l<lute nach-
gewiesen worden.
In Fig. 94 sind Erysipelkokken (in der Al)bildung etwas zu gross au.sgefallen)
in den Gewebslücken des Unterhautbindegewebes (Zeiss Immers. Yi? » Oc. 5). In den
Erysipelblasen finden sich die Erysipelkokken nicht
oder nur sehr spärlich ; sie scheinen hier bereits
abgestorben zu sein. Dagegen sind dieselben in
Ergüssen entzündeter Kniegelenke , übei' welche
ein Erysipel weggegangen war, nachgewiesen
worden (Hoffa).
Das Erysipel kann sich zu Wunden
in jedem Stadium hinzugeselien , un-
mittelbar an die Verletzung sich an-
schliessen und auch auf granulireuden
''■)l Flächen , die der Heilung schon ganz
\y\\\\\\\!l:\]''y\^i)f;\%-C^\\/'[^ nahe sind, zur Entwicklung gelangen.
\\-'-''-'=li i'i') :"-//1 /•'//( ''^'^vV^■V'// Mitunter häufen sich die Fälle von
Wundrose zu kleinen Epidemien und
Endemien.
Beginn und Verlauf des Erysipels sind ungemein charakte-
ristisch , die Diagnose ist deshalb meist nicht zu verfehlen. — Fast
ausnahmslos beginnt die Krankheit mit einem ausgesprochenen Schüttel-
frost und Erbrechen, die Temperatur steigt rasch bis 400 ^^^^ höher;
dabei sind starkes Krankheitsgefühl vorhanden, Kopfschmerzen, Appetit-
losigkeit u. s. f. Der Puls entspricht der Temperatur, circa 90 — 100,
ist jedoch meist nicht allzu frequent. An der Wunde selbst ist zur
Zeit des Schüttelfrostes oft noch nichts zu sehen oder nur eine kleine
fleckige Röthe. Von dieser kleinen Stelle an der Wunde aus „wandert"
nun das Erysipel weiter. Von Stunde zu Stunde sieht man das Erysipel
weiter vorrücken , in der unregelmässigsten Weise. Es verbreitet sich
hauptsächlich in den Lymphspalten meist mit, doch auch entgegen dem
Lymphstrom nach der Peripherie hin, in dieser Richtung aber ent-
schieden langsamer. An den vom Erysipel befallenen Hautpartien
fühlt sich die Haut infiltrirt an , mit deutlich fühlbarem , scharf ab-
fallendem Rand. Die Farbe ist ein frisches Roth, die Grenzen sind
scharf, jedoch nicht geradlinig, sondern man hat strahlige, oft fächer-
artig sich ausbreitende Ausläufer (Erysipelfackeln). Diese eigenartige
scharfe Begrenzung lässt das Erysipel von jeder anderen entzündlichen
Röthe unterscheiden.
Die mildeste Form der Wundrose ist das Erysipelas erythe-
matosum, wo es nur zur entzündlichen Hyperämie kommt. Oft
schiessen auf den erkrankten Stellen Blasen mit anfangs serösem,
später eiterigem Inhalt an , von Stecknadelkopf- bis Walnussgrösse.
die dann wieder zusammenfliessen können. Sie sind schlaff und platzen
leicht — Erysipelas bullosum. Die Oberhaut stösst sich später ab
und das Rete Malpighi liegt nackt da. Beim brandigen Erysipel —
E. gangraenosum — ist der Inhalt der Blasen blutig, schmutzig-
braun, die Haut darunter braun bis schwarz und circulalionslos. Bald
wird die Haut einer Körperstelle siebartig durchbrochen , häufiger ist
es, dass die Haut grösserer Strecken, der ganzen Wade, der Aussen-
Wundrose. 147
fläche des Oberschenkels , gleich im Ganzen verloren geht. Als
schmierige , schwarzgrüne Masse wird sie losgestossen und es tritt
darunter die Fascie zu Tage; wird auch diese brandig, so liegen die
Muskeln wie präparirt im Grunde der Wunde bloss.
Bei diesen schweren Formen vermisst man fast nie die Bildung
von Abscessen — Erysipelas abscedens. Doch können Abscess-
bildungen auch neben den leichteren Formen des Erysipels vorkommen.
In den tieferen Lymphbahnen sich verbreitend , bringen die Mikro-
organismen hier das Unterhaut- und Zwischenmuskelgewebe zur Nekrose
und eiterigen Einschmelzung.
Die Erysipelabscesse stehen meist unter sehr geringer Spannung; deutliche
Vorwölbung mit ausgesprochener Schmerzhaftigkeit fehlt häufig; so kann man sie
manchmal zu Anfang übersehen, umsomehr , als ein beschäftigter Chirurg nicht ohne
dringende Indication eine erysipelatöse Hautstelle betastet. — Ein Vorderarm mit
Erysipelabscessen erscheint wie ein schlaff gefüllter Sack, der tastende Finger fühlt
eine weitverbreitete schlaffe Fluctuation. Incidirt man, so entleeren sich unerwartet
grosse Massen dicken , mit brandigen Fetzen gemischten Eiters. Dabei stösst man
auf kolossale Uutermiuirungen, wenn man mit langen Sonden oder Drainführern eingeht,
um Gegenöffnungen anzulegen und oft fusslange Drainröhren einzulegen. Die Eiterung
geht auch zwischen die Muskeln hinein und senkt sich längs der Muskelbäuche
und Sehnen oft nach entfernten Stellen hin. Die Aehnlichkeit mit den pag. 31 be-
schriebenen Streptokokkenabscesseu liegt auf der Hand. Das Fieber kann bei diesen
Folgezuständen der Eose ganz fehlen.
Nicht selten hat man auch Gelenkeiterungen, theils in solchen
Gelenken, über die die Rose wegzieht, zum Theil sind sie auch meta-
statiscli und pyäraischer Natur.
So lange das Erysipel noch im Fortschreiten ist, bleibt auch die
Betheiligung des Allgemeinbefindens eine ausgesprochene. Das Fieber
hat im Ganzen den Charakter einer Continua, Morgens 38 — 39°,
Abends 39— 40-5o (s. Fig. 95); der Puls 90—100 Schläge. Ein Theil
der Kranken fühlt sich sehr krank, andere bleiben trotz hoher Tempe-
ratur merkwürdig munter. Die Dauer der Erkrankung ist durchaus
unberechenbar. ..Das Volk lässt die Wundrose an dem bekannten
„neunten" Tage von selbst verschwinden. Ich habe zweifellose Erysipele
von nur 1 — 2tägigem Bestand gesehen , aber auch eines mit einer
Dauer von 32 Tagen.
Während seines Bestehens „wandert" das Erysipel von der Hand
über den Arm nach dem Rücken, nach einem Bein u. s. w. in durchaus
unregelmässiger Weise. Berüchtigt ist das Erysipelas capitis der
behaarten Kopfhaut und des Gesichts. Vom Unterhautzellgewebe kann
es leicht längs der Vasa emissaria nach dem Innern des Schädels ge-
langen und tödtliche Hirnhautentzündung, Hirnabscesse, Sinusthrombosen,
Entzündung und Vereiterung der Diploevenen und schliesslich Pyämie
veranlassen. Aber auch ohne diese bedenklichen Complicationen machen
Kranke mit Erysipelas capitis einen schwereren Eindruck, und es
sind die cerebralen Erscheinungen — Kopfschmerz, Benonnnenheit,
Delirien — stets viel ausgesprochener als bei einer Rose an anderen
Kürperstellen.
Kommt das Erysipel zum Stehen , d. h. hört es auf, weiter sich
zu verbreiten , so sinkt die Temperatur zur Norm. Seltener ist der
-Abfall ein plötzlicher („kritischer"), meist ist das Absinken der
Temperatur ein lytii^clies. d. h. sie geht im Lauf von 24—28 Stunden
in Absätzen herunter (vergl. die Curve Fig. 95). Die Erholung ist —
10*
148
III. Capitel. — Verletzungen.
bei jüngeren Leuten — oft eine sehr rasche , namentiich nach
E. erytheraatosum.
Das Erysipelas erytheniatosum blasst ab , indem es einen gelb-
lichen Farbenton annimmt, dann blättert die Oberhaut ab und die
Haut gewinnt ihr normales Verhalten wieder. Beim E. bullosum bildet
sich oft, während die Blasen noch stehen, darunter schon junges Epithel
und es bleibt nur noch eine leichte, bräunliche Pigmentirung für einige
Zeit zurück.
Die abscedirenden und gangränösen Erysipele sind stets sehr
ernst zu nehmen. Die schwere Infection bringt die Kranken , na-
mentlich wenn sie schon älter oder Potatoren sind , sehr herunter.
Auch wenn das Fieber längst verschwunden ist , können die ausge-
dehnten Hautdefecte , die profuse Eiterung , die tiefen Eitersenkungen
die Kräfte der Kranken erschöpfen. Auch Complicationen verschiedener
Arten führen das Ende herbei — metastatische Lungenentzündungen
mit eitrigen Pleuraergüssen, dann metastatische Eiterungen in Gelenken,
Fig. 95.
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Temi>eraturcurve des Erysipels.
Unterhautzellgewebe u. s. f. Solche Fälle nähern sich dann sehr dem
Bilde der Pyämie (s. unten). Ich habe eine Anzahl Fälle gesehen, die
als typische Erysipele begannen, um als ebenso zweifellose Pyämien
zu enden. Das Fieber, welches man bei diesen Kranken, auch nach-
dem das Erysipel längst abgelaufen ist , sieht , ist ein gewöhnliches
Eiterungsfieber, Morgens normal, Abends bis 39'5o. Oder es ist ganz
unregelmässig, gewöhnlich Fieberlosigkeit und dazwischen hohe Spitzen,
die dann meist Zeichen einer Eiterverhaltung sind. Die monate-
lange Eiterung bleibt natürhch nicht ohne Folgen, die Kranken werden
elender und elender; es stellen sich Amyloidentartung innerer Organe,
marantische Oedeme u. s. f. ein und das Leben erlischt schliesslich.
Die Behandlung der Wundrose ist eine örtliche und all-
gemeine. Da die meisten Erysipele von selbst und oft ganz plötzlich
zur Heilung gelangen, so täuscht man sich leicht über die Wirksamkeit
der angewandten Mittel. Die Bemühungen sind stets darauf gerichtet
gewesen , die Weiterverbreituug des Processes zu hindern. Das Volk
Behandlang der Wundrose. 149
hat sie zu diesem Zweck von Alters her „besprochen"; Hie Mass-
nahmen der Chirurgen sind mitunter nicht viel über diesen Standpunkt
erhaben gewesen. Wenn Chirurgen allen Ernstes das Bestreichen
solcher Flächen mit weisser Oelfarbe geübt haben, so wurde von Anderen
mit dem liöllensteinstift ein schwarzer Strich um die erkrankte Stelle
gezogen — „bis hieher und nicht weiter". — Theoretisch wohl durch-
dacht, wenngleich praktisch unwirksam, war der Vorschlag von Hueter,
tingerbreit vom sichtbaren Rand, in Abständen von circa 5 — 6 Cm.
37oige CarboUösuug , je 1 Pmm2;'sche Spritze voll, zu injiciren.
Etwas wirksamer ist die Injection von Sublimatlösung (1 : 2000
bis 10 Spritzen).
Fessler hält das Ichth3^ol für ein Specificnm gegen Streptococcus.
Die erj^sipelatöse Stelle wird zweimal täglich bis 5 Cm. über den sicht-
baren Rand hinaus mit Wattebäuschen , in Ichthyol und Lanolin zu
gleichen Theilen getränkt, durch 5 Minuten fest eingerieben, darüber
kommt ichthyolgetränkte, nicht entfettete Watte in dicken Lagen. Das
Verfahren ist nicht unwirksam.
Krashe macht oberflächliche und tiefe Incisionen, drückt die
Oedemflüssigkeit aus, streut Jodoform in die Incisionen, schiebt in die
tieferen Schnitte Wieken von Jodoformgaze ein. Felsenthal wendet
in gleicher Weise 60Vo Ichthyolsalbe oder -Lösung an (Combination
von Fessler s und Kraske\s Verfahren). Langsdorß' empfiehlt alle
20 Minuten dicke Leinwandcompressen mit absolutem Alkohol, darüber
Guttaperchapapier. Die Temperatur soll danach in 24 Stunden ab-
fallen. Sonst sind zweckmässig feuchte Umschläge mit Sublimatlösung
1 : 2000 — 1 : 5000 (mit Guttaperchapapier gedeckt). Die spannenden
Schmerzen werden auch gelindert durch Salbenverbände (z. B. Ac.
boric. l'O Lanolin, pur. 29"Ö u. dergl.), Watteeinpackungen, Eisblasen
(bei Kopferysipel) u. dergl.
Im Uebrigcn wurden Terpentineinreibungen (Lücke), Bepinselungeu
mit Jodtinctur. lO'^/oiger alkoholischer Carbollösung, mit Theer (Wini-
ivarter), Jodoforra-Creolin-Lauolin (4 : 1 : 10) empfohlen.
Die alle Regel, Erysipelkranke zu isoliren , hat durch den Nach-
weis von Erysipelkokken in der Luft von Krankenzimmern durch
V. Eiseisberg {Langenheck's Arch. 35) eine theoretische Stütze gefunden.
Sehr schwere Erysipele mit hohem Fieber, sehr frequentera kleinen
Puls und A'erfall der Kräfte, wo Gefahr im Verzug ist, hat man auch
durch innerliche Mittel anzufassen gesucht. Am wirksamsten ist noch
die Caniphercur von Flrogojf. Grosse Dosen Campher — halbstündlich
bis stündlich 1 Pulver zu 0"1 oder subcutane Injectionen, etwa in den-
selben Pausen von einer Lösung (Camph. tritae 1 in Ol. amygd. 4)
werden gegeben, bis Vergiftungserscheinungen eintreten — Campher-
delirien und Langsamerwerden des Pulses auf 55 und 50, Absinken der
Tenii)eratur. — Ohne dringende Noth soll man nicht zu dieser keines-
wegs inditlerenten Behandlung greifen.
Marmorek will durch sein Antistreptokokkenserum eine Immunisirung gegen
Streptokokkeninfection erzielt hal)en. Die Mortalität der Streptomykosen sank von
5-12% auf 3-14% (Wien. med. Wochonsehr. 1895, Nr. 31). Er erzielt zunächst Virnleiiz-
steigerung, indem er Streptokokken durch junge Kaninclien durchschickt , erzeugt dann
durch allmählich gesteigerte Mengen von Streptokokken Immunität l)eim l'terde und injicirt
das Pt'erdesenim in Mengen von .") Com. 1- Ijis mehrmal .subcutan.
■[50 ^I^- tJapitel. — V(:)'li;tzuiij?t;ii.
Die absccdirenden und gangränescirenden Fälle sind nacFi den
allgemeinen Regeln zu behandeln; ausgedehnte Incisionen , Drainage,
antiseptische Ueberschläge , im IJebrigen gute Ernährung, protrahirte
Bäder; bei ausgebreiteten Abscedirungen hat das permanente Bad mir
oft gute Dienste gethan.
Bei ausgedehnten Hautdefecten kommt Transplantation , bei sehr
heruntergekommenen Patienten auch die Amputation in Frage.
Erysipel neigt sehr zu Recidiven; es haftet an manchen Kranken,
Betten, Krankensälen, selbst einzelnen Ecken eines Krankenraumes
mit unangenehmer Hartnäckigkeit.
Carbolantisepsis schützt nicht sicher gegen Erysipel, wohl aber
Sublimatantisepsis und tadellose Asepsis. — Bei der Section Erysipelatöser
findet man im Wesentlichen nur parenchymatöse Degeneration der inneren
Organe.
Die heilende Wirkung des Erysipels wird bei „Neubildungen"
besprochen.
Eine dem Erysipel seinem äusseren Ansehen nach sehr ähnliche Äffection ist das
„Erysipeloid". Bei Leuten, die viel mit rohem Fleisch zu thun haben, Köchinnen,
Fleischern u. dergl., beobachtet man eine wenig schmerzhafte Röthung, von einem Finger
oder einem Fingerinterstitium ausgehend, ganz von der Art der "Wundrose ; langsam, in
Tagen bis einer Woche, schreitet es weiter nach den übrigen Fingern, dem Handrücken;
die Umgrenzungslinie ist genau dieselbe, wie beim echten Erysipel — strahlige scharf-
ausgezackte Ränder. Die Sache ist rein örtlich, Fieber fehlt stets. Zu Eiterung und
Blasenbildung kommt es nicht. — Sublimatumschläge beseitigen die Affection meist
rasch ; Injectionen Sprocentiger Carbolsäure in die Randpartien werden empfohlen. —
Rosenhacli fand hier eigenartige, zu langen Fäden auswachsende Bacillen.
Wenn man im Ganzen nur einen kleinen Procentsatz der an Wund-
rose Erkrankten verliert, verhält sich dies ganz anders mit der Eiter-
und Blutvergiftung. Die örtlichen Erscheinungen treten hier zurück
gegenüber der enorm schweren Erkrankung des Gesammtorgauismus.
Die Pyämie, Eitervergiftung, ist eine Spätkrankheit der Ver-
letzten, sie entwickelt sich nie im unmittelbaren Anschluss an die Ver-
letzung, selten vor dem 7., nieist um den 9. bis 11. Tag. Die erste
Erscheinung ist ein Schüttelfrost.
Rasch steigt die bisher normale oder wenig erhöhte To'mperatur auf 40" und
mehr: nachdem das Frieren 74!^!^ V-j Stunde gedauert, stellt sich ein Gefühl brennender
Hitze ein und dann sinkt nach einigen Stunden unter dem Ausbruch heftigen Schweisses
die Temperatur zur Norm oder unter dieselbe. Der Kranke ist sehr matt und elend. —
Ein Schüttelfrost bei einem Verletzten oder Operirten hat für den Arzt stets etwas in
hohem Grade Alarmirendes. Entweder ist ein Erysipel in Entwicklung, oder es lässt
sich eine Eiterverhaltung nachweisen oder man hat es mit Pyämie zu thun. — Der
Zustand der Wunde gibt keinen sicheren Aufschluss ; manche Wunden — namentlich
jauchende Knochenwanden , z. B. bei Schuss Verletzungen, mit Verletzungen der Mark-
höhle oder Schädelverletzungen mit folgender Diploevereiterung legen wohl von vorne-
herein die Möglichkeit der Pyämie nahe — besondei's wenn die Wunde unrein, schmutzig,
mit grünen oder braunen nekrotischen Fetzen belegt bleibt. Andere Male ist aber, trotz
des Bestehens der Pyämie an den Wunden nur wenig oder nichts zu erkennen ; etwas
croupöser Belag , einige kleine Blutungen in die Granulationen , einige oberflächliche
Nekrosen derselben sind Alles. Auch die Umgebung der Wunde zeigt keineswegs immer
starke Entzündung, Eiterverhaltungen und Senkungen, ebensowenig Lymphangitis oder
entzündete und thrombosirte Venen. — Die Entstehung des Schüttelfrostes scheint mit
der Verschleppung von infectiösen Thromben in den Venen zusammenzuhängen.
Zum Zustandekommen der Pyämie ist unerlässlich eine auf der
Einwanderung und Vermehrung von Mikroorganismen beruhende Ent-
Pyämie. 151
Zündung und Thrombosirung von Venen ; bei der chirurgischen Pyämie
also meist einer Vene in der Nachbarschaft einer Wunde. Von dem mit
Mikroorganismen durchsetzten Thrombus werden grössere oder kleinere
Stücke losgelöst , vom Blutstrom mitgerissen und auf dem Wege der
Embolie an anderen Stellen abgelagert, wo die Mikroorganismencolonien
aufs Neue Entzündung und Eiterung erregen (vergl. pag. 17). — Von
diesen embolischen Verschleppungen der Mikroorganismen führt die
Pyämie den Namen embolische oder metastatische Pyämie.
Der Nachweis dieser Metastasen sichert die Diagnose sofort.
Doch geben dieselben keineswegs immer klinisch leicht erkennbare
Symptome. Die bevorzugten Stellen sind Lungen, Leber, Schilddrüse,
Muskeln, Gelenke, Milz, Nieren, seltener Gehirn. — Die Lungen-'
emb.olien geben zunächst das Bild des hämorrhagischen Lungeninfarcts, —
pleuritische Schmerzen , begrenztes pleuritisches Reiben , blutigen Aus-
wurf; Dämpfung und Bronchialathmen sind nicht immer nachweisbar.
Aus dem hämorrhagischen Infarct wird eine begrenzte Lungenentzündung,
später ein Lungenabscess, häufig mit eiterigem Erguss in die Pleura-
höhle verknüpft. — Die Leberabscesse, erbsen- bis apfelgross, geben
nur Symptome, wenn sie bis zum serösen Ueberzug reichen, dann ver-
ursachen sie örtliche Schmerzen, Der stets bei Pyämie vorhandene
Icterus beruht wohl nicht allein anf diesen Leberabscessen , sondern
mag mit den Störungen der Verdauung zusammenhängen, somit als
katarrhalischer aufzufassen sein. Andere glauben ihn duich Blut-
zersetzung bedingt, rechnen ihn also zu den „hämatogenen". — Die
selteneren Metastasen in den Nieren machen sich als Eiterzumischung
zum Urin bemerklich. Die constant vorhandene Albuminurie (vorwiegend
Peptonurie) braucht nicht darauf bezogen zu werden. — Die Ver-
grösserung der Milz theilt die Pyämie mit allen Infectionskrankheiten ;
nur wenn Schmerzen in der Milzgegend da sind (Perisplenitis) darf
man an die oft massenhaften Milzabscesse denken. Der Bildung von
Abscessen in Musculatur und Unter hautbindegewebe gehen
unbestimmte Schmerzen in dem betreffenden Gliede voraus, dieselben
localisiren sich dann an einer Stelle, diese röthet sich, zeigt Fluctuation
bei meist ziemlich geringer Spannung. Die pyämischen Gelenk-
ergüsse entwickeln sich unter geringen Schmerzen; die Spannung des
anfangs schleimigen, bald rein eitrigen grünlichen Inhaltes ist gleich-
falls eine gerii^ge. Entzündliche Gelenkstellungen (s. Gelenkentzündungen)
bilden sich nur in geringem Grade aus.
Währenddem geht das Fieber seinen Gang (Fig. 96). Nach dem
ersten Schüttelfrost und dem Abfall der Temperatur erscheint das
Befinden des Kranken zunächst nur wenig gestört. Doch lässt sich
eine gewisse Mattigkeit und Angegritfenheit nicht verkennen; die Augen
zeigen oft schon nach dem ersten Schüttelfrost einen seltsamen Glanz
und die Hautfarbe nimmt einen Stich in's Gelbe an. Nach einer Pause
von unbestimmter Dauer (12 Stunden bis circa eine Wochej kommt der
zweite Schüttelfrost und damit sind, selbst wenn Metastasen nicht nach-
zuweisen sind, meist die Zweifel an der Diagnose beseitigt.
Der Aveitere Verlauf ist nun verschieden, je nach dem mehr
oder weniger acuten Charakter, den die Krankheit zeigt. In den
acuten Fällen folgt fast täglich ein Frost, aus welchem der Kranke
jedesmal wesentlich geschwächter hervorgeht ; doch können auch Fröste
152
iir. (>d],\u-A.
Vcrluiziiiiü,-!:)!.
ausbleiben und die Temperataicurve zeigt dann einen unregelmässig
i-eniittirenden Typus. Die Kräfte nehmen rasch ab, die Kranken werden
fast ausnahmslos ikterisch ; dies verleiht ihnen, besonders während des
Fiebers, ein sehr charakteristisches Aussehen durch die Mischung der
Fieberröthe in den gelbsüchtigen Farbenton, die rothen Wangen in dem
gelben, abgemagerten Gesicht, die fieberglänzenden, gelben, tiefliegenden
Augen. Der Puls, welcher anfangs nur während des Fiebers auf
100 — 120 stieg, bleibt dauernd hoch, 120— 150 Schläge per Minute.
Der Appetit ist ganz weg, Zunge und Lippen trocken und rissig;
Decubitus, Diarrhöen, selbst blutige Stühle stellen sich ein. Zu äusserster
Muskelschwäehe kommen bald auch geistige Störungen, Delirien, Schlaf-
sucht, völlige Theilnahmslosigkeit. Schliesslich sterben die Kranken bei
einem fast unzählbaren Puls an Herzschwäche. Die Gesammtdauer be-
trägt selten unter einer Woche, meist 3 — 5.
An der Wunde findet man in den vorgeschritteneren Stadien
eitrige Einschmelzung der Granulationen, brandigen Zerfall derselben.
Fig. 96.
hmimmmtaK^H^Mtm^BtnH^^^mt
i^MHi im 111 iiHi iii imi iia iii nn um im il
iraBBBBaBBBHaHBBniBBaBan
Bs:m:sra:BiiBns
BiiB;nasaan:m^^[
■aüBgMBtfgBMWIBBBBWBM»B^K
im
m
Temperaturcurve der Pyämie.
selbst Wunddiphtheritis (s. diese). Diese Vorgänge führen zu äusserst
üblen Complicationen der Pyämie, den gefürchteten pyämischen
Nach- oder Spätblutungen. Die Gefässwand — Venen und Arterien —
wird durch die in ihr wuchernden Mikroorganismen allmählich von aussen
nach innen zerstört — arrodirt, corrodirt — und der Blutdruck sprengt
schliesslich die Intima. Die pyämischen Blutungen können sehr profus
werden, und wenn eine grosse Arterie, eine Femoralis u. dergl. in einer
Amputationswunde blutet, ist der Kranke meist verloren, ehe Hilfe zur
Hand ist. Die Unterbindung in der inficirten , infiltrirten Wunde ist
schwer, die Gefahr, dass auch an der neuen Unterbindungsstelle wieder
eine Arrosion eintrete, stets gegeben. Selbst bei Unterbindung entfernt
von der Wunde , am Orte der Wahl ist die Gefahr einer pyämischen
Infection auch dieser Wunde naheliegend.
In den chronischen Fällen ziebt sich die Krankheit über Monate,
ein halbes Jahr und länger hin. Die Schüttelfröste erfolgen in längeren
Pausen, in welchen der Kranke sich wieder zu einem gewissen Wohl-
Pyämie. 153
befinden erholen kann. Das Fieber wird dann auch meist ein remittirendes,
mit weniger hohen, langsameren Steigerungen, ohne Fröste. Solche Fälle
können , leider ist dies nicht häufig , ein günstiges Ende nehmen ; die
Metastasen heilen unter entsprechender Behandlung aus und die Kranken
erlangen ihre volle Gesundheit wieder ; doch kommt dies nur bei
sonst ganz gesunden, jungen und ausnahmsweise widerstandsfähigen
Menschen vor.
Ein anderes Mal entwickelt sich ein Zustand chronischen Siech-
thums. mit amyloider Degeneration der innern Organe, Decubitus-
bildung etc., und die Kranken erlöschen schliesslich, nachdem sie noch
da und dort durch langsam sich entwickelnde „kalte" Abscesse gequält
sind. Der Fiebertypus bleibt nicht mehr der charakteristische pyämische;
die Schüttelfröste" fallen weg, an ihre Stelle tritt ein intermittirendes
Fieber mit weniger hohen Spitzen oder selbst eine unregelmässige
Febris continua. Es sind dies Fälle, wo die monatelange Mühe des
Arztes, die sorgfältigste Pflege doch schliesslich einen Misserfolg zu
verzeichnen haben. Man hat diese Zustände auch Febris hectica trau-
matica genannt.
Zwischen diesen chronischen und den ganz acuten Fällen stehen
solche mit subacutem Verlauf, einer Dauer von einigen Monaten. Die
Aussichten sind fast so schlecht wie bei den acuten.
Die Prognose der Pyämie ist, wie gesagt, eine äusserst trübe.
Fälle, wo die Fröste sich rasch folgen, enden schnell tödtlich und
eine geheilte Pyämie ist ein aussergewöhnlicher , ganz unverhofl'ter
Glücksfall.
Seit der Einfülirung der Antisepsis beobachtet man g-elegentlicli Fälle, die unzweifel-
haft zur Pyämie zu rechnen sind, jedoch von Anfang an einen anderen leichten klinischen
Verlauf zeigten. Es handelte sich um Fälle, welche bereits inficirt, zum Theil mit
Abscessen zugingen, deren Wunden dann antiseptisch behandelt wurden. Die Schüttel-
fröste blieben aus, das Fieber war gering oder fehlte ganz; aber es bildeten sich zahl-
reiche metastatische Abscesse von langsamem, schleichendem Verlauf, einer nach dem
anderen, vorwiegend im Unterhautzellgewebe und der Musculatur. Dieselben heilten,
incidirt, rasch aus. Auch leichte ikterische Hautfärbung fehlte nicht. Die Fälle kamen
nach mehrmonatlicher Dauer durch.
Bei der Pyämie hat man bisher in überwiegender Häufigkeit den
Streptococcus gefunden , dessen Abbildung ich in Fig. 97 wiederhole
(Zds.s' Imm. Vi2, Oc. 5.). Fig. 98 stellt eine ganz junge Fig. 97.
Streptokokkencolonie (m^ m) in der Niere dar, vermuthlich
aus einer capillären Embolie hervorgegangen; die P^pi- /"' ;;•••••*.•'
thelien der Niere fangen an zu zerfallen (d) , weisse y ^ ,^ •_>
Bliitzellen auszuwandern , die Entzündung ist im Gang, y
J-
^y
In Fig. 99 ist pyämischer Eiter abgebildet. Bei Ver-
gleich mit Fig. 14 Ä und B fällt der Zerfall der Blut-
kör])erchen, ihre Kernlosigkcit und daneben die Massen- "'. ••••*"..•••"•.
haftigkeit der überaus feinen Mikrokokken auf. •.. "■*
An der Identität des gewithnlichen Streptococcus pyogenes, Strepto-
coccus des Erysipels, des Puerperalfiebers, der Pyämie ist nicht zu
zweifeln. In seltenen Fällen hat man auch Sta|)liyh)kokken gefunden.
liKs.se sah eine Saccharomycosis unter dem IJikl einer chronischen
Pyämie verlaufen (vergl. pag. 63).
Die Sectionsbcfunde der Pyämie lassen sich aus dem
Bisherigen construircn. Multiple Abscesse in den angegebenen Ge-
154
III. Capitel. — Vcrletzuii^i;)].
weben , Darmcnt/iindungcn , Icterus , Welkheit des Herzens , Milz-
vergrösserung , parenchymatöse Degenerationen sind die wichtigsten
Befunde.
Zu einer vollständigen Section bei Pyämie gehört auch der Nachweis d(T Ein-
gangspforte der Mikroorganismen. Manchmal ist die Wunde, ein kleiner Riss am
Finger, einer Zehe u. dergl. längst geheilt, auch Phlebitis und Thrombosen lassen sich
selbst bei grossen Wunden nicht immer mehr nachweisen. Auch von den Lungen und
dem Darm, besonders dem Processus vermiformis, kann die Pyämie ausgehen, „krypto-
genetische" Pyämie. Pyämische Infectionen können (in abgekapselten Abscessen , z. B.
Hirnabscessen) auch für Jahre latent werden, um dann plötzlich wieder hervorzubrechen.
Einige unserer hervorragenden Chirurgen sind an solchen verschleppten Infectionen
schliesslich zu Grunde gegangen.
Die Behandlung der Pyämie ist eine ziemlich aussichtslose.
Selbst energische antiseptische Behandlung der Wunde, z. B. Ausräumen
einer inficirten Diaphysen-Markhöhle mit dem scharfen Löffel , hilft
meist nichts , rührt oft die Sache erst recht auf. Der Versuch , die
abführende Hauptvene des betreffenden Theiles, z. B. die Vena cruralis,
Fig. 98.
Fig. 99.
l'^Sjo)
zu unterbinden und so die embo-
lischen Einbrüche in die Circulation
unmöglich zu machen, hat bis jetzt
wenig Erfolge gehabt. Der venöse
Strom kann vielleicht gerade, wenn
er seine Richtung ändert, um so
leichter Thromben losreissen. Doch ist es in einigen Fällen gelungen,
durch Unterbindung, Incision und Entleerung der Vena jugularis int. die
pyämischen Erscheinungen bei Thrombose der Hirnsinus zum Ver-
schwinden zu bringen und Heilung zu erzielen. Selbst die Amputation
hat , neben wenigen Erfolgen , zahlreiche Misserfolge zu verzeichnen.
Bei der trostlosen Prognose der Pyämie sind diese Versuche jedenfalls
erlaubt , wenn nicht geboten. Nur in den frühesten Stadien lässt sich
Erfolg erhoffen. Die metastatischen Abscesse sind zu spalten und zu
drainiren und heilen dann oft rasch, ebenso die Gelenkeiterungen, Pleuri-
tiden, Perikarditiden u. s. f.
Innerliche Mittel sind machtlos. Eine Zeitlang war das Natron
benzoicum empfohlen. Auch Salicylpräparate sind verwandt. Zur Nieder-
haltung des Fiebers können (ob mit Einfluss auf die Krankheit, ist
eine andere Frage) die modernen Antipyretica , Antipyrin , Phenacetin
versucht werden. Ein fortgesetzter massiger Chiningebrauch (l'O — 1'5,
höchstens 2'0 alle 2 Tage) hält noch am besten die Kräfte und den
Septikämie. 155
Appetit zusammen imd die Temperatur in niedrigeren Grenzen. Bei
der chronischen Pyämie sind protrahirte Bäder nützlich. Sorge für
kräftige Ernährung ist selbstverständlich. Ein Versuch mit Antistrepto-
kokkenserum könnte immerhin gemacht werden.
Die einzig wirksame Behandlung der Pyämie ist die Prophylaxe.
Eine strenge Asepsis und Antisepsis ist ein absolut verlässlicher Schutz
gegen Pyämie , und man darf daher mit Recht sagen : Einem fermen
Antiseptiker darf keine frische Wunde pyämisch werden. Im Kriege
werden wir noch eher mit diesem Feind zu kämpfen haben.
Der Pyämie steht klinisch und ätiologisch nahe die Blutver-
giftung (Septikämie, Septhämie, Faulfieber u. s. w.). In reinen
Fällen gibt sie wohl ein ganz verschiedenes Krankheitsbild wie die
Pyämie, zahlreiche Uebergänge und Mischformen, ebenso wie die Er-
gebnisse der bacteriologischen Forschung rücken beide Krankheiten
einander wieder nahe.
Die Blutvergiftung tritt selten später als am fünften Tage nach der
Operation auf. Im Gegensatz zur Pyämie handelt es sich also um
eine ausgesprochene Früherkrankung der Verwundeten.
Die Septikämie tritt in verschiedenen khnischen Formen auf; die
häufigste und typischeste ist die nach (inficirten) Bauchoperationen,
Perforationen des Darms durch Verletzungen, Einklemmungen von Ein-
geweidebrüchen u. s. w. Die peritoneale Sepsis schliesst sich un-
mittelbar an die Operation an, so dass man zunächst nicht weiss, ob
man es mit Chloroformnaehwirkung, Shock oder Blutvergiftung zu
thun hat. Die Kranken befinden sich in einem Zustande völligen subjectiven
Wohlbefindens, aber zugleich grosser Apathie und Gleichgiltigkeit. —
Die objectiven Zeichen, nach welchen der Arzt, um Gewissheit zu
haben, forscht, sind überaus gering und wenig charakteristisch; der
Puls ist frequent, aber klein, 90—100 ; die Temperatur normal, selbst
subnormal, oder wenig erhöht, 38-5—390; ^\[q Zunge ist belegt, Appetit
fehlt völlig, häufig ist viel Durst; alles Zeichen, welche man ebenso
gut anders deuten kann. Am wichtigsten ist der allgemeine Eindruck,
den der Kranke macht und welchen der Arzt, der ihn einmal gesehen,
nie wieder vergisst; es ist der tiefer Prostration.
Der weitere Verlauf der Blutvergiftung ist nun der eines ganz
rapiden Kräfteverfalles. — Die Veränderungen der Temperatur sind
wenig charakteristisch; einige Fälle verlaufen mit subnormaler Tempe-
ratur, andere bei fast normaler; dazwischen finden sich unregelmässige
Steigerungen bis 38 und SS-ö". Wieder andere zeigen von Anfang
an Temperaturen um 39 — 40" und mehr (vergl. die Curve Fig. 100).
Mehr Aufschluss gewährt das Verhalten des Pulses. Derselbe
zeigt eine stetig zunehmende Frequenz. Im Beginn um 90 schwankend,
so dass man sich noch an den Gedanken klammert, es sei psychische
Erregung oder Anämie, steigt er auf 100, 1 10 und erreicht bald 120 und
mehr. Diese hohe Frequenz ist um so auffallender, weil ihr der Gang
der Temperatur, welche zur selben Zeit vielleicht völlig normal sein
kann, gar nicht entspricht. Puls- und Teniperaturcurve laufen nicht,
wie sonst, annähernd ])arallel. sondern es kommt zu der ..Kreuzung"
der Curven, d. li. die l'ulscurve steigt höher als die Teniperaturcurve
(vergl. Fig. loO).
156
III. Capitel. — Verlclziiiij^^cii.
Das Allgerncinljcfinden verschlechtert sich rasch. Die Züge ver-
fallen zusehends, die schwarzg-cränderten Augen liegen tief und zeigen
einen unheimlichen Glanz, die Gesichtsfarbe wird gclbgrau, der Ge-
sichtsausdruck ist der völliger Geistesabwesenheit. Die übiige Haut zeigt
gleichfalls eine schmutziggelbe Farbe; in Haut und Schleimhäuten stellen
sich häufig kleine, Stecknadelkopf- bis 20-pfennigstückgrosse Blutungen
ein (Petechien). Die Kranken liegen zusammengesunken im Bett, lassen
Koth und Urin unter sich gehen , gleichgiltig gegen Alles. Auffällig
contrastirt mit diesem schlechten Allgemeinbefinden die grosse Euphorie ;
w^enn man sie fragt, geht es ihnen immer gut. Nur Durst ist die
immerwährende Klage ; häufig ist Aufstossen und Erbrechen , beson-
ders bei Laparotomirten. Die Zunge ist trocken , mit braunem
russigem („fuliginöscm") Belag, ebenso die Lippen. Meist sind Durch-
fälle, mitunter bluthaltend, vorhanden, welche jedem therapeutischen
Versuch spotten. Die Krankheit eilt rasch ihrem Ende zu. Der Puls
Fig. 100.
Curve der Septikämie.
Temperatur. -_ —
geht höher und höher, wird ungleichmässig und aussetzend , bald un-
zählbar. Hände, Füsse und Nase werden kalt; ohne Sehmerzen, ohne
Klage und oft ohne Bewusstsein des Todes erlischt das Leben — Herz-
schwäche ist die unmittelbar den Tod veranlassende Ursache. Die ganze
Scene kann sich innerhalb 8 — 12 Stunden abspielen; und länger als
4 — 6 Tage dauert es nicht leicht.
Die anatomischen Veränderungen sind gering und ist diese Geringfügigkeit
der pathologisch-anatomischen Ausbeute geradezu charakteristisch für die Septikämie.
Trübe Schwellungen der inneren Organe , kleine Blutungen in der Darmschleimhaut,
unter der Serosa des Darms, in der Haut, dann auch in den drüsigen Organen, ein
matsches, mitunter etwas fleckiges oder gestreiftes Herzfleisch, dünnflüssiges, schwarzes,
theerartiges, wenig zur Gerinnung geneigtes Blut, hier und dort Oedeme, bei Laparotomien
namentlich retroperitoneal, rasches Fortschreiten der Fäulniss nach dem Tode — dies
sind die wichtigsten Zeichen. An der Wunde selbst findet sich so gut wie nichts ;
selbst bei Laparotomien oft nur ein ganz geringfügiger blutig-seröser, nicht übelriechender
Erguss in der Bauchhöhle.
Auch gegen die Septikämie gewährt eine sichere Antisepsis und
Asepsis (s. Wundbehandlung) verlässlichen Schutz.
ö
Verschiedene Formen der Septikämie. 157
Erfolgt die Infection an anderer Stelle, so sind auch die Erschei-
nungen etwas anders. Am Finger z. B. inficiren sich oft Chirurgen
und besonders pathologische Anatomen bei Seetionen mit „Leichen-
gift". — Die iniicirenden Leichen sind ausnahmslos solche von Per-
sonen, die an infectiösen, d. h. septischen Processen zu Grunde gegangen
sind. An der Wunde selbst fehlen bald alle Veränderungen , oder es
stellen sich leichte lymphangitische Erscheinungen ein ; aber oft schon
im Laufe eines halben Tages treten die Zeichen einer schweren All-
gemeinvergiftung hervor: das Gefühl überwältigender Mattigkeit, tödt-
lichen Krankseins, Kopfschmerz, Angst und Unruhe. Puls und Tem-
peratur gehen in die Höhe; der Kranke verfällt ungemein rasch, die
Züge verändern sich, die Haut wird gelblich und fahl, Diarrhoen kön-
nen auftreten, kleine Hautblutungen sich zeigen und so kann der Kranke
schon im Laufe des zweiten Tages zu Grunde gehen.
So ganz schlecht ist bei diesen Formen der Infection die Pro-
gnose nicht ; frühzeitige Einschnitte am Orte der Infection mit antisep-
tischer Behandlung können der Weiterentwicklung Einhalt thun und
eine Anzahl von zweifellosen Infectionen mit „Leichengift" wird über-
wunden.
Wieder anders ist der Verlauf der Urinsepsis, wenn katarrhalischer Urin
durch eine Verletzung der Harnwege in die Gewebe eingepresst wird. Sie entsteht von
der Stelle aus, wo der Urin in die Gewebe eindringt ; es verbreitet sich rasch Gangrän der
Gewebe. Die Haut wird blauschwarz, Unterhautzellgewebe und Musculatur zerfallen in
eine schmierige braune, jauchedurchtränkte Masse; die sich entwickelnden Gasblasen
lassen sich deutlich fühlen und veranlassen bei der Berührung der Haut ein knisterndes
Geräusch (subcutanes sejitisches Emphysem). — Damm, Gesäss, Bauch, Ober-
schenkel und Eücken können in 24 Stunden in dieser Weise gangränös zerfallen. —
Der Allgemeinzustand ist ein äusserst schwerer , gänzlicher Verfall der Kräfte, Apathie,
hoher, kaum zählbarer Puls : die Temperatur ist wenig erhöht, kann sogar während der
ganzen Dauer des Zustandes normal, selbst subnormal sein. — Der Tod erfolgt in
1 — 2 Tagen an Herzschwäche. Weite und tiefe Incisionen, welche dem Urin und der
Jauche freien Abfluss schaffen , mit folgenden antiseptischen (namentlich Chlorwasser-)
Umschlägen können kräftige Naturen noch retten.
Aehnlich sind die Erscheinungen der von Maissonneuve zuerst beschriebenen
Gangrene foudroyante. An schwere Verletzungen — Zermalmungen, Verletzungen
durch grobes Geschütz u. dergl. — schliesst sich ein ganz rapider brandiger Zerfall
der Gewebe — mit Gasentwicklung, jauchiger Veränderung der Gewebe an. Die Gangrän
schreitet rasch vorwärts; um die zweifellos gangränösen Partien, welche sich braun-
oder blauschwarz verfärben, bildet sich ein röthlicher Hof; ebenso schimmern die Venen
und Lymphgefässe — ähnlich wie man es mitunter an faulenden Cadavern sieht , als
röthlichbraune oder grüne Streifen durch die Haut durch. Dabei sind die noch nicht
abgestorbenen Theile durch entzündliches Oedem und Gasentwicklung enorm aufgetrieben.
Der Allgemeinzustand ist der schwerster septischer Apathie ; Temperatur, Puls verhalten
sich genau ebenso. Nur selten sind die Kranken aufgeregt. Der Tod erfolgt nach
einem liis zwei Tagen.
M\ Koch identificirt die Gangrene foudroyante mit dem Rausclibrand der Thiere.
Bei Rindern namentlich entwickelt sich von einer kleinen Wunde aus Gangrän mit
Gas- und .lauchebildung ; der Process schreitet rasch fort und die Thiere gehen nach
einigen Tagen zu Grunde. In den Brandherden ündet sich ein beweglicher Bacillus,
der Geiseln trägt — Bacillus tremulus (wegen seiner zitternden Bewegung) (Fig. 101
nach Srlienk). liosenhuch fand in einem Falle von „progressivem gangränösem Emphysem"
einen Bacillus.
Chiari fand Bacterium coli conunuue. Vielleicht kommt auch der Bacillus foeti-
dus (Passet), Bacillus neapolitanus (Emmeridi) und der Proteus in seinen verschiedenen
Varietäten (Hauser) in Frage.
Die vorliegenden Untersuchungen genügen noch nicht zur Entscheidung der Frage.
Beim Hospitalbrand (Gangraena nosocomialis) kennen wir die
der Krankheit zu Grunde liegenden Organismen noch nicht. Der
158 IIJ- ^'a^l>it<;l- — V<;rli;t/,iiiiK':n.
Hospitalbrand ze'v^t im Anfang- melir localen Charakter in Form fort-
schreitenden lirandes der Weichtheile. Die Granulationen zeigen zu-
nächst kleine Blutungen, belegen sich mit einem gclbgrauen faser-
stoftigen croupösen Belag, der fest-
i'^iK-ioi- haftet lind nicht ohne Blutung abzu-
Haarzopfähniiohe ziclicn ist : dann zerfallen Granula-
Geissel Geisselmasse . i t> i i t /-< i
tionen und Belag und die (jranula-
tionsfläche wird zum Geschwür, das
von Tag zu Tag durch Einschmelzung
\^l ä \ J^ \. *^^^' Grranulationen und später der
^ Z^;^ 1 I ^ umgebenden Gewebe grösser wird
^ ^ {\ '^ (ulceröse Form des Hospital-
' brandes). Bei der pulpösen Form
EaiTschbrandbaciiien aus der Biutserumcuitur. verfallen GranulationcH Und Gcwcbc
llOOmal vergrössert (nach Loffler). . , . .
rasch zu einem schmierigen grauen,
oft etwas blutig verfärbten Brei, der sich schwer und nicht ganz ab-
wischen lässt. Hier geht der Zerfall viel rascher. Mit dem Vordringen
der Gangrän in gesunde Gewebe stellen sich auch Allgemeinerscheinungen.
Fieber u. dergl. ein , die bald mehr einen septikämischen , bald mehr
einen pyämischen Charakter tragen. An diesen kann der Kranke zu
Grunde gehen. Andere Male bleibt der Process längere Zeit local und
die Allgemeinerscheinungen sind geringfügig, Fieber Abends — 38"5^
und 39 ^ Aber auch hier können durch die fortschreitende Gangrän
schliesslich die Knochen freigelegt und nekrotisch werden oder es werden
grosse Arterien angefressen und die Kranken erliegen schweren Blu-
tungen. — Doch kann auch die Gangrän sich begrenzen und die oft
grossen Defecte kommen sehr langsam zur Verheilung, wenn nicht die
Kranken einstweilen an Entkräftung zu Grunde gegangen sind.
Die Behandlung ist nicht ganz ohnmächtig gegen diese Form des
Brandes, wenn sie gleich auch nicht immer Erfolge aufzuweisen hat.
Energische antiseptische Behandlung, Umschläge mit Sublimatlösungen
1 : 1000 — wenn nöthig Aetzungen mit starken Lösungen , Sublimat
1:20, Chlorzink (1 : 10) , in leichteren Fällen Jodtinctur; oder der
Thermokauter energisch gehandhabt, bringen die Gangrän oft zum Still-
stand. In schweren Fällen kann auch die Amputation — weit vom
kranken Ort entfernt — in Frage kommen.
Eine strenge Antisepsis ist ein absolut sicherer Schutz gegen den
Hospitalbrand; er ist — seitdem überall mehr oder weniger anti-
septisch gearbeitet wird — aus der Friedenspraxis verschwunden.
Die Wunddiphtheritis i. e. S. entsteht durch Fortsetzung oder
Uebertraguug der SchleimhautdiphtheritiS; d. h. des Lö/Zer^schen Diph-
theriebacillus , auf frische Wunden. Wunden von Luftröhrenschnitten
werden von der diphtheritischen Luftröhre aus inficirt. Die Wunde be-
deckt sich mit einem grauen schmierigen fibrinösen Belag. — Von
Tag zu Tag vergrössert sich — durch schichtweise Einschmelzung der
Gewebe — die Wunde, und es kann endlich über die Sternocleido-
mastoidei hinaus, vom Unterkiefer bis zum Schlüsselbein, eine tiefe
buchtige diphtheri tisch belegte Brandfläche sich bilden, in deren Grund
die Luftröhre — oft mit einem grossen Defect in der vorderen Wand —
frei liegt, so dass eine Canüle nicht mehr nöthig ist. In seltenen Fällen
begrenzt sich die Gangrän und kann schliesslich zur Heilung kommen.
Hospitalbrand. — Sepsis bei Tliieren.
159
Auch auf anderen Schleinibäuten, besonders der weiblichen Genitalien,
kommt Diphtherie vor, seltener auf äusseren Wunden (Fingerwunden,
Heuhner).
Die Behandlung der Wunddiphtherie besteht in häufig gewechselten
antiseptischen Umschlägen (Sublimat 1:3000 — 1:1000), Bepinselung
mit Jodtinctur, Bepudern mit Jodoformpulver. Auch die subcutane
Injection von Diphtherieheilserum ist zu versuchen.
Man hat Wunddiplitherie und- Hospitalbrand zu identificiren gesucht und jene
als croupöse Form des letzteren angesprochen. Die klinische Erfahi'ung, dass aus der
auch heute noch gelegentlich vorkommenden Wunddiphtherie nie infectiöser typischer
Hospitalbrand entsteht, spricht dagegen.
An den Genitalien kommt in seltenen Fällen, besonders bei Syphilitischen, von
einem Chancregeschwür ausgehend, eine äusserst langsam fortschreitende Gangrän
zur Entwicklung, deren Erreger ganz unbekannt ist. Der brandige Zerfall geht hauptsäch-
lich im Unterhautzellgewebe weiter, die unterminirte Haut stirbt erst secundär ab. Im
Laufe der Monate kann der Process die Haut des Bauches, Dammes, Gesässes erreichen.
In seinen classischen Untersuchungen über die Aetiologie der Wundinfections-
krankheiten hat uns Koch mit einigen wichtigen septischen Erkrankungen der Thiere
bekannt gemacht.
Werden einer Hausmaus einige Tropfen faulenden Blutes — ungefähr 2 — 3 Tage
alt — unter die Eückenhaut gespritzt , so entwickeln sich rasch schwere Krankheits-
Fig. 102.
Fig. 103.
Fig. 104.
Bacillus der Mäuseseptikäraie
Blut.
Zeiss' Immers. '/121 Oc. 5.
[ ^
Kaninchenseptikämie.
Blut.
Zeiss' Immers. Vi2> Oc. 5.
Bacillus des malignen Oedems.
Oedemflüssigkeit.
Zeiss' Immers. '/121 Oc. 5.
erscheinuugen, enorme Schwäche, die Athmung wird unregelmässig, und nach 4 — 8 Stun-
den tritt der Tod ein. Im Blute , namentlich innerhalb der weissen Blutkörperchen
finden sich äusserst feine Stäbchen , die oft zu zweien zusammenhängen oder auch
längere Ketten bilden (Fig. 102). Von der Injectiousfliissigkeit ist nur der geringste
Theil resorbirt, es müssen also Tod und Krankheit durch die Aufnahme eines von der
Impfstelle aufgesaugten löslichen Giftes entstanden sein. Auf Feldmäuse lässt sich die
M ä u s e s e p t i k ä m i e nicht übertragen .
Bei Kaninchen erzeugte Koch durch Injection von Faulflüssigkeit oder stagni-
rendem Flusswasser die Krankheit der sogenannten Kaninchenseptikämie. Hier
entsteht starke örtliche Entzündung, sehr hohes Fieber und unter zunehmender Schwäche
erfolgt der Tod. — Als Träger der Krankheit wurde ein überaus feiner und zierlicher,
in der Mitte etwas verjüngter, hanteiförmiger Bacillus erkannt, durch dessen Züchtung
auf Gelatine und Impfung die Krankheit weiter übertragen werden kann (Fig. 103).
Der Bacillus lindet sicli vorwiegend im Blut, besonders reichlich in den Capillaren
drüsiger Organe. Grobe "Veränderungen in den Organen fehlen , wie bei der mensch-
lichen Septikämie.
Indem wir die übrigen von Koch künstlich erzeugten entzündlichen und septischen
Processe bei Thieren — als die vorliegende Frage nicht uniiiitt(dl)ar berührend — bei
Seile lassen, sei nur noch — als Analogon der Gangrene foudroyante — des „malignen
Oedems" gedacht. Die ersten Infectionen erfolgten mit Aufgüssen aus Gartenerde.
Erreger der Krankheit ist ein grosser, plumper, kurzer und dicker, bewegliclier Bacillus,
der sich gerne zu langen Fäden aneinanderlegt und meist intensive Sporenbildung zeigt
(Fig. 104). Der Bacillus keimt nur im Ki-rn der Gelatine, ist also anaerobisch (Hesse), und
verflüssigt dieselbe unter Entwicklung stinkenden Gases (Fig. 105). — An der Impfstelle
160
III. Cajjitel. — Verletzungen.
Fig. 105.
Gasblasen in den
Colonien
Flüssige Kugeln
(Colonien)
erzeugt er ein fortschreitendea Ijlutig-scröses (Jedem ; unter sehweren Allgemeinerschei-
nungen erfolgt der Tod.
Bei der „progressiven Gangrän" der Mäuse und der ^progressiven Abscessbildung"
der Kaninchen fanden sich Mikrokokken.
Die septischen Processe sind bacteriologiscli noch nicht klar-
gestellt, umsoweniger, als Mischformen nicht selten sind, z. B. zwischen
Pyämie und Septikämie fSeptico-
pyämie). Manche Infection , nament-
lich puerperale Infection, beginnt als
zweifellose Septikäraie , um schliess-
lich, nachdem Schüttelfröste und Me-
tastasen eingetreten sind, als Pyämie
zu enden. Am klarsten sehen wir
noch bei der typischen metastatischen
Pyämie. Hier finden sich stets Mikro-
organismen , allerdings nicht blos
Streptokokken, sondern auch häufig
Staphylokokken. Anders bei der Septi-
kämie, hier sind wohl meist Staphylo-
kokken gefunden worden, Monad und
Macaigne haben aber auch Strepto-
kokkenseptikämien gesehen. In einem
nicht kleinen Theil der Fälle sind
aber auch von ganz exaeten Forschern,
die Bacterien wohl zu finden wissen,
wenn sie da sind , keine Mikroorga-
nismen in Blut und Geweben gefunden
worden ; so u. A. von Hahn und Brieger
(Virchoiv's Arch., 133 Bd.).
Man hat deshalb eine reine In-
toxicationssepsis angenommen , eine
Vergiftung nur durch die (vielleicht
in einem kleinen Herde gebildeten)
Toxine — etwa analog dem Tod durch
Tetanustoxin.
Eine eigenartige, nur zum Theil ge-
nügend gestützte Ansicht vertritt Canon
(Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 37 und a. a.
0.). — Die Unterschiede zwischen Pyämie und.
Septikämie sind nicht in der Verschieden-
artigkeit der Bacterien begründet. Bei der
P^'ämie findet sich keine Infection des Bluts,
hei der Septikämie ist die Vermehrung der Eiter-
kokken im Blute die Hauptsache (?) (vgl. oben).
AVo man in der mit der Pra«;a^'schen Spritze
aus den Armvenen entnommenen Blutprobe
durch Züchtung Kokken nachweisen kann, be-
steht Sepsis ('?). Bei Phlegmone und Wundfieber
fand er nie Kokken im Blut (?) (vergl. v. Eisels-
hcrg, pag. 140 , Brieger). Bei der Pj'ämie
werden die Kokken nur durch das Blut hindurchgeschleppt in grösseren Embolis , die
dann — festgefahren — Metastasen machen. Bei Sepsis sollen die Emboli nur kleiner
sein. Bei Sepsis soll die Virulenz der Kokken eine so grosse oder die Infection eine
so massenhafte sein (?), dass die bactericide Kraft des Blutes versagt und die Kokken
im Blute weiterwachsen. Doch gibt e.s auch Fälle von reiner Intoxicationssepsis.
Anaerobe Ciiltur des Bacillus oedematis
maligni in Glycerin-Agar
(nach Fraenkel und Pfeiffer).
Aetiologie der septischen Processe. 161
Die Toxine machen das Eiterfieber, die Entkräftung, schwächen die Widerstands-
fähigkeit des Organismus und des Blutes und bereiten so den Kokken den Boden, dass
sie im Blute wachsen können.
Die Incongruenz der klinischen Krankheitsbilder und der bacteriologischen For-
schungen haben Kocher und Tavel veranlasst, ganz auf der Bacteriologie fussend, die
alten klinischen Begriffe fallen zu lassen und bacteriologische Einheiten — Staphylo-
mykosen, Streptomykosen etc. — aufzustellen. Es bleibt abzuwarten, ob der — an
sich gerechtfertigte — Versuch gelingt.
Die wesentlichen Erreger septischer und pyämischer Processe sind
die Staphylokokken und Streptokokken, wie sie auch einem grossen
Theil der Fleischvergiftungen zu Grunde zu liegen scheinen.
Pyämieähnliche Zustände sind auch durch Bacillus pyocyaneus (vergl. pag. 139)
und Saccharomyces {Busse, Chir. Centrbl. 95, Nr. 42) verursacht worden.
Der gewöhnliche Fäulnisserreger (Proteus vulgaris Hauser) in
seinen 3 Varietäten scheint bei dem Zustandekommen der septischen
und pyämisehen nur eine untergeordnete oder genauer gesagt keine
Rolle zu spielen, wenn auch er sowohl (Brunner), wie das Bacterium
coli und der Bacillus enteritidis (Luharsch) gelegentlich Fälle von Sepsis
hervorzurufen im Stande sind. Auch die gasbildenden Kapselkokken sind
von Ernst , E. Eränliel , v. Düngen bei septischen Processen gefunden
worden.
Sehen wir von den seltenen Fällen ab , wo septische Zustände
durch andere Mikroorganismen — Bacterium coli , Proteus , Bacillus
tremulus etc. (vergl. pag. 157) hervorgerufen werden, so begegnen uns
bei all den bisher besprochenen klinischen Krankheitsformen immer
nur :<f Mikroorganismen-Gattungen — Staphylokokken und Streptokokken.
Die von BiUroth schon vor Jahrzehnten aufgestellte Ansicht, dass die
einfache Wundeutzündung und die schwerste Blutvergiftung dem Wesen
nach verwandte, nur dem Grade nach verschiedene und durch Neben-
umstände anders gestaltete Processe seien, hat also durch die neueren
Untersuchungen volle Bestätigung gefunden.
Ueber die Frage, weshalb wir nun — bei Anwesenheit derselben
Gattung von Mikroorganismen — das eine Mal schwerste Sepsis, das
zweite Mal eine leichte Wundentzündung, das dritte Mal gar keine
Veränderung haben , darüber ist völlige Klarheit noch nicht erreicht.
Zu beachten sind verschiedene Punkte. — Bei der Eiterung, pag. 29,
haben wir gesehen, dass auch zum Zustandekommen der Eiterung ver-
schiedene begünstigende Umstände zusammenwirken müssen und dass
die einfache Uebertragung von Staphylo- oder Streptokokken auf eine
Wunde nicht zum Zustandekommen der Eiterung genügt (vgl. auch
l)ag. 140, ScJrh)n))eIbi(scli}.
Ein wichtiger Punkt ist ferner das Schwanken der Virulenz. Durch
Anti- und Asepsis wird die Virulenz der Staphylo- und Streptokokken
so herabgesetzt, dass sie leicht von den Schutzkräften des Organismus
überwunden werden . während bei manchen Infectionen besonders
virulente Kokken in Wirksamkeit treten, vergl. die erhöhte Virulenz der
Streptokokken der ])uerperalen Sepsis (Goldscheider). — Auch die Menge
der zugleich übertragenen Infectionskeime ist sicher von Wichtigkeit 5
dann ob gleichzeitig Toxine mit übertragen werden (vergl. pag. 29, Rinne).
Dann kommt die Stelle der Infection in Betracht, ob auf der breiten
Resorptionsfläche des Peritoneum, wo in Wasser lösliche Stoffe rasch
und massenhaft aufgesaugt und unschädlich gemacht werden , oder an
J^andoror, Allg. chir. l'atholngif u. Theraiii«.-. 2. Aufl. 11
162 I^i- Capitel. — Verletzungen.
der Pulpa des Fingers, wo die Resorptionsbedingungen viel ungünstiger
sind ; ob in einem weithin , von stagnirendem Urin durchtränkten
Gewebe, ob in gesunden Geweben oder in solchen, welche durch eine
schwere Verletzung schon halb abgestorben sind, ob die Infection in
einen „todten Winkel" , wo die Schutzkräfte des Organismus nicht
wirken können (vergl. pag. 29) , erfolgt, ob in eine Vene oder Arterie
(vergl. pag, 151 Pyämie und pag. 37), ob in Weichtheile oder die Mark-
höhle des Knochens , ob an Stellen mit langsamer oder lebhafter Cir-
culation und Resorption (pag. 30).
Auch der Zustand des Gesammtorganismus ist von grosser Wichtig-
keit (vergl. pag. 29 und 133), ob die natürlichen Schutzkräfte des
Organismus durch Krankheit, Blutverlust, Narkose u. s. w, herabgesetzt
sind. Hier harren noch viele Punkte der Erledigung.
Wundstarrkrampf (Tetanus). — Thierkrankheiten, welche auch auf den
Menschen übertragen werden können. — Rotz, Milzbrand, Actinomykosis, Lyssa
(Hundswuth). — Schlangen- und Insektenbisse.
Der Wundstarrkrampf, Tetanus, Trismus befällt die
Krauken mitten in vollem Wohlbefinden, in jedem Stadium der Wund-
heilung, selbst nach vollendeter Heilung. Erfrierungen und mit Erde,
Stallschmutz etc. verschmierte W^unden sind besonders zum Tetanus
disponirt. Auch von der Nabelwunde Neugeborener geht er häufig aus.
Die Fälle von Tetanus häufen sich bisweilen zu kleinen Epidemien,
um dann wieder für Monate oder Jahre zu verschwinden.
Die erste Klage des Kranken sind Schwierigkeiten beim Oeffnen
des Mundes, Kieferklemme, Trismus. Natürlich müssen entzündliche
Zustände im Munde und Rachen als Ursache der Schwerbeweglich-
keit der Kiefer ausgeschlossen werden können. Charakteristisch für
Trismus ist die brettharte Contraction der Kaumuskeln, besonders der
Masseteren.
Die Weiterentwicklung der Krankheit ist zeitlich ungemein ver-
schieden , bald eine überaus stürmische — so dass jede Stunde eine
neue Verschlimmerung bringt — bald eine sehr langsame, wo in Tagen
und Wochen nur wenig sich ändert. Praktisch ist die Trennung des
Tetanus in eine acute und chronische Form nicht nur erlaubt,
sondern geradezu geboten.
Beim acuten Tetanus ist die Kieferklemme schon nach wenigen
Stunden stärker, dabei klagt der Kranke auch über Schwierigkeiten
beim Schlucken, der Hinterkopf bohrt sich in die Kissen, so dass das
Gesicht nach oben gewendet ist. Auch im Nacken fühlt sich die
Musculatur hart und gespannt an. Die Gesichtsmuskeln fangen an
sich zu betheiligen; indem sie sich dauernd tetanisch zusammen-
ziehen, verleihen sie dem Gesichtsausdruck etwas eigenthümlich Starres,
Maskenhaftes. Der obere Theil des Gesichts bis zu den Augen erlangt
durch die Contraction der Mm. frontales u. s. w. oft etwas Schmerzliches
im Ausdruck, der untere dagegen gibt durch die Zusammenziehung
der um Mund und Nase liegenden mimischen Muskeln den Schein des
Lächelns. So gewinnt das Gesicht oft ein grauenhaftes, fast medusen-
artiges Ansehen.
Tetanus. Iß3
Die übrigen Miiskelgruppen des Körpers werden meist — doch
nicht ganz regelmässig — in einer gewissen Reihenfolge ergriffen.
Zunächst kommen die ßückenmuskeln , namentlich die Rückenstrecker
daran. Die Kranken liegen in Folge dessen mit dem Rücken fast ganz
hohl und nur der Hinterkopf und das Becken liegen auf der Matratze
auf (Opisthotonus). Doch ist die tetanische Contraction der Muskeln
keine ganz gleichmässige ; es kommen Anfälle von Starre von einigen
Minuten Dauer — oft auf eine geringfügige äussere Erschütterung hin,
einen Stoss an's Bett, einen harten Tritt — und dann wieder Pausen,
in welchen die Contraction anfangs ganz schwindet, im späteren Verlauf
wenigstens nachlässt. — Einstweilen hat sich auch der übrige Zustand
des Kranken wesentlich geändert. Vor Allem geht die Temperatur
rasch in die Höhe bis 40°, 41°; der Puls steigt ihr entsprechend; ein
reichlicher Schweiss bedeckt den Kranken, der von den beständigen
Krampfanfällen schnell erschöpft wird. Von genügender Ernährung und
Schlaf ist keine Rede mehr. — Nun kommen die Bauchmuskeln au
die Reihe. Wenn sie sich brettartig spannen und den Leib einziehen,
so fängt die Respiration an mühsam zu werden. Das Ende wird ein-
geleitet durch die Mitbetheiligung der Respirationsmuskeln. Wenn die
Starre der Intercostalmuskeln noch einige Zeit ertragen werden kann,
so treten bei Tetanus des Zwerchfells sofort die schwersten Erstickungs-
anfälle ein , der Kranke wird dunkelblau , der Puls verschwindet.
Beim ersten , auch nach dem zweiten schweren Anfall stellt sich viel-
leicht die Athmung wieder ein , der nächste Anfall nimmt dann den
Kranken um so sicherer. Die Extremitätenmuskeln bleiben meist frei;
jedenfalls erreicht die Starre derselben nie einen beträchtlichen Grad.
In den letzten Perioden erhebt sich die Temperatur zu excessiven
Höhen, 42—43". Sie steigt auch nach dem Tode noch und ist bei
postmortaler Temperatursteigerung im Tetanus als höchste überhaupt
bekannte Temperatur von Wunderlich 44"7° gemessen worden.
Die ganze Scene spielt sich in den schwersten Fällen binnen
24 — 36 Stunden ab; länger als 3 — 4 Tage dauern die acuten Fälle
selten.
Bei den chronischen Fällen kommt es nicht zur Entwicklung
des vollen Bildes. In einigen Tagen nimmt der Trismus langsam zu, es
schliessen sich Schlingbeschwerden und etwas Nackenstarre an, eine Mit-
betheiligung der Rückenstrecker ist selten und die Bauch- und Athmungs-
musculatur wird nicht ergriffen. Die Temperatur bleibt normal, das All-
gemeinbefinden ist nur durch die Schwierigkeiten der Ernährung und
des Aushustens gestört. Langsam, wie die Erscheinungen gekommen,
schwinden sie wieder und nach 6 — 10 Wochen ist der Kranke gesund;
einen ungünstigen Ausgang habe ich — von Complicationen natürlich
abgesehen — in diesen langsam sich entwickelnden Fällen von Tetanus
(oder eigentlich „Trismus" i. e. S.) nicht gesehen.
AlsTetanus hy drophobicus oder Kopf tetanu s ist von Hose eine eigene
Form des Tetanus besclirieben, welclie sich nach Verletzungen des Kopfes im Gebiete
der 12 Hirnnerven einstellt. Ausser Trismus ist eine Lähmung des der Wunde gleich-
seitigen Facialis zu constatiren, ferner Schlundkrämpfe, welche sich besonders bei jedem
Versuche zu schlucken einstellen und dem Zustand eine gewisse Aehnlichkeit mit der
Wasserscheu (Hundswuth) verleihen. Die verletzte Seite ist stärker befallen. Der
gi-össere Theil der Fälle wurde geheilt. Die übrigen starben unter AVeiterentwickelung
der tetanischen Erscheinungen (Brunner, Beiträge zur klinischen Chir., Bd. IX — XI.)
{Klemm, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. XXlXj.
1 ] *
164
IIL Capitel. — Verletzungen.
An den Wunden Tetanischer zeigen sich wesentliche Veränderungen
nicht. Die Sectionsergebnisse bei Tetanus sind bisher makroskopisch
so ziemlich negativ gewesen (Röthungen längs den zu der Wunde
Fig. lOG.
Fig. 107.
f i?
Tetanusbacillen mit endständigen Sporen.
gehenden Nerven , aufsteigende Neu-
ritiden ; Hyperämien , Kernvermeh-
rungen im Sympathicus, im Rücken-
mark?).
Die Aetiologie des Tetanus ist
durch Nicolaier , Rosenbach ^ Kitasato
u. A. festgestellt worden. Die Tetanus-
bacillen sind schlanke borstenförmige
Stäbchen mit endständigen Sporen
(Köpfcheusporen) Fig. 106. Die Tetanus-
bacillen sind streng anaerob, wachsen
unter Luftausschluss auf den gewöhn-
lichen Nährböden, Fig. 107 anaerobe
Tetanuscultur in Gelatine mit 2Vo
Traubenzucker (nach Fraenkel).
Sie halten eine Temperatur von
80^ aus und sind überhaupt sehr
widerstandsfähig gegen äussere Ein-
flüsse, werden jedoch durch Wasser-
dampf von 100° in 5 Minuten getödtet,
gehen also bei aseptischer Behandlung
(nicht aber bei der üblichen Antisepsis)
zu Grunde.
Die Tetanusbacillen sind sehr
verbreitet in der Aussenwelt, in Garten-
erde, Ställen (Häufigkeit bei Pferden)
u. s. w. Symbiose mit Eiterkokken
scheint ihre Entwicklung zu begün-
stigen. Die Bacillen finden sich meist
nur in der Wunde und ihrer nächsten
Umgebung. Der Tetanus bietet also das Beispiel einer Intoxication
von einem kleinen Herd aus — im Gegensatz zu den Infectionen des
Gesammtorganismus. (Vergl. pag. 160, Pyämie und Sepsis.)
Die Tetanusbacillen erzeugen ein äusserst heftiges , in seinen
Wirkungen dem Strychnin sehr ähnliches Gift , das Tetanustoxin , das
von Buchner u. A. als weisses Pulver rein dargestellt ist. Das Gift
befällt nicht die Muskeln direct, sondern die nervösen Centren
Anaerobe Gelatinecultur des Tetanusbacillus
(nach Fraenkel und Pfeiffer).
BehandluDg des Tetanus. X55
'(Brunner, 1. c). Die Erregbarkeit der sensiblen Nerven ist gesteigert,
die der motorischen nicht (Counnont et Doijon, ref. Ch. C. Bl. 94, 29).
Das Tetanustoxin scheint überaus langsam ausgeschieden zu werden.
Die Asepsis scheint eine sicherere Prophylaxe des Tetanus zu
geben als die Antisepsis.
Die Behandlung des acuten Tetanus ist auch jetzt noch
ziemlich aussichtslos , die des chronischen unnöthig. Entwickeln sich
die Erscheinungen rasch, so ist die Prognose eine sehr trübe ; versucht
ist viel worden, hauptsächlich die Narcotica und die lähmenden Mittel,
Morphium, Chloralhydrat (von vielen, z. B. Berger, sehr gelobt), Sulfonal,
Trional, Bromkali, Atropin, Chloroform, Curare selbst bis zur Athem-
lähmung mit Einleitung künstlicher Athmung. Morphium in grossen
Dosen oder häufig wiederholtes leichtes Chloroformiren mildern
wenigstens die Beschwerden.
Man hat beim acuten Tetanus eine örtliche (causale) Therapie
(Th. der Infection) zu befolgen — ■ bestehend in Freilegung der
Wunde mit Auskratzen, Ausbrennen mit dem Thermokauter, Ausätzen
mit Jodtinctur, 1 — 2%iger (frisch bereiteter) Lösung von Jodtrichlorid
u. dergl. Es kann auch Amputation in Frage kommen. Die Therapie
der Intoxicatiou strebt eine möglichst rasche Ausscheidung des Giftes an
durch reichliches Trinken, eventuell subcutane und intravenöse Infusion
von Kochsalzlösung (pag. 121 ff.), schweisstreibende Mittel, und ferner die
oben genannten Narcotica (Sahli). Die Behandlung mit Tetanusantitoxin
nach Tizzoni und Cattani (Berl. Klin. Wochenschr. 93. 49—52 und
94. 2) soll angeblich die Mortalität von 80— 90% auf 20Vo herab-
drücken , während Älbertoni (Ther. Monatsh. 92. 9) bei ganz ver-
schiedener Behandlung von 176 Tetanuskrankeu 136 = 7(S*9% heilen
sah (I). Tizzoni und Cattani geben pro Fall 0*7 — 2*10 Ccm. stärksten
antitoxischen Serums oder 0'05 — 10 — 12 Grm. des alkoholischen Nieder-
schlags und desinficireu dabei die Wunde mit saurer Sublimatlösung,
Arg. nitr. oder kauterisiren. Büchner hat das Tetanusantitoxin als weisses
amorphes Pulver dargestellt. — Die Verfechter des Tetanusantitoxins
vernachlässigen völlig die totale prognostische Verschiedenheit des acuten
und chronischen Tetanus. Schon der subacute Tetanus bietet ohne jede
Tlierapie wesentlich bessere Prognose.
Der chronische Tetanus braucht vom Arzte nur sorgfältig über-
wacht zu werden. Geht die Ernährung nicht mehr durch den Mund,
so ist die Schlundsonde durch die Nase einzuführen. Häuft sich
bronchitisches Secret an, welches nicht ausgeworfen werden kann, und
droht dadurch Lungenentzündung zu entstehen , so ist der Luftröhren-
schnitt zu machen.
Wir fügen noch die Besprechung einiger baoterieller Krankheiten
an, die man allerdings nicht zu den accidentellen Wundkrankheiten im
engeren Sinn reclmcn kann , da sie sich nie an grössere Operationen
anschliesscn. Sie verdanken jedocli ausnahmslos ihre Entstehung der
Uebertragung durch eine Wunde. Meist sind dieselben auf Thieren
heimisch, infcctiösc Tliicrkrankheiten (Kpizootien) und kTinnen
gelegentHcli auf den Menschen übertragen werden.
]^g6 I^I- <^'apitel. — Voilctzung<;ii.
Bei Pferden, Eseln u. dergl. endemisch ist der Rotz (Malleus,
Influenza). In seltenen Fällen wird, namentlich durch die Ausflüsse der
Nase und des Mauls, die Krankheit auf Pferdewärter u. dergl. übertragen.
Der Träger der Krankheit ist der Rotzbacillus (vergl. Fig. 108), ein knrzer,
schlanker, nach den gewöhnlichen Methoden ohne besondere Mühe zu züchtender Bacillus.
Er ist an den Ecken abgerundet und ähnelt
Fig. 108. dadurch einem langgestreckten Coccus. Er
# nimmt die Anilinfarbstoffe leicht an, gibt
@ sie aber bei Gram'scher Färbung wieder ab.
® m®- ^ ' V © ^^^ klinische Bild des
0 X (^ Rotzes gleicht am ehesten dem einer
{' © /^ ganz rapid und schwer verlaufenden
^ % "^ @ Syphilis. Als Eingangspforten dienen
^fe ^ Q kleine Verletzungen an Händen oder im
^ ® @ ^ ^ Gesicht. Hier bildet sich nach wenigen
Tagen der erste Rotzknoten, eine
Kotzbacillen im Menschenblute (nach v. Jaksch). länglichc, zicmllch WCichc, CntzÜndHche
Anschwellung, deren Decke rasch zer-
fällt, und nun wandelt sich das Ganze um in ein buchtiges, blutige
Jauche absonderndes Geschwür mit überhängenden , stellenweise aus-
gefressenen Rändern und infiltrirtem umgebenden Wall. Die Krankheit
kann local bleiben oder vielleicht in den nächsten Lymphdrüsen, die
gleichfalls zu grossen Knoten anschwellen , Halt machen und schliess-
lich zur langsamen Ausheilung kommen. Oder sie verallgemeinert sich,
indem die Infection durch die Lymphbahnen in die Blutcirculation ein-
bricht 5 häufiger greift der Rotz auf Venen über , erzeugt hier Throm-
bosen und metastasirt, wie die Pyämie, durch Embolie. Es entstehen
dann massenhafte , zur Eiterung neigende Rotzknoten , vorwiegend in
den Lungen und den Respirationswegen, begleitet von eiterigem Aus-
wurf; häufig sind Muskelabscesse und Periostsch wellungen , ebenso
Gelenkergüsse, die dann auch vereitern; seltener finden sich Knoten
in Hoden, Nieren, dann furunkelartige Hautknoten mit Neigung zu
raschem Zerfall und Geschwürsbildung. Bei diesen acuten Fällen fehlt
auch ein schweres fieberhaftes Allgemeinleiden nicht und so kann die
Rotzkrankheit Aehnlichkeit mit Pyämie, Abdomiaaltyphus^ Osteomyelitis,
selbst rapid verlaufender Tuberculose gewinnen. - — Der Kranke geht
nach Wochen, in Fällen chronischen Rotzes, wo die Einbrüche in die
Circulation nur langsam und schubweise erfolgen , nach Monaten oder
einem Jahre zu Grunde.
Beim chronischen Rotz oder Wurm bleibt die Aeusserung
der Krankheit mitunter lange Zeit auf einzelne, nicht heilende Geschwüre
beschränkt, wo eines sich oft in Rosenkranzform an's andere reiht.
Diese Geschwüre werden bisweilen lange als tuberculose oder syphili-
tische behandelt.
Für die Diagnose ist der Nachweis der Ansteckung wichtig.
Auch der Nachweis der Bacillen im Eiter durch Züchtung ist gelungen.
Wichtig ist die Straus'sche Probe. Eine Aufschwemmung des zu prüfenden
Materials wird einem männlichen Meerschweinchen in der Linea alba in die Bauchhöhle
eingespritzt. Ist es Eotz, so schwellen in 2 — 3 Tagen die Hoden an.
Die Behandlung ist wenig aussichtsvoll. Ausätzen und Aus-
brennen der Knoten kann vielleicht, wie die Ausschneidung der
syphilitischen Initialaffection, der Verallgemeinerung vorbeugen. Sonst
Eotz. — Maul- uud Klauenseuche. j^57
bleibt nur Sorge für Erhaltnug" der Kräfte; vielleicht könnte Arsenik
versucht werden. Da auch das einfache Rotzgeschwür sich jederzeit
mit Allgemeinerscheinungen compliciren kann , ist die Prognose stets
mit äusserster Vorsicht zu stellen. Chronischen Rotz habe ich mehrfach
ausheilen gesehen. Mallem (Babes), nach Art des Tuberculins hergestellt,
soll Immunisirung, aber nicht Heilung des übertragenen Rotzes ergeben.
Auch die Maul- und Klauenseuche des Rindviehs wird durch
Milch, Butter, Käse auf Mensehen in einzelnen Fällen übertragen.
Nach 3 — 4tägiger Incubation entstehen Entzündungen in Mund- und
Rachenhöhle, Dermatiten. (Ebstein^ D. Med. Wochenschr. 96. 10.)
Eine gleichfalls vom Thier auf den Menschen übertragene
Infectionskrankheit ist der Milzbrand.
Er findet sich vorwiegend bei Rind und Schaf, ist jedoch auf alle Hausthiere,
schwieriger auf Vögel und Kaltblüter zu übertragen. In gewissen Bezirken ist er
endemisch und es fallen ihm dort jährlich nicht unbeträchtliche Zahlen Rindvieh und
Schafe zum Opfer. Er haftet am Boden gewisser Bezirke und scheint hier auch ausser-
halb des thierischen Organismus existiren zu können.
Die Ursache des Milzbrandes ist der bekannte Milzbrandba-
cillus, der am längsten als Krankheitserreger bekannte Mikroorganis-
mus {Pollender 1849, Brauell 1851, Davaine 1857). Er ist ein langer
schlanker grosser Bacillus. In Nährlösungen wächst er zu langen Fäden
heran, ebenso im Gewebe, wo er wenig Widerstand findet, z. B. in
der Milz. Er bildet endogene Sporen.
Fig. 109« Milzbraudbacillen von einem Milzausstrich. 109 J ist eine Reincultur
im Stadium üppiger Sporenbildung. Fig. 109c (Reincultur, Deckglas überhitzt) sind
nur die Sporen gefärbt , die Substanz der Stäbchen ist ungefärbt geblieben. Zeiss
Immers. Vi-j, Oc- 5. Fig. 110 zeigt eine Gelatinestichcultur am 4. Tage.
Der Milzbrand bleibt innerhalb weiter Temperaturgrenzen (18<^
bis 40° C.) entwicklungsfähig, ebenso ist er auch nicht an den Thier-
kürper gebunden, sondern findet im Boden, vielleicht auch im Wasser
von Tümpeln, Teichen, Sümpfen die nöthigen Existenzbedingungen,
Die Ueb er tragung des Milzbrandes auf den Menschen erfolgt
nicht immer in derselben Weise und der Verschiedenheit der Infection
und Localisation entsprechen auch verschiedene klinische Bilder. — Am
häufigsten — und diese Form interessirt uns Chirurgen auch am
meisten — handelt es sich um Einbringen von milzbrandigem Material
in kleine Hautwunden. Bei Leuten, welche mit krankem oder gefallenem
Vieh zu thun haben, Abdeckern u. s. w. wird direct frisches Material
übertragen. Der Milzbrand — besonders die Sporen — ist aber so
widerstandsfähig, dass auch durch Jahre altes ]\Iaterial (verarbeitetes
Leder, russische Haare und Felle) noch eine (meist milder verlaufende)
Infection erfolgen kann (Kürschner, Tapezierer, Haarsortirer, Fellfärber
u. s. w.j. Auch die „Hadernkrankheit" der Lumpensammler, ist nach
PüJtmij und r. Eise/sbcr^/ eine durch Einathmung von Milzbrandsporen
entstehende Anthraxinfection der Lunge. Eine dritte Infcctionsart ist
der Crenu>;8 niilzbrandiucii Fleisches, welche zum Darniniilzbrand, einer
mit der Mvcosis intestinalis identischen Krankheit führt.
168
111. Capitel. — Verletzungen.
Für uns Chirargen ist in erster Linie wichtig der Hautmilz-
brand, auch Anthrax oder Pustula maligna genannt. Er sitzt
viel häufiger an den unbedeckten Körperstcllen — Händen, Vorderarmen,
Gesicht und Hals und tritt klinisch in zwei Hauptformen auf — der
Milzbrandpustel und dem Milzbrandödem; jene vorwiegend auf
Stellen mit derber Cutis (Händen, Nacken) ; dieses auf dünner schlaffer
Fig. 109 a.
Fig. 110.
M
Fig. lOöc.
Ig^^'?
.Verflüssigung
.Luftblase
-imijfcanal mit
fädigen
Ausläufern
Gelatinest ichcultur des Anthraxbacillus am 4. Tage.
Haut (Lidern, Lippen). — Die Milzbrandpustel beginnt als ein kleines
geröthetes, einem Flohstich ähnliches Pünktchen , auf dessen Mitte ein
erst mit Serum, allmälig mit blutiger Flüssigkeit sich füllendes Bläschen
anschiesst. Die Umgebung schwillt und tritt etwas hervor. Das Centrum
der so entstehenden flachen Beule verfärbt sieh braunroth, schliesslich
schwarzgrau, die Oberhaut geht ab, die Stelle vertrocknet zu einer bran-
digen Masse, dem Milzbrandschorf, der hart und derb sich anfühlt und
fest mit der gleichfalls bretthart infiltrirten, kaum gerötheten Umgebung
Milzbrand. ' 169
ziisammeubängt. Mit der Bildung dieses Schorfes hat der Process die
Neigung- zu ih-tlicher Weiterverbreitung verloren. Die Losstossung des
Schorfes erfolgt aussergewöhnlich langsam , meist erst im Laufe von
Wochen. Es können gleichzeitig mehrere Milzbrandpusteln bestehen.
Das Milzbrandödem entwickelt sich bei Localisation des Giftes
an Lidern, Lippen und ähnlichen Stellen, als ein flaches, nur wenig
geröthetes, ziemlich derbes ödematöses Infiltrat in Haut und Unterhaut-
zellgewebe, selbst Musculatur, welches ohne scharfe Grenzen in die
Umgebung übeigeht. Auch auf ihm schiessen Blasen auf, schliesslich
geht auch hier die Oberhaut ab und es entstehen blaurothe, schliesslich
sehwarzgraue oder blassgraue gangränöse Stellen, die zu ziemlich um-
fangreichen Substanzverlusten führen können und unter Abstossung
der Schorfe durch demarkirende Eiterung heilen.
Für die dif f ere ntielle Diagnose des Milzbrandes ist zunächst eine genaue
Anamnese, welche die Möglichkeit und Quelle einer specifischen Infection ergibt, wichtig.
Verwechslungen wären möglich im Anfang mit gewöhnlichem Furunkel. Dieser ist
jedoch gleich von Anfang an konischer, prominenter; die Spitze desselben verwandelt
sich in einen grünlichen Pfropf aus gangränösem Zellgewebe, Avelcher sich nach wenig
Tagen abstösst, nicht den lange haftenden, flachen, trockenen, grauschwarzen Milzbrand-
schorf. Die mikroskopische Diagnose des Milzbrandbacillus gelingt selten , vielleicht
die Impfung (Jlaus an der Schwanzwurzel). Beim Rotz hat man nicht den harten,
schwarzen Schorf. Erysipel as unterscheidet sich vom Milzbrandödem durch seinen
scharfen, gezackten Rand. Progrediente Phlegmonen zeigen raschere und deutlichere
Tendenz zur Eiterung.
Allgemeinerscheinungen können völlig fehlen im Gegensatz zu
den experimentellen Er gehmssen SchimmelJni seh' s (psig. 61). Es kann aber
jederzeit, selbst bei scheinbar ganz leichten Fällen eine in wenig Tagen
tödtliche Milzbrand-Allgemeininfection sich (durch embolische Verbreitung
der Milzbrandbacillen) einstellen. Unter hohem Fieber, rasch zuneh-
mender Pulsfrequenz, Delirien, welche bald in völlige Bewusstlosigkeit
übergehen, gesteigerter mühsamer Respiration, Diarrhöen oft blutiger
Massen, Milzschwellung gehen die Kranken rasch zu Grunde. Die Er-
scheinungen wechseln, je nachdem das Gehirn und seine Häute, oder
der Darm, oder der Respirationstractus betheiligt sind, indem das kli-
nische Bild dann vorwiegend Züge einer Meningitis , Intestinalmykose
oder stürmischen Lungenentzündung aufweist. Bei der Autopsie
finden sich in dem betreffenden Theile Blutüberfüllungen , Oedeme,
selten Eiterbildung oder gar Gangrän (z. B. der Fei/er sehen Plaques
im Darm); mikroskopisch sind stets die Capillaren massenhaft erfüllt,
oft geradezu ausgestopft mit ]\Iilzbrandbacillen.
Die Prognose des Milzbrandes, wenigstens des Hautmilzbrandes,
ist keine so ungünstige, aber stets eine unsichere, da man nie vor
Allgcmeininfection sicher ist (selljst nach der Heilung der Wunde).
Infectionen durch altes Material verlaufen meist als rein locale Pro-
cesse, während die unmittelbare Uebertragung vom lebenden oder
todten Tliicre eine viel schlechtere Progno.se gibt.
Bei der Behandlung ist von der Abortivbehandlung wenig zu
erwarten.
In den Milzhranddistricten pHegen sich die Hirten die ganz frische Pustel, auf
der eben ein Bläsclieu aufschiesst, mit einer glülicnden Nadel auszubrennen und sollen
fast nie ernstlich erkranken.
liie Ausbreiuiung mit dem /'ocyMe/m'schen Theimokaiiter oder die Ausätzung mit
dem tief wirkenden Kali causticuiu könnte vielleicht die Bacillen in loco noch zer-
170 III- Capitel. — Verletzungen.
stören. Die Excision könnte die Bacillen eher weiter verimpfen. Gälten die Ergebnisse
Sdämmelhusch' s — an hochvirulenten Culturen gewonnen, dass eine halbe Stunde nach
der Impfung einer Maus an der Schwanzwurzel die Bacillen sich schon in der Leber
finden, gälte dieser Satz auch für den — für Milzbrand wenig empfänglichen Menschen,
so wäre damit der Stab über jede abortive Behandlung gebrochen.
In der Behandlung der Pustula maligna kann vor unüberlegter
Vielgeschäftigkeit nicht dringend genug gewarnt werden. Die Excision
der Pustel ist ebenso zwecklos, wie Kreuzschnitte. Alle neueren Autoren
(v. Bramann) stimmen darin überein, dass eine conservative Behandlung
die besten Aussichten gibt. Ich habe unter Sublimatumschlägen (1 : lOOOj
selbst Fälle mit Fieber über 39° noch heilen sehen. Injectionen von
Subliraatlösung (1 : 1000, Max. 10 Spritzen) in die Umgebung der Pustel
(fingerbreit vom fühlbaren harten Rande) könnten, so lange Schorfbil-
dung und Infiltrationen im Zunehmen sind , gemacht werden. Im
Uebrigen ist für Erhaltung der Kräfte und möglichst lange Bettruhe
zu sorgen.
Jod innerlich (2stündlich ein Tropfen Jodtinctur in Wasser, Vi-
talli) wird empfohlen.
Der Milzbrand ist der Lieblingsgegenstand der modernen Bacterienforscher,
namentlich von R. Koch und Pasteur geworden , und es sind an ihm , als einen be-
sonders bequemen Beobachtungsmaterial eine grosse Anzahl von Studien über Leben und
Wesen der Bacterien überhaupt gemacht worden. Theoretisch hochinteressant sind die
Versuche und Beobachtungen von Pasteur und Toussaint über die Abschwächung der
Virulenz des Milzbrandes und die darauf gegründete Schutz- oder Präventivimpfung
gegen den Milzbrand. Toussaint fand, dass milzbrandiges Blut, 10 Minuten auf .05"
erhitzt, Thieren subcutan injicirt, nicht mehr tödtet, sie im Gegentheil gegen eine zweite
Lifection mit völlig virulentem Milzbrandmaterial widerstandsfähig, „immun" macht.
Pasteur's Verfahren beriiht darauf, dass Milzbrandbacillen, in neutraler Hühnei'bouillon
bei 42 — 43** gehalten, am Ende eines Monates abgestorben sind ; schon am achten Tage
ist ihre Virulenz sehr herabgesetzt. Pasteur impfte nun grosse Massen von Eindern
und Schafen zunächst mit 24 Tage alter Bouilloncultur (Premier vaccin), dann mit
12 Tage alter (Deuxieme vaccin). Diese Thiere zeigten nur ein kurz dauerndes leichtes
Kranksein nach der Impfung und waren gegen spätere Impfung mit starkem Milzbrand
grösstentheils immun. Die Sterblichkeit unter den geimpften Thieren in den gefürchteten
Milzbranddistricten Frankreichs war eine geringere als unter den nichtgeimpften. Die
ürtheile der Thierärzte über den praktischen Werth der Schutzimpfung sind, auch heute
noch getheilt. — Es gelang Pasteur, diesen abgeschwächten Milzbrand Avieder in viru-
lenten zurückzuzüchten.
Die Actinomykosis, Strahlenpilzkrankheit ist eine vorwiegend
bei Wiederkäuern, ganz besonders beim Rindvieh vorkommende Pilz-
krankheit, welche in recht seltenen Fällen auch beim Menschen sich
findet. Ausserdem findet sich der Actinomyces auch auf dem Getreide,
besonders an Gerstengrannen. Hiedurch, sowie durch rohes Rindfleisch
mag die Uebertragung erfolgen. Als Eingangspforte dienen die so
häufigen kleinen Schleimhautdefecte des oberen Theiles des Verdaunngs-
und Athmungsapparates , namentlich am Zahnfleisch. In diesem Fall
localisiren sich die Pilze vorwiegend in der Umgebung des Mundes und
seiner Nachbarschaft. In anderen Fällen scheint eine Ansaugung von
Actinomycesstoffen (cariöse Zahnstücke, Israel) in die Lunge zu erfolgen,
und es erfolgt dann die Localisation in Lungen, Pleura, Rippen. Auch
von den tieferen Theilen des Verdauungscanales ist eine Infection mög-
lich (Actinomykose des Proc. vermiformis, Czerny, Spondylitis anterior
actinomycotica.) Doch kommt auch eine Verschleppung des Actino-
Aktinomykose.
171
^^ w^^i^^;^^^
Fig. 112.
myces auf embolischem Wege vor. Leser u. A. beschreiben auch pri-
märe Actinomykose der Haut.
Es entwickeln sich zunächst wenig geröthete harte, häufig läng-
liche Knoten, welche sich durch Uebergreifen auf die Nachbarschaft
nach allen Richtungen hin vergrössern und gegen diese , z. B. Unter-
kiefer, Rippen , gewöhnlich nicht verschieblich sind. Die Schmerzen
sind jetzt recht bedeutend, oft anfallsweise sich steigernd, so dass man
schon früh zu Morphium greifen muss. Schliesslich brechen die Knoten
langsam und unter geringen entzündlichen Erscheinungen auf. Der Eiter,
dessen grünliches Serum meist dünnflüssig* ist , enthält kleinste linsen-
artige Körnchen — die Acti-
nomvccskörnchen mit den ^'^- ^^^•
charakteristischen Bildern
des Actinomyces.
Fig. 111 zeigt ein Actino-
myceskorn aus der Riudslunge
(nach Marchand (Vergr. 350). In
der Mitte finden sich die rosetten-
förmig angeordneten Keulen des
Actinomyces , die Kolben nach
aussen , die Spitzen nach innen.
Bei a ist das noch wohlerhaltene
Epithel des Bronchus , auf der
bindegewebigen Wand des Bronchus
aufsitzend. Bei b grosse epithe-
lioide Zellen, bei c Leukocyten —
die Zeichen chronischer Entzün-
dung. Auch Riesenzellen finden
sich. Fig. 112 (nach J'aÄ;sc//) zeigt
Actinomyceskörnchen zerdrückt.
Die Auf bruch stelle ver-
wandelt sich in ein buchtiges
Geschwür mit unterhöhlten
Rändern und Fistelgängen.
Durch Zerfall der Decken
dieser Hohlgänge werden
die Defecte von Verband-
wechsel zu Verbandwechsel
rasch grösser und es kommen
nun graugrünliche, mit ne-
krotischem Gewebe bedeckte
Geschwüre zu Tage, in
welchen hin und wieder
weisslieligraue Punkte (Actinomyceskörner) erscheinen. Von Granu-
lationen ist nicht viel zu sehen; was vorhanden, ist blass und kümmerlich.
Schliesslich wird auch der Knochen ergriffen.
Das Aussehen erinnert am meisten an carcinoniatöse Geschwüre, doch fühlen sich
diese härter und warziger an , wenngleich die infiltrirte Umgebung beiden gemeinsam
ist. Tuberculöse Herde zeigen doch meist überall Granulationsauskleidung , allerdings
auch blass und kümmerlich und mit grauen Knötchen; sie sind weicher. Bei aufge-
broclienen Sai-komen überwiegt dii- Bildung ü]>pig wuchernder, leicht blutender und zer-
lallender Granulationen. Syphilitisclie Geschwüre zeigen nie eine so massenhafte In-
filtration der Umgebung.
Infection der Lymphdrüsen und des Allgemeinorganismus (durch
Kiiiholiej tritt nur bei schweren Fällen ein.
Aktinomycesküi-Echen, zerdrückt (nach v. Jahscli).
■[72 ^^^- Capitel. — Verletzungen.
Am Munde, Unterkiefer und Hal.s kommen die Infiltrate und
Fisteln dureli Ausschneiden und Ausbrennen meist zur Heilung. Der
Oberkiefer bietet ungünstigere Aussichten. In Lungen, Rippen, Wirbelsäule
u. dergl. heilt Aetinoraykosis nur in einzelnen Fällen. Pyäniieähnliche
Erscheinungen geben eine gesonders ungünstige Prognose fSdilange,
Langenheck'' s Arch , 44). Durch den Iiliterverlust, die beständigen Schmerzen
entwickelt sich ein rasch fortschreitendes Siechthum mit unregclmässigen
geringen abendlichen Temperatursteigerungen f38"5^' — 395''). Der Tod
erfolgt an Erschöpfung, Herzlähmung. Bei Lungenactinomykose ist der
Verlauf oft rascher, und dem Bilde einer floriden Lungenphtliise ähnelnd;
manchmal erfolgt er auch durch unmittelbares Uebergreifen auf Herz-
beutel und Herz.
Auf innere medicamentöse Behandlung darf man nicht zu sehr ver-
trauen. Jodkali innerlieh (von 1—5 Grm.) wird empfohlen ; doch hat es
mich in schweren Fällen öfters im Stiche gelassen. Die örtliche Be-
handlung muss eine möglichst energische sein. Auslöffelung des
Erkrankten und Abtragung der Ränder bis in's Gesunde hinein, Spal-
tung nnd Ausschneiden aller Gänge und Infiltrate, nachheriges Aus-
waschen mit einem wirksamen Antisepticum (Sublimat 1 : 100 oder
Chlorzinklösung 1 : 8) und antiseptischer Verband sind unerlässlich. Wo
die Erkrankung günstig liegt, macht man am besten die Exstir-
pation im Gesunden , wie bei Krebs, mindestens 1 Cm. vom fühlbaren
Rand entfernt. Leider sind auch damit Recidive keineswegs sicher
auszuschliessen und eine sorgfältige Ueberwachuug der ganzen Wunde
mit sofortiger Zerstörung verdächtiger Stelleu ist unerlässlich. — Man
hat versucht durch parenchymatöse Injectionen in Umgebung und Grund
der Weiterverbreitung vorzubeugen. Hierzu ist Borsäure empfohlen
(1 — 2 Procent), ich würde jedoch Sublimat (1:2000 bis 1:1000) oder
Arg. nitr. (1 : 2000, 1500, 1000. Thiersch) vorziehen. Auch Iprocentige
Jodkaliumlösung (Vä — V2 Spritze an mehreren Stellen, schmerzhaft, alle
8 — 14 Tage, Bychjgier) hat mir gute Dienste gethan.
Von der Hundswuth (Wasserscheu, Rabies, Lyssa, Hydrophobie)
ist in den letzten Jahren in Deutschland kein einziger sicherer Fall
vorgekommen ; in Frankreich, Oesterreich und Russland ist die Krank-
heit jedoch keineswegs selten.
Endemiscli bei den wilden oder verwilderten Tliieren der Gattung Canis (Wolf,
Hund, Fuchs) wird die Krankheit von ihnen durch Biss auf Hausthiere derselben
Gattung, jedoch auch anderer Art — Katze, selbst Pferde, Schafe, Rinder, sogar Tögel
und gelegentlich auch auf den Menschen übertragen. Nach einem Prodromalstadium
von wenigen Tagen, in welchem die Thiere unruhig sind und verändertes Wesen zeigen,
kommt die Wuth zum Ausbruch in dem „Irritationsstadium". Von innerer Angst
und Krankheitsgefühl getrieben, schweifen sie unstät umher, zeigen eine auffallende
Neigung zum Beissen und dabei eine eigenthümliche Veränderung der Stimme, ein
heiseres, langgezogenes Bellen. Wirkliche AVasserscheu besteht nicht, wohl aber Schling-
beschwerden, besonders für Flüssigkeiten. Scheinbar normale Pausen kommen zwischen
den Anfällen vor. Nach 3—4 Tagen treten Lähmungen, namentlich des Hintertheils
und der Unterkiefermuskeln hervor (Stadium paralyticum) ; die Thiere liegen matt
in einer Ecke und gehen unter zunehmender Schwäche zu Grunde. Bei der „stillen"
Wuth schliesst sich das dritte Stadium fast unmittelbar an das Prodromalstadium an
und die Erregungserscheinungen, das Charakteristicum der „rasenden" Wuth, sind kaum
angedeutet. Die Gesammtdauer ist 5—6 Tage — Pathognomonische Leichenbefunde
finden sich nicht, abnormer Mageninhalt (Stroh , Ivoth u. dergl.) und Erytheme in den
Centralorganen sind noch das Wichtigste (Bollinger).
Beim Menschen beträgt die Dauer bis zum Ausbruch der
Krankheit, die Incubation selten unter einem Monat , selten über drei
Huudswutli (Lyssa). 173
uud mu" ganz ausnahmsweise 6 — 12 Monate; im Mittel 42 Tage (Bauer).
Der Mensch ist — im Vergleich zu Hunden — sehr wenig empfäng-
lich für Wuthgift und nur ein ganz kleiner Procentsatz der von an-
geblich wuth kranken Thieren Gebissenen erkrankt wirklich. Gefähr-
licher sind Bisse in unbedeckte Körperstellen, besonders Kopf und
Gesicht ; Bisse durch Kleidungsstücke hindurch , wo das im Speichel
enthaltene Wuthgift vom Zahne erst weggewischt wird, haben fast nie
Wuth zur Folge. Die Zerfleischungen durch wütheude Wölfe sind be-
sonders gefürchtet.
Nach einer Zeit völligen Wohlbefindens stellen sich in der Narbe
oder der noch eiternden Wunde eigenartige ausstrahlende Empfindungen
ein (eine Art „Aura") und häufig allgemeine Angst und Missbehagen.
Bald folgt der erste Anfall von Schlundkrämpfen, die meist beim Ver-
suche zu trinken sieh einstellen ; die Schlundkrämpfe wiederholen sich
bei jedem erneuten Versuch zu trinken und führen zu allgemeinen
Krämpfen ; die Reflexerregbarkeit ist sehr gesteigert, die Kranken sind
äusserst empfindlich, selbst gegen leise Sinneseindrücke und schliesslich
kommt es zu einem richtigen Tob- oder Wuthanfall, in dem die Kran-
ken jedoch für ihre Umgebung nicht gefährlich und nicht bewusstlos
werden. Oefters wird geschlechtliche Erregung beobachtet. Lyssakranke
Menschen zeigen keine Neigung zum Beissen , wie so oft behauptet
wird. Auch beim Menschen folgt diesem Stadium der Erregung das
der Paralyse — die Kranken werden matt, der Puls klein und frequent,
die Krampfanfälle sind häufiger, aber kraftloser und können vor dem
Tode schliesslich ganz aufhören. Das Bewusstsein bleibt bis zum Tode
ungetrübt. Die Dauer vom ersten Anfall bis zum Ende ist 2 — 4 Tage.
Auch beim Menschen hat man an der Leiche bisher keine eigenartigen
Befunde finden können. Die Diagnose ist nur aus dem klinischen
Verlauf zu stellen, wo eine Verwechslung mit Tetanus hydrophobicus
möglich ist. Fälle, wo lyssaähnliche Zustände durch Autosuggestion
bei Gebissenen entstehen, sind vorgekommen. Die beschriebenen Fälle,
wo echte Wuth geheilt sein soll, sind mit grösster Vorsicht aufzunehmen.
Die Behandlung ist zunächst eine prophylaktische. In
Oesterreich ist es gesetzlich vorgeschrieben, solche Wunden mit dem
leicht zerfliesslichen , tief eindringenden Kali causticum auszuätzen.
Schon zur Beruhigung des Kranken soll man das nicht unterlassen,
selbst wenn schon einige Zeit seit dem Bisse verflossen ist. Weiter
wird empfohlen, die Eiterung zu unterhalten. Zur Verhütung der Wuth
wurden eine Masse von Geheinimitteln empfohlen, Maiwurm, Fol. Datur.
Stramonii u. s. w. : ihre scheinbare Wirksamkeit erklärt sich, da nur
der geringste Theil der Gebissenen überhaupt wuthkrank wird. Der
vielfach geübten Behandlung mit Quecksilber in Form einer Schmiercur
mit grauer Salbe kann ein gewisser Sinn nicht abgesprochen werden ;
auch Calomel (Quccksilberchlorür) in innerlichen Dosen von 0"06 täg-
lich wird gegeben. Lu/iouid-// hat den Canthariden (0'03 täglich, bis
Blasenbeschwerden kommen, dann 1 — 2 Tage ausgesetzt) Erfolge nach-
gerühmt.
Bei ausgebrochener Wuth hat man grosse Dosen Chinin (3 Grm.)
mehrmals oder Quecksilber gegel)en . meist sich auf Narcotica (Mor-
phium. Chloroform, Chloralhydrat. Bromkali. Curare) beschränkt. Das
Atropin ist besonders warm empfohlen und wird in Verbindung mit
;[74 ^^^- <^^pitel. — Verlotzungon.
Morphium selbst in grösseren Dosen (0"002 — O'OOöj ansciiciiieiKl ;:iit
vertragen. Gegen den quälenden Durst kijnnen Klysmen und siilj-
cutane oder intravenöse Kochsalzwasserinfusionen versucht werden.
Bei der Pasteur'sc\ien Schutzimpfung gegen Wuth werden getrocknetes
Hirn und Eückenmark von Kaninchen , auf die die Wuthkrankheit übertragen ist, ver-
rieben und in sterilisirter Bouillon aufgeschwemmt, dem gebissenen Menschen im Hypo-
chondrium subcutan injicirt. ^m I.Tag 14 Tag lang getrocknetes Material, am 2. Tag
IStägiges u. s. w. bis zu ötägigem ; mitunter sogar 2 — 3mal täglich, jedesmal stärkeres,
das heisst kürzer getrocknetes Material. Die Mortatität sank so anf r8'/,j ('Bordone-
Uffreduzzi). — Die Möglichkeit , dass durch die Impfungen auch Wuth erst erzeugt
wurde, ist nicht zu leugnen. — Tizzoni glaubt die immunisirende Substanz im Blut-
serum der geimpften Thiere enthalten und will dasselbe als pulverförmige Substanz rein
dargestellt haben.
Schlangenbisse sind bei uns in Centraleuropa selten und im Ganzen wenig
gefährlich. In Frage kommt hauptsächlich die Kreuzotter, welche sich an sonnigen
G-eländen, im Eiesengebirge, Schwarzwald, Schweiz, Karpathen gelegentlich findet und
die weniger gefährliche Viper. In tropischen Gegenden — namentlich in Indien — ist
die Zahl der an Schlangenbissen zu Grunde gehenden immer noch eine recht hohe und
handelt es sich um eine Reihe verschiedener Arten , unter denen die Klapperschlange
und die Brillenschlange die bekanntesten sind. Das Gift wird in den Speicheldrüsen
erzeugt und durch hohle oder gerinnte Giftzähne in die Wunde übertragen. Kleider,
Stiefel u. dergl. durchdringt der Zahn meist nicht, jedenfalls sind Verletzungen nackter
Theile gefährlicher, am gefürchtetsten die des Gesichts, besonders der Lippen oder des Mundes.
Die Schlangenbisse sind häufig durch die zwei der Entfernung der Giftzähne
entsprechenden punktförmigen Wunden unmittelbar als solche zu erkennen. Wenige
Minuten nach dem Bisse entsteht eine bläulich-rothe Anschwellung der Bissstelle, welche
rasch central fortschreitet. Zugleich machen sich Allgemeinerscheinungen geltend, die
am meisten Aehnlichkeit mit einer schweren und ganz acuten Blutvergiftung haben,
beschleunigter kleiner Puls, mühsames Athmen , Cyanose , schweres Krankheitsgefühl,
Mattigkeit, Schweisse, Sphinkterenlähmuug, Erbrechen, schliesslich Ohnmacht, Convul-
sionen und Herzlähmung. In den schwersten Fällen kann dieser ungünstige Ausgang
schon nach Verlauf einer halben Stunde eintreten ; in leichteren Fällen steigern sich
die Erscheinungen langsamer, um nach einem schweren Krankheitszustand von 1 — 2
Tagen in zögernde Genesung überzugehen.
Zur örtlichen Behau d lung ist als altes Mittel das Aussaugen — bei unver-
sehrten Lippen — empfohlen ; sonst Abbinden , um den Uebertritt des Giftes in die
Circulation zu verlangsamen, kleine entleerende Einschnitte (Scarificiren), Ausschneiden
und Ausätzen (Kali caust.). Die Allgemeinerscheinungen sind mit Stimulantien, Aether-
einspritzungen , grossen Dosen Alkohol , Senfteigen auf das Herz zu bekämpfen. Alt
(Münch. Med. Wochenschr. 1892, Oct.) empfiehlt Magenausspülungen, da das Gift ähnlich
dem Morphium durch den Magen ausgeschieden wird. Die subcutane locale Injection
einer Lösung von Kali hypermanganicum (1 — 57o) 2 — 12 Ccm.) nach Lacerda wurde
als eine Art Specificum gegen Schlangenbiss dringend empfohlen ; nur muss sie selu' früh
gemacht werden. Auch immuuisirendes Pferdeserum soll wirksam sein {Cahneffe, Münch.
Med. Wochenschr., 1896, Aug.). Karlinski empfiehlt l^'uige Chromsäurelösung, Lenz
Chlorwasser zur localen Injection. Auch Liquor Ammonii caustici innerlich 10 Tropfen
mehrmals und local in 25°/Qiger(?) Lösung 1 Ccm. subcutan soll nützlich sein.
Die Bisse von Scorpionen oder giftigen Spinnen (Tarantel) rufen meist nur
eine heftige örtliche Entzündung hervor; ebenso der Sandüoh , der seine Eier unter den
Nagel der unbeschuhteu Zehe ablegt und der Medinawurm, welcher sich in's Unterhaut-
zeligewebe eingräbt. Die letzteren beiden sind vorsichtig herauszuheben.
Gegen die Stiche von Bienen, Hornissen, Wespen, Fliegen dient Betupfen mit
sogenanntem „Salmiakgeist" als altes Volksmittel, die Schmerzen werden, wenn nöthig,
mit Eis bekämpft.
Von den Pfeilgiften kommt das Curare, welches bekanntlich Lähmung der
willkürlichen Muskeln hervorruft, für den Menschen weniger in Betracht. — Schlimmer
ist der Brauch gewisser wilder Völker , ihre Waffen mit Faulflüssigkeiten , zersetztem
Blut u. s. w. zu bestreichen. Diese Verletzungen sollen sich dann mit schweren ört-
lichen Entzündungen und allgemeiner Blutvergiftung conipliciren. Die Behandlung hätte .
die Zerstörung des Giftes am Orte der Verletzung durch Aetzmittel zu versuchen und
ist im Uebrigen die inficirter Wunden.
Tuberculose. 175
Chronische chirurgisch wichtige infectionsi(ranl(heiten.
Tuberculose. Lepra. Syphilis. Rhinosklerom etc.
Eine Anzahl chronischer Infectionskrankheiten sind für den Chi-
rurgen wichtig, wenn sie auch meist nicht bei Operationen übertragen
werden.
Eine der wichtigsten ist die Tuberculose. Welche Bedeutung
die Tuberculose für die Menschheit hat , kann man daraus ersehen,
dass circa 18 Procent aller Todesfälle durch Tuberculose erfolgen Und
dabei sind eigentlich nur die inneren Tuberculosen (der Lungen, des
Darms u. s. f.) gerechnet, die Todesfälle an anderen Aeusserungen der
Tuberculose, z. B. der Knochen und Gelenke , sind nicht mitgezählt.
Dass auch diese den Chirurgen besonders interessirenden Formen keine
kleine Summe ausmachen, lässt sich aus der Statistik von Demme über
die Häufigkeit des Vorkommens der Tuberculose im Kindesalter ent-
nehmen. Hiernach kamen auf Knochen und Gelenke 42'5 Procent,
periphere Lymphdrüsen o5'8 Procent, Lungen 10"6 Procent, Darm
3 '5 Procent, Haut 2'6 Procent, Nervencentren 05 Procent, Geschlechts-
organe 0*5 Procent, Nieren 0'4 Procent.
Aetiologie und Pathogenese der Tuberculose sind Dank der Un-
tersuchungen Robert Koch's heutzutage vollständig klar und auf kaum
einem Gebiet sind die Erfolge der modernen experimentellen Forschungen
so grossartig , wie auf dem Gebiete der Pathologie der Tuberculose.
Der Erreger der Tuberculose ist der Tuberkelbacillus.
Der Tuberkelbacillus ist ein langer, schlanker, zierlicher Bacillus , gerade oder
leicht geschwungen, in seiner Länge etwa dem Durchmesser eines rothen Blutkörperchens
entsprechend ; häufig findet man ihn in lebhafter Sporenbildung begrifl'en. Die Tuberkel-
bacillen, besonders ihre Sporen, sind gegen Kälte und Hitze, gegen Austrocknung und
chemische Agentien (Magensaft) sehr widerstandsfähig. Fig. 113 Tuberkelbacillen aus
einer ßeincnltiir (Zeiss Imm. 7i2i Oc. 2). Die Tuberkel-
bacillen zeigen gewisse, für die differentielle Diagnose (z.B. „. ,,„
gegenüber den Leprabacillen, welchen sie äusserlich ähnlich
sind) wichtige Färbungseigenthümlichkeiten. In Anilinfarben ^ ^^^ ^^-^ "**
(Methylviolett, Geutianaviolett, Fuchsin u. s. f.), welche in ^ ^*^ xXV""^"^
Anilinwasser gelöst sind, gefärbt, geben sie den Farbstott' vV^ v \
nicht wieder ab, auch wenn sie mit Salpetersäure (337.i7o) ' X V '^"^ ^*
^t^\r,
behandelt werden. — Auf die Oberfläche von erstarrtem Blut- "^ >
serum (Glycerinagar) ausgesät , wachsen sie bei Körper-
temperatur zu Colonien von der Form grauer oberflächlicher Schüppchen heran, ohne
den Nährboden zu verflüssigen. (Vergl. Fig. 11.5.)
Ihre "Wirkung auf die Gewebe des Körpers ist namentlich von Robert Koch und
Baumyarten studirt. — Etwa .5—6 Tage nach der Verimpfung, z. B. durch Einspritzung
einer in 0'7% Kochsalzlösung aufgeschwemmten Reincultur in die Ohrvene des Kanin-
chens zeigen sicli an der Stelle der Localisation Kerntheilungsfiguren und Wucherungen
seitens der Geweliszellen. Hiezu kommt eine Einlagerung weisser Blutzellen, übrigens
in massigen Grenzen. Bald treten die charakteristischen Erscheinungen der tuberculösen
Herde auf, das ist erstens die Ver käsung, ein nekrobiotischer Vorgang, der bereits
pag. 45 urwälint wurde. Unter dem Einfluss eines von den Bacillen ausgeschiedenen
Giftes gerinnen Theile der Gewebe zu einer faserig krümeligen Masse, welche Farb-
stoil'e nicht oder nur wenig mehr aufnimmt — Coagulationsnekrose (pag. 45). In
Fig. 114, einer tuberculösen Granulation aus einem fungösen Hüftgelenk, sind rechts
oben und rechts unten solche Herde von Coagulationsnekrose. Einige weisse Blutzellen
sind in die Massen eingesprengt. Im Holzschnitt sind diese in ihrem Gefüge gewiss en
Käsearten in der That ähnlichen Massen kaum genau wiederzugeben. In dem Präparate
sind aucli Riesenzellen verschiedener Art vorhanden ; gegen die Mitte eine kleine in
Entwicklung begriffene, mit fünf grossen Kernen, am unteren Rande des Präparates
eine grössere mit ca. 20 Kernen und iiadi links nbcn eine grössere mit einer l)eträcht-
176
III. Capitel. — Vei'lotzungen.
liehen Anzahl von Kernen. In dieser finden sich auch nalie di-ni rechten Üande der
Zelle drei — im Holzschnitt nicht ganz deutlich hervortretende — l'uherkelljacillen
bei a. Das Protoplasma der Riesenzellen, wenigstens der älteren, ist gleichfalls nicht
mehr normal, i-ondern im Begriff, der Coagulationsnekrose zu verfallen , besonders im
Centrum. Die Kerne stehen daher meist in der Peripherie — im Gegensatz zu den
Fig. 115
Riesenzellen bei Neubildungen, wo die Kerne durch die ganze Zelle III li^^t^f ;:-'lii
gleichmässig vertheilt sind. Die tuberculöse Riesenzelle ist voraus-
sichtlich so entstanden , dass schon während der durch die Bacillen
angeregten Wucherungsprocesse Degeneration, d. h. Nekrobiose ein-
tritt. Man kann sie also als eine nicht fertig gewordene entzünd-
liche Neubildung auffassen. — Der Tuberkel ist äusserst gefässarm.
So ist auch in der Abbildung nur eine Capillare (links unten am
Rande) während in anderen Granulationen (vergl. Fig. 34) sich
auf gleicher Fläche mindestens ein Dutzend finden Avürde.
Das spätere Schicksal der tuberculösen Herde ist ein ver-
schiedenes. — Entweder schreitet der Zerfall vorwärts, wobei es an
Knochen und Gelenken oft zur Verflüssigung und einer Art
Eiterung kommt. Der Inhalt dieser tuberculösen Abscesse ist kein
echter Eiter (siehe unten), wie sich in ihm auch meist keine
Eiterpilze finden. Die Eiterkokken (Staphylokokken), die man in
einem Theil der tuberculösen Abscesse findet, scheinen secundär
zuzutreten. Oder die an sich schon gefässarmen Käseherde ver-
trocknen, verkreiden und verkalken, eine Art der Aus-
schaltung aus dem Stoffwechsel, welche für den Organismus als
ein günstiges Ereigniss angesehen werden muss (s. pag. 48). Denn
die in ihnen enthaltenen Tuberkelsporen — Bacillen finden sich in
den Käseherden nicht mehr — werden dadurch mit abgekapselt. —
Der günstigste Ausgang des tuberculösen Herdes ist der in Narben- Biutsernmcultur des
bildung. Es bildet sich ein massiges Bindegewebe, welches die ,jj'^"^''^''^/^|',f^''„'"",^^^
gewöhnliche Narbenschrumpfung durchmacht und so die zwischen ^^^ aumga)
ihnen liegenden tuberculösen Ablagerungen erdrückt. In Fig. 114 zieht
ein solcher Bindegewebsstrang schräg von links oben nach rechts unten durch das Prä-
parat. — Leider ist der Ausgang in Narbe der weniger häufige; in Knochen und Ge-
lenken noch häufiger als in inneren Organen, wie den Lungen. Diesen günstigsten
Ausgang herbeizuführen, ist die Aufgabe der Behandlung.
Die Art und Weise der Uebertragung- dieser Infectionskrank-
heit ist in den wenigsten Fällen mit Sicherheit festzustellen. Man unter-
scheidet eine ererbte und eine acquirirte.
Tubei-culose. ;[77
Die Möglichkeit einer directeu Uebertragung der Tuberculose von den Eltern auf
die Kinder ist nicht zu bezweifeln. Weigert und Jani, ebenso Foä haben im Sperma
Tuberculöser Bacillen gefunden , selbst wo die Hoden scheinbar normal waren. Die
grosse Zahl der anscheinend hereditär belasteten Kinder (ca. 60 — 707o aller Tuber-
culosen des Kindesalters nach einzelnen Autoren) dürfte sich auch noch anders erklären.
Vererbt wird die elende Constitution seitens der kranken Eltern (z. B. der enggebaute
Brustkorb) und die widerstandsunfähigen, kärglichen Kinder werden nach der G-ebuii;
von ihren Eltern oder durch die inflcirte Wohnung ii. s. f. in den ersten Jahren inficirt.
Kommen selbst von Vater und Mutter her belastete Kinder bald nach der Geburt in
andere, reine Verhältnisse, z. B. ein gutes Waisenhaus, so erkrankt nur ein verschwindend
kleiner Procentsatz.
Für die erworbene Tu bereu lose sind die Eingangspforten in
erster Linie die Luftwege, besonders die Lungen. Doch scheinen bei
Kindern auch Mund und Nase gelegentlich die Stätten der ersten Ent-
wicklung der Bacillen zu sein. Starck (Münch. med. Wochensehr.,
1896, 7) hat bei 41 Procent von scrophulösen Lymphdrüsenschwellungen
am Halse Caries der Zähne und in diesen cariösen Zähnen zahlreiche
Tuberkelbacillen gefunden. Die Verdauungswege kommen ebenfalls in
Betracht (Infection durch verschlucktes tuberculöses Bronchialsecret,
dann durch die Milch, weniger das Fleisch perlsüchtiger Kühe), noch
seltener sind es die Genitalien (Weiber). Die Uebertragung durch
äussere Wunden ist extrem selten (siehe Leichentuberkel) ; beim scrophu-
lösen Ekzem der Kinder soll gleichfalls eine Inoculation von Tuberkel-
bacillen möglich sein (Demme).
Der Weg der weiteren Verbreitung ist der der Embolie.
Theils mögen die Bacillen oder Sporen mit dem Lymphstrom in den
Blutstrom gelangen (z. B. von den Halsdrüsen aus), wie Weigert Ba-
cillen im Ductus thoracicus gefunden hat. Derselbe Forscher fand auch
in fast allen Fällen von allgemeiner Miliartuberculose bacillenhaltige
Venenthromben. An dem Orte ihrer neuen Heimat, ihrer neuen Locali-
sation entwickeln sich nun die Bacillen in der geschilderten Weise weiter
(s. pag.lT).
Die Tuberculose der inneren Organe können wir, als den Chirurgen
weniger direct beschäftigend, ausser Acht lassen. — Bei der Tuberculose
der Knochen und Gelenke ist noch manches Ergänzende über Tuber-
culose mitgetheilt (s. dort).
Das Verhältniss der Scrophulose zur Tuberculose ist noch nicht ganz klar
gestellt. Der Name Scrophulose kommt von sus scrofa, das Schwein, weil diese
Kinder mit den dicken rüsselartig aufgeworfenen Lippen, den plumpen Zügen, dem ge-
dunsenen bleichen Gesicht und dem durch Lymphdrüsenschwellungen verdickten Halse
in der That eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Schweinskopf zeigen.
Man unterscheidet eine torpide und eine erethische Form der Scrophulose.
Die torpide Form ist die typischere; sie ist jedem Laien bekannt und geläufig.
Es sind jene blassblonden oder rothhaarigen, pigmentarmen, meist trägen, indolenten
und oft wenig intelligenten Kinder mit plnnipen dicken Körperfornien , stumpfem Ge-
sichtsausdruck, wässerigen, matten, blaugrauen Augen; das Gesicht gedunsen, blass,
wie teigig (w(jfür häufig der Ausdruck „pastös" von Pasta, der Teig, gebraucht wird),
die Nase plump und aufgeworfen, die Lippen dick, gewnistet, blass. Die Augen sind
häufig Sitz chronischer Entzündung sowohl an den Lidern (Blepharitis ciliaris), als in
der Conjuiictiva und der Hornhaut (Conjunctivitis und Keratitis scrophulosa), bald durch
eiterige Kiiisten verklebt, bald stark träufelnd, häufig ist Blinzeln und Zwinkern (durch
Lichtscheu, Blepharospasmus). Die Nase ist der Sitz chronischen Schnupfens, sie
ist oft geschwollen, an d(Mi Nasenlöchern finden sich kleine Schrundengeschwüre, (ebenso
an den Lippen. Auch die Ohren sind Sitz chronischer Entzündung, welche schliesslich
selbst zur Eitening im Mittelohr und dauerndem citrigen Ausfluss aus dem Ohr mit
Schwerhörigkeit oder Taubheit führt. Chronische Rachen katan-hc mit Entzündung
oder Hypertrophie der Tonsillen fehlen nicht. Häufig sind Gesicht und behaarte Kopf-
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Theraine. 2. Aufi. 12
X78 m- f-'apitel. — V(;rl<,tziinfrt;n.
haut Sitz chronischer Hautausschläge (namentlich Ekzeme). Sämmtliche Drüsen des
Halses, des Nackens u. s. f. sind geschwollen, oft zu faustgrossen Packeten. Dazu
kommen — ausser Ausschlägen am übrigen Körx)er — namentlich noch Neigung zu
Erkältungen, zu Bronchialkatarrhen und Lungenentzündungen. TJeberhauj)t zeigt jede
andere Krankheit, jede Verletzung die Neigung, sich zu verschleppen; die Kinder zeigen
liäufig eine „schlechte Heilhaut" und machen Eltern und Arzt in gesundheitlicher Be-
ziehung stets Angst und Sorge.
In scharfem Contrast hiemit steht die erethische Form.
Diese Kinder sind meist mager, oft schwarz oder brünett; sie sind sehr lebendig,
oft geradezu erregt (daher erethisch), unruhig wie Quecksilber. Kurzum, das Verhalten
solcher Kinder ist gerade das Gegentheil der torpiden Scrophulose. — Was ihnen aber
gemeinsam ist mit jenen , ist die gesteigerte Empfindlichkeit gegen jede geringfügige
Schädlichkeit, die ein gesundes Kind nur vorübergehend beeinflussen Avürde , und der
schleppende , überaus langsame , vielfach durch Rückfälle gestörte Verlauf der acqui-
rirten Leiden. — Die Drüsenschwellung tritt hier weniger in den Vordei'grund, wenigstens
sieht man nicht oft so grosse Lymphdrüsengeschwülste. Die Neigung zu chronischen
Katarrhen der Respirationswege, zu Ohr- und Augenaffectionen ist dieselbe. Diese Kinder
werden häufig vom Arzt als „nervöse" Kinder geführt und behandelt, während ein
antiscrophulöses Regime sofort Besserung erzielt (s. unten).
Die Behandlung der Scrophulose ist unten besprochen.
Die Prognose ist verschieden. Ein Theil der Kinder erliegt der Krankheit. Ein
anderer , und zwar der grössere , überwindet dieselbe mit der vollendeten Körper-
entwicklung, er „verwächst die Scropheln". Doch ist auch bei diesen stets die
Möglichkeit gegeben, dass in späteren Jahren Avieder tuberculöse Erscheinungen (Gehim-
oder Lungenafi'ectionen) hervortreten.
Die pathologischen Anatomen möchten Scrophulose und Tuber-
culöse identificiren, denn in den scrophulösen Producten findet sich der
Tuberkelbacillus ebenso, wie in echt tuberculösen, und scrophulose Massen
z. B. aus Lymphdrüsen erzeugen, auf Kaninchen verimpft, echte Tuber-
culöse. Der Kliniker kann die beiden Krankheiten nicht in eine ver-
schmelzen, weil ihr ganzer Verlauf, ihre Bedeutung für den befallenen Or-
ganismus doch eine andere ist, als die echter Tuberculöse. Das Alter allein
vermag auch nicht den Ausschlag zu geben, man kann die Scrophulose
nicht einfach als Tuberculöse des Kiudesalters bezeichnen. Höchstens
könnte man annehmen, dass die Scrophulose eine durch die Vererbung
abgeschwächte Tuberculöse wäre , sei's nun , dass die Virulenz eine
verminderte, oder die Widerstandsfähigkeit eine erhöhte wäre.
Eine allgemeine Therapie der Tuberculöse wird von einer
Anzahl von Chirurgen , die sich ausschliesslich an die Bekämpfung,
resp. Entfernung der örtlichen tuberculösen Herde, der Localtuberculosen,
gewöhnt haben, für unnöthig oder aussichtslos gehalten. Entgegen dieser
Ansicht kann auf Allgemeinbehandlung Tuberculöser nicht Werth genug
gelegt werden.
Für die chirurgischen Tuberculosen ist zunächst eine Auf-
besserung des oft sehr darniederliegenden Ernährungsstandes zu er-
streben.
Klimatisch sind Aufenthalt in Höhen- und Waldluft, noch besser
an der See oder in Soolbädern, in Verbindung mit warmen Seebädern
und Soolbädern (3 — 10 Procent , natürliche und künstliche mit Soole,
Seesalz, Stassfurter Salz etc.) zu empfehlen. Auch Schwefelbäder (na-
türliche oder künstliche) mit Kalium siüfur. pro balneo (20 — 100 Grm.
pro Bad) haben sich mir besonders bei fistulösen Processen bewährt.
In der Ernährung sind die Fettbildner zu bevorzugen. Die rein
vegetarische Diät, die namentlich von einigen englischen Aerzten als
Panacee gepriesen wird, kann ich nicht besonders empfehlen, wenn auch
Tuberculose. Syphilis. 179
scrophiüöse Kinder wenig Fleisch bedürfen. Hauptsächlich sind Fette
zuzuführen, besonders gute Butter , dann Leberthran , Eier u. dergl. ;
auch dunkle malzreiche Biere. Wein ist unnöthig. Von Medicamenten
sind die Tonica zweckmässig, in erster Linie die Chinapräparate,
wie Tinct. Chinae compos. (dreimal täglich 20 — 40 Tropfen) oder China-
weine; sie sind bei schwachem Magen geeignet, wo auch Acid. muriat.
dilut. (4 — 9 Tropfen in Wasser zum Essen) angezeigt sein kann, ferner,
wo die Verdauung gut ist, Eisenpräparate — die verschiedenen or-
ganischen Eiweissverbindungen , Hämatogen , Ferratin u, dergl. Dann
die natürlichen Eisenwässer. Billig sind Ferr. hydrogenio reductum
(messerspitzenweise) , dann Liquor ferri albuminati u. dergl. m. Auch
Eisen mit Mangan zusammen wird empfohlen.
Auch die Jodpräparate sind mitunter von Nutzen, weniger das
Jodkali (0'5— 10 pro die) und die Tinctura ferri jodati (dreimal täg-
lich 30 — 50 Tropfen) , als die natürlichen Jodwässer (Adelheidquelle,
Haller Jodwasser u. dergl), die in kleineren Mengen (Vs — Ys Liter
täglich) monatelang gegeben, namentlich bei Drüsenschwellungen, scro-
phulösem Schnupfen etc. oft gute Erfolge geben. Bei Drüsenschwel-
lungen thut oft auch Arsenik gute Dienste (Solut. Fowleri 5*0, Tinct.
Chin. compos. 45*0, 2 — 3mal täglich 15 — 50 Tropfen; Pilulae arseni-
cales — Acid. arsenicosi 0"1 — 0'4, Extr. et Pulv. Liquir. , Mucilag.
gumm. arab. aa. q. s. u. f. pil. 100, dreimal täglich 1 Pille, je nach
dem Essen).
Ein Specificum gegen Tuberculose besitzen wir nicht. Insbeson-
dere hat das Tuberculin wesentlich höhere Sterblichkeitszitfern bei
chirurgischer Tuberculose gegeben, als alle anderen Behandlungsmethoden.
Guajacol wird von SchüUer warm empfohlen.
Ich habe mit Zimmtsäurepräparaten (s. Tuberculose der Knochen
und Gelenke) glänzende Erfolge erzielt (circa 90 Procent Heilungen).
Die Syphilis, heutzutage eine Volkskrankheit von ausgedehn-
tester Verbreitung und eingreifendster socialer Bedeutung, ist längst
zum Gegenstand eingehender specialistischer Bearbeitung geworden und
es ist daher auf die betreffenden Lehrbücher zu verweisen.
Die Syphilis ist jedenfalls eine bacilläre Krankheit, wenn es
auch noch nicht feststeht, ob der von Lustgarten entdeckte, den
Tuberkel- und Leprabacillen ähnliche Bacillus der Träger der Krank-
heit ist. — Histologisch charakterisiren sich die Producte der Syphilis
(Syphilome) als kleinzellige gefässarme Infiltrate, mit starren Binde-
gewebszügen durchsetzt. Sie neigen sehr zu secundären Veränderungen.
Bald kommt es zur völligen Resorption, bald zur Narbenbildung; die
grösseren Infiltrate dagegen tendiren zur centralen schleimigen Erwei-
chung und bilden dann bis hühnereigrosse, wenig geröthete, meist
kugelige fluctuirende Geschwülste, die eingeschnitten eine gummiähnliche
Schleimmasse entleeren — Gummigeschwülste, Gumm ata. Wir wissen
jetzt, dass diese Gummata, die früher zu den echten Geschwülsten ge-
rechnet wurden, wie alle syphilitischen Productioncn lediglich auf ent-
zündlichem Wege entstehen, wie iil)crliaupt die Erscheinungen der Syphilis
unter allen bekannten Formen der Kiitzündnng zu Tage treten kiinnen.
Lebertragen kann die Syphilis werden durch jede otlene Wunde
(Chirurgen, Hebammen), am häufigsten durch den Coitus. — Ob die
12*
180 III- Capitol. — Verli;tziingf;ii.
hereditäre Syphilis , welcher der grösste Theil der Kinder manifest
syphilitischer Eltern in der Fötal/eit oder in den ersten Lebensjahren
erliegen, noch in den späteren Jahren wirksam bleibt, ist eine offene
Frage (Lues hereditaria tarda V). Oft erweist sich bei genauer Nach-
forschung die Syphilis denn doch während des extrauterinen Lebens,
allerdings auf ungewöhnlichem Wege, übertragen.
Die erste Erscheinung der Syphilis ist einige Tage nach der
Infection die Bildung eines syphilitischen Infiltrats an der Impfsteile,
also meist an den Genitalien. Dieser „Primäraffect", „Initialsklerose",
ein hartes Knötchen kann sich wieder resorbiren ; meist wird die Epi-
dermis abgescheuert und es entsteht ein Geschwür auf harter infiltrirter
Basis (dem luetischen Infiltrat) mit dünner schleimiger Secretion, blassen
kümmerlichen Granulationen, ein Ulcus durum atonicum, „der harte
Schanker" (Pergamentschanker). Während er allmälig, im Laufe von
Wochen bis Monaten heilt, vergrössern sich die zugehörigen Lymph-
drüsen, sie sind nicht schmerzhaft, verschieblich, hart; verlöthen nicht
untereinander. Von hier aus scheint die syphilitische Infection in die
Circulation einzubrechen; die Syphilis wird „Constitutionen", d.h. über
den ganzen Körper hin erscheinen die syphilitischen Productionen,
ungefähr 4—6 Wochen nach der Ansteckung. Die Producte der sy-
philitischen Infection sind äusserst vielgestaltig („multiform"); denn
es giebt keine Form der Entzündung von der einfachen entzündlichen
Hyperämie bis zur hämorrhagischen Form und bis zum Geschwür und
Brand, welche die Syphilis nicht hervorrufen könnte und es giebt auch
kein Organ des Körpers, welches diese Krankheit verschont Hesse.
Während in den ersten Zeiten, in der Secundärperiode, wenn man
Infectionsgeschwür und örtliche Lymphdrüsenschwellung als Primär-
periode bezeichnet, die Zahl der Localisationen eine ungeheuer grosse
ist, namentlich auf Haut und Schleimhäuten, die Form derselben aber
meist eine weniger schwere ist, Erytheme, seröse Exsudationen u. dergl.,
sind dieselben in der späteren Periode, der Tertiärperiode, meist
weniger zahlreich, aber um so schwerer, langdauernde geschwürige
Processe, Bildung von Gummata u. s. w., Nekrosen und betreffen mehr
innere, edlere Organe, Knochen , Gefässe , Nervensystem , Eingeweide.
Klinisch macht sich der Ausbruch der constitutionellen Syphilis
meist durch eine Periode allgemeinen Krankheitsgefühls geltend, leichtes
Fieber, Gelenk- und rheumatische Schmerzen. Dann kommt das
Exanthem, nicht juckend und kupferroth, an symmetrischen Körper-
stellen auftretend, vom einfachen hyperämischen Fleck bis zur eiterigen
Pustel (maculöses, papulöses, bullöses Syphilid, Erythema syphiliticum
u. s. w.). Diesen Hautefflorescenzen schliesst sich dann bald Schleim-
hautaffection an, zunächst gewöhnlich im Rachen, Röthung, Epithel-
verdickung (Plaques muqueuses) bis zur Geschwürsbildung. An stark
schwitzenden Stellen kommen nässende Papeln mit oberflächlicher
Epithelabstossung (breite Condylome), am Anus, Scrotum, Labien,
Achselhöhle u. s. w. An den Ostien des Körpers (Mund, Anus, Nasen-
winkeln) entwickeln sich kleine Schrundengeschwüre (Rhagaden). Zu
gleicher Zeit bildet sich auch eine nicht schmerzhafte harte Schwel-
lung aller Lymphdrüsen des Körpers aus.
Der weitere Verlauf ist nun sehr verschieden, je nach der
Schwere des Falles und der Behandlung. Die alten Erscheinungen
SypMlis. 181
heilen aus und neue treten an ihre Stelle ; die Erkrankungen der Haut
sind weniger zahlreich, aber schwerer, mit Krusten bedeckte Gleschwüre
(Rupia), schuppende Infiltrate in Handteller und Fusssohlen (Psoriasis
palraaris und plantaris) u. s. w. — Dazu kommen die Erkrankungen
innerer Organe, Entzündungen und Verdickungen der Knochenhaut mit
heftigen, namentlich nächtlichen Schmerzen („Dolores nocturni osteocopi"),
Neuralgien, Erkrankungen der parenchymatösen Organe (Leber u. dergl),
der nervösen Centralorgane , der Schleimhäute , der Gef ässe u. s. w.
Diese „viscerale" Lues kann als solche zum Exitus führen, oder die
Kranken verfallen in Siechthum und enden an amyloider Entartung
der inneren Organe.
In der Behandlung spielen Quecksilber und Jod die erste Rolle.
Frische Fälle werden am besten mit Quecksilber behandelt und ist
nach meinen Erfahrungen die alte Schmiercur (Ung. cinereum 1 : 2,
2 — 3 Grm. täglich, so dass in sechs Tagen der ganze Körper einge-
rieben wird, im Ganzen 24 — 30 Dosen — 4 — 5mal „durch") noch die
verlässlichste und am wenigsten angreifende Cur. Oft lasse ich da-
neben noch ] Grm. Jodkali (in Dosen zu 0"3 3mal täglich nach der
Mahlzeit in Wasser, Selterswasser oder Milch) nehmen. Für spätere
Stadien genügt oft eine 6— 8 wöchentliche Behandlung mit Jodkali (in
etwas stärkerer Dosis [l'ö — 2 Grm. täglich]), um die vorhandenen Er-
scheinungen zum Schwinden zu bringen. Doch ist die Wirkung des
Jod eine rascher vorübergehende und wird man auch für die Spät-
formen oft zu einer combinirten Jodkalischmiercur mit Nutzen zurück-
greifen. Die Injectionsverfahren (Sublimat, Calomel u. s. w.) liefern
meist doch nicht das, was die Schmiercur leistet. Immerhin gibt es
einige gute (unlösliche d. h. schwerlösliche) Präparate: Hydrarg.
salicylic. (1 : 9 Ol. araygdalarum) zweimal wöchentlich 0"5 Ccm. in die
Glutäalmuskeln tief inj icirt, 12 — 16 Injectionen; Ol cinereum 0'3 einmal
wöchentlich, 6 Injectionen, schmerzhaft, aber dauernder in der Wirkung,
als H. salicyl., Hydr. sozojodolicum u. s. w. Quecksilber innerlich greift
Magen und Darm sehr an.
Nichts wäre jedoch verkehrter, als zu glauben, mit einer solchen
einmaligen Behandking sei die Syphilis getilgt. Der Kranke muss
jahrelang unter Aufsicht bleiben. Ein geregeltes Leben und energische
Balneotherapie (Dampfbäder, Schwefelbäder, später Kaltwassercuren,
Seebäder u. s. w.), viel Körperbewegung, strengste Beachtung jeder
neuen Aeusserung der Krankheit sind unerlässlich. Bei hartnäckigen
Spätformen (Geschwüren, Gummatabildung u. s. w.) sind oft auch andere
Curen, besonders die Entziehungscuren mit Holztränken zu empfehlen.
Fälle, die vorher auf Jod und Quecksilber gar nicht mehr reagirt haben,
heilen ohne diese oder werden jetzt wieder durch sie günstig beein-
flusst. Einen Syphiliticus heiraten zu lassen, der nicht mindestens zwei
Jahre frei von jedem Symptom war, ist sehr unrecht. Von den Kindern
florid Syphilitischer gehen mindestens 80 Procent durch Fehlgeburt
oder nachher an Lebensschwäche zu Grunde.
Für uns Chirurgen fängt die Sy|)liilis meist erst in den Spät-
stadien an, interessant zu werden, und hier feiern diagnostischer Scharf-
blick und Schulung l'riuniphe. In den ersten Stadien macht jeder
Laie die Diagnose ; später nach Jahrzehnten , wenn der Kranke den
„kleinen Schanker" längst vergessen hat, gilt es. den ursächlichen
182
III. Oapitel. — Verletzungen.
Fig. IIG.
Zusammenhang festzustellen, wenn die Kranken mit Leber- oder Iloden-
geschwülsten ankommen , die für Krebse oder Sarkome gehalten sind
und auf Jodkali zurückgehen; wenn Rheumatismen, Neuralgien und
Lähmungen als auf veralteter Syphilis beruliend erkannt werden ; wenn
Knochenhautentzündungen, Eiterungen, Knochennekrosen, Gelenkent-
zündungen. Hautgeschwüre u. dergl. antisyphilitischer Behandlung wei-
chen u. dergl. mehr. Kaum je wird man in der Praxis von einem
Satze so viel Nutzen ziehen, als wenn man sich zur rechten Zeit er-
innert an den alten Spruch: „In dubiis respice luem" (s. Knochen-,
Gelenk-, Haut- etc. Syphilis).
Die Lepra (Aussatz, Spedalskhed, Radesyge u. s. w.), im Mittel-
alter über die ganze gebildete Welt verbreitet, ist heute nur noch ver-
einzelt in Norwegen, Spanien, auf der Balkanhalbinsel, an den Küsten
des Mittelmeers, in Indien, auf den Inseln des grossen Oceans (Samoa)
anzutreffen, doch sind neuerdings auch in Deutschland — Ostpreussen —
Herde aufgedeckt.
Die Ursache der Lepra ist der Leprabacillus (Armaiier Hansen).
Durch die Einwirkung des Leprabacillus auf die Gewebe und ihre
Rückwirkungen gegen den Bacillus ent-
stehen die für Lepra charakteristischen
anatomischen Veränderungen. Fig. 116
nach Schwimmer zeigt Leprabacillen in
grosser Menge, a ist eine grosse „Lepra-
zelle" mit zahlreichen Bacillen, h kleinere
mit bacillenerfüllten Kernen, c eine Ca-
pillare mit gequollenen Endothelien, /ein
Gewebsbündel (Vergrösserung 86ü). Diese
Zellen häufen sich an den erkrankten
Stellen zu knotigen Anschwellungen zu-
sammen , welche aus Gef ässen, weissen
Blutzellen, Bindegewebe, Leprazellen be-
stehen und so Gebilde vom Bau des
Granulationsgewebes bilden (Granulationsgeschwülste, Virchow). Diese
in Millionen durch den Körper verbreiteten Lepraknoten und Knötchen-
infiltrate verursachen die klinischen Erscheinungen der Krankheit. Nach
Unna liegen die Leprazellen extracellulär in den Lymphgängen.
Die üebertragungs weise der Lepra ist unbekannt; doch spielen
Heredität und naher persönlicher Verkehr wohl eine Rolle. Nach einem
der Syphilis ähnlichen Prodromalstadium unklarer Krankheitssymptome
tritt ein grossfleckiger, wenig erhabener, meist blutrother Ausschlag auf
(Lepra maculosa nigra); durch Resorption des Pigments können die
Flecken im Laufe der Zeit weisser werden als die Umgebung (Lepra
maculosa alba). Meist aber entwickeln sich aus den Flecken unregel-
mässige knollige Knoten (L. tuberosa), welche häufig zu Geschwüren
zerfallen (L. ulcerosa).
Einstweilen sind auch die Schleimhäute befallen, zeigen Infiltra-
tionen und Geschwüre (Conjunctiva , Kehlkopf). Besonders wichtig
aber sind die Veränderungen der Nerven, in deren Scheiden die Ba-
cillen haufenweise sich finden. Nach einer kürzeren Periode der Hyper-
ästhesie kommt es aieist zur völligen Anästhesie (Lepra anaesthetica)
und vermuthlich durch die damit zusammenhängenden trophischen Stö-
Lepra. Rliinosclerom.
183
riiügen zur (neurotischen) Gangrän einzelner Körpertheile , namentlich
Finger, Zehen u. s. f. (Lepra mutilans). — Allem nach bleiben auch
die Gefässe und die inneren drüsigen Organe von den charakteristischen
leprösen Infiltrationen nicht frei.
Die Krankheit führt nach mehrjährigem, oft auch jahrzehntelangem
Bestand durch Siechthum zum Tode. Stillstände sind häufig, Genesun-
gen sehr selten. Wechsel des Aufenthaltes, energische warme Bäder,
Chinin. Eisen, Arsen sind zweckmässig ; auf die Geschwüre legt man
Emplastr. Hydrargyri, Jodsalben u. s. f. In den Tropen wird der Gur-
junbalsam (5 — 8 Grm. täglich) und das Chaulnioorgraöl (0"5 — 1"0 täg-
lich) empfohlen. Lepröse sind zeitlebens in Leproserien zu isoliren.
Fig. 117.
Auf der Anwesenheit des Rhinosclerombacillus beruht das Rhino-
sclerom. Der Rhinosclerombacillus ist ein kurzer, plumper Kapsel-
bacillus, der die Gelatine nicht verflüssigt und mit Anilinfarben, z. B.
Löff'lcr' scher Methylenblaulösung, zu färben ist (Fig. 117).
Das Rhinosclerom kommt fast nur im Osten Europas und in
einigen tropischen Ländern vor. Derselbe Erreger scheint auch den
als Cliorditis vocalis hyi)erplastica inferior beschriebenen Wucherungen
im Keblkr)])f zu Grunde zu liegen. Anatoniiscli bat man es mit schmerz-
losen derben Bindcgewebswuclierungen (Granulationsgeschwülsten mit
grossen Zellen und Hyalinbildung) zu thun, die die Nase, die Nasen-,
Gaumen- und Kachensclilcindiaut , ebenso die Schleimhaut des Kehl-
kopfs zu dicken (die Resjjiration oft störenden) Wülsten auftreiben.
184 in. Capitel. — Vorlotzuiigcn.
Der Process beginnt im submuc()sen Gewebe, geht aber später auch
auf den Knorpel über. Ein Theil der Wucherungen schrumpft später
narbig, während der Process an der Peripherie fortschreitet.
Die Therapie steht dem Rhinosclerom bis jetzt ziemlich ohnmächtig
gegenüber. Die Excision gibt nur vorübergehende Erfolge. Indicirt
sind Injectionen mit Carbolsäure IV2 — 2 Procent, Sublimatlösungen
1/2 — 1 Procent, ferner Bepinselungen mit Jodtinctur, Pyrogallussäure
(1 : 9), Milchsäure, Kali causticum, Argent. nitricum u. s. w. Doutrelepont
empfiehlt Iprocent. Sublimatlanolin. (Vergl. Wolkowitsch, Lanffenheck's
Archiv, 38.)
Wundbehandlung.
Geschichtliches, — Offene Wundbehandlung und Occlusion. — Die offene Wund-
behandlung s. Str. — Irrigation und Immersion. — Tamponade. — Natürliche und
künstliche Verschorfung. — Partielle Occlusionsmethoden.
Die antiseptischen Wundbehandlungsmethoden. — Das ursprüngliche Verfahren
Lister's,
Wenn wir das Heer von Krankheiten , zum Theil fast absolut
tödtlicher Art, überblicken, welche sich an Wunden und Verletzungen
anschliessen können , so muss es selbstverständlich erscheinen , dass
das Bestreben der Chirurgen stets auf den einen Punkt gerichtet
war , sie zu vermeiden und zu bekämpfen. Wie furchtbar die Ver-
heerungen waren , welche in chirurgischen Krankenabtheilungen durch
die accidentellen Wundkrankheiten angerichtet wurden , davon kann
man sich heutzutage kaum mehr eine richtige Vorstellung machen.
Gab es doch grosse Hospitäler, in welchen in Monaten und länger
auch nicht ein Amputirter mit dem Leben davon kam, wo selbst Ver-
letzungen leichtester Art, wie Fingerquetschungen u. dergl., an Pyämie
zu Grunde gingen. Die Sterblichkeit der Amputationen betrug 407o
und darüber.
Schon früh hatte sich die praktische Erfahrung Bahn gebrochen,
dass Wunden, wenn sie ohne jeden Versuch, sie zu schliessen , offen
bleiben und das Secrct stets frei abfliessen kann, seltener von acciden-
tellen Wundkrankheiten betallen werden als solche, wo die Wunde
sofort ganz geschlossen und etwaige Wundsecrete im Innern der Wunde
zurückgehalten, dort der Zersetzung anheimfallen, in die Circulation
eingepresst werden und so den Körper vergiften können. In diesen
beiden sich gegenüljer stehenden Verfahren sind die beiden Extreme
der Wundbehandlung bezeiclniet, die offene Wundbehandlung,
welche auf jeden \'erschluss einer auch an sich /Air Naht geeigneten
Wunde verzichtet und einen langsamen, aber sichereren Heilungsverlauf
erstrebt, und die Verschluss- oder Occlusionsmethode, welche,
gewissermassen va banque spielend, die Wunde schliesst und heute
eine rasche AVundheilung in wenig Tagen erzielt, morgen einen anderen
Kranken an Pyämie u. dergl. verliert. Zwischen diesen beiden Me-
thoden schwankte man hin und her und suchte die Vortheile beider
zu combiniren. ohne ihre Xachtheilc mit in den Kauf nehmen zu müssen.
Gute Erfolge ermuthigten oft, die Wunden zu verschliessen. bis eine
186
IJT. Ca])it(;l. — Verletzungen.
Reiht
von MisseiTolgcn der Occlusionsniethode wieder zur ofR-neii
Wundbehandlung- /urückg-reifen liess. Eine Methode drängte die andere.
Die verschiedenen so entstandenen Wundbehandlungsmetlioden sind auch heute
noch für einzelne Fälle mitunter zu verwenden. Die einen sind modificirre offene, die
anderen abgeänderte Occlusionsmethoden ; fast jeder Modification wohnt ein gewisser
sinnvoller, auch heute noch gelegentlich verwerthbarer Gedanke inne.
Das einfachste Verfahren ist die offene Wundbehandlung i. e. S. Die
"Wunde wird frei liegen gelassen, die Secrete fliessen in ein Näjjfchen oder eine öfters
gewechselte Unterlage von Jute, Moos u. dergl. (vergl. Fig. 118). Das sich verdickende Secret ist
ein schlechterer Nährboden als dünnflüssiges, so ist die Bacterienentwicklung gering. Solche
Wunden können mit schmalem Entzündungshof heilen. Nur in den ersten 4 — 5 Tagen
ist massiges Fieber vorhanden. Bei der Wundbehandlung unter dem einfachen
Deck verband wird die nicht vereinigte Wunde mit einem reinen, in reines Was.ser
getauchten, oft gewechselten Läppchen bedeckt. Die Wunde bleibt feucht, die Secretion
ist reichlicher (Water dressing der Engländer).
Der Gedanke, die Secrete stets sofort in dem Moment ihrer Bildung zu entfernen,
liegt den Irrigations- und Immersionsmethoden zu Grunde. Bei der Irrigations-
methode wird über der Wunde ein Behälter angebracht, aus welchem Flüssigkeit durch
eine oder mehrere Oeffnungen in schwachem Strahl oder in Tropfen auf die Wunde
fällt und die Wunde berieselt. In Verbindung mit antiseptischen Flüssigkeiten (z. B.
Fig. 118.
2"/^ Lösung von essigsaurer Thonerde) wird sie auch heute noch von einzelnen Chirurgen
bei Quetschungen und ansgedelinten Eiterungen, Z.B.Phlegmone des Vorderarmes, in
Anwendung gezogen (Fig. 119).
Ebensowenig ist die Immersion als völlig überwundener Standpunkt zu be-
zeichnen. Das betreffende Glied wird in eine geeignete Wanne mit Abflusshahu am
Boden gebracht und dort auf quergespannten Leinenstreifen gelagert. Dann wh'd die
Wanne mit Wasser von 38 — 40" C. mit oder (besser) ohne Zusatz eines wenig giftigen Anti-
septicums (SaKcylsäure, Borsäure u. dergl.) gefüllt. Die Flüssigkeit wird täglich mindestens
einmal abgelassen und durch neue ersetzt. Für ausgedehnte septische Processe mit
Senkungen u. dergl. ist diese Methode auch heute noch brauchbar. Auf die Immersion
des ganzen Körpers, das permanente Vollbad, wii'd man bei ausgedehnten Ver-
brennungen und schweren Erysipeln gelegentlich mit Nutzen zurückgreifen.
Einem ganz anderen Princip huldigen die Tampon ade verfahren. Die Wunde
wird mit einem absorbirenden Stoff' , Watte , Mull , Leinwand , Charpie ausgestopft,
welcher alles Wundsecret im Augenblick der Bildung sofort ansaugen soll. Zur Blut-
stillung und bei der Behandlung von Höhlenwunden , welche langsam vom Gnmde aus
heilen sollen , z. B. tuberculösen Processen , wird die Tamponade mit antiseptisch prä-
parirten aufsaugenden Stoffen (besonders Jodoformgaze) auch heute noch vielfach
gebraucht.
Die Verse hör fungs verfahren streben als Ideal die Heilung unter dem trockenen
Schorf an (s. pag. 80). Nur bei kleinen Wunden erreicht dies die Natur durch Ver-
trocknung, bei grösseren glückt der Versuch, selbst bei reichlicher Anwendung aus-
trocknender und ätzender Mittel so gut wie nie. Fast immer sammelt sich zersetzungs-
Verschiedene Wundbehandlunffsmetlioden.
187
fälliges Secret unter dem Schorf an , durchbricht ihn , hebt ihn ab und verhindert so
die Heilung unter dem Schorf. Die zur Verschorfung nöthige Verätzung opfert bei
frischen Wunden natürlich auch viel vom Gesunden und eine irgend feinere, z. B. eine
plastische Operation ist damit ganz unverträglich. — Man bediente sich bald stark
ätzender Mineralsäui'en, wie Schwefelsäure, Salpetersäure u. s. f., bald ätzender Alkalien.
Im Alterthum und Mittelalter gab es geheimnissvolle Mixturen, meist Balsame ent-
haltend, welche in die Wunden gegossen wurden. Bekannt ist ferner, dass bis Ambroise
Pare die Schusswunden, welche man für an sich schon vergiftet hielt, mit siedendem Oel
ausgegossen und so vei'schorft wurden. — Die Araber handhabten in ausgiebigster
Weise das Glüheisen, das auch später noch vielfach verwandt wurde.
In strictestem Gegensatz hiezu stehen die Occlusions verfahren. Die totale
Occlusion, der völlige Verschluss der Wunde in allen ihren Theilen, unbekümmert
Fig. 119.
um alles Folgende, ist der extremste Standpunkt. Bei manchen Wundon wenden wir
sie auch heute an und erstreben sie sogar unter Beihilfe der Asepsis in neuester Zeit
wieder für eine grosse Anzahl. Die AVunde wird in ihrer ganzen Länge und Tiefe durch
die Naht vereinigt und geschlossen. Die sich etwa bildende AVundtlüssigkeit wird der
Resorption durch die Wundflächen überlassen. Die totale Occlusion ist das Normal-
verfahren für die Unterleiljsoperationen. Das überaus grosse Resorptionsvermögen des
Peritoneums vermag grosse Giengen i'lüssigkcit aufzusaugen , was bei gewöhnlichen
Weichtheilwunden nicht der Fall ist.
Für gros.se Iiuclitige Wunden verbietet sidi ilunh ilie regelmässig eintretende
Secretstauung in der Tiefe die totale Oeclu.sion von selbst. Ks ist daher selbstverständ-
lich, dass schon lange Versuche gemacht wurden, diese Anhäufungen von Wundflüssigkeit
in der Wunde zu vernieiib-n durch die Ableitung der Wnndsecrcte nach aussen.
Sie führten dazu, die Wunde nur theihveise zu schlies.sen und durch Oeflnungen der
188 ni. (Japitel. — Vo'lotzuiigßn.
"Wunde die Secrete nach aussen treten zu lassen, — partielle Occlusion. Das
älteste Verfahren war, ein llaarseil (einen »Streifen ausgefranster Leinwand) (juer durch
die Wunde zu ziehen, z.B. an Amputationswunden hinten durch die Wundwinkel. —
Bald kamen die Drain röhren auf (Drainage tubes) und namentlich Bell hat sie,
aus Blei, Silber, Zinn, viel angewandt. Eine wesentliche Verbesserung war in der Ein-
führung der Gummiröhren als Drains durch Chassaignac gegeben. Manche neuere
Aenderungen der Drainage, wie Glasdrains, Streifen Glaswolle, Hautdurchlocherungen
u. s. f., sind ohne besondere Bedeutung. Jn der partiellen Occlusion mit rationeller
Drainage sind wir bei derjenigen Wundbehandlung angekommen, welche die Neuzeit
beherrscht. Die Lister's.ch& antiseptische Methode gehört zu diesem Verfahren.
Die gTundlegenden Ideen, worauf die Lis-^er'sche Antisepsis
ruht, partielle Occlusion, sind schon pag. 135 kurz mitgetheilt. — Anti-
septische, die Fäulniss der Wunden bekämpfende Verfahren gab es
schon lange. Die Verschorfungsmethoden sind hieher zu rechnen;
dann wurden die Wunden mit Kampher, Essig und anderen fäulniss-
widrigen Stoffen verbunden, schon im grauen Alter thum. Neu ist die
Art und Weise der Anwendung der antiseptischen Mittel durch Lister.
Grundlegend ist der Gedanke Lister's^ nicht die vorhandene
Fäulniss zu bekämpfen, sondern ihrem Eintreten zuvorzu-
kommen. Er erkannte die Aussichtslosigkeit eines Kampfes gegen
die bereits ausgebrochene Wundinfection , denn es hätte hiezu Con-
centrationen von antiseptischen Lösungen bedurft , mit welchen das
Leben der Gewebe nicht mehr verträglich ist. — Um dem Eintreten
der Infection entgegenzuwirken , musste nicht wie bisher nach der
Operation , wo eine Ansteckung längst erfolgt sein konnte , es musste
schon vor und während der Operation Alles , was mit der Wunde in
Berührung kommen konnte, desinficirt werden, d.h. frei von Mikro-
organismen sein.
Die Grundlage der ursprünglichen List er'schen Antisepsis war die
Carbolsäure. Lister desinficirte vor der Operation und wälirend der Operation alle In-
strumente mit öprocentiger CarboUösung, ebenso die Hände des Operateurs und der
Assistenten. Auch das ganze Operationsfeld wurde, nachdem es mit Seife oder Schwefel-
äther gut gereinigt war, mit dieser Lösung abgescheuert.
Um die (vergl. die Pasteur' sehen Experimente, pag. 136) während der Operation
aus der Luft auf die Wunde fallenden Keime zu zerstören und die Luft zu desinficiren,
liess Lister während der ganzen Dauer der Operation 2Vi;Pi'ocentige CarboUösung
durch einen Zerstäuber über der Wunde zerstäuben (Carbolspray).
Bei der Unterbindung der blutenden Gefässe zeigte sich eine neue Schwierigkeit.
Auch hier zeigte sich wieder Lister's Genialität. Er erfand nicht nur ein keimfreies
aseptisches Unter bindungsmaterial, sondern auch ein solches, welches in der
Wunde ohne Schaden zurückgelassen werden kann, er erfand das Catgut, mit Carbol-
säure desinficirte Darmsaiten aus Schafdarm, die in der Wunde resorbirt werden (s. unten).
Zum Aufwischen des Blutes bediente sich Lister entweder Ballen antiseptischen
Mulls oder Watte oder eigens zubereiteter Schwämme. Die antiseptische Zuberei-
tung der Schwämme ist eine ziemlich mühsame. Geklopft und in concentrirter Soda-
lösung oder in Kaliseife gekocht, werden sie für 24 Stunden in eine Lösung von Kali
hypermanganicum (1 : 500) gebracht; diese bräunt die Schwämme. Mehrmals in Wasser
ausgewaschen, kommen sie in eine Iprocentige Lösung von unterschwefligsaurem Natron
(mit Zusatz von 8 Procent concentrirter Salzsäure) 15 — 20 Minuten lang. Dann werden
sie Avieder in Wasser ausgewaschen und in 5 — lUprocentiger CarboUösung aufbewahrt.
Gebraucht machen sie denselben Reinigungsprocess nochmals durch.
Die Wundvereinigung besorgte Lister mit Catgut oder, wo stärkere Span-
nung zu überwinden war , mit geglühten Silberdrähten. Zur Ableitung der Secrete
wurden Gummiröhren verwendet, welche monatelang vorher in 5procentiger CarboUösung
gelegen hatten. Auf die so geschlossene AVunde wurde — immer noch unter Spray —
der Verband gelegt. Auch die Verbandstoffe waren mit Carbolsäure imprägnirt. Vor der
ätzenden Wirkung der Carbolsäure suchte List er die Wunde zu schützen durch Zwischen-
Lister' s Antisepsis. 139
schieben eines undurchlässigen Stoffes, des „Protective silk", eines mit Copallack
getränkten feinen Seidengewebes. Der Verband bestand aus Carbolgaze (Mull , welcher
mit einer alkoholischen CarboUösung mit Colophonium und Glycerinzusatz getränkt ist).
Um das Abdunsten der sehr flüchtigen Carbolsäure aus den Verbandstoffen zu verhüten,
schob List er z\vischen die 7. und 8. Lage seiner Gaze einen weiteren durch eine Gummi-
lackschicht impermeabeln Stoff, den Makintosh, ein. Die Ränder der Gaze wurden
mit Wattestreifen überdeckt, um auch hier einen hermetischen Abschluss zu sichern
(analog dem PßÄfewr'schen Wattepfropf). Das Ganze wurde mit Gazebinden befestigt
und durch eine darübergelegte elastische Binde eine massige Compression des Ganzen
erzielt. Der Verbandwechsel geschah gleichfalls unter Spray. Sobald ein Secretfleck auf
der Aussenfläche des Verbandes erschien und sobald die Temperatur über SS'ö" C. stieg,
wurde der Verband erneuert.
Ausser in den antiseptischen Massnahmen liegen in der L^'sfer'schen Wundbe-
handlung noch weitere grosse Fortschritte — in der äusserst sorgfältigen Blut-
stillung, welche durch ein resorbirbares Unterbindungsmaterial ermöglicht ist. Damit
bildet sich auch weniger Wundsecret und dieses wieder wird abgeleitet durch eine
ausgiebige Drainage mit desinficirten Gummidrains. Schliesslich werden die Wund-
flächen in allen Tbeilen durch eine exacte Compression eng aneinandergeschmiegt
gehalten. Lister hat es verstanden , den Wunden alle Geheimnisse der Heilung abzu-
lauschen und allen Bedingungen derselben in seinem Verfahren praktisch Rechnung
zu tragen.
Ueber die wunderbaren Resultate des Lister'ic\\.&n Verfahrens sind nicht viele
Worte zu machen. Durch seine Entdeckung waren Wundeutzündung , Wundfieber,
Pyämie und Septikämie, Hospitalbrand mit einem Male aus der Wundheilung gestrichen
und selbst die grössten Wunden heilten ohne irgendwelches Krankheitsgefühl des Ver-
letzten, „reactionslos". AVie schnell das Lister'sche. Verfahren seinen Siegeszug, nament-
lich durch Deutschland, gehalten hat, ist bekannt; ebenso dass die Chirurgie binnen
Kurzem eine ganz andere geworden ist und die grossartigsteu Fortschritte in allen Zweigen
der Chirurgie und auch späterhin der übrigen medicinischen Fächer durch die Lister-
schen Ideen angebahnt Avurden.
Die späteren Wandlungen der Lister'schen Antisepsis — Carbolsäure und Carbol-
intoxication. — Thiersch's Salicylverband. — Thymol. — Borsäure. — Eucalyptol. —
Essigsaure Thonerde.
Die antiseptischen Pulververbände. — Jodoform und Jodoformvergiftung. — Salicyl-
pulver. — Wismuth. — Naphthalin u. a. m.
Die verschiedenen absorbirenden Stoffe. — Mull, Watte, Jute, Torf, Moos, Holz-
wolle und Holzwatte.
Als sich später die Ueberzeugung Bahn brach , dass mit dem L/.s/er'schen Ver-
fahren manche zu vermeidenden Uebelstände verknüpft waren , fing eine mächtige Be-
wegung an, das Verfahren nach den verschiedensten Richtungen hin zu modificiren —
in Betreff des desinficirenden Mittels sowohl, wie der aufsaugenden Stoffe. — So ist
schliesslich von dem i/is'/er'schen Verfahren nichts mehr übrig geblieben, als das
Wichtigste, die grundlegenden Ideen.
Die Carbolsäure wurde aufgegeben wegen ihrer Flüchtigkeit. Trotz aller un-
durchlässigen Stoffe lialten die Verbände nach wenigen Stunden fast keine Carbolsäure
mehr. Frische käufliche Carbolgaze hält nur noch Bruchtheile eines Procent Carbol-
sä.ure, ältere niclits mehr. Ferner ist die Carbolsäure nur ein schwaches Antisepticum,
im Vergleich mit Sublimat, Thymol und anderen Antisepticis (R. Koch).
Ein weiterer Vorwurf, der der Carbolsäure mit Recht gemacht wurde, ist
der ihrer grossen Giftigkeit. Sie wirkt nicht nur örtlich stark ätzend (von 37o ^^i).
sie ist auch — vom Darmcanal oder (;iner Wunde aus in den Kreislauf aufgenommen —
ein sehr heftiges Gift (Maximaldosis der Pharm, germ. O'l pro dosij, 0'5 pro die). Dabei
spülte man 3- und öVoige CarboUösung litenveise durch die Wunden !
Die Erscheinungen der Carbolsäurevergiftung sind rascher Verfall der
Kräfte, kleiner unzählbarer Puls, .schlafsüchtige Zustände (Somnolenz), Sinken der
Temperatur, mitunter Erbrechen und allgemeine Krämpfe, Tod durch Herzschwäche.
Kinder sind besonders empfindlich gegen Carbolsäure. Die Carbolinto.xication scliliesst
sich meist unmittelbar an Operation und Chloroformnarkose an, und es ist dann schwer,
sie sofort als solche zu erkennen. Die Behandlung bestellt in energischen Herzreizen —
190 JI^- '^ypitel. — Verletzungen.-
subcutanen Einspritzungen von Aether, Campher, Spiritusklystieren, Glühwein, heissem
Kaffee, warmen Einhüllungen, wannen Bädern u.dergl. Auch Kochsalzin fusion ist zweckmässig.
Neben dieser acuten, meist rasch zum Toile führenden Vergiftung finden sich
bisweilen, gerade bei Chirurgen, subacute und chronische Zustände — allgemeines Uebel-
befinden, Appetitlosigkeit, Abgeschlagenheit, Kopfschmerz, schlechtes, wüstes Aussehen;
hiebei ist mitunter der Urin — einige Zeit nach dem Stehen — graugrün bis grün-
schwarz verfärbt. — Die Behandlung ist hier natürlich sofortige Entfernung von AUeni,
was Carbolsäure hält. Sonnenburg hat Natr. sulfur. empfohlen (lO'Ü : 200'0, ^stündlich
1 Esslötfel). — Oertlich können selbst schwache, lange angewandte Carbollösungen (1 — 37o)
tiefe Gangrän machen, z.B. einer ganzen Fingerkuppe (Carb olgangrän).
Dazu kommt noch der hohe Preis des izs^er's chen Carbolverbandes.
Was zuerst von der ursprling-lichen Lis^er'schen Methode fiel, war
der Spray. Die verwendete Lösung ist zu schwach, die Mikroorganismen
der Luft zu tödten, schlägt sie im Gregentheil in lebensfähigem Zustande
gerade auf der Wunde nieder (Mikulicz, Rydygier). Selbst die Angabe
Rydygier's^ dass er — vor der Operation gehend — die Luft durch
Niederschlagen der Mikroorganismen reinige, ist nicht sichergestellt.
An die Stelle des Sprays trat die temporäre Irrigation, die
antiseptische Ausspülung der Wunde in Pausen von 5 — 10 Minuten.
Die Arbeiten von Kümmell, Garre u. A. hatten mittlerweile gezeigt, dass
die Gefahr der „Luftinfection", wobei die Wunden durch die aus der
Luft in dieselben fallenden Keime inficirt werden, eine sehr geringe ist,
und gegenüber der „Contactinfection", der überwiegend häufigeren und
gefährlicheren Uebertragung von Mikroorganismen durch Hände, In-
strumente u. dergl. verschwindet. So wurde der von mir 1889 gemachte
Vorschlag, „trocken" zu operiren, d.h. mit der Wunde gar keine
Flüssigkeiten mehr in Berührung zu bringen, allseitig rasch angenommen.
Die zahllosen Modificationen des Z/is^^er'schen Verfahrens
betrafen bald das Antisepticum , bald den Verbandstoff. Man suchte
ungefährliche Antiseptica — was kaum möglich ist, denn je ungiftiger
ein Stoff, um so weniger greift er durchschnittlich die Bacterien an.
Dann suchte man nach billigen Antisepticis und billigen aufsaugenden
Stoffen. Ein Theil der gemachten Vorschläge hat heute kaum noch
historisches Interesse.
Der ^A^■ersc/^'sche S a 1 i c y 1 s ä u r e verband (Lösung 1 : 300, 47o- und lOVoige Sali-
cylwatte) wurde verlassen wegen der iinsicheren Wirkung, aus demselben Grunde auch
der Thymol verband {Volkmann-Ranke, IThymol, 10 Alkohol, 20 Glycerin, 1000 Wasser).
Die Borsäure ist in 47oigei" Lösung (oder mit Salicylsäure zusammen, 10 Saücyls.,
6-0 Borsäure, Wasser SOO'O Thierscli) als schwache, wenig giftige antiseptische Flüssig-
keit zu Umschlägen, Blasenausspülungen u. dergl. im Gebrauch geblieben. Ganz ausser
Gebrauch ist das von Lister empfohlene Eucalyptusöl, dagegen wii'd die von Maas
empfohlene 27pige Lösung von essigsaurer Thonerde auch heute noch zu Um-
schlägen bei Quetschwunden, stark eiternden Wunden, BeingeschAvüren verwandt, aber
nicht mehr bei frischen Operationswunden.
In eine etwas andere Richtung wurden die Bestrebungen der
Chirurgen mit der Einführung der antiseptischen Pulververbände
gelenkt. Während man zu Anfang nur Antiseptica in flüssiger Form , in
Auflösungen verwandt, die Wunden mit so getränkten Verbandstoffen
bedeckt hatte, suchte man jetzt durch Ein- und Aufstreuen antiseptischer
Pulver unmittelbar auf den verletzten Geweben Depots von pulver-
förmigen Antisepticis anzulegen und so die Wunde vollständig trocken
und damit vor weiterer Infection geschützt zu halten. Der leitende,
auch späterhin in unserer Wundbehandlung immer wieder zu Tage
tretende Grundgedanke dieser Trockenbehandlung der Wunden
Jodoform. 191
ist, dass, je trockener die Wunde ist, um so ungünstiger die Bedin-
gungen für die Entwicklung der einer gewissen Feuchtigkeit bedürfenden
Mikroorganismen sind (s. pag. 53). Diese Heilung unter dem aseptischen
Schorf, ohne Secretion, stellt die idealste Heilungsform, sowohl für die
prima, als die secunda reunio dar. Ein hiefür geeignetes Antisepticum
durfte, neben seinen antiseptischen Eigenschaften, keine Aetzwirkung
besitzen, wenn man dasselbe in dauernder Berührung mit der Wunde
lassen wollte.
In dem von Mosetig eingeführten Jodoform schien nun ein in
dieser Beziehung ideales Antisepticum gegeben zu sein. In die aseptische,
oder durch Benutzung eines anderen Antisepticums aseptisch gemachte
Wunde wurde Jodoform eingestreut, auf die Nahtlinie solches aufge-
pudert und die Wunde mit Jodoformgaze, Watte u. dergl. gedeckt.
Auf eine Wunde , auf der Jodoform lagerte , konnten alle mög-
lichen Unreinigkeiten gebracht werden, Urin, Fäces; die Asepsis wurde
nicht gestört. Dieser Vorzug des Jodoforms , dass es auch beständig
mit bacterienhaltigen Flüssigkeiten bespülte Wunden (Darm-, Mund-
und Rachenhöhle, Vagina etc.) aseptisch hält, ist ihm auch heute nicht
streitig gemacht worden. Dabei i3esitzt das Jodoform durchaus keine
ätzenden Eigenschaften, nur hat es einen abscheulichen Geruch.
Das Jodoform hat eine interessante Gescliiclite. NacMem es 1880 von
Mosetig empfohlen war, begann 1881 unter Könic/'s Führung der Kampf dagegen wegen
seiner Giftigkeit.
Die Erscheinungen der Jodoformvergiftung sind: Prequenterwerden des
Pulses, bei normaler oder erhöhter Temperatur, schlechter Geschmack im Munde, Appetit-
losigkeit, Dui'st, llissbehagen, das sich bald zu Unbesinnlichkeit, schliesslich förmlichen
Delirien (Verfolgungswahn mit Nahrungsverweigerung) steigert. Der Tod erfolgt durch
Herzschwäche. Bei der Autopsie linden sich parenchymatöse Degenerationen und Ver-
fettungen drüsiger Organe, der Leber, Nieren, Entartung des Herzmuskels, Veränderungen
im Centralnerveusystem. Diese Intoxication ist keine Jodvergiftung, sondern scheint
mit der chemischen Constitution des Jodoforms, das dem Chloroform analog gebaut ist
(CHJ3), zusammenzuhängen. Die Schwere der Jodoformvergiftung steht keineswegs
immer im Verhältniss zur Menge des verbrauchten Jodoforms. Wohl ist die Zahl der Ver-
giftungen häufiger gewesen bei Verwendung grosser Mengen (20 — 200 Grm.), doch sind
auch bei Mengen von l'^j., — 2 Grm. tödtliche Vergiftungen vorgekommen. Besonders
gefährdet sind schwächliche alte Leute mit ungenügender Herzaction. Ausserdem scheint
das Jodofonn, da es in Fett löslich ist, von fetthaltigem Gewebe massenhafter resorbirt zu
werden, als von fettlosen Flächen. Gegen die Vergiftung ist nur wenig zu thun; selbst
durch sorgfältiges Auswaschen der Wunde ist das fest in die Gewebe verfilzte Jodoform
nicht mehr zu entfernen , und da dasselbe sehr langsam ausgeschieden wird, bleibt die
Gefahr noch Wochen bestehen. Erhaltung der Kräfte ist die einzig erfüllbare Indication
der Therapie. Subcutane Kochsalzinfusionen sind nützlich. — Die Jodoformpanik ist wieder
verschwunden. Bei AVunden am Eespirations-, Digestions- und Urogenitaltractus ist das
Jodoform durch andere Mittel kaum zu ersetzen. Doch genügen minimale Mengen, um
die Wunde aseptisch zu halten. Bei Nieren- und Herzkranken wird Jodoform am besten ganz
vermieden. — Zum Nachweis von Jod im Harn wird er mit verdünnter Schwefel-
.säure und einem Tropfen rauchender Salpetersäure vermischt. Schüttelt man nun mit
Chloroform oder Schwefelkohlenstoü', so färben sich diese violettroth.
1887 wurde von lltijn und Rovsing ein anderer Angrifi' gemacht — das Jodo-
form sei wertlüos , weil es so wenig antibacterielle Kräfte besitzt , dass man im Jodo-
form|>ulver lebende pathogene Keime findet. Behring und de liuijter haben das
Jodoform gerettet, indem sie nachwiesen, dass die Eeagensglasversuche — schon
von Volkniann mit dem bekannten Worte zurückgewiesen: „Der menschliche Körper
ist kein Keagensglas" — nicht für Wunden zutreffen. Das Jodoform wird im Thier-
körper durch dessen Säfte zersetzt und dadurch wirksam (de Ruijter), besonders Blut
und übelriechender Eiter und septische Processe scheiden Jod daraus ab, es wirkt nur,
wenn es zersetzt wird (Bcliring), es bindet die Ptomai'ne, ist aber gegen Kokken macht-
los (de RuyterJ. 1887 stellten Bruns und Kauwerck die antituberculöse Wirkung fest,
192 Jii. <'ii|)iti^l. — Yi-A-U-t/Aingitn.
indem die Tulierkelbacillen aus mit Jodoform in Contact hofindlicfii;)! tuberculöson Granu-
lationen verschwinden. In neuerer Zeit hat Htuhenrauch (D.Zeitschr. f. Chir., Jld. XXXVII)
die antituberculöse Wirkung angezweifelt, er fasst die Jodoformwirkung als protrahirte
Jodwirkung auf. Die Geschichte des Jodoforms ist von Wayner {Lanf/enhack's Archiv,
Bd. XXXVII) dargestellt worden.
Das Bekanntwerden von Jodoformunglücksfällen rief das Bestreben wach , un-
schädliche Ersatzmittel für Jodoform zu finden. Die Salicylsäure, rein in
Pulverform (von H. Schmid empfohlen) ätzt , wenn auch nicht stark, bildet mit dem
Blut harte Bröckel, die schwer zu entfernen sind und unter welchen sich Secret staut.
Dabei ist die Salicylsäure in solchen Massen angewandt nicht unschädlich (T'nregel-
mässigkeiten des Pulses, coUapsartige Zustände, Apathie, Schlafsucht u. s. w.).
Kocher in Bern und Riedel suchten das Bismuthum subnitricum einzu-
führen. Die Wunde wird mit Ya — Iprocentigen Schüttelmixturen ausgewaschen und
wird dann eigenthümlicli trocken. Kocher glaubte so die Bildung von Wundsecret ganz
vermeiden zu können und nähte die Wunde erst 18 — 24 Stunden nach der Operation
zu („Secundärnaht"). Weder dieses — an sich ganz interessante — Verfahren der
Spätnaht, noch das salpetersaure Wismuth haben sich in der Praxis gehalten. Das
Wismuth ätzt die "Wunden , wird resorbirt und macht Vergiftungserscheinungen , welche
denen der anderen schwereren Metalle , vornehmlich des Quecksilbers, ähnlich sind —
schwere entkräftende Diarrhoen, einen schwarzen AVismuthsaum an den Zähnen, Zahn-
fleischentzündung u. A. m.
Naphthalin, Jodol (als Streupulver) haben nur vorübergehende Prüfung gefunden.
In den letzten Jahren hat die chemische Industrie mit grossem , aber bis jetzt
nur von geringem Erfolg gekröntem Eifer Ersatzmittel des Jodoforms herzustellen gesucht.
Jodoformal und Jodoform in sind weniger übelriechende, angeblich ungiftige
und zugleich kräftig wirkende Verbindungen des Jodoforms. {Reuter, D. Med. Wochen-
schrift, 1896, 30; Kölliker, Chir. Congr. 1896.) Die Anwendungsweise — als Gaze, Streu-
pulver, Salbe — ist ganz analog dem Jodoform. — Aehnlich das Jodjodof ormin.
Derma toi, eine Wismuthverbindung, ist ein gut austi'ocknendes Streupulver für
Beingeschwüre u. dergl. Seine antiseptische Kraft ist nicht gross. Aehnlich wirkt das
Thioform, gleichfalls eine Wismuthverbindung, als antiseptisches Streupulver in der
Thierheilkunde viel gebraucht.
Das Loretin (Jodoxychinolinsulfosäure) ist wenig giftig, reizlos, ziemlich stark
antiseptisch, wird in 27ooioß^ Lösung, als Salbe, Streupulver angewandt. Es ist sterüisirbar.
In neuester Zeit werden Nosophen (Tetrajodphenolphtalein) und sein Natronsalz
(Antinosin) als wenig giftig und dem Jodoform gleichwerthig und namentlich als geeignet
zur Erzielung eines aseptischen Schorfes mit geringer entzündlicher Infiltration u. A.
empfohlen (Binz und Zuntz , hieven). Nosophen ist sterüisirbar, es wird haupt-
sächlich als SVoigö Nosophengaze angewandt. Ein angeblich ungiftiger Ersatz ist ferner
Sanoform (Dijodsalicylsäuremethyläther), empfohlen von Langgaard und Arnheim.
Weitere Jodoformersatzmittel von massigem Werth sind Airol (Wismuthoxyjodid-
gallat) , Sozojodol, Salol (eine Verbindung von Carbol- und Salicjdsäure) , Aristol
(eine Verbindung von Jod mit Thymol), Europhen (eine Jodverbindung), Alumnol,
Tumenol. Sie werden am besten als Streupulver oder wie das Jodoform als 1 — W^/^ige
Emulsionen mit Gtycerin verwandt.
Bei der Modification der Verbandstoffe, der absorbirenden
Stoffe traten an Stelle der theuern Lister^ sahen Gaze verschiedene
Stoffe. Da man immer mehr die Vortheile völlig trockener Behandlung
der Wunde erkannte, so stellte man als erstes Erforderniss eines guten
Verbandstoffes eine starke, rasche und dauernde Anziehung für
Feuchtigkeit auf, eine hohe Absorptionskraft und die Fähigkeit, die
aufgesaugte Flüssigkeit schnell und in grosser Menge wieder zur Ver-
dunstung zu bringen. Die Wattepräparate sind theuer; so gut sie
Wasser aufsaugen, so schlecht absorbiren sie Blut und dickeren Eiter.
Watte durchzieht sich nie gleichmässig mit Wundsecreten. — Viel
billiger als Watte , aber ebenfalls schlecht resorbirend und starr ist
Jute (araucanischer Hanf). Als ein stark austrocknender Stoff wurde
von Esmarch - Neuher der Torf eingeführt. Die austrocknenden und
Verbandstoife. Sublimatantisepsis. 193
dadurch conservirfenden und Fäulniss beschränkenden Eigenschaften
desselben sind bedeutend, aber der Torf ist im Uebrigen wenig handlich
und unappetitlich.
Reinlicher sind die Moosverbände, welche besonders von Hage-
dorn und Leisrink empfohlen wurden. — Bei 100^ sterilisirt und ge-
trocknet, wird das Moos auf die durch eine Mulllage gedeckte Wunde
aufgelegt, lose, in Säcke eingenäht oder als comprirairte Moosfilz-
platten, die vorher etwas anzufeuchten sind; die letzteren saugen lang-
samer auf; in losen Massen verwandt , gibt das Moos unförmlich dicke
Verbände. Die Saugfähigkeit ist eine gute.
Recht brauchbare Verbandstoffe sind die aus weichem Holz ge-
schliffenen und geraspelten Präparate — Holzfaser, Holz watte u. dergl.
(Bnms- Wal eher). — Sie sind billig und resorbiren gut.
Einen interessanten, aber wieder ganz verlassenen Versuch stellte der anor-
ganische Wundverband ÄMwme^r,? dar, welcher alle seine Stoffe aus anorganischem
Material wählte und dieselben durch Glühhitze steriüsirte. Als absorbirende Stoife
dienten Sand, Asche, als Drainröhren Glaswollwieken u. s. f.
Das Oacum, Werg (gezupfte Scliiffstaue), absorbirt gut, bietet aber keine beson-
deren Vortheile.
Die Zellstoff watte — aus Watte und Papier — ist ein schönes,
elegantes Verbandmaterial, saugt aber ebenfalls nicht genügend Wund-
secrete auf, Avie die Watte. Dasselbe gilt von den Verbandstoffen aus
Papierstoffen.
Die Aufsaugefähigkeit für Wasser — wie man gewöhnlich Ver-
bandstoffe prüft — ist für die praktische Brauchbarkeit nicht ent-
scheidend, weil die Aufsaugefähigkeit für die dicken, zähen Wund-
secrete eine ganz andere ist. Nach Rönnberg wiegen je 10 Grm.
entfettete Watte mit Wasser vollgesogen 250 Glrm., Zellstoffwatte
23U Grm., Holzstoffwatte 150 Grm., Holzwolle 106 Grm., Gaze 96 Grm.,
Moostorf 82 Grm., Pappelsägespähne 73 Grm., Jute 70 Grm., Fichten-
holzsägespähne 53 Grm., Steinkohlenasche 21 Grm. Wundsecrete saugt
Gaze am besten auf, dann kommen Holzwolle, Moos und Holzfaser.
Inzwischen wurde das Sublimat, Quecksilberchlorid (Hg CI2) als
allgemeines Antisepticum eingeführt. Schon seit Jahren von Bergmann
als Grundlage seines antiseptischen Verbandes verwandt, hat es seine
allgemeine Einfülirung hauptsächlich Schede und Kümmell zu danken.
Das Sublimat ist weitaus das stärkste Antisepticum. Wenn es
stark ätzende und äusserst giftige Eigenschaften hat, so werden die
Nachtheile grosser Giftigkeit und starker Aetzwirkung (nur auf offenen
Wunden) durch die grosse Verdünnung reichlich aufgewogen, in der es
noch zuverlässig antiseptisch wirksam ist und angewandt werden kann.
Wenn z. B. Sublimat 3 — 4mal giftiger ist als Carbolsäure (Maximaldosen
0-03 und 0-1), so ist dafür das Sublimat noch in 250mal grösserer
Verdünnung (1:5000) ebenso stark antiseptisch wie Carbolsäure (1:20).
Die Concentration , in welchen Sublimat zum Dcsinficiren der Haut
u. s. f. angewandt wird, ist 1:3000—1:1000; jedoch sind auch
Lösungen von 1 : 5000 noch völlig wirksam.
Sublimatantisepsis lässt sich mit völlig unvorbereiteten Verband-
stoffen treiben. Es genügt, die Wunde mit einer 1 — 2fachen Mullschicht
zu bedecken , welche in eine Lösung 1 : 1000 — 1 : 5000 Sul)limat ge-
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Therapie. 2. Anfl. 13
194 ^^^- '-■'"■P^t''!- ~ Verletzungen.
taucht ist. Ein sehr schöner Verbandstoff ist die' von Kümmell ange-
gebene Sublimatgaze.
Käuflicher Mull wird in eine Sublimatlösung (Ilydrarg. bichlor. 50, Glyceriii
200'ü, Alkohol 795) für '/4 Stunde eingelegt, leieht ausgerungen , dann über Schnüren
aufgehängt, 15 Minuten getrocknet, zusammengefaltet nnd in gut verschlossenen Gläsern
(Präparatengläsern) aufbewahrt. Der Mull wird vorher durch Kochen mit Sodalö.sung
entfettet und entsäuert. Zusatz von Chlornatrium (.50 Grm. auf obige Lösungj zweckmässig.
Im Uebrigen kann man alle Verbandstoffe mit Sublimat impräg-
niren, Holzstoff*, Werg, Moos u. dergl. Die vorher imprägnirten und
nachher wieder getrockneten haben den Vorzug, trocken auf die \\'iinde
gelegt werden zu können.
Sublimat ist nicht eigentlich flüchtig, aber er verschwindet doch
allmählich aus den Verbandstoffen. Subliraatverbandstoffe sollen deshalb
nie länger als vier Wochen liegen.
Sublimat ist sehr giftig.
Sublimat zersetzt sich am Licht, an der Luft und mit den organischen und un-
organischen Bestandtheilen des gewöhnlichen Brunnenwassers im Laufe von Stunden
bis Tagen- zu unlöslichen und damit unwirksamen Quecksilberverbindungen. Haltbarer
sind die Verbindungen von Sublimat und Kochsalz. Eine sehr zweckmässige und
handliche Drogue für die Sublimatantisepsis sind die mit Eosin gefärbten An g er er' sehen
Sublimatkochsalzpastillen zu 05 und 1 Grm. Sublimat, mit denen sich sofort
Sublimatlösungen in jeder gewünschten Concentration mit "Wasser oder Alkohol herstellen
lassen. Haltbarer und wirksamer, aber weniger bequem sind auch die sauren Subli-
matlösungen (1 Sublimat zu 5 AVeinsäure, oder Salicylsäure , Salzsäure u. s. w.
0"5— 10 Grm. auf 1 Liter Sublimatlösung).
In Verbindung mit dem Eiweiss der Gewebe (Wunden) oder zu desinficirender
organischer Stoffe (Catgut, Seide, Knochendrains u. s. f.) bildet das Sublimat unlösliches
Quecksilberalbuminat und wird damit unwirksam. Dieser Umstand schränkt die desin-
ficirende Kraft des Sublimats für die Praxis in den genannten Eiclitnngen sehr ein,
ebenso seine Wirksamkeit bei parenchymatösen Injectionen, zugleich aber auch seine
vergiftende Wirkung. Durch die Bildung einer unlöslichen Hülle von Quecksilberalbuminat
vermag das Sublimat weder in das Innere von Catgutfäden oder Seidenfäden zu dringen,
noch vermag es compacte organische Stoffe (gangränöse Gewebe bei Frostgangrän, Aus-
wurf, Fäces u. dergl.) zu desinficireu.
Die Erscheinungen der Sublimatvergiftung sind die der acuten Quecksilber-
vergiftung. Appetitlosigkeit, quälende Diarrhoen — erst schleimig, schliesslich bluthaltig
und grosse Epithelfetzen enthaltend — mit starken kolikartigen Leibschmerzen , Mast-
darmtenesmen , Mund-, namentlich Zahnfleischentzündung, allgemeine Mattigkeit, ohne
Fieber ,, mit etwas erhöhter Pulsfrequenz , dies sind die Erscheinungen der Sublimat-
intoxiCation. Sublimatintoxicationen sind bei Scheidenausspülung Schwangerer öfter,
bei chirurgischen Operationen fast nie vorgekommen. Die Behandlung besteht,
nachdem der Darm durch Oleum Ricini gereinigt ist , in Opiaten und Mundwässern
(Tinct. Ratanhae, Myrrhae u. dergl., Solutio Kali chloi'ici IO'O/300'O, nicht schlucken!),
Stimulantien, warmen Schwefelbädern (öO'O Kalium sulfuratum).
Ein weiterer fruchtbringender Gedanke lag den Moditicationen des
antiseptischen Verbandes zu „Dauer verbänden" zu Grunde. Sicher ist
es das höchste Ziel des Chirurgen, die Wunde von dem Augenblicke an,
wo sie vereinigt wird, bis zum Zeitpunkt ihrer gänzlichen Heilung völlig
in Ruhe zu lassen und jeden Verbandwechsel, wo doch die Wunde
durch Ablösen von Verbandstoffen u. s. f. immer gestört wird und wo
die Möglichkeit einer Spätinfection gegeben bleibt, stets auszuschliessen.
Schon Lister hat dieses Princip aufgestellt in dem Satze — es sei das
Beste für die Wunde, to be let alone (allein gelassen zu werden). Die
Gefahr der „Spätinfection" (bei den Verbandwechseln) ist allerdings sehr
und mit Unrecht übertrieben worden. Nur durch grobe Fehler (ünrein-
lichkeit, Verletzung der schützenden Granulationen u. dergl.) ist eine
Infection beim Verbandwechsel möglich.
Dauerverband. Asepsis. ]^95
Die Technik des Dauerverbandes ist namentlich von Neuher ausgebildet.
Für Unterbindung und Naht bot sich im Catgut ein Material , um das man sich nicht
weiter zu kümmern braucht. Zur Ableitung der AVundsecrete bediente man sich der
resorbirbaren Knochendrains, Röhren aus in Salzsäure decalcinirter Knochensub-
stanz. Die Knochendrains sind nicht zuverlässig; in eiternden Wunden werden sie oft
zu früh resorbirt , in nicht eiternden, p. p. i. heilenden zu langsam und unvollständig.
Neuber suchte sie zu vermeiden und durch Hautdurchlöcherung (mit einer Art Kuopfloch-
zange). Offenlassen der Wundecken , Einstülpen von Hautzipfeln in die Wundecken die
Haut zu canalisiren und so den Wundilüssigkeiten den Weg nach aussen frei zu halten.
Dann ging man noch einen Schritt weiter , liess jede Drainage weg und ver-
einigte die Wunde in ihrer ganzen Ausdehnung durch verlorene Nähte von dem Grund
der Wunde aus. Diese Art der Wundbehandlung ist wohl das Ideal dessen, was wir
anstreben. Sie ist jedoch nicht für alle Fälle verwerthbar und nur in Hospitälern
auszuführen, wo auch die kleinste Unregelmässigkeit des antiseptischen Apparats mit
völliger Sicherheit anszuschliessen ist. Sonst bekommt man leicht Verhaltungen in der
Tiefe und muss die Wunde wieder aufreissen , wenn nicht noch Schlimmei'es passirt.
Eines schickt sich nicht für Alle. Für den praktischen Arzt ist die partielle Occlusion,
d. h. Festhalten an der Drainage und ein , wenn auch seltener Verbandwechsel das
Beste. — Dasä sich zu Dauerverbänden die Jodoformverbände und die stark austrocknenden
Verbandstoffe (Holzstoff u. dergl.) besonders gut eignen, sei nur nebenbei bemerkt. Mit
Kocher komme ich immer mehr auf den Standpunkt, nicht den ersten mit Blut durch-
tränkten Verband, sondern den am 2. oder 3. Tag angelegten zweiten Verband als Dauer-
verband liegen zu lassen.
Einen Vorläufer hatte der Dauerverband in dem Watteverband von Guerin.
Guerin legte auf die vereinigte Wunde ungeleimte Watte und sobald ein Secretfleck
durchkam, wurde neue aufgepackt u. s. w. Die Ergebnisse waren — in der voranti-
septischen Zeit — sehr ungleiche und unsichere. Das Verfahren lehnt sich an den
Pasteur'&ck&n. Versuch, die Miki'oorganismen durch Wattefilter zurückzuhalten, an.
Mittlerweile hatte sich der Uebergang von der Antisepsis zur Asepsis
vollzogen. In England war die Opposition gegen die Verwendung von
Antisepticis , besonders bei Bauchoperationeu. nie verstummt (no car-
bolism, no Listerism — Lawson-Tait, GranviUe -Bantock). In Deutsdi-
land wurde die Wendung zur Asepsis vorbereitet durch die 1880 be-
gonnenen Versuche F. Koch's über Desinfection. Ihr Ergebniss war
kurz das, dass durch Desinfection auf chemischem Wege Keinifreiheit
nur schwer und unsicher erreicht wird , während die trockene Hitze
(140 — 150'') bessere Ergebnisse erzielt, der strömende Wasserdampf
von 100° alle anderen Verfahren an Schnelligkeit und Sicherheit der
Sterilisation, d. h. der Abtödtung von Mikroorganismen und der wider-
standsfähigsten Sporen weit hinter sich lässt.
Dazu kam die immer mehr sich befestigende Ueberzeugung von
der Giftigkeit selbst kleinster Mengen von Antisepticis.
Unter Anderen hat Senger {Langenbeck\s Archiv, Bd. XXXVIII) gezeigt , dass
Sublimat Glomerulo-nephritis mit Kalkablagerungen, Leberverfettung und starke
Colitis erzeugt; Jodoform Nephritis (trübe Schwellung), hämorrhagische Enteritis, Ver-
fettung des Herzmuskels. Bei Carbolsäure hat man Degeneration in der Niereurinde,
starke Schwellang der Niere, diffuse Degeneration und Verfettung der Leberzellen. Die
Vergiftung mit Borsäure hat viel Aehnlichkeit mit Jodoformvergiftung, ausserdem noch
Darmblutungen, Milz- und Herzdegeneration. Die Salicylsäureintoxication ist ähnlich
der Carbol- und Sublimatintoxication, nur kommt noch hämorrhagische Nephritis hinzu.
Der Erkenntniss der Unsicherheit und der Gefährlichkeit
der Antiseptica schloss sich der durch die Einführung der trockenen
Operationsmethode (Landercr \%^^) gegebene praktische Beweis der
Entbehrlichkeit antiseptischer Flüssigkeiten an. So wurde es
der aseptischen Methode , um deren praktische Einführung und theore-
13*
196 III- (^^pitel. — Verlotzungon.
tisclic BegTÜncluii»' sich v. Bergiiumn und SchimimdhuHch besonders ver-
dient gemacht haben, leicht, sicli in Deuiscliland einzubürgern.
Die Fragen, ob eine Desinf'oction frischer oder älterer Wunden überhaupt möglicli
sei, ob deshalb jeder Desinfectionsversuch zu unterlassen sei, sind auch lieute noch nicht
zur völligen Entscheidung geführt. Dass in tadellos aseptischen "Wunden in den ersten
Stunden Staphylokokken sich finden können , hat Wülfler (Chir. Centralbl., 1895. 3ß)
gezeigt ; in späteren Stunden finden sich keine mehr , weil sie durch die bactericideii
Eigenschaften des Wundsecrets und der Gewebe vernichtet werden.
Schimmelbusch kommt (Chirurg. Congr. 1893) zu dem Schluss, dass jede De.s-
infection einer Wunde unnütz, weil unmöglich sei. Wird eine Maus mit hochvirulenten
Milzbrandbacillen oder Streptokokken am Schwänze geimpft, so muss der Schwanz
mindestens binnen 10 Minuten amputirt werden, um Allgemeininfection zu verhüten.
Alle Desinfectionsversuche sind nutzlos, auch Ausbrennen mit Pacquelin'fichem Brenner.
Schon in weniger als einer Viertelstunde sind die Mikroorganismen in Leber, Milz etc.
nachzuweisen. Im Gegensatz hiezu fand Henle ( Langenheck' s Archiv, 49), der nicht
mit hochvirulenten Culturen, sondern mit Eiter arbeitete, dass man mit Sublimatlösungen
(1 : 1000) 3 Stunden nach der Infection. in einzelnen Fällen noch 8 Stunden p. inf. die
Wunde wieder aseptisch machen könne.
Ebenso hat Messner (Chir. Congr. 1894) angegeben, dass bei aseptischer Behand-
lung von Eiterungen Gangrän und tödtliche Sepsis eintrete, während bei antiseptischer
Behandlung (S^/^ige Carbolsäure) (selbst nach 18 Stunden) der Process local bleibe. Seine
Versuche konnte Reichel (Langenheck' s Archiv, 49) nicht bestätigen, er hält nichts
von den Antisepticis , höchstens von lockerer Tamponade mit Jodoformgaze , nachdem
Alles breit gespalten ist. Vergl. S. 206.
In der Praxis verzichtet die aseptische Wundbehandlung
auf jeden Versuch einer Desinfection der Wunde und ist
allein auf Verhütung der Infection gerichtet, und zwar durch
physikalische (thermische) Sterilisation, nicht durch chemi-
sche Desinfection.
Die Vorschriften der Asepsis sind heute etwa folgende:
Der Operationsraum sei so leer als möglich, ohne todte Staub-
winkel, mit abwaschbaren, fugenlosen oder eng gefugten Wänden und
Fussboden (Boden ans Terrazzo oder Linoleum, weniger gut Plättchen,
die Wände aus Porzellankacheln, Mettlacher Plättchen oder Email- oder
Oelfarbenanstrich). W"o es möglich ist, sollen septii-che und aseptische
Processe in verschiedenen Räumen operirt und verbunden werden.
Operirt man in einem leeren, gewöhnlichen Zimmer, so ist es
zwei Tage vorher zu scheuern , die Wände sind mit Brot abzureiben.
Das Zimmer ist dann abzuschliessen (bei offenen Fenstern), damit die
Keime sich auf den Zimmerboden senken können. Reinigen , Aus-
fegen etc. unmittelbar vor der Operation vermehrt den Bacillengehalt
sehr, schadet also, statt zu nützen. Einen (allerdings nicht ganz einwand-
freien) Operationsraum gibt Fig. 120 nach Wolzendorff.
Der Operationstisch soll möglichst einfach gebaut sein, mit
wenig Fugen und Winkeln, überall leicht zu reinigen und womöglich zu
poliren. Ich benütze einen Tisch ganz aus Metall, mit einem verschieb-
baren Rücken- und Kopftheil, der zugleich zur Beckenhochlagerung nach
Trendelenburg verwendet werden kann. Abnehmbare Beinhalter sind
anzubringen. Als Unterlage für die Kranken dienen 3 fingerdicke Kaut-
schukplatten, die sehr leicht zu reinigen sind.
Tische mit Glasplatten sind sauber nnd einfach. Rinnen zu Spül-
vorricbtungen sind unnöthig, da heutzutage Niemand mehr — ausser bei
einzelnen gynäkologischen Operationen — spült. Sie sind unnöthige
Schmutzfänger. Ebenso compliciren Heizvorrichtungen (Doppelboden des
Technik der aseptischen Wundbehandlung.
197
Lagers, wo der Kranke liegt) den Operationstisch in unnöthiger Weise.
Räder unter den Füssen , wenigstens am Fassende sind gleichfalls
zweckmässig.
Gekleidet ist der Kranke in ein reines (vorher gebrühtes oder
sterilisirtes) Operationshemd, sterilisirte Operationshosen (aus Hemden-
tuch), eine sterilisirte Mütze, oder der Kopf wird mit einer in Sublimat-
lösung getauchten Binde eingewickelt.
Die Reinigung des Operationsfeldes ist ein schwieriger
Punkt. Hat doch Mittmmm {Virchow's Arch., 123) auf der Haut 84 Arten
Fig. 120.
von Mikroorganismen , darunter 3r> verschiedene Mikrokokkenarten ge-
funden. Häutig findet sich der Staphylococcus albus, viel seltener der
Staphylococcus aureus {Lauenstein, Chir. Congr. 1 896). Lauenstein kommt
auf Grund seiner Untersuchungen zu ziemlich pessimistischen Anschau-
ungen über die Möglichkeit, die Haut des Kranken zu desinticiren.
Unter 124 Fällen gelang es 49mal, die Haut keimfrei zu machen.
Keimgelialt der Haut störte die Prima intentio jedoch nicht innner.
Die Dcsinfcction wurde zum Tlieil nur Imal. zum Tlieil bis zu ;)mal
gemacht," daneben wurden Umschläge mit Sublimat. Chlorwasser und
.öO'VnigerCreolinvasogene gemacht. Sainter will nie pathogene Organismen
auf der Haut gefunden haben, was ich nach meinen eigenen Versuchen
nicht bestätiiicn kann.
]^98 11^- f-'apitel. — Vcrlctzuiif^en.
Wo es möglich ist, sind melirfaclic warme Bäder mit Seifenab-
reibunji;' (eventuell Schmierseife) zu machen. Auf heissem Wcj^e herge-
stellte Seife ist keimfrei (v. Eisehbenjj^ anf kaltem Wege dargestellte
nicht sicher. Auch die Schleich'mhe Marmorseife wird empfohlen. Anti-
septische Umschläge (Sublimat 1 : 5000 — 1 : 3000j sind zweckmässig.
Die eigentliche Desinfeclion beginnt zunächst mit einer gründ-
lichen Seifenabreibung des ganzen Operationsgebietes und seiner
Umgebung. Seit langen .Jahren bediene ich mich hiezu nur der (vorher
sterilisirten) groben Holzfasern in Bündeln, womit der Körper abge-
scheuert wird, und die nachher weggeworfen werden. Bürsten werden
inticirt und können weiter inficiren , wenn man sie hiezu braucht. Es
folgt dann ein sorgfältiges Rasiren, das ausser den Haaren die obersten
bacterienreichsten Epidermisschichten wegnimmt , dann folgt Abreiben
mit sterilem Handtuch. Darauf lasse ich mit sterilen Wattebäuschchen, die in
Aether (oder Sublimatalkohol 1 : 1000) getaucht sind, abreiben. Schliess-
lich kommt eine Abreibung mit in Sublimatlösung (1 : 3000 — 1 : 1000)
getauchter Watte.
Das Operationsfeld wird mit sterilisirten Handtüchern, die mit
Handtuchklemmen oder Charriere'schen Pincetten verbunden werden,
reichlich umlegt. Wo sie nicht zur Verfügung stehen, umlegt mau mit
sterilisirten oder in Sublimatlösung (1 : 3000) getauchten Mullcompressen
oder legt ein grosses, in der Mitte gelochtes sterilisirtes Mullstück darüber.
Operateur und Assistenten nehmen am besten täglich ein Bad;
ein längeres warmes Bad mit Seifenabreibung gehe längerdauernden
Operationen voraus oder folge inticirenden Eingriffen. Mir haben sich
zur Vermeidung der Infection nach der Behandlung septischer Processe
Vollbäder oder Armbäder mit Schwefelleber (Kalium sulfuratum 50 Grm ),
dessen antiseptische Kraft nach meinen Versuchen nicht gering ist, sehr
l)ewährt. Sie kleiden sich, nachdem die (nicht wollenen I) Hemdärmel bis
zur Schulter aufgekrempelt sind und die erste Desinfection der Arme
und Hände vollzogen ist, in sterilisirte Operationsmäntel, die vom Hals
bis zu den Knöcheln reichen.
Der Desinfection der Hände ist die allergrösste Sorgfalt zu
widmen. Wer die Instrumente sterilisirt und keine Schwämme braucht,
l;ann seine Wunden nur durch die Hände (und asteriles Ligaturmaterial)
inficiren. Ein nicht genug zu beachtender Punkt ist die Prophylaxe
der Infection. Einfettung oder Anziehen eines Gumraitingers schützt den
ringer bei der Untersuchung schmutziger Processe in Scheide und
i\[astdarm ; eiternde oder gar erysipelatöse Wunden berührt man nicht
oder palpirt mit einem Wattebäuschchen. Nach jeder septischen Operation
(lesinticirt man sich sofort so gründlich, wie vor einer aseptischen.
Die Fingernägel sollen nur 1 Mm., höchstens 15 Mm. lang und gut
abgefeilt sein. Vor der Operation werden die Hände und Arme 3 Minuten
lang in möglichst warmem Wasser mit Bürste und Seife abgebürstet,
wobei jeder Finger, jeder Nagelfalz einzeln zu berücksichtigen ist. Nach-
dem schon vor dem Waschen der (wenn überhaupt vorhandene) Nagel-
schmutz mit dem Nagelräumer entfernt wurde, werden während des
^Vaschens nochmals sämmtliche Unternagelräume, die nach Fürbr'mger,
Mittmann und Prevndelsherger die bacterienreichsten Stellen der Hände
«ind, mit dem metallenen ausgekochten Nagelräumer ausgereinigt. Dann
werden die Hände und Finger mit sterilisirtem Handtuch oder Gazetupfer
Teclinik der aseptischen Wiindbehandlung. 199
pünktlich abgeriebeu (hiebei gehen grosse Mengen Epithel ab). Jetzt
wird der Operationsmantel angezogen.
Nun folgt auf's Neue eine Seifen abbürstung von 3 Minuten , ein
Abreiben mit dem sterilen Handtuch und dauii durch 2 Minuten Ab-
bürsten mit Bürste und 80%igem Alkohol. KünnueU und Fürhringer
fügen dann noch eine Abwaschung in Sublimatlösung (1: 1000), Kocher
und Tavel in saurer Sublimatlösung (2 : 1000) hinzu. Diese ist nach meiner
Erfahrung unnöthig. Kocher bürstet zuletzt die Hände mit steriler
0'7%iger Kochsalzlösung oder Taverscher Lösung. Auch während der
Operation haben stets Becken mit heissem Wasser und .Alkohol, oder
mit l'^/ooiger Sublimatlösung bereit zu stehen, um eine — kurze — Rei-
nigung der Hände zu ermöglichen (von Blut, Eiter, oder nach Berüh-
rung nicht steriler Gegenstände).
Die Gesammtdesinfection der Hände dauert bei mir nie unter
6 Minuten, im Durchschnitt 10 Minuten.
Die durch die Praxis erwiesene Desinfectionskraft des Alkohols ist sehr ver-
schieden gedeutet worden. Koch hat gezeigt, dass absoluter Alkohol Milzbrandsporen über-
haupt nicht zu vernichten vermag. Alkohol ist also nicht als Desinficiens anzusehen. Filr-
hringer betont die fettlösende, Beinicl-e die keimtödtende (?) Wirkung, Krönig glaubt,
dass durch die adstringirende Wirkung die Bacterien in der Haut zurückgehalten werden.
Aldfeld glaubt, dass der Alkohol nur bactericid wirkt, wenn die Bacterien wasserhaltig
sind, d. h. nach gründlicher Waschung. Jedenfalls wird zum Schluss der Desinfection die
Hand durch die Verwendung des Alkohols in einer keimfreien Flüssigkeit abgespült.
Allerdings hält auch das gewöhnliche Waschwasser keine pathogenen Keime.
Auch bei der Fürbrinijfer - Kämm eil' sehen Methode ist ein guter
Theil der Wirkung der längerdauernden mechanischen Abscheue-
rung zuzuschreiben. Die mechanische Reinigung stellen Sänger u. A.
in den Vordergrund, der Abreibung mit weissem Silbersand emptiehlt.
Allerdings desinficirt er die Hände erst mit Kali hypermanganicum
(1 : 1000) und entfärbt dann mit Oxalsäure.
Die Hände werden bei Alkoholgebrauch nur wenig rissig, man
erhält sie weich durch Lanolineinreibung oder durch Einreibung mit
Lanolinspiritus (5 — löVo Lanolin). Glycerineinreibungen sind nicht
zweckmässig. Auch Abreibung mit verdünntem Seifenspiritus nach
Schluss der Operation conservirt die Hände.
Die Handbürsten (aus vegetabilischen Fasern) sollen nie zur
Abscheuerung des Operationsfeldes benutzt werden (hiczu Holzfaser),
sondern nur zur Reinigung der Hände. Neu werden sie eine halbe
Stunde in strömendem Dampf sterilisirt, doch vertragen sie auch ein
kurzes Kochen von einigen Minuten. Sie liegen dann dauernd in Glas-
gef ässen oder Emailkästchen (nach Schimmelbusch) mit Deckel in l"/ooiger
Sublimatlösung. Nach der Operation werden sie in heissem Wasser
ausgewaschen oder kurz gekocht und kommen sofort wieder in Subli-
matlösung. Sie sind so gehalten nach meinen Untersuchungen frei von
pathogenen Mikroorganismen.
Die Instrumente werden am besten nach Schimmcllmscli in
1 — l',2Voic^er Sodalösung (krystallisirte Soda) 10 Minuten gekocht.
Doch genügt bei kleinen Instrumenten schon ' ^ IMinute (Vj. In gewöhn-
lichem Wasser rosten die Instrumente rase!). Man l)e(lient sich hiezu des
ScJii)i)i))elljif.srJi'Bchen Sterilisators (von Ld/ffensrhlügrr in lierlin) mit ein-
gesetzten Drahtkörben, die an Holzgriffen herausgehoben werden und
sofortiges Trocknen der Instrumente erni()glichcn (Fig. 121). Ein Fisch-
200
III. Caintel. — Verletzungen.
kocher aus Email, scliliesslicli ein gewöhnlicher Kochtopf mit ausheb-
barem Einsatz genügen auch.
Braatz hat einen Sterilisator angegeben (Schmucker, Heidelberg),
in dem zugleich auch in einem zweiten oberen Einsatz Verbandstoffe
sterilisirt werden können. Billige Apparate zum Intrumenteabkochen
haben Körte, Kronacher u. A. angegeben.
Nach der Operation werden die Instrumente in heisses .Seifen-
wasser eingelegt, damit abgebürstet, mit sterilen Tüchern abgetrocknet
und an einem warmen Ort rasch getrocknet. — Nur gut vernickelte
Instrumente halten die aseptischen Proceduren auf die Dauer aus.
Die Instrumentenschale (aus Glas, Porzellan, Metall) wird am
besten ausgekocht; ist dies nicht möglich, so wird sie ausgeseift, steht
Fig. 121.
Instrumenten-
schale
2 Stunden mit l°/noiger Sublimatlösung gefüllt, wird mit sterilen Tupfern
ausgetrocknet und zum Schluss mit Aether ausgerieben. Ich nehme die
Instrumente trocken aus trockener Schale und lasse sie, wenn nöthig,
während der Operation in sterilisirtem Wasser oder Kochsalzlösung
abspülen und mit sterilen Tupfern abreiben oder nur letzteres.
Sodalösung macht die Instrumente schlüpfrig, Kochsalzlösung ist
angenehmer. Aber es ist alle Flüssigkeit überflüssig, ganz besonders
VaVoige Lysol- und IV2— ^Voige Carbollösung. Bis zum Beginn der
Operation deckt man ein steriles Handtuch über die Instrumentenschale.
Als Material zum Abtupfen der Wunde sind Schwämme
gänzlich zu verwerfen (Desinfection s. pag. 188), auch für Laparo-
tomien. Die meisten Chirurgen bedienen sich der Tupfer, kleiner vier-
eckiger Stückchen von 1 Stunde lang im strömenden Dampf sterili-
sirtem Mull (die käuflichen sterilisirten Verbandstoffe sind nicht absolut
Technik der aseptischen Wundbehandlung.
201
zuverlässig) oder aus frischem selbst zubereitetem Sublimatmull (s,
pag. 194). Der käufliche Sublimatmull ist nicht verlässlich. (Nach
Schlange, Langenhech's Archiv, 36, ist kein Verbandstoff steril, Schimmel-
pilze finden sich immer, oft auch verflüssigende Bacterien.) Im Noth-
falle kann man auch gut ausgedrückte Mulltupfer nehmen, die (womög-
lich 2 Stunden) in wässeriger Sublimatlösung 1 : 1000 gelegen haben.
Kocher kocht die Tupfer Ya Stunde in Ttwerseher Lösung (T^ö^/oo Koch-
salz, 2'5%o calc. Soda). Die ganz reizlose Flüssigkeit tödtet kochend
Mikroorganismen in wenigen Minuten. Man kann auch Holzfaser, Holz-
watte in Mull einbinden und sterilisiren (Fig. 122).
Wcdthard empfiehlt für die Bauchhöhle feuchte Asepsis (Eintauchen der Com-
pressen in TaveVsch.^ Lösung), weil die obersten Zellschichten der Seiosa bei trockenen
Compressen durch Trockennekrose zu Grunde gehen, so dass Adhäsionen, Ileus etc. durch
die' Verklebung entstehen können. Demhroivshi [Langenheck' s Archiv, 37) fand nach
Fig. 122.
längerem Eeiben mit der Zahn-
bürste die Peritonealserosa glatt.
Die Peritonealserosa ist also
nicht so sehr empfindlich. Ich
treibe seit 10 Jahren trockene
Asepsis in der Bauchhöhle und
habe bis jetzt nie eine operative
Peritonitis gehabt. Zu meiner ,;i
grossen Freude hat sich der Gy- li
näkologencongress von 1895 in
seiner Mehrheit für die trockene
gegen die feuchte Asepsis in der
Bauchhölile ausgesprochen.
Zur Herstellung steriler Flüssigkeiten (0"7"/oi8"e'' Kochsalzlösung,
TaceV%Q\\tx Lösung) bedient man sich des eine Kühlschlange enthaltenden
Wassersterilisators nach Fritscli-Lautenschläger (Fig. 12;3).
Ueber das Ligatur- und Nahtmaterial ist noch keine Ueber-
einstimnuing erzielt. Dem Geeiste der Asepsis ents])riclit eigentlich nur
die Seide, die allein eine energische Sterilisation aushält.
Die chinesische („Turnerseide" ist theiirer) Seide wird in lYa-^Vuig'Gi"
Sodalösung oder YVnvi'scher Lösung 8 — 10 Minuten lang gekocht, wobei
bei starker Verunreinigung die Sodalösung zu wechseln ist , dann
3 — 5 ^Minuten in geufjhnlicliem kochendem Wasser. Sie ist dann steril.
Die rein aseptische Hohandlung dci- Seide hat mich nicht t»efri(;digt.
Dem l'i'iiici|i /.iilichc Imhc ich sie iiacli dem .\iiskoclieii in '.lO'Voioem
202 in. Capitel. — Verlctzuii>,'i;n.
Alkoliol (der nach R. Koch Milzbraridsporen iiborlianpt niclit /n tödten
vermag) aufbewahrt, ha])e aber öfters (allerdings ungefälirlicbcj Fuden-
eiterungen gehabt. Jetzt bewahre ich sie in V2'*/oige''" »Subliniataltcoliol auf
und verwende sie direct daraus. Man schützt sich so auch gegen zufällige
Infection der Fäden während des Zureichcns. Seitdem habe ich fast nie
wieder eine Ligaturausstossung oder die Eiterung einer Naht gehabt. Auch
Kocher ist durch die rein aseptische Behandlung der Fäden nicht befriedigt
worden. Diese Behandlung der Seide entspricht allen Anforderungen,
die man an ein aseptisches Unterbindungsmaterial stellen kann.
Die Fäden bleiben am besten auf Glasspulen gewickelt in mit
0"5°/oigem Sublimatalkohol gefüllten Fadengläsern (von Lautenschläger),
aus denen sie durch kleine Löcher vorgezogen werden.
Weniger befriedigt hat mich die von Lautenschläger gelieferte
Fadensterilisationsbüchse aus Nickelblech nach Schimmelhusch.
Das Kochen der Seide in ö^/oiger Carbollösung durch 10 Minuten
(Czerny) genügt nicht, weil die Seide nicht genügend entfettet wird.
Die alleinige Behandlung mit Sublimatlösung (selbst 1 : lOOj ge-
nügt nicht, weil die oberflächliche Schmutzschicht — mit Sublimat ein
unlösliches Quecksüberalbuminat bildend — die in den tiefen Schichten
des Fadens sitzenden Mikroorganismen vor Einwirkung des Sublimats
schützt (Geppert). Diese keimen , wenn das Sublimat in der Wunde
resorbirt ist. nach Tagen aus und geben Anlass zu Spätinfectionen
(vergl. pag. 143).
Für das Catgut als Unterbindungsmaterial stehen uns die ver-
schiedensten Methoden zur Desinfection zur Verfügung. Ich habe in
Uebereinstimmung mit zahlreichen Chirurgen seit 13 Jahren keinen
Catgutfaden mehr verwendet.
Wie schwierig Catgut zu sterilisiren ist, geht aus der grossen
Zahl von Bacterien hervor, die darin gefunden sind. Nach Lauenstein
(Chirurg. Congr. 189.")) waren von 149 Proben sogenannten sterilisirten
Catguts 35 nicht steril. Er fand 37 Arten von Bacterien im Catgut;
meist fand sich Bacillus subtilis, doch auch Mikrococcus tetragenus und
Staphylococcus albus. Zazaczkowski (Chirurg. Centralbl., 1896, Nr. 1)
fand ausser dem von Brunner (Langenbeck's Archiv, 42) gefundenen
Catgutbacillus a noch einen specifischen Catgutbacillus ß. (Zazaczkowski
legt Catgut 24 Stunden in Ol. juniperi, 12 Stunden in Aether, 60 Stunden
in 2Yooige Salzsäurelösung oder sterilisirt 2V2 Stunden trocken bei 150°
nach Reverdin-Braatz.) — Kocher (Chirurg. Congr. 1895) hatte, solange,
er Catgut brauchte, nur in 35% tadellose prima reunio, mit Seide in
8570/0. In den übrigen 157o beschuldigt er Luft und Hände des
Operateurs. — Popjjert (Chirurg. Centralbl., 1896, Nr. 26) glaubt an
eine Catguteiterung ohne Mikroorganismen auf chemotaktischem Wege.
Volkmann glaubt 2mal durch Catgut Milzbrandübertragung gesehen
zu haben.
Die gebräuchlichste Art, Catgut zu desinficiren, ist z. Z. die nach
V. Bergmann und Schimmelbusch. I)as Catgut wird auf sterilisirte Glas-
platten oder Glasrollen aufgewickelt, dann in Aether 24 Stunden lang
entfettet, hierauf wird es in Sublimatalkohol (10 Sublimat, 800 Alkohol
absolutus, ^00 Aq. dest.) gelegt und dieser (mindestens 2mal) so lange
nach je 24 Stunden gewechselt, bis keine Trübung mehr entsteht.
Schliesslich kommt das Catgut in gewöhnlichen Alkohol absolutus (mit
Sterilisation von Seide und Catgut. 203
Glycerinzusatz bis 20%, um ein geschmeidigeres Catgut zu erhalten).
Aufbewahrung in Sublimatalkohol ist sicherer.
Eine einfache Zubereitungsweise ist die von Kocher. Das Catgut
kommt 24 Stunden in Oleum Juuiperi (Wacholderöl) und wird dann
in 95Voigem Alkohol (eventuell mit Glycerinzusatz) aufbewahrt (s. oben).
DieTrockensterilisationdesCatgut {Kümmell, Döderlein, Tscherning u . A .)
befriedigt nicht besonders. Das in Alkohol durch 24—48 Stunden entfettete Rohcatgut
wird in Glasschalen, zugeklebten Briefcouverts, Fliesspapier im Heissluftofen innerhalb
3 Stunden allmählich auf 130" erhitzt und diese Temperatur durch 3 Stunden festgehalten.
Aufbewahrung in Sublimatalkohol (eventuell mit Nachbehandlung in Ol. Juniperi) oder
trocken (Mikulicz). Oder Abreiben mit Tupfern mit grüner Seife, Entfetten in Aether,
dann Alkohol absolut., dann 2— 3 Stunden Heissluftsterilisation , 1—2 Tage in 17ooiger
wässeriger Sublimatlösung, Aufbewahren in 17o,jigem Sublimatalkohol (+ 57o Glycerin).
Brunner sterilisirte das Catgut in Xylol bei 100" (3 Stunden) oder in kochendem Xylol
(130 — 140'') (1'/.,— 2 Stunden), Auswaschen in Alkohol, Aufbewahren in Sublimatalkohol.
In neuester Zeit wird (Kossmann) das Formalin zur Sterilisation
des Catgut benützt. — Halbem und Hlaicacek (Wiener klin. Wochen-
schrift, 1896, Nr. 18): Catgut auf Glasspulen 12 Stunden in 5— lOVoiger
Formalinlösung. Vi Stunde kochen in Wasser, Aufbewahren in P/ooigem
Sublimatalkohol. — Hofmeister {ßnxm^. Q,o\izv. 1896): auf Glasplatten
in einfacher Schicht gewickelt, 12—48 Stunden in 2— 4o/oiger Formalin-
lösung, Auswässern in fliessendem Wasser mindestens 12 Stunden,
5 — 20 Minuten in Wasser kochen , nachhärten und aufbewahren in
Alcohol absolutus (-f 4Vo Acid. carbol. oder I7oo Sublimat + 5%
Glycerin).
Hofmeister gibt in den Beiträgen zur klinischen Chirurgie, Bd. XVI,
Heft 3 eine genaue Uebersicht der Catgutsterilisation und weist die
Unzulänglichkeit der SauVmh^n Sterilisationsmethode nach (das auf
Glasplatten befestigte Catgut wird 15 Minuten lang in einem besonderen
Apparat einem siedenden Gemisch von Alcohol absolut. 850 0, Acid.
carbol. liquef. 50"0, Aqu. dest. 1000 ausgesetzt).
Das heute sehr selten verwandte, derbere und schwerer resorbir-
bare Chromcatgut stellt Mac Eioen in folgender Weise her: Rohes
Catgut wird 48 Stunden in eine Mischung von 5 Theilen Glycerin und
1 Theil 20'',oigei' wässeriger Chromsäurelösung eingelegt, ausgewässert
und dann in 10 — 20^'oigem Carbolglycerin aufbewahrt. Oder trocken
sterilisirtcs Catgut kommt 48 Stunden in lOVoig'cs Carbolglycerin, dann
5 Stunden in ^/^^/o^g^ Chromsäurelösung, Aufbewahrung in l^oigem
Suhl imatalko hol.
Die Kesorptionsdauer des Catgut ist eine verschiedene {Tillmanns,
Halhvachs, v. Lcsscr ; vergl. pag. 112). Vor dem 22. Tage findet man
nur wenig Yeiänderung, Reste liat man noch nach IY2 und 2 Jahren
gefunden. Es hält sich also viel länger, als z. B. die Bildung der Ge-
fässnarbe dauert. Zu rasche Resorption wäre also kein Grund, das Catgut
nicht zur Gefässunlerbindung zu verwenden.
Zur Wundnaht (vergl. VVundvereinigung) wird zumeist Seide,
zum Theil Catgut verwandt. Ausserdem wird verwandt Silberdraht.
Er wird zunächst durch die Flamme gezogen und wird dadurch
weich und schmiegsam. Darauf lasse ich ihn noch 10 IMinuten kochen.
Er ist am leichtesten zu sterilisiren und wird deshalb von vielen
Chirurgen zu versenkten Nähten (sell)st Ilerniotomicn) verwandt, wo er
aber später oft recht lästig werden kann. Kr saugt keine Flüssigkeit in die
Wunde ein. wie Seide und Cataut. Am meisten wird er gebraucht bei
204
ni. Capitel. — VcrJctzungcii.
plastischen Operationen (Gaumen, Hasenscharte, Vagina, Damm u. s. w.).
Doch ist der Vorwurf, dass die Seide Infectionskeime in die Wunde
hereindrainire, hineinziehe, unrichtig. »Selbst wenn der äussere Theil der
Schlinge bacterienhältig , ist der in der Haut liegende Theil derselben
fast immer steril.
Der Silkworm, gleichfalls aus Seidenwurmdarm präparirt, ist
starrer als Seide, weicher als Silberdraht, zu plastischen Operationen gut
geeignet. Er wirkt nicht capillär ansaugend. Er wird zunächst mit
Seife gründlich abgebürstet und auf mindestens 48 Stunden in '/aVoigen
Sublimatalkohol gelegt. Er wird nicht resorbirt.
Pferdehaare können wie Seide gekocht werden und werden
völlig aseptisch.
"Weitere Unterbindungs- oder Nahtmaterialien — Wallfischsehnen, Fäden aus dem
Peritoneum, parietale oder der Aorta des Ochsen, Känguruh-, Eennthiersehnen u. s. w.
haben keine allgemeine Annahme gefunden.
Die Ableitung der Wundsecrete wird heute fast allgemein
durch Gummidrainröhren erzielt, die man seitlich locht oder nicht
(Fig. 124). Nach einem kurzen Auskochen in P/oigerSodalösung werden sie
entweder 5 — 10 Minuten in ö^/oiger CarboUösung gekocht oder Monate
lang in öliger CarboUösung (Carbolsäure erneuern oder nachgiessen!) auf-
Fig. 12i.
bewahrt. Glasdrains (in Sodalösung ausgekochte Glasröhren mit seit-
lichen Löchern), ebenso Wieken aus Glaswolle (Kümmell) werden heute nur
wenig mehr angewandt. Neuher und v. Esmarch suchten die Drainage
durch Hautperforation (mit Lochzange) und Offenlassen der Wundecken
überflüssig zu machen. Das letztere ist mitunter zweckmässig (s. pag 195).
Die gänzliche Vermeidung der Drainage suchte man da-
durch anzustreben , dass man die Wunde von Grund aus in ihren
verschiedenen Schichten durch verlorene (Catgut- oder Seiden-)Nähte
vereinigte (vergl. Naht). Diese Methode ist nur da möglich, wo keine
Infection und keine Absonderung von Wundsecret zu erwarten ist. Oder
man nähte erst nach 24—48 Stunden (Secun därnaht, Kocher, Helferkh).
Um die Wund spritzen aseptisch zu machen, genügt nach
Schimmelbusch einmaliges Diirchspritzen mit kochendem Wasser, wenig-
stens zur Vernichtung der Eiterkokken. Hofmeister legt den Lederstempel
erst für einige Stunden in 4 — 10%ige Formalinlösung und koclit ihn
dann aus. Ich lasse z. B. Praw^'sche Spritzen dauernd in sterilisirter Koch-
salzl-ösung liegen, lasse sie alle paar Tage 1 — 2 Stunden mit Alkohol
aufgezogen liegen und ziehe sie von Zeit zu Zeit mit sterilisirtem
l%igem Salicylöl auf, damit der Stempel nicht vertrocknet.
Zweckmässiger sind die auskochbaren Spritzen mit eingeschliftenem
Metall- oder Asbeststempel. Jedenfalls empfiehlt es sich, für bestimmte
Sterilisation von VerbandstotFen. Verbandwechsel. 205
Zwecke eigene, nicht zu verwechselnde Spritzen dauernd zu reser-
viren — also für] Prohepunction und Aspiration andere, als zur
Injection u. s. w. Einmal mit Eiter inficirte Pravaz'sche Spritzen mit
Lederstempel sind für Injectionen gänzlich zu verwerfen. Da wir Wunden
nicht mehr abspritzen und das Ausspritzen von Abscessen direct ver-
werflich ist, ist der Gebrauch von Wundspritzen heute sehr viel geringer
als früher. P2benso ist der mit sterilisirtem Glasansatz versehene Irri-
gator selten nothwendig.
Zum Verband der Wunde bedient sich die heutige aseptische
Methode reichlicher Schichten von 1 Stunde lang im strömenden Dampf
sterilisirtem Mull. Ich halte es für zweckmässiger, bei Dauerverbänden
direct auf die Wunde eine in Subliuiatlösung (1 : 3000) getauchte, ausge-
drückte Compresse zu legen. Kocher verbindet mit Mull, der in I'ave/'scher
Lösung Yo Stunde ausgekocht ist. — Ueber den Mull kommt sterili-
sirtes Verbandmaterial — Holzwatte, Holzfaser, Moos, Moospappe, ent-
fettete Watte. All dies wird mit sterilisirten Mullbinden befestigt (s. Ver-
bandlehre) und darüber kommt zum Festhalten des Verbandes eine
Ein Wicklung mit in Sublimatlösung 1 : 3000 getauchter gestärkter
Gazebinde.
Zum Sterilisiren der Verbandstoffe sind am geeignetsten die
Sterilisatoren von Lautenschläger in verschiedenen Grössen. Billig sind
auch die (leicht in Unordnung gerathenden) Apparate von Buddenherg.
Die Sterilisatoren, die Aufsätze auf Instrumentenkocher darstellen ("-Braafe^,
fassen meist nur wenig Verbandstoffe. Die Minimalzeit der Sterilisation,
von der Zeit an gerechnet, wo das Thermometer 100'^ erreicht, ist 30 Mi-
nuten ; als Durchschnitt hat eine Stunde zu gelten. Der strömende
Wasserdampf tritt besser von oben als von unten ein ; todte Winkel
müssen im Sterilisator vermieden sein.
Bleiben Temperatursteigerung und Secretdurchtränkung aus, so
wird der Verbandwechsel unter denselben Vorsichtsmassregeln
(Hände, Instrumente, Verbandstoffe) wie bei der Operation, bei stark
durchgebluteten Verbänden am 1. — 2., sonst am 5. — 6. Tage vorgenom-
men. Hiebei können, wenn glatte Heilung erfolgt ist, Drainröhren und
Nähte weggenommen werden (s. Naht). Bei grossen Wunden (Laparo-
tomien, Amputationen) soll ein Theil der Nähte (oder alle) bis zum
10. Tage gelassen werden. Tritt Secret durch den Verband ohne Tem-
peratursteigeruug , so wird zunächst die feuchte Stelle mit Holzwolle
u. dergl. gedeckt und eine neue Binde übergelegt. Starke Durchtränkung
empfiehlt Verbandwechsel. Stellt sich Temperatursteigerung über 38*5"
ein (vergl. pag. 134 ff. , über aseptisches Fieber etc.), so ist der Ver-
band zu wechseln; findet sich irgendwo Röthung oder Spannung, so
sind hier die Nähte zu lösen, die Drainröhren zu wechseln. Oft ist dann,
besonders wenn Entzündung oder Eiterung sich zeigt, Uebergang zu
feuchten antiseptischen Umschlägen am Platz.
Für die Asepsis auf dem Lande oder auf dem Schlacht-
feld genügen 2 Kochtöpfe und l^/oige Sodalösung oder TaveV^Q\\Q
Lösung. In dem einen werden die Instrumente in P/oiger Sodalösung, im
andern Verbandstoffe und Seide gekocht (hier mindestens einmaliger
Wechsel der Sodalösung). Wenig Wasser in einem grossen Kessel, die
Verbandstoffe auf einem Rost von Stäben, Steinen oder in einem Korbe
lassen einen Verbandstoffsterilisator improvisiren.
206 ^^^- ^-'apit'il- — V'!rl(:tziiiif,'i;i).
Für die antiseptische Methode von heute sind die Vorschriften
einigermassen schwankend.
Von verschiedenen Chirurgen (besonders Schimmelfjusch) wird die antiseptische
Behandlung von Wunden und Eiterungen ganz verworfen als unnütz, unmöglich und
geradezu schädlich, weil giftige Antiseptica die Lebensenergie der die Wunde bildenden
Gewebe schädigen, ihre phagocytotische bacterienvernichtende Kraft (siehe pag. 2ß)
herabsetzen oder ganz aufheben und in die Girculation aufgenommen die inneren lebens-
wichtigen Organe (Herz, Niere etc.) zur Degeneration bringen. Zudem seien die Anti-
septica gar nicht im Stande, in die Gewebe eingedrungene Mikroorganismen zu zerstören.
Nach Schimmelhusch (Chir. Congr. 1894) ist jede Desinfection der Wunde, selbst
das Ausbrennen mit Pacquelin nutzlos; wenn nicht binnen 10 Minuten der Schwanz
amputirt wird, ist die Allgemeininfection (mit Milzbrand, virulenten Streptokokken) nicht
mehr zu verhüten. Diese Versuche sind bestätigt durch ähnliche von Renmdt und
Boiiley (Rotz bei Pferden), Messen (Milzbrand beim Kaninchen.) Auch Hänel (D.iled.
Wochenschr., 1895, 8) kommt zu der Ansicht, dass es ganz gleichgiltig sei, ob man mit
3°/oiger CarboUösung oder 0'67oiger steriler Kochsalzlösung verbinde , wenn nur (bei
EiteiTing) durch breite Spaltung für freien Abfluss gesorgt sei. In einem gewissen
Gegensatz hiezu kommt Henle (Langenbeck's Archiv, 49, 4) der — in correcterer
Weise — nicht mit so hochvirulenten Culturen, wie Schimmelhusch, sondern mit Eiter
(Streptokokken) arbeitete, zu dem Ergebniss, dass man bis zu 3 Stunden post infectionem
eine Wunde mit Sublimatlösung 1 : 1000 sicher sterilisiren könne, in einzelnen Fällen
bis zu 8 Stunden, im Mittel innerhalb 6 Stunden. Die Wundinfection ist für Henle zu-
nächst eine rein locale Infection (im Gegensatz zu Schimmelhusch). Messner (Chir.
Congr. 94) will bei den aseptisch behandelten infiicirten Wunden mit nur einer Ausnahme
Gangrän und tödtliche Sepsis gesehen haben, während bei den antiseptisch behandelten
der Process local blieb. Diese Versuche konnte Eeichel {Langenbeck's Archiv, 42^
nicht bestätigen (vergl. pag. 196).
Beobachtungen, die ich am Menschen gemacht habe , sprechen für einen günstigen
Einfiuss massiger antiseptischer Lösungen bei offenen Wunden. Auf antiseptisch behan-
delten offenen Wunden findet man einen geringeren Keimgehalt; insbesondere befördern
Umschläge mit sterilisirter Kochsalzlösung die Heilung und üeberhäutung nicht. Hoch-
anschlagen darf man die bacterienvernichtende Wirkung von äusserlich angewandten anti-
septischen Mitteln jedenfalls nicht. — ßeachtenswerth sind die Ergebnisse von Schimmel-
husch und Pfuhl (Chü-. Centralbl., 1894, 16), wonach ältere Wunden (24—48 Stunden),
sowie Brand- und Aetzschorfe , sowie Fascien der Infection einen grossen Widerstand
entgegensetzen und nur schwer und selten inficirt werden.
Die Asepsis und die Antisepsis sollen sich nicht aus-
schliessen, sondern sich gegenseitig ergänzen.
Asepsis ist angezeigt bei vom Chirurgen zu machenden Operationen
in nicht inticirten Geweben — bei frischen Operationen.
Eine massvolle Antisepsis ist angezeigt bei inincirten Wunden und
bei solchen Operationen, wo im voraus kein Zweifel ist, dass eine
Verunreinigung doch nicht zu vermeiden ist , also bei Wunden , die
mit Schleimhautflächeu * in offener Verbindung bleiben (Respirations-,
Verdauungstractus , unterer Theil der Harn- und Geschlechtsorgane);
hier empfiehlt sich vorsichtige Jodoformantisepsis.
Zweifelhaft kann man sein bei Verletzungen, wo man nicht sicher
weiss, ob sie inficirt sind oder nicht — z. B. bei Schädelverletzungen,
complicirten Fracturen u. dergl.
Zweifellos ist eine gute Antisepsis besser als eine
schlechte Asepsis (Land- und Kriegspraxis). Wo man also seiner
Asepsis nicht sicher ist, wird man mit der Antisepsis ohne Frage mehr
erreichen, ebenso möge derjenige, der die Asepsis nicht beherrscht,
lieber bei der Antisepsis bleiben. Nirgends ist Principienreiterei weniger
am Platze als in der Wundbehandlung.
Das Ziel, das dem ausübenden Chirurgen in jedem einzelnen
Fall vorschweben muss, ist, die Operation und Heilung so zu leiten,
dass eine Infection mit virulenten Kokken möglichst ausgeschlossen
Antiseptische Methoden. 207
wird und, wo sie nicht ganz zu vermeiden ist, jedenfalls eine Verhal-
tung von Wundsecreten, Bacterien und ihren Producten und damit eine
Invasion derselben und eine Aufsaugung ihrer Producte vermieden wird.
Auch Kocher tritt für die Combinatiou von Asepsis und Antisepsis
ein (u. A. Lanz und Flach, Langenheck's Archiv, 44). Die Operation sei
aseptisch, die Nachbehandlung antiseptiscb. — Sublimat — noch besser
Jodoformgaze — schützt besser vor Secundärinfection (Infection nach
der Operation) als sterile Gaze. Die Verbände sind früh zu erneuern.
Völlig unerlaubt ist die Anwenduug von Antisepticis bei Krank-
heiten des Herzens und der Niere; überhaupt ist bei grossen ein-
greifenden Operationen — Bauch-, Nierenoperationen u. dergl. (vergl.
pag. 195) — , ebenso bei geschwächten Personen die Anwendung antisep-
tischer Stoffe (ausser in kleinsten Mengen für den Verband) unzulässig.
Wer heute Antisepsis treiben will, wird sich am besten einer massi-
gen Sublimatantisepsis bedienen, mit Lösungen 1:3000 — 1:5000;
als Max. 1 : 1000. Als Verband- und Tupfermaterial kann die Kümmeirsche
frisch bereitete Sublimatgaze verwendet werden, Instrumente und Seide
sind wie bei Asepsis zu behandeln (pag. 199 ff).
Wunden der Schleimhäute , des Athmungs- und Verdauungs-
schlauches, der Harn- und Geschlechtswerkzeuge werden, nachdem die
Operation aseptisch oder antiseptisch ausgeführt wurde, am besten
mit loser Jodoformgazetamponade behandelt.
Die pag. 192 genannten Ersatzmittel des Jodoforms mögen bei
wenig bedeutenden äusseren Wunden verwandt werden — bei grossen
Operationen (Gebärmutter-, Mastdarmexstirpationen) möchte ich mich
nicht auf sie verlassen und halte an vorsichtigem Jodoformgebrauch fest.
Angeblich ungiftige Ersatzmittel des Sublimats und derCarbol-
säure sind gleichfalls in ziemlicher Anzahl auf den ^larkt gekommen.
Für gewisse Zwecke brauchbar ist das Lysol. Lysol ist eine
Verbindung eines Phenols mit Seifen. Es wird gebraucht in ^a- und
l%iger Lösung, am zweckmässigsteu ist es zur Ausspülung und Desin-
fcction der Scheide vor Operationen; weniger geeignet ist es zm* Desiu-
fection von Instrumenten, der Hände, wozu es von Einzelnen gebraucht
wird; auch zu Umschlägen ist es wegen seiner die Haut auf die Dauer
reizenden Eigenschaften (Kämpfer) nicht geeignet. Seine desinticirende
Kraft ist nicht unbedeutend, ungiftig ist es aber nicht {Langfeld, Acht
Lysolvergiftungen. Deutsche Aerztezeitung, 1895, Nr. 3).
Das Creolin — ein ähnliches Präparat — ist ein leidliches
Antisepticum . ist aber ebenfalls nicht ungiftig und wenig handlich.
Es wird verwandt in Yo — IV^Voiger LiJsung.
Die Borsäure wird in 1 — 4"/oiger Lösung (auch mit Salicylsäure 1,
Borsäure 6 auf 300"0) zu Umsehlägen, Blasenausspülungen, 3Iagen-
ausspülungen u. dergl. mit Vortheil benützt.
Weiter kommen gelegentlich zur Verwendung 1 — 27oig'C Lösungen
von essigsaurer Thonerde (Maas), ein gut desodorisirendes antisep-
tisches I.'mschlagswasser für Geschwüre, brandige Flächen, Quetsch-
wunden u. dergl.
Auch das Chlorzink ist (in stärkeren Concentrationen von 4 bis
50Vo stark ätzcndj , -in schwachen Lösungen 1 : 1000 — 1 : 10.000 noch
ein gut wirkendes antiseptisches Verbandwasser (besonders für schlechte
Beingeschwürej.
208 liJ[- Capitel. — Vorlctzuiijxoji.
Dasselbe ^ilt von dem (frisch zu hereitendenj Clilorwasser,
das energisch dcsodorisirt imd früher besonders bei jauchigen Processen
sehr beliebt war.
Crede (ühir. (Jongr. 1896) empfiehlt citronensaures .Silber (Itrolj als wirkames reiz-
loses pulverförmiges und in Lösungen zu verwendendes Antisepticum.
Kresolum (Methylcarbolsäure) purum liquefactum ist in Y^ — l'Yrjig^Jr Lösung ein
kräftiges Antisepticum. Es ist weniger giftig als die Carbolsäure und reizt die Jfaut weniger.
Chinosol (Phenol der Chinolinreihe) soll in Lösung von 1 : .3000 — 1 : IT/JO kräftig
antiseptisch wirken, ohne Nebenwirkung.
Nichts wäre verkehrter, als die Kunst des Opevirens und der Wund-
behandlung nur in einer correcten Anwendung des aseptischen oder
antiseptischen Verfahrens suchen zu wollen, wie es leider von mancher
Seite geschieht. Es handelt sich hier noch um zahlreiche andere Punkte.
Die Blutung ist so exact als möglich zu stillen und dabei sollen doch
so wenig als möglich Fremdkörper (Ligaturen) in der Wunde zurückge-
lassen werden. (Vergl. pag. 100.) Gute Blutstillung, ebenso wie eine
schonende Behandlung der verletzten Gewebe, die weder mechanisch,
noch chemisch (durch starke Antiseptica) beschädigt werden dürfen, sollen
der Bildung von Wundsecret entgegenwirken.
Wo die Bildung von Wundsecret nicht zu vermeiden sein wird,
soll dieses durch Offenlassen der Wundecken, nicht zu enge Naht, Ein-
legen von Drainröhren an den tiefsten Stellen , abgeleitet werden. Bei
inficirten Wunden muss vorerst auf die Vereinigung der Wunde ganz
verzichtet werden (offene Wundbehandlung). Die Wunde wird dann
vielleicht später noch genäht (Secundärnaht).
Stellen , wo sich Blut- oder Wundsecrete ansammeln und zer-
setzen können (todte Winkel), können durch die Naht (versenkte oder
verlorene Nähte) ausgeschaltet oder durch Drainage unschädlich ge-
macht werden. Auch Tamponade mit antiseptischer (Jodoform) oder asep-
tischer Gaze kann hiezu zweckmässig sein.
Die Wund nähte sollen nicht zu dicht liegen, so dass sie die Er-
nährung der Wundränder nicht beeinträchtigen, die Spannung der Wund-
ränder durch die Naht soll nicht so stark sein , dass diese der Rand-
gangrän verfallen. Ein anderes Mal wird die Wunde tamponirt, d. h=
mit antiseptischer Gaze ausgestopft , lose oder fest (zur Blutstillung).
Defecte werden durch Plastik gedeckt (s. Plastische Chirurgie).
Lässt man sie offen, so kann man sie mit Blut volllaufen lassen
(ßchede's Behandlung unter dem feuchten Blutschorf) und dieses wird
dann der Substitution überlassen. Oder der Defect wird — unter Tam-
ponirung — dem Ausgranuliren überlassen u. s. w.
Regeln im Einzelnen lassen sich nicht geben — all das muss am
Operationstisch und Krankenbett praktisch erlernt werden.
Eine Aufgabe, die sich dem praktischen Arzt mindestens ebenso
häufig stellt, wie die einer antiseptischen Operation, ist die, eine be-
reits inficirt in Behandlung zugehende Wunde möglichst
aseptisch zu machen.
Die erste Frage, die sich hier der Beantwortung stellt, ist:
Wie lange nach der Verletzung lässt sich eine Wunde noch
aseptisch machen und womit? Natürlich ist dies von Fall zu Fall
verschieden, je nach dem Grade der Verunreinigung der Wunde, ihrer
Beschaffenheit, ob tief und buchtig oder oberflächlich u. s. w. (vergl.
pag. 206). Im Laufe der ersten 24 Stunden wird der Versuch noch eine
Antisepsis. 209
gewisse Aussicht auf Erfolg haben. Man entfernt Schmutz und todte Ge-
webspartikel, schneidet gequetschte Theile aus und schwemmt die Wunde
mit Sublimatlösung (1 : 1000), Chlorzinklösung (4^/0), Carbollösung (ö'^/o)
aus, wobei mit Tupfern namentlich die Ecken der Wunde besonders
genau ab- und ausgewischt werden. — ■ Will man noch den (nicht unbe-
denklichen) Versuch der Naht machen, so müssen die Nähte weit und lose
gelegt und dazwischen muss ausgiebig drainirt werden. Oder man nähert
die Wundränder nur mit nicht ganz geschlossenen Situationsnähten.
Lässt man die Wunde offen , so ist ein alle 6 Stunden gewechselter
Umschlag mit Sublimatlösung (1 : 3000 — 1 : 2000) zweckmässig. Auch
Bedecken mit Jodoformgaze ist dienlich.
Schwer inficirte Wunden lassen sich nicht mit Gewalt und auf
einmal aseptisch machen. Oft gewechselte Ueberschläge dünner anti-
septischerLösungen (Sublimat 1 : 2—3000), Chlorzinklösungen (1 : 3000 bis
1 : 1000), Lysollösung (Vs — \2Vo) sind viel zweckmässiger, als starke
Lösungen. Chlorwasser thut hier oft überraschend gute Dienste; ebenso
sind Berieselungen mit Lösungen von essigsaurer Thonerde (2 — 4%)
mitunter erfolgreich. Auch die Immersion in dünn - antiseptische
Lösungen oder bei ausgedehnten gangränösen Processen das permanente
Vollbad kann in Frage kommen. Genaue Beobachtung der Temperatur-
curve und , wo sich eine Verhaltung (Schmerzhaftigkeit , Röthung,
Schwellung und Fluctuation zeigt) , sofortige breite Spaltung oder
wenigstens Drainage sind un erlässlich.
Zur antiseptischen Nachbehandlung granulirender Flächen — nach
Operationen, Verletzungen — wo man den umständlichen antiseptischen
Verband nicht festhallen will — sind Compressen mit Sublimatlösung
1 : 5000—1 : 3000. Salicyl-Borlösung (1 Ac. sah, 6 Ac. bor., 300 Aq. dest.)
sehr gut zu brauchen, oder Bor- und Salicylsalben (1 : 30 Lanolin oder
A^aseline). Schliesslich genügt ein Streifen Zinkpflastermull oder Heft-
pflaster.
Im Ganzen haben theoretische Untersuchungen und praktische
Erfahrungen in übereinstimmender Weise ergeben , dass es unmöglich
ist, Mikroorganismen in einer (frischen) Wunde durch chemische Ageutieu
(Antiseptica) zu zerstören. Die Hauptaufgabe ist, alle infectiösen Stoffe
vor der Operation auf mechanischem Wege zu entfernen und die mit
der Wunde in Berührung kommenden Gegenstände durch Hitze keimfrei
zu machen. Etwaigen Wundsecreten oder Eiterverhaltungen ist durch
breite Spaltung oder ausgiebige Drainage freier Abfluss zu schaffen. Im
l'ebrigen sind die normalen Schutzvorrichtungen des Organismus — die
bactcricide Eigenschaft des normalen Gewebes , rasche Verklebung der
Gewebsspalten u. dergl. — möglichst zu unterstützen, mindestens nicht
durch rohe mechanische oder starke chemische Einwirkuno-en zu stören.
Wundvereinigung.
Pflaster. Heftpflaster. — Englisches Pflaster. — Collodium. — Naht. Nadeln. —
Nahtmaterial. — Seide, Catgut, Draht. — Die verschiedenen Methoden der Naht-
anlegung. — Knopfnaht u. s. w. — Das Entfernen der Nähte.
Ein Theil der Wunden legt sich von selbst so mit seinen Flächen
aneinander _, z.B. bei starker Beugung in den Gelenken, dass eine
Aneinandcrlügung nicht nüthig ist. Die meisten Wunden jedoch
l.rintlcrcr. Alltr. cliir. l'.itlii.l.icri,- u. 'I'liciiiipif, 2. Aufl. 14
210 ni. Capitel. — Verletzungen.
klaifen und bedürfen einer sorgfältigen Wund Vereinigung. — IJiezu
kann man sich der Pflaster, der liindenverbände und der Naht
bedienen.
Oberflächliche Schnittwunden kann man nach sorgfältiger Reinigung
mit Heftpflaster streifen zusammenziehen.
Heftpflastermasse (Olivenöl und Bleiglätte werden im DampfTjad erhitzt und dann
Colophonium, etwas Talg zugesetzt, schliesslich wird auch noch etwas Terpentinöl zu-
gefügt) wird auf derbe Leinwand gestrichen. Je mehr es Colophonium enthält, um so
besser klebt es — deutsches Heftpflaster.
Zweckmässiger, weil stärker klebend und elastischer, ist das amerikanische
Heftpflaster (Sparadrap).
Heftpflaster greift, Avenn es viel Terpentin und Colophonium hält, empfindliche
Haut, besonders von Kindern und Frauen, an. Schon nach 24 Stunden röthet sich
dieselbe , genau dem Umfang des Pflasters entsprechend , es können wasser- , selbst
eiterhaltige Bläschen aufschiessen (Heftpfiasterekzem). Es entsteht dann ein unangenehmes
Hautjucken.
Ganz kleine Wunden kann man auch mit Collodium verkleben.
CoUodium ist eine Auflösung von Schiessbaumwolle (1 Theil Baumwolle mit
7 Theilen Salpetersäure und 8 Theilen Schwefelsäure behandelt) in Aether und Wein-
geist. Aufgepinselt verdunstet der Aether rasch und es bleibt ein dünnes, spiegelndes,
der Haut fest anhaftendes, für Wasser undurchdringliches Häutchen. Ein Zusatz von
2 Procent Eicinusöl gibt das Collodium elasticum, dessen Häutchen elastischer sind,
sich weniger stark zusammenziehen und deshalb nicht so leicht zu Schrunden Anlass geben.
Das Collodium eignet sich auch ganz gut zum raschen Verschluss kleinster, nicht mehr
blutender Wunden, z. B. Stichwunden bei Operationen, Sectionen. Man setzt ihm zweck-
mässig ein Antisepticum zu, z. B. Jodoformcollodium (5 — 10 Procent) oder Der-
matol u. dergl.
Ganz kleine Wunden, Risse, Stiche, Schnittchen im Gesicht lassen
sich auch mit „englischem Pflaster" (Emplastrum adhaesivum angli-
cum) bedecken.
Es ist dies feinster Taffet, auf einer Seite bestrichen mit einer Lösung von
Hausenblase (Fischleim) in Wasser, Weingeist und Glycerin. Auf die Rückenfläche
kommt etwas Benzoetinctur. Meist wird noch etwas Salicylsäure zugesetzt. Auf der
klebenden Fläche befeuchtet (aber nicht mit dem Munde !) legt man das Pflästerchen —
schwarz, weiss oder rosa — auf und lässt es antrocknen. Collodium fixirt es noch fester.
Kleine Wunden an den Fingern oder der Hand schütze ich mir mit folgendem.
Tage lang, bei 40-, öOmaligem Waschen sitzenden Verband. Auf die Wunde kommt
etwas Watte , kaum ein Flöckchen , welches eben die Blutung stillt. Dies wird mit
Collodium, noch besser Jodoformcollodium getränkt und klebt an. Ist dies getrocknet,
so wird eine zweite, dritte Schicht Watte mit Collodium darüber befestigt.
Das souveräne Mittel zur Wundvereinignng bleibt die Naht. Mit
einer Nadel wird ein Faden vom einen Wnndrand durch die Wunde
nach dem anderen geführt; durch Zusammenziehen und Knoten des Fadens
werden die Wundränder vereinigt. Nadeln, Nahtniaterial und Anlegungs-
weise der Nähte sind ungemein häufig modiflcirt worden. Es kann
hier nur das Wichtigste, was auch heute noch wirklichen Werth hat.
hervorgehoben werden.
Die chirurgischen Nadeln sind nach dem Muster der gewöhnlichen
Nadeln construirt. Die Spitze ist jedoch nur bei einer bestimmten
Sorte — den überaus feinen Madelung'' sehen Darmnadeln — konisch,
gewöhnlich ist sie lanzenförmig , an beiden Rändern geschliffen oder
flach dreikantig, letzteres bei gekrümmten Nadeln. Der Schaft ist
meist vierkantig , mit abgestumpften Kanten , und schmäler als die
etwas breit und flach geschlagene Spitze. Das hintere Ende zeigt das
längliche Oehr, von welchem zwei Rillen nach dem Ende der Nadel
gelassen sind, um den Faden aufzunehmen (vergl. Fig. 125).
Nadeln. Nadelhalter.
211
Die Nadeln sind gerade (Fig. 125«) und kriiinm, 1 Cm. bis
8 Cm. lang, werden mit freier Hand oder Nadelhaltern, deren es eine
grosse Anzahl gibt, geführt.
In Fig. 126 ist der Nadelhalter von Busch abgebildet; eine lange
Zange, mit kurzem gerieftem Maul a, in welches die Nadel durch den
Sehluss zwischen den Branchen (b) festgeklemmt wird.
Fig. 127« gibt den Nadelhalter von Boux, der durch das Vor-
schieben einer Hülse geschlossen wird, 127 b den ähnlich gebauten von
Simon mit der Modification des Mauls von Mccthis (eine Backe hohl).
Fig. 128« ist der von Dieffenhach angegebene Nadelhalter, dem i^oser
Fig. 125.
Fig. 126.
eine Sperrvorrichtung gegeben hat. Durch Verschieben eines Knopfes
öffnet und schliesst sich der Nadelhalter von Collm (1286).
Die krummen Nadeln sind meist nach der Fläche gekrümmt
(Fig. 125 6), selten nach der Ksrnte (Har/edorn)., Fig. 125 cZ; die Krüm-
mung ist — bei den grossen — • nur ein Brnchtheil eines Kreises (125 c);
bei den kleineren die Hälfte eines solchen (125 b). Zum Nähen in
tiefen Höhlen werden oft nahezu hakenförmig gekrümmte Nadeln ver-
wendet (sogenannte „Angelhaken")- Hier sind auch oft gestielte Nadeln
(mit Metallgriff j allein brauchbar (Fig. 125^:) und kann man z. B. im
Rachen, der Scheide, dem Mastdarm fast nur mit solchen nähen. Sie
werden eingefädelt durch die Wunde geführt oder der Faden erst ein-
gelegt, wenn die Wundränder durchstochen sind.
14*
212
III. Capitel. — Vorloteurigeri.
Das Maul des NadcUialtcrs ist eine gerade Fläehe , die Kadeln
sind gekrümmt; so breehen diese leicht ab. Ifaf/edorn suchte dem ab-
zuhelfen, indem er nach der Kante gebogene Nadeln (Fig. 125 r/j in
einen Nadelhalter fasste, dessen Maul aus zwei parallel sich aneinander
schiebenden Backen gebildet ist. So ist eine gerade Fläche zwischen
zwei geraden Flächen gefasst. Doch sitzen die Nadeln nicht so fest
im Nadelhalter wie die anderen. Der hiezu gehörige Nadellialter ist
Fig. 129 abgebildet.
Will man ohne Nadelhalter nähen, so fasst man die Nadel, durch
deren Oehr man den Faden gezogen hat, zwischen Zeigefinger und
Daumen. Der Wundrand wird mit einer chirurgischen oder Haken-
Fig. 127 a.
Fig. 127 &.
Fig. 128 a.
Fig. 128 6.
pincette fixirt oder etwas angezogen. In einer Entfernung von ] , 2, 3 Cm.
vom Wundrand, je nachdem man die Naht tiefer oder höher legen
will, sticht man die Nadel nach der Wunde durch, führt dieselbe
hier heraus, sticht sie an entsprechender Stelle in die Wunde ein
und führt sie in gleicher Entfernung vom Wundrand wieder heraus.
Das Nähen mit krummer Nadel und Nadelhalter ist in Fig. 126
dargestellt, wo auch die Haltung der Pincette und das Fassen des
Wundrandes abgebildet ist. Grössere krumme Nadeln können ohne
Nadelhalter in freier Hand geführt werden.
Das bequemste Nahtmaterial ist die Seide. Fest und doch dabei
geschmeidig, entspricht sie allen Anforderungen (vergl. pag. 201).
Nahtmaterial.
21^
Das Catgut, welches im Körper rasch resorbirt wird, ist weniger
fest, reisst leichter und ist nur für Fälle, wo der Faden nicht wieder
herausgenommen werden soll , der Seide vorzuziehen. Die Bereitung
von Catgut ist auf pag. 202 mitgetheilt.
Pferdehaare bieten keinen besonderen Nutzen. Silbe rdraht ist,
geglüht , völlig keimfrei , ziemlich geschmeidig und gibt der Nahtlinie
einen gewissen Halt, wie eine Schiene. Ist er durch die Wunde ge-
zogen, so hält man beide Enden angezogen und schlingt sie mit ge-
Fig. 129.
wechselten Händen einige Male spiralig umeinander; 1 Cm. hinter der
ersten Drehung wird abgeschnitten. Oder man bedient sich des Draht-
schniirers (s. Fig. 130j. Für plastische Operationen (Gaumenspalte,
Scheidenvorfall u. dergl.) ist Silberdraht ganz zweckmässig. Die Nähte
schneiden leicht durch, d. h. das in der Schlinge gcfasste Gewebe wird
durch den unnachgiebigen Draht nekrotisch
selbst abfallt.
Eisendraht wird höchstens zur Naht von Knochen Vortheile
bieten.
so dass die Schlinge von
214
in. Capitel. — Verletzungen.
Pil de Florence, Silk worm, ist ein derber und etwas harter,
aus den Därmen des Seidenwurmes gedrehter Faden ; nicht so hart wie
Silber, fester als Seide. Er steht gewissermassen in der Mitte zwischen
beiden. Er wird geknüpft wie Seide.
Die gebräuchlichste Art, die Naht anzulegen, ist die Knopf-
iiaht. Die Technik ist aus Fig. 131 zu ersehen. Ist der Faden in der
geschilderten Weise durch beide Wundränder geführt (Fig. 131a), so
werden die beiden Fadenenden einmal durcheinander geschlungen
(Fig. 131 6), dann um 90" gedreht (131c) und ein zweiter Knoten
daraufgesetzt (Fig. 131c?). Wenn die Spannung der Wundränder eine
starke ist, kann man als ersten Knoten einen chirurgischen machen
(Fig. 54), indem man die Fadenenden doppelt durchschlingt.
Fig. 1 33 a gibt einen sogenannten einfachen falschen oder Weiber-
knoten, der in der Chirurgie verpönt ist, weil er nicht hält, Fig. 1336
Fig. 133.
ist ein (gewöhnlicher) Schifferknoten, Fig. 133c ein chirurgischer
Knoten.
Die Faden werden 1 Y2 Cm. über dem Knoten abgeschnitten (Fig. 132).
Bei grösseren und tieferen Wunden legt man die Nähte verschieden tief;
die tieferen dienen mehr als „Entspannungsnähte", die oberflächlichen,
welche die Aneinanderfügung der Wundräuder vermitteln, sind Ver-
einigungsnähte (Fig. 132).
Bei einer Eröffnung des Bauches fassen z. B. ca. 4 Nähte das
Peritoneum mit, 6 die Bauchmuskeln, 8—10 fassen nur das Unter haut-
zellgewebe und wo die Hautwunden nicht glatt liegen, fügt man noch
oberflächliche, durch Haut und oberste Schichte der Unterhaut geführte
hinzu. Natürhch müssen sich die Wundstellen , wo man die Nähte
durchzieht, genau entsprechen und namentlich bei den letzten ober-
flächlichsten Nähten hat man darauf zu sehen, dass nicht etwa der
Verschiedene Arten der Naht.
215
Fig. 134.
Fig. 135.
Fig. 13(i.
Wundrand eingestülpt wird, Epithelstellen nach der Wundfläche gekehrt
werden. Die Heilung wird dadurch verzögert, die Narbe unschön.
Dasselbe ist die Folge , wenn wunde Flächen durch die Naht nach
aussen gestülpt werden.
Sollen dünne Wundränder, wie sie oft nach Aussehälung von
Geschwülsten — Kesection des Oberkiefers — sich ergeben, etwas
flächenhafter in Berührung gebracht werden, so ist die Doppelknopf-
naht oder Matratzennaht zweckmässig. Der Faden wird in gewöhn-
licher Weise durch die Wunde gezogen. Statt ihn sogleich zu knoten,
führt man ihn V2 — 1 Cm. parallel der Wundspalte hin, sticht nach
dem ersten Wundrande zurück und knotet hier (Fig. 134). Es werden
breitere Flächen aneinandergelegt, die Wunde wird allerdings als Wulst
in die Höhe getrieben. Dieser gleicht sich aber später wieder aus.
Einige oberflächliche Knopfnähte fügen die Wundränder genau an-
einander.
Bei der Kürschner naht (Fig. 135) beginnt man mit einer ge-
wöhnlichen Knopfiiaht, führt den Faden schräg über die Wunde weg,
sticht schräg durch die Wunde. Nach
dem ersten Wundrand zurück , geht
wieder über die Wunde schräg hinüber,
durch die Wunde zurück und bildet
so ein Zickzack entlang der Wunde,
dessen einer Schenkel unter, der andere
auf der Wunde liegt. Zum Schluss
schlingt man den Faden durch oder
lässt ihn laug hängen. Die Naht geht
sehr schnell, weil man nicht knotet und
nicht abschneidet. Für grosse Wunden
spart man viel Zeit; doch hält die
Naht nicht viel Spannung aus und
der Faden muss sehr gleichmässig
angezogen werden ; wo viel Spannung
ist, müssen Knopfnähte dazwischen gelegt werden. Zum Aneinander-
fügen der Haut — nach einer Exstirpation der Brustdrüse u. dergl. —
ist die eine Zeit lang fast vergessene Naht ganz brauchbar.
Gewisserniassen eine fortlaufende Matratzeunaht ist die sogenannte
..fortlaufende Naht" (Fig. 136). Auf die Wunde kommt kein Faden
zu liegen, Beginn und Schluss mit einer Knopfnaht. Sie bietet nur selten
wirklichen Nutzen.
Tiefe, unregelmässige AVundeu oder solche mit starker Spannung lassen uns oft,
um eine unmittelbare Vereinigung zu erreichen, noch zu ancieren Modificationen der
Naht greifen.
Bei der Zapfennaht (Fig. 137) sucht man den starken Zug, der an so circum-
scripter Stelle, wie bei der Knopfnaht wirkend, den Wundrand sofort durchreissen würde,
auf eine grössere Fläche zu vertheilen , indem man durch Fadenschlingen einen Elfen-
beinzapfen, ein Stück Draht oder Holz gegen den Wundrand andrückt. Aus Fig. 137
wird die Technik dieser Naht ohneweiters klar.
Die Perl- oder Plattennaht führt mau am licsten mit Silljcrdraht aus. Durch
eine ovale, etwa l'/o Cm. lange, 1 Cm. breite, 1 — IV-j Mm. dicke durchbohrte Blei-
oder Glasplatte zieht man einen am hinteren Ende mit einer Glasperle armirten Silber-
draht, führt deusellx-n, in eine starke Nadel eingefädelt, durch die Wunde und schiebt
nun auf ilin eine gleiche Bleiplatte und durchbohrte Glasperle auf, und wickelt schliess-
lich den Draht so lange auf ein viereckiges Stäbchen , z. B. ein Stück Streichholz , bis
die Platten fest gegen die AVundräiider und diese gut gegen einander gedruckt sind
216
III. Cai)itel. — Verletzungen,
(Fig. 138). Man kann mit der Perlnaht einen sehr starken Zug auf die Wundrände;*
ausüben. Doch macht die Platte nicht selten Druckbrand. Ich habe sie seit .Jahren
nicht mehr verwandt, sondern durch tiel'gi'eif'ende Seidennähte ersetzt.
Nur noch historisches Interes.sc hat die „umschlungene Naht" (Fig. 139).
Eine durch Glühen gereinigte Insectennadel mit jjlattgeschlagener lanzcnföi-miger Spitze —
sogenannte Karlsbader Nadel — Avird durch beide Wundränder durchgeführt und diese
durch einen um die Enden der Nadel mit 8- und 0-Touren geschlungenen BanmwoU-
oder Seidenfäden aneinander gepres.st.
Fig. 137.
Fig. 138.
Fig. 140.
Diesen in letzter Linie doch gekünstelten Verfahren ist weit über-
legen die in letzter Zeit von ^^uba' besonders ausgebildete „versenkte
Naht". Man führt dieselbe ihit Catgiit oder Seide aus. Von dem Grunde
der Wunde anfangend, näht man die Weichtheile mit Knopfnähteu,
deren Fäden über dem Knoten kurz abgeschnitten werden, zusammen
und verschliesst so, vom Grunde nach oben fortschreitend, die Wunde
allmälig ganz. Ebenso näht man abgelöste Hautlappen au die Unter-
lage an, vom Rande nach der Wundspalte hin. Man vertheilt hiedureh
die Spaiihiing auf eine grössere Anzahl von Punkten und bedarf gewalt-
samer Zusammenziehung mit
Platten- oder Zapfennähten
^ nicht. Die versenkte Naht
trägt auch zur Blutstillung
bei; indem man das Gewebe
"^"über den blutenden Gefässen
vernäht , schliesst man die
Gefässlumina. Fig. Jj40 zei^t
eine durch versenkte ^Talite
vereinigte Wunde schema-
tisch. — Von der fort-
laufenden versenkten
Naht habe ich keine be-
sonderen Vortheile gesehen. Nachdem man mit einer Knopfnaht begonnen,
führt man den Faden, vom Grunde der Wunde nach der Oberfläche fort-
schreitend, von einem Wundrand zum andern herüber und hinüber und
schliesst so die Wunde allmählich. Die Aneinanderfügung der Wund-
flächen ist sehr ungleichmässig. Löst sich der Faden (Catgut!) zu früh,
so geht die ganze Wunde auseinander.
Um seröse Flächen aneinander zu legen, bedarf es gewisser
Modificationen der Nahtanlegung. Die am häufigsten verwendete Methode
Verschiedene Arten der Naht.
217
der Darm naht ist die von Lemhert. Aus Fig. 141 {a und h) ist die
Technik zu ersehen.
Granulir ende Flächen zu nähen — die Technik ist die gewöhnliche —
misslingt meist und bietet nur selten wirklichen Erfolg. — Doch kann die Secundär-
oder Spätnaht gelegentlich wirklichen Nutzen bringen. Man scheut sich manchmal
eine Wunde zu nähen, weil sie entzündet ist, und fürchtet dui'ch die völlige Ver-
nähung der Wunde WundÖüssigkeit in der Tiefe zurückzuhalten. Beim nächsten
Verbandwechsel nach 2—3 Tagen findet man die Entzündung vermindert oder ver-
schwunden und kann nun solche Wunden, wenn sie aseptisch geworden und nicht mehr
viel absondern, ganz ruhig selbst noch am 4., 5. Tag nähen. Dieselben heilen meist
ganz glatt. Ich habe selbst breit gespaltene Abscesse nach einigen Tagen noch genäht —
wenn Absonderang und Entzündung verschwunden waren. Alle, auch frische Wunden,
erst nach 24 Stunden zu nähen, die Secundärnaht zur Regel zu machen, wie es Kocher
eine Zeit lang empfahl, halte ich nicht für empfehlenswerth.
Manchmal kann man in Fällen, wo man die Naht wegen Infections-
gefahr scheut, um nicht Wundflüssigkeit in der Tiefe zurückzuhalten,
durch einige weitgreifende Nähte die Wundränder wenigstens annähern,
ohne sie s-anz aneinanderzulegeu. Der Eiter kann abfliessen und die
Fig. 141.
Fig. 142.
Heilung wird wenigstens abgekürzt — Annäherungs- oder Situations-
nähte. " ; --«»
Catgutnähte, deren in der Wunde liegender Theil resorbirt wird,
brauchen nicht entfernt zu werden; Nähte aus anderem Materiale
müssen, wenn die Wunde fest genug verklebt ist, herausgenommen
werden. — Bei Seiden- oder Silbernähten schiebt man die eine Branche
eines scharfen Scheerchens flach unter den Faden, indem man den
Knoten mit einer anatomischen Pincette etwas anzieht. Man schneidet
darauf den Faden unmittelbar an der Stelle durch, wo er aus der Haut
hervorkonunt (Fig. i:)2 bei a) und zieht den Faden in der Richtung
von h nach a durch. Würde nu^n in umgekehrter Richtung ziehen, so
könnte man die Wunde auseinander reissen. Bei Perlnähten schneidet
man den Draht unmittelbar unter einer Bleiplatte al) und zieht den
Draht nach der anderen Seite durch.
Der Zeitpunkt, wo die Nähte zu entfernen .^ind, ist ein
verschiedener. Ganz oljcrflächliciie Nähte kilnnen schon nach 24 Stunden
entfernt werden, namentlich bei plastischen Operationen im Besicht.
Tiefere bleiben 2 — ;» Tage liegen. Entspannungsnähte — l)ei Bauch-
218 III. Capitel. — Verletzungen.
schnitten — müssen 8 — 10 Tage liegen bleiben. — Bei entzündeten
Wunden nimmt man die Nähte früher heraus, als bei solchen, die ohne
Entzündung- aseptisch heilen. Eitert der fttiehcanal, so ist es Zeit, die
Naht wegzunehmen. Schneidet eine Naht durch, d. h. schmilzt das in
der Schlinge gefasste Gewebe eitrig oder brandig ein, so kann man
die Naht ebenfalls entfernen, sie hält dann doch nichts- mehr.
Nur selten ist es nöthig, durch Heftpflasterstreifen die Wunde
noch zusammen zu halten, nachdem man die Nähte herausgenommen hat.
Wo eine Zerrung der Naht durchaus zu vermeiden ist, fixirt man
den Körpertbeil durch Binden- und Schienenverbände in der gewünschten
Stellung. Namentlich sind solche Verbände für Nerven-, Muskel- und
Sehnennähte nothwendig.
Die Vereinigung von Wunden durch annähernde Binden (Fascia
reuniens) wird heute nicht mehr geübt. Naht mit sterilem Material ist
sicherer. Kbcnso unnütz sind die kürzlich wieder erneuerten Versuche,
die Wunden mit kleinsten Häkchen und Zangen (Serres fines , siehe
Fig. 142) zu vereinigen.
Verbrennungen und Erfrierungen.
Entstehungsweise der "Verbrennungen. ■ — Die H Grade der Verbrennung. — Der
Verbrennungstod und seine Ursachen. — Behandlung. — Folgen der -Verbrennungen.
— Narbenschrumpfungen. — Blitzschlag. — Hitzschlag. — Erfrierung.
Wenn auf den menschlichen Körper höhere Temperaturen, jenseits
60° einwirken, so werden dadurch — je nach der Höhe der Temperatur
und der Dauer ihrer Einwirkung Zerstörungen verschiedener Intensität
hervorgerufen. Wir unterscheiden drei Grade der Verbrennungen.
Als erster Grad wird eine länger dauernde Röthung der Haut bezeichnet,
Hyperämie, — als zweiter Grad gilt die Blasenbildung, — als
dritter die Gangrän. Dies ist die in Deutschland übliche Eintheilung.
Die Franzosen haben ein^ andere — eigentlich praktischere Eintheilung
(nach Dupmjtren) — in ö Grade. Der dritte Grad zerfällt in 3 — der
dritte Grad Gangrän der Haut; der vierte Nekrose sämmtlicher Weich-
theile und der fünfte Gangrän der Knochen.
Für die Beurtheilung einer Verbrennung ist unerlässlich eine genaue
Beachtung der Entstehungs weise. — Bei Verbrennungen durch
strahlende Wärme kommt die Wärmequelle nicht in directe Berührung
mit dem Körper, sondern sendet ihm ihre Wärmestrahlen durch die
Luft zu — die Sonnenstrahlen bei längerer Einwirkung, die Ausstrahlung
offenen Feuers, flüssigen Metalles, elektrischen Lichtes. Meist kommt
es nur zur einfachen Röthung (Erythema solare), selten zur Blasenbildung.
Die durch Gase (Explosionen) entstehenden Verletzungen sind
meist keine reinen Verbrennungen , sondern mit Erschütterungen,
Quetschungen u. s. f. verbunden.
Bei Dynamitexplosionen sind die Verbrennungen oft sehr untergeordneter Natur
und nicht intensiv und treten neben den Quetschungen und Zerreissungen zurück.
Schon anders ist es bei Pulverexplosionen, Explosion von Feuerwerkskörperu, ätherischen
Oelen u. s. w. Diese können ausgedehnte Verbrennungen dritten Grades zur Folge
haben; ebenso schlagende Wetter. Bei diesen Explosionen kommt es meist noch zu
einer schweren \'erbrennung der Eespirationswege bis in die feineren Bronchien hinein;
und diese ist dann für den — rasch tödtlichen — Ausgang bestimmender, als die Ver-
Verbrennung. 2 19
brennung der äusseren Haut. Bei Leuclitgasexplosionen sind die Verbrennungen un-
bedeutend. — Die Verletzten gehen bei Explosionen meist nicht durch die Verbrennung,
sondern durch Erstickung (Athniung irrespirabler Gase) zu Grunde.
Bei Verbrennungen durch heisse Flüssigkeiten kommt es
hauptsächlich auf die Wärmecapacität der betreffenden Flüssigkeit und
die Dauer der Einwirkung an. Aether, Benzin versengen nur die Haare
und machen meist nur kurzdauernde Erytheme ; bei Alkoholverbrennungen
kann es bis zur Blasenbildung kommen. Bei Einwirkung heissen Wassers
bleibt Nekrose der oberen Cutisschichten nicht aus, wenn auch die
tieferen Epithelialgebilde erhalten bleiben. Am schlimmsten wirken die
bei hohen Temperaturen siedenden Fette, kochende Oelc, siedende
Butter (z. B. Fischsaucen u. s. f.). Hier sind tiefe, weit in's Unterhaut-
zellgewebe hineingreifende Zerstörungen die Regel. Petroleumver-
brennungen führen gewöhnlich zur Gangrän der Haut. Noch schwerer
in ihren Folgen ist die unmittelbare Berührung des menschlichen
Körpers mit glühenden festen Körpern, mit glühenden Kohlen und
mit brennenden Kleidern. Je fester diese gewoben sind, um so inten-
siver ist die Wirkung. Bei einer Frau, deren wollene Kleider und
Unterkleider während des epileptischen Komas in's Brennen gerathen
waren, fand ich die ganze Musculatur des Oberschenkels — förmlich
wie Roastbeef — geröstet und den Knochen noch auf die Tiefe von
1 Centimeter nekrotisch. In geschmolzenen Metallen wird der ein-
getauchte Theil im Moment vollständig verbrannt. Bei einem Arbeiter,
welcher mit einem Fuss in einen Eisenfluss getreten, war im Mbment
der Fuss bis zum Knöchel vollständig und spurlos verschwunden, ohne
grosse Schmerzcmptindung.
Die Bcurtheilung der Tiefe einer Verbrennung ist nicht
immer leicht; bei Verbrennungen 1. und 2. Grades wohl, nicht aber
sobald es zur Gangrän gekommen ; die Haut ist dann in eine leder- oder
pergamentartige, bald ganz weisse, bald mehr bräunliche geröstete Masse
verwandelt, durch welche sich nichts durchsehen und nichts durchfühlen
lässt. Die P2ntstehungsweise und die Ursache der Verbrennung sind
wichtig (s. oben), dann ist es zweckmässig, um die Grenzen der Circu-
lation festzustellen , mit einer scharfen Nadel oder einem Messerchen
die empfindungslose Haut einzustechen oder einzuschneiden, am zu
sehen, aus welcher Tiefe Blut kommt.
Der örtliche Verlauf der Verbrennungen ist je nach der Schwere
der ^'erletzung sehr verschieden. Beim ersten Grad nehmen Röthung
und Schwellung unter heftigen „brennenden" Schmerzen einige Stunden
zu, bleiben dann etwa bis zum Ende des ersten Tages auf der Höhe
und während zugleich die Schmerzhaftigkeit allmählich nachlässt, nimmt
die Schwellung ab und die Oberhaut runzelt sich. Nach einigen Tagen
blättert die Epidermis in grösseren Stücken ab, und es tritt die junge
glänzende, anfangs ndch recht empfindliche Haut zu Tage. Eine braune,
scharf umrandete Verfärbung bleibt als letztes Zeichen noch einige
Wochen zurück. — Die Blasen schiessen nicht unmittelbar nach der
Verbrennung auf, meist erst '4 — ^/a Stunde nachher. Die Oberhaut
wird abgehoben durch bernsteingelbes Serum . die Blase füllt sich
allmählich und wird sehliossliclierbsen-bishalbhühncreigross, prall gefüllt;
beim Anstechen liemerkt man. dass es meist nicht eine llJlhle, son-
dern ein v(in ikk-Ii crlialtcnen Sejjten in kleinere Kammern getheilter
Raum ist.
220
]II. (.'ilDitcI.
V<;rl(;tzuii^eii.
Fig. 143 (nach Ziegler) gewährt einen Einblick in die Entstehung ciiiei' Brand-
blase. Der Schnitt (Vergrösserung 150) ist durch den Hand einer Brandblasf; geführt. —
Die Hornschicht der Epidermis, an sich sclion abgestorben, ist durch die Vei-ln'ennung
nicht zerstört. Im Rete Malpighi linden sich eigenthümliche Verändf'rungcn, die Zellen
sind zum Theil verflüssigt und von Transsudat durchsetzt (bei u), zum Theil lässt sich
die Form eben nocli ei'kennen, Contouren und Kerne sind jedoch undeutlich. Bei h sind
die Papillen der Cutis durch den Druck des Exsudates Hach gedrückt, die dort ange-
häuften weissen Blutzellen (c) weisen auf den Beginn der Entzündung hin. — Man
stellt sich die Entstehung der Brandblase so vor, dass das Stratum corneiim, obwohl
abgestorben, mechanisch noch zusammenhängt und durch die Transsudation in's Rete
Malpighi, wozu vielleicht noch eine Verflüssigung der Epithelzellen hinzukommt (Ziegler),
zur Blase abgehoben wird.
Wird die verbrannte Stelle sich selbst überlassen, so gerinnt das
Serum nach einigen Stunden. Die Blase fängt nach 24 Stunden an,
einzusinken und schlaff zu werden. Der Inhalt verschwindet durch
Verdunstung oder Resorption und es liegt schliesslich auf der ver-
brennten Stelle ein vielfach gefalteter und gerunzelter Epidermissack ;
dann trocknet die Blase völlig ein , fängt gegen den b.—^. Tag am
Rande an sicn zu lösen, und darunter findet sich neue, vom Rete Mal-_
pighi etc. rasch nachgebildete zarte junge Epidermis^, Bräunliche Pig-
'mentirungen bleiben ohne Narbenbildung noch monatelang zurück,
Die Schmerzen sind bei Verbrennungen zweiten Grades anfangs un-
gemein heftig.
Die Verbrennungen 3. Grades heilen nur mit Narbenbildung.
Das Schicksal dieser Wunden hängt ab von der Tiefe der Verbrennung
und der Ausdehnung derselben, namentlich ob die Cutis in ihrer ganzen
Dicke zerstört ist , oder ob von den tieferen Epiderraoidalgebilden
— Haarbalg-, Schweiss- etc. Drüsen - noch Reste erhalten sind. Das
Stratum corneum löst sich gewöhnlich bald nach der Verbrennung von
der gangränösen Haut ab und diese vertrocknet zu einer lederartigen
braunen Masse. Verbrennungen 3. Grades sind — wegen der völligen
Zerstörung der Hautnerven — anfangs oft nicht so schmerzhaft wie
die 1. und 2. Grades. — Unter der Decke dieser nekrotischen Cutis_
spielen sich die Heilungsvorgänge ab, in den ersten Tagen" ist oft eine
Drei Grade der Verbrennung. 221
Veränderung- kaum zu bemerken. Nach 5— 10 Tagen fangt der Schorf
am Rande an sich zu lösen und man gewahrt eine junge Granulation
'darunter. Doch löst sich der Schorf oft erst nach Wochen. Dann
liegt eine reine Granulationsfläche frei zu Tage. Diese Granulations-
flächen bei Verbrennungen sind überaus empfindlich und besonders die
Verbandwechsel werden für die Kranken stets die Quelle fürchterlicher
Leiden. — Allmählich beginnt die Narbenbildung und Ueberhä,utung, die
SchrumpfungTler Granulationsfläche und Neubildung von Epithel vom
"Rande her als „einsäumende Ueberhäutung". Wo noch tiefe
"epitheliale Theile (Hautdrüsen und Haarbälge) erhalten sind, kommt
ihnen die „inselförmige Ueberhäutung" zu Hilfe. CVergl. pag^JTS^,
VoE^'lO.— 12. Tage an erseheinen inmitten der GranulationsfläcHe kleine
mattweisse' Inseln. Sie vergrÖssern sich rasch und erweisen sich als
neugebildetes E])itlK'l. S"öl?he Wunden heilen rasch und gut, die
Sctnüiin'pfiinir der Narben ist meist nur eine "üiibedeutende, doch gibt
"es eine bleibende Entstellung.
~ Eine schwere Qual für Arzt und Kranken sind ausgedehnte Gra-
nulationsflächen nach Verbrennung, wo keine inselförmige Ueberhäutung
sich einstellt, wo die Wunde zu ihrer Heilung allein auf die Narben-
schrnmpfung und die einsäumende Ueberhäutung angewiesen ist , aus-
gedehnte Flächen an Rumpf, Hals, Bein u. s. f. Hier erreicht die
Fähigkeit des Organismus, Defecte zu decken, bald ihre Grenzen. Wohl
vermag die Narbenschrumpfung eine Granulationsfläche auf die Hälfte,
ein Drittel ihrer Grösse einzuengen, wohl vermag sie ein Glied , ein
Bein, zusammenzuschnüren und seinen Umfang auf die Hälfte zu redu-
ciren, es bleiben doch immer noch grosse offene Stellen. Die Leistungen
der einsäumenden Ueberhäutung sind noch enger gezogen ; je weiter
^vom Mutterboden entfernt, um so kümmerlicher und hinfälliger ist das
^unge Epithel und circa 5— 6 Cm. vom Rande entfernt, erreicht die
Productionsfähigkeit des Epithels seine Grenze. Hiejthab£n^_^,,^jr_in^
cler T'///r'r.?r7/ 'sehen Hauttransplantation ein ausgezeictmeFes
Ts. r'l;i>iiscLc riiivm-gie). Die Granulationen wei'den iibg^'
'Blutung durch C'onjpression mit aseptischer Gaze gestillt und dann die
Hautstreifen aufgelegt. Ich habe so schon ganze Extremitäten mir
ncur-r Haut gedeckt, wo ""früher nur Amputation oder Exarticulation
Tibrii: lilieb. Man zögere mit der Transplantation nicht zu lange, in
"3'er vierten bisTtfnTteli Woche, wenn Alles rein ist und keine Epithel-
"Tnseln sich zeigen, ist die richtige Zeit.
'" Eine Reihe von Verbrennungen ist durch schwere Störungen
des Allgemeinbefindens com))licirt. Diese hängen nicht vom Grade,
sondern nur von der Ausdehnung der Verbrennung ab. Eine begrenzte
Verbrennung bis auf den Knochen kann ohne jede Stih-ung des Be-
findens verlaufen ; eine ausgedehnte Verbrennung ersten Grades wird
nicht ohne schwere Folgen bleiben. Betrifft die Verbrennung über ein
Drittel der Körperoberfläche, selbst wenn sie nur ersten Grades ist, so
wird ein tödtlicher Ausgang nur schwer vermieden werden können.
Diese \'erbrannten verfallen rasch in einen Zustand schweren
Collai)scs; die Tempx^ratur sinkt bis zu 80" und 34"; der Puls geht
in die Höhe und wird unzählbar; die Kranken sind in einem Zustande
grösster Unruhe, zum Theil auch durch die Schmerzen, oft bei vollem
Bewusstsein. werfen sich umher und gehen, anscheinend durch Herz-
222 ni. Capitel. — Verletzungen.
schwäche, zu Grunde. Hiczu hedarf'es oft nur weniger Stunden. Lehen
die Kranken etwas läng;er, so wird oft noch ein dunkelbrauner, liämo-
globinhaltig-er Urin abgesondert. Die Sectionsergebnisse sind so gut
wie negativ.
Ueber die Ursachen des raschen Todes nach Verbrennungen ist viel
gedacht, experimentirt und gestritten worden , ohne dass eine Entscheidung bis heute
erzielt wäre. Die älteren Aerzte dachten an „Congestionen nach inneren Organen"
oder an die plötzliche Unterdrückung der Hautthätigkeit.
Ponfick nahm eine Zerstörung von Blutkörperchen in dem verbrannten Theile und
dadurch bedingte Oligocythämie an, eine Ansicht, welche von L. v. Lesser wieder auf-
genommen wurde. Nach dem , was bei der Besprechung der Blutung mitgetheilt ist,
kann diese Verminderung der Blutkörperchen nie einen das Leben bedrohenden Grad
erreichen (s. pag. 119). Oder man dachte an das Freiwerden giftiger Stoffe aus den
zerstörten Blutkörperchen, v. Lesser beschuldigte das Kali derselben ; Catiano dachte
an die Bildung von Cyan und sprach das Ganze als eine Cyanvergiftung an , oder es
sollte Freiwerden des Hämoglobins und Fibrinfermentintoxication vorliegen ; Reiss nimmt
eine Vergiftung durch entstehende Pyridine und Chinoline an, Kiavicine und Kijanitzin
haben Ptomaine aus dem Blut Verbrannter dargestellt , die sie beschuldigen , ebenso
Boyer und Guinard. — Tapjieiner, Hösslin und Hock fanden das Blut wasserärmer
und glauben an eine Eindickung des Bluts. (Ich fand im Blute Verbrannter bis
8 — 9 Millionen pro Cubikmillimeter, also eine zweifellose Eindickung.) Klehs, Silher-
mann, Welii u. A. fanden ausgedehnte Thrombosen (Fibrinfermentbildung s. pag. 121),
Verminderung des 0 und CO, des Blutes. SaloioU glaubt an Blutplättchenthrombosen
und Embolien und so bedingten Stillstand der Circulation. Manche nehmen gewöhnlichen
Shock an (s. pag. 127). Sonnenburg denkt an eine Ueberhitzung mit reflectorischer
Herzlähmung. — Eine alte Theorie ist die der fortschreitenden Abkühlung (vergl. die
niederen Temperaturen), obwohl Verhinderung der Abkühlung (Watteeinpackung und
permanentes Vollbad von 38'') den Tod nicht hindert. — Keine dieser Theorien ist
sichergestellt. Vermuthlich wirken mehrere Ursachen zusammen. (Vergl. Tschmarke,
D. Zeitschr. f. Chir. Bd. 44. Lit.)
Ueberstehen die Kranken mit ausgedehnten Verbrennungen die
Gefahren dieser ersten schweren Stunden, so ist ihr Leben damit noch
keineswegs gesichert. Gelingt es nicht, den Verlauf der Wunden
aseptisch zu gestalten , so sind die Kranken allen accidentellen Wund-
krankheiten ausgesetzt. Vielfach wurden , gerade bei Brandwunden,
Throraboseubildung und folgende Embolien beobachtet. Unaufgeklärt
ist die Häufigkeit des Vorkommens von Pneumonien bei Verbrannten.
Eine ebenso räthselhafte Erscheinung ist die Bildung von Darm-
geschwüren, namentlich Duodenalgeschwüren und das Vorkommen von
Darmblutungen bei Verbrennungen.
Bei aseptisch verlaufenden Verbrennungen habe ich Darmblutungen und Darm-
geschwüre nie gesehen. Ich bin geneigt, sie als septische, resp. pyämische Vorgänge
aufzufassen und sie mit den bei Einspritzung von Fibrinferment (Edelberg) und sep-
tischen Stoffen entstehenden Darmerscheinungen zu identiliciren, ebenso die Pneumonie.
Dass Fibrinferment bei Verbrennungen frei wird , lässt sich wohl denken. Dieselbe
Deutung als septische Vorgänge lassen auch die Meningiten und Nephriten zu, welche
bei Verbrannten als Todesursachen in den ersten Wochen vorgekommen sind.
Selbst Monate, halbe Jahre nach der Verletzung gehen manche
Verbrannte noch zu Grunde. Es sind dies Fälle ausgedehnter Ver-
brennungen, wo eine Ueberhäutung der Granulationsflächen nicht er-
folgen kann. Die Kranken erliegen der Erschöpfung durch die monate-
lange Eiterung und der Amyloidentartung innerer Organe. Diese Todes-
fälle lassen sich durch die Thiersch'' sehe Hautaufpflanzung zum Theil
vermeiden.
Die Aufgabe der Behandlung ist bei schweren, ausgedehnten
Verbrennungen zunächst die Bekämpfung des Collapses. Die Analeptica,
Campherlösung und Aether, subcutan; Spiritusklystiere , heisser Kalfee
Allgemeinwirkung der Verbrennung. Behandlung. 223
und Wein u. s. f. innerlich, sind zu Anfang wirkungslos, später, d. h.
nach der Infusion , zweckmässig. Das Einzige , wovon eine Wirkung
erhofft werden kann, ist eine intravenöse Infusion von 800 — 1500 Ccm.
warmer O'Tprocentiger alkalischer Kochsalzlösung. (Vergl. pag. 122.) Sie
begegnet sowohl dem Collaps, als der Vertrocknung der Gewebe. Fast
noch zweckmässiger sind öfters wiederholte subcutane Kochsalzinfusionen
von je 300 Ccm. (bis 2000 Ccm. pro Tag) in die Haut des Oberschenkels,
des Bauches, der Brust etc. Sobald reichliche Diurese beginnt und der
Harn anfängt, heller, d. h. häraoglobinärmer zu werden, bessert sich
die Aussicht sehr. Ist die Verbrennung dritten Grades und so ausge-
dehnt, dass eine Heilung doch nicht zu erwarten steht, so ist es zweck-
los, die Qualen des Kranken noch durch eine Infusion hinzuziehen
und man wird keinem Arzte einen Vorwurf machen, welcher dem Un-
glücklichen das Sterben durch eine kräftige Morphiuminjection (003
und mehr) erleichtert.
Ist der Collaps vorüber und sind Chancen für eine Heilung da,
so tritt die örtliche Behandlung in ihre Rechte. — Wie bei jeder
Wunde, ist auch bei Verbrennungen Ausschluss der Infection erste
und wichtigste Pflicht. Bei der enormen Empfindlichkeit ist exacte
Reinigung ohne Narkose unmöglich und so erscheint es am zweck-
mässigsten — bei irgendwie ausgedehnten Verbrennungen — , die Kranken
zu chloroformiren, die Haut kräftig mit Bürsten abzuseifen, mit Aether
abzureiben und in pag. 197 vorgeschriebener Weise aseptisch zu
machen. Carbollösungen eignen sich wegen der Gefahr der Resorption
nicht, Salicvl- und Borlösungen sind zu schwach. Zweckmässiger
sind dünne Sublimatlösungen (1:5000 — 1:10.000). Die Gefahr der
Intoxication ist hier geringer. Man schützt die Haut mit einer anti-
septischen Salbe (Ac. bor. l'O oder Ac. salicyl. 1"(), Lanolin 30"0).
Darüber kommen achtfache Lagen sterilen Mulls und schliesslich
reichliche Schichten stark resorbirender Verbandstoffe, Holzwatte, Holz-
stoff u. dergl. Ist die Verbrennung nicht sehr ausgedehnt, so ist Narkose
nicht nötliig; ein Seifenbad, dann ein sorgfältiges Abwischen mit in
Sublimatlösung getauchten Wattebäuschchen genügt. Für kleine Flächen
ist auch das Jodoform ein gutes Verbandmittel, bei grossen Resorptions-
tlächen verbietet es sich durch die Gefahr der Vergiftung. Man be-
pudert die verbrannte Stelle nach der Desinfection mit Jodoform, Zink-
oxyd, Bismuthum snbnitricurn ( Barddehen) , pulverisirter Borsäure,
legt Jodoform- oder Sublimatgaze darüber und dann Watte und erzielt
so einen Dauerverband, unter dem die Verbrennung, selbst wenn sie
dritten Grades ist, ruhig heilen kann. Biclder (Langenbecl'^s Archiv^ 43)
bestreicht die verbrannten Stellen einfach mit Thiolum liquidum, darüber
Watte. Binde; Verbandwechsel nach 8—10 Tagen. Auch Ichthyol-
salben fmit Lanolin 1 : 10) werden empfohlen. Den Verband so, selten als
mitgiich wechseln zu müssen, ist bei Verbrennungen für den Kranken
ein grosser Gewinn ; denn die Verbandwechsel sind äusserst schmerz-
haft, wenngleich bei aseptischem Verlauf die Schmerzen nicht so furcht-
bar sind. Ich lasse bei grossen Brandwunden den Verband entweder
in protraliirten Bädern abweichen oder chloroformire leicht zum Ver-
bandwechsel.
Die antiseptisclie Behandlung der Verbreiiuungen übertrillt ullc anderen ilethudeu
weit. Schmerzen und Entzündung sind viel geringer, die llcgeneration erfolgt
224
III. Capitel. — Vcrlcl.zuiijrori.
schnelloi-, diu Narben sind -vvoniger d(;rl), zeigen eine geringere Neigung zum
Schrumpfen, wie sonst. — Bas Fieber ist niedrig oder felilt ganz : die oben geschilderten
septischen Erscheinungen I'aUen weg; der Appetit und das Allgemeinbefinden bleiben gut.
Diesen ganz wesentlichen Vortheilen gegenüber kommt die Gefahr einer Intoxication
mit einem Antisepti cum nur wenig in Betracht; hier heisst es oft „biegen oder l)rechen"
und von den zwei Uebeln ist die Gefahr des Antisepticums die kleinere. I>ie rein
aseptische Behandlung genügt wenigstens in späteren Stadien nicht, wohl aber schwache
Antiseptica, wie Borlanolin.
Die Schmerzen lassen sich hei kleineren Verbrennungen durch Bepinseln
mit 4procentiger Cocainlösung oder Verbände mit Cocainsalben (5—10 Procent) sehr
schnell beseitigen. (Gefahr der Intoxication!)
In den älteren Behandlungsmethoden und im Verfahren der Laien spielen
„kühlende" Stoffe eine Hauptrolle — Kalkwasser, fleischige Pflanzenblätter, geschabte
Kartoffeln u. dergl. Dieselben sind höchstens bis zur Ankunft des Arztes erlaubt.
Eine grosse Eolle spielte die StaM'sche Brandsalbe (Aqua calcis und Oleum lini zu
gleichen Theilen).
Neben der antiseptischen Behandlung kann — für ausgedehnte
Verbrennungen — höchstens noch das permanente Wasserbad in
Fjg 144 Betracht konomen. Ohne die Vorzüge
desselben 7ai unterschätzen (Weg-
fallen der Verbandwechsel), habe ich
mich doch nie dafür begeistern
können. Die Kranken fühlen sich im
Bett — • in einem guten antiseptischen
Verband, entschieden wohler.
In den späteren Perioden sind,
die Granulationen durch Aetzen mit
Lapis in Substanz oder Bestreichen
mit starken Höllensteinlösungen in
Schranken zu halten. Die Schmerzen
sind hiebei enorm (Morphium, selbst
Narkose, bei kleinen Flächen Cocain,
Vergiftung!).
Irgendwie grössere Defecte
sind zeitig durch Transplantation zu
decken. Man wird hiedurch manchen
Fall, wo früher nur die Amputation
übrig blieb, noch zur Heilung bringen.
Als besonders üble Folgen ausgedehnter und tiefer Verbrennungen
sind die enormen Narben Schrumpfungen gefürchtet. Es kann da-
durch der Arm an den Leib fixirt, das Kinn an die Brust festgelöthet,
Fig. 144 (nach Bruns), der Mund verschlossen werden u. s. f. Dehnungen
und leichtes Massiren , ebenso multiple Incisionen geben nur geringe
Erfolge; Transplantationen gestielter Lappen, oder Transplantationen
nach Thiersch (freier Hautstücke) sind angezeigt. Sie müssen durch
zeitige Transplantation vermieden werden.
In langsam und schlecht geheilten Brandnarben entwickeln sich mitunter „Narben-
carcinome'", echte Epithelialcarcinome. Auch Lupus wird beobachtet.
Die Wirkung des Blitzes ist nach Sonnenhurg ausser einer
thermischen und erschütternden, auch eine mechanisch zerreissende (z. B.
Zerstörungen des Rückenmarks).
Vom Blitze Getroffene sind in einem Zustande halber oder
ganzer Bewusstlosigkeit. Jene ist oft nichts als grosser Schrecken des
Blitzschlag. Sonueustich.
225
sonst Unverletzten; diese dagegen kann sieh als ein schweres lang-
andauerndes Koma erweisen. Frottirungen, am besten im warmen Bad
mit kalten Uebergiessungen des Nackens, subcutane Aethereinspritzungen
sind angezeigt. Man findet an solchen Kranken mitunter die „Blitz-
figuren", rothbraune oder mehr bläuliche, oft schlangenartig ver-
laufende und dendritisch verzweigte Streifen, bestehend in einer meist
nur oberflächlichen Verbrennung und Vertrocknung der Cutis. Nur
selten sind es Verbrennungen dritten Grades. Bei schweren Blitzver-
letzungen fehlen nie hochgradige nervöse Störungen, Anästhesien,
Parästhesien und vor Allem Lähmungen. Selbst wenn die Restitution
lange zögert, ist doch eine völlige Wiederherstellung die Regel.
Elektricität und Massage sind hier nützlich. Auch die nervösen Er-
regungszustände, die oft bei Blitzgeschlagenen nachher sich einstellen,
verschwinden schliesslich wieder.
Fig. 145 zei.st Brandstellen an den Füssen einer vom Blitze getroöenen Frau
am fünften Tage der Verletzung, nach Heusner. Zwischen den Füssen liegt die
Strumpfsohle, die gleichfalls, den Verbrennungen entsprechend, durchlöchert und
verbrannt ist.
Gleichfalls durch Hitze, jedoch auf ganz anderem Wege, werden
herbeigeführt: der Sonnenstich und der Hitzschlag.
Der Sonnenstich entsteht durch unmittelbare Bestrahlung des
Kopfes und scheint auf einer durch Ueberhitzung des Kopfes und Ge-
hirnes entstehenden Gehirnaflection zu beruhen. Er betriff't namentlich
Feld- und Erntearbeiter, dann Soldaten während grosser Märsche. Die
Erscheinungen sind die einer rasch eintretenden und schnell verlaufenden
Meningitis; Kopfschmerz, dann Unbesinnlichkeit, Ohnmacht, Krämpfe,
Störungen der AtiimuDg und scidiesslich der Herzthätigkeit.
Die Behandlung besteht in kalten Umschlägen auf den Kopf,
nassen kalten Einpackungen , kalten Uebergiessungen im lauen Bad,
später Blutegeln an's Foramen mastoideum, einer Eiskappe auf den
Kopf; subcutane oder intravenöse Koclisalzinfusionen sind zu versuchen.
Die schweren Fälle gehen meist zu Grunde.
Landerer, Allg. cbir. l'atliologie u. Tlierapip. 2. Aufl.
15
226 J^I- ^^Japitcl. — Verl(;tzurif?(iii.
Zum llitzsclilag- kommt es an lieissen schwülen Tagen auch
ohne unmittelbare Sonnenbestrahlung, besonders beim Marschiren in
geschlossenen Gliedern. l)egünstigt wird das Auftreten von Hitzschlag
durch Mangel an Wasser. Die beste Verhütung ist genügendes Wasser-
trinken; Wein etc. trinken begünstigt den Hitzschlag.
Die bis dahin reichliche Schweisssecretion hört auf, der Kranke
wird blau , holt mühsam Athem und bricht bewusstlos , mit kleinem
frequentem Puls zusammen. Die Temperatur kann excessive Höhen,
43*^ und mehr erreichen. Man denkt an eine Ueberhitzung und Ein-
dickung des Blutes. Der Tod scheint an Herzparalyse zu erfolgen.
Die Kranken werden in nasse Laken gepackt , dann kommen Bäder
mit kalten Uebergiessungen des Kopfes und Nackens, daneben Herzreize
(subcutane Aether- und Campherinjection). Intravenöse oder subcutane
Infusion von Kochsalzlösung (1000 Ccm. und mehr) ist dringend angezeigt.
Die Erfrierungen bieten manche Analogie mit den Verbren-
nungen , allerdings mehr in ihrem örtlichen Verhalten , als in ihren
Allgemein Wirkungen .
Alle schwächenden Momente begünstigen in hohem Grade das
Eintreten des Erfrierungstodes. So sind Leute unmittelbar nach
öder während einer schweren Anstrengung sehr viel weniger wider-
standsfähig (Bergsteiger); besonders disponirt sind Betrunkene; auch
bei Geisteskranken ist Erfrierung häufig. Es scheint, dass sich der
Betreffenden eine überwältigende Müdigkeit und Schlafsucht bemächtigt,
der sie schliesslich nachgeben. Sie sinken zusammen und liegen in
tiefem Schlafe, der dann in einen komatösen Zustand und endlich in
den Tod übergeht. Die Temperatur sinkt tiefer und tiefer, die Respiration
wird seltener, auch der Puls geht weit unter die Norm herunter. Die
niederste Temperatur eines Erfrierenden , der schliesslich noch gerettet
wurde, war zwischen 24 und 25^ C. (im Mastdarm gemessen), der Puls
zwischen 40 und 50, die Zahl der Athemzüge 8 pro Minute.
Durch die Kälte contrahiren sich die peripheren Gefässe und
halten das Blut in den inneren Organen zusammen, so dass hier noch
verhältnissmässig lange eine eben genügende Circulation und damit
die Möglichkeit einer Wiederbelebung erhalten bleibt. Schliesslich er-
lischt natürlich die Circulation auch hier. Die letzte Ursache des Er-
frierungstodes ist nicht bekannt; ob die Hyperämie innerer Organe
(Cohnheini) oder die Anämie des Gehirns (Catiano) wesentliche Momente
sind, scheint fraglich. Die einfache Abkühlung empfindlicher Organe,
z. B. des Gehirns, kann ja auch genügen, sie ausser Function zu setzen
ohne grobe anatomische Veränderungen.
Die Aufgabe der Behandlung Erfrorener ist: die Circulation
wieder in Gang zu bringen und den Körper zu erwärmen. Hier streitet
man sich um die grössere Zweckmässigkeit der raschen oder lang-
samen Erwärmung. Für erstere sprechen die Thierexperimente mehi,
für letztere spricht der herkömmliche Brauch. Man bringt den Kranken
in einen Raum von 12 — 16 Grad, lässt ihn hier mit Schnee, oder
zweckmässiger mit rauhen Tüchern, Flanelllappen u. s. w. kräftig frot-
tiren und kneten. Aetherinjectionen in die Herzgegend sind gleichfalls
nicht zu unterlassen. Ebenso ist , wenn die Athmung schlecht ist,
Hitzschlag. Erfrierung. 227
künstliche Athmung' aus/Aiführen. Am besten setzt man den Kranken
in ein nur wenig gefülltes Bad von 16° R. und lässt ihn hierin frottiren,
allmälig wird heisses Wasser zugegossen, dass die Wanne voll und die
Temperatur auf 28" R. ist. Darauf kommt der Kranke in ein wohl-
durchwärmtes Bett, erhält Aetherinjectionen, ein Spiritusklysma ; wenn
er schlucken kann, schwarzen Kaffee, Glühwein u. s. w.
Manchmal bekommen die Kranken nachträglich noch Pneumonien;
jedenfalls bedürfen sie längerer Schonung.
Die örtlichen Wirkungen der Kälte theilt man ebenso in
3 Grade ein , wie bei der Verbrennung — Röthung , Blasenbildung,
Gangrän; doch ist hier die französische Eintheilung in 5 Grade —
Gangrän der Haut, der Weichtheile, der Knochen — fast verbreiteter.
Die Eötliung der Erfrierung hat einen ganz anderen Charakter als bei der
Verbrennung. Bei dieser eine scharlachrothe, intensive , rasch ablaufende entzündliche
Hyperämie, bei der Erfrierung eine bläuliche Röthe mit starker Stauung, Oedembildung
und zögerndem Verlauf. Gewöhnlich handelt es sich iim periphere Theile, erfrorene
Nasen, Ohren, Finger, Zehen. Während der Erfrierung fühlen die Verletzten oft nicht
viel. Der erfrierende Theil ist zunächst weiss und blutarm. Kommt derselbe nun in
die Wärme, so tritt wieder Blut ein, dasselbe circulirt aber, wie der Fingerdruck zeigt,
nur langsam. Es folgt entzündlich - ödematöse Schwellung. Zugleich entwickeln sich
lebhafte brennende Schmerzen. Die Schwellung kann sich steigern bis zur Blasen-
bildung. Auch hier zeigt sich die Verwandtschaft der Frostentzündung mit der Stauung ;
die Blasen sind nicht mit klarem Serum gefüllt, wie bei der Verbrennung, ihr Inhalt ist
bluthaltig, schmutzig - braunroth , wie bei Stauung. Viel langsamer als bei der Ver-
brennung laufen die weiteren Processe ab; nach mehreren Tagen fängt der Theil an
abzuschwellen . die Haut schält sich , doch bilden sich in den Furchen zwischen den
sich abblätternden Haiitstückchen nicht so selten kleine Rhagadengeschwüre , und auch
unter den Blasen kommt es nicht zu einer schnellen Epithelregeneration , sondern zu
länger dauernden eiterigen Absonderungen, selbst zur Bildung oberflächlicher missfärbiger
Granulationen.
Nach der Abheilung ist die Folge nicht eine Pigmentirung , Avie bei der Ver-
brennung, sondern eine bläuliche Verfärbung, eine chronische Dilatation und Stauung
in den Venen und manche „blaue Nase" verdankt ihre Entstehung einer Erfrierung.
Einmal erfrorene Theile sind einer erneuten Erfi'ieruug besonders leicht ausgesetzt.
Ebenso sind an sich blutarme Theile der Erfrierung besonders zugänglich. So kommt
es, dass gewisse Körperstellen bei anämischen Personen, namentlich chlorotischen
Mädchen, der Sitz einer Art von chronischer Erfi-ierung sind, der „Frostballen",
Perniones. Es sind chronische Hyperämien, selbst chronische Geschwürchen, hauptsächlich
am Handrücken und am Ballen der grossen Zehe. Sie kommen immer im Winter,
besonders beim Arbeiten in kaltem Wasser, um im Sommer fast ganz zu verschwinden.
Die Grundlage des Leidens ist die mangelhafte Blutcirculation infolge der Stauung
und Blutarmut]!.
Die höheren Grade der Erfrierung bieten ein wesentlich
anderes Aussehen. Tief braunblau erscheint ein solches Glied — ein
Unterschenkel oder Fuss — stellenweise mit braunrothen Brandblasen
bedeckt ; wo die Oberhaut abgegangen ist , sickert aus der miss-
färbigen schmutzigbraunen Cutis braune dünne Jauche hervor. Auf Ein-
schnitt kommt kein Blut, sondern nur dieselbe Brandflüssigkeit. Die
eingesenkte Nadel constatirt keine oder nur höchst undeutliche Empfin-
dung. Je mehr centralwärts , um so deutlicher werden die Zeichen
noch vorhandener Circulation, wenngleich anfangs nur spurweisc. Auch
hier zeigt sich in den noch erhaltenen Theilen äusserste Trtig-
heit der Circulation. — Es dauert nicht lange, so verfallen die nicht
mehr ernährten Theile stinkender Fäiilniss . die rasch von der Ober-
fläche in die Tiefe dringt. Ein schweres Kesorptionsiiel)er septischen
Charakters schliesst sich an; die Temperatur schwankt um 40*', der
15*
228 ^^^- Gapitel. — Verletzungen.
Puls um 110 — 120; die Hautfarbe wird gelblich, das Gesieht verfällt,
die Augen liegen tief, die Hände zittern und äussersie Kraftlosigkeit
befällt den Kranken. Der Appetit ist ganz weg, die trockene Zunge
ist russig (fuliginös) belegt, trotz eines heftigen Durstes und häutigen
Trinkens; stinkende dünne Ausleerungen sind vorhanden.
Erliegt der Kranke nicht zu früh, so kommt es an der Grenze des
Lebenden undTodten zur Bildung einer dem arkir enden Granulation.
Je nach der Tiefe der Erfrierung, der Art der Einwirkung der Kälte
bildet sich ein senkrecht bis zum Knochen abfallender Demarcations-
graben, oder die demarkirende Entzündung schiebt sich schräg unter
der Haut in die Weichtheile hinein , so dass schliesslich der vordere
Theil des Fusses wie ein Schuh von den Knochen abgezogen werden
kann. Fascien und Sehnen halten lang und verleihen oft — durch
die Bewegung der Zehen — dem Todten noch den Schein des Lebens.
Am spätesten lösen sich die Knochen, diese ragen noch Monate lang
als nekrotische Stümpfe aus der sonst fast geheilten Granulationstläche
hervor.
Bei leichten Erfrierungen reibt man bekanntlich mit Schnee.
Man will so eine entzündliche Hyperämie erregen, die der Stauung ent-
gegenwirken soll. Auch hier sind die Regeln der Antisepsis auf's
Peinlichste zu beobachten ; der Theil ist nach allen Regeln (s. pag. 197 ff.)
zu desinficiren, dann kann man kleine Flächen mit Borlanolin (1 : 10
bis 1:30) bedecken und darüber einen absorbirenden Stoff (Holz watte
u. s. w.) legen. Droht Brand, so sind warme, dicke antiseptische Ein-
packungen (Sublimatlösung) zweckmässiger.
Chronische Erfrierungen, „Frostballen", curirt man gleich-
falls durch Erzeugung einer energischen Hyperämie. In weitem Um-
kreise bestreicht man die Stellen täglich mit Jodtinctur und verbindet
dann mit einer „reizenden", d. h. leicht ätzenden antiseptischen
Salbe (Arg. nitr. 1 : 30 Lanolin , Perubalsam 1 : 2 Lanolin oder pure)
oder Ichthyolsalbe (1 : 4 Lanolin) u. s. w. Auch dicke Priessnitz' sehe
Umschläge mit Sublimatlösungen (1 : 3 — 2000) sind gut. Dabei lässt
man leicht massiren und versäumt nicht die Allgemeinbehandlung-
etwaiger Blutarmuth. Gegen „erfrorene" blaue Nasen gibt es viele
Mittel, die leider meist nicht viel helfen. Collodium mit Sublimat (1 : 20),
Jodtinctur, Abreiben mit Citronen u. s. f., Massiren, kurzum leicht ent-
zündlich wirkende oder den Kreislauf beschleunigende Verfahren, oder
narbenbildende und schrumpfende Mittel — Elektropunctur, Stichelungen
mit feinen Messerchen (Volkmann) u. dergl. sind gebräuchlich.
Bei schweren Erfrierungen ist zunächst die Beseitigung der
Stauung zu erstreben; vorzüglich wirkt hier die verticale Suspension.
Es tritt rasch Abschwellung ein und es gelangen oft noch Theile
zum Leben, denen man es nicht mehr zugetraut hätte. — Ein zweites ist
die Beherrschung und Beseitigung der Fäulniss ; hier gilt es, den feuchten
stinkenden Brand überzuführen in den trockenen aseptischen. (VergL
pag. 42.) Die todten Theile müssen, während sie noch mechanisch mit
den lebenden zusammenhängen, mumificirt werden. Man bedient sich
hiezu energisch austrocknender Verbandstoffe: Kohlenpulver (weniger
geeignet), Torfmull, Holzstoff und Holzwolle, Moos u. dergl. Dieselben
müssen einen antiseptischen Zusatz (Sublimat oder Jodoform) haben.
Vorher macht man zweckmässig zahlreiche lange Incisionen durch die
Behandlung der Erfrierung. 229
todten Theile bis zum Gesunden, um die Austrocknung- zu erleichtern.
Gelingt es nicht mit dem ersten Verband, dann mit einem zweiten oder
dritten. Schliesslich muss das Nekrotische völlig geruchlos und trocken
sein, die angrenzenden Theile müssen — durch Elevation — abschwellen
und der Kranke muss fieberfrei werden. Zeigen sich noch Temperatur-
steigerungen, so ist irgend etwas nicht in Ordnung, was man finden
muss ; meist handelt es sich um eine Eiterverhaltung, eine Gelenkver-
eiterung oder einen in einer Sehnenscheide fortgekrochenen Abscess.
Diese sind sofort zu eröffnen und zu drainiren. — Hängt das Todte
nur noch an Sehnen und Knochen , so ist es mit Messer und Säge
abzutragen. Ist Alles in guter Granulation , die Umgebung gut ab-
geschwollen, der Kranke wieder kräftig und frisch, so kann man noch
während der Granulationsbildung , natürlich aseptisch , unter Lappen-
bildung von dem Knochen so viel herausschälen und herausholen, dass
die Weichtheile zur Bedeckung reichen und ein Ulcus prominens (s. Ope-
rationslehre) vermieden wird. Man lässt die Lappen übereinanderfallen —
ohne exacte Naht — und meist heilt Alles glatt p. p. i. (sog. secundäre
atypische Amputation).
Frühzeitige Amputationen vor der Begrenzung der Gangrän sind,
selbst wenn sie weit entfernt gemacht werden, zu widerrathen. Gewöhn-
lich ist bei einer Erfrierung des Fusses das ganze Bein septisch in-
filtrirt ; selbst wenn man im Oberschenkel absetzen will , kommt man
nicht in ganz gesunde Theile. Der Kranke , dessen Leben man zu
retten gedachte, stirbt im unmittelbaren Anschluss an die Operation
-an Blutverlust oder an Blutvergiftung. Abwarten und Eröffnung von
Eitersenkungen ist hier das einzig Richtige.
Die Narkose.
Das C hior of or m. Proben seiner Reinheit. — Anwendungs- und Wirkungsweise. —
Gefahren der Chloroformnarkose. — Chloroformasphyxie und ihre Behandlung. —
Künstliche Athmung. — Morphium-Chloroformnarkose. — Aethernarkose. —
Narkose mit anderen Anästheticis. — Locale Anästhesie (Aether, Cocain), Infiltra-
tionsanästhesie.
Das Streben, die Schmerzen einer Operation zu lindern, ist so
-alt wie die Menschheit selbst. Die im Alterthum verwandten Mittel
waren ausnahmslos mohn-, d. h. opiumhaltig. Ihre Wirkung ist so
ungenügend, wie die in neuester Zeit mitunter gemachten Versuche,
magnetischen Schlaf oder hypnotische Zustände chirurgischen Zwecken
dienstbar zu machen.
In erster Linie werden heute in der Chirurgie angewandt Chloroform
(ClI Clo,) und Aether (Aethyläther ^' h'>0).
I)a.s MetliyliMiljiclilorid (CH.Cl,), von Spencer Weih namentlich für Unterleibs-
■operationen eniptbhl(;n , ist viel theurer und hat keine besonderen Vortheile. Die An-
gabe, dass das Mcthylenbiclilorid kein Erbrcclicn mache, ist nicht richtig. — Der Aether
wurde zuerst von Jackson und Morton 184(5 in Boston zum Narkotisiren verwandt;
1847 wurde das Chloroform von Simpson in l-'diiiburgli eingeführt.
Das Chloroform soll frei von fremden Beimengungen sein.
Das Cliloroform kann von einer nachlässigen Her.stellung her noch Beimengungen
enthalten. Das deutsche Chloroform wird aus (^lilorkalk durch Destilliren mit sehr
Verdünntem Spiritus dargestellt. Diese fremden Beimischungen , hauptsächlich Aethyl-
9y(j III. (Ja]nt(,'l. — Ve)'letzuiij.':cii.
und MothylverbindiuigiMi , deren Kinathnmnf? nicht unl)(;denklich ist, sind zu erkennen
durch Eintauchen eines Streifens reinen schwedisclien Filtriipapiers. Zei^t derselbe nach
Abdunsten des Chloroforms noch einen unangenehmen, ranzigen, kratzenden Geruch, so
ist das Präparat nicht rein (Geruchprobe). — Im diffusen Tageslicht zersetzt sich
Chloroform in freies Chlor, unterchlorige Säure, Salzsäure, Ameisensäure, Essigsäure,
Aldehyd u. s. f. Blaues Lackmuspapier wird geröthet (durch Säure) oder gebleicht (durch
Chlor, unterchlorige Säure). Chloroform darf deshalb nur in blauen, gelben oder schwarzen
Flaschen oder im Dunkeln aufbewahrt werden. — Absichtliche Verfälschungen be-
stehen besonders in Zusatz von Alkohol und Aether. Auf diese wird man aufmerksam
durch die Bestimmung des specifischen Gewichtes. Ist dies unter l'48o, so ist das
Chloroform nicht rein. Ein Zusatz von 1 Procent Alkohol zum Chloroform ist gestattet ;
dieser Zusatz scheint die Zersetzung des Chloroforms aufzuhalten oder zu verhindern.
Stärkeren Zusatz erkennt man , wenn man einen Tropfen Chloroform durch destillirtes
Wasser fallen lässt. Reines Chloroform fällt klar zu Boden ; trübt der Tropfen sich
milchig, so ist ein erheblicher Zusatz von Alkohol im Chloroform. Aetherbeimischung
ist durch Zusatz von etwas wässeriger Jodlösung nachzuweisen , z. B. Jod-Jodkalium-
lösung. Peines Chloroform färbt sich amethystfarben , ätherhaltiges blutroth mit einem
Stich in's Braune.
Das Chloral Chloroform wird durch Zersetzung von Chloralhydrat mit kaustischen
Alkalien dargestellt. Das englische Chloroform gewinnt man durch Chlorirung von
3Iethylalkohol. — Die letzteren beiden Sorten sind reiner als das deutsche , aber auch
wesentlich theurer.
In neuerer Zeit werden besonders empfohlen das aus Salicylid-Chloroform ge-
Avonnene Chloroform Anschütz (Witzel) und das durch Gefrieren und Kiystallisiren ge-
reinigte Pic^e^'sche Chloroform. Die beiden Sorten nachgerühmten Vorzüge (mangelnde
unangenehme Nebenwirkungen , Seltenheit des Erbrechens während und nach der Nar-
kose) habe ich bei der praktischen Prüfung nicht bestätigen können.
Der Narkotisirung ist eine genaue Untersuchung des Kranken
vorauszuschicken. Kinder und Frauen, denen der Genuss von Spirituosen
fremd ist, narkotisiren sich meist leicht und ohne Gefahr. Die meisten
Schwierigkeiten hat man bei erwachsenen Männern. Hier ist besonders
auf das Herz zu achten. Die Klappenfehler sind im Ganzen weniger
zu fürchten. Ich habe Kranke mit schweren Klappenfehlern ohne
Schaden und Störung chlor oformirt, natürlich mit besonderer Vorsicht.
Viel schlimmer sind die Affectionen des Herzmuskels, namentlich die
Verfettungen, wie sie sich bei Trinkern finden. Bei solchen ist jede
Narkose als ein in seinem Ausgang zweifelhafter Eingriff anzusehen
(s. unten). Dasselbe gilt von Gefässerkrankungen , besonders allgemeinem
Arterienatherora. Lungenleiden fordern gleichfalls zu erhöhter Vorsicht
auf, und zwar sind Emphysem und Bronchitis gefährlicher als Lungen-
tuberculose (in nicht zu weit vorgeschrittenen Stadien). Grosse Aengst-
lichkeit der Patienten disponirt gleichfalls zu üblen Zufällen während
der Narkose. Hier thut oft ein freundliches Wort Wunder.
Womöglich sind die Kranken einer gewissen Vorbereitung zu
unterwerfen. Diätfehler am Abend vorher sind auszuschliessen. Früh-
morgens bekommt der Kranke nur eine Tasse Thee oder schwarzen
Katfee. In England gibt man jedem Patienten , selbst Kindern und
Frauen eine halbe Stunde vor der Narkose ein Glas Sherry oder einen
tüchtigen Schluck Cognac. Die Narkose scheint dadurch namentlich bei
Schwächlichen erleichtert und die Gefahr seitens des Herzens ver-
mindert zu werden. Nie soll man bei vollem Magen narkotisiren. —
Nun wird der Kranke, auf hartem Polster lang ausgestreckt, leicht
zugedeckt, eine Rolle unter dem Kopf gelagert. Alle Hindernisse,
welche die Athmung beeinträchtigen könnten — enge Cravatten,
Kragen, Leibbänder u. s. f. — sind zu entfernen. Hals, Brust und
Unterleib sind frei, nur dünn bekleidet, von der Hand des Chirurgen
Chloroformuarkose.
231
(zur Einleitung der künstlichen Athmung) jederzeit leicht zu erreichen.
Mund und Eachenhöhle müssen leer sein. Falsche Gebisse, Tabaks-
priemen bei Tabakkauern u. s. f. sind auf den Kehlkopfseingang gefallen
und haben rasche Erstickung herbeigeführt. Ein oberhalb des Knies
umgeschnallter breiter Riemen fixirt den Kranken an den Tisch.
Als Ort zum Chloroformiren wählt man am besten einen
stillen, etwas verdunkelten Raum. Nur der Narkotiseur und ein bis
zwei Gehilfen seien anwesend. Je weniger Sinneseindrücke auf den
Kranken in den ersten Stadien der Narkose einwirken, um so glatter
und ungestörter verläuft dieselbe. Ohne zwingende Noth soll man nicht
allein chloroformiren ; es können während der Narkose Schwierigkeiten
eintreten, die von Zweien leicht besiegt werden, für Einen allein aber
unüherwindbar sind. In England ist es überhaupt gesetzlich verboten,
ohne Zuziehung eines zweiten Arztes zu chloroformiren.
Von den Apparaten zur Chloroformirung sind die wichtigsten der
EsnttirrJi'mhQ Chloroformkorb und der Junker ^ahe Apparat.
Die K s iti arch' ach e Maske ist ein rundes oder ovales, mit
vierfach Mull überspanntes Drahtgeflecht; dasselbe wird dem Kranken
auf Mund und Nase gelegt und mit einer Tropfflasche Chloroform auf-
gegossen. Der Kranke athmct das nach dem Innern der Maske ver-
dunstende Chloroform. \crnii,s('ht mit mehr oder weniger atmosphärischer
Luft , die durch und neljen der Maske eindringt (Fig. 14()). Die
111. Capitel. — Verletzungen.
Fig. 147.
Maske hat den Vorzuj^, dass sie — besonders in den späteren Stadien
der Narkose — ruhig auf dem Gesicht liegen hleiVicn kann. Man
behält so eine, später beide Hände frei — für das Lüften des
Kiefers u. s. w. Man kann bei kleineren Operationen sogar Xarkose
und Operation zugleich besorgen (Landpraxis und Geburtshilfe).
Eine zweckmässige Modification der Esmardi iichen Maske ist die
„aseptische" Maske von Schimmelbusch. Zwischen zwei im Charnier beweg-
liche Rahmen kann ein (4 — Sfaches) Stück Mull eingeklemmt werden ;
der Wechsel des Netzes ist dadurch sehr erleichtert. Eine praktisclie
Tropfflasche gibt Fig. 147.
Die beste Methode ist die Tropfmethode, es werden vom Anfang
an immer Tropfen um Tropfen auf den Mull getropft, anfangs alle
1 — 2 Secunden einer, dann jede Secunde einer, später nur alle 3 — 4Secun-
den ein Tropfen (Witzel), oder bis zur Betäubung 12 Tropfen in der
Minute, nach erreichter Anästhesie nur 4 — 6 Tropfen in der Minute
(Bydygier). Man lässt den Kranken dabei langsam und laut zählen.
Wenn auch — besonders bei Männern —
bei diesem langsamen Anchloroformiren die
Betäubung zunächst nur sehr langsam eintritt,
so lasse man sich dadurch nicht verleiten,
plötzlich grosse Quantitäten aufzugi essen, son-
dern bleibe bei der Tropfmethode.
Das Chloroformiren mit dem Taschentuch ist
absolut verwerflich. Der Zutritt frischer Luft ist durch
das feste Anliegen des feuchten dicken Tuches in hohem
Grade behindert und die Gefahr, dass zu concentrirte
Dämpfe geathmet werden , kaum zu vermeiden. Von
56 Chloroform-Todesfällen sind nicht weniger als 32 bei
Verwendung des Taschentuches vorgekommen ; auf Es-
march's Chloroformkorb kamen dabei nur 5 (Kaippeler).
Beim/wwÄ;er^schen Apparat (Fig. 148)
wird atmosphärische Luft mit einem Doppel-
g gebläse aus zwei Kautschukballons durch eine
^ cylindrische, circa 25 Grm. Chloroform enthal-
tende Glasflasche, und von dieser durch einen
zweiten Kautschukschlauch mit Chloroform-
dämpfen geschwängert , in eine Hartkautschuk- oder Nickelmaske
getrieben , die dem Patienten fest auf Mund und Nase gesetzt wird.
In dieser Maske sind noch verstellbare Ventile, die den Zutritt weiterer
Luft gestatten und ein Exspirationsventil. Die Flasche wird in's Knopf-
loch des Rockes eingehakt, die eine Hand drückt den Ballon, die
andere hält die Maske. Bei geöffneten Ventilen, w^enn die Maske nicht
fest aufsitzt, wird man hier nicht leicht concentrirte Dämpfe bekommen.
Der Chloroformverbrauch ist ein sehr sparsamer und genau abzumessen.
Der Apparat verlangt aber viel Bedienung , da der Chloroformirende
dabei keine Hand frei behält. Für etwaige Zufälle, z. B. Lüften des
Unterkiefers, muss stets noch ein zweiter Gehilfe bereit stehen.
Mehr als 20 — 25 Ccm. darf nicht in die Flasche gegossen werden , sonst wird
Chloroform durch den Schlauch in die Maske und auf das Gesicht des Patienten ge-
schleudert. Einmal habe ich erlebt, dass der Narkotiseur sich auf den Operationstisch
anlehnte , die Flasche legte sich um , der ganze Inhalt ward in die Maske und in den
offenstehenden Mund des Chloroformirten geschleudert. Der Kranke — eine eingeklemmte
Hernie mit Perforativperitonitis und schon vorher fast pulslos — war auf der Stelle
JEsmarcJt'sche Maske. Junker' scher Apparat.
233
todt. Teuffei hat statt des Cylinders eine U-förmige Eöhre und im Anfang- des Gummi-
schlauches einen Wattepfropf angebraclit. Eine genaue Dosirung des Chloroforragehalts
(zwischen 10 und 17 Grm. Chloroform auf 100 Liter Luft) ermöglicht die Modification des
(/;mÄ;er'schen Apparats nach Kappeier.
Die Narkose tritt ziemlich langsam ein; völlig-e Unempfindlielikeit
des Kranken wird erst nach 8 — 10 Minuten erreicht. Der Apparat
eignet sich daher mehr für Hospitäler als die Privatpraxis.
Der Kranke soll im Beginn der Narkose tief und langsam athmen.
Am besten zählt er laut und langsam. Bei der Zahl 30 oft schon, bei resi-
stenten Männern oft erst jenseits 200 wird das Zählen unregelmässig; auf
Fig. 148.
Zureden wird noch etwas weitergezählt und dann verwirren sich die
bedanken. Die meisten Kranken gelangen nun aus diesem Stadium
prodrnniorom in das zweite Stadium, das der Aufregung (Kx-
citation), des Rausches. Bei dem Einen kommt es zu melancholischen
Rührsccnen, l)ei dem Anderen zu den gewaltthätigsten Raufereien. Bei
Kindern, Frauen und ruhigen, festen Männern fällt das Stadium der
Erregung oft ganz weg und sie verfallen ohne sichtbare Erregung in
das dritte Stadium, das der Unempfindlielikeit fToleranz). Die
Bewegungen werden matter, die Augen schielen und schlicssen sich.
die Gesichtszüge werden schlaif, die Athmnng ruliig, man hat das Bild
234 ni. Capitel. — Vcrlutzuiigou.
ruliigen Schlafes. Hebt man den Arm auf, so sinkt er wie bei einem
Todten schlaft" und klatschend auf die Unterlage, die .Sensibilität ist
erloschen, die (Operation kann beginnen.
Parallel diesen grob wahrnehmbaren Vorgängen laufen eine Reihe
anderer Erscheinungen , deren genaue Beobachtung dringend nothwendig
ist. — Die Veränderungen an dem Circulationsapparat sind am Pulse
wahrnehmbar. Im ersten und zweiten Stadium wird der Puls, der zu-
nehmenden Aufregung entsprechend, frequenter und dabei hart und
gespannt, er steigt von 70 auf 95, 100 und mehr. Mit dem Eintritt
in das dritte Stadium wird er langsamer, langsamer als zuvor, sinkt
auf 60 und ist dabei voll und weich. So lange nicht der Puls selten
und weich geworden, ist auch die Anästhesie nicht da. Die Puls-
verlangsamung ist nach meinen Erfahrungen das untrüglichste Zeichen,
dass die Operation beginnen kann, sicherer als die Prüfungen der
Sensibilität. — Der Blutdruck sinkt bis zu 40, selbst 30% (bei gesunden
Thieren).
Die Aenderungen der Athmung laufen denen des Pulses so ziemlich
parallel. Auf die stürmische Action der Athmung des zweiten Stadiums
folgt die ruhige, tiefe, oft schnarchende Athemweise des Schlafes. —
Die Körpertemperatur sinkt um 02 — 1-2°.
Sehr wichtig ist das Verhalten der Augen, namentlich der Pupillen.
Zuerst löst sich die normale Association der Augen, es tritt Schielen
auf. Die Pupillen erweitern sich unter der Einwirkung der mächtigen
Reize des Erregungsstadiums , um sich im dritten Stadium zu verengen,
wie im Schlafe:; sie werden enger, als sie vorher im Wachen waren.
Dabei wird die Pupille gegen Licht unempfindlich und lässt sich
schliesslich auch durch starke Hautreize, Kneipen, Stechen u. s. f.
nicht mehr beeinflussen. Dies ist die richtige Zeit für Operationen.
Erweitert sich die Pupille jetzt wieder, ohne dass der Kranke anfängt
zu reagiren, z. B. zu erbrechen, zu erwachen, so ist dies ein äusserst
bedenkliches Zeichen, es ist die Erweiterung der Agone, des Todes. —
Das Verhalten der Pupille ist neben dem des Pulses das Wichtigste
zur Beurtheilung der Narkose. Man muss daher stets mitunter nach
der Pupille sehen.
Die Sensibilität erlischt zunächst am Rücken und den Extremi-
täten , dann am Unterleib , zuletzt im Gesichte. Am längsten bleiben
Conjunctiva und Cornea empfindlich. Das Stadium, wo diese nicht mehr
reagiren, d. h. bei zarter Berührung der Conjunctiva ein reflectorischer
Lidschluss nicht mehr eintritt, ist das gewünschte.
Seitens der Verdau ungs- und Harnorgaue sollen während
einer normalen Narkose keinerlei Erscheinungen sich bemerkbar machen,
doch zeigen sieh oft die Schliessmuskeln insufficient.
Chloroform lässt die rothen Blutscheiben aufquellen und schliesslich
zerfallen. Die narkotisirende Wirkung desselben beruht wahrscheinlich
auf einer unmittelbaren Beeinflussung der nervösen Centren durch das
mit Chloroform geschwängerte Blut (ähnlich wie beim Alkohol). Nach
Luther soll das Chloroform Lecithin und Cholestearin lösen und Coagu-
lationsnekrosen machen (daher die verfettende Wirkung des Chloro-
forms? s. unten). Nach einer kurzen Erregung tritt Lähmung ein, und
zwar erliegen der Chloroform Wirkung zunächst die Grosshirnrinde,
dann die grossen Hirnganglien und schliesslich — bei fortgesetzter Zu-
Chloroformwirkungeu. Chloroformtod. 235
fuhr — die vasomotorisclien und Atlimung-scentren der Medulla oblongata
(Noeud vital). Kommt es so weit, so ist das Leben unmittelbar bedroht. —
Die Nervenfasern vrerden vom Chloroform nicht beeinflusst.
Die Einwirkung des Chloroforms auf den Organismus ist in letzter
Zeit vielfach studirt Avordeu.
Ob der Chloroformtod auf primärer Herzlähmung oder primärer Athemlähmung
beruhe, ist nicht endgiltig entschieden. Das Hyderabad-Chloroformcomite kam zu der
Ansicht, dass das Athmungscentrum durch directe toxische Wirkung vor dem Herz
gelähmt werde, während JVood u. A. für primäre Herzlähmung eintreten. In der Praxis
sieht man häufiger den Puls zuerst verschwinden , während die Athmung weiter geht,
doch habe ich auch (besonders bei Morphium-Chlorofonnnarkosen) die Athmung zuerst
aufhören sehen, Avährend der Puls zunächst ungestört war.
Den Chloroformtod hat man in verschiedener "Weise zu begründen versucht. Da
die Hälfte aller Chloroform-Todesfälle vor erzielter Anästhesie eingetreten ist (Dumont),
wird man für diese Fälle eine vom Trigeminusgebiet (Nase) reflectorisch auf den Vagus
übertragene Reizung des Vaguscentrums annehmen.
Für die Spätformen hätte man an Vagnslähmung (Dastre) oder primäre Er-
lahmung der Herzgangiien (Koch) oder primäre Lähmung des Herzmuskels (Frank)
durch das chloroformgesättigte Blut zu denken. Das Auftreten von Gasblasen (Stickstoif)
wird von Kuppeler {Langenheck' s Arch., 35) beschuldigt, auch Pirogoff h&t bei dem
lebensrettenden Aderlass gashaltiges Blut entleert. Kundrai (vergl. Chir. Centralbl., 95, 22)
beschuldigt die mit Thymush^^perplasie, Milz- und Lymphdrüsenschwellung einhergehende
„lymphatisch-chlorotische Constitution" als Ursache des Chloroformtodes, nicht etwaige
technische Fehler.
Neben den toxischen Früh Wirkungen sind Spät Wirkungen des Chloro-
forms zu beachten.
Der Hämoglobingehalt des Blutes wird durchschnittlich um 8 Procent herab-
gesetzt. (Bierfreund, Langenbeck's Arch., 41, Minimum am Abend des Operationstages.)
Die Spätwirkungen des Chloroforms sind von Unger, Strasstnann (Vir-
chou-'s Arch., 115), Ostertag (Vh^chow's Arch., 118) experimentell, von Fränkel, Thiem,
Fischer n. A. am Menschen constatirt worden.
Dl übereinstimmender "Weise fanden sich parenchymatöse , zum Theil fettige
Degeneration des Herzmuskels , hochgradige Nekrose und Verfettung der Nierenriude,
Verfettung der Aorta ascendens und fettige Entartung der Mm. recti abdominis (Fränkel,
Virchoiv's Arch., 127).
In der Praxis machen sich die Spätwirkungen des Chloroforms beson-
ders als zunehmende, nicht zu beseitigende Herzschwäche mit ungünstigem Ausgang
am 2.-3. Tag post operationem oder noch später geltend. Z. B. 36jährige Frau mit Cysten
des Lig. latum , Untersuchung in Narkose , von der ersten Narkose nicht im Mindesten
angegi-ilfen , nach 48 Stunden (wider meinen Rath) Operation, glatter Verlauf, am fol-
genden Tag beginnende Herzschwäche , Tod trotz aller Stimulantien 70 Stunden post
operationem; Section: frische fettige Entartung der Herzmusculatur . Verfettung in den
Nieren. Keine Spur von Peritonitis. Sie war Potatrix.
Eine andere Form des SpätcoUapses : Potator strenuus; Morphium 0'015 mit
A tropin , 4 Grm. Chloroform; Eröffnung und Auslöffelung eines tuberculösen Abscesses
am Halse. Normales Erwachen aus der Narkose. 2 Stunden später starke Cyanose bei
stark gespannten Puls; Koma. Trotz O-Inhalationen Exitus 7 Stunden post operationem.
Hier hätte vielleicht ein Aderlass Hilfe gebracht.
Vermieden werden die Spätwirkungen des Chloroforms durch die Regel
zwischen 2 Narkosen (besonders bei Potatoren) mindestens 8 Tage liegen zu lassen
durch möglichst wenig und stets frisches Chloroform und durch subcutane Kochsalz
Infusionen (mindestens öÜOCcm.) am Schlüsse der Narkose.
Ausgeschieden wii'd das Chloroform etwa zu V.i <lwi'ch die Lungen, der Rest
durch die Nieren, theils unverändert, theils als Chlorverbindungen.
Von weiteren Folgen der Chloroformnarkose sind namentlich Verände-
rungen des Urins zu beachten. In 32 Procent der Chloroformnarkose findet sich
Albuminurie, in 25 Procent der Aethernarkosen ebenso; Cylindrurie findet sich bei
beiden gleich liäufig (Eismdralit , Deutsche Zeitschr. f. Chir. , Bd. XL). Chloroform ist
für die Niere gefährlicher als Aether (V). In zwei Drittel der Chlnroformnarkosen sah man
Acetonurie, besonders bei Diabetes (Becker. Chir. Centralbl., 94, 38); auch Acetessig-
säure, Zucker , ferner Kreatinin , Nuciooalbumin (Friedlündcr) sind als Zeichen eines
starken Eiweisszerfalles gefunden worden. (Vergl. Nac]iod, Langenbeck's Arch., 51. Lit.)
Die Albuminurie tritt seltener auf, wenn man nach längeren Narkosen regelmässige
Kochsalzinfusion macht (eigene Erfahrung).
236
III. Caijitel. — Verletzungen.
Das Vorkommen von Gehirnblutungen n'dch. Narkosen HSesfiel-JIayen, SenyerJ
ist leicht verständlich.
Die Narkosenlähmungen, periphere Lähmungen der Arme, besonders des
N. axillaris, entstehen durch starke Elevation des Armes und den Druck der Tischkante.
Sie heilen meist in 3 — 4 Monaten (u. A. Büdinger, iMnyenheck's Arcli., 41).
Chlorofoi'm zersetzt sich mit Leuchtgas in Cl, CIH etc. and macht Asphyxie
(2 eigene Fälle) und Pneumonien (?), daher soll man womöglich nicht bei Gaslicht und
Gasheizung chloroformiren.
Dies ist der normale Verlauf einer Chloroformnarkose. Nur zu
häufig hat man mit Störungen der Narkose, leichter oder schwerer
Art, selbst der Gefahr des Todes zu kämpfen.
Am häufigsten sind die Störungen der Athmung. Vom Ver-
schluss der Stimmritze durch fremde Körper haben wir schon ge-
redet. Doch sind Kehlkopfeingang und Stimmritze noch anderweitig
bedroht. Mit dem Eintreten der Muskel-
lähmung sinkt bisweilen die sonst von den
Mm. geniohyoideus und genioglossus nach
vorn gehaltene Zunge zurück und drückt
Fig. 150.
die Epiglottis über den Kehlkopfeiogaug.
Der Kranke fängt an, „leer zu athmen", die
Athcmbewegungen am Bauche oder Thorax
dauern fort, es tritt aber keine Luft ein ; das
Geräusch, mit dem die Luft Nase und Mund durchströmt, fehlt. Diese Ver-
änderung des Athemgeräusches muss sofort, gewissermassen instinctiv
dem Operateur zum Bewusstsein kommen. Der Kehlkopfeingang muss
frei gemacht werden. Man kann die Kiefer entfernen , am besten mit
der i?o.ser'schcn Kieferzange (Fig. 149), einer Kornzange u. dergl. Zum
Aufbrechen des Mundes dienen die Mundspiegel (Mundsperrer), die
zwischen die Seitenäste des Unterkiefers eingeführt werden (Fig. 150.
Mundspiegel von Heister). Dann zieht man die Zunge mit der
Kornzange oder der gefensterten Zungenzange hervor (Fig. 151). Dies
Verfahren ist in schweren Fällen nothwendig, immerhin hat es auch
seine Nachtheile, die Zunge wird gequetscht und der Kehlkopf-
eingang nicht so gilt frei gemacht (Kappelcr) wie bei dem zweiten
Behandlung der AthnuinKSstörungen.
237
Verfahren, dem Lüften des Unterkiefers, dem sogenannten eng-
lischen Handgriff (Fig. 152) , um dessen Verbreitung in Deutschland
sich namentlich Esmarch verdient gemacht hat. Der Unterkiefer ist
horizontal nach vorn, mit den Condylen auf die Tubercula articularia
zu schieben — eine Art von Subluxation nach vorn. Man hakt
den hinteren Rand des aufsteigenden Astes mit den Daumen an,
während der Körper auf den übrigen Fingern ruht und schiebt so den
Unterkiefer nach vorne. Zum Erhalten in dieser Lage genügen je ein
Finger hinter den Unterkiefervvinkel gehakt. Meist wird der Kehlkopf-
Fig. 151.
eingang sofort frei und es tritt tiefe, ruhige Athmung ein. Fig. 153
gibt das Lüften des Unterkiefers nach Kappeier. — Auch der Zungen-
halter von Glitsch (Fig. 154) ist zweckmässig , die Gummipelotte kommt
hinter die unteren Schneidezähne, die horizontale Spange aussen auf
den Unterkiefer. An dem Reif lassen sich Zunge und Unterkiefer zu-
sammen vorziehen.
Das Verfahren von Howard (Hochlegen des Thorax , starkes Zurückbiegen des
Kopfes), wobei die Zunge sich von der Pharjaixwand entfernt und der Kehlkopfeingang
frei wild, ist weniger sicher.
Fig. 152.
Die Kieferklemrae l(3st man, indem man mit dem Zeige-
finger hinter dem letzten Backenzahn eingeht und den Unterkiefer ab-
hebelt (Hüter)., oder einen Mundsperrer einführt. Oder man sticht ein
.spitzes Häkchen vom Halse aus hinter die Mitte des Zungenbeines ein
und zieht dieses und damit Zunge und Ei)igIottis nach vorn (Kappehr).
Die Stimmritze selbst kann im Laufe der Karkose verschlossen
werden durch Krampf der Vereugerer oder Lähmung der Erweiterer. Der
krampfhafte (rlottisverschluss gehijrt den früheren Stadien der
Narkose an, er ist ein refiectorischer, durch den Reiz der (wohl zu con-
centrirt gegebenen) Chloroformdämpfe auf die Trigeminusäste ausge-
2;38
Ur. Cajjitel. — Verletzungen.
löst. Er kann schon bei den ersten Atliernzügen sich einstellen und
ist häufig mit Krampf der Inspirationsmuskeln verknüpft.
Der Thorax steht dann in Inspirationsstellung- fest, häufig ist auch
Trismus vorhanden. Die Athmung hört auf, der Kranke wird hlau.
Die Situation ist eine unangenehme. Der Trismus hindert das Vor-
schieben des Kiefers oder der Zunge; der in Inspirationsstellung
starre Thorax lässt sich durch künstliche Athmung nicht verkleinern.
Von den Kranken, die ich in diesem Zustand gesehen, ist jedoch keiner
Fig. 153.
gestorben; nach einer bis zwei peinlichen Minuten, mit dem Eintreten
der Kohlensäure-Intoxication Hess die Spannung nach, die Starre schien
sich im Tode zu lösen und jetzt ward die künstliche Athmung wirksam:
in wenigen Minuten war die
^'s-iüi- Schwierigkeit beseitigt. Doch
sollen Kranke auch in dieser
Weise zu Grunde gegangen sein.
Die andere Form des Glot-
tisverschlusses, durch Läh-
mung der Erweiterer, gehört
dem paralytischen Stadium an.
Diese Störung ist anzunehmen,
wenn im Stadium der Toleranz
trotz Lüften des Unterkiefers,
Vorziehen der Zunge und künst-
licher Athmung ein nachweisbarer genügender Luftwechsel nicht zu
erzielen ist. Neben dem Versuch der Katheterisation des Larynx ist
allein wirksam der Luftröhrenschnitt.
Kaum minder wichtig, doch vielleicht etwas weniger häufig sind
die Gefahren, die dem Chloroforrairten seitens der Circulations-
organe drohen. Die Kranken sterben unter den Erscheinungen plötz-
licher Herzlähmung, deren Ursachen verschieden sein können, auch
nicht hinlänglich gekannt sind. Die Herzlähmung kann in jedem
Herzlähmung bei Chloroformnarkose. 2o9
Stadium der Narkose eintreten. Nach den ersten Athemzüg-en kann
der Puls verschwinden, der Kranke sinkt zurück und ist todt. Man denkt
in solchen Fällen an einen von den Trigeminusästen reflec torisch
erregten Herzstillstand (durch Vagusreizung). Von diesem
Gedanken geleitet, hat Bosenherf/ vorgeschlagen, vor Beginn der Narkose
die Nasenschleimhaut mit 10% Cocainlösnng zu bepinseln oder mit
dem Zerstäuber zu besprühen , unempfindlich zu machen und so die
Reflexe auszuschalten. De Sanctls klemmt die Nase mit einem Nasen-
quetscher zu, um die Nasenathmung auszuschalten (?). Tritt der Herz-
stillstand in den späteren Stadien der Narkose ein, so bleibt kaum
eine andere Annahme, als dass der Kranke relativ oder absolut zu viel
Chloroform bekommen. Fast immer handelt es sich um Erkrankungen
des Herzmuskels, fettige Entartung, Fettherz, Arterienatherom ; ganz
besonders gefährdet sind Trinker.
Es ist nicht nur die Blutdrucksenkung überhaupt — bei Blutung, Chlorofor-
mii'ung u. a. dergl. — , die der Circulation Gefässkranker so gefährlich ist und das
schlechter ernährte Herz sofort erlahmen lässt (s. pag. 119), sondern auch die directe
Schädigung des Herzmuskels durch das chloroformgesättigte Blut ('Frank) oder eine
primäre Erlahmung der Herzganglien (Kocli). Siehe auch pag. 235.
Droht bei einem Gesunden Gefahr bei der Narkose, wird der
Puls unregelmässig oder verschwindet er und setzt die Athmung aus,
so hat sicher der Chloroformeur einen Fehler gemacht; er hat zu viel
Chloroform gegeben ; er hat den Kranken über das Stadium der Toleranz
hinaus bis zu dem der Paralyse betäubt.
Die Untersuchungen des englischen Chloroformcomites haben ergeben , dass die
grösste Gefahr zu suchen ist in zu hoher Concentration der Chloroformdämpfe. Thiere,
die in 3— 4 Procent Chloroformdampf haltender Luft mehrere Stunden ohne sichtbaren
Schaden zubrachten , starben in wenigen Minuten bei 8 Procent Chloroform in der
Athmungsluft.
Die Erscheinungen der Herzlä Innung sind sehr charakteri-
stisch. Während die Athmung weitergeht, verfällt das Gesicht plötzlich,
der Kranke sieht aus wie eine Leiche. Der Puls ist weg.
Einmal wollte ich bei einer Amputatio mammae an einem kräftigen, 19jährigen
Bauernmädchen eine spritzende Arterie fassen , plötzlich verschwand der Strahl ; ich
sehe nach dem Gesicht, es ist das Gesicht einer Todten, der Puls ist weg. Der Chloro-
formeur hielt ruhig seine Maske über das Gesicht, goss Chloroform auf und merkte
nichts. Es handelte sich um eine reine Chloroformvergiftung bei einer durchaus ge-
sunden Person. Künstliche Athmung, durch ^/^ Stunden fortgesetzt, brachte die Kranke
wieder zum Leben. Durch niehrere Minuten war eine hör- oder sichtbare Herzaction
nicht vorhanden. Als später der Puls wiederkehrte , dauerte es noch über eine halbe
Stunde, bis die Athmung sich wieder herstellte und die künstliche Respiration entbehrt
werden konnte.
Diese Schilderung der Unglücksfälle beim Chloroform wird zu-
nächst ziemlich unheimlich klingen , und es wird namentlich schwer
erscheinen, in dem Momente, wo das Unglück entdeckt wird, auch
sofort die Natur der Störung zu erkennen und darnach zu handeln.
In der Praxis macht es sich jedoch nicht ganz so schwierig.
Das Erste, worauf man zu achten hat, ist, ob die Luft einstreicht,
man lässt den Unterkiefer lüften oder zieht die Zunge vor (s. oben), ein
Griff in den Mund zeigt, dass nicht etwa ein vergessenes künstliches
Gebiss auf dem Kchlkopfeingang liegt. Nun wird die künstliche Ath-
mung eingeleitet. Dies ist das beste Mittel, sowohl die nntcrbrocliene
Athmung, als die erloschene Circulation wieder in Gang zu bringen.
Streicht keine Luft ein bei gut ausgeführter künstlicher Athmung, dann
240
in. Capitel. — Verletzungen.
ist der Luftrölirenschnitt — in einem Zug — geboten. Die Anwendung
von Excitanticn ist bei eingetretener Herzlälimung von sebr zweifel-
haftem Wertb. Als Propbylacticum bei drohender .Synkope, wenn nament-
lich gegen das Ende langdauernder und blutiger Operationen der Puls
anfängt schwach und unregelniässig zu werden, sind dagegen subcutane
Fig. ] 65«.
Einspritzungen von Aether oder Campher (Solut. Camphor. oleos. 1 : 4)
und subcutane Kochsalzinfusion äusserst zweckmässig zur Erhaltung
der Kräfte.
Künstliche Respiration kann in verschiedener Weise aus-
geführt werden. Die beste Methode ist meiner Ansicht nach die von
Silvester. Man stellt sich an das Kopfende des Bettes hinter den Kranken,
Fjg 155 0
fasst die Arme an den Ellbogen und hebt sie über den Kopf — Inspiration
(Fig. 155 a) ; legt sie dann nach der Brust zurück, so dass die Vorder-
arme auf die Seiten der Brust fallen und drückt mit denselben noch
die unteren Thoraxpartien nieder — Exspiration (Fig. 155 b). Ein nicht
zu starker Druck auf den Unterleib, von unten nach oben schiebt zu-
gleich das Zwerchfell in die Höhe und treibt das venöse Blut des
Chlorofornitod. — Künstliche Athmung, 241
Unterleibes iu's rechte Herz. — Es lasseu sich so äusserst kräftige Piimp-
bewegungen ausführen. Bei Luftröhrenschnitten wegen Diphtheritis
konnte ich oft die Schleimpfröpfe aus der Luftröhre meterhoch heraus-
werfen. Man kann dabei das untere Tischende hochstellen.
Die einfache rhythmische Compression der unteren Thoraxpartien
mit den Händen — man kniet sich dabei neben oder über den Schein-
todten auf das Operationsbett — gibt nicht so ausgiebigen Luftwechsel;
dabei sind auch Eippenbrüche vorgekommen. Noch weniger Effect gibt
das Verfahren von MarshaU Hall. Bei vorgezogener Zunge wird der
Kranke abwechselnd auf den Bauch (Exspiration) und auf den Rücken
(Inspiration) um seine Längsachse gewälzt. Von SchüUer ist angegeben,
die Rippenbogen beiderseits mit den Händen anzuhaken und nach
auswärts zu ziehen (Einathmung). Darauf werden sie wieder nieder-
gepresst. Der Bauch muss durch Beugung in den Hüftgelenken schlaff
sein. Alle diese Proceduren werden circa lömal per Minute wiederholt.
Die künstliche Athmung muss lange, eine halbe bis eine ganze Stunde
fortgesetzt werden. Gerade in den Fällen, wo man sich die schwersten
Vorwürfe zu machen hat, bei Verabreichung von zu viel Chloroform,
wird man oft noch spät durch den Erfolg belohnt (s. oben).
/u-«.sZ;e (Langeubeck's Arch., 36) hat durch künstliche xühmung mit
Compression des Bauches durch einen Gehilfen den Kreislauf sich rein
mechanisch wieder herstellen sehen (Röthung des Gesichts , der Lippen),
ohne dass das Leben wiederkehrte. Maas empfahl stossweise Massage
der Herzgegend (120 kurze Stösse gegsn die Herzgegend in der Minute).
Entschieden zweckmässig zur Wiederbelebung sind die rhyth-
mischen Tractionen der Zunge nach Lahorde. Etwa lömal in der
Minute zieht man die Zunge (mit Fingern oder Zungenzange) langsam
aber kräftig soweit als möglich vor und lässt sie wieder zurücktreten.
Sobald man Widerstand fühlt , folgen reflectorisch ausgelöste Athemzüge.
Die Faradisation der Nn. phrenici — die Elektroden werden
beiderseits am Halse am unteren Ende der Mm. scaleni aufgesetzt und
so durch die Reizung des Zwerchfells eine Art künstlicher Athmung
erzielt — hat auch eine Anzahl Erfolge aufzuweisen.
Das Ein blasen von Luft mit oder ohne Larynxkatheter oder
Tracheotomie , neuerdings wieder von Frank empfohlen, gibt wenig
Nutzen. Direct verwerflich ist die Acu- und Elektropunctur des Herzens.
Kneten und Frottiren des Körpers (Massage) wirkt einigermasseu unter-
stützend. In einigen Fällen soll auch durch Inversion, Lagerung mit
dem Kopf zu tiefst. Erfolg erzielt worden sein.
Für die Bekämpfung des drohenden Chloroformtodes steht
die künstliche Athmung in erster Linie, womit man am besten Sauer-
stoffeinathmungen (Prochoivnik) verbindet. Neben subcutanen Aether-
injectionen kann — besonders bei gespanntem Puls oder wo nach-
weisbar zu viel Chloroform gegeben wurde, ein depletorischer Aderlass
(von circa 3U0 — 500 Ccm. Bhit) und eine intravenöse Kochsalzinfusion
(800— 1000 Ccra.) in Frage kommen {Hein, Chir. Centralbl. 95, 17).
Man könnte hiezu , um die künstliche Athmung nicht zu stören , auch
die V. saphena am Oberschenkel wählen.
Viel Störungen macht das Erbrechen. Es fehlt meist bei Solchen,
die vor der Operation nichts genossen; höchstens stellen sich hier
unschädliche Würgebewegungen ein. Sehr fatal kann es werden, wenn
Landeror, Allg. chir. Pathologie u. Thcra[iio. 2. Aiill. Jg
242 11^- Cajjite]. — Verletzungen.
der Magen überfüllt ist. Die Speisen regurgitiren in den Kachen und
laufen dann der Schwere nach in die Luftwege oder werden durch
eine Inspiration angesaugt. Sofortige, selbst durch Tracheotornie und
Ausräumung der Luftröhre meist nicht mehr zu beseitigende Erstickung
ist die Folge. Im günstigsten Falle kommt der Kranke mit einer Fremd-
körperpneumonie davon. — Um dieses üble Ereigniss zu vermeiden,
muss man bei der ersten Brechbewegung den Kopf über den Rand des
Operationsbettes seitlich herabhängen. Der Larynxeingang wird dadurch
hoch gestellt, die Speisen laufen neben ihm durch den xMund al). Ehe
man den Kopf wieder hoch legt . wird Mund und Rachen mit einem
Tuche ausgewischt. Das Erbrechen erfolgt selten in tiefer Narkose,
entweder vor dem Eintreten der Toleranz oder es geht dem Erwachen
des Kranken vorher. Es ist fast immer ein Fehler des Chloroformeurs 5
wird in ruhiger, gleichmässiger Weise die nöthige Menge Chloroform
fortgegeben , so kommt es fast nie zum Erbrechen , wohl aber , wenn
die Verabreichung von Chloroform zeitweilig unterbrochen wird. Haben
die Würgebewegungen aufgehört und ist der Mund rein, so gibt man
Chloroform weiter. — Wo immer möglich, ist nur bei leerem Magen
zu narkotisiren.
Manche Narkosen werden durch heftige Aufregungszustände
charakterisirt. Besonders arten die Narkosen der Trinker oft in wilde
Raufereien des Patienten mit seiner Umgebung aus. Hier gilt es ruhig
weiter zu chloroformiren. Der Arzt, der seine Leute kennt, weiss dem
vorzubeugen , indem er der Chloroformirung eine genügende subcutane
Morphiuminjection (0'03) mit Atropin (s. unten) vorausschickt.
Ist die Operation beendet, so ist sofort das Chloroform wegzulassen.
Die mittlere Dosis Chloroforms ist bei mir bei Operationen unter
einer halben Stunde 4 — 8 Grm., über dem 12—15 Grm., selbst bei P/g
bis 2stündigen Operationen brauche ich selten über 25 Grm.
Erwacht der Ki'anke , so erweitern sich die Pupillen langsam,
selten plötzlich. Der Puls wird häufiger, ebenso die Athmung: es kehren
die Reflexbewegungen zurück und schliesslich das Bew^usstsein, anfangs
unklar und ohne Erinnerung des Geschehenen. Manche Kranke erwachen
sofort, andere erst nach einer halben Stunde oder später.
Die Folgen der Narkose sind verschieden- je glatter und
ruhiger dieselbe verläuft, je weniger Chloroform verbraucht wurde, um
so geringfügiger sind sie. Kinder schlafen meist rasch wieder ein und
nach einem mehrstündigen Schlaf erwachen sie munter und mit gutem
Appetit. Erwachsene pflegen selten dem Chloroform-,, Katzenjammer"
zu entgehen. Den meisten ist es wüst im Magen oder im Kopf, Er-
brechen, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, heftiger Durst u. s. f. nehmen
den Rest des Tages ein. Mit dem Eintreten eines guten Schlafes ])flegen
auch hier die Erscheinungen nachzulassen oder zu verschwinden. Manche
Kranke , besonders Damen besserer Stände , habe ich dagegen zwei,
selbst drei volle Tage in jämmerlichem Zustande hinbringen sehen.
Die Therapie dieser Zustände sei im Wesentlichen eine zuwartende.
Werden dem Kranken viel, namentlich feste Speisen gereicht, so
bricht er sie aus und ist nachher schlechter daran als vorher. Das Er-
brechen wird dadurch oft erst hervorgerufen. Kaltes Selterswasser mit
oder ohne Coguac, gut gekühlter herber Sect, Thee, schwarzer Katfee,
Cilronenwasser werden meist am besten ertragen, daran schliesst sich
Folgen der Narkose. — Morphium-Chloroformnarkose. 243
Bouillon mit Ei, Thee mit Zwieback oder Cakes, ein Teller Suppe u. s. f.
Geg-en das Erbrechen werden von Warholm Essigeinatbmungen (vor
Mund und Nase gehaltene Compressen) empfohlen. Auch Sauerstotf-
einathmungen (Prochomiik) mildern die üblen Folgen der Narkose.
Die Kopfschmerzen werden durch kalte Compressen oder eine Eisblase
gelindert, ebenso das Magenweh, durch langdauerndes quälendes Erbrechen
hervorgerufen. Eine kleine Morphiuminjection thut oft gute Dienste.
Grossen Vortheil gewährt für viele Fälle die Verbindung- der
Chloroformnarkose mit einer Morphiuminjection; diese Morphium-
Chloroformnarkose ist namentlich am Platze bei Leuten, die sehr
viel Chloroform brauchen, um betäubt zu werden, also vor Allem bei
Trinkern. Für Kinder ist die Verabreichung von Morphium nicht zu-
lässig; je kleiner sie sind, um so schlechter ertragen sie es. Ausserdem
hat man es bei ihnen , sowie bei Frauen nicht nöthig.
Bei Potatoren aber gibt man vor Beginn des Chloroformirens eine
volle Spritze (0'03) Morphium und chloroformirt dann in gewöhnlicher
Weise weiter. Das Excitationsstadium wird entschieden abgekürzt und
gemildert und im paralytischen Stadium kommt man oft dann mit ganz
wenig Chloroform aus — für schwache Herzen ein nicht zu unter-
schätzender Vortheil. Zweckmässig fügt man dem ]\lorphiuin noch etwas
Atropin zu, das bekanntlich den Blutdruck stei.i;ert und dadurch
den gefährlichen Wirkungen des Morphiums und Chloroforms auf das
Herz entgegenwirkt (Morph, mur. 10, Atropin. sulf. 001 — 0*15, Aq.
dest. 30'0; eine Spritze subcutan). Ich habe damit noch ruhigere Nar-
kosen bei Trinkern erzielt.' — Meist schliesst sich dann unmittelbar an
tue Narkose ein langer Schlaf an und auch die Nachweheu sind geringer.
Auch Oxyspartein (003— 0'04) hat man zu diesem Zweck empfohlen.
Einen eigenthümlichen Zustand kann man bei dieser gemischten
Narkose mitunter erreichen , leider nicht immer und mit einer solchen
Sicherheit, dass man sich stets darauf verlassen könnte; dies ist der
Zustand völliger Schmerzlosigkeit bei erhaltenem Bewusstsein, gewisser-
massen das Ideal der Narkose. Dieser Zustand ist höchst schätzbar,
besonders bei Operationen an den Luftwegen. Ist das Bewusstsein
geschwunden, so ist hier stets die Gefahr, dass Blut unbemerkt in die
Bronchien läuft und die Kranken erstickt. Man hat deslialb entweder
am hängenden Kopf operirt (Rose), indem man den Kopf über den
Tischrand hängen Hess oder den Kranken schräg legte, den Kopf zu
tiefst, so dass der Kehlkopf hoch liegt und das Blut durch Mund und
Nase abläuft. Dabei ist aber die Blutung , wegen der venösen Stauung,
sehr stark. — Oder man machte vorher den Luftrühi-enschnitt und
chloroformirte durch die Tamponcanüle (Trcndelenburg), oder durch
die mit Jodoformgaze umwickelte Canüle von Halm, eine mit einem
aufgeblasenen Condom oder Kautschukschlauch umgebene Tracheai-
röhre, die die Luftröhre völlig ausfüllt, so dass nichts neben der
Canüle in die Luftröhre fliessen kann.
Bei der gemischten Morphium - Chloroformnarkose jedoch fühlt
der Kranke Alles genau , hustet und spuckt das Blut wieder aus,
besonders wenn er von Zeit zu Zeit dazu aufgei'ordert wird. Diesen Zu-
stand erreicht man am besten in folgender Weise. Der Kranke bekommt
seine Spritze Morphium und wird nun „anchloroformirt". d. h. er be-
kommt Chloroform, jedoch etwas weniger, als bei einer gewöhnlichen
16*
244 I^^- *^'yp't'j'- — Vi;l'li;tzimKv;li.
Narkose. Nach etwa fünf Minuten ist die Wirkung- der .Morpliinui-
injection eine vollständige und der Kranke befindet sieh nun unter der
gemeinsamen Wirkung des Chloroforms und Morphiums, meist in einem
Zustand leichter, jedoch nicht gewaltthäliger Erregung. Würde mau
nun gleichmässig weiter chloroformiren , so bekäme man eine gewöhn-
liche vollständige Narkose. Der Kranke muss jedoch wach erhalten
werden durch Anrufen , Aufforderung zum Munterbleiljen oder man
beginnt mit ihm eine Unterredung. Dann prüft man die Schnierz-
empfindlichkeit ; ist sie hinlänglich herabgesetzt, so kann man beginnen.
Man kann unter Umständen ein grosses Unterlippencarcinom mit nach-
folgender Plastik operiren oder einen Oberkiefer reseciren , während
man sich mit dem Kranken unterhält, ihn ausspucken und aushusten
lassen nach Belieben. — Gelangt er nicht in diesen Zustand der Analgesie,
so wird eben in gewöhnlicher Weise narkotisirt und man ist auch nicht
schlimmer daran als vorher.
Bei der MorpMum-Chloroformnarkose beobaclitet man oft eine eigenthümliche
Veränderung der Athmung. Dieselbe wird flaclier und flacher und scheint schliesslich
ganz auszusetzen , bis mit einem tiefen Athemzug die Eespiration wieder beginnt , um
allmälig wieder oberflächlich zu werden fCJiepie-Stokes'sclies Phänomen). Diese Er-
scheinung sieht sich oft recht bedenklich an, ist aber in der That ungefährlich.
In den letzten Jahren hat sich auch in Deutschland der Aether —
hauptsächlich durch Bruns' Bemühungen — fast zur selben Bedeutung
emporgeschwungen wie das Chloroform.
Die physiologische Wirkung des Aethers ist von der des Chloro-
forms so verschieden, dass beiden Mitteln schon hiedurch ihr richtiges
gegenseitiges Verhältniss angewiesen wird, sich zu ergänzen, nicht sich
auszusch Hessen.
Der Aether soll ein specifisches Gewicht von 0'720 — 0"725 haben, neutral
reagiren ; Beimengungen von Säuren (Essigsäure , Schwefelsäure) verrathen sich durch
die Eöthung des blauen Lackmuspapiers ; Fuselöle geben dem eingehängten Streifen
Filtrirpapier (s. Chloroform) einen widerlichen , stechenden oder ranzigen Geruch. In
wasserhaltigem Aether setzt sich Tannin als schmieriger Niederschlag ab , in wasser-
freiem Aether bleibt es pulverförmig. Setzt man alkoholhaltigem Aether essigsaures Kali
und Schwefelsäure zu , so bildet sich Essigsäure, die man riecht. — Der Aether ist
sehr leicht brennbar. — Sehr bewährt ist der Rath von Bruns , da sich der Aether
am Licht und an der Luft zersetzt, denselben in kleinen gelben Flaschen (50 — 100 Ccm.)
kühl aufzubewahren und angebrochene Flaschen nicht mehr zur Narkose zu verwenden.
Die Technik der Aethernarkose ist eine verschiedene. —
Die Vorbereitungen (Untersuchung des Herzens , sonstige Vorsichts-
massregeln) sind ganz dieselben wie beim Chloroform.
Die JulUard'Bche Maske ist ein grosser, mit impermeablem Leder-
tuch überzogener, innen einen Schwamm oder eine Flauellrosette
tragender Drahtkorb Sofort werden 20 Ccm. Aether eingegossen, die
Maske langsam genähert und dann über das ganze Gesicht gedeckt,
in der 2. Minute werden noch rasch 30 Ccm. aufgegossen, die Maske
satt aufgesetzt und der Rand mit einem Handtuch umwickelt. Nach
4 Minuten tritt ohne wesentliche Excitation die Narkose ein — asphy-
xireiide Methode. Die Maske bleibt liegen, und wenn Patient anfängt
zu reagiren, giesst man 10 — 20 Ccm. nach. Man braucht für eine halb-
stündige Narkose durchschnittlich 80 Ccm. Aether (Garre).
Beim Gebrauch der Wansclier'^ohQw Maske (Fig. 156) schüttet man
in den etwas Watte haltenden Gummisack 30 — 50 Ccm. Aether, setzt die
Aethernarkose.
245
Maske auf und setzt die Aetlierdämpfe durch Schütteln des Sackes in Be-
wegung — berauschende Methode. Die Narkose tritt erst nach
I4 — 1/2 Stunde ein, etwas rascher bei der von Grossmann modificirten
Maske (Drahtgestell , das den
Gunimisack auseinanderhält, Fig.ise.
weitere Oetfhung').
Dreher (Beitr. z. klin. Chirurgie,
Ed. X und XII) fand , dass unter der
Wanscher'sc\\6n Maske der 0-Gehalt
in 2 Minuten auf 5 — 6''/o sank , bei
der Julliard'sc\iQn Maske (ohne nasses
Handtuch!) nahm weder die CO^ in
bedenklicher AVeise zu , noch der 0
sehr ab.
Der Verlauf der Aether-
narkose zeigt wie die Chloro-
formuarkose nach einem kür-
zeren Initialstadium halber
Bewusstlosigkeit ebenfalls ein
Excitationsstadium mit stark gespanntem frequentem Puls (bis 120),
beschleunigter tiefer Respiration. Das Gesicht ist geröthet, oft cyanotisch.
Im Stadium der Toleranz sind die Muskeln erschlafft, die
Athnmng ruhig, oft schnarchend, der Puls kräftig, voll, 80 — 90.
Das Erwachen erfolgt rascher und vollständiger als beim
Chloroform.
Die Folgen sind meist geringer als beim Chloroform, das Er-
brechen ist eher seltener während und nach der Narkose. Dagegen ist
nicht so selten Bronchitis, die sich bis zu (tödtlicher) katarrhalischer
Pneumonie steigern kann. Albuminurie findet sich in circa 25 Procent
der Fälle (?). Doch soll Aetherisation die Albumenmenge bei Nephritis
nicht steigern (Wunderlich). Das Vorkommen von Aetherdiabetes (Schif)
wird angezweifelt.
Der Aether erzeugt eine bedeutende Steigerung der Pulsstärke
und des Blutdruckes, die Temperatur sinkt um 0"52 — 068^ C. Der
Aether lähmt (durch Gefässdilatation?) erst die Grosshirncentren, dann
die Rücken markscentren (y), zuletzt die Centren der Medulla oblongata.
Der Aethertod erfolgt durch primären Respirationsstill-
stand und secundäre Herzlähmung. Die reflectorische Synkope —
im Beginn der Chloroformnarkose (s. pag. 235) über die Hälfte der
Chloroform-Todesfälle ausmachend — kommt beim Aether nicht vor.
Diesen grossen Vorzügen stehen aber ebenfalls wesentliche
Mängel gegenüber. Zunächst erzielt man in einzelnen Fällen —
besdnders bei Schnapstrinkern — mit Aether überhaupt keine voll-
ständige Narkose , so dass man zum Chloroform übergehen muss.
In anderen Fallen macht heftiges Muskelzittern das Operiren un-
möglich ; ebenso werden heftiger Reizhusten und starke Schleim- und
Speichelabsonderung oft sehr lästig. Beängstigend wird oft die Unregel-
mässigkeit der Athmung, weniger durch Zurücksinken der Zunge, was
bein) Aether viel seltener vorkommt als beim Chloroform, als durch
Flaclierwerden und schliesslich Aussetzen der Athmung, das unter
starker Cyanose bei zunächst noch gutem Puls in Aethertod durch
toxische Kespirationslähmung übergehen kann. — liier ist wie beim
246 11^- Cai^itel. — Verletzungen.
Chloroform, künstliche Respiration mit »SauerstofFeinathmung, schlimmsten-
falls mit Luftröhrenschnitt nöthig. — Auch Lungenödem ist heobachtet.
Aderlass mit Kochsalzinfusion ist hier angezeigt.
Ich lasse, sobald das Gesicht blau wird, den Aether weg.
Mir hat sich am besten die mit Unrecht vernachlässigte Mor-
phiumäthernarkose bewährt, wobei 15 — 20 Minuten vorher O'Ol bis
0'015 Morphium mit 00005 Atropin subcutan injicirt wird. Die Nar-
kose — mit JuUkird'&cher Maske ohne umgelegtes Handtuch — vei-
läuft überaus glatt und ohne Cjanose, mit massig geröthetem Gesicht.
Sie ist die schonendste Narkose für schwache Patienten , anämische,
herzkranke Menschen , Frauen etc. , aber auch sie genügt für alkohoi-
gewöhnte Männer nicht.
Die Aetherisation vom Mastdarm aus (Molliere , Starche) ist in ihren
Folgen gar nicht mehr zu überwachen. Der Meteorismus kann bis zum Platzen der
Därme führen.
Von Nachkrankheiten der Aethernarkose scheint mir in
der That die Häufigkeit der so überaus qualvollen Aetherbroncbitis
und der so gefährlichen Aetherpneumonie durch die 5nms'schen
Vorschriften ganz wesentlich herabgesetzt zu werden. Sie kann nicht,
wie Nauwerck annimmt, von abgeschlucktem Speichel etc. herrühren,
denn gerade nach Operationen in Beckenhochlage trifft man sie be-
sonders häufig.
Ob Chloroform oder Aether vorzuziehen sind , darüber gibt auch
die Statistik keine Entscheidung. Garre berechnet — auf Grund der
während der Narkosen eintretenden Unglücksfälle — je 1 Todesfall
auf 2907 Chloroformnarkosen und 14.646 Aethernarkosen. Poppert da-
gegen (Deutsche med. Wochenschr. 94, 37), der auch die Spättodesfälle
mitrechnet, bekommt 1 Todesfall auf 1167 Aether — und erst auf
2647 Chloroformnarkosen.
In Krankenhäusern empfiehlt es sich, Chloroform und
Aether nebeneinander zu verwenden. Chloroform verbietet
sich bei Herzaftectiouen, weniger der Klappen als des Herzmuskels, also
besonders bei Fettherz und Trinkerherz ; es ist ebenso nicht erlaubt bei
Shock, ferner bei Nierenkrankheiten (?), bei Diabetes. Es soll nicht ver-
wandt werden bei Gasbeleuchtung oder Gasöfen , bei mehreren auf-
einanderfolgenden Narkosen .
Der Aether ist contraindicirt bei vorhandener Bronchitis, bei
Tracheostenose (von Krönlein bei Struma ohne Schaden verwandt), bei
Gefässerkrankungen (Arterienatherom) , bei Verwendung des Thermo-
kauters an Gesicht und Hals, bei kleinen Kindern. — Bei Operationen
im Gesicht macht die starke Salivation den Aether ebenfalls unbequem.
Für sehr geschwächte Patienten, wo man Bedenken trägt, über-
haupt zu narkotisiren , empfehle ich dringend die Morphiumäthernarkose.
Der praktische Arzt bleibt am besten beim Chloroform;
es ist compendiöser , die Verabreichung einfacher und (in Verbindung
mit Morphium) es lässt nie im Stich. Er kann sich auch nicht auf
verschiedene Anästhetica einüben und einrichten. Bei Gebärenden kann
er das Chloroform doch nicht entbehren.
Von durchschlagenden Vortheilen gemischter Narkosen habe
ich mich nicht überzeugen können. Bekannt ist die BiUroth''sche
Mischung — Chloroform 100, Aether sulfur. und Alkohol absol. circa 300. —
Gemisclite Narkose. — Bromätliyl. 247
Die Verwendung- ist die des Chloroforms. Dass auch diese Methode
nicht ungefährlich ist, beweisen die 17 von Hewitt festgestellten
Todesfälle.
Kocher leitet die Nariiose mit Chloroform ein und setzt sie mit
Aether fort. Die Gefahr der Frühtodesfälle (pag. 235) wird dadurch jeden-
falls nicht vermindert. Madelung leitet mit Aether ein und fährt mit
Chloroform fort; auch von Kölüker empfohlen. Auf 4118 Chloroform-
Aethernarkosen ist 1 Todesfall beobachtet. Terrier gibt erst 3 Grm.
Bromäthyl, dann Chloroform (Cbir. Centralbl, 1895, 28).
Die Stickoxydulnarkose (N2O) gibt in einer Minute eine be-
schwerdelose Narkose von 1 — 2 Minuten. Die Anwendung ist complicirt
und völlig gefahrlos ist sie auch nicht.
Von sonstigen Anästheticis hat den meisten Werth das Brom-
äthyl (Aether bromatus pro narcosi, C^HsBr, ja nicht zu verwechseln
mit ßromäthylen, C^HsBr,, einem sehr gefährlichen Narcoticum).
Es soll iiiclit nacb Knoblauch riechen (As ! , H^, S !) , soll mit gleichen Theilen
destilliiten Wassers gemischt blaues Lackmuspapier nicht röthen, mit Silbernitratlösung
sich nicht trüben (freier Br H) , einige Tropfen auf eine 3 Cm. hohe Jodkalischicht ge-
schichtet, sollen keine violette Färbung geben (freies Brom!). — Yergl. Ziemachi,
Langetibech's Arch., 42).
Das Bromäthyl verflüchtigt sich leicht und zersetzt sich in Br und C, H,,. Es
ist deshalb in gefärbten versiegelten Fläschchen von 5, 10, 1.5 Grm. vorräthig kühl auf-
zubewahren.
Man nimmt die JuUiarcVsche Maske, legt ein Handtuch um ; Sauer
nimmt die Esmarch'&chG Maske. Man giesst zunächst 1 — 2 Grm. ein,
nach V4 Minute den Rest. — Die Dosis ist für Kinder 5 Grm., Flauen
und junge Leute 10 Grm., Erwachsene 15 (20) Grm. Man kann zur
Verlängerung der Narkose noch einmal 5 — 10 Grm. nachgiessen , soll
aber 25 (30 Ij Grm. nicht überschreiten. Die Excitation fehlt ganz oder
ist sehr kurz , leichte Cyanose ist manchmal vorhanden. Die Toleranz
tritt meist in der zweiten Minute ein , dauert aber nicht länger als
3 — 5 Minuten. Das Erwachen erfolgt fast plötzlich, ohne üble Nach-
wehen; Erbrechen ist sehr selten. Puls und Respiration bleiben fast unver-
ändert. Eine völlige Muskelerschlaff'ung wird meist nicht erzielt, aber
die Bewusstlosigkeit und Analgesie sind meist vollständig. Für Trinker
ist Bromäfchyl nicht ausreichend , sonst ist es ein gutes Anästheticum
für kleine Operationen (Abscesse, kleine Geschwülste, Unguis incar-
natus etc.) in Sprechstunde und Poliklinik. Die locale Anästhesie hat
seinen Gebrauch eingeschränkt.
Einen Todesfall durch Biomäthyl beschreibt Köhler (Centrall)l. f.
Chir., 1894, 2j. BoUclia (Centralbl. f. Chir., 1895, 11) berechnet 1 Todes-
fall auf 20.000 Bromäthylnarkosen.
Eine Anzahl weiterer in den letzten Jahren versuchter Anästhetica
sind zum Tlieil gefährlich, zum Theil noch nicht genügend erprobt.
So ist das Pental (Cr, Hk,), von Pliilip (Lai/f/eiibcd'.^ Archiv, 45) und
KleimUeuHt (D.Zeitschr.f. Chir.. 35) empfohlen, wegen der grossen Zahl von
Todesfällen, häutiger Albuminurie wieder ganz verlassen. Aethylidenuni
bichloratum (C2 H^ CI2) wurde von Liebreich empfohlen. Aethylchlorid
(C, H1CI2V) (SouUer, Münch. med. Wochenschr. , 180G, 21) 5— ü Ccm.
soll eine Anästhesie von (3 — 10 Minuten geben, die durch Nachgiessen
von 2 Ccni. verlängert werden kann. IJroinoform scheint keine \'(trziigo
zu besitzen.
248
UI. Capitel. — Voilotzuiigen.
Die erfolgreichen Bestrebungen der letzten Jahren, die locale
Anästhesie zu verbesHern und zu verallgemeinern, haben wohl für
kleinere und kürzere, nicht aber für grosse und länger dauernde Opera-
tionen zum Ziele geführt.
Die Zerstäubung von Aether mit Hilfe des lüchardson'mhen
Zerstäubers, Fig. 157 , eines kleinen Handsprayapparates , erzeugt eine
intensive Kälte an der betreffenden Stelle, die Haut gefriert und ist,
wenn sie sich mit einem weissen Reif beschlagen, fast emjjfindungslos,
so dass ein Schnitt durch die Haut kaum gefühlt wird. Die tieferen
Schichten haben ihre Empfindlichkeit jedoch behalten. Der Aetherspray
ist aber — besonders auf entzündeter Haut — sehr schmerzhaft und
man tauscht eigentlich nur einen Schmerz gegen einen andern. Auf
empfindlicher Haut schiessen mitunter nachher Frostblasen auf. — Die
Zusammensetzung des theuren englischen Anesthetic ether ist Fabriks-
geheiraniss (Methylenbichlorid ?) ; der Aether von König eignet sich
aber gut zur Anästhesie.
Von Henning wird zur localen Anästhesie Aethylchlorid
empfohlen in Glasröhren (Fig. 158). Man schraubt den Verschluss
ab, nimmt die Röhre in die Hand, durch deren Wärme der Aether
austritt , und lässt aus einer Entfernung von 20 — 30 Cm. den Spray
einwirken. Das Chlorraethyl (CHg Gl) erzeugt gleichfalls locale
Anästhesie, ist aber noch nicht recht praktisch zu brauchen.
Die locale Anästhesie durch subcutane Cocaininjectionen
in 1 — Öproeentiger Lösung in's ünterhautzellgewebe ist 1885 gleich-
zeitig von Wölßer und mir eingeführt worden. Man löst das Cocain
nicht in Aqua destillata, da leicht Mikroorganismen in der Lösung sich
entwickeln, wenn dieselbe längere Zeit steht, sondern in Sohlt. Hydrarg.
Locale Anästhesie.
249
iaestheliit
[l'sssig und j
bichlor. 1 : 10.000 bis l : 20.000 (z. B. Rp. Cocain, miiriat. 0-2 solve in
soliitione Hydrarg. bichlor. [1 : 10.000] 10 0. D. S. Zur subcutanen In-
jection). Hievon spritze icli eine Viertel- bis höchstens eine Spritze
(O'OOö — ^0"02) in das Unterhantzellgewebe und vertheile dieselbe durch
allmähliches Verschieben der Canüle auf eine Fläche von 2 — 3 Cm. Nach
5 — 6 Minuten hat man einen anästbetischen Bezirk von
5 — 6 Cm. Durchmesser. In Verbindung- mit temporärer Blut- '^'
leere — an den Fingern und den Zehen — ist die Wirkung
noch viel sicherer , doch ist der abschnürende elastische
Schlauch erst einige Minuten nach der Injection umzulegen.
Männer ertragen die Cocainanästhesie meist gut. Man beob-
achtet gelegentlich leichte Ohnmacht, Schwäche in den Beinen,
die aber durch Einathmungen von Amjlnitrit — einige Tropfen
aufs Taschentuch — meist rasch beseitigt werden. Eine be-
trächtliche Zahl von Cocaintodesfällen sind in der Societe de
Chirurgie 16. und 23. December 1891 mitgetbeilt worden. Die
mittlere Dosis der Todesfälle betrug 007 (!). — Für Schleim-
häute ist die Cocainanästhesie schon heute fast unentbehrlich
geworden — für Harnröhre und Harnblase (4 — 10 Procenl),
Nase, Kehlkopf, Conjunctiva (10 Procent) in Gestalt von
Einspritzungen oder Bepinselungen.
Wegen der Gefahren des Cocains ist äiQ Schleich' sehe
Infiltrationsanästhesic freudig zu begrüssen. Man injicirt
mit ganz flach gehaltener Nadel in die Haut (nicht unter die
Haut) und macht mit wenigen Tropfen hier eine circa 50 stück-
grosse Quaddel, am Rande derselben sticht man wieder ein und
macht in der gewünschten Richtung eine weitere Quaddel
u. s. w. Eine Pravaz'äche Spritze reicht für 6 — 8 Quaddeln.
Der weisse etwas vorragende Bezirk ist anästhetisch auf un-
gefähr 20 Minuten. Will man in die Tiefe wirken, so sticht man
durch die Qaaddel senkrecht in die Tiefe. Ä'/^/c^cA verwendet 3 Lösungen,
die stärkste I. für stark überempfindliche (entzünctete) Stellen, die mittlere
(Normallösung) für kleinere, die schwache HI. für ausgedehnte Operationen,
wo viel und oft injicirt wird. — Cocain, hydrochlor. Ol (1. 02, HI. O'Ol);
Morph, hydrochlor. 0025 (0025, 0-005); Natr. chlor, sterilis. 0-2 (0'2,
0-2); Aqu. dest. sterilis. ad 1000 (1000, lOO'O), adde sol. acid. carbol.
ö^/o gtt. 2 (2, 2). Die Lösungen sollen ziemlich kalt sein. Da die
Hauptwirkung auf dem künstlichen Oedem zu beruhen scheint , mache
ich meist nur die erste Quaddel mit z;procentiger Cocainlösnng, die übrigen
mit sterilisirter physiologischer Kochsalzlösung. — ■ Die Infiltrations-
anästhesie lässt sich auch für grössere Operationen, Herniotomien, I'auch-
schnitte etc. verwenden, doch wird hiebei das häufige, die Operation
verlängernde und die Orientirung erschwerende Injiciren lästig. In den
tiefen Schichten ist aber auch die Eni])findlichkeit geringer. Bei der
Infiltrationsanästhesie spielt die Suggestion nicht die kleinste Rolle;
versagt sie, wie nicht selten, so nniss man noch zu Chloroform oder
Aether greifen.
P^ine lOprocentige LfJsung von Guajacol in Olivenöl subcutan
injicirt soll nach 7 — 8 Minuten eine länger dauernde Anästhesie hervor-
rnfcn CLucas-Chani pi onnihrc.) .
IV. Capitel.
Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
Die Vorbereitungen einer Operation sind , was Constitution etc.
betrifft, pag. 132, was Antisepsis und Asepsis anlangt, pag. 185ff, und
Fig. 159.
n bauchiges, h bauchig-spitzes, c spitzes, d zweischneidiges, c geknöiiftes Scalpell.
(72 d. natürl. Grösse.)
betreffs der Narkose pag. 230 ff", besprochen. Die Methoden der Blut-
stillung, die hiezu nöthigen Instrumente sind pag. 100 ff. erwähnt.
Verschiedene Messer.
251
Es sind daher nur üoch einige wichtige Punkte nachzutragen
über die gebräuchlichen Instrumente und über die Art und Weise, wie
sie zu gebrauchen sind, zunächst über die Messer.
Die zu Operationen an den Weichtheilen gebrauchten Messer
gibt Fig. 159. (Messer mit Metallgriffen sind vorzuziehen.) Fig. 159« das
Fig. 160.
« Grosses zweischneidiges, h grosses einschneidiges, c mittelgrosses zweischneidiges, d mittel-
grosses einschneidiges Amputationsmesser, e liaiipenmesser, / Phalangenmesser, g Catline.
bauchige Messer zum Präpariren, z. B. bei Geschwulstexstirpation ;
c zum Eröffnen von Abscesseu; d vorwiegend zu plastischen Operationen
(Hasenscharte u. dergl.) ge])raucht; e das Knopfmesser, zum Erweitern
von Fisteln u. dergl. (Folgende Figuren z. Th. nach Löhker.)
Fig. 100 zeigt die grossen Messer für Amputationen und Exarti-
cuhitionen.
252
IV. ('/d,])iUi\. — Allf^emcinc Oj)i;i'a,ti(nis- und instrumcrit.eiiichrc.
Die verschiedenen Arten das Messer zu halten und zu fuhren
geben Fig. 161 — 165.
Fig. 161 die Schrcibfederhaltung.
Fig-. 162 die Tischmesserhaltung.
Fig. 101.
Fig. 165.
Fig. 163 die Geigenbogenhaltung, besonders bei langen Schnitten
gebraucht.
Fig. 164 zeigt die Haltung des Messers in der vollen Faust (Ampu-
tationen).
Das Ansetzen des Messers, das Spannen der Haut mit Daumen
und Zeigefinger der andern Hand gibt Fig. 165.
Fig. 166 zeigt die Trennung der Haut durch Erheben einer Hautfalte.
Messerlialtuiis
253
Das Weiteieindringen und Prüpariren zwischen zwei cbiriirgischen
oder Hakenpincetten zeigt Fig. 167.
Das Spalten von Fisteln i\. dergl. auf der Hoblsonde wird aus
Fig. 168 deutlich.
Die Haken zum Auseinanderhalten tieferer Wunden sind in
Fig. 169 dargestellt.
Fig. 166.
Die gebräuchlichsten Scheeren und ihre Führung geben Fig. 170
bis 172.
Die Messerhaltung und Schnittführung bei Amputationen wird
aus Fig. 173 klar.
Amputationen sind Absetzungen der Glieder in der Kontinuität
der Knochen, also zwischen den Gelenken; Exarticulationen Aus-
254
IV. Capitcl. — • Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
lösungen der Glieder in den Gelenken; Resectionen Entfernung von
Knochen- oder Gelenktheilcn mit Erhaltung des Gliedes.
Fig. 108.
Fig. 170.
Fig. V,'.).
Gerade Scheere (Va d. nat. Grösse).
a scharier, b stumpfer
Wundhaken (V2ld- nat. Gr.).
Fig. 171.
Coo^JeJ-'sche Scheere (Va d. nat. Grösse).
Für die Technik der Amputationen gilt als erste Regel, die
Weichtheile tiefer zu durchtrennen als den Knochen, um dadurch den
Amputation. — Cirkelschuitt.
255
höher oben abgesägten Knochen mit einer genügenden Schicht von
Haut und Weichtheilen bedecken zu können.
Dieser Schnitt durch die Weichtheile wird in verschiedener
Weise ausgeführt. Die ältesten Methoden sind die Cirkelschnitte,
auch heute noch brauchbar an Stellen , die ungefähr cylindrisch sind
(Oberarm , unterer Theil des Vorderarms und Unterschenkels , magere
Oberschenkel) (vergl. Fig. 173, Haltung des Messers bei einzeitigem
Cirkelschuitt). Während Haut und Weichtheile von einem Assistenten
Fig. 173.
möglich.st weit nach oben zurückgezogen werden, trennt der Operateur
mit einem kreisförmig das Glied umziehenden , in sich selbst zurück-
kehrenden Schnitt alle Weichtheile bis auf den Knochen — ein-
zeitiger Cirkelschuitt.
Zweckmässiger ist der zwei zeit ige Cirkelschuitt, wo ein
erster Scliuitt Haut und Faseie durchtrcnut. Indem der Assi.stent den
nun sicli präsentirendcn .Muskek- vi Inder möglichst nach oben spannt,
wild dieser höher als im Niveau des Hautschnitts mit einem zweiten
256
]V. Caj)it(;l. — Allgemeine Operulioiis- und instruinentenlelire.
bis auf den Kiioelicii dring-endcii Cirkel.schnitt dui-cliselinittcn. Der
Knochen selbst wird womöglich noch etwas höher durchsägt, nachdem
der Rest der VVeichtlieilc vorher mit dem Schabeisen fßasjjatorium.
Elevatoriom, Fig. 174) zurückgeschoben oder mit dem Messei- abj)i'äparirt
sind. Die ßeinhaut wird um das Periost kreisförmig mit dem Messer
durchschnitten , um sie nicht mit der Säge zu zerfetzen und dann der
Knochen mit ruhigen gleichmässigen Sägezügen durchtrennt.
Fig. 175.
Fig. 176.
Bei Amputationen bedient man sich zum Absägen des Knochens
der Bogensäge (Fig. 175 a), wahrend man die spongiösen Partien bei
Resectionen mit der Blattsäge (Fig. 175 5) durchsägt.
Vorragende Knochenspitzen oder -kanten werden mit der Kuochen-
scheere oder der Hohlmeisselzange geglättet (Fig. 176 a und b).
Vergl. aiTch Fig. 98 und 100.
Die grossen Nervenstämme werden vorgezogen und möglichst
hoch abgeschnitten, um die Bildung von mit der Narbe verwachsenden
Neuromknoten zu verhüten.
Die Wunde stellt bei einem gut ausgeführten zweizeitigen Cirkel-
schnitt einen Trichter dar , dessen Spitze der durchsägte Knochen ist.
Laijpeuschnitte.
257
Die Wunde von Anfang an durch schräge Messerführung trichterförmig
auszuhöhlen (Tri cht er schnitt), ist zwecklos.
Beim Lappenschnitt werden au ihrer Basis mit dem Körper
zusammenhängende Haut- und Weichtheilflächen über den Knochenstumpf
weggeschlagen (Fig. 178). Diese Lappen gewinnt man zum Theil durch
Schnitt von innen nach aussen, mit Durchstich. Mit einem
langen spitzen, am besten zweischneidigen Messer (vergl. Fig. 160
und Fig. 180) durchstösst man die Weichtheile etwas unterhalb der
Fig. 177.
Fig. 178.
Stelle, wo abgesägt werden soll, indem
man das IMesser hart am Knochen
hinführt. Ungefähr die Hälfte der
Weichtheile des Gliedes liegt auf
dem Messer. Nun führt man das
Messer in möglichst wenig, aber
grossen Zügen flach und schräg gegen
die Oberfläche des Gliedes heraus,
so dass man einen grossen zungen-
förmigen Lappen erhält. Dieser wird
nach oben geschlagen , und nun
durchtrennt man den Rest der Weich-
theile entweder mit einem Cirkel-
schnitt , der etwas unterhalb des Durchstichs geführt wird , so
dass man einen kleinen hinteren Lappen bekommt (Fig. 177 h). Oder
man kann die Weichtheile an der anderen Seite des Gliedes ebenso
wieder durchstechen und lappenförmig zuschneiden, so dass man dann
zwei gleich grosse (seitliche, oder vorderen und hinteren) Lappen erhält
(Fig. 177 a). Der Muskelkegel, welcher übrig bleibt, wird, nachdem
beide Lappen nach oben geschlagen sind, durch einen Cirkelschnitt um
den Knochen vollends durchtrennt.
Bei der Lai)i)eubildung von aussen nach innen umschreibt
der Operateur mit dem Messer einen abgerundet viereckigen, oder flach
zungeuförmigen Lappen, dessen Basis etwas mehr als den halben Um-
Landerer, AU,', cliir. Pathologie u. 'J^lierapic. a.Aiitl.
17
258
IV. Cajiitel. — AUgerndne Ojierations- und Instrumentenlchre.
schneidet dann
i'ig. 17U.
fang- des Gliedes beträgt, und vertieft ihn bis in die Musculatur. Der
Lappen wird nach oben g-eschlagen und nun die Weichtheile etwas
unterhalb der Basis des Schnittes mit einem Cirkelschnitt durchtrennt
(Fig. 177 d) oder man bildet in derselben Weise einen zweiten Lappen
aus dem noch übrigen Theil des G-liedes (Doppellappenj und durch-
den noch übrigen Theil der Weichtheile (Fig. 177 c).
Je nach den Verhältnissen des Falles, der
Beschaffenheit der Weichtheile bildet man
einen einzigen grossen Lappen, einen vor-
deren, hinteren oder seitlichen , oder zwei
Lappen, einen grossen (oberen oder hinteren)
und einen kleinen (unteren oder oberen),
zwei seitliche u. s. w. (s. Fig. 177). Die
Bildung zweier Doppellappen zeigt Fig. 178
(Exartieulation sämmtliclier Mittelfusskno-
chen nach Lisfranc).
Die Lappen sollen nach v. Bruns Haut
und Fascie enthalten , da die ernährenden
Gefasse der Haut auf der Fascie verlaufen.
Etwas Musculatur schadet nichts, wenn sie
auch später schwindet. Zu dicke Muskel-
lagen an der Innenfläche des Lappens
stören eher die Heilung. Oberst empfiehlt
nur Hautlappen ohne Fascie.
Aus dem Cirkelschnitt kann , wenn
die Ausführung desselben irgendwelche
Schwierigkeiten bietet (feste Anheftuuii- der
Haut an die Fascie u. s.w.), ohne Weiteres
zum Lappenschnitt übergegangen werden,
indem man an zwei entgegengesetzten
Stellen (z. B. innen und aussen) zwei zum
Cirkelschnitt senkrecht gestellte Längs-
schnitte führt ; so bekommt man dann
zwei viereckige Lappen , die man nach
oben abpräparirt (Manschetten schnitt,
vergl. Fig. 119 A).
Der Ovalär schnitt, für gewisse
Exarticulationen die beste Methode, wird
.■i Amputation des Unterschenkels bcl dcU AmputationCU SCltCUer gCÜbt (vCrgl.
fi „Orte der Wahl" mit Manschetten- „. ^„r^ -r, '^ ^ ^r^^x V o
Flg. 179 5 und 186).
Bei Gliedern mit zwei Röhren-
knochen werden die W^eichtheile zwischen
spitzen zweischneidigen Messer (Catline,
Fig. 160 (i) durchtrennt, dann werden beide Knochen zu gleicher
Zeit und in gleicher Höhe durchsägt. Die Bildung eines viereckigen
Periostlappens, welcher die Markhöhle verschliessen soll, ist unnöthig.
Als die Stelle, wo amputirt, respective esarticulirt wird, ist seit
der Durchführung der Antisepsis die Grenze des Gesunden oder Lebensfähigen nnd
Kranken oder Lebensunfähigen zu bezeichnen. Die alte Chirurgie hatte bestimmte
Prädilectionsstellen , den „Ort der Wahl", wo sie absetzte, da gewisse Stellen, z.B.
unteres Drittel des Oberschenkels, mittleres Drittel des Unterschenkels, bessere End-
resultate gaben als andere, wie die Exartieulation im Knie- oder Fussgelenk. —
am .
schnitt. BB Amputation des Unter-
schenkels mit Bildung zweier Lappen.
C^ AmxJutation sus-mulleolaire.
den Knochen mit einem
Osteoplastische Amputationen.
259
Heilte sparen wir jeden Centimeter, der noch zu erhalten ist, und können dies auch
mit Hilfe der Antisepsis.
Eine wichtige Errungenschaft der Neuzeit sind die osteoplasti-
schen Amputationen, deren erste Pirogoff ausgeführt hat und die
später besonders von Langenheck und Ollier ausgebildet wurden. Es
Fig. 180.
wird hiebei auf die Sägefläche des einen Knochens, z. B.'der^Unter-
schenkelknochen , die angefrischte Fläche eines anderen — des Proe.
post. calcanei, aufgesetzt. Dadurch wird nicht nur eine Verlängerung
des Gliedes, sondern auch in der Fersenhaut eine brauchbare Gehfläche
gewonnen. Die Verhältnisse, die ^. ^^^
Art und Weise der Ausführung
viud der Heilung ist aus Fig. 181
bis Fig. 183 ersichtlich.
Diesen Gedanken hat
Gritti weiter verwerthet, indem
er die angefrischte Patella auf
die Sägeflächen der Femurcon-
dylen aufsetzte. Doch sind die
liesultate dieses Verfahres nicht
so glänzend als bei dem l^irogoff-
sehen. Mikulicz hat — bei Ent-
fernung sämmtlicher Knochen
der Fusswurzel
schenkeis aufgesetzt.
Bier geht von der Ansicht aus , dass nur solche Stümpfe trag-
fähig seien, wo der Markcanal durch eine mit Periost bedeckte Knoehen-
lage verschlossen wird. Er sägt also aus dem Knochen weiter oben
nochmals einen Keil z. P. mit hinterer Basis aus und legt den so ge-
wonnenen kleinen unteren KiK)clionlap])en mit einer Drehung um 1 R auf
den Kuoclieiistiuiii)f, Wunde gegen Wunde. Auch durch treppcnfiirmiges
Absägen lässt sich ein Knochenlappen erhalten, der auf den Stumpf
17*
die ]\Iittclfussknocheu auf die Sägefläche des Unter-
260
IV. Capitel. — All^'(!m(;iiie Opci'iitioiis- und liislrimicutciili-liic
gesetzt wird. Die so erlialteiien Stumpf c sind in der 'J hat \ icl tra.:,^-
fähiger und gegen Berührung wenig empfindlicli.
Selbstvei'ständlich finden alle antiseptiselien Massregeln für
die Amputationen und Exarticulationen ihre volle Anwendung. CSielie
pag. 188 ff.) Die Blutung beherrscht man nach den pag. 100 angegebenen
Vorschriften durch Esmarch'sahQ Blutleere oder Digitalcompression und
durch Unterbindung der Gefässe in der Wunde.
Auf den Verlauf von Amputationen und Exarticulationen, ebenso
auch Resectionen ist es von Einfluss, in welcher Zeit nach der Ver-
Fig. 182.
Fig. 183.
letzung sie gemacht werden. Diese Frage hat auch heute noch ihre
Bedeutung für die Kriegschirurgie.
Man unterscheidet in diesem Sinne Primäroperatiouen, ausge-
führt im Verlaufe der ersten 24 (bis 36 Stunden), ehe eine lufectiou der
Wunde stattgefunden hat. Sie geben eine günstige Heilungsziffer, weil
sie eine ziemliche Aussicht auf aseptische Heilung haben. Nur macht
es oft Schwierigkeiten , zu beurtheilen , wie weit die Weichtheile noch
lebensfähig sind oder durch die Verletzung (Ueberfahrung , Schuss-
verletzung u. s. w.) erfcödtet sind. Vergl. pag. 5. Stirbt die nicht mehr
genügend lebensfähige, bedeckende Haut ab, so ragt der Knochenstumpf
ungedeckt aus der Wunde hervor , eine Vernarbung erfolgt entweder
gar nicht — man behält ein dauerndes Geschwür an der Spitze des
Stumpfes — Ulcus prominens, oder wenn die Heilung schliesslich
nach langer Zeit und vieler Mühe erfolgt, so bleibt der Stumpf
Zeit der Amputation. Nachbehandlung. 261
schlecht geformt und wegen der auf der Amputationsfläche ange-
wachsenen, leicht wieder wund werdenden Narbe für die Anlegung eines
künstlichen Ersatzes wenig geeignet — konischer Stumpf (Zucker-
hutstumpf). Hier hilft nur eine zweite Amputation — Reamputation,
so hoch oben , dass die Amputations- oder Exarticulationsfläche mit
gesunder Haut und Weichtheile gedeckt bleibt.
Auf der anderen Seite läuft man Gefahr, mitunter zu viel zu opfern
und Theile zu entfernen, die vielleicht noch lebensfähig waren. Hier
hilft nur Erfahrung. Auch die äusseren Verhältnisse (Friedenspraxis
oder Thätigkeit auf dem Schlachtfelde) sprechen hier mit. Unter
günstigen Verhältnissen darf man Erhaltung anstreben , wo mau unter
ungünstigen Verhältnissen mehr opfern muss.
Weitaus die schlechtesten Resultate geben die Intermediär-
operationen, ausgeführt in den septisch infiltrirten Theilen. Die Ge-
fahr einer massenhaften Aufnahme septischer Stoffe, das Entstehen von
Septikämie und Pyämie mit all ihren Schrecknissen liegt hier ungemein
nahe. Muss man in diesem Stadium operiren, weil Gefahr im Verzuge
ist, so ist auf jede Vereinigung der Wunde zu verzichten , damit die
infectiösen Stoffe ohne Weiteres abfliessen können. Irrigation mit Chlor-
wasser, Immersion u. dergl. (pag. 186) oder oft gewechselte feuchte
antiseptische Umschläge (Sublimat 1 : 5000 — 1 : 1000) können von Vor-
theil sein.
Mit dem Nachlass von Fieber und Entzündung werden dann die
Resultate wieder günstiger, doch erreichen die Secundäroperationen
nicht ganz die günstigen Zahlen der Primäroperationen.
Den Primäroperationen wieder annähernd gleich bezüglich der Er-
folge stehen die erst Monate nach der Verletzung ausgeführten Spät-
oder Tertiäroperationen. Doch ist z. B. bei Kriegsverletzten die
Zahl derer, die überhaupt in dieses Stadium treten, einstweilen sehr
gelichtet. Pyämie und pyämische Blutungen , andauerndes Fieber,
Amyloidentartung innerer Organe u. s. w. haben einen hohen Procent-
satz mittlerweile dahingerafft.
Bei aseptischem Verlauf gibt es diese Unterscheidung verschie-
dener Perioden nicht. Wo eine septische Infection durch die Behandlung
ausgeschlossen geblieben ist, kann man an jedem Behaudlungstage
operiren mit derselben Aussicht auf Erfolg, wie in der ersten Stunde
nach der Verletzung. Gelingt es auf dem Schlachtfeld durch den ersten
Verband (Jodoform) die Wunde aseptisch zu gestalten , so ist damit
unendlich viel gewonnen.
Innerhalb der ersten 24 Stunden vorgenommene Amputationen ergaben nach
Adler (Pennsylvania-Hospital zu Philadelphia) in der vorantiseptischen Zeit 35'477o) iii
der antisepti.schen Periode 24'26°/o Mortalität, nach der primären Periode 50' 19"/,) und
84'44:'' ß. (Die Zahlen sind für heute viel zu hoch.) S. unten.
Für die Nachbehandlung sind die einzelnen Fälle zu speciali-
siren. Amputationen in inficirten Theilen dürfen nicht genäht werden,
höchstens sind einige Situationsnähte zulässig, die den Abfluss der
Wuiulsecrcte auch nicht im Geringsten stören dürfen. Bei nicht inficirten
Fällen gilt als Regel Naht, abwechselnd tiefe und ol)erflächliche Nähte
und genügende Drainage. Nur in ganz gesunden Theilen darf die Wunde
mit verlorenen Nähten von Catgut oder gut dcsinficirtcr Seide von
Grund aus genäht und ii'anz verschlossen werden.
262
IV. Capitel. — Allf^emeine Operations- und Instrunicntenlclirc.
Die Exarticulationcn sind in ilirer Technik den Amputationen
ähnlich. Für die Haut- und Weichtheilsclmitte, Verhalten der Blutj^efässe
und Nerven gelten dieselben Regeln. Statt den Knochen zu durch-
sägen, werden die Bänder und die Kapsel durchschnitten (vergl.Fig. 185).
Wo die Kapsel bequem liegt, wie der Recessus sul) M. quadricipite
im Kniegelenk, kann man die Kapsel mit Scheere und Tincette oder
JFig. 184.
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^^SiPff&^^'Z^^^^^^
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mit dem Messer herauspräpariren und entfernen. Doch ist die Esstir-
pation der Gelenkkapsel, wenn sie nicht krank ist, nicht nothwendig;
Fig. 185.
ebensowenig braucht der Knorpel ent-
^" fernt zu werden. Bei aseptischem Ver-
lauf wird der Knorpel nicht nekrotisch.
Die Exarticulationcn geben wider-
standsfähigere Stümpfe, die auch eine
directe Belastung ertragen.
Sonst zeigen die Exarticula-
tioncn in ihrer Ausführung im Ganzen
viel Aehnlichkeit mit den Amputa-
tionen. Nur sind Cirkelschnitte
blos in einzelnen Ausnahmsfällen ver-
wendbar. Fig. 185 zeigt die Aus-
einer Handgelenksexarticulation mit dem Cirkelschnitt. Am
besten eignen sich Lappenschnitte (Fig. 178 und 184) und der Ovalär-
schnitt. Diese, für eine Reihe von Exarticulationcn recht brauchbare
Methode, zeigt Fig. 186 (Exarticulation des Daumens nach Älberf). Das
Messer wird oberhalb des Gelenkes eingestochen, erst eine Strecke nach
abwärts geführt , unterhalb des Gelenkes um das Glied herumgeführt
\«'
führung
ö
Exai'ticulatiou. Künstliche Glieder.
263
Fig. 187.
und kehrt daun in den alten Schnitt zurück. Die Schnittlinien sind
etwas gegen einander convex. Dann wird, während die Wundränder
mit stumpfen Haken auseinandergezogen werden , auf das Gelenk ein-
gegangen, die Kapsel und Bänder durchschnitten und der Kopf heraus-
gehoben. Der Ovalärschnitt wird als Linie vereinigt und wenn nöthig
werden in die Ecken Drainröhreu eingelegt. — ■ Im Uebrigen gelten
alle für die Amputationen gegebenen Vorschriften,
Die Gefahren der Amputation und Exarticulation stehen
in geradem Verhältnisse zum Umfange des Gliedes und
steigen mit der Annäherung der Absetzungsstelle an den
Rumpf. Z. B. ergibt die englische (Friedens-) Statistik nach Simpson
für den Vorderarm eine Mortalität von 0'5% -, Oberarm 4"37o ? t^en
Unterschenkel 13*l°/o, den Oberschenkel
18'5% (Amputationen). — Die Gesammt-
mortalität beträgt in gut geleiteten Friedens-
spitälern ca. 4 — 8%, im Kriege dürfte sie
wohl kaum unter 25— 30Vo sinken (?)
(amerikanischer Krieg); hat aber in ein-
zelnen Kriegen und Armeen (Franzosen
im Krimkriege) 60 — 70"/o (Oberschenkel
91-9%, Unterschenkel 72%) betragen.
Im Frieden sind meist Anämie und
schon vorher bestandene innere Leiden,
Erschöpfung u. s. w. die Todesursache ; im
Felde fast ausnahmslos Pyämie oder andere
accidentelle Wundkraukheiten (Tetanus,
Septikämie, progrediente Gangrän u. s. w.).
Für die individuelle Prognose des Falles
sind pag. 133 Anhaltspunkte gegeben. Das
Alter kommt nicht wesentlich in Betracht
(Oberst).
Der Streit, ob Amputation oder Exarticulation
das zweckmässigei'e Verfahren sei, ist mit der Durch-
führung der Antisepsis gegenstandslos geworden.
Man setzt ab unter Erhaltung eines möglichst langen
Stumpfes.
Nach vollendeter Heilung der Wunden werden künstliche
Glieder oder Prothesen angelegt. Diese , in verschiedenster
Weise construirt , müssen an der unteren Extremität vor Allem dem
Bedürfniss einer festen Stütze entsprechen. Ihre Angriffspunkte sind
vorsi)riugende Knochenkanten — die Condylen der Tibia, das Tuber
ischii , der Darmbeinkamm ; doch trägt auch das nach unten kegel-
fijrmig zulaufende Muskelpolster des Oberschenkels das Seinige zur
Stützung bei, wenn es von einer enganliegenden Lederkapsel umschlossen
wird. Einfach stabförmige Stützen ohne Gelenke nennt man Stelz-
füsse, solche mit Gelenken, die durch Federkraft gestellt werden
und zugleich die Form des Beines im Aeussern nachahmen, künst-
liche Beine. Auch an der oberen Extremität sieht man bald mit Ge-
lenken versehene Xachbildungcn des Armes im Gebrauch — künst-
liche Arme oder an Schulterriemen angesetzte Haken, Gal)eln zu
einfachen ^'errichtungen (Tragen von Kcirben u. s. f.). — Das Hauj)!-
264
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instramentenlehre.
erforderniss aller Prothesen ist die Leichtigkeit , ein künstliches Bein
soll nicht mehr wiegen als l'ö — 2 Kgrm., ein künstlicher Arm 1 Kgrm,
Stümpfe, wo die Hautbedeckung ungenügend war und der Stumpf sich infolge
dessen zuckerhutförmig zuspitzt, nennt man — konische Stümpfe. l)ie Narbe geht
leicht wieder auf, und es entsteht Geschwürsbildung auf der Spitze des Knochens —
Ulcus prominens. Diese Stümpfe sind selbst für leiseste Berührung im höchsten
Grade empfindlich. Die Reamputation ist angezeigt (siehe oben). In anderen Fällen
entwickeln sich schwere Neuralgien in den Stümpfen, beruhend auf einer kolbigen Ver-
dickung der durchschnittenen Nerven — Amputationsneurome fs. Geschwülste). Sie
sind seit der Einführung der Antisepsis viel seltener geworden. Es ist die Exstiqiation
der Neurome zu machen. Durch Resection der vorgezogenen gi'ossen Nervenstämme
bei der Amputation (pag. 256} beugt man der Neurombildung am sichersten vor. — Die
Stümpfe atrophiren sowohl im Knochen, als namentlich auch in der Musculatur,
und ist dies bei der Anpassung der ersten Prothese zn beachten.
Der hervorragend conservative Charakter der neueren Chirurgie
findet seinen bezeichnendsten Ausdruck in der hohen Entwicklung und
Ausdehnung des Gebietes der Resectionen — Entfernung von kranken
Knochen oder Gelenktheilen , auch Weichtheilen , ohne dass dabei der
Zusammenhang des Gliedes ganz aufgehoben wird. Selbstverständlich
muss dabei eine die Hauptgefässe und Nerven des peripheren Theiles
enthaltende Weichtheilbrücke erhalten bleiben, während von den Knochen
und Gelenken mehr oder weniger grössere Partien (im Nothfall bis zu
15 Cm.) entfernt werden können. Die wunden Knochenstellen heilen
nachher
gehörig aneinandergefügt
wieder zusammen, wie ein
gewöhnlicher complicirter Knochenbruch.
Eesection. Subperiostale Resectiou.
265
Seltener handelt es sieh um Resection in der Continiiität eines
Knochens, gewöhnlich um Entfernung kranker oder verletzter Gelenke.
Um das Gelenk zu eröffnen, werden die verschiedensten Schnitte,
Bogen-, Längs-, T-, H-, U-Schnitte, Lappenschnitte mit oberer und unterer
Basis (vergl. Fig. 187 — 190) verwendet. Sie müssen natürlich die Gefäss-
und Nervengegend meiden, und in Theilen geführt werden, deren Ver-
letzung keine schweren Folgen für die spätere Gebrauchsfähigkeit des
Gliedes hat ; dabei muss die Gelenkgegend doch frei zugänglich werden.
Nachdem man durch Haut und Musculatur bis zum Gelenke gedrungen ist,
wird dieses eröffnet und die Gelenktheile herausgehoben, indem alle Weich-
theile von den Knochen abpräparirt und möglichst unversehrt zurück-
Fig. 189.
Fig. 190.
Schnitte fär die Resection des Schulterkopfes
(ta nach B. v. Langrnbeck ; bb Ollicr und C. Hueter.
AA Resection des Kniegoienkes
mit vorderem Bogenschnitt.
gelassen werden. Am besten erreichen wir diesen Zweck durch sub-
periostaleResection, deren Ausbildung wir B. v. Langenbecl- verdanken.
Das Periost wird eingeschnitten und mit dem Schabeisen zurückgeschoben,
was bei entzündetem Periost leicht gelingt, doch auch am normalen. Die
ganz nackten Gelenkkörper werden dann mit der Säge so abgesägt, dass
die erkrankten Theile wegfallen. Fig. 187 und Fig. 188 (nach Albert)
veranschaulichen eine subperiostale Resection am Schultergelenk.
Die Erhaltung des Periostes gestattet einmal äusserste Sclionung
der Weichtheile, dann i)roducirt das erhaltene Periost nachher wieder
werthvolle neue Knochenmasse, so dass die Resultate der subperiostalen
Resectionen da, wo sie am Platze sind, die ohne Erhaltung des Periostes
ausgeführten wesentlich überragen.
266
IV. Capitol. — Allgoiiicine Operations- und )nsti'ujnr:nt<;nle}ire.
Zur Ausführung- der Rescctioueu sind verschiedene Instru-
mente nöthig".
Zum Freipräparircn der Knochen benutzen wir die kurzen kräf-
tigen, in voller Faust geführten Resectionsmesser. Fig. 191.
Zum Fassen der Gelenkkörper, Herausziehen von Splittern etc.
dienen die in Fig. 192 a — e abgebildeten Zangen.
Zum Abhebein des zu schonenden Periostes v^^erden ausser dem
in Fig. 174 abgebildeten Elevatorium die in Fig. 19.^ gegebenen Schab-
eisen und der Gaisfuss nach v. Lanyenheck angev^^andt.
Fig. 191 a.
Pig. 192 a.
Fig. 102 &.
a spitzes, b geknöpftes Besectionsmesser.
a Kornzange, h Sequesterzange.
Fig. 194 gibt eine Stichsäge zur Abtragung kleiner Knochen-
partien. Fig. 195 eine Kettensäge, die mit einer biegsamen Silberöhrsonde
oder eigenen Führern um den zu durchsägenden Knochen herumge-
führt wird und den Knochen von innen nach aussen durchtrennt.
Breite Knochenflächen , wie der Tibiakopf , werden mit der
Szymanoivski sehen Resectionssäge (Fig. 196) oder mit der Fig. 1755 ab-
gebildeten Blattsäge abgetragen.
Feinere Arbeit am Knochen verrichtet man mit Meissein, die
in Fig. 197 dargestellt sind. Ihre Handhabung — mit Metill- oder ab-
gekochtem Holzhammer zeigt Fig. 198.
Die Vereinigung getrennter Knochenstücke wird, wie bei
den Knochenbrüchen (s. dort), am häufigsten durch geeignete Verbände
Technik der Resection.
267
erzielt. In anderen Fällen werden die (tbeilweise spongiösen) Knochen-
flächen mit geglühten vernickelten oder vergoldeten vierkantigen Nägeln
oder Drahtstiften zusammengenagelt (Tktersch^ Hahn) oder man stutzt
sie treppenförmig zu, oder implantirt das eine zugespitzte Stück in die
Markhöhle des anderen oder man verbindet sie durch sterilisirte Elfen-
beinstifte oder durch darüber geschobene Ringe aus decalcinirten oder unbe-
handelten, aber sterilisirten Thierknochen (z. B. Tibia des Kalbes, Senn).
Fig. 192 c.
Fig. 192 d.
c Fnrnbcvf.
</ ResectionPzange nach v. Launen heck.
F,;rijussiiK
In vielen Fällen greift man zur Knochennaht. Mit den in Fig. 199
dargestellten Bohrern bohrt man Löcher in die Knochen (z. B. den
Unterkiefer), schiebt sterilisirte 8ilberdrähte hindurch und dreht diese
mit freier Hand oder dem Drahtschnürer (Fig. 199 f) zusammen.
Auch für die Resectionen haben die ]!ag. 261 angeführten vier
Perioden des (nicht aseptischen) Wundverlaufes ihre Geltung. Auch
hier geben die Primärresectionen die besten, die intermediären die
denkbar schlechtesten Resultate, während die Secundärperiode mittlere
Erfolge ergibt, die Tertiär|)eriodc sich wieder der l'rimärpcriode nähert.
Nach Gurlf starben von Resectionen nach Scliussverlctzungcn : Schulter-
gelenk 34-7«/o, Ellbogen 24-877o, Handgelenk ir)-4r)"/o, Hüfte 88-40%,
Knie 77-080/O, Fuss 38-92o o (Kricgsverlct/uiigrii i.
268
IV. (Japitcl. — AUgoinoino OpcrutioiiK- luni In.slj'imiciiteiilijlin;.
Für die Vornalime der Operation , sowie die Nachbehandlung
gelten dieselben Regeln wie für Amputationen und Exarticulationen.
Fig. 193 a.
Fig. l'.l'ilj.
a Schabeisen, b Gaisfuss nach v. Langenbeck.
Fig. 194.
Jeffralfs Kettensäge.
Drainage ist fast immer nötbig. Besonders wichtig ist eine gute Coap-
tation der Knochenflächen und sichere Lagerung während der Heilung
Instrumente der Eesection. 269
(s. obeu). Besonders zweckmässig sind hier unterbrochene oder gefensterte
Szymanowsky's Eesectionssäge.
Fig. 197 I.
Fig. 197 II.
T '9^'
Chirurgische Meissel.
I. Grösseres Osteotom. II. Kleinere Meissel.
a Hohlmeissel, b Meissel mit abgeschrägter Schneide.
Fig. 198.
Haltung des Meissel.';.
Gipsverbände wie Fig. 2i>ii nach AHktI ciiK'i: suh-lieii nach Kesection
270
JV. Capitol. — AIlgi;meim;]^Opi;rations- und Instruineiitciilcli)*,-
Fig. 199 a.
im Fiissgelenk, zugleich zur Suspension eingerichtet, darstellt. Für die
untere Extremität gilt nach Resectionen zum Theile das bei den Knochen-
hrüchen über „Gehverbände" Mitgetheilte.
Wo Beweglichkeit erzielt werden soll (Ellbogen , Hand u. s. w.j,
fangen wir schon in der zweiten Woche mit .Stellungsänderungen an,
wozu sich sehr gut Schienen mit verstellbarem
Gelenk — wie die Volkmann'sahe Supinations-
schiene — eignen , denen sich dann bald
passive Bewegungen anschliessen.
Im Ganzen erstreben wir an der unteren
Extremität mehr die Ankylose (besonders im
Knie), während an der oberen Extremität auf
ein bewegliches Gelenk hingearbeitet wird. —
Interessant sind die Untersuchungen von Gurlt
über die spätere Gebrauchsfähigkeit der re-
secirten Glieder. Hienach fanden sich unbe-
Resultate,
Fig. 199 6.
d. h. ungenügende Ge-
brauchsfähigkeit am
Schultergelenk 55"867o •.
Ellbogen 70-70%, Hand
93-750/0 (0; Hüfte nur
günstige Resultate, Knie
11-11% ungünstige,
Fuss 49-27% unge-
nüo-ende.
Fig. 199 c.
Sticlibolirer.
Schnürstäbchen.
Soll ein Gelenk steif werden oder lässt sich die Steifigkeit nicht
vermeiden, so ist dasselbe während der Heilung in der für den Gebrauch
günstigsten Stellung zu fixiren — das Knie nahezu gestreckt, Ellbogen
etwas mehr als rechtwinklig gebeugt, drei Viertel supinirt, die Hand
etwas dorsalfiectirt u. s. w. (S. auch Gelenkbrüche.)
jManchmal lässt sich ein nicht ganz genügendes Resultat — wie
ein Schlottergelenk im Knie, das natürlich den Gebrauch des Beines
Ergebnisse der Eesectionen. Thermokaustik.
271
erheblich beeinträchtigt — durch einen passenden Stützapparat, einen
Tutor, eine auf einem Gipsabguss oder Holzmodell gearbeitete, der
Körperform sich genau anschliessende, durch Stahlschienen verstärkte
Lederhülse, noch wesentlich verbessern.
Misslingt die Resection, so ist schliesslich doch oft noch die Ampu-
tation angezeigt. Hiezu kann man durch Infection mit Eitersenkungen
Fig. 200.
u. s. w. gezwungen werden , oder der Kranke ist durch langdauernde
Leiden und Eiterung, Amyloidentartung innerer Organe so herunter-
gekommen, dass es — im Interesse der Erhaltung des Lebens —
geboten scheint, durch die Amputation ihm eine rasche Heilung der
Wunden und so die letzte Möglichkeit der Genesung zu bieten.
Zur Entfernung und Zerstörung krankhafter Gewelje
stehen uns die verschiedensten Verfahren und Instrumente zu Gebote.
Will man die Blutung vermeiden , so lassen sich gestielte Ge-
schwülste mit Seidenfäden abbinden oder durch geeignete Instrumente
allmählich abquetschen. Der Typus dieser Instrumente ist der Draht-
Ecraseur von Maissoneuve (Fig. 201), moditicirt von Meyer , wo das
Gewebe mit geglühtem Eisendraht allmählich, d.h. in Minuten bis einer
halben Stunde durchgeschnitten wird. Man nennt dies auch „kalte
Schlinge" im Gegensatz zur galvanokaustischen Schlinge.
Weiche Gewebe, Granulationen u. dergl. zerstört und entfernt am
schnellsten der scharfe Löffel (Fig. 202 a und h).
Zur Zerstörung von Geweben bedienen wir uns ausserdem der
Glühhitze und der Aetzmittel.
Die Glülicisen, Glühkupfer von den verschiedensten Formen linden
heute kaum noch \'crwcndung, sie sind nicht so wirksam und bequem
wie der Thermokauter (Fig. 203 und 204). Der Platinbrenner von
l'ar/urlüi besteht aus einer an der Spitze mit Platinschwamm gefüllten
hohlen l'latinröhrc, Handgriff und Gebläse. Die Platinspitze wird in
Gas- oder Spiritusflanime bis zur Ptothglühhitze erwärmt und glüht dann
272
IV. Cupitel. — Allgemeine (Jpi;ratioiis- und JnstianiientenlelDi
beliebig weiter, wenn Benzin- oder rctroleumätlierdäuipfl- diiich das
Gebläse zugeführt werden.
Schwache Kothglühhitze wirkt blutstillend, wenigstens für kleine
Arterien, Weissglühhitze trennt die Gewebe fast so glatt wie ein Messer
und wirkt nur wenig blutstillend.
Dies gilt auch für die Galvanokaustik.
Die Kraft kann aus den verschiedensten Quellen (Accu-
mulatoren , Dynamomaschinen etc.) bezogen werden. Für den Arzt
Fig. 201.
Fig. 202.
Fig. 203
eignen sich am besten die Zinkkohlebatterien, die mit folgender, öfters
erneuerter Lösung gefüllt werden: Acid, chrom. 75"0, Hydrarg. sulf. 25"0,
Ac. sulfur. 206-0, Aq. dest. lOOO'O.
Der Typus verschiedener Brenner ist entweder das Platinmesser
(Fig. 205) oder die Schlinge (Fig. 206) oder der vom Draht umzogene
Porzellanbrenner (Fig. 207).
Die Galvanokaustik hat vor dem Thermokauter den Vorzug, dass
man die Brenner kalt in Höhlen (Nase, Hals, Kehlkopf, Blase, Gebär-
mutterhöhle) einführen und dort erst zum Glühen bringen kann. An
frei zugänglichen Orten ist der Thermokauter bequemer und handlicher.
Elektrolyse.
273
Während die Galvanokaustik lediglich durch Hitze wirkt, kommen
bei der Elektrolyse die chemischen Wirkungen des elektrischen
Stromes zur Wirkung, zunächst als Aetzung. Man bedarf eigener Batterien
zur Elektrolyse, meist gleichfalls aus Zinkkohleelementen und mit der-
selben Flüssigkeit beschickt. — Zur Zerstörung von Warzen, flachen
Krebsen, kleinen Blutschwämmen u. dergl. senkt man je eine Nadel
ein. An der mit dem positiven Pol verbundenen Nadel entsteht Sauer-
stoff, am negativen Wasserstoff, der sich mit "dem Natron der Gewebe
Fig. 206.
Fig. 207.
Fig. 205
f
ZU Aetznatron umsetzt. Es entstehen hier kleine Bläschen. Das zwischen
beiden Nadeln liegende Gewebe wird allmählich missfarbig, schrumpft
später oder stirbt ab.
Setzt man die eine breite Elektrode auf die Haut (Brustbein) und
liilirt die andere als Nadel oder kleine Kugelelcktrode in eine Ge-
schwulst oder eine Körperhühle (Gebärmutter) ein, so erhält man die
katalytischc (uinstinnncnde, resorbircnde) Wirkung, durch die die all-
mähliche Aufsaugung oder Verkleinerung chronischer entzündlicher
Landerer, AUg. chir. PatholoRJc u. Therapie. 2. Aufl. lg
274
IV. Capitel. — Allf^emdnc Ojiorations- und Instrumeritenlohrc,
Exsudate oder selbst Geschwülste, wie Gebärmuttermyome fAjjo.^fo/ij^
herbeig:efülirt wird.
Die Aetzmittel sind bei der Behandlung der Neut)iklungen be-
sprochen.
lieber Einspritzung und Ausspülung , die hiezu nötliigen Instru-
mente und Medicamente ist bei den Krankheiten der Gelenke das
Wichtigste erwähnt.
Plastische Chirurgie.
Dije^jDlastische Chirurgie-, deren Geschichte schon mit den alten
Indern beginnt, hat in den letzten Jahren besonders grosse Fortschritte
gemacht. Sie hat die Aufgabe , Defecte durch gleichartiges Gewebe,
Haut durch Haut, Knochen durch Knochen u. s. w. zu ersetzen., statt
des Narbengewebes, was sonst die Lücke füllt und durch Schrumpfung
"(Haut) oder Behinderung der Function (Nerven, Knochen) stört.
^Für den Ersatz von Hautdefecten stehen uns die verschiedensten
Methoden zur Verfügung. Oft genügt einfache Hautverschiebung,_
Fig. 208.
Fig. 209.
Operation der Lii^peneinziebung nach N^laton.
wobei man einen oder mehrere Schnitte in anderer zweckmässiger
Weise durch die Naht zusammenfügt, wie in Fig. 208 oder ein V'Sehnitt
wird als Y , ein liegendes O als senkrechte oder wagrechte Linie
vernäht u. s. w. — Ein anderes Mal muss die Haut erst durch Ent-
spannungsschnitte beweglich und verschieblich gemacht werden
(vergl. Fig. 209 , Verschluss einer Darmfistel durch Darüberlegen eines
Brückenlappens).
Hängt der Lappen nur noch mit einer schmalen ernährenden
Brücke mit seinem Mutterboden zusammen, so haben wir einen ge-
stielten Lappen, durch dessen Verpflanzung sich Defecte decken
lassen (vergl. Fig. 210). Diese gestielten Lappen — womöglich mit,
Arterie und Vene im StieT — lassen sich verschieben , drehen , um-
''****^'^-^schlagen u. srw: ^ -—'-■■-■- - -■- -- ^^^ ^'^'^
*'''"''"'"~"Siül^ sie'"äri"i1iitem neuen Orte angewachsen, so kann nach 2 bis
4 Wochen der ernährende Stiel durchtrennt werden. So lassen sich
Nasen aus Stirn- und Wangenhaut (zweite indische Methode) bilden,
/ oder aus der Armhaut (italienische Methode Tagliacozzd) (Fig. 211).
Plastische Chirurgie. Hauttransplantation.
275
Es lassen sich mit g-rossen gestielten Lappen aus dem andern
Bein grosse Substanz Verluste durch Geschwüre oder Verletzungen am
Bein, aus der Brusthaut Defecte an Hand und Arm decken. Die beiden
Körpertheile müssen dann durch feste Verbände (wenn nöthig Gips-
verbände) auf 2 — 3 Wochen un verschieblich gegeneinander fixirt werden.
Auch die Thatsache der Wiederanheilung völlig getrennter Haut-
stücke. — ^^M IJeö'bächtet" dies öfter an abgeschlagenen Stückchen
ISfase, Kopf baut u, s. f. — ist zur fruchtbringenden Methode ausgebildet
worden. Schon die alten Inder (ältere indische Methode) verstanden es,
aus durch Klopfen hyperämisch gemachten Stücken der Gesässhaut
Nasen zu bilden jVergl^u.A. Hirsciiherg, Langenhec]x''s Arch., 46).
ßeverdin hat die Methode in dem Sinn ausgebildet, abgetragene
dünne Hautstückchen auf granulireude Flächen aufzulegen ; der Erfolg
"isF~ein" massiger ,D weil die Granulation (vergl. pag. 78) ein so hin-
fälliges Gewebe ist, dass auch die darauf gepflanzte Haut nur unsicher
anheilt und leicht wieder abg-eht.
e>
Fig. 210.
Lippenbildung mit Hilfe eines Kinnlappens nach B. v. Langenbenk.
II a Defect und Lappenbildung; b vollendete Plastik.
„.^'^ Nachdem schoivZehender mit Glück auf die alte indische Methode —
völlig^äbgelüste, frische Haut, auf frische Wunden [zu pflanzen — zurück-
gegriffen hatte, ist die Hauttransplantation durch TJjicrsch zu. ihrer
jetzigen Vollendung gelangt. Es werden aus der Haut (am geeignetsten
Tstdie Vorderfläche der Oberschenkel) mit einem flachen Rasirmesser
(Mikrotommesser) ganz dünne lange Streifen abgetragen und direct auf
dfe Wundfläche , deren Blutung gestillt ist , mit dem Spatel aufgelegt.
Pie Operation ist aseptisch, nicht antiseptisch zu machen, Messer und
Hautflächen werden mit sterilisirter physiologischer Kochsalzlösung
benetzt. Als bester Verband haben sich mir dachziegelförmig sich
deckende schmale Streifen sterilisirten Mulls mit 3% Borlanolin bewährt.
Will man auf granulireude Flächen trausplautiren , so sind die
I y Granulationen mit dem scharfen Löffel abzukratzen oder mit dem
I llRasirmesser vorher abzutragen und die Blutung durch einen Coni-
• I pressionsverband (10—30 Minuten) zu stillen.
j Narkose ist zur Ablösung der Hautstreifen nicht unbedingt nöthig.
f Die locale Anästhesie mit Aethylbichlorid (pag. 248) nach Schnltzlßr
und J;JiniI(l (Chir. Centralbl.,T8yC 7) hat mich weniger liefriedigt als
das Umziohen des Bezirkes mit Infiltrationsanästhesie (physiol. Kochsalz-
^ I lösun
249).
18-^
1
*vW>|vOf.
tr^
276
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
Die feineren Vorgänge bei der Anbeilung transplantirter Läppehen
sind u. A. von Karg , Garre , Juwjengd , Goldmann (Beitr. z. Chir.,
Hd. XI) studirt worden. *"' ' ' "^'
*°^~" Die Processe der Aufheilung J;ransplantirtgr,Läp.pe]ien sind mit den bei der prima
reunio geschilderten Processen identisch. Am J.Tag lassen sich feinste Gefäs^cliOT^ '^
iti" der bekannten Weise vom Mutterboden aus hereinwachsen, nachweisen und jetzt
beginnt auch das Epithel des Läppchens zu wuchern. Das Stratum corneum und zum Theil
auch das Stratum Malpighi gehen zu Grunde, ebenso dieGefässe des Läppchens. Das zwischen
Mutterboden und Läppchen sich einschiebende gewöhnliche Granulationsgewebe wandelt
sich im Laufe der nächsten 2 — 3 Wochen in Bindegewebe um (Goldmann). Aber erst^
iiach^wa^ einem Jahre habe ich bei ausgedehnten Transplantationen auf nackte jyiusSln"']'^
Fig. 211.
/-..
und Pascien, Unterhautzell- und Fettgewebe sich^ bilden und damit auch die Farbe der
Haut annäherncT normal werden sehen. Das Pigment bringen Wauderzellen (Karg). —
Selbst die dünnsten Streifen halten ausser Epithel auch JBindege webe. Auf Fett, haften
die Läppchen am schlechtesten. Das Älter scliadet' nicTit viel. "Ich näFe" auf '75jährig& ''
mit Erfolg transplantirt. ■-■:.<■-■ _ _ -;,.;.-:w:.J.^.,. _^
-.■La Fig. 212 ist eine Nasenbildung („Ehinoplastik") dargestellt. Aus beiden
Wangen sind rhomboidale Lappen a, a geschnitten, und mit der Hautfläche nach innen
geklappt, in der Mttellinie vereinigt. Es ist dies eine Modification der ältesten oder
ersten indischen Methode, die die Nase aus der benachbarten Wangenhaut bildete.
Ueber diese ihre Wundflächen nach aussen kehrenden Lappen ist ein lang gestielter
Lappen aus der Stii'nhaut, in dessen Stiel sich A. und V. frontalis befinden, herunter-
geklappt oder vielmehr heruntergedreht und angenäht (c kommt nach c', d nach d'). —
Die so entstandenen Lücken in Wangen und Stirn sind durch Nähte verkleinert und im
Rhinoplastik. Osteoplastik.
277
TJebrigen durch aufgepflanzte Hautstreifen gedeckt. Diese werden der Innenfläche des
Oberarms oder Oberschenkels entnommen (s. oben).
Die Stellen am Arm heilen durch Epithelwucherung ohne Narbenbildung.
König lässt an der Unterfläche des Stirnlappens die Rindenschicht des Stirn-
beins stehen und erzielt so ein knöchernes Nasengerüst.
^ScMeimhautdefecte lassen sich durch gestielte Hautlappen
decken (TMersch deckte einen grossen Defect des Gaumens aus der
Wange) oder durch gestielte Schleimhautlappen. Auch völlig abgelöste
Schleimhautläppchen heilen auf (Wölfler, Chir. Congr., 1888), auf Haut und
"^uf Schleimhaut. Doch bleibt die transplantirte Haut Haut und Schleim-
haut bleibt Schleimhaut {Schiavoni , Chir. Centralbl., 1895, 16, und
eigene Beobachtungen).
Fig. 212.
Die Methoden der Knochenplastik (Osteoplastik) sind 7Air
Zeit noch in voller Entwicklung. — Die Vereinigung zweier getrennter
Knochenwunden erfolgt durch passende Verbände, Lagerung, Knochen-
naht u. dergl. (s. pag. 270).
Für die Ausfüllung grosserer Defecte am Knochen streiten dagegen
die verschiedensten Methoden um den Vorrang.
Die Einpflanzung lebenden, mit seinen ernährenden Ge-_
lassen in Verbindung gebliebenen Knochens ist in der ver-
schiedensten Weise ausgeübt worden. So pflanzt llfl^v?e>- den mit einer
«mährenden Brücke in Verbindung gebliebenen~~Scha3eTl<:nochenweicb-
tlieillappen wieder in die Oeffnung des Schädels ein (temporäre osteo^__
plastisclie Scliädelresection) und Kihiiy nimmt einen aus Wciclitlieilen,
Periost und oberflächlicher Knochenschicht bestehenden Lappen aus der
278 ^^- Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrunientenlehre.
Stirn , um eine Nase mit knöcherner Grundlage neuzubilden (osteo-
plastische Rhinoplastik).
Man pflanzt ein Stück der Fibula in eine Lücke der Tibia ein
oder spaltet die Fibula und implantirt die Hälfte derselben zwischen
die Fragmente der Tibia. Oder man verpflanzt ganz abgetrennte Knochen-
stücke; so hat C'zerny einen Defect im Schädel gedeckt durch ein aus
der Rinde der Tibia genommenes Stück. Mac Ewen bildete einen durch
Osteomyelitis verlorenen Humerusschaft beim Kinde durch ^Einpflanzung
zahlreicher kleiner bei keilförmiger Osteotomie gewonnener Knochen-
stückchen. Auch Knochenstückchen von jungen Thieren (Kaninchen^
Hunden) sind mit Erfolg eingeheilt worden.
Andere Methoden verwenden todte Knochenstücke zur Im-
plantation. Ihnen stehen die Forschungen Barth' s (Chir. Congr. 1895 und
l^^Q^ Langenheck' s ki-oh. 4.1) stützend zur Seite. Er nimmt an, dass jeder
Knochen in dem Augenblick, wo er abgelöst wird, abstirbt und dass nur
die in ihm enthaltenen Knochensalze die Knochenneubildung veranlassen.
Ich habe schon seit 1892 theils mit in Jodoformäther sterilisirten
Stücken von Thierknochen verlorene kleine Röhrenknochen (Phalangen,
Schlüsselbein) ersetzt, theils Defecte im Schädel durch geglühte Knochen-
stücke zum Verschluss gebracht ; selbst grosse Hölilen im Knochen (nach
Osteomyelitis, Tuberculose) heilen sehr schnell, wenn man sie mit ge-
glühten Knochensalzen (phosphorsaurer Kalk 85*6 , phosphorsaure
Magnesia 1-75, Fluor calcium 3'5, kohlensaurer Kalk 9"0) füllt.
Ausser völliger Asepsis (Antisepsis ist weniger geeignet) halte
ich aber das Vorhandensein eines knochenbildenden Mutterbodens (Periost,
Mark etc.) für unerlässlich. Im Gegensatz zu Barth, der glaubt, dass^
man durch Implantation von Knochensalzen überall beliebig Knochen
neubilden könne, komme ich auf Grund meiner praktischen Erfahrungen
zu dem Ergebniss, dass man durch Einpflanzung von todter Knochen-
substanz nur die Regeneration mächtig fördern, nicht aber Knochen
neu bilden kann.
Decalcinirte (mit verdünnter Salzsäure entkalkte) Knochenstücke
haben sich später wieder resorbirt (Kümmell), während Elfenbeiustifte,
mit denen Knochenstücke verbunden wurden, zum Theile einheilten und
die Knochenneubildung anregten.
Ebenso ist es gelungen, nach dem Vorgange von Fraenkel und
■V . Eiselsherg Schädellücken auf heteroplastischem Wege durch Cellu-
loidplatten dauernd zu verschliessen ; doch ist ein Theil der Platten
später wieder ausgeeitert. Auch hier ist strengste Asepsis geboten.
(S. übrigens auch bei „complicirte Fractur".)
Die Plombirung von Knochenhöhlen mit sterilisirtem Gips, Kiipferamalgam^
geraspelten , in Jodoformäther sterilisirten Knoclienspähnen , ebenso sterilisirten Fibrin-
massen , Cement , Guttapercha , Jodoformkleister (Neuher) u. s. w. hat nur in einzelnen
Fällen Erfolg gehabt. Meist misslingt die Asepsis. Ich ziehe das Einschütten von im
Trockenschrank 2 Stunden lang bei 130° sterilisirten Knochensalzen vor, weil es in
jedem Stadium der Wundheilung , auch im Stadium der Granulation , gemacht werden
kann und die Secrete durch die Salze nicht zurückgehalten werden.
Die Plastik von Muskeln und Sehnen arbeitet weniger mit
Heteroplastik, als mit modificirten Nahtverfahren.
Durchschnittene Muskeln näht man mit verlorenen Seiden-
oder Catgutnähten so flächenhaft als möglich zusammen , sie heilen
Sehnennaht und Sehnenplastik.
279
mit einer der Inscriptio tendinea äholichen Narbe mit guter Function,
Der Versuch , lebendes Muskelgewebe in Muskellücken einzuheilen
(Helfer ich), ist bis jetzt nicht ein wandsfrei gelungen, wenn auch
Gluck's Experimente theilweise gelungen sind.
Durchschnittene Sehnen, die sich sehr stark zurückziehen, sind
nach genügender Freilegung durch lange Schnitte, durch die Sehnen-
naht zu vereinigen.
Ich bin bei der Sehnennaht immer ausgekommen mit der einfachen
Matratzennaht der Sehne mit Seide, wobei man bei breiten Sehnen
Fig. 212 a.
Fig. 2126.
Fig. 212 d.
noch seitliche Knopfnähte hinzufügen kann. Bei stärkerer Spannung
kann man Halteschlingen quer durch die Stümpfe ziehen, diese zunächst
mit Knopfnähten vereinigen und jene dann festziehen (Witzd).
Fig. 212 gibt verschiedene Methoden der Sehnennaht nach Wölfler.
Die verschiedenen Methoden von Sehnenplastik — wobei vom
centralen und peri])lieren Stumpfe Läppchen brückenartig herüber-
gesclilagen werden (Hilter, Czcrny) u. dergl. sind complicirt und nur
bei kleinen Defecten ausführbar. Sciion seit 1890 haljc icii über 10 Cm.
lange Sehnendefecte (meist mit vorzüglichem Erfolg) durch an die Stelle
der Sehne oder der Sehnenscheide gelegte Seidenschlingen ersetzt und
Neubildung der Sehne mit guter Function gesehen. (Mechanotherapie, 1894,
280
IV. Capitel. — Allgemeine Oi>erations- und Instrumentenleljre.
pag. 323.) Die Erfolge sind von Kümmell bestätigt (Naturforseher-
versammlung 1896). Schon früher hatte Gluck mit (Jatgutschlingcn 8 Cm.
lange Sehnendefecte überbrückt. Der heroische Vorschlag Löh/cer's. den
Knochen durch Resection zu verkürzen, um weit auseinandergewichene
Sehnen vereinigen zu können, dürfte daher nur bei ganz vereinzelten
Fällen zu empfehlen sein.
Auch Hilter's peritendinöse Sehnennaht (Fig. 213) ist unnöthig,
höchstens als Unterstützung der directen Sehnennaht kann auch das
peritendinöse Gewebe durch die Naht vereinigt werden.
Um die Sehne zu verlängern, hat man treppenförmige seitliche
Querschnitte bis zur Mitte angebracht, auch in dem der Sehne benach-
barten Theil des Muskels (F. Lange). Findet man das centrale Ende der
Sehne nicht, so kann man das periphere Ende an eine benachbarte Sehne
oder einen benachbarten Muskel annähen. Man erhält so oft noch eine
genügende Function.
In Fällen subcutaner Abreissung der Sehne von ihrem An-
satz habe ich mehrmals die Sehne blossgelegt und, wenn nöthig mit
Fig. 213.
Schema der peritencliaösen
Sehnennaht.
Scliema der directeu' (a) und paraneurotischen (h)
Nervennaht. Wolberg's Nadel (e).
Resection des Knochens, sie an ihrer Ansatzstelle mit kleinen Stiften
angenagelt oder festgenäht, z, B. die vom Nagelglied abgerissene Sehne
des M. extensor digitorum.
Die Histologie der Sehnenregeneration ist bei der Pathologie der
Sehne besprochen.
Die Transplantation von Sehnen wird besonders ausgeführt
bei der spinalen Kinderlähmung, wo gewisse Sehnen, z. B. die der (ge-
lähmten) Zehenstrecker, mit nicht gelähmten anderen Muskeln , z. B.
den Mm. peroneis, vereinigt werden, so dass die Wirkung nicht ge-
lähmter Muskeln auf andere Sehnen übertragen wird.
Auch Fascioplastik wird geübt. Um geschrumpfte Fascien zu
verlängern, werden Y-Schnitte als V vernäht, Querschnitte als Längs-
schnitte u. s. w.
Nervendurchtrennungen und Nervendefecte werden zu-
nächst durch die Nervennaht vereinigt. Auch hier haben wir die
Naht der Nervenscheide und des paraneurotischen Gewebes, die para-
neurotische Nervennaht (Hüter) und die directe Nervennaht
Nervennaht. Nervenplastik.
281
(Wolherg) , die Naht der Nervenstümpfe mit durch die Substanz des
Nerven geführten Nähten. (S. Fig. 214.)
Die paraneurotische Naht ist vorzuziehen, weil man besser keinen
Fremdkörper in die Substanz des Nerven einlegt, wodurch störende
Bindegewebsentwicklung angeregt wird. Ausserdem ist beim Nerven
keine Spannung zu überwinden. Auch empfehlen sich für die Nerven-
naht Hagedorn'sohe Nadeln oder die ähnlich gebaute von Wolherg
(Fig. 214 c). Die gewöhnlichen Nadeln zertrennen ohne Noth eine grosse
Zahl von Nervenfasern. Zweckmässig verbindet man die paraneurotische
Naht mit einer nicht zu tief greifenden directen Nervennaht (Tillmanns).
Fig. 215.
Wo es angeht, legt man die angefrischten Nervenstümpfe ohne
Naht in ein decalcinirtes Knochendrain — Tubulisation von Vanlair.
Nervendefecte hat man in der verschiedensten Weise zu decken
Tcrsucht. Zunächst lässt sich durch Dehnung des centralen Stumpfes
viel ausgleichen (Schüller). Wo dies nicht genügt, kann man von beiden
Stümpfen Läppchen in die Brücke hereinschlagen (Letievant), wie bei
Fig. 216.
■der Sehnenplastik, oder die Tubulisation machen. Weniger geeignet ist
die Interpositiou von Catgutbündeln (Gluck). Mir ist es gelungen , in
einen Defect des N. radialis ein 4 Cm. langes Stück eines Kaninchen-
ischiadicus mit vorzüglichem Erfolge einzuheilen (1886).
Findet man das centrale Ende nicht , so kann das periphere
Ende seitlich in den Stamm eines andern Nerven zwischen dessen
Fasern eingeschoben werden (greffe nerveuse , Nervenpfropfung von
Ijetihant).
Die Nervennalit kann primär, d. h. unmittelbar nach der Ver-
letzung ausgeführt werden oder secundär; nach Monaten, selbst nach
Jahren hat man mitunter noch Erfolg. Stets müssen die Stümpfe mit
282
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
scharfer Scheere angefrischt werden und bei der secundären Nervennaht
Narben und Verlöthungen sorgfältig entfernt werden.
Die primäre Nervennaht gibt etwa in zwei Drittel, die secundäre
kaum in der Hälfte der Fälle Erfolg (vergl, Nervenregeneration,
pag. 83 ff.).
Fig. 217,
f
Manchmal handelt es sich um Befreiung des Nerven aus der Umklammerung
von Calluswucherungen bei Knochenbrüchen oder durch Narben. Der Nervenstamm ist
ganz freizupräpariren und entfernt in einen Canal nicht entzündeter Weichtheile lose
einzunähen. Die Erfolge — meist handelt es sich um den N. radialis am Oberarm
(Fracturen, Necrose) — sind meist sehr gute.
Transplantation von Fettgewebe hat Czernij gemacht , indem er eine
an anderer Stelle entfernte Fettgeschwulst unter Jer Haut der entfernten Mamma
einheilte., . - ..,.----"-" ■
Allgemeine Verbandlehre.
Die Grundlage der Verbandtechnik sind die einfachen Binden-
verbände. Man übt sie mit Leinenbinden oder Flanellbinden. (Die
Figuren meist nach Wohendorß'.)
Fig. 218.
Die Fig. 215 und 216 zeigen die Art und Weise, wie man Binden
wickelt.
Man beginnt mit einer das Glied umkreisenden Cirkeltour
(Fig. 217) und geht weiter mit auf- oder absteigenden, sich zu ein
Allgemeine Verbaüdlehre.
283
Drittel deckenden Spiraltouren, Dolabra- (Fig. 218) (ascendens oder
descendens) , auch Hobelbinde genannt. Bleiben Lücken zwischen den
Gängen oder Touren, z. B. beim raschen Befestigen von Watte u. dergl.,
so hat man die kriechende Hobelbinde — Dolabra repens (Fig. 218 &).
Fig. 219.
Fig. 220.
Nimmt ein Glied rasch an Umfang zu , so werden , um Falten
(Nasen) zu vermeiden , Umschläge (renverses) der Binden nöthig
(Fig. 219). An anderen Stellen lässt man die Touren sich in Form
einer 8 überkreuzen (Fig. 220).
Meist beginnt die Einwicklung eines Körpertheiles mit einer
Cirkeltour und schliesst damit, dazwischen liegen Spiraltouren mit oder
Fig. 221.
Fig. 222.
Fig. 223.
ohne Umschläge oder 8 Touren. — Aus diesen 4 Grundformen setzen
sich die meisten Bindenverbände zusannnen.
Durch die Ueberkreuzung von 8- oder Umschlagstouren entstehen
eigentliiimliche Kreuzungen der Bindengänge, die man wegen ihrer
Aelinliclikeit mit der Stellung von Getreidegrannen Spica nennt
284
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
So haben wir in Fig. 221 die Spica coxae, die Einwicklung der
Hüfte ; Fig. 222 gibt die Spica manus ; Fig. 223 die Spica poUicis ;
Fig. 224 die Spica humeri.
Die spicaartige Einwicklung des Fusses (Fig. 225j wird Stapes
(Steigbügel) genannt.
Aus sich in der Kniekehle kreuzenden 8-Touren setzt sich die
Testudo genu zusammen (Fig. 226) ; inversa genannt, wenn die Touren
sich nach dem Knie hin decken; reversa, wenn die Einwicklung mit
einer Cirkeltour über der Kniescheibe beginnt und die Touren nach
Oberschenkel und Unterschenkel hin auseinander laufen.
Die Einwicklung des ganzen Beines zeigt Fig. 227.
Eine Einwicklung des Beckens ist in Fig. 228 dargestellt.
Die üblichen Brustverbände (Suspensorium mammae) geben Fig. 229
und Fig. 230.
Die drei gebräuchlichsten Kopfverbände sind in Fig. 231 — 233
dargestellt. Fig. 231 die Augenbinde (Monoculus), durch einige in gleicher
Fig. 224.
Fig. 225.
Fig. 226.
Weise auch über das zweite Auge gezogene Touren zum Binoculus
umzugestalten. — Fig. 232, aus Kreis- und Umschlagtouren bestehend,
die Mitra Hippocratis, und Fig. 233 , Capistrum duplex , die doppelte
Halfterbinde.
Eine von beiden Seiten eingeschnittene Binde mit gemeinsamem
Mittelstück ist eine zweiköpfige Binde (Fig. 240), ihre Anwendung
zeigt Fig. 234, die Kinnschleuder, Funda maxillae.
Die mehrköpfige Binde (ScuUef&che Binde) , eigentlich aus zahl-
reichen parallel gelagerten Bindenstreifen bestehend, wird heute kaum
mehr angewandt. Fig. 235 zeigt die Anwendung zur Einwicklung des
Unterschenkels. Mit Heftpflasterstreifen ausgeführt , wird diese Ein-
wicklung des Unterschenkels als Bat/nton' scher Verband noch mitunter
bei alten callösen Unterschenkelgeschwüren verwendet.
Verbandtücher aus Leinenstofif", Hemdentuch u. s. w. finden als
dreieckige, viereckige Tücher besonders bei Massenbedarf von Ver-
bänden (Schlachtfeld) oder zur Nachbehandlung mit Nutzen Verwendung
Man leg
vatten" zusammengelegt
legt sie an frei als Tücher oder zu bindenförmigen „Cra-
Bindenverbände.
285
Die Art der Anlegung geht aus beifolgenden Abbildungen von
selbst hervor (Fig. 236—247).
Fig. 228.
Fig. 229.
Fig. 230.
Fig. 231.
Fig. 232.
Zusammengesetzte Verbände dienen bestimmten Zwecken.
Die antiseptische Aera hat die viel benützten , schwer desinficir-
l)arcii Schienen- und Lagerungsverbündc aus Holz , Polstern , Riemen
286
IV. Capitel. — Allgemeine Operatiori.s- und J)i.sf,i'uri](!j]ti:iilt;!ir':.
u. dergl. mehr und rnclir in den Hintergrund treten lassen zu Gunsten
einfacher billiger Verbände aus Gjpsbinden, einfachen Pa))pdeckel-
schienen u. dergl., die nach einmaligem Gebrauclic weggeworfen werden
können. Immerhin haben manche Schienen noch ihre Bedeutung, be-
Fig. 233.
Fiff. 234.
sonders für Behandlung einzelner häufig vorkommender Knochenbrliche.
Pappe lässt sich in verschiedener Weise verwerthen. Man legt
ein gesundes Glied auf die Pappe, umzieht die Form mit Bleistift und
schneidet sich darnach mit starker Scheere die Schiene (vergl. Fig. 249).
Man kann sie in Sublimatlösung (1 : 1000) befeuchten und damit
Fig. 235.
Fig. 236.
Mitella triana-ularis.
ziemlich keimfrei machen, so dass man die Schiene in die oberen
Schichten eines aseptischen Verbandes einschliessen kann.
Wasserdichte Pappschienen erzielt man, indem man die ge-
polsterte Pappschiene in Guttaperchapapier einschlägt und dieses an
den Nähten mit (altem) Chloroform zusammenklebt.
Tuchverbände. Pappe.
287
Zu fixireiideu Verbänden lässt sieb die feucbt angelegte und mit
Mull- und befeuchteten Stärke- (Gaze-, Organtin-) binden befestigte Pappe
in der Fig. 248 und 249 angegebenen Weise benützen , womit auch
Knochenbrüche, Gelenkentzündungen genügenden Halt bekommen.
Die plastische Pappe von P. Bruns lässt sich in trockener Hitze formen,
nachdem man die Schiene ausgeschnitten oder ausgesägt hat. Fig. 250, Schiene aus
plastischer Pappe für Eadiusbrnch nach Scliede.
Fig. 237.
Fig. 238.
Fig. 240.
Fig. 241.
Fig. 242.
Fig. 243.
Ilolzschienen verwendet man entweder als vorgearbeitete
Lagerungsschieueu, wie Fig. 251, Lagerungsschiene für den Vorderarm,
oder als einfache Brettstreifen , die in verschiedener Weise angelegt
werden. Fig. 252, provisorischer Verband eines Vorderarmbruches;
Fig. 253, Verband für Radiusbruch nach lioser.
Improvisirte Verbände aus Holzstäbeu mit Schnur zeigt Fig. 254,
mit Leinwand- oder Tuchstreifen Fig. 255.
288 ^^- Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
Viel verwendet sind Schienen aus Zinkblech, wie man sie
sich selbst ausschneiden und zurechtbiegen und mit Schnur oder Draht
binden kann (Fig. 256 und 257).
Fig. 244.
Fig.;;248.
JFig. 249.
Selbst auszuschneiden aus einer Tafel Zinkblech (Schlachtfeld) ist
die Schiene aus dünnem Zinkblech nach Deslongchcmiijs (Fig. 2ö9 a—c).
Zinkblechschienen.
289
Ein viel gebrauchter Apparat ist die Volkmann'sche T-Schiene
(Fig. 258) , der übliche Lagerungsapparat für Entzündungen, Wunden,
Operationen an der unteren Extremität.
Leicht anzupassen sind auch die Lagerungsschienen aus Draht-
gewebe nach V. Esmarch (Fig. 260).
Fig. 250,
Fig. 251.
Fig. 252.
für den Chirurgen ist der Gips-
hat leicht geglüht und
Die wichtigste Verbandart
verband.
Der Gii)s — sclnveielsaures Calcium
trocken aufbewahrt die Eigenschaft, mit Wasser angefeuchtet binnen
:■) — 5 Minuten zu steinharter jMasse zu erstarren und die ihm während
des Trocknens gegebene Form dauernd festzuhalten.
Landerer, AUg. chir. l'atholngie u. Theraiiio. 2. Aufl. 19
290
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlelire.
Bester Modellirg-ips wird in Mull- frascher trocknend) oder Gaze-
binden lose eingestreut und diese lose gewickelt. Aufbewahrt werden
die Binden in Blechkästen , wo eine Schale mit Chlorcalcium aufge-
stellt ist (zur Entwässerung des Gipses). Zweifelhaften Gips stellt man
einige Stunden vorher auf einen nicht zu heissen Ofen.
Fig. 253.
Fig. 255.
Fig. 256.
Man legt den Gipsverband nicht auf die nackte Haut, da sonst
die Haare ankleben und beim Abnehmen ausgerissen werden (!); am
besten zieht man über den Theil einen Tricotschlauch , der an den
Rändern etwas übersteht oder macht eine vorschriftsmässige Einwick-
lung mit Flanellbindeu. Je rascher der Gips trocknen soll, umso
Gipsverband.
291
wärmer sei das Wasser. Ein gehäufter Esslöffel Alaun in einer grossen
Fig. 257.
Schale Wasser gelöst, beschleunigt gleichfalls die Erhärtung. Die Binden
19=^
292
IV. Crapitel. — Allgemeine Operations- und Instrurnentenlehre.
sind mit Wasser ganz durchzogen, wenn keine Luftblasen mehr auf-
steigen. Man drückt sie leicht aus und führt sie locker (ja nicht fest
anziehen!) um das Glied herum in Cirkel-, Spiral- und 8-Touren.
Umschläge macht man nicht (sie geben drückende Faltenj , sondern
schneidet die Binde lieber ab. — Soll der Verband länger liegen, so
Fig. 260.
sind mindestens drei Lagen Gipsbinden über einander nöthig. Soli der
Verband sehr exact sitzen (Gehverbände), so kann die rasirte Haut
nur mit Vaseline eingerieben werden und jede Unterlage bleibt weg.
Ist im Gipsverband Schwellung des Gliedes zu erwarten (frische Knochen-
brüche) , so sind fingerdicke lose Lagen nicht entfetteter Watte unter-
zulegen.
Gipsverband.
293
Durchschnittlich erstarrt der Gipsverband in 6 — 10 Minuten. Bis
€r ganz trocken ist (Gehverbände) dauert es etwa 36 Stunden.
Hat man Gipsmehl, so lassen sich auch ohne Binden Gips-
verbände machen. Man rührt Gipsmehl und Wasser zu gleichen
Theilen zusammen, z. B. je 1 Liter, taucht beliebige Stücke Tuch
(im Krieg Uniformrock oder -Hose), Flanell oder dergl. hinein, drückt
sie aus, legt sie um und lässt sie trocknen (Gipskataplasma). Man
kann so aus zwei je der Hälfte des Umfanges entsprechenden Stücken
einen zweiklappigen Gipsverband machen (vergl. Fig. 261 ff und b).
Fig. 263.
Fig. 264.
Fig. 265.
Die Gipsumgiisse — das geölte Bein wird in eine Lade gelegt nnd erst zur
unteren Hälfte, dann wenn diese halb erstarrt nnd auf ihrer oberen Fläche gleichfalls
eingefettet ist, zur anderen Hälfte mit Gipsbrei umgössen — werden heute selbst bei
Delirium tremens nicht mehr gemacht.
Die Gipsleimvcrbände von llarimann (Heidenheim) haben mich wegen ihres
langsamen Trocknens nicht befriedigt.
An jedem Gipsverband müssen die peripheren Theile — Zehen,
Finger — frei bleilicn , um die Circulation beobachten zu können.
294
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlelire.
Werden die Zehen blau und schwellen an , treten Schmerzen auf und
nehmen diese Stauungserscheinungen bei Hochlegen des Gliedes nicht
binnen einer Stunde ab, so ist der Verband aufzuschneiden. Gangrän
des Gliedes oder ischämische Muskellähmung (s. pag. 8j sind sonst
Fig. 266«.
Fig. 266 0.
die drohenden Folgen der durch den schnürenden Verband bedingten
Stauung, Verurtheilung des Arztes wegen groben Kunstfehlers der
traurige Ausgang.
Fig. 267 a.
Fig. 267 &.
Zur Verstärkung der Gipsverbände kann man Streifen von Zink-
blech oder Holzspäne oder Drahtgitter zwischen die einzelnen Schichten
einschalten (Fig. 262). Um einzelne Stellen besichtigen oder verbinden
zu können , schneidet man innerhalb der ersten 24 Stunden mit dem
Gipsverband. Gipsschienen.
295
Gipsmesser (Fig. 269) Fenster aus dem Verband (vergl. Fig. 200) oder
macht unterbrochene Gipsverbände, wobei man die beiden Stücke
mit Bandeisenbügeln (Fig. 263), Telegraphendraht oder Holzlatten mit
einander verbindet. Man kann auch Charniere eingipsen und so Be-
weglichkeit erzielen (Fig. 265).
Auch Schienen lassen sich mit Hilfe von Gips herstellen.
In Gipsbrei getauchte Hanfsträhne werden auf der einen Seite
des Gliedes aufgelegt, vorübergehend mit Binden befestigt und nach
Fig. 270.
Fiff. 26
WUI
Fig. 26
dem Trocknen abgenommen (Beely). Fig. 266 a zeigt eine Armschiene
aus Hanfsträhnen, h eine zum Aufhängen (durch eingegipste Ringe oder
Drähte) eingerichtete Suspensionsschiene für das Bein.
Eine Unterschenkelschiene aus gegipsten 14 — 16 Lagen Tarlatan
nach Herryott zeigt Fig. 267 a und h.
Gipsverbände , an deren Erhaltung nichts liegt , lässt man im
Bade aufweichen oder einige Stunden vorher in einen Salzwasser-
umschlag einhüllen. Will man den Verband nur spalten, um ihn nach-
296
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instrumentenlehre.
her, indem man ihn langsam auseinander dehnt, als Kapsel, Schale
oder Schiene zu verwenden , so ritzt man ihn in einer geeigneten
Linie mit dem Gipsmesser (Fig. 269) ein und schneidet den Rest in
der in Fig. 268 abgebildeten Weise mit der Gipsscheere (Fig. 270) ein.
Um das Aufschneiden zu erleichtern , kann man beim Anlegen
eine gut geölte Schnur einlegen , die man herauszieht und mit der
man die an der Spitze geöhrte Gipsscheere durchziehen kann. Oder
man gipst die gut geölte Drahtschnur von Härtel (Breslau) ein (Mikulicz).
mit der man den Gipsverband wie mit einer Kettensäge aufschneiden
kann. Die Ränder des gespaltenen Verbandes, der Gipskapsel, kann
man mit Heftpflasterstreifen einfassen und erhält so eine noch Monate
lang zu brauchende feste Kapsel.
Fig. 272.
Fig. 273.
Fig. 271.
Langsamer erhärtend, leichter und elastischer ist der Wasser-
glasverband (kieselsaures Natron oder Kali, eine sirupähnliche Flüssig-
keit). Kieselsaures Natron von annähernd 1'4 spec. Gew. ist das ge-
eignetste Präparat. Die Unterlage (Tricot doppelt oder Mulleinwicklung
darüber) muss dicker sein, als beim Gypsverband, auch empfiehlt sich
trotz Unterlage Einfettung der Haut. Die Anwendung erfolgt in ver-
schiedener Weise. Entweder lässt man die nicht zu fest gewickelten
Mullbinden in einem mit Wasserglas gefüllten Präparatenglas im Laufe
mehrerer Tage allmählich mit Wasserglas durchziehen, drückt sie aus
und legt sie an wie Gipsbinden. Oder man macht eine (doppelte) Ein-
wicklung des Theiles mit Mullbinden oder gut ausgedrückten feuchten
Gazebinden und streicht das Wasserglas mit einem dicken Borsten-
pinsel (nach dem Gebrauch sofort in warmem Wasser gut auswaschen)
auf, tiberall in gleichmässiger Weise ; darauf kommt wieder eine Doppel-
lage Mull oder Gaze, erneutes Bestreichen und so noch ein drittes Mal.
Wasserglas verb ände .
297
Da Wasserglasverbände 3 Tage zum Trocknen brauchen , legt
man — durch eine doppelte Schicht Mullbinden getrennt — einen
Fig. 274.
Fip. 275.
Fig. 27G.
Gipsverband darüber, der nach 4—6 Tagen abgenommen wird und die
Form erliält. bis das Wasserglas getrocknet ist. Der Wasserglasverband
lässt sicli durch weiteres Auftragen später beliebig verstärken.
298
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Jnstrumentenleljre.
Fester, etwas weniger elastisch, aber schwerer wird der Wasser-
glasverband durch Einrühren von Magnesit (Scldemmkreidej in das
Wasserglas. Der Wasserglasverband lässt sich durch Einlegen von Holz-
spänen, Zinkblechstreifen, Drahtgeflecht (Karewski) u. s. w. in derselben
Weise modificiren wie der Gipsverband , ebenso durch Fenster ein-
schneiden etc. Er eignet sich besonders für die Behandlung chronischer
Gelenkentzündungen und für orthopädische Apparate; wegen seines lang-
samen Erhärtens passt er nicht für Knochenbrüche.
Der Kleister verband ist heute so ziemlich aus der Mode ge-
kommen. Die Herstellungsweise ist dem Wasserglasverband ähnlich.
Den Kleister bereitet man sich aus Stärke , mit wenig kaltem Wasser
Fig. 277.
glatt gerührt und streicht ihn mit Borstenpinsel auf Lagen feuchter
Gazebinden. Er wird mit feuchten Pappendeckelstreifen (oder Zink-
blech) verstärkt. Er trocknet erst in 4 — 5 Tagen und hat deshalb
nur in wenigen Fällen Vorzüge vor anderen Verbandarten.
Für leichte Fälle eignet sich ein über Mullunterlage gelegter Verband aus
feuchten Stärke(Gaze)binden , der durch Pappdeckelschienen einen gewissen Halt hat.
Er trocknet in 12 Stunden und ist aufgeschnitten als leicht aufzuklappender, nicht
schwerer Kapselverband ganz brauchbar, für leichte Gelenkentzündungen u. dergl.
Der Leimverband wurde früher aus mit Leim getränkten Leinen-
binden gemacht, die vor dem Gebrauch eingeweicht oder mit nassem
Schwamm befeuchtet wurden. In neuester Zeit empfiehlt Lorenz wieder
die Waltuch' ^oh^w H olzleimverbäude, die über ein Gipsmodell (mit
Gipsbrei ausgegossenen, über dem nackten beölten Körper hergestellten
Kleisterverband. Leimverband.
299
Gipsbindenverband) angelegt werden, Kölnerleim wird 8 — 10 Stunden
lang in kaltem Wasser aufgeweicht und dann im Wasserbad aufgekocht
(mit 57o Grlycerinzusatz), 20 — 40 Grm. doppeltchromsaures Kali auf ein
Liter machen ihn später wasserbeständig. Die Holzverbände werden
nun aus abwechselnden Schichten Holzbinden (Vg — 1 Mm. starke auf-
gerollte Fichtenspäne) (Fig. 271) und Leinwand (diese an den Charnier-
stellen allein) hergestellt, die zusammengeleimt werden. Lorenz empfiehlt
die Holzmieder als besonders leicht (Fig. 272). — Hübscher stellt Ver-
bände aus geleimter Cellulose her.
Beim Gummikreide verband werden mit einer honigdicken Mischung Flanell-
stücke getränkt, sie trocknen in 24 Stunden.
Fig. 278.
Die Paraffinverbände fjlfac £'«<;ewj Averden aus rolier, mit Paraffin getränkter
Baumwolle bei 45" hergestellt und, wenn nöthig, durch kalte Umschläge rasch erkaltet.
Sie haben keine besonderen Vorzüge. Auch Stearin ist zu brauchen.-
Bei dem von mir eingeführten Celluloidm u 11 verband werden über ein G3'ps-
modell Mullbinden gelegt und die Mulltouren schichtweise mit einer Auflösung von
Celluloid in Aceton mit ledernem Handschuh eingerieben. Die Verbände trocknen in
3—5 Stunden. Sie eignen sich besonders zu orthopädischen Zwecken. Wasserglasüberzug
macht sie feuerbeständig.
Guttaperchaplatten (theuer), nach der Form des Gliedes ge-
schnitten , werden in warmem Wasser erwärmt , dem Gliede angepasst
und halten später die Form. Sie sind unempfindlich gegen Wasser und
Schmutz (Klumpfnssschienen kleiner Kinder).
Filz ist als Unterlage von Verbänden zweckmässig. Der plastische
Filz (mit gesättigter alkoholischer Sclielhicklösung [660: lOOOj getränkt),
300
IV. Capitel. — Allgemeine Oiterations- und Instrumentenlehre.
soll in der Wärme von 70'' so biegsam werden , dass er sich jeder
Körperform anschmiegt und die Form später hält. — Die Technik ist
nicht leicht, die Verbände sind plump.
Der Extensions- oder Zugverbände bedienen wir uns, um
bei Knochenbrüchen der Neigung der Bruchstücke, sich zu ver-
schieben, entgegenzuwirken, oder sich krümmende Gelenke gerade zu
stellen, kranke Gelenke zu „distrahiren", d. h. den Druck der Gelenk-
körper gegen einander aufzuheben u. s. f. Wir bedienen uns hiezu bald
des Zuges von Gewichten, bald des Zuges von Gummischläuchen u. dergl.
Am klarsten zeigen dies einzelne Beispiele, so der bekannte Ge wicht s-
extensionsverband an der unteren Extremität.
Wir bedienen uns meist der Heftpflasterstreifeu , seltener (bei
empfindlicher Haut) der Flanellstreifen. In der Richtung des auszu-
übenden Zuges liegt der Zugstreifen, dieser wird durch Circulär- oder
Spiraltouren befestigt (vergl. Fig. 274). Die Anbringung der Gewichte
zeigten Fig. 275 und 277, 278.
Zugverbände.
301
Zur Flanellextension theilt man einen 25 — 30 Cm. langen Flanellstreifen von
beiden Enden her in je 3 Streifen und lässt ein Mittelstück von etwa 40 Cm. ungetheilt
(3köpfige Binde, vergl. Fig. 240). Der Mittelstreifen kommt als Zugstreifen auf beide
Seiten des Gliedes, die 2 (4) Seitenstreifen werden als Dolabra repens (Fig. 218), sich
gegenseitig überkreuzend, angelegt, darüber kommt eine typische Flanelleinwickluug-
(Fig. 227). Ein solcher Verband trägt, fest angelegt, 20 Pfund 6 Wochen lang.
Heusner besprüht die rasirte Haut mit Hilfe eines Zerstäubers mit folgender
Klebelösuug: Cerae flavae lO'O, Eesin. damar., Colophon. aa. 100, Terebinth. TO, Aether,
Spiritus, Ol. terebinth. aa. 55'0; filtra. Darauf kommt nur ein Zugstreifen aus abgestepptem
Filz oder starkem Drell: dieser wird mit einer Bindeneinwicklung für 24 Stunden an-
gedrückt und hält dann von selbst.
Fig. 282.
Fig. 283.
Fig. 276 gibt das Volkmann^ohQ, schleifende Fussbrctt mit unter-
gelegten prismatischen Hölzern zur Verminderung der Reibung am Bett.
Eine Extension in verticaler liiehtung nach Scliedn, besonders
beliebt bei Oberschenkelbrüchen
gestellt.
kleiner Kinder, ist in Fig. 275 dar
302
IV. Capitel. — Allgemeine Operations- und Instiumentenlehre.
Züge in verschiedenen Richtungen werden in der Fig. 277 dar-
gestellten Weise ermöglicht (nach Bardenheuer).
Fast zu viel des Guten ist in Fig. 278 gegeben, wo auf die ver-
letzten Stellen mit Hilfe der durcheinander gesteckten Heftpflaster-
streifen (Fig. 279) von verschiedener entgegengesetzter Seite einge-
wirkt wird.
Einen einfacheren gut wirkenden Verband gibt Fig. 280 (bei
Subluxation des Knies nach hinten infolge von tuberculöser Knie-
gelenksentzündung).
Den Gegenzug besorgt meist die Schwere oder bei Zugverbänden
am Bein Gummischläuche , die von den oberen Bettpfosten zwischen
den Beinen über den Damm gezogen werden.
Fig. 284.
Fig. 285.
Einen Zug- und Gegenzugverband an der oberen Extremität
haben wir in Fig. 281 dargestellt.
Züge, wo Gewichte in anderer Weise verwerthet sind, zeigt der
Verband für Oberarmbruch nach Haemiton- Clark (Fig. 282).
Fig 283 gibt einen Gewichtszug , wo das Gewicht durch Hebel-
kraft wirkt.
Nur durch Gummizüge (Kautschukstreifen, Kautschukringe u. dergl.)
wirken Verbände wie der in Fig. 284, wo der Hebung der Hacke,
Spitzfussstellung durch einen den Vorfuss hebenden Apparat entgegen-
gewirkt wird.
Zweckmässig sind auch die von mir angegebenen Verbände, wo
zwischen fixirende Heftpflasterstreifen Stücke elastischen Gurtes ein-
geschaltet werden (Fig. 285) , elastischer Zugverband für Genu valgum.
Massaare.
303
Meclianotlierapie.
Massage und Gymnastik.
Unter Massage verstehen wir gewisse mechanische Eingriffe,
durch die der Stoffwechsel der Gewebe gesteigert , beschleunigt und
geregelt wird. Die Massage ist für den Chirurgen von grosser Bedeu-
tung, besonders für die Behandlung von Verletzungen und Entzündungen
und ihren Folgezuständen, aber auch in der Orthopädie.
Die Grundform der Massage ist der Druck, wo das betreffende
Gewebe mit den Fingern gegen die Unterlage gedrückt wird (Fig. 286). Er
Fig. 286.
wandelt sich um in kreisförmige Reibungen (Friction), durch die z. B.
Exsudate oder Blutergüsse vertheilt werden sollen. Centripetal,demLymi)h-
und venösen Blutstrom entsprechend fortschreitendes Drücken wird zum
Streichen (EfHeurage); vergl.Fig.2ST und 290, Massage bei Quetschung.
Ausserdem werden die Theile durch Kneten (Petrissage) gewisser-
massen ausgequetscht, ausgedrückt, wie ein Schwamm (Fig. 288 und 289),
wobei die Hände zangenartig wirken.
Für contractile Gewebe (Muskeln) ganz besonders wirksam ist
das elastische Klopfen (Tapotement), zweckmässiger mit dem Klcin-
fingerballen ausgeführt (Fig. 291 a), als die Hackung (Fig. 291 h) mit
dem Klcinfingcrrand der Hand.
Das Klatschen mit der tiachen Hand ist fast nutzlos.
504
IV. Capitel. — Allgemeine Opei'ations- und Jnstrumentenlehre.
Wird die drückende Hand in vibrirendc zitternde Bewcf^unf^ ver-
setzt, so hat man die Erschütterung (Vibration). Fig. 292, Erschütte-
rung des N. ischiadicus.
Die Anzeigen , wo die Massage in ihren verschiedenen Formen
anzuwenden ist, sind bei den betreffenden Krankheiten mitgetheilt.
Fig. 287.
Fig. 288.
Die physiologische Wirkung der Massage ist zunächst die,
dass sie den örtlichen Stoffwechsel in hohem Grade steigert. Der
Lymphstrom wird auf's Mehrfache gesteigert, durch die Entleerung der
Venen wird auch die Blutdurchströmung gesteigert und eine künstliche
Hyperämie herbeigeführt (vergl. pag. 9). Auch körperliche Elemente,
weisse (chronische Entzündungen) und rothe Blutkörperchen (Blutungen),
Physiologie der Massage.
305
Gewebstrümmer werden mit dem Lymphstrom weggeschafft (Pigmenth-img-
der Lymphdrüsen). So wird die Resorption gesteigert und heschleunigt.
Fig. 289.
Fig. 290.
Verwachsungen und Verklebungen werden mechanisch gelöst. Auf die
Muskeln wirkt das Klopfen contractionserregend, wie die Elektrisirung
Fig. 291.
\
neben den allgemeinen hypcrämisirenden und resorbirenden Wirkungen
der Massage. Aehnlich ist die Wirkung auf die peripheren Nerven.
Landerer, Allp. cliir. PatholoKJi! u. Therapie. 2. Aufl. 20
306
IV. Capitul, — Allgemeine Operations- iirid liistrumentenlehre.
Schädliche Stoffe dürfen durch die Massage iiielit künstlich in
den Kreislauf eingepresst werden und so verbietet sich die
Fig. 2(12.
Massage bei allen frischen bacterielleu Processen (acuten Entzün-
dungen), bösartigen Neubildungen und Gefässbrüchigkeit.
SÄsäbäSSäi^'^--------^
Gymnastik ist Muskelübung; zum Unterschied vom Turnen eine
methodische, auf bestimmte Zwecke und einzelne Muskelgruppen be-
Gymnastik.
307
rechnete Uebung. Wir haben eine active Gymnastik, wobei der
Patient gewisse Uebungen — wie Beugen und Strecken des Vorder-
armes , Hebung und Senkung des Armes , Vorwärts- und Rückwärts-
beugung des Rumpfes, Seitwärtsdrehung des Kopfes u. dergl. ra. —
selbst ausführt, bei der passiven Gymnastik führt der Arzt (Gym-
nast) mit den Gliedern des Patienten systematische Bewegungen aus.
Bei der Widerstandsgymnastik werden die vorgeschriebenen
Bewegungen unter Widerstand des Gymnasten ausgeführt , den Be-
-Fig. 294.
wegungen wird ein gewisses Hinderniss entgegengesetzt, das der
Patient überwinden muss.
Weil zwei Personen zusammenwirken , nennt man diese Be-
wegungen auch duplicirte. Führt die Bewegung zur Verkürzung des
Muskels, so spricht man von duplicirt concentrischer Bewegung, so in
Fig. 293, wo der Gymnast der Beugung des Vorderarmes Widerstand
leistet. In Fig. 294 ist eine duplicirt excentrische Bewegung dargestellt,
wo der Arzt unter Widerstand des Patienten den gebeugten ^'orderar^l
in Streckung ülierführt.
Um gymnastische l'cbungen genau zu specialisiren und exaet
dosiren zu können, hat mau sich in neuerer Zeit auch eigens constru-
irtcr Maschinen bedient. Die genial erdachten IMaschinen G. Zandcr's
20*
308 ^^- tiapitel. — Allgemeine Operations- und Instramentenlehre.
lassen eine genau abmessbare Uebung jeder einzelnen Muskelgruppe,,
wie Uebungcn des Gesammtkörpers zu. — Vorwiegend für die Uebung
der Extremitäten sind die Apparate von Krukenhcnj berechnet.
Die Physiologie der Gymnastik ist im Wesentlichen die der
Muskelthätigkeit. Lymph- und Blutbewegung werden gesteigert, durch
Arbeitshypertrophie sollen geschwächte Muskeln gekräftigt, verkürzte
Muskeln , Sehnen und Fascien gedehnt , steife Gelenke beweglich ge-
macht werden u, s. w.
Die Bedeutung der manuellen und maschinellen Massage und
Gymnastik ist namentlich eine wesentliche für die Beseitigung der
nach Verletzungen (Knochenbrüche , Verrenkungen , Verstauchungen,
Quetschungen etc.) zurückbleibenden Störungen , wie Gelenksteifigkeit,
Muskel schwäche, chronische Oedeme. Massage und Gymnastik des ganzen
Körpers steigern den Gesammtstoffwechsel und die Secretionen im hohen
Grade. " '
V. Capitel.
(jescliwülste.
Allgemeines. — Was ist und wie entsteht eine Geschwulst? — Die verschiedenen
Theorien über die Entstehung der Geschwülste. — Eintheilung der Geschwülste.
Wachsthum und fernere Schicksale der Geschwülste. Degenerationen, Blutung,
Entzündung, Verjauchung u. dergl.
Das Capitel der Geschwülste ist das am wenigsten klare auf
dem ganzen Felde der allgemeinen Pathologie. Für manche Zweige
der Geschwulstlehre befinden wir uns in der That auf einem Stand-
punkte , wo es das Beste wäre , einzugestehen , dass Erkenntniss des
Nichtwissens der Anfang des Wissens ist.
Was eine „Geschwulst", eine „Neubildung" (i. e. S.), ein „Tumor"
ist , dafür gibt es eine ganze Reihe von Definitionen. Vielleicht die
kürzeste und treffendste ist die von Cornil und Ranvier: Geschwulst
ist jede „Neubildung, welche die Tendenz hat zu bleiben oder zu
wachsen". „Tout neoplasme, qui a tendance ä persister ou ä accroitre."
In Deutschland ist die Definition von Lücke viel gebraucht: „Eine
Geschwulst ist eine Volumszunahme durch Gewebsneubildung , bei der
kein physiologischer Abschluss gewonnen wird." Virchoio verzichtet
überhaupt auf eine genaue Definition des Wortes „Geschwulst". Für
ihn sind es wesentlich praktische Rücksichten , die Anlass geben, die
eine Bildung unter den Geschwülsten zu besprechen , eine andere
ähnliche nicht.
Nach Billroth ist eine Geschwulst eine Neubildung, die aus
anderen Ursachen entsteht, als die entzündliche Neubildung und ein
Wachsthum zeigt, das nicht zu einem bestimmten Ziele führt, sondern
sich in's Unbestimmte hinzieht. Diese Definition scheint mir wegen des
principiellen Gegensatzes, in den sie die „Neubildung" zur Entzündung
setzt, zu weit zu gehen, zu viel zu sagen, jedenfalls mehr, als zu
beweisen ist, und ich würde mich persönlich für die am wenigsten
l)räjudicirende Definition von Cornil und Ranvier entscheiden.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich, mit dem Fortschreiten der Wissen-
schaft, der Geschwulstbegriit' verengt. — Im Anfang dieses Jahrhunderts wurden
Furunkel, Carbunkel, selbst ödematöse Anschwellungen unter die Geschwülste gestellt;
Virdiow führt noch Syphilome , tuberculöse Knoten, selbst Hämatome. H^-drocelen,
letztere allerdings mit innerlichem Widerstreben, Elephantiasis u. dergl. als Geschwülste
auf. Heutzutage fällt es Niemand mehr ein, tuberculöse und syphilitische Producte,
die eine Zeit lang als „Infectionsgeschwülste" (Cohnheim) eine Gruppe für sich l)ildi-ten,
den Geschwülsten zuzuzählen.
Das Gemeinsame der Geschwülste ist eine nornnvidriue Anhäu-
fung von Gewebselementen. die keine Tendenz zur Kückbildung hat;
3|() V. Capitel. — Geschwülste.
eine Gescliwiilst ist etwas ihrem Standort, dem Mutterboden Fremdes,
ein Plus, was nicht dahin gehört, wo es ist, und was gegen die Um-
gebung mehr oder wenig abgegrenzt ist, eine selbständige, von dem
Muttergewebe unabhängige Bildung mit ihrer eigenen Geschichte, Ent-
wicklung und Verlauf. Ganz anders wie entzündliche Producte , die
mit und in den Geweben entstehen, leben, bestehen und vergehen. 80
finden sich — meist in Knotenform — Bindegewebe, Fett, Knorpel
Knochen , Schleimgewebe u. s. w. zu Bindegewebs-Knorpel-Fettge-
sch Wülsten zusammengehäuft, oder epitheliale Massen zu Epitheliomen
und Carcinomen entwickelt — Alles an Stellen, wo im normalen Körper
nichts Derartiges sich finden sollte oder wenigstens nicht in dieser von
der Norm abweichenden Anordnung der Gewebe zu einander.
So weit die Ansichten unserer grössten Forscher in der Frage
auseinandergehen : was ist eine Geschwulst ? vielleicht noch grösser ist
die Verschiedenheit der Antworten, wenn man fragt: „Wie entsteht
eine Geschwulst?"
Die Alten Hessen die Geschwülste aus Verderbniss der Säfte (Kakochymiej ent-
stehen , die an bestimmten Stellen ausschwitzen und dort die Geschwülste erzeugen
sollten. Nicht weit hievon entfernt ist die Annahme einer krebsigen Diathese , die
auf schon krankem Körper die Geschwülste hervorspriessen lässt. Die natürliche
Consequenz dieser noch heute von manchen Aerzten, Homöopathen vertheidigten Theorie
ist die Verwerfung jeder Operation, wenigstens bei Krebsen. Noch in den Fünfziger-
Jahren hat John Simon die These aufgestellt, die Krebse seien ueugebildete Drüsen,
die schlechte oder üppige Säfte nach aussen ableiteten. Natürlich waren sie damit ein
noli me tangere.
Mit der systemvollen Durchführung der cellularpathologischen
Anschauungen, mit der Anwendung des Satzes „Omnis cellula e cellula"
auch auf die Geschwülste hat Virchow mit der humoralpathologischen
Auffassung der Geschwülste aufgeräumt. Der Annahme, dass die Ge-
schwülste aus irgend einem „Blastem", einer eiweissreichen Flüssigkeit
auskrystallisiren , oder dass es sich gar um dem Organismus fremde
thierartige parasitische Bildungen, um Nova oder Monstra handle, setzte
er als Ergebniss seiner Forschungen die Thatsache entgegen, dass
Geschwülste durch Neubildung von Zellen aus vorhandenen Zellen des
Körpers hervorgehen. Entspricht die neue Bildung dem Typus des
Mutterbodens, der Matrix, — eine Fettgeschwulst, z. B. dem Unter-
hautfettgewebe, aus dem sie hervorwächst, so ist dies eine „homologe"
Geschwulst ; ist sie dem Mutterboden nicht entsprechend , so ist sie
heterolog, z. B. eine Knorpelgeschwulst im Hoden. In eine gewisse
Analogie wurden die Neubildungen, die Geschwülste, gesetzt mit den
Hyperplasien und Hypertrophien, die ja auch mit Bildung und Ver-
grösserung von Gewebselementen über das Mass des Gewöhnlichen hinaus
einhergehen. Eine noch schärfere Formulirung hat diese F^rc/^o^^;'sche
Theorie erfahren durch die Arbeiten von Thlersch und Waldeyer. Auf
Grund ihrer Studien über epitheliale Neubildungen kamen sie zu dem
Satze, dass epitheliale Neubildungen nur von präexistenten Epithelien
ausgehen. Sie gelangten so zu der scharfen Trennung von epithelialen
und bindegewebigen Neubildungen.
Das Moment jedoch, was nun eigentlich die Zellen bestimmt, zu
geschwulstartigen Neubildungen auszuwachsen , d. h. die unmittelbare
Ursache und Veranlassung der Geschwulstbildung, darüber gibt es
wohl die verschiedensten Ansichten, aber es sind sämmtlich nur Hypo-
Aetiologie der Geschwülste. 311
thesen. Vor Allem kann nicht dringend genug auf den einen Umstand
hingewiesen werden, dass es nicht gerechtfertigt ist, für alle Geschwülste,
die in ihrer Entwicklung, ihrem Verlauf und ihrer Bedeutung für
den Gesammtorganismus so unendlich verschieden sind, eine gemein-
same Ursache zu suchen.
Es seien zunächst die wichtigsten Hypothesen über die Entstehung
der bösartigen Geschwülste (Krebse) mitgetheilt.
Nach Tläersch soll mit vorgerücktem Lebensalter, wo ja die Neubildungen ganz
besonders sich häufen, das Bindegewebe früher altern, als das productionsfähig bleibende
Epithel. Das Gleichgewicht zwischen Epithel und bindegewebiger Matrix verschiebt sich
zu Gunsten des ersteren und das Epithel vermag in das alternde Bindegewebe hinein
zu wachsen. Im Gegensatze hiezu beruhen nach Cohnhem alle Geschwülste auf
embryonaler Anlage, es sind versprengte, verirrte Keime, die verborgen, und selbst
mikroskopisch nicht zu erkennen, lagern, bis sie durch irgend einen Anlass zum Wachs-
thum angeregt werden. Da sie ihre „embryonale Wachsthumsenergie" behalten haben,
wachsen sie, gereizt, zu wirklichen Geschwülsten heran. Diese Idee war keineswegs
neu. Man wusste längst, dass manche Geschwülste angeboren seien — Dermoidcysten,
Atherome, gewisse Nierengeschwülste, Gefässgeschwülste u. s. w. Neu war nur die Aus-
dehnung dieser Entstehung auf alle Geschwülste, gutartige und bösartige, die wir sonach
alle in letzter Linie als „Missbildungen", vitia primae formationis, aufzufassen hätten.
In Uebereinstimmung mit der klinischen Erfahrung haben Volkmann u. A. darauf hin-
gewiesen, dass die congenitale Entstehung, die embryonale Anlage bei gutartigen
Geschwülsten häufig zutreffe, für bösartige aber sich viel schwerer glaublich machen
lasse, ja dass manche bösartige Neubildungen, die auf schon krankem, zum Theil
gegenüber der ursprünglichen Anlage total verändertem Boden entstehen — die Narben-
krebse, die ELrebse auf Beingeschwüren, in Sequesterladen u. s. f. — eine congenitale
Anlage fast mit Sicherheit ausschliessen.
Der experimentelle Beweis, den Cohnheim durch die Untersuchungen mit Maas
und Leoimld zu erbringen suchte, ist gleichfalls als misslungen zu bezeichnen. Die in
die Lungenarterien eingebrachten Perioststückchen (Maas) wuchsen eine Zeit lang, um
schliesslich wieder ganz zu verschwinden. Leojyold pflanzte embryonale Knorpelstückchen
in die vordere Augenkammer, sie wuchsen weiter und nahmen ein geschwulstähnliches
Aussehen an. Aber zum Charakter der Geschwulst fehlte denn doch noch viel , zum
Charakter der „bösartigen" Geschwulst Alles. Unna acceptirt die Cohnheim'' sehe Theorie
für einen Theil der Naevuscarcinome.
In Roux's fruchtbringenden Arbeiten finden sich Beobachtungen, die sich zu
Gunsten der embryonalen Anlage von Geschwülsten verwerthen lassen. Sticht man
mit glühender Nadel einzelne Furchungskugeln an, so entsteht entweder eine Miss-
geburt , oder sie werden wieder von den erhalten gebliebenen aus reorganisirt ; bei
dieser Postgeneration finden sich gelegentlich Zellen jugendlichen Charakters , wenig
differenzirte (Morulaform) zwischen höher differenzirten, die wohl diese liegenbleibenden
embryonalen Keime sein könnten.
Klehs glaubt, dass Leukocyten in die Epithelien eindringen, sie befruchten
und zur Geschwulstbildung anregen , während Graivifz seine Schlummerzellen als Ent-
stehungsort mindestens des Krebsstromas und der kleinzelligen Infiltration anspricht.
Hansemann , der Grawitz widerlegt {Virchow's Archiv, CXXXIII), legt besonderen
Werth auf die atypischen Mitosen in bösartigen Geschwülsten. Die Anschauungen
von Klehs und auch Grawitz können eine gewisse Verwandtschaft mit der alten Yirchow-
Försf er' sehen Theorie nicht verhehlen, die die Geschwulstzellen aus dem Bindegewebe
hervorgehen Hessen, nachdem das Geschwulstvirus (sie!) das Muttergewelie befruchtet
hat. Auch die Ansicht von Schleich, dass es sich bei der Gescliwulstbildung um
einen pathologischen Befruchtnngsvorgang der Zellen durcheinander handle, enthält
somit nichts wesentlich Neues.
Ribhert lässt der epithelialen Wucherung eine chronische Entzündung des sub-
epithelialen Gewebes vorangehen, sie hebt lebende Zellgruppen ganz oder theilweise
aus ihrem Mutterboden heraus (postembryonale Versprengung im Gegensatz zu Coltnheim-
/["ojAr'.? embryonaler Versprengung). Diese geben, üppig ernährt, den Anlass zur Geschwulst-
bildung, die zunächst der Regeneration und Hypertrophie analog ist. Eine Stütze finden
Tiihheri's Anschauungen in den Befunden Fricdlünder's, der bei Entzündungsprocessen
neben progressiven Processen im Bindegewebe aucli atypische epitheliale Bildungen sah.
Es ist hier auch an llauscr's Bt-o1iaclitungen zu erinnern, der in der Narbe von
Magengeschwüren ])eginnende Krebsentwicklung fand.
312 V. Capitel. — Geschwülste.
Esmarch betont den Zusammenhang zwischen Syphilis fauch der Voreltern) und
Neubildung, besonders Sarkom.
Die Lehre von der Specificität der Keimblätttjr wird heutzutage nicht mehr mit
der Schroft'heit wie in den Zeiten TIdersch-Waldeyer festgehalten.
Die Theorie vom parasitären Ursprung der bösartigen Neubildungen
hat in den letzten Jalu'en zahlreiche Vertreter und manche wesentliche Stützen gewonnen.
Ich habe sie schon in der ersten Auflage energisch vertreten , damals noch wesentlich
mich stützend auf den klinischen Verlauf vieler , gerade bösartiger Neubildungen. Be-
ginnend von einer kleinen Stelle (Krebse der Unterlippe, der Portio vaginalis), die viel
verletzt wird , beginnend oft mit einer kleinen dauernd wunden Stelle , an der sich
allmählich die Zeichen der Neubildung geltend machen ; dann ein Uebergreifen auf die
Nachbarschaft, schliesslich eine Infection — selbst die Anhänger der anderen Theorien
pflegen diesen Ausdruck zu gebrauchen — der regionären Lymphdrüsen, Etappe für
Etappe und zum Schluss die „Generalisation" des Krebses, die Bildung zahlreicher
gleichartiger , kleinster , dann grösser werdender Geschwülste über den ganzen Köi'per
hin. Mit welcher Macht drängt sich bei der Betrachtung jedes einzelnen Falles immer
wieder der Gedanke auf, dass von dieser Stelle aus ein fremder, die Krankheit erregender
Stoff in den Körper eingedrungen sei! Die Analogie mit der Verbreitungsweise aner-
kannter Infectionskrankheiteu, z. B. der Lues, dem Eotz u. s. f. ist eine schlagende. Nur
ist der Verlauf ein viel langsamerer.
Allerdings dürfte es sich nicht um bacilläre Ursachen handeln, der Krebsbacillus
Scheuerlen' s ist als Kartoffelbacillus erkannt und abgethan worden.
Die Erreger der bösartigen Neubildungen dürften wohl unter den Sporozoen
(s. pag. 65) zu suchen sein. Als eifrigster Vertreter der Sporozoennatur des Krebses ist
Li. Pfeiffer zu nennen. Für ihn ist der Erreger des Carcinoms das Sporozoen sar-
colytum ; die kleinzellige Infiltration in der Umgebung sind junge ausschwärmende
Sporen. Diese Ansicht wird von Clarhe, Metschnikoff u. A. getheilt.
Fig. 295 (nach Birch-Hirschfeld) zeigt die Zelleinschlüsse in den Epithelien von
Carcinomen, die von Einzelnen als Sporozoen und Sporen angesehen werden.
Eine beträchtliche Anzahl anderer Autoren {Bibbert , Hansemann , Steinhaus,
Cornil u. s. w.) leugnet die parasitäre Natur dieser Zelleinschlüsse und sieht sie als
Degenerationserscheinungen des Nucleins und Paranucleins , Hyalinbildungen u. dergl.
oder entartete Zelleindringlinge (Leukocyten) an (vgl. Fig. 295 e). Da es eine diffe-
renzirende Färbemethode zwischen Sporozoen und Degeneratiousproducten nicht gibt, ist
auf diesen! "VVege eine Entscheidung kaum zu erwarten.
Eine wichtige Unterstützung der parasitären Natur der bösartigen Neubildungen
haben die Mittheilungen von Jürgens auf dem Chirurgen-Congress 1896 gebracht. Er
fand in einem Kiesenzellensarkom Sporozoen (dem Coccidium oviforme des Kaninchens
ähnlich), die sich auf's Kaninchen übertragen und in drei Generationen weiter züchten
Hessen. Ebenso konnte er das Epithelioma contagiosum des Huhns auf Kaninchen
übertragen.
Sanfelice (Zeitschr. f. Hygiene, Bd. XXII) erklärt Sarkom und Carcinom für eine
Infection mit einer Hefenart (s. pag. 63) , Saccharomyces neoformans. Diese Ansicht
wird auch von Anderen getheilt.
Das Coccidium sarcolytus von AdamMetvicz ist unbestätigt.
Ueber die Aetiologie bösartiger Neubildungen finden sich Mittheilungen u. a. bei
Graf, Langenbeck's Archiv, Bd. 50; Schuchardt, ebenda, Bd. 43 ; Bibbert, Deutsche
med. Wochenschr., 1895, Nr. 1 — 4.
Der Nachweis der Impfbarkeit bösartiger Geschwülste spricht entschieden
mehr zu Gunsten des parasitären Ursprungs , wenn auch die Möglichkeit , proliferirende
Zellen zu übertragen, nicht geleugnet werden soll.
Dass auf einer bereits mit einer Geschw^ulst behafteten Person sich Geschwülste
durch Impfung weiter übertragen lassen , ist durch zahlreiche Beobachtungen sicher-
gestellt (Selbstimpfung). Nicht blos entlang der Lymphbahnen und Blutgefässe , wie
ja die Infection gewöhnlich erfolgt , sondern auch auf anderem Wege. Olshausen beob-
achtete die Uebertragung eines Papilloma ovarii auf die Bauchwand durch den Stich-
canal einer Function. Kraske sah die Entstehung eines Krebses am After nach hoch-
sitzendem Mastdarmkrebs. Nach Zungenkrebs entsteht Wangenkrebs (Abklatschcarcinome).
Das Messer, selbst die Nadel des Chirurgen überträgt oft die Neubildung (Krebsrecidive
in Nadelstichnarben), v. Bergmann und Hahn haben bei Ki'ebskranken Krebsstückchen
auf andere Körperstellen übertragen und dort sich weiter entwickeln sehen.
Hanau, Wehr, Geissler haben Carcinome von Thier auf Thier übertragen (Hund
auf Hund, Ratte auf Ratte u. s. w.). (Vergl. Geissler, Langenheck's Archiv, 46, Literatur.)
Aetioloffie der Geschwülste.
313
Für die Aetiologie der gutartigen Geschwülste kommen, soweit sie uns
bekannt ist, ganz andere Momente in Frage.
Ein Theil (Atherome , Dermoidcysten , Enchondrome u. dergl.) beruht auf ange-
borener Anlage (versprengten Keimen) , bei anderen mögen Verletzungen der Anlass
sein. Für einen anderen Theil müssen Störungen des Stoif wechseis die Ursache sein.
Wenn wir Adenome der Schilddrüse durch Verabreichung von Schilddrüsensubstanz
(Bruns), Thyreojodin (Baumann), Jodpräparate heilen können, wenn uns das Gleiche
bei Myomen des Uterus und der Prostata durch Castration gelingt, so ist die Annahme
nicht von der Hand zu weisen, dass diese Geschwülste, wie wir sie durch eine Aenderung
des Stoffwechsels heilend beeinflussen können, so auch einer Abnormität des Stoffwechsels
ihre Entstehung verdanken.
Bösartige Neubildungen entwickeln sich häufig auf bereits
krankem Boden. Schuchardt hat auf den äusserst interessanten Zusammenhang
zmschen Carcinom und chronisch entzündlichen Zuständen der Haut und Schleimhäute
Fig. 295.
a Zellenhaufen aus «-inein Gebärmuttercarcinom , sämmtliche Zellen protozoenähnliche Ein-
schlüsse enthaltend (Zellkerne verdrängt). — b Sehr grosse aus einem Epithelkrebs des Penis,
der zerfallende Zellkern nach rechts verdrängt, zelliger, doppeltcontourirter Einschluss. —
c Carcinomzelle , in einer Vacuole mit doppeltcontourirtem Saum einen plasmodienartigen
Körper einschliessend, nach oben ein freier sarcodenartiger Körper (beide durch Magdala roth
gefärbt, Zellkerne blau durch Hämatoxylin). — d Grosse, mit zahlreichen runden (sporenartigen)
Körpern gefüllte Zelle aus einem Zungencarcinom. — e Zelle aus einem Lungencarcinom, farb-
lose Blutkörperchen mit fragmentirten Kernen einschliessend.
hingewiesen, die Entwicklung von Krebs aus chronischer Paraffiadermatitis ; die Be-
ziehungen zwischen Leucoplakia buccalis (Rauchen!) und Krebs der Mundschleimhaut
und Zunge; der chronischen Seborrhöe zu Gesichtskrebs; der Phimose zu Penis-
carcinom u. s. f. Bekannt ist ebenso der innige Zusammenhang zwischen chronischem
Ekzem der Brustwarze und Carcinom {Paget's Disease). — Ich habe in eigenthümlich
verlaufenden Darmabscessen (vom Processus vermiformis ausgehend) Carcinom entstehen
sehen. liosenbach verzeichnet einen gleichen Fall, wo er sogar den Staphylo-
coccus Intens rein gezüchtet hat. Dass auch sonst Organe, deren Ernährungsverhältnisse
aus diesem oder jenem Grunde weniger günstig sind — verlagerte und retinirte
Hoden u. s. w. zu bösartigen Erkrankungen disponirt sind , ist gleichfalls oft genug
bestätigt worden. Vielleicht gehört hieher auch die Entstehung von Carcinonien auf
Naevis. Auch beim Unterlippenkrebse lässt sich der Zusammenhang mit Maltraitirung
und Unreinlichkeit der Unterlippe nicht verkennen. Frauen , die sich weder rasiren,
nocli rauchen, bekommen ungewöhnlich selten Unterlippenkrebse. Die, seltener rasirte,
314 V. Capitel. — Geschwülstfi.
weniger von Tabaksjauche berieselte Oberlippe wird auch weniger befallen. Die Ent-
stehung von Carcinom in Lupusnarben, selbst in floridem Lupusgewebe, auf Verbrennungs-
narben ist hier mit anzuziehen. Für Magencarcinorae hat Häuser eine Beziehung mit
alten Geschwürsnarben wahrscheinlich gemacht. — Wenn man in der Virchoiv' ii<■^llM
Geschwulststatistik den Magen mit 34'9 Procent, Uterus und Scheide mit 18'5 Procent,
Dick- und Mastdarm mit 8'1 Procent, Gesicht und Lippen mit 4"y Pi-ocent, Mamma
mit 4'3 Procent vertreten findet , alles Gewebe , die zu den „bestmaltraitirten" des
Körpers gehören , so fallen damit allein auf diese Organe circa 70 Procent aller bös-
artigen Neubildungen.
Die Beziehungen der Geschwülste zu Verletzungen sind in den letzten
Jahren vielfach studirt worden. Löwenthal (Bollinger), Langenheck'' s Archiv, Bd. 49,
fand folgende Zahlen : für Carcinom 12"2 Procent , Sarkom 20'2 Procent , Enchondrom
33'3 Procent , Exostosen 42"9 Procent , Neurome 66'7 Procent , Lipome 25 Procent,
Fibrome 8'3 Procent, bei sonstigen Geschwülsten 15'4 Procent. Für alle Tumoren zu-
sammen ergab sich eine Ziffer von 14"3 Procent traumatischen Ursprungs, Liehe fand
lO'B Procent. Ziegler (Münchener med. Wochenschr., 1895, Nr. 27 — 28) findet als Anlass
von Verletzungen für bösartige Tumoren einmalige Verletzungen in 18 Procent, chronisches
Trauma (öftere Verletzungen und Reizungen) in 25 Procent.
Man wird die Verletzungen nicht als alleinige Ursache , sondern als Anlass
ansehen , der einen Locus minoris resistentiae , Bluterguss , Quetschungsherd u. dergl.
setzt, wie bei den tuberculösen und osteomyelitischen Knochenentzündungen. Bei Sarkom
hat man öfters den Eindruck, als ob sich die Neubildung ziemlich rasch, das heisst in
wenigen Monaten an die Verletzung anschliesst. Das Reichsversicherungsamt hat auch
den Zusammenhang von Geschwülsten mit Verletzungen anerkannt, nicht blos für
Sarkome, Enchondrome etc., sondern auch für Carcinome , wenn der Träger vor der
sicher erwiesenen Verletzang völlig gesund und arbeitsfähig war (selbst Magenkrebs
nach stumpfer Verletzung der Magengegend).
Die Erblichkeit der Krebse ist für den Laien zweifellos. Dagegen hat
Sliow aus der Statistik des London Cancer Hospital nur eine Erblichkeit von 15 Procent
herausgerechnet , während in anderen Hospitälern sich bis 18 Procent der Patienten
hereditär mit Krebs belastet zeigten , ohne an Krebs zu leiden. Graf {Langenbeck's
Archiv, Bd. 50) fand von 1137 Fällen von Krebs 192 erblich belastet = 17 Procent.
Dass in einzelnen Familien sich Krebse besonders häufig zeigen , ist bekannt
(Magenkrebs in der Familie Bonaparte) , auch von Paget betont worden. Es soll auch
Krebsgegenden geben (z.B. in der Nähe von Jena, nach Graf), (Haviland), selbst
einzelne „Krebshäuser" (?).
Dass gutartige Geschwülste in mehreren Generationen derselben Familie vor-
kommen, ist bekannt, besonders Atherome und Knorpelgeschwülste.
Auch die Eintheilung der Geschwülste ist ein schwieriges
Problem. So lange wir den allein richtigen, den ätiologischen Stand-
punkt nicht einhalten können , müssen wir uns mit anderen Ge-
sichtspunkten begnügen und uns bemühen, die zwei ausschlaggebenden
Eintheilungsmomente, klinischen Charakter und mikroskopischen Bau,
möglichst zu vereinigen.
Klinisch unterscheiden wir gutartige und bösartige Geschwülste.
Wir nennen eine Gesehwulst gutartig, wenn sie nur durch ihren
Sitz oder ihre Grösse für den Träger belästigend wirkt, wenn sie aber,
wie ein sonstiger harmloser Fremdkörper, keine weiteren ungünstigen
Einwirkungen auf Gesundheit und Wohlbetinden äussert.
Bösartig dagegen ist eine Geschwulst, wenn sie über kurz oder
lang die Gesundheit des Trägers durch ununterbrochenes Uebergreifen
auf die Umgebung, auf die Lymphdrüsen der betreffenden Gegend,
schliesslich durch Einbruch in die Circulation und Bildung neuer Ge-
schwülste in inneren Organen auf embolischem Wege gefährdet und
endlich vernichtet. Bösartigen Geschwülsten kommt also ausser der
örtlichen Wirkung noch eine „inficirende" zu, d, h. sie wachsen in die
Umgebung herein, erdrücken diese oder wandeln diese in Geschwulst-
gewebe um. Dann entwickeln sich in den Lymphdrüsen der Mutter-
Eintheilung der Geschwülste. 315
geschwulst gleichartige Geschwülste, zunächst in den der Geschwulst
unmittelbar benachbarten Drüsen, darauf in der nächstfolgenden cen-
traleren Drlisengruppe u. s. w. Schliesslich kommen „Metastasen" in
inneren Organen, Es ist nicht wohl anders möglich, als dass diese
Ausbreitung bösartiger Gewebe auf der Locomotionsfähigkeit der Ge-
schwulstzellen beruht, mögen nun diese im Ganzen wandern können
oder nur kleinste Theile abgeben (Seminium), die in die Nachbar-
schaft getragen und mit dem Lymph- und Blutstrom fortgeschleppt
werden , an anderen Orten liegen bleiben und dort dieselbe Verän-
derung hervorrufen, wie am ersten Orte. (Die Analogie mit der Ver-
breitung der Bacterien liegt auf der Hand, s. pag. 61.) — Bei der Me-
tastasenbildung, die zur „Generalisation" führt, kann der Einbruch
in das Gefässsystem unmittelbar durch Einwachsen der Geschwulst in
die Gefässwand und Bildung von Thromben erfolgen, die Geschwulst-
masse enthalten und nachher zu Embolis werden. Solche Thromben
sind bei Sarkomen oft beobachtet. (Diese Verbreitungsweise erinnert
an die Pyämie.) Oder die Verbreitung erfolgt zunächst entlang der
Lymphgefässe und erst von diesen aus erfolgt der Uebertritt in's Blut.
Dies ist der Weg, wie die Krebse sich generalisiren. Mit dem Fort-
schreiten bösartiger Gesehwülste werden die Kräfte des Kranken
zusehends consumirt und es entwickelt sich die „Geschwulst (Kr ebs)-
Kachexie". Diese hat vor anderen Kachexien gerade keine Besonder-
heiten voraus ; von Tag zu Tag wird der Kranke weniger , sein Aus-
sehen fahler und blutärmer, der Puls schwächer; schliesslich treten
allgemeine marantische Oedeme auf und die Kranken gehen an Herz-
schwäche zu Grunde, wenn nicht irgend ein Zwischenfall, eine Blutung,
eine Verdauungsstörung, eine Lungenafifection den Ausgang beschleunigt.
Die Ursache dieser Kachexie ist nicht ganz aufgeklärt. Die Jauchung bei auf-
gebrochenen Geschwülsten kann die Ursache nicht sein , denn die Kachexie tritt auch
ohne diese ein. Ebenso wirken Blutungen nur beschleunigend. Man beschuldigt meist
die Aufnahme von Zerfallproducten aus den Geschwülsten, so dass es sich also um eine
Art Resorptionskachexie — analog den Fieberzuständen — handeln möchte. (L. Pfeiffer
nimmt eine specifische Giftwirkung der Sporozoen au.) Andererseits muss auch der
massenhafte Materialverbrauch zum Aufl)au der Geschwulst den übrigen Organen die
ihnen nothwendigen Nährstoffe vorenthalten. Wir müssten dann diese Kachexie in Parallele
stellen mit den Störungen des Allgemeinbefindens , die sich zur Zeit der Entwicklung
der Geschlechtsorgane, des raschen Kuochenwachsthums, auch der SchAvangerschaft und
Bildung des Embrj^o einzustellen pflegen. Vielleicht darf man auch an die interessanten
Studien von Miescher-Rüsch über das Leben des Rheinlachses denken. Während des
Autljaues der Geschlechtsorgane werden bei diesem Thier die anderen Organe, namentlich
Muskeln, Fettgewebe eingeschmolzen und gerathen in den höchsten Grad von Atrophie ;
das Thier verfällt in einen Zustand äusserster Abmagerung, selbst tiefgreifende Ge-
schwüre treten auf. Alles nur irgend verfügbare Material wird nach den Genitalorganen
getragen.
Bei gutartigen Geschwülsten ist der Hämoglobingehalt normal und die Regene-
rationszeit des Blutes nach der Operation ist normal. Bei bösartigen Geschwülsten ist
der Hänioglobingehalt im Durchschnitt nur G8'5 Procent , kann sogar bei rasch wach-
senden Geschwülsten bis .öG'.ö Procent herabgehen. Die Regeneration nach der Operation
erfolgt langsamer , eine Uebercompensation des Blutverlustes erfolgt nie , wie bei gut-
artigen Geschwülsten und Verletzungen (Bierfreund , Lanyenheck's Archiv 41).
Ein weiteres Zeichen der Bösartigkeit der Geschwülste ist die
Fähigkeit, örtlich wiederzukehren, wenn sie entfernt worden sind, die
Neigung zu Recidiveu.
Thier seh unterscheidet „continuirliche" Recidive, wo ein Theil der Ge-
schwulst zurückgeblieben ist und sich weiter entwickelt, dann Infectionsrecidive,
316 V. Caintel. — Geschwülste.
wenn in den Lymphdrüsen oder im übrigen Körper sich nach der Operation Geschwülste
entwickeln, und „regionäres Eecidiv", wenn an der >Stelle , wo die Geschwulst
entfernt wurde, sich aus denselben Gründen, wie die erste, wieder eine neue Geschwulst
bildet. Eigentlich sind die ersten beiden Recidivformen nur neue Aeusserungen der
alten, wenn die Geschwulst nicht ganz entfernt wurde und zur Zeit der Operation
bereits eine Verbreitung auf L3i'mph- oder Blutgefässe bestand. Und das regionäre Kecidiv
ist, genau betrachtet, nicht mehr die alte Krankheit, sondern eine neue für sich.
Natürlich führt diese Eintheilung in gutartige und bösartige Ge-
schwülste zu manchen scheinbaren Inconsequenzen. Ein flaches Epi-
thelialcarcinora des Gesichts kann Jahrzehnte lang bestehen, ohne den
Gesammtorganismus zu inficiren und ist doch eine bösartige Geschwulst.
Umgekehrt kann eine durchaus gutartige Kehlkopfgeschwulst, wenn
sie sich in die Stimmritze einklemmt, in einer Minute das tödtliche
Ende herbeiführen.
Nach anatomischen Merkmalen theilen wir die Geschwülste in
bindegewebige, welche nur aus Bestandtheilen des Bindegewebes
und Gefässen bestehen, und epitheliale, welche ausser diesen noch
epitheliale Gebilde, anscheinend als vorwiegenden und wesentlichen
Bestandtheil enthalten.
Beiden Gruppen kommen auch gewisse klinische Besonderheiten
zu und so ist mit dieser Eintheilung, wenn man sie nicht zu sehr in's
Einzelne treibt, sehr wohl auszukommen. Man bekommt so durch die
Combinirung beider Eintheilungsprincipien : Bindegewebige Ge-
schwülste gutartiger und bösartiger Natur und epitheliale
Geschwülste gutartiger und bösartiger Natur. Die bösartigen
Geschwülste epithelialen Ursprungs pflegt man zusammenzufassen als
„Krebse im engeren Sinn, Cancroide, Epithelialkrebse oder
Epithelialcarcinome". Der Name Epitheliom, als zu allgemein, wird
besser für „epitheliale Neubildung" unbestimmten Charakters verwendet.
Die bösartigen bindegewebigen Geschwülste werden als Sarkome auf-
geführt.
Dem Kliniker und dem pathologischen Anatomen ist es im ge-
gebenen Falle oft unmöglich, eine gerade bei einem Kranken ge-
fundene Geschwulst mit Sicherheit zu rubriciren. Es gibt Uebergangs-
formen, denen man ihren wirklichen Charakter nicht ansieht; es
können auch gutartige Geschwülste bösartig werden, indem sie ihren
mikroskopischen Bau allmählich ändern ; selten sogar ohne ihn zu
ändern. In frühen Stadien gibt es sichere histologische Kennzeichen des
Krebses nicht (vergl. Schuchardt, Langenheck' s Archiv, Bd. XLIII, der mit
Recht auf die Schwierigkeiten der mikroskopischen Diagnose beginnender
epithelialer Neubildungen hinweist).
Das Wachsthum der Geschwülste ist nach der gewöhnlichen
Darstellung ein centrales oder peripheres, appositionelles. Jenes
nehmen wir bei den meist gutartigen Geschwülsten an, die durch
eine mehr oder weniger deutliche Bindegewebsschicht, eine Kapsel,
von der Umgebung abgegrenzt sind und eine verhältnissmässig selbst-
ständige, oft wie an einem Hilus in das Innere der Geschwulst ein-
dringende Gefäss-Versorgung besitzen. — Die Neubildung der Geschwulst-
zellen erfolgt wohl vorwiegend durch Theilung der vorhandenen Zellen
auf dem Wege der Kerntheilung. In Geschwülsten sind Kerntheilungs-
figuren ganz gewöhnliche Erscheinungen.
Wachstlium der Geschwülste. — Metamorphosen. 317
In bösartigen Tumoren finden sich neben symmetrischen Mitrosen auch asym-
metrische , die in gutartigen Geschwülsten nicht vorkommen. Die Ghromatinsubstanz
theilt sich dort in ungleiche Abschnitte. ScJiüfz und V. Müller weisen auf die über-
wiegend periphere Lage der Mitosen in den Krebszellenzügen hin.
Bei den Geschwülsten mit peripherem appositionellem Wachs-
thum fehlt meist die scharfe Grenzschicht; wenn sie eine Kapsel
anfangs besitzen, wird sie oft später durchbrochen. Neben dem Wachs-
thum durch Zellvermehrung scheint die Vergrösserung dieser — fast
ausnahmslos bösartigen — Geschwülste auch noch durch Umwandlung
der Gewebe des Mutterbodens, in Geschwulstgewebe, wie unter dem
Einfluss eines inficirenden Virus zu erfolgen. Namentlich bei der Ent-
wicklung von secundären Geschwülsten in Lymphdrüsen gewinnt man
oft diesen Eindruck, dass unter dem Einfluss der Infection Lymphzellen
und Lymphgefässendothelien sich in Geschwulstzellen umwandeln
(Gussenbauer). Andere Male scheint das Geschwulstgewebe das des
Mutterbodens zu erdrücken und sich an seine Stelle zu setzen, es ist
dann also mehr eine Substitution der Matrix.
Dem Wachsthum von Geschwülsten setzen Fascien, derbe Binde-
gewebszüge , hauptsächlich aber Knochen oft langen hartnäckigen
Widerstand entgegen. Nach ihrer Durchbrechung — besonders gilt dies
von central entstehenden Knochengeschwülsten — nimmt das Wachs-
thum dann ein ganz anderes , beschleunigtes Tempo an. — Manche
Geschwülste wachsen gleichmässig, andere schubweise und in Absätzen.
Die Perioden rascheren Wachsthums fallen oft mit eingreifenden Ver-
änderungen des Gesammtorganismus , Schwangerschaft, Menstruation,
Pubertät, schweren Krankheiten u. s. f. zusammen.
Die oft ungemein reichliche Gefäss Versorgung der Geschwülste
scheint zum Theil durch die Erweiterung der vorhandenen Gefässe zu
erfolgen. Daneben bilden sich neue, wie auch sonst, durch Sprossen-
bildung (vergl. Fig. 33). Die Arterien der Neubildungen sind oft sehr
dickwandig, die Venen dagegen stark erweitert und in ihrer Wandung
verdünnt. — Die meisten Geschwülste zeigen reichliche Lymphgefässe.
Auch Nerven finden sich in Geschwülsten; ob eine Neubildung von
Nervenfasern stattfindet, ist fraglich.
Sämmtliche Geschwülste zeigen eine erhöhte Neigung zu regres-
siven Metamorphosen, vorwiegend in den älteren und centralen
Theilen der Neubildung. Es finden sich fast alle Degenerationen, die
pag. 41 ft". geschildert wurden; ebenso spielen sich in Geschwülsten oft
metaplastische Vorgänge ab.
Dann sind Blutungen ungemein häufig, wohl weil es nicht zur
Ausbildung wirklich normaler Gefässwände kommt. Das Blut wühlt
sich — besonders bei weichen Geschwülsten, in das Gewebe derselben
hinein und verursacht mitunter umfangreiche Hämatome oder Blut-
cysten. Das ausgetretene Blut macht die gewöhnlichen Veränderungen
durch (Gerinnung, Vertrocknung, Verkreidung etc. Vergl. pag. 100). Plötz-
liche bedeutende Vergrösserung eines Tumors, von gestern zu heute, wie
sie nicht so selten beobachtet wird, beruht fast ausnahmslos auf einer
Blutung in die Substanz der Geschwulst. Diese Neigung zu Blutungen
in"s Gewebe zeigen besonders weiche, schnellwachscnde Sareome.
Andererseits können in Geschwülsten auch Vernarbungsprocesse
eintreten, die zu einer Schrumpfung und partiellen Verödung und Rc-
318 V. Capitel. — GeschwiilKte.
Sorption der Geschwulst führen. In seltenen Fällen können Geschwülste
so ganz zum Verschwinden kommen.
Verletzungen von Geschwülsten zeigen nur geringe, meist gar
keine Neigung zur spontanen Heilung.
Auch Oedembildung wird in Neubildungen beobachtet.
Dann können Geschwülste sich, wie andere Gewebe, entzünden,
und solche Entzündungen nehmen leicht einen jauchigen Charakter
mit septischen Allgemeinerscheinungen an. Besonders leicht verjauchen
Blutergüsse in Geschwülsten. Die Eintrittspforte der Entzündungserregei-
bildet häufig ein kleiner Hautdefect. Durch das Wachstlium der Ge-
schwulst wird die Haut über derselben immer mehr ausgezogen und
verdünnt und schliesslich durch Druck von innen brandig, „die Ge-
schwulst bricht auf". Die so zu Tage tretende Geschwulstmasse wird
ungemein leicht von aussen her inficirt.
Geschwülste bindegewebiger Natur (Desmoidgeschwülste).
Gutartige Bindegewebsge schwülst e. — Fibrom. — Lipom. — Myxom. —
Osteom. — Enchondrom. — Myom. — Neurom. — Gliom. — Angioma und
Lymphangiome. — Lymphom. — Bösartige Bindegewebgeschwülste. — Sarkome.
Wir verfolgen die Geschwülste , die nur aus Bindegewebe und
Abkömmlingen der BindegeW' ebsgruppe , Knochen, Knorpel, Fett und
dergleichen bestehen, von ihren einfachsten und unschuldigsten Vertretern,
den Fibromen, bis zu den bösartigsten Geschwülsten, die wir überhaupt
kennen, bis zu gewissen Sarkomen. Die Grenzen der einzelnen Ge-
schwulstgruppen sind keineswegs sehr scharfe. Man findet zahlreiche,
oft fast unmerkliche Uebergänge von gutartigen zu bösartigen Formen.
Ebenso zeigen sich diese Geschwülste keineswegs immer nur aus einer
einzigen Art von Bindegewebssubstanzen aufgebaut; häufig sind die
verschiedensten Arten — ■ Bindegewebe im engern Sinne, Fett, Knorpel,
Knochen, Schleimgewebe u s. f. — neben einander vertreten und es
entstehen so Mischformen und Mischgeschwülste. Die Benennung
erfolgt dann nach dem vorwiegenden Bestandtheil („a potiori fit deno-
minatio") oder nach dem am höchsten organisirten Gewebe, das sich
darin findet, z. B. Nerven- oder Knorpelgewebe.
Auch kann eine Gewebsart später metaplastisch (s. pag. 49) an
die Stelle einer anderen treten, ganz oder theilweise, Scbleimgewebe an
Stelle des faserigen Bindegewebes, des Fettgewebes u. s. w. In derselben
Weise können de generative Vorgänge in diesen Geschwülsten
sich abspielen und so der Charakter und das mikroskopische und
makroskopische Verhalten einer solchen Neubildung später ein anderes
sein, als zu Anfang. — Der anatomisch gemischte Bau findet dann
auch seinen Ausdruck in der Benennung, wie Mjofibrom (Muskelfaser-
geschwulst), Neurofibrom, Osteochondrom u, dergl. mehr.
Das Fibrom, die Fasergeschwulst, auch Fibroid, Desmoid
genannt, besteht nur aus Bindegewebe. Als Hauptmasse finden sich
Bindegewebsfasern mit wenigen platten Bindegewebskörperchen und
spärlicher Intercellularsubstanz. Meist sind Gefässe nur in geringer
Bindegewebsgescli-v\ülste. — Fibrom.
319
Anzahl vorbanden. In seinem histologischen Aufbau steht das Fibrom
der Narbe und der Sehuensubstanz sehr nahe (s. Fig. 296 = Fig. 51).
Entsprechend den Elementen , die es zusammensetzen , ist das echte
Fibrom hart , oft geradezu knorpelhart , knirscht unter dem Messer ;
die Schnittfläche ist glatt, trocken, sehnig glänzend. Die Form ist
kugelig oder eiförmig, mitunter etwas abgeplattet, meist einlappig,
seltener mehrlappig (multilobulär). Die Oberfläche ist glatt oder leicht
höckerig. Die Grösse variirt von einem Hirsekorn bis Kindskopf und
darüber. Sie kommen vereinzelt vor („solitär"), oft aber auch in grosser
Anzahl über den ganzen Körper zerstreut („multiple" Fibrome). Das
Fibrom ist meist schmerzlos und auch auf Druck nicht empfindlich.
Gewöhnlich ist eine gut abzugrenzende Kapsel vorhanden; jen-
seits derselben oft lockeres Zellgewebe. Vorwiegende Standorte sind
das eigentliche Cutisgewebe, die Fascien, Schleimhäute und das Periost.
Fig. 29G. Fig. 297.
Die multiplen Fibrome der Haut werden mit dem Verlauf der peripheren
Nerven in N'erbindiing gebracht. Die Geschwulst drängt die Ner-
venfasern auseinander, die sich pinselförmig auf der Geschwulst
ausbreiten, ohne in derselben aufzugehen und ihre Function ganz ein-
zubüssen (Fig. 297, Neurofibrom im Nervus ulnaris). Diese Fibrome, meist
kleine, derbe, längliche Knötchen im Verlauf des Nerven, werden auch
falsche Ncuromc oder wegen der meist ganz enormen Schmerzen, die
sie spontan und noch mehr bei Berührung machen, Tubercnla dolorosa
genannt. (Nicht alle Tul)ercula dolorosa sind Fibrome, sondern zum
Theil Adenome der Hautdrüsen.)
Ganze Nervengeflechte können durcli Fibrombiklungen zu ver-
schlungenen knolligen Strängen werden — (plexiformes Neuro-
fibrom oder Kankeuueurom (1\ Briois, vergl. Tietzc , Langenbeck' s
Archiv, Bd. 45j.
320
V. Capitel. — Geschwülste.
Fibrome gehören vorwiegend dem mittleren L«:;bcn,sa]ter an. Ihr
Waehsthum ist ein langsames und gleichmässiges.
In den Drüsen, besonders der Mamma, weniger im Hoden, finden sich ferner
(jeschwülste , die zum überwiegenden Theile aus faserigem Bindegewebe bestehen
und zur Bildung lappiger, in die Milchgänge hineinwachsender Massen führen, Fibroma
mammae proliferum intracanaliculare. Man findet dabei stets auch Wucherung
des Drüsenkörpers, deshalb gehören diese Geschwülste eigentlich zu den Adenomen.
(Siehe dort.)
Die narbigen Schrumpfungen nach Entzündungen führen in Organen , wie der
Brustdrüse , oft zu harten , durch die Haut durchzutastenden unregelmässigen Knoten,
von der Consistenz , jedoch nicht dem
]'''P- 298. rundlichen Bau der Fasergeschwülste. Zu
Fibromen entwickeln sich die Narbenknoten
■ nie, eher entwickelt sich einmal eine bös-
artige Neubildung darin.
Neben diesen festen oder
harten Fibromen findet sieh auch
eine weiche Form.
Auf der Haut entwickelt sich
das Fibroma molluscum, Mol-
luscum pendulum . Cutis pendula.
Diese weichen Fasergeschwülste
sind fast ausnahmslos multipel und
die Haut ist oft geradezu übersät
damit. Es sind gelblichgraue,
schwammigweiche Geschwülstchen,
die sich wie ödematös anfühlen.
Sie sind bald gestielt, bald ruhen
sie mehr breitbasig auf. Ihr Sitz
ist im Unterhautzellgewebe und sie
sollen von den Scheiden der peri-
pheren Nerven ausgehen Durch-
schnitten zeigen sie ein fast caver-
nöses Gefüge und von der Schnitt-
fläche tropft gelbliche, schleimige,
ei weissh altige Flüssigkeit ab.
Fig. 298 (nach Virchow) stellt eine
mit massenhaften weichen Fibromen be-
haftete 47jährige Frau dar; die kleinsten
kaum linsengross ; das grösste wog exstirpirt
32 Yä Pfund. Dieselben waren überaus weich,
wie fluctuirend.
Fig. 299 ist ein mikroskopischer
Schnitt aus derselben Geschwulst (20fache
Vergrösserung). Von breiten bindegewebigen
Balken, in denen Gefässe liegen, strahlen
schmälere Züge aus , von diesen zweigt sich wieder ein feineres Netzwerk ab , so dass
das Ganze ein zierliches wabenartiges Gefüge gewinnt (areolärer Bau). Die Zwischen-
räume sind mit eiweisshaltiger Flüssigkeit erfüllt.
Die auf den Schleimhäuten stehenden Fibrome nennt man Po-
lypen. Ein Theil derselben, z. B. die im Kehlkopf, an den Stimm-
bändern sitzenden, sind harte, kleine, unter dem Epithel sitzende
Höckerchen, von dem Bau der harten Fibrome. Andere, im Nasen-
rachenraum, sind dagegen äusserst weich, graugelb und durchscheinend;
ihr Gefüge ist dem des Fibroms ähnlich, aber sie sind erfüllt mit
Fibrom. — Keloid.
321
Pig. 299.
reichlicher Flüssigkeit, die nicht blos zwischen den Fasern liegt,
sondern auch diese selbst zu durchtränken scheint. Sie befinden sich
ge Wissermassen im Zustande chronischen Oedems. Die Nasenpolypen
gehen gewöhnlich vom Periost aus, die andern Schleimhautpolypen,
soweit sie Fibrome sind, von der Submucosa. Sie sind von dünner
Epithellage überzogen , spärliche dendritisch verzweigte Gef ässchen
liegen unter dem Epithel. Die Form ist gewöhnlich eine lang aus-
gezogene, ungefähr flaschen- oder birnenförmige, mit dünnem Hals und
massigerem Körper. Einer entfernten Aehnlichkeit mit Polypus verdanken
sie den Namen. Zur Abtragung der Polypen bedient man sich meist
der Drahtschlinge (s. Fig. 201) oder der galvanokaustischen Schlinge
(s. Fig. 206).
Vom Knochen ausgehende harte Fibrome (Osteofibrome) finden
sich besonders am Unterkiefer, demnächst häufig am Oberkiefer. Diese
faserigen, ungemein langsam wachsenden harten Kiefergeschwülste nennt
man Epulis (ouXv] das Zahnfleisch). Nur selten tragen sie den reinen
Charakter der Fasergeschwulst, gewisse zwischen die Faserzüge ein-
gesprengte Zellanhäufungen oder einzelne eigenartige Zellen (Riesen-
zellen) stellen sie anatomisch zu den
Sarkomen, während sie sonst als gut-
artige, nur leicht recidivirende Ge-
schwülste den klinischen Charakter
der Fibrome tragen.
In einzelnen Fibromen sind die
Gefässe überaus weit und massenhaft
(cavernöse Fibrome). (S. Angiom.)
Die Ursache der echten Fi-
brome ist unbekannt, ihr Wachsthum
meist ein sehr langsames , in Jahren
nur wenig Fortschritte zeigend. Fast
ausnahmslos sind sie gutartig; doch
sind einige Fälle (Paget, Volkmann) beschrieben, wo sie örtlich wieder-
kehrten und innerliche Metastasen machten (recidivirendes Fibrom).
Die Behandlung der Fibrome besteht in der Exstirpation mit
dem Messer.
Auf Narben, häufiger solchen, die nicht p. p. i., sondern langsam und mit Eiterung
geheilt und viel misshandelt, gescheuert sind, entsteht die Narbengeschwulst,
das Keloid. Die Narbe fängt an, sich zu wulsten, über die Umgebung hervorzuragen
(statt zu schrumpfen und sich zu vertiefen) ; statt gefässärmer und dadurch blasser zu
werden , bleibt sie roth und wird turgescenter. Ein Gefühl unangenehmer Spannung
fehlt selten. Schliesslich ist aus der Narbe eine Va~~l Cm. hohe, glänzende, rothe
Geschwulst geworden , die sich hart , doch meist etwas weicher als eine gewöhnliche
Narbe anfühlt und an sichtbaren Stellen als hässlicher Wulst auffallt. Die Neubildung
breitet sicli auch auf die Umgebung etwas aus : sind 2 Keloide sich benachbart , " so
können sie zusammenfliessen. Fig. 300, ein seit mehreren Jahren unverändertes, doppeltes
Keloid des Halses , entstanden während der Militärzeit aus Furunkelnarben am Rande
der Halsbinde. Exstirpirt kehren Keloide mit unangenehmer Regelmässigkeit wieder,
indem die Narbe allmählich wieder zum Keloid sich umwandelt. Die Keloide können
nach jahrelangem l'.cstand oft von selbst wieder zu wenig prominenten Narben schwinden.
^Mikroskopisch zeigt das Keloid ungefähr den liau der jungen Narbe,
weiches saftreiches Bindegewebe (vergl. Fig. o6), in das Anhäufungen von
weissen Blutzellen , auch hier und dort Riesenzcllcn und epithelioide
Zellen eingesprengt sind; dazwischen straficre Bindegcwebszüge. Das
LandertT, Allfe'. cliir. Pathologien ii. Thi'raiiio. 2. Autl. 21
J22
V. Capitel. — Geschwülste.
bedeckende Epithel , die drüsigen Gewe])e der Haut sind iin Zustand
der Atrophie.
Thorn {Lamjenhech's Archiv, Bd. 51) fand Hypertropliie der CoriumzeUen und
wesentliche Unterschiede der Keloidf'asern von der gewöhnlichen ßindegeweljsfaser.
Der Exstirpation folgt oft ein Eecidiv ; einer zweiten Exstirjjation ist dann der
Misserfolg mit Sicherheit vorauszusagen, und man verhält sich dann besser exspectativ.
-^5-
Consequentes Bestreichen mit CoUodinm (eventuell mit Sublimatzusatz 1 : 200), mit Jod-
tinctur, mit Ichthj'ol hat gelegentlich Erfolg.
Das Lipom oder die Fettgeschwulst hat ihren Ausgaugsort
besonders vom Unterhautzellgewebe. Manche Lipome setzen sich mit
einem Stiel durch die Fascie hindurch, zwischen die Muskeln oder Ge-
fässbündel herein, selbst bis zum Periost des Knochens fort.
Das-Lipom ist eine meist gef ässarme, ausgesprochen lappig gebaute
Geschwulst von Kirsch- bis über Mannkopfgrösse. Wie eine Traube aus
einzelnen Beeren, so ist das Lipom zusammengesetzt aus Fettknollen,
die durch lockeres Zellgewebe getrennt, bis Apfelgrösse erreichen
können (Fig. 301). Wenn sich auch das Lipom meist ohne Mühe aus
dem umgebenden Gewebe , oft schon mit dem Finger herausschälen
lässt, so ist es doch nicht durch eine so scharf ausgesprochene Kapsel
von demselben getrennt, wie das Fibrom.
Lipom. — Myxom. 323
Die Diagnose „Fettgeschwulst" ist meist nicht schwer zu
machen. Der lappige, traubige Bau, die weiche Consistenz des bei Körper-
temperatur fast flüssigen Fetts, die absolute Schmerzlosigkeit, die leichte
Verschieblichkeit, das langsame Wachsthum werden zur Diagnose heran-
gezogen , doch sind schon Cysten, syphilitische Gummigeschwülstcheu,
weiche Fibrome u. s. w. von guten Chirurgen für Lipome gehalten
worden. Man hat das Gefühl, welches das Lipom dem znfühlenden Finger
gewährt, mit dem eines Sacks voll Wattebäuschchen verglichen. Entzündete
Lipome sind oft schwer als solche zu erkennen.
Das Lipom ist zweifellos bei mageren Personen und an fettarmen
Körperstellen häutiger. Sein Lieblingssitz ist oberer Theil des Rückens
(21-57o), Nacken (S'löo/o), Hals (7'1%), Aussenfläche der Oberarme
.(l3-57o/o) und Oberschenkel (eseo/o).
Lipome sind schmerzlos. Vollständig exstirpirt, kehren sie nicht
wieder.
Der mikroskopische Charakter des Lipoms zeigt gleichfalls einen
traubigen Bau. Auf einem Stiele, der die spärlichen Gefässe ent-
hält, sitzen beerenartig die Fettträubchen.
Lipome können allerlei weitere Veränderungen erleiden ; sie können
«chleimig erweichen, Lipoma myxomatosum. Bei starker Zunahme des
Bindegewebes spricht man von L. fibrosum. Bisweilen entwickeln sich
die Gefässe massenhaft, L. teleangiectodes. Ferner können Lipome ver-
kalken, in seltenen Fällen abscediren und versch wären (nach Druckbrand
der Haut) u. s. w.; ebenso können sie chronisch ödematös werden.
Eine Bildung eigener Art ist das Lipoma diffusum, eine An-
häufung traubigen Fetts an bestimmten Stellen, z. B. der Aussenfläche
des Oberschenkels , ohne Abgrenzung von der Nachbarschaft. Auf die
lipomartige massige Anhäufung des Fettes am Halse, „Fetthals", die
sogar zu schwerer Atherastörung führen kann, \i2ii Madelung (Lang en-
hech's Archiv, Bd. 37) aufmerksam gemacht. Hier fehlte die Schilddrüse.
Eine solche örtliche Polysarkie kann auch die weiblichen Brüste zu
unförmlichen bis 10 Kilogr. schweren Massen auftreiben , unter theil-
weisem Schwund des echten Drüsengewebes.
Die diffuse Lipombildung ist auch wesentlich mitbetheiligt bei den meisten Formen
von Riesenwuchs (angeboren, selten erworben); eine oder auch mehrere Extremitäten
nehmen allmälig einen enormen Umfang an, ohne sichtbare Circulations-, mit nur geringen
Functionsstörungen. Doch entwickeln sich nicht selten hartnäckige Geschwürsbildungen
u. dergl. , so dass oft die Amputation nöthig wird. In anderen Fällen handelt es sich
nicht blos um abnorme Fettansammlung , sondern um wirkliche Hypertrophie auch der
übrigen Gewebe, namentlich der Knochen.
In Gelenken , namentlich im Kniegelenk , wuchert das normal vorhandene sub-
synoviale Fett oft zu wirklichen, verzweigten Lipomen heran (Lipoma arborescens).
Den Anlass scheinen Blutergüsse zu bilden. Manchmal erscheint das Lipom als Vor-
läufer der Tuberculose der Gelenke (vergl. Blacliian, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 36).
Nach Grosch (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 26) steht die Häufigkeit des Lipoms
im umgekehrten Yerhältniss zum Drüsenreichthum des Standortes. Nach Küttnitz be-
ruhen die Lipome , wenigstens die symmetrischen , auf trophoneurotischer Grundlage
(Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 38).
Der physiologische Typus des Myxoms (Colloid, Collonema), der
Schleimgeschwnlst, ist das Schleimgewebe, wie es sich an Stelle
des späteren Unterhautfettgewebes des Erwachsenen im subcutanen
•Gewebe des Embryo und besonders im Nabelstrang der Neugeborenen,
21*
324
V. Capitel. — Geschwülste.
dann auch als Gallcrtniark in der Markliölile des Fötus und gelegent-
lich wieder bei alten und geschwächten Personen daselbst findet. Es ist
ein Bindegewebe mit grossen, sternförmigen, vielfach verästelten Binde-
gewebskörpern ; statt der Bindegewebsfasern hat man eine schleimige
Zwischensubstanz, die bei Zusatz von Gerinnungsmitteln, z. B. Alkohol,
faserig gerinnt. (Fig. 302 Myxomgewebe nach Ziefjler. Vergrösserung
250.) Reine Myxome sind nicht häufig , sie finden sich als gelappte,
traut) enförmige , weiche, fast fluctuirende, graurothe, schmerzlose Ge-
schwülste in dem lockeren ünterhautzellgewebe der Genitalien, Labien
und Scrotum, in der weiblichen Mamma und an grossen Röhrenknochen,
namentlich dem Oberschenkel. Myxome sind nur bedingt gutartig , sie
können örtlich wiederkehren und allgemein inficiren , besonders die
Myxolipome. — Sehr häufig sind andere Geschwülste ganz oder theilweise
schleimig entartet, weniger das Fibrom, als das dem Myxom nahe ver-
Fig. 302.
wandte Lipom , dann aber in besonderer Häufigkeit das Sarkom als-
„Myxosarkom". Ferner entwickeln sich Myxofibrome an den peripheren
Nerven.
Auch epitheliale Neubildungen, namentlicli gewisse Epitlielialcarcinome können
theilweise schleimig entarten und sind daher früher als eigene Form von Carcinomen^
Gallert-Carcinome, geführt worden.
Fig. 303 Myxom der grossen Schamlippe (nach Virchow).
Myxome sind, als stets verdächtige Geschwülste, sofort mit dem
Messer zu entfernen.
Knochenneubildungen, selbst in Form von grösseren geschwulst-
artigen Stücken und ohne jeden Zusammenhang mit Knochen kommen
häufig auf entzündlichem Wege zustande, durch oft wiederholte
kleine Verletzungen, namentlich Druck oder Schlag. Solche Bildungen
Myxom. — Osteom. 325
sind als „Reitknochen" (in den Mm. adductores) , als Exerciei'knochen
(an der Schulter) bekannt. Doch werden diese als Entzündnngsproduete
mit Recht nicht zu den Knochengeschwiilsten (Osteomen) ge-
rechnet, obwohl sie aus echter Knochensiibstanz bestehen. Bei einer
eigenthümlichen Erkrankungsform (der Myositis ossificans) kommt es
^•leichfalls zur Bildung massenhafter Knochensubstanz in der Muscu-
latur, in Form von Strängen und Platten. (S. Krankheiten der Muskeln.)
Ebensowenig dürfen die Verknöchernngeu der Muskelausätze und Sehnen,
die bei Vögeln in höherem Alter fast Regel, auch bei manchen Menschen in
grosser Anzahl sich finden, zu den Knochengeschwülsten gezählt werden.
Für die Entstehung der echten K noch engeschwülste oder
Osteome werden öfters Verletzungen in Anspruch genommen; meist
fehlt jeder genügende Anlass. Bei den von den Epiphysenlinien der
langen Röhrenknochen ausgehenden Osteomen mögen verirrte und abge-
schnürte Knorpelkeime die Grundlage der Geschwulst bilden.
Fig. 303.
Die Osteome sitzen bald breitbasig dem Knochen auf und stellen
dann flache halbkugelige Vorragungen vor (die Osteome des Schädel-
daches z. B.), bald zeigen sie eine verjüngte Basis (Fig. 304) oder
sind förmlich gestielt (Epiphysenosteome). Der Stiel kann schliesslich
durchschneiden, dann liegt das Osteom frei zwischen den Muskeln
(discontinuirliches Osteom). Osteome werden in sehr verschiedener
Grösse angetroft'en , von Erbsen- bis über ]Mannsko))fgrösse. Sie sind
sehr häufig multipel. Ausser an den Epiphysenlinien sitzen sie besonders
an platten Knochen , Schädel , Rippen , Schulterblatt , Becken. Das
Osteom ist knochenhart, schmerzlos; entweder ein flacher, glatter Hügel
(Schädeldach) oder eine unregelmässig geformte, meist etwas gestielte
Geschwulst. Jene bestehen meist aus compacter Substanz („Elfenbein-
osteome"), die letzteren mehr aus Si)ongiosa (spongiöse Osteome).
Diese tragen häufig einen knorpeligen Ueberzug und ihre Oberfläche
ist selten glatt und gleicliuiässig. sondern war/ig, drusig, selbst in
mchrci'c Käiuiiic /.i-rrallcn . mitinitcr liegt ein Sciileinibeutel darüber
(Osteoma bursatuuij.
326
V. Capitel. — Geschwülste.
Fig. 304 ist ein Osteoma spongiosum jnit knoiiieligem Ueherzug , vom Schulter-
blatt eines neunjährigen Knaben, mit der Basis ausgcmeisselt.
Mikroskopisch zeigen die Osteome die Beschaffenheit von com-
pacter und spong-iöser Knochensubstanz, in wechsehidem Verhähniss,
und häufig liyalinen Knorpel, eingesprengt und auf der Oberfläche.
Auch von Zähnen können Geschwülste aus Elfenbeinsubstanz ausgehen, knochen-
harte, unregelmässig geformte knollige Geschwülste, bis Hühnereigrösse, Odontome.
Fig. 304.
Fig. 305.
Für die Diagnose sind die ausgesprochene Knochenhärte, da,s^
langsame und schmerzlose Wachsthum ausschlaggebend. Rasch wachsende
knochenharte Geschwülste sind höchstwahrscheinlich Osteosarkome (s.
Sarkome).
Die Osteome werden mit dem Messer freigelegt und mit dem
Meissel an der Basis, noch besser mit dieser abgetrennt. Die Blutung
ist oft nicht unbedeutend. Auch gelingt bei sehr grossen Osteomen die
Entfernung nicht immer vollständig.
Multiple Myelome aus Knochenmarkgewebe sind in sehr seltenen
Fällen beobachet {Zahn, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 22).
Die Enchondrome (Chondrome), Knorpelgeschwülste finden
sich zwar am häufigsten an Stellen, wo sich auch sonst Knorpel, we-
nigstens während der Entwicklungsperiode des Skelets findet , vor
Allem an den Epiphysenlinien (hier auch oft Ecchondrosen genannt).
Besonders sind die Finger oft Sitz von Enchondromen (s. Fig. 305).
Man begegnet ihnen aber auch an Stellen, wo normal keine Spur von
Knorpel sich findet, im Hoden, in der Ohrspeicheldrüse (Fig. 306,
Enchondrora der Parotis). Der Knorpel bildet wohl die Hauptmasse
der Geschwulst, fast immer ist er aber vergesellschaftet mit (wahr-
scheinlich metaplastisch entstandenen) Gewebsmassen anderer Art,
namentlich Schleimgewebe — Myxochondrom , dann Knochensubstanz.
(Osteochondrom), Bindegewebsziigen u. s. f.
Man könnte daher diese meist als Chondrome geführten Geschwülste oft mit dem-
selben Rechte als Mischgeschwülste bezeichnen. Auch klinisch ist ihre Stellung keine-
ganz klare. Wohl werden sie im Allgemeinen zu den gutartigen Geschwülsten gestellt,
tragen diesen Charakter oft auch Jahrzehnte lang zur Schau, um dann plötzlich rasch
zu wachsen, wobei sie oft ganz in der Art bösartiger Neubildungen inficirend auf die
Umgebung übergehen können ; selbst innere Metastasen sind in einzelnen Fällen beob-
achtet. Auch können sie örtlich wiederkehren. Solchen Enchondromen fehlt dann auch
Enchondrom. — ilyom.
327
oft eine scharf abgegrenzte Kapsel und man ist ausser Stande, sie auszuschälen, sondern
muss das Organ, in dem sie sitzen, mit exstirpiren (z. B. die Ohrspeicheldrüse).
Die Anlage ist wohl meist eine angeborne, die Zeit rascher Ent-
wicklung fällt vorwiegend in die Pubertätsjahre.
Für die Diagnose ist neben
dem Sitz die Zeit der Entwicklung, Fig. soe.
ihr oft sprungweises Wachsthum be-
zeichnend. Sie sind meist harte, klein-
knollige Gesehwülste (s. Fig. 306).
Die Consisteuz ist nicht immer gleich-
massig, neben knochenharten Stelleu,
wo Verknöcherung eingetreten, finden
sich oft auch weiche Partien , wo
schleimige Erweichung stattgefunden
hat. Sie bleiben meist unempfindlich.
Auf dem Durchschnitt sind sie fast
nie gleichmässig ; rein knorpelige
Stellen wechseln ab mit schleimig er-
weichten, und so entsteht oft ein fast
cystenartiger Charakter. An andern
Stellen findet sich Verkalkung oder
Verkuöcherung (s. Fig. 307 , Durch-
schnitt von Fig. 305).
Mikroskopisch ist nur selten der reine hyaline Knorpel mit schönen Knorpel-
zellen, Knoi'pelkapseln und homogener Intercellularsubstauz anzutreffen ; häufiger findet
sich faseriger Zerfall der letzteren (Faserknorpel) oder netzförmige Anordnung derselben
(Netzknorpel). Auch sind die Knorpelzellen nicht mehr regelmässig geformt, sondern
spindelförmig, oft fast geschwänzt. Beim Uebergang in myxomatöse Entartung werden
dieselben zu förmlichen Sternzellen, wie sie in Fig. 302 beim Myxom abgebildet sind;
an anderen Stellen findet sich unregelmässig gebaute Knochensubstanz.
Geschwülste aus quergestreifter Muskelsubstanz, Rhab-
domyome, sind sehr selten und kommen als ausschliessliche Grund-
lage einer Geschwulst nie vor. Sie finden sich in embryonalen Xieren-
und Hodengesehwülsten, wo sie einen wesentlichen Theil der Geschwulst
Fig. 307.
bilden können. Es handelt sich wohl meist um versprengte Keime, aus
der frühesten Zeit der Eientwicklung.
Häufiger sind die Geschwülste aus glatter Musculatur,
Leiomyome. Sie bilden sich als umschriebene Knoten, namentlich im
Gewebe des weiblichen Uterus und wachsen hier, oft in grösserer An-
zahl zugleicii vorkommend, zu kindskopfgrossen Geschwülsten heran.
328 V. Capitcl. — Goscliwülste.
Beim Manne finden sich ähnliche, aher dem Geschwulsttyp us nicht ^anz
entsprechende Neubildungen in der Prostata.
Die Myomata uteri stehen mit den physiologischen Vorgängen des weiblichen
Geschlechtslebens in zweifellosem Zusammenhang. Die Zeit, in der sie sich mit
Vorliebe entwickeln, ist die zweite Hälfte der weiblichen Geschlechtsthätigkeit , und
mit dem Aufhören derselben, mit dem Eintreten der Involution, des sogenannten
„Climacteriums" hören sie fast ausnahmslos auf, weiter zu wachsen; sie zeigen grosse
Neigung zu regressiven Metamorphosen , Verfettung , Blutungen u. s. f. und es kann
so schliesslich zum völligen Verschwinden der Geschwülste kommen. Wird durch
operative Entfernung der Ovarien die weibliche Involution künstlich früher herl^eigeführt
(„antecipirter Klimax"), so pflegen diese regressiven Veränderungen meist sofort prompt
einzutreten. Ebenso bewirkt oft Ergotinbehandlung , namentlich in Form subcutaner In-
jectionen Verkleinerung , selbst völliges Verschwinden der Tumoren. — Die Myome der
Prostata entstehen erst im höheren Lebensalter.
Die Myome des Uterus sind meist gefässreiche Geschwülste,
namentlich werden sie von oft fingerdicken Venen über- und durch-
zogen. Herausgenommen und blutleer zeigen sie eine feuchte graurüth-
liche, blassem Fleische ähnliche Schnittfläche. Derbe Muskelfaserzüge
durchziehen in unregelmässiger Weise die Schnittfläche , um sich mit
andern bald zu kreuzen, bald sich aneinanderzulegen. Dazwischen hat man
zahlreiche Gefässlumina mit dünner Wandung (Venen). — Die kleinen,
derben, gram'öthlichen Leiomyoma der Haut, ausgehend von der
glatten Musculatur der Cutis, sind den Fibromen der Haut ähnlich.
Mikroskopisch zeigt sich die Geschwulst fast ausschliesslich aus glatten
Muskelfasern , mit Gefässen und wenig Bindegewebe zusammengesetzt. Fig. 308 stellt
einen Schnitt aus einem Myom des Uterus dar, auf welchem zwei Züge glatter Muskel-
fasern unter einem Winkel auf einander treffen. An manchen Stellen halten die Myome
viel Bindegewebe, daher sie auch als Myoflbrome, früher fast allgemein als Uterusfibrome,
Uterusflbroide bezeichnet wurden.
Ausser der operativen Behandlung (Exstirpation der Geschwülste
oder Castration sowohl bei Uterus-, wie bei Prostatamyomen), der
medicamentösen Behandlung (Seeale, Ergotin), hat auch die elektrolytische
Behandlung bei Uterusmyomen Erfolge gegeben (Apostoli).
Geschwülste aus echtem Nervengewebe, die wahren Neurome
sind äusserst selten. Die falschen Neurome, Neurofibrome, haben wir
pag. 319 bereits besprochen. Mau hat die echten Neurome in solche
mit markhaltigen und mit marklosen Fasern (myelinische und amyeli-
nische Neurome) getheilt. Jene, wo markhaltige echte Nervenfasern neu
gebildet werden , sind sehr selten und sind wohl nur an Gehirn und
Rückenmark beobachtet. Die kolbigen Verdickungen , womit die durch-
schnittenen Nerven z. B. bei Amputationen sich abzuschliessen pflegen,
„ Amputationsneurome", beruhen nur zum kleinsten Theil auf
Wucherung von Nervenfasern , überwiegend handelt es sich um neu-
gebildetes Bindegewebe. Im Uebrigen bestehen sie aus einem Gewirr
von markhaltigen, zum Theil auch marklosen Nervenfasern. Die amy-
elinischen Neurome sind von Neurofibromen und gewissen Sarkomen
kaum zu unterscheiden.
Im Allgemeinen sind die Neurome gutartiger Natur- doch gibt
es auch rasch wachsende unter ihnen und es sind auch örtliche Rück-
fälle und selbst Metastasenbildungen vorgekommen. Sie sind mit dem
Messer zu entfernen. Der durchschnittene Nerv ist, wenn möglich, in
Neurom.
Gliom.
Angiom.
329
seiner Contiiiuität wieder durch Nervennaht oder -Plastik herzustellen.
(Verg-1. pag. 281.)
Das Gliom baut sich aus den Zellen der Neuroglia auf (Zellen
aus feinstem, zahlreich verästelten! Protoplasma Fig. 309, Zellen aus
einem Gliom, Zerzupfuugspräparat, Vergr. 350 nach Ziegler) und bildet
grauröthliche Geschwülste im Gehirn, Rückenmark, Retina, ohne scharf
umschriebene Kapsel. Das Gliom macht keine Metastasen, kann jedoch
durch seinen Sitz in den nervösen Centren natürlich sehr schv^/ere
Folgen nach sich ziehen.
Gliome sind nach Trepanation des Schädels mit Glück aus dem Gehirn exstirpirt
worden.
Von den Gefässgeschwülsten (Angiomen) sondern wir die
durch Erweiterung der grösseren Gefässe, Arterien und Venen be-
dingten, die Aneurysmen und Varicositäten aus. Sie werden heut-
C;^ ^'
/
1
zmL
Fig. 309.
zutage nicht mehr zu den Geschwülsten gerechnet (s. Krankheiten
der Gefässe). Die eigentlichen Gefässgeschwülste , soweit sie zur Zeit
als solche angesehen werden, bestehen in der Hauptsache aus er-
weiterten und neugebildeten Gefässen, meist kleineren und kleinsten
Calibers , und einem , im Ganzen meist spärlichen und in seiner Be-
deutung zurücktretenden, bindegewebigen Stützgerüste.
Wir unterscheiden zwei Gruppen von Gefässgeschwülsten, die
einfachen Angiome oder Teleangiektasien und die cavernösen
Angiome.
Die einfachen Angiomeoder Teleangiektasien, Erweiterungen
der Gefässenden. d. h. der feinsten Gefässchen, Capillaren etc., werden
auch Feuermal . lilutmal , Muttermal , Naevus vasculosus genannt. Sie
bilden jene flachen . bald fcuerrothen , bald tiefblauen entstellenden
Hautverfärbungon. die man liäutig im Gesicht und am Halse sieht. Sie
wachsen langsam und hlcihcn oft stationär. Sie lassen sich durch Finger-
druck Vfirübergcliend tlieihveise entleeren. Sie ])estehcn aus Convoluten
erweiterter, in ihrer Wandung verdickter Capillaren (Fig. 3lOj und je
;30
V. Capitel. — Geschwülste.
nachdem sie sich unmittelbar an kleine Arterien oder Venen anschliessen,
ist die Farbe roth oder blau. Die Bestandthcilc der Haut können neben
dieser Erweiterung der Gefässe erhalten sein und die erweiterten Gefasse
umspinnen die Drüsen, folgen der
i<'ig. 310. Anordnung der Papillen u. s. f.;
in anderen Fällen gehen letztere
verloren und es sind dann nur
noch bindegewebige 8epta vor-
handen , wie beim cavernösen
Angiom (Fig. 312). In die
Nachbarschaft geht die Gefäss-
erweiterung ohne scharfe Grenzen
über. Manche Naevi ragen wie
eine lappige hahnenkammartige
Masse, selbst wie eine gestielte
Geschwulst über die Haut hervor.
Bei solchen findet man Neu-
bildung von Bindegewebe und Fett. Solche Naevi sind oft stark behaart.
Das cavernöse Angiom sieht äusserlich einer Geschwulst
ähnlicher. Es bildet blutrothe,
Fig. 311. vorragende Wülste , von Steck-
nadelkopf- bis Handtellergrösse.
Sie sind w^ohl ausnahmslos an-
geboren. Bei der Geburt oft
kaum sichtbar , vergrössern sie
sich gewöhnlich unaufhaltsam
und breiten sich nicht nur der
Fläche nach in der Haut aus,
sondern dringen auch in die
Tiefe und bringen Fascien,
Muskeln , selbst die Knochen
zum Schwund. Auch diese Ge-
schwülste sind durch Finger-
druck wenigstens theilweise zu
entleeren. Verletzt geben sie zu
schwer stillbaren Blutungen An-
lass. Die Diagnose ist bei An-
giomen, die nicht an der Haut
zu Tage liegen, oft nicht leicht.
Das Gefühl der Fluctuation, das
Ansehwellen beim Schreien, die
Ausdrückbarkeit und das Kleiner-
werden bei festem Druck sind
wichtig; doch sind Verwechs-
lungen mit Lipomen und an-
deren weichen Geschwülsten oft
kaum zu vermeiden.
Fig. 311 stellt ein Angioma cavernosum bei einem zweijährigen Kinde dar. Das-
selbe war bei der Geburt stecknadelkopfgross und ist jetzt zu dieser Grösse heran-
gewachsen. In der Achselfalte , in die das Angioma hineingewachsen , ist oberfläch-
liche Geschwürsbildung (durch Intertrigo) eingetreten. Nach oben von der Geschwulst ist
die Haut leicht bläulich verfärbt und es lässt sich nachweisen, dass die Angiombildung
Angiome. 331
hier im Unterhautzellgewebe bereits mehrere Centimeter weit über die sichtbaren Ge-
schwulstgrenzen fortgeschritten ist.
Diese Form von Angiomen bietet mikroskopisch durchaus den Charakter caver-
nösen Gewebes, wie es auch sonst im Körper, z. B. in den Corpora cavernosa der Geschlechts-
organe gefunden wird, Fig. 312. Grosse mit Blut gefüllte Räume werden getrennt von
einem Balkenwerk aus Bindegewebe und elastischen Fasern und auch dieses Netzwerk
sieht man wieder durchbrochen von feineren bluthaltigen Maschenräumen. Die Quer-
schnitte dieser Räume sind bald rundlich , bald langgestreckt ; hin und wieder sieht
man Endothelien längs den Wänden derselben.
Augiome metastasiren nicht. Multiple cavernöse Angiome beschreibt
Hildebrand (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. XXX). Angiombildung tritt
vielfach in anderen Geschwülsten, im Ganzen oder an einzelnen Stellen
auf und man bekommt dann ein Sarkoma , Liporaa teleangiectodes und
dergleichen mehr.
Bei den cavernösen Angiomen gewinnt man vielfach den Eindruck , als ob es
sich nicht um eine Neubildung , speciell eine Gefässneubildung handle , sondern mehr
um eine fortschreitende cavernöse Entartung der Gewebe, dass Schrumpfungsprocesse
I
im Gewebe das Primäre und diese Räume von den Gefässen aus mit Blut gefüllt wären.
Andere denken au ein Hineinwühlen des flüssig bleibenden Blutes in endothelbekleidete
Gewebslücken. Bei Geschwülsten , die stellenweise cavernöse Umänderung zeigen , mag
sich's ähnlich verhalten. Die Teleangiektasien scheinen eher einfache Gefässerweiterungen.
Wo prima intentio möglich, ist die Exstirpation des Angioms
das rascheste und am wenigsten entstellende Verfahren. Einige vorher
unter der Basis des Angioms durchgezogene und rasch geknotete Seiden-
fäden beschränken die Blutung wesentlich. BiUroth sucht die Geschwulst
durch Anlegen von Klemmen und Bleiplattennähten (pag. 138) erst zu
stielen und unter diesen eine Kettennaht (2 durcheinander und gegen-
einanderlaufende, fortlaufende Nähte, Fig. 136) zu legen, so dass der Blut-
verlust gering ist. Sonst kommen Ignipunctur (vielfache Stichelung mit dem
nur rothglühenden Fistelbrcnner der Panju elvi' scheu Piatina candens) in
Frage. Die elcktrolytische Behandlung (pag. 237) wird von Juiarshoy
{LniKjcnbcrk's ArciiiV, Bd. 4S) eni])f()hlen. Auch Ueberstreichen mit
Sublimatcollodium (1:1<) l)is 20) führt, allerdings meist unter Eiterung
l)ci klcinoii Angiomen, /.um Ziele. Alkolidlinjoetionen (50 — 75%) ii^ die
332
V. Capitel. — Gescliwülste.
nächste Ui'ngel)!!!!^ (niclit in die Gcfässrämnc !j sind langwierig; und
nicht ohne gewisse Gefahr. Gestielte Angiome können abgebunden
werden. Vor der Einspritzung von coagulirenden Mitteln (Lirju. ferri
sesquichlorati u. dergl.); ebenso dem Durchziehen von in Liquor ferri
sesquichlorati getränkten Fäden ist zu warnen. Das Einimpfen der
Kuhpocke führt nur bei kleinen An-
Pig. 313. giomen zum Ziel , hier ist auch Be-
tupfen mit rauchender Salpetersäure
nützlich.
Eine Eildung eigener Art ist in Fig. 31.3
abgebildet; eine Blut Cyste (nach Gramer),
entwickelt im M. semimembranosus des Ober-
schenkels. Vermöge ihres wabenartigen Baues,
der Eintheilung in einzelne Fächer durch
Stränge , die von einer "Wand zur anderen
ziehen, ähnelt sie den Angiomen. Doch war
der Inhalt nicht frisches , sondern altes ver-
ändertes Blut. Vermuthlich war der Zusammen-
hang mit den Gefässen ursprünglich vorhanden
und später verschlossen worden.
Den Blutangiomen analoge Bil-
dungen sind die Lymphangiome.
Bald handelt es sich vorwiegend um
den Teleangiektasien vergleichbare
Erweiterungen der feinsten Lympli-
gefässe bestimmter Regionen , die
dann zu mehr gleichmässigeu , etwas
erectilen und comprimirbaren, blassen
Anschwellungen führen. Hieher gehören die meist angebornen Ver-
grösserungen der Zunge und Lippen (Makroglossie, Makrochilie) und die
sogenannte Wangenhypertrophie (wenn man diese Zustände nicht zur
Elephantiasis rechnen will). — Besser als Excision scheint hier wieder-
holte Ignipunctur zu wirken.
Den cavernösen Angiomen mehr entsprechend und in ihrem
äusseren Verhalten mehr an den Geschwulsttypus gemahnend, sind die
cavernösen Lymphangiome oder Cystenhygrome. Sie linden sich
angeboren als knollige, rosenkranz- oder traubenartig angeordnete, schmerz-
lose, blasse Geschwülste, meist am Halse und zeigen sich als mit blass-
gelblicher, lymphartiger Flüssigkeit gefüllte Hohlräume. Charakteristisch
ist für beide Formen die intermittirende schubweise Anschwellung und
Entzündung mit Fieber, wonach sie kleiner werden, selbst verschwinden
können.
Function hat nur vorübergehenden Erfolg. Injectionen sind zu
widerrathen. Die Exstirpatiou, an sich das rationellste Verfahren, gelingt
nicht immer vollständig, da die in der Tiefe meist sehr dünnwandigen
Geschwülstchen sich aus den Gefässen , Nerven und Eingeweiden des
Halses nicht ausschälen lassen, doch führt auch unvollständige Exstir-
patiou oft zum Stillstand und weiterer Verkleinerung. Die Kinder sterben
durch Druck der Geschwülste auf Luft- und Speiseröhre und die Gefässe
oder die Geschwülste verjauchen durch Verletzung und tödten durch
Septikämie.
Lymphangiom. — Sarkom. 333
Entstehen sollen sie (nach Wagner) theils durch Dilatation mit Neubildung
infolge Lymphstauung , theils durch Proliferation der Lymphgefässendothelien mit Neu-
bildung von Lymphgefässen, theils aus Granulationsgewebe mit secundärer Bildung von
Lymphgefässen. Vergl. Middeldor^rf (Langenbeck's Archiv, Bd. 31, Literatur) und Nasse
(Langenbeck's Archiv, Bd. 38).
Ob es wahre Lj'-mphdrüsengeschwülste, ein echtes gutartiges Lymphom,
eine örtliche Anhäufung von wahrer Lymphdrüsensubstanz gibt, dürfte äusserst unwahr-
scheinlich sein. — Allerdings sind geschwulstartige Vergrös serungen voil
Lymphdrüsen ein durchaus gewöhnliches Vorkommen. Aber in den meisten Fällen
handelt es sich um Anschwellungen, die auf entzündlichem Wege, durch chronische
Infectionskrankheiten , in erster Linie Tuberculose bedingt sind. Solche tuberculöse
Lymphdrüsenmassen , oft Conglomerate von 10—20 ei- bis faustgrossen Knoten , finden
sich namentlich am Halse. — Andere Male hängt die — dann meist über den ganzen
Körper verbreitete — geschwfilstartige Anschwellung der Lymphdrüsen mit eigenthüm-
lichen ,, Blutkrankheiten'" (Dyskrasien) zusammen, der Leukämie, Pseudo-Leukämie.
Hodgkitt schev Krankheit, wobei ausser den Lymphdrüsen auch noch Milz und Knochen-
mark betheiligt sind und die Bestandtheile des Blutes , die weissen und rothen Blut-
körperchen, schweren Veränderungen nach Form und Zahl unterliegen. Vielleicht handelt
es sich hier auch um chronische Infectionskrankheiten.
Eine andere Anzahl von Lymphdrüsengeschwülsten ist unzweifelhaft bösartiger
Natur. Für sie passt der Name „Lymphosarkom" besser als „Lymphoma malig-
num" (siehe unter Sarkomen).
Als Sarkome fassen wir Geschwülste aus Bindegewebssubstanz
zusammen , die neben Bindegewebe und Gefässen noch Zellen der
BindegewebsgTuppe in ihren Maschenräumen eingelagert enthalten.
In ein Netzwerk von Bindegewebe und Gefässe finden sich Nester von
bindegewebigen Zellen verschiedener Art eingesprengt; dem Charakter
dieser Zellen entsprechend machen wir die anatomische Trennung in
Rundzellen-, Spindelzellen- und Riesenzellensarkome.
Ausserdem findet sich eine bald spärliche, bald sehr reichliche
eiweiss-, gelegentlich auch leimhaltige Intercellularsubstanz, die in
rasch wachsenden Sarkomen homogen ist. In langsam wachsenden
Sarkomen dagegen kommt es zur Abscheidung einer faserigen, den
Bindegewebsfasern analogen bindegewebigen Zwischensubstanz. Eine
Abart der Sarkome sind die pigmentirten Sarkome. — Ausser
den anatomischen Merkmalen gibt der Standort Anlass zur Eintheilung*
in Knochen-, Haut-, Drüsen-, Fascien- u. s. w. Sarkome.
Das Neue und für das Sarkom Bezeichnende ist also die — meist
nesterförmige — Anhäufung von Zellen zwischen den Bindegewebs-
zügen. Dies ist das unterscheidende Merkmal gegenüber der ihm
am nächsten stehenden Geschwulst, dem Fibrom (siehe Fig. 296). Der-
artige Zellanhäufungen können in allen Geschwülsten der Bindegewebs-
gruppe angetroffen werden und es entstehen dann Geschwülste, deren
klinischer Charakter bald mehr der ursprünglichen Geschwulst , bald
mehr dem Sarkom entspricht. Oder es können solche Zellenanhäufungen
nur an einzelnen Theilen dieser Geschwülste auftreten, so dass diese
dann partiell sarkomatös entartet sind. Wir bekommen so Fibrosarkome,
Myxosarkome, Ostcoma sarcomatosum, Chondrosarkome u. s. w. Auch
kann bei Geschwülsten, die sich im anatomischen Baue so nahestehen,
leicht ein Ueb ergang der einen in die andere vorkommen und so
sehen wir l)iswcilen Geschwülste . die uns klinisch durch Jahre als
FihrdHio iinponirtcn . sclilicsslicli sarkomatöscn Cliai'ukter gewinnen.
Seltener ist es, doch kenne ich solche Fälle, dass Geschwülste (Polypen
334 ^^- Capitel. — Geschwülste.
der Schädelbasis) anfangs deutlich sarkomatösen Bau zeigen , nach
der 2., 3. Exstirpation fast reinen Fibromcharakter bieten und nicht
mehr recidiviren.
Die Engländer nennen die Sarkome (nach Paget) recurring flhroid, fihronucleated
und myeloid tumours ; die Franzosen Tumeurs fibroplastiques (Leherij oder jdasraömes
(Follin).
Was wirklich Sarkom ist, kann auf den Charakter der Gutartigkeit
keinen Anspruch mehr machen. — In dieser Gruppe finden sich Ge-
schwülste von unschuldiger Natur (Riesenzellensarkome) neben solchen,
die in kürzester Zeit, in Wochen bis Monaten das Leben vernichten
(Rundzellensarkome).
Die Sarkome sind oft anfangs verhältnissmässig circumscript und
zeigen eine differenzirte Kapsel. Ist diese durchwachsen oder wird sie
durch Function u. dergl. künstlich durchbrochen, so nimmt oft das bis
dahin langsame Wachs th um einen rapiden Charakter an. Ebenso kann
Fig. 314.
das Wachsthuni derselben durch Faseien, bei Sarkomen des Knochen-
marks durch die Knochenrinde eine Zeitlang aufgehalten werden. Nach-
dem das Wachsthum oft anfangs ein anscheinend centrales gewesen,
kommt bei den meisten Sarkomen ein Stadium, wo die Geschwulst
inficirend wächst, d. h. durch Hineinwuchern in die Nachbargewebe
und Umwandlung derselben in Geschwulstgewebe. Die Grenze der Neu-
bildung ist dann eine verwischte.
Je ärmer an faserigem Bindegewebe, je reicher an Zellen
die Sarkome sind, umso weicher sind sie, um so schneller
wachsen sie und um so bösartiger sind sie.
Der Ausgangspunkt der sarkomatöseu Wucherung ist
das Bindegewebe und seine zelligen Elemente. Die Neubildung
der Sarkomzellen erfolgt mit ungewöhnlicher Intensität, namentlich bei
rasch wachsenden Sarkomen, durch Kern- und Zelltheilung seitens
dieser Zellen. Ob sich alle im Bindegewebe vorhandenen Zellgattungen
hieran betheiligen , Bindegewebszellen , Lymphgefäss- und Blutgefäss-
endothelien, ist fraglich ; in dem einen Fall scheinen es mehr die Binde-
gewebszellen und Lymphendothelien zu sein, in einem anderen vielleicht
wieder mehr die Endothelien der Blutgefässe (Angiosarkome). Die Kern-
Sarkome.
335
theilungsvorgänge sind in Sarkomen keineswegs immer regelmässige;
häufig erscheinen unregelmässige Kerntheilungsfiguren und diese führen
oft zur Bildung mehrerer , selbst vieler Kerne (epithelioide und Eiesen-
zellen).
Eundzellen vom Charakter der weissen Blutkörperchen begegnet man in Sarkomen
stets in wechselnder Anzahl. Bei Rundzellensarkomen (Granulationssarkomen) ist ein
unterscheidendes Merkmal zwischen Geschwulstzellen und weissen Blutzellen nicht
vorhanden. Bei Spindelzellensarkomen hat man nicht den Eindruck, als ob die weissen
Blntzellen sich in irgendwie directer Weise am Aufbau der Geschwulst betheiligten. Kern-
theilungsfiguren beobachtet man nicht an ihnen. Ob die bei Sarkomen namentlich in der
Zwischensubstauz sich findenden weissen Blutzellen als eine Art entzündlicher klein-
zelliger Infiltration aufzufassen sind , möge dahin gestellt bleiben. Vielleicht sind sie
nur als Träger des Ernährungsmaterials für die vom Bindegewebe ausgehende Geschwulst-
neubildung anzusehen (ähnlich der Rolle, die die weissen Blutkörperchen bei der Dotter-
bildung des Hühnereies nach W. His spielen).
Fig. 315.
Die Generalisation der Sarkome erfolgt mehr auf dem Wege
der Blutbahn als der Lymphwege. Einwachsen der sarkomatöseu
Massen in das Lumen der Gefässe ist oft genug beobachtet und es er-
klärt sich so äusserst natürlich , dass diese Wucherungen zu Embolis
werden und dadurch Metastasenbildung veranlassen. Doch kommen
auch Anschwellungen der Lymphdrüsen der betreifenden Gegend vor.
AVenn man annimmt, dass die erste Ent-\vicklung der Sarkome überhaupt eine
intravasculäre ist, d. h. von den Capillarendothelien ausgeht, wäre die Art der Generali-
sation der Sarkome noch viel leichter verständlich (Angiosarkome).
Die Zahl der Tochterknoten , die sich bei Sarkomen oft binnen
Kurzem entwickeln, kann eine ganz enorme sein.
Die meisten Sarkome zeigen , wenn sie entfernt werden , grosse
Neigung, örtlich wiederzukehren.
Sarkome sind überaus hinfällige Bildungen , und kaum ist das
Sarkomgewebe aufgebaut — wenigstens die weichen Formen — , so zeigt
sich auch schon die Tendenz zur Rückbildung und zum Zer-
336 V- Capitel. — Geschwülste.
fall. — Eines der häufigsten Vorkommnisse in weichen Sarkomen sind
Bhitung-en. Die neugebildeten Capillaren, die erweiterten dünnwandigen
Venen liefern die Quelle der lilntung und das ergossene Blut wühlt
sich weithin in das widerstandslose Geschwulstgewebe ein. Es ent-
stehen so oft über mannsfaustgrosse Blutgeschwülste in Sarkomen ; die-
selben machen nachher die bereits pag. 100 geschilderte Verwand-
lung der Blutergüsse durch und werden zu erst chocolade- , dann
ockerfarbigen krümligen Faserstoffmassen. Eine Abkapselung der Blut-
ergüsse, wie Fig. 52 sie zeigt, findet in Sarkomen nie statt. Man hat
an eine erfolgte Blutung zu denken , wenn die Geschwulst ganz plötz-
lich, vielleicht unter spannenden Schmerzen sich wesentlich vergrössert.
Häufig führt die Blutung zu einer anderen , noch übleren Folge,
zur Verjauchung des Sarkoms. Die gespannte Haut verdünnt sich,
zerfällt nekrotisch und das Geschwulstgewebe liegt den von aussen zu-
tretenden Infectionserregern schutzlos preisgegeben. Meist drängt sich
durch die Perforationsstelle nun schwammartig das blutig imbibirte
Fig. 31G.
Q,gi_0>
Geschwulstgewebe pilzartig hervor, hier und dort gangränös zerfallend ;
eine missfarbige, übelriechende Brühe wird abgesondert , es stellt sich
Fieber ein — und eine schwere septische Infection schliesst sich dem
Geschwulstmarasmus an. Fig. 315 verjauchtes Sarkom der Mamma
nach Albert. Rasch wachsende Sarkome zeigen auch ohne Infection
oft Fieber.
Ein anderes Mal kommt es zu centralen Erweichungen , Ver-
fettungen und Cystenbildungen. Verknöcherung, Verkalkung
u. dergl. findet sich namentlich in Sarkomen , die vom Knochen aus-
gehen. Wirkliche Narbenbildung findet sich nie in Sarkomen.
Sarkome finden sich häufiger im jüngeren Lebensalter, vor-
wiegend zur Zeit der Pubertät bis zu den frühen Mannesjahren hin;
im hohen Alter, wo die Carcinome überwiegen, sind sie selten.
Als veranlassendes Moment wird oft mit grosser Bestimmtheit eine
Verletzung angegeben.
Der Nachweis von Coccidien in Sarkomen (Jürgens) , s. pag. 66 , wirft , wenn
gesichert, auf die Aetiologie der Sarkome ein wichtiges Licht. Anf pag. 66 ist auch
der Beziehung der Lymphosarkome zur Tuberculose gedacht.
Eundzellen- und Spindelzellensarkom.
337
Als endotheliale Gescliwülste beschreibt Volkmann (D. Zeitschr. f. Chir. , Bd. 41)
atypische Wucherungen von glatten EndotheUen in Bindegewebsspalträumen , Blut- und
Lymphgefässen, serösen Höhlen, Perithelien (Aussenbelag von Capillaren), die den Sar-
komen klinisch und histologisch sehr nahe stehen ; besonders häufig finden sie sich als
Gaumen- und Speicheldrüsengeschwülste.
Das Rundzellensarkom nähert sich in seinem Bau am meisten
dem Granulationsgewebe (Granulationssarkom). Nur sind die Räume,
in die die Rimdzellen abgesetzt sind, regelmässig, meist rhombisch
oder spindelförmig, seltener mehr der Kugelform sich nähernd. Sie
erinnern an die Spalten im normalen Bindegewebe. Man hat ein Netz-
werk, in dessen Maschen die Zellhaufen eingelagert sind ; diese Sarkome
haben meist einen ausgesprochen alveolären Bau.
Fig. 316 ist ein Kundzellensarkom ; nach abwärts ein derberer Bindegewebs-
streifen ; im Uebrigen massenhafte Rundzellen
(im Ganzen doch etwas grösser, als weisse Blut- '^" ' '
Zellen) , zwischen denselben Bindegewebszüge,
bald mehr, bald weniger ausgesprochen, mit
nicht besonders deutlich entwickelten Fasei'n
und hin und wieder si)indelförmige Binde-
gewebszellen. Einzelne Stellen, wo diese spin-
deligen Elemente in geordneten Reihen, Ca-
pillarendothelien gleich , angeordnet sind,
scheinen Blutcapillaren. Manche Rundzellen-
sarkome enthalten auch grössere , epithelioide
Zellen. Die Intercellularsubstanz ist eine fast
flüssige.
Rundzellensarkome sind überaus
schnell wachsende, weiche, fast fluc-
tuirende Geschwülste, mit grösster
Neigung zu secundären Veränderungen,
namentlich Blutungen und Jauchungen.
Sie machen binnen Kurzem eine Un-
zahl von Metastasen und kann die
ganze Krankheitsdauer bis zum Tode
oft nur Monate dauern. — Der Haupt-
ausgangsort ist das Knochenmark.
Die Spindelzellensarkome
stehen klinisch in der Mitte zwischen
den weichen Rundzellensarkomen und
den harten Fasersarkomen. Meist von Periost und Fascien ausgehend,
stellen sie Geschwülste dar von massig raschem Wachsthum. Selten
sind sie ganz weicli.
Sie enthalten zwischen langgestrecktem bindegewebigem Faserwerk in meist
ungefähr spindelförmigen Räumen Zellnester eingesprengt aus spindeligen Zellen mit
blassem zartem Protoplasma. Fig. 317 Spindelzellen aus einem Spindelzellensarkom
nacli Zieijler.
Wohl linden sich auch unter den Spindelzellensarkomen sehr bös-
artige Geschwäilste; doch ist der Verlauf meist ein weniger rapider und
verderblicher als bei den Rundzellensarkomen. Das Wachsthum ist
ein langsameres, sie zeigen oft lange eine sie noch von der Umgebung
trennende Kapsei und greifen erst spät auf die Nachbarschaft über.
Auch sind sie weniger oder erst spät zur Metastasenl)ihlung geneigt.
Sie verknüchcni niitiiuter (»der entarten cyst(»s. Exstirpirt kehren sie
Landerer. Allg chir. l'atlioloffie u. Therapie-. 2. Aufl.
22
ms
V. Capifel. — Geschwülste.
leicht wieder, doch lassen sie — gründlich entfernt , z. B. durch eine
Amputation — wohl radicale Heilung zu.
In den harten Sarkomen herrscht faseriges Bindegewebe vor
und die eingesprengten Zellnester — seltener Kundzellen , häutiger
Spindelzellen, am häufigsten einzelne Riesenzellen — treten der Masse
nach gegen das Bindegewebe erheblich zurück. Sie sind circumscripte
harte Knoten, die meist zeitlebens eine Kapsel besitzen und in ihrem
klinischen Verhalten dem Fibrom nahe stehen. Secundäre Veränderungen
zeigen diese im Laufe von Jahren unmerklich wachsenden „Fibro-
sarkome" kaum. — Metastasen machen diese harten Sarkome seltener
(s. pag. 340) ; dagegen können sie örtlich recidiviren.
Fig. 318 ist die Abbildung eines sehr harten Eiesenzellensarkomes vom Unter-
kiefer ausgehend, einer Epulis. — In massigen Zügen faserigen Bindegewebes mit
kräftig entwickelten Bindegewebskörperchen sind Riesenzellen eingesprengt — Riesen-
zellensarkome. Die Zellen sind — im Alkohol — geschrumpft und es entstehen so
förmliche Lücken (Hohlräume, Alveolen), worin sie liegen, doch zeigen sie sich vielfach
durch feinste protoplasmatische Ausläufer mit dem übiigen Gewebe verbunden. Die
Riesenzellen aus Neubildungen lassen sich ohne Mühe von den tuberculösen Eiesenzellen
unterscheiden; in jenen sind die Kerne über das ganze, im Uebrigen sich normal färbende
Protoplasma zerstreut. Bei diesen liegen
Fig- 318- die Kerne vorwiegend wandständig ; das
Protoplasma der Tuberculösen nimmt oft,
weil zum Theil nekrotisch, Farbstoff nicht
recht auf. Kerntheilungsfiguren lassen
sich in tuberculösen Eiesenzellen nicht
finden, wohl aber in Geschwülsten. —
In der Mitte der Abbildung sind einige
klaffende Gefässe.
Eigenthümliche Formen
von Sarkomen sind die pigmen-
tirten Sarkome — Melauo-
sarkome. Sie kommen nur
an Stellen vor, wo normal
Pigment sich findet — Haut
und Auge (Chorioidea). — Das
Pigment liegt theils in den Zellen, theils dazwischen, in Gestalt feinster
bräunlicher bis schw^arzer amorpher Körnchen.
Das Pigment, Melanin ist bald eisenhaltig (Mörner), bald eisenfrei gefunden
worden (Berdez). — ■ Es ist dies kein Beweis, dass dasselbe nicht vom Blutfarbstoff
abstamme , denn auch Neumann hat gefunden , dass bei Blutergüssen in's Gewebe der
Blutfarbstoff in einen eisenhaltigen (Hämatosiderin) und einen eisenfreien Bestandtheil
(Hämatoidin) zerfalle. Das Pigment der Melanome soll entstehen durch Thrombose in
kleinsten Gefässen, worauf die Blutkörperchen zerfallen und den Farbstoff abgeben.
Die Pigmentsarkome sind äusserst gefährliche Geschwülste, nament-
lich durch die Rapidität, mit der sie zahllose Metastasen machen. Von
145 wurden 13 geheilt, also 11% {Dieterich, LangenhecM s Areh., 35). —
Die Melanosarkome der Haut gehen öfters aus von einem Xaevus
pigmentosus, einem Pigmentmal.
Fast alle Menschen , besonders brünette , tragen diese kleinen , meist etwas vor-
ragenden warzenähnlichen Pigmentflecke hier oder dort an sich, einige oft zu Dutzenden
(Leberflecke nennt sie das Volk). Sie zeigen Wucherung der Hautpapillen und tiefere
Epitheleinsenkungen, dabei meist auch einige grössere Haarbälge und längere und
stärkere dunkle Haare. Das Pigment liegt in den Zellen und zwischen denselben. Diese
Pigmentmäler, die sonst von der Geburt an stationär bleiben, fangen mitunter plötzlich
an wund zu werden und zu wachsen. Es ist dies eine überaus bedenkliche Erscheinung
und jeder Naevus sollte , sowie er anfängt Krusten zu bilden , weit im Gesunden
Eiesenzellen- und Pigmentsarkome. 339
(2 Bogenschriitte mindestens lV-2 Cm. von den sichtbaren Grenzen) entfernt werden.
Anderenfalls kommt es, bis er zu einer pflaumengi'ossen, oberflächlich ulcerirten bräunlichen
Geschwulst herangewachsen ist, fast immer schon zu Metastasen und der Fall ist ver-
loren. — Die Metastasen erscheinen zunächst als kleine , kaum stecknadelkopfgrosse,
braune oder bräunlichschwarze Körnchen in der umgebenden Cutis , bald ist aber die
ganze Haut förmlich übersäet damit. Ebenso finden sich bei der Autopsie die Gewebe
durchsetzt mit schwarzen Geschwülsten.
Die Pigmentproduction ist oft eine so massenhafte, dass auch der Urin durch
Pigment (Melanin) schwarz gefärbt sein kann (Melanurie) (vergl. Tietze, Chir. Centr.-Bl.,
1894, Nr. 23).
Das Pigmentsarkom der Chorioidea beginnt als kleines, mit dem Augen-
spiegel festzustellendes Knötchen, das rasch den Augapfel ausfüllt, durchbricht und
die Augenhöhle als eine schwarze, lappig-knotige Geschwulst einnimmt. Easche örtliche
Wiederkehr und schnelle Generalisation sind auch dieser Art von Pigmentsarkom eigen-
thümlich.
Ob es eine gutartige Pigmentgeschwulst , Melanom i. e. S. gibt , scheint sehr
fraglich.
Den Sarkomen wird durch den Standort, auf dem sie zur
Entwicklung g-elangen, ein charakteristisches Gepräge verliehen, das sie
auch in den Metastasen festhalten.
Am Knochensystem finden sich Sarkome vom Mark (centrale)
und solche vom Periost ausgehend (periphere). Vergl. Nasse, Langen-
heck''s Arch., 39.
Die Sarkome des Knochenmarkes sind vorwiegend Rund-
zellensarkome, halten jedoch auch — wie das normale Knochenmark
— grössere epithelioide und Riesenzellen.
Nach einer unklaren Periode tief im Knochen sitzender, für „rheumatisch"
gehaltener Schmerzen , kommt Licht in die Diagnose ; entweder bricht der durch die
Öarkomentwicklung erweichte Knochen plötzlich ohne besondere Ursache durch (Spontan-
fractnr) oder der Knochen fängt an sich spindelförmig aufzutreiben. Noch kann man
bei jüngeren Leuten an eine centrale tuberculöse, osteomyelitische oder syphilitische
Knochenentzündnng denken, wenn auch das fehlende Fieber dagegen spricht ; bald lässt
sich jedoch die Verdünnung des Knochens, der zu einer dünnwandigen Blase aufgetrieben
wird, nachweisen durch das sogenannte Pergamentknittern. Die Knochenschale ist so
dünn geworden Avie Pergament und lässt sich unter knisterndem Geräusch oder Gefühl
mit dem Finger eindrücken, um dann wieder in die Höhe zu federn. Ist der Knochen
dui-chbrochen , so wird das Wachsthum ein noch viel rascheres , die Haut wird dünn,
hlass und gespannt, ein Netz ausgedehnter Hantvsnen ist über der Geschwulst zu selieii.
Dann wird auch die Haut durchbrochen und die Geschwulstmasse tritt frei zu Tage.
Jauchung und Blutungen schliessen die Scene , wenn nicht etwa die Metastasen in
inneren Organen schon vorher dem Leben ein Ende gemacht haben.
Auf dem Durchschnitt erscheinen diese Sarkome (centrale Osteo-
sarkome) als äusserst weiche, graue oder gelblichgriiue , markähnliche
Massen. Sie sind daher früher auch Markschwämme (Encephaloid)
genannt worden. Stellen, wo das Geschwulstgewebe verfettet oder
durch Blutungen verändert und zerstört ist, finden sich stets in grösserer
Anzahl. Ausser der Tendenz , zu verknöchern , zeigen sie besondere
Neigung zur Cystenbildung und sind dann oft durchsetzt von zahllosen
crbsen- bis kleinapfelgrossen, mit schleimiger, grauer oder l)lutiger Flüssig-
keit erfülhen Hohlräumen (Myxosarkom, Cystosarkom). Fig. 319 centrales
Osteosarkom des Femur mit cystöser Entartung nach Virchow.
Die Periostsarkome fangen als kleine, halbkugelige Anschwel-
lungen des Knochens an, die man umsomehr mit Pcriostiten ver-
wechseln mag. als auch die Sarkome Neigung zur Verknöcherung
haben. Namentlich die derberen Bindegewebsbündel zeigen häufig Ver-
knöcherung und 80 gewinnt ein macerirtes Periostsarkom oft das An-
22*
340
V. Capitel. — Geschwülste.
sehen eines dem Knochen aufsitzenden stalaktitenartigen Osteophyts
(Fig. 320, Periostsarkom des Feniur nach Virchow). Ilir Wachsthuni
ist ein langsameres.
Den Fibromen in seinem klinischen Charakter nahestehend ist das
hauptsächlich vom Ober- und Unterkiefer ausgehende Riesen zellen-
sarkom (Epulis) , s. pag. 338. Es bildet sehr langsam wachsende,
knorpelharte, schmerzlose Anschwellungen der betreifenden Knochen;
Recidive folgen der Exstirpation häufig. Innere Metastasen sind nicht
so selten, als man früher annahm (22-7o/o nach Nasse).
Die Knocliensarkome sind in ihrer Malignität schwer abzuschätzen, wohl gilt auch
hier der Satz: je zellenreicher, je kleinzelliger, umso ungünstiger, doch sind selbst
Fig. 319.
Fig. 320.
histologisch ganz gleichartige Sarkome an verschiedenen Standorten von ganz verschie-
dener Malignität. Die iniiltrirten Marksarkome der Epiphysen sind von allergi'össter
Malignität, die Riesenzellensarkome bleiben, namentlich so lange sie den Knochen noch
nicht durchbrochen haben (schalige Eiesenzellensarkome) , relativ gutartig und sind in
einzelnen Fällen sogar durch Ausschaben dauernd geheilt worden ; meist genügt hier eine
Resection. Die Ektasie der Hautvenen (Thrombose der tiefen Venen durch Einwachsen von
Geschwulstmassen ?) , das Verwachsen mit den Weichtheilen sind ungünstige Zeichen.
Nur die langsam wachsenden Riesenzellensarkome können mit Erhaltung der
Extremität durch Resection geheilt werden (Bosenherger, Krause), sonst ist hohe Am-
putation oder Exarticulation geboten ; ergriffene Muskeln sollen ganz, mit ihren Ansätzen
entfernt werden (v. Bergmann) ; die Recidive beginnen meist in den Weichtlieilen ; nach
dem ersten Jahr kommen selten noch Recidive.
Die Sarkome der Fascien sind meist Spindelzellensarkome von
massiger Malignität; doch kommen auch hier bösartigere Formen vor.
Dasselbe gilt von den Sarkomen der Haut (s. pag. 338).
Knochensarkome. Drüsensarkome.
341
In der Haut finden sich die zu den Sarkomen gehörenden Endotheliome {H. Braun,
Langenbeck's Arch., -43). Zwischen den Bindegewebsfibrillenbündeln finden sich Wuche-
rungen der Lymphendothelien , bald nur wenige platte Zellen , bald in Gestalt cylin-
drischer, theilweise hyalin gewordener Stränge (daher Cylindrome genannt). Sie recidiviren
leicht (daher auch recurring fibroi'd i. e. S. genannt) , und werden deshalb leicht mit
Hautkrebsen verwechselt ; sie inficiren aber die Lymphdrüsen nicht und machen selten
Metastasen.
Dann finden sich Sarkome in Drüsen, vorwiegend in Brustdrüse,
Speicheldrüse und Hoden, langsam wachsende Geschwülste, mit wenig
Neigung zur Metastasenbildung,
Mikroskopisch sieht man Wucherungen von Drüsengewebe in der Art von
Adenomen, dazwischen aber das Bindegewebe sarkomatös entartet, d.h. Einlagerungen
von Zellnestern in das Zwischengewebe und dieses oft noch zellig infiltrirt. In manchen
Fällen gewinnt diese sarkomatöse Entartung so sehr das Uebergewicht, dass von Wuche-
rung des Drüsengewebes fast nichts mehr zu sehen ist und die Geschwulst erscheint
Fig. 321.
Cystosarcoma mammae proliferum phyllodes
(nach Albert).
dann au manchen Stellen als reines Rundzellen-, Spindelzellen-, selbst Riesenzellensarkom
und nähert sich auch in ihrem klinischen Verhalten diesen Geschwulstformen. Andere
Male tritt die unregelmässige Drüsenwucherung mehr hervor, es sammeln sich Secret-
massen an, welche durch die verzogenen Ausführungsgänge nicht entleert werden können,
es bilden sich Hohlräume, erfüllt mit zäher, meist gelblicher oder grünlichbrauner eiweiss-
reicher Flüssigkeit; an den Wänden dieser Hohlräume erheben sich neue unregelmässige
Wucherungen, die sich wieder verzweigen und so entstehen höchst eigenartige Bildungen :
(!ystosarcoma proliferum ))hyllodes mammae [Fig. 321 , nacli Alherf]. Siehe auch
unter Adenom.)
Zu den allersclilinnnstcn Geschwülsten gehören die Lympho-
sarkome. Vorwiegend von den Lymphdrüsen des Halses ausgehend,
bilden sie überaus schnell wachsende, knollige, weiche, saftreiche, auf
dem Durchschnitt wie Hirnniark aussehende Geschwülste; sie greifen
rasch auf die Inigebung über und verlöthcn mit ihr, verwachsen auch
früh mit der Haut und führen oft schon, ehe es vaw Metastasirung
kommt, durch rasches Siechthum zum Tode.
342
V. Capitel. — Geschwülste.
Fig. 322 Lymphosarkom des Halses von einem 21jälirigen Kranken,
der während der Operation gestorben.
Mikroskopisch erweisen sie sich aus massenhaften lyniplioidcn Zelh;n zu-
sammengesetzt, die das Gesichtsfeld so völlig erfüllen, dass nur bei sehr dünnen
Schnitten oder in ausgepinselten Präparaten ein äusserst dünnes und zartes Reticulum
zu sehen ist. Lymphosarkome finden sich besonders bei gleichzeitig bestehender Tuber-
culose {Fischer, Zeitschr. f. Chir., Bd. 36, Lit.). Auch in der Geschwulst hat man Tuberkel-
bacillen gefunden (Weigert).
Die Exstirpation gibt trostlose Resultate. Da die Geschwulst
überall mit den Nachbargeweben verlöthet ist, gelingt die Ausschäl iing
oft nicht oder das Recidiv folgt auf dem Fusse nach. In manchen
Fällen soll die Arsenbehandlung genützt haben (10 Tropfen Sohitio
arsenicalis Fowleri pro die , steigend bis circa 30 Tropfen und örtlich
2 — 4 — 6 Tropfen injicirt). Noch besser ertragen sich Pillen (0"004 Acid.
arsenicos. pro Pille, 3 — 4mal täglich). Die auf Arsenik reagirenden Fälle
scheinen tuberculöser Natur zu sein.
Das Chlorom, eine an der Schädelbasis und der Thränendrüse vorkommende
Geschwulst von grüner Farbe, gehört klinisch und histologisch zu den Sarkomen. Die
eigenartige grünlich-gelbe Färbung beruht auf der Einlagerung feinster Fettkörnchen.
Fig. 322.
Gerade auf dem Gebiete der Sarkome kommt uns die ungenügende
Kenntniss der Aetiologie besonders häufig und drückend zum Bewusstsein.
Epitheliale Neubildungen.
Gutartige epitheliale Neubildungen. — Papillome der Haut und Schleimhäute.
Warze und Condylom. — Adenome der Haut, Schleimhäute und Drüsen. —
C y sten.
Bei epithelialen Neubildungen tritt als weiteres wesentliches
Element Wucherung des Epithels hinzu. Natürlich muss auch das Binde-
gewebe, die Ernährungsschicht des Epithels entsprechende progressive
Veränderungen zeigen und so bleibt es für viele „epitheliale" Neubil-
dungen fraglich , ob die Wucherung des Epithels das Erste oder die
bindegewebige Neubildung das Wichtigere ist. (S. auch bei Carcinom.)
Ein Theil der epithelialen Neubildungen steht zweifellos zur Entzündung
in innigem genetischem Zusammenhang (Condylome).
Die epithelialen Neubildungen sind zum Theil Uebertreibungen
der Papillarbildungen von Haut- und Schleimhäuten — Papillome,
Lymphosarkome. Paijillome. 843
Warzen, Condylome u. dergl. Zum Theil sind sie Wucherungen oder
Entartungen epithelialer Drüsenbildungen — Cystome, Adenome der
Haut, der Schleimhäute und der Drüsen. Diese Bildungen können in
ihrer in die Augen fallenden Aehnlichkeit mit normalen Formen noch
als „typische" Neubildungen bezeichnet werden. Andere dagegen lassen,
besonders in ihren späteren Stadien, kaum noch Aehnlichkeit mit den
normalen Bildungen des Mutterbodens erkennen — atypische Neo-
plasmen oder echte Carcinome, Epithelialkrebse der Haut^
Drüsen u. s. w.
Die typischen epithelialen Neubildungen sind als gutartig zu be-
zeichnen ; die atypischen sind ausnahmslos bösartig. Die typischen
können in die atypischen übergehen oder eine temporäre Vorstufe der
atypischen darstellen.
Die Papillome entstehen durch Vergrösserung der normalen
Papillen und Wucherung der diese deckenden epithelialen Schichten.
Die Papillen können einfach in die Länge wachsen, oder es können von
den Papillen seitlich weitere papilläre Wucherungen ausgehen, so
dass auf dem Längsschnitt dendritische oder blattartige Formen zum
Vorschein kommen. Den Typus der Papillombildung geben Fig. 324
und 326. Fig. 326 Papillom der Blase: centrale Gefässschlingen, meist
senkrecht aufsteigend, umgeben von etwas Adventitia capillaris, darum
Bindegewebe — bald weicher und saftreicher (Schleimhäute), bald
derber und faseriger (äussere Haut) ; über dieser bindegewebigen
Matrix nun eine mehrschichtige Epithellage, die an der äusseren Haut
in ihren peripheren Schichten in gewöhnlicher Weise verhornt (siehe
Fig. 324, spitzes Condylom der Haut). Der Grund der Papillome ist
meist etwas blutreicheres Bindegewebe, mit reichlicheren weissen Blut-
zelleu durchsetzt. Auf diesen Typus lassen sich eigentlich alle papillären
Neubildungen zurückführen.
Die Papillome der äusseren Haut sind bekannt als „Maler";
braune, über die Umgebung etwas erhabene, oft mit grossen dicken
Haaren besetzte Flecken , die schon mit blossem Auge einen deutlich
papillären Bau zeigen — Naevus pigmentosus. Mikroskopisch er-
weisen sie sich als aus grossen Pai)illen mit weiten Haarbälgen u. s. w.
zusammengesetzt. In den tiefen Zellen des Rete Malpighi liegt körniges
Pigment. Die Möglichkeit ihres Ueberganges in sarkomatöse Geschwülste
ist pag. 338 hervorgehoben. Ihre Exstirpation mit 2 Bogenschnittchen,
wenn nöthig mit localer Anästhesie , ist deshalb stets gerechtfertigt.
Hierher gehören auch die Warzen (Verrucae). Ihre Bauart ist
ganz die eines dendritisch verzweigten, mit dicker Epithellage bedeckten
Papilloms; ihr mikroskopisches Aussehen ist dem in Fig. 324 abge-
bildeten spitzen Condylom durchaus ähnlich. Die Warzen sind meist
multipel , besonders bei jungen Leuten in den Pubertätsjahren. Sie
gelten für infectiiis. !Mit Messer oder Scheere entfernt kehren sie leicht
wieder. Am besten betu))lt man sie wiederholt mit Essigsäure (Eis-
essig oder Monochloressigsäure u. dergl.) ; Salpetersäure führt öfters zur
Eiterung.
Die S]>itzon Condylome sind ähnliche Bildungen. (Die „breiten"
Condylome sind hckainitlich flache. sy])hilitische Haut- d'ler Schleim-
344 V. Caiiitel. — Geschwülste.
hautinfiltrate entzündlicher Natur, allerdings meist auch mit t^pithel-
wucheruDg und massenhafter Epithelabstossung.) Fig. 823 gibt Gruppen
von spitzen Condylomen von der Vorhaut, bei Vorhautverengerung, ohne
Gonorrhoe, mitsammt der Vorhaut entfernt.
Fig. 324 ist die mikroskopische Darstellung eines spitzen Condy-
loms (nach Kaposi). In der Mitte hat man die Blutgefäss- und saft-
reiche Bindegewebsschichte (a) in Form einer lang ausgezogenen Papille,
darüber Epithel ((i), dessen Hornschichte (c) verhältnissmässig reducirt
erscheint.
Die Condylome sind Begleiterscheinungen von Entzündungen ihres
Standorts, namentlich finden sie sich bei Gonorrhoe auf der Eichel-
oberfläche , an den Schamlippen , um den After herum. Essigsäure-
ätzungen, Ueberschläge mit 4 — 6^/0 Lösungen von essigsaurer Thonerde
(Aluminium aceticum) sind nützlich. Breite Rasen von spitzen Condy-
lomen (weibliche Genitalien) trägt man mit Pincette und krummer
Scheere ab und brennt den Grund mit dem Platinbrenner , nachher
wieder Umschläge mit essigsaurer Thon-
^'^- ^^^- erde oder Salben aus Sadebaumspitzen und
Alaun (Lesser).
Die Hauthörner sind rein epitheliale
Bildungen. Auf blutreichem Grund mit
^'^^,:^m~^!Bmmi'W/ry . ^.^£^ starker Papillarentwicklung wachsen oft
mehrere Centimeter lange, meist gewundene
Hörner hervor , aus verhornten Epithelien
bestehend ; sie sind gewöhnlich plattgedrückt
und gerieft. Nur die Exstirpation gibt
dauernde Heilung. Oft entarten auch Nägel, namentlich an den Zehen,
in ähnlicher Weise ; sonst sitzen die Hauthörner meist am behaarten Kopf.
Das Molluscum contagiosum findet sich auf der Haut in grosser Anzahl als
linsen- bis kirschgrosse, blassgrau röthliche, weiche Geschwülstchen, dem Fibroma moUuscuni
ähnlich (flache Kegel, meist mit einer Delle auf der Spitze). Sie bevorzugen Stellen, wo
gegenseitige Berührung von Hautflächen vorkommt oder die viel betastet werden. Gesicht,
Hände, Arme, Brust. Beine, Genitalien, und finden sich fast nie auf dem Rücken. Aus der Spitze
lässt sich ein comedonenartiger Kern hervordrücken. Mikroskopisch zeigt sich die Geschwulst
aus einer Bindegewebswucherung bestehend, eine centrale, verzweigte Höhle enthält Epi-
thelien und glasige kernlose Zellen, die Farbstoffe begierig annehmen, die „Möllns cum-
körperchen" (Fig. 327 nach Birch- Hirschfeld), links unten bei stärkerer Vergrösse-
rung zwischen Epithelien die MoUuscumkörperchen, Zelleneinschlüsse (ähnlich Fig. 295),
die die Kerne verdrängen und das Protoplasma substituiren. Sie werden von Boech
(Dermatolog. Congr. 1892), Neisser u. A. für Psorospermien (einzellige Coccidien) gehalten,
während Petersen, Israel {Langenbeck's Archiv, 43) ihren parasitären Charakter leugnen.
Bei uns in Deutschland kommt das Molluscum contagiosum wenig vor, häufig ist es in
England. Aetzung des Centrums — mit rauchender Salpetersäure — oder Auskratzen
mit scharfem Löfl'el genügen zur Entfernung.
Von den ganz in der Art der Condylome der Haut gebauten
Papillomen der Schleimhäute sind Paradigmen in Fig. 325 und
Fig. 326 dargestellt. Fig. 325, ein Papillom der Harnblase , das im
Fundus der Blase mit schmälerer Basis aufsitzt und sich buschartig in
den Körper der Blase hineinerstreckt. Fig. 326 stellt einen mikro-
skopischen Schnitt von derselben Geschwulst dar. Auf der normal ge-
bliebenen Muskelhaut sieht man die gefässreiche Submucosa, mit reich-
licheren weissen Blutzellen durchsetzt. Von ihr erheben sich langgezogene
Bindegewebspapillen , in der Mitte ein Gefäss und reichliche weisse
Warzen. Condylome. Schleimhautpapillome.
345
Blutkörperchen, darüber die mehrschichtige, zum Theil in Abstossung
begriffene Epithellage.
Die Papillome, namentlich des Darmes, bleiben oft ganz syraptom-
los, andere dagegen, wie die (meist mehr flachknotigen und harten)
Papillome der Stimmbänder, machen schwere örtliche Störungen. Die
Fig. 324.
teil**;
überaus weichen und zerreisslichen Papillome der Harnblase verrathen
sich oft durch äusserst reichliche, schliesslich zur Erschiipfung führende
Bla.senblutuiigen , ebenso die Mastdarmpapillonie. Meist ist zugleich
Sclileimliautcatarrh vorhanden. Die ßeliandhnig besteht in Exstirpation
und ('auterisation des Onindes.
346
V. Capitel. — Geschwülste.
Fig. 325.
Die Adenome lassen meist den ßau der Drüse, von der sie
ausgehen, noch deutlich erkennen. Doch sind die DrüsenschJäuclie
grösser, länger, massiger; die Regelmässigkeit in der Anordnung der
Theile, das Verhältniss der drüsigen Theile /u den Ausführungsgängen
ist bei ihnen nicht so durchsichtig; functionelle Leistungen und Ver-
änderungen werden an ihnen nicht mehr wahrgenommen und unter-
scheiden sie sich hiedurch von der echten Hypertrophie der Drüsen, der
sie sonst anatomisch sehr nahe stehen. Während die Grenze mancher
Adenome gegenüber den normalen Gleweben nicht immer scharf ist, gibt
es wieder andere , die sich in dem Gewebe , wo sie sitzen , z. B. der
Brustdrüse , als deutliche Knoten durchtasten lassen und sogar eine
Art Kapsel besitzen. Sie können durch Druck das übrige Gewebe zur
Atrophie bringen.
Die Adenome sind an sich gutartige Geschwülste. Wie aber die
Grenze gegen die echten Drüsenhypertrophien hin eine nicht scharfe
ist, so ist es auch den bösartigen Ge-
schwülsten gegenüber; sie gehen sehr
leicht in Carcinome über oder viel-
mehr ein Theil der Carcinome weist
in seinen ersten Stadien adenoma-
tösen Bau auf. Manche Geschwülste
zeigen auch an der einen Stelle den
Bau des Adenoms, an der anderen
den des Carcinoms. Wegen dieser
zweifelhaften klinischen Stellung ver-
langt jedes Adenom, wenn es nicht
ganz stationär bleibt, dringend rasche
Exstirpation.
Die Adenome der Mamma
entstehen zunächst als fleischfarbige
harte Knoten und sind bald einzeln,
bald in grosser Anzahl vorhanden.
In letzterem Fall ist die Krankheit
auch oft als diffuse knotige Hyper-
trophie be eichnet worden; entschieden mit Unrecht, denn die echte
Hypertrophie (Fig. 328 nach Albert) beruht auf gleichmässiger Ver-
grösserung der Brustdrüse, ist meist doppelseitig und führt zu enorm
grossen Geschwülsten. Mikroskopisch ist jedoch stets ein deutliches
und typisches Drüsengewebe zu erkennen (Schüssler ^ Langenbeck's
Arch., 43).
Die Entstellung der wahren Adenome mag Fig. 329 klar machen.
Bei a und b finden sich epitheliale Wucherungen in die Höhlung eines erweiterten
Ausführungsganges herein, es handelt sich um zapfenförmige Wülste (a) , zwischen
denen entsprechende Einsenkungen bleiben, die sich schliesslich, wenn die Zapfen
mit ihren Gipfeln sich aneinander legen , zu förmlichen abgeschlossenen Räumen (ej
umbilden können. Diese können durch Verhaltung von Secret zu förmlichen Cysten
■werden. An anderen Stellen (bj werden diese Wucherungen zu fast gestielten Ex-
crescenzen, die in die Ausführungsgänge hineinwuchern und diese zu unregelmässigen
Spalten verziehen. Das Gewebe dieser Excrescenzen kann seinerseits (bei c und noch
deutlicher bei d) cystös entarten, so dass auch dadurch wieder Gelegenheit zur Er-
weichung und Cystenbildung gegeben ist. Um diese einem Ausführungsgang entsprechende
Wucherung herum lagert derbes gefässarmes Bindegewebe, die der ganzen Neubildung
Adenome der Mamma , dei' Ovarien.
347
fibromartige Härte verleiht. Wegen dieser Eigenthümlichkeiten führt die Geschwulst auch
die Namen Fibroadenoma proliferum, Cystoadenoma u. dergl. Der Tumor ist meist gut
verschieblich, oft fast mit dem Finger aus der Drüse auszuschälen {Schimmelhusch,
Langenheck' s Ärch, 44). Die Entstellungsweise ist unbekannt; meist sind jüngere Frauen
befallen.
Manche Aebnlichkeit in der Entstehungsweise mit den Mamraa-
adenomen zeigen die Adenome der Ovarien, auch Cvstadeuome
oder schlechtweg Cystome genannt. Im Gegensatz zu den einfachen
Cysten des Ovariums (Hydrops folliculi Graafii, s, pag. 354) und des
Parovariums handelt es sich hier um wirkliche Neubildungen vom
Charakter des Adenoms.
Fig. 326.
Es bilden sich epitbelialc und bindegewebige Productionen , an-
nähernd vom Typus normaler Bildungen, Der Ausgangspunkt derselben
scheinen die normalen Eischläuclie des Ovariums zu sein ; indem diese
wuchern, entstehen cpitlielialc Wulstungen und dementsprechend Ein-
senkungen dos Epitbcls. wie in Fig. 329. Diese schnüren sich ab und
bilden kugelige abgeschlossene Räume, in deren Inneres seitens der
Epithelien schleimige Massen sich absondern und dann den Raum zur
Blase, Cyste auftreiben. Auf der epithelialen Innenfläche dieser Blase
geben nun die epitbclialen Wuehcnmgen , Wulstungen. Einsenkungen,
Abscliniirungen aufs Neue voi- sieb, und so ilndcn sich Cysten in Cysten
eingeschachtelt; die einzelnen von Mannsk;»pfgrösse bis herunter zu
mikroskopisch eben walirnebni])aren llolilijiunien. Man nennt diese
348
V. Capitel. — Geschwülste.
in einandei- eingeschachtelten Cystenbildungen auch multiloculäre
Ovariencysten.
Fig. 330, "Wand einer multiloculären Ovariencyste bei .schwacher Vergrösserang.
In dem unten abgerissenen Gewebestrang, der ein Septum der Geschwulst darstellt,
sieht man die Entwicklung junger Cystchen bis zu Stecknadelkopfgrösse herunter.
Diese sind mit einer — durch den Alkohol geronnenen — eiweissreichen Flüssigkeit
gefüllt (Lupenvergrösserung). Fig. 331 ein Stück derselben Cyste bei starker Ver-
grösserung, und zwar ein Stück schmaler Zwischenwand zwischen zwei Cysten. Ein
zellem-eiches bindegewebiges Stroma trägt epithelialen Ueberzug, dessen oberste Lage
den Charakter schönster Cylinderepithelien tragen, es sind Flimmerzellen (im Holzschnitt
nicht deutlich zu erkennen). In der Mitte ist ein Gefäss schräg getroffen. Nach rechts
ein kleiner Hohlraum, dessen Inhalt — Cylinderzellen — ausgefallen sind. Dieser Hohl-
raum ist vermuthlich die quergeschnittene Spitze einer zapfenartigen Einstülpung , wie
man solche auch an verschiedenen Stellen der epithelialen Fläche sieht. Durch diese Ein-
senkungen, welche sich schliesslich nach oben abschliessen, entstehen neue Cysten. Die
Fig. 327.
Durchschnitt eines Epithelioma contagiosum der menschlichen Haut.
Aehnlichkeit dieser Vorgänge mit den in Fig. 329 dargestellten Processen in der Mamma
liegt auf der Hand.
Diese Geschwülste werden gewöhnlich Cystoma ovarii proliferum
(multiloculäre Ovarialcyste, Colloidgeschwulst , Myxoidcystom , Cystoid,
Adenoma cylindrocellulare u. s. w.) genannt. Sie sind vielfächerige, un-
regelmässig knotige, derbwandige, meist deutlich fluctuirende Geschwülste,
langsam wachsend und nicht schmerzhaft. Ihr Inhalt ist ein dicker,
zäher, leimartiger Schleim, grünlichgrau oder chocoladenfarbig, oft mit
getrübten schleimigen Flocken und Fetzen gemischt. Er verdankt seine
Entstehung wahrscheinlich der colloiden Entartung oder Absonderung
der Cylinderzellen seiner Wand. Die Annahme , dass es sich um
coUoide Umwandlung des bindegewebigen Stromas handle , ist weniger
wahrscheinlich. Sie kommen vorwiegend in jüngeren und mittleren
Jahren vor.
Cystoma. Cvstoma ovarii.
349
Eine höchst merkwürdige Abart dieser Geschwulst ist die papilläre Form —
Cystoma proliferum papilläre. — Mikroskopisch vom gewöhnlichen Cystom
kaum zu unterscheiden, bietet es makroskopisch und klinisch wesentliche Besonderheiten.
Die Wucherung der Epithelieu bietet einen mehr warzigen Charakter und diese AYarzen
vermögen die Wand der Cyste, indem sie von der einen Seite gegen die andere heran-
wachsen, zu durchbrechen. Diese warzigen Wucherungen erscheinen frei auf der Aussen-
fläche, verbreiten sich der Fläche nach auf dem Peritoneum und dieses kann gleich-
falls eine warzige Veränderung erleiden. OlsJiatisen hat bei einer Function eine Ver-
impfung in die Stichwunde der Bauchwunde und Bildung Avarziger Neubildungen an
dieser Stelle gesehen. Metastasen macht diese papilläre Form nicht ; vermöge ihres in-
fectiösen Wachsthums in der Fläche und ihres Uebergreifens auch auf andersartige
Gewebe steht die Geschwulst aber doch schon an der Grenze der bösartigen Neu-
bildungen.
Die einzig genügende Beliaudliing der Cystomc ist die Exstir-
pation. Die Function ist bei den niehrkaninierigen Cysten erfolglos und
auch bei einkammerigen Cysten gefährlicher, als die Exstirpation.
Aehnliche Verhältnisse bietet die Schilddrüse. Auch hier ent-
stehen durch Wucherung, Thcilung und Abschnürung der Drüsenschläuche
und sccundäre Veränderungen, besonders Coiloideutartung (vergl. i)ag. 4b
S50
V. Capitel. — Geschwülste.
und Fig. 1 Ö) , Neubildungen , die von dem normalen Typus der Drüse
oft nur wenig abweiclien. Bald sind es circumscripte braunrothe, festem
Fleische älmliclie Knoten, die von der übrigen Drüsenmasse durch eine
Art Kapsel abgetrennt und sich aus derselben ausschälen lassen
(„Enucleation" der Kropf knoten); bald kommt es zu einer mehr diffusen
Anschwellung der ganzen Drüse, doch lässt auch hier die Entstehung
des Tumors aus einzelnen Knoten und Knötchen meist sich noch er-
kennen — Struma parenchymatosa. Mit dem Fortschreiten der
Verflüssigung der zu Anfang Sagokörnern ähnlichen Colloidmassen
kommt es zur Bildung förmlicher colloider Cysten, die durch Druck-
schwund der Zwischenwände zum Theil in einander fliessen und mehr-
Fig. 329.
h
.'? :-
Ic
7/
kammerige, schliesslich selbst einfache Cysten bilden, Struma cystica.
Ihr Inhalt ist ein zäliflüssiges, grünliches Colloid, das auch (durch Ver-
letzung) einen blutigen Charakter annehmen kann.
Die Scliilddrüsenadenome „Kröpfe" sind fast die einzigen Adenome, über deren Ent-
stehungsursaclien uns Einiges bekannt ist. Ein Theil derselben hängt mit dem Geschlechts-
lehen des Weibes zusammen, schwillt mit der Menstruation an, um nachher, aber nur zum
Theil, wieder abzuschwellen. Andere Adenome sind an gewissen Orten endemisch, und
zwar sind es (nach Bircher) gewisse Meerwasserformationen und oft ganz beschränkte
Localitäten, wo der Kropf auftritt, während z. B. die Süsswasserformationen der deut-
schen Tiefebene ganz frei davon sind. Kodier (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 34) kommt
zu fast entgegengesetzten Anschauungen über den Einfluss des Bodens auf den Kropf,
besonders dass die Süsswasserformationen nicht frei von Kropf sind. Das Volk beschul-
digt mit grosser Einmüthigkeit das Trinkwasser als Ursache. Ob es der Kalkgehalt des
"Wassers oder der Gehalt desselben an Mikroben (Bircher) ist , darüber ist man erst
recht im Unklaren. Bekanntlich kommen zugleich mit der Entartung der Schilddrüse
häufig — keineswegs immer — geistige Störungen, Idiotie und allgemeine Ernährungs-
Schilddrüsenadenome. Kropf.
351
und Wachsthumsstörungen vor, die man als Ki'etinismus zusammenfasst. Das ende-
mische Vorkommen des Kretinismus fällt örtlich mit dem des Kropfes oft zusammen.
Doch leugnet Bircher den Zusammenhang (Lubarsch und Ostertag 1896). Gerade so,
wie bei der Entartung der Schilddrüse diese höchst eigenartigen Störungen des Allge-
meinbefindens eintreten, stellen sich ähnliche Veränderungen ein, wenn die ganze Schild-
drüse operativ entfernt wird, dann meist mit allgemeinem Myxödem (siehe Krankheiten
der Haut). — Cachexia strumipriva.
Die Adenome der Schilddrüse bieten insoferne einen weiten Ausblick aiaf die
Pathogenese der Geschwülste, als wir sehen, dass äussere Einflüsse nicht, wie wir sonst
zu beobachten gewohnt sind , zur Entzündung führen , sondern zur Geschwulstbildung
— wenigstens was wir Geschwulst nennen; dass äussere Einflüsse zur Proliferation der
Gewebe Anlass geben können, dass sie den Zellen des Körpers den Eeiz zur Theilung
und Vermehrung zuführen können, dass sie Zellen wachsen lassen können.
Interessant ist auch ferner, dass ein Theil der Schilddrüsenadenome
durch Jod (1 — 5 Grni. Jodkali täglich) beeinflusst wird. Früher machte
man viel parenchymatöse Einspritzungen von Jodtinetiir in die Tumoren ;
sie sind verlassen wegen der Gefahr, dass man in eine Vene sticht und
von dieser aus rasche Blutgerinnung mit Collaps, selbst den Tod erlebt.
Fig. 330.
Auf Jod nicht reagirende Kropfknoten werden mögliehst stumpf aus
der Drüse ausgeschält (enucleirt), wobei stets ein Rest der Drüse zur
Vermeidung der Cachexia strumipriva zurückbleiben soll.
Ueberaus wichtig ist die Entdeckung Baimtann's, dass die Schilddrüse regelmässig
ei)ie Jodverbindung (Jodothjain oder Th3'reojodin genannt) enthält. Sowohl durch die
Schilddrüsenfütterung (^y:^r»>/.s>i, sei es in Form von wirklicher Schafschilddrüse, oder von
comprimirten Schilddrüsentabletten, alkoholischen Auszügen oder besonderen Präparaten,
wie Thyraden u. dergl. , als durch Jodverabreichung (besonders zweckmässig Adelheid-
•luelle täglich V:; Flasche) wird also dem Organismus der Stofi" zugeführt, dessen Fehlen
die Wucherung der Schilddrüse zu veranlassen scheint. Die Schilddrüsenpräparate äussern
in grösseren Dosen ungünstige Nebenwirkungen, besonders auf das Herz. Mit dem Aus-
setzen der Verabreichung von Schilddrüsensubstanz kommt es in einem grossen Theil
der Fälle zu Rückfällen. Das Volk warnt in Kropfgegenden vor dem Genuss unge-
kochten Wassers.
Die Adenome der Schilddrü.se sind an sich gutartig, wenngleich
sie durch Compression der Luftröhre natürlich schwere örtliche Folgen
haben können; sie recidiviren nicht, wenn auch bei Fortbestehen der
Ursache in den zurückgelassenen Theilen der Drüse erneute Adenom-
bildunff eintreten kann.
352 ^- Capitel. — Geschwülste.
Auf der äusseren Haut kommen gleichfalls Adenome vor,
ausgehend von Talg- und Schweissdrüsen. Jene scheinen bei der Acne
rosacea mitbetheiligt zu sein. Diese bilden knollige Geschwülstchen,
meist weich und dem Fibroma molluscum ähnlich , die oft recht
schmerzhaft sind und als Tubercula dolorosa fs. pag. 329j imponiren.
Mikroskopisch erweisen sie sich als aus einem Convolut von .Schweiss-
drüsen zusammengesetzt, mit den charakteristischen gewundenen
Drüsengängen.
Auch auf Schleimhäuten finden sich Adenome, gewrjhnlich in
Form polypenartiger Wucherungen. Mikroskopisch liegen Drüsenneu-
bildungen vor, in der Art der vorhandenen Schleimhautdrüsen, meist in
Form von Einstülpungen und Schläuchen mit schönen Cylinderzellen.
Sonst finden sich noch Adenome in der Leber, den Hoden,
Parotis u. s. w.
Cysten, Hohl- oder Sackgeschwülste, sind pathologische Hohlräume
mit einer meist selbständigen Wandung, gefüllt mit flüssigem oder
halbflüssigem, breiigem Inhalt. Der grösste Theil der Cysten ist epithe-
lialer Natur. Der Hohlraum kann ein vorgebildeter oder ein neuge-
bildeter sein. Bei gewöhnlich langsamem schmerzlosem Wachsthum
bilden sich rein kuglige oder durch Druck und Spannung von Haut
und Fascien leicht abgeplattete Geschwülste, die fast immer verschieb-
lich sind und oft Fluctuation darbieten. Die Diagnose ist daher nicht
leicht zu verfehlen, wenn auch gelegentlich Verwechslungen, mit Fett-
geschwülsten, Gummata u. dgl. vorkommen. Spätere Veränderungen können
die Diagnose erschweren , so wenn Verkalkung oder Verknöcherung
in der Cysten wand eintritt , oder wenn die Geschwulst sich , etwa
im Anschlüsse an eine Verletzung , entzündet und erweicht. Dann
kann die Geschwulst einem Abscess ähneln und nach dem Aufbruch
bleibt oft ein dauerndes Hohlgeschwür, eine „Fistel" zurück, die als eine
auf rein entzündlichem Wege entstandene Fistel erscheinen kann.
Was man unter die Cysten rechnen will, ist keineswegs feststehend; und wenn
man diese Gruppe nach rein ätiologischen Gesichtspunkten sichten wollte, würde sie sehr
zusammenschrumpfen; ein Theil der Bildungen, die man früher als Cysten bezeichnete,
ist heute bereits aus dieser Rubrik ausgeschieden. — Virchow unterschied von den
Flüssigkeitsansammlungen in präformirten Hohlräumen 3 Hauptgruppen — Ex-
tra vasationscysten, Exsudationscy sten und Re tentionscysten. Von den
Cysten in neugebildeten Hohlräumen werden 2 Gruppen aufgeführt — Erwei-
chungscysten und wirkliche Geschwülste, in deren Innerem es regelmässig zur Cj-sten-
entwicklung kommt, wirkliche Neubildungen, in deren Wesen es liegt, cystöse Räume in
sich zu bilden, genuine Cysten oder echte Cystome.
Von diesen Bildungen sind die auf entzündlichem Wege oder durch Störungen
der Entwicklung entstehenden Exsudationscysten auszuscheiden, wie die chronisch
entzündlichen Ergüsse in die Scheidenhaut des Hodens (Hydrocele) , die cystenartigen
Ausstülpungen der Gehirn- und Rückenmarkshöhle (Hydromeninx, Spina bifida, Menin-
gocele), die Wasseransammlungen der Schleimbeutel (Hygrome) und die Ausdehnungen
der Sehnenscheiden (Ganglien). Es sind dies Cystenbildungen in Geweben der Bindege-
websgruppe (s. bei Krankheiten der Sehnen). Lücke suchte diese letzteren beiden als
Abschnür ungscysten in einer Gruppe für sich zu lassen.
Ebenso wird man es mit den Extravasationscysten halten , den Folgen von Ver-
letzungen oder Entzündungen : ein abgekapselter, flüssig gebliebener Bluterguss oder ein
Bluterguss in einen Hohlraum, z. B. die Scheidenhaut des Hodens (Hämatocele) oder in
einen durch entzündliche Verlöthung abgeschlossenen Raum, z. B. den Don glas' sehen Raum
(Haematocele retrouterina ) sind nicht als Cysten anzusprechen.
Cysten. Atherome. 353
Eine Art von Blntcysten, vermutlilicli aus Gefässverletzuug hervorgegangen,
ist pag. 332 beschrieben und in Fig. 313 abgebildet. — Ebenso kann der Inhalt anderer
Cysten durch Bluterguss ein blutiger werden, bald durch Verletzung, bald durch Stauung,
wenn durch Verlagerung der Cyste die abführenden Venen verlegt oder zugedrückt und
zugedreht werden; dies kommt namentlich bei gestielten Cysten (Ovarium) nicht so
selten vor — Stieldrehung oder Torsion.
Die Retentionscysten, wo die normale Absonderung einer
Drüse oder eines Hohlraumes durch eine entzündliche oder traumatische
Verengerung oder Verschliessung des Ausführungsganges zurückgehalten
und der Hohlraum zur Geschwulst ausgedehnt wird , gehören nicht zu
den echten Geschwülsten oder Neubildungen; nur aus praktischen
Gründen mögen sie hier besprochen werden. Diese Geschwülste sind
namentlich häufig an den drüsigen Organen von Haut und Schleim-
häuten.
Die bekanntesten und häufigsten Cysten der Haut sind die
Atherome oder Grützbeutel, Balggeschwülste, entstanden durch
Retention des Inhaltes in Haarbälgen und Talgdrüsen.
Sie stellen flach rundliche, unter der Epidermis verschiebliche
Geschwülstchen dar, oft noch mit einer kleinen Vertiefung auf der
Kuppe, der Stelle des Ausführungsganges. Anfangs erbsengross und hart,
werden sie allmählich grösser und weicher, fast fluctuirend und können
dann über hühnereigross werden. Die Haut über ihnen verdünnt sich,
die Haare fallen aus und schliesslich kann das Atherom platzen und
es entleert sich die Grütze, eine gelbliche, fade riechende, fettige
Schmiere, oft in dünnere ölartige Flüssigkeit und festere talgartige
Concremente getrennt. Der Grützbrei besteht aus Epithelzelleu , Oel-
tropfen , ]Margarinnadeln , Tyrosinkrystallen , Detritus u. dergl. , er ist
bacterienfrei. Der Balg zeigt auf der Innenfläche epithelialen Belag,
meist eine warzige Oberfläche, nach aussen eine bindegewebige Kapsel
mit spärlichen Gefässen. An einer (braunen) Stelle fehlt das Epithel,
und hier finden sich Riesenzellen (König, Langenbeck's Arch., 48).
Fig. 332 zeigt eine Anzahl Atherome der Kopfhaut. Fig. 333 die grösste dieser
Geschwülste, exstii-pirt, nach unten den durchschimmernden Balg, mit feinsten Gefässver-
zweigungen.
Atherome sitzen , oft mehrfach , hauptsächlich an der behaarten
Kopfhaut und im Gesicht, am übrigen Körper sind sie selten.
Einfache Spaltung genügt nicht, sie füllen sich wieder. Auch die
Verätzung mit kaustischem Kali ist unsicher und langwierig. Ein
Schnitt, der nicht einmal über die ganze Geschwulst wegzugehen braucht,
nur über einen Quadranten , seltener ein Kreuzschnitt und dann Aus-
schälen mit Scalpellstiel , Sonde oder krummer Scheere ist das beste
Verfahren.
Viel seltener sind mit fettiger Flüssigkeit gefüllte Sebo- (Talg-) oder Oelcysten.
Verwechselt sind Atherome gelegentlich worden mit Hirnbrüchen , Ausstülpungen der
Hirnhäute, Meni ngocelen. Diese liegen an Nahtlinien oder Foramina des Schädels,
sind meist weicher und durchscheinend. Der Stiel ist nicht immer nachzuweisen. Eine
Probepunction liefert wasserklare, fast eiweissfreie Cerebrospinaltlüssigkeit.
Für Franke (Lanffenheck's Avch., 34. 1) sind die Atherome keine Verhaltungscysten,
sondern echte epitheliale Neubildungen mit cystischer Entartung , hervorgegangen aus
versprengten embryonalen Keimen. Er rechnet auch das Cholesteatom (siehe S. 372) zu
den Atheromen. Auch JlescJd lässt das Atherom nicht ans Talgdrüsen durch Verhaltung
entstehen, sondern rechnet es als .,Epidermoid" zu den echten Neubildungen.
Durch Einstülpung von Ejjithel unter die Haut bei Verletzungen entstehen die
besonders an der Hand sich tindenden traumatischen Epithel cysten, rundliche
Landerer, AUg. chir. Pathologie u. Therapie. 2. Aufl. 23
354
V. Caintcl. — Geschwülste.
epithelausgekleidete, linsen- bis bohnengrosse Bälge, deren Wand richtige Epidermis dar-
stellt {Gart-e, Beit. zur. klin. Chir., 11. Bd., lÜumhcrg, Deutsche Zeitschr. f. Chlr., Bd.
39, u. a.).
Durch Verlialtung des Schleimes in den Drüsen der Schleimhäute
entstehen die Schleimcysteu. Sie sind dünnwandige, mit sehr zähem,
fadenziehendem, oft gallertigem klarem Inhalt gefüllte Bälge, von Hirse-
korn- bis über Hühnereigrösse. Man begegnet ihnen an den Lippen,
unter der Zunge , wo die aus den Glandulae sublinguales hervorge-
gangene Geschwulst den Namen Ranula führt, dann in der Highmors-
Höhle, in den Bartholinischen Drüsen, in der Scheide u. s. w.
Hieher gehört auch die Wasseransammlung in einem Graaf-
schen Follikel (Hydrops folliculi Graafii) — massig grosse, mit klarer
Flüssigkeit gefüllte, einkammerige (uniloculäre) Cysten. — Ebenso ein-
kammerig, mit klarer, eiweissarmer Flüssigkeit gefüllt, aber oft über-
mannskopfgross sind die Cysten des Parovariums, hervorgegangen
aus den Drüsenschläuchen dieses Organs.
Fig. 332.
Fig. 333.
.r
Ob mau die Verhaltungen des Secrets in Ausführuugsgängen der Drüsen u. dergl.,
z. B. der Speichelgänge — meist längliche wurstförmige , fluctuirende Geschwülste —
hieher rechnen will, scheint doch sehr fraglich. Es ist dann nur noch ein Schritt,
auch die Wasseransammlung im Eileiter (Hydrosalpinx) , in der Gallenblase (Hydrops
cystitis felleae), selbst den Verschluss des Ureters mit folgender Ausdehnung der Niere
(Hydronephrose) u. dergl. hier mit zu besprechen.
Die Schleimcysten lassen sich , wiegen der Zerreisslichkeit der
Wand, selten ganz exstirpiren. Oft genügt es, ein möglichst grosses
Stück der Wand zu entfernen, oder, nachdem die Flüssigkeit abgelassen,
die Wand mit Jodtinctur oder Höllensteinlösung (1 : 5 — 1 : 10) ge-
tauchten Bäuschen kräftig auszureiben. — Auch der Versuch, eine zur
Entzündung und Schrumpfung führende Einspritzung, z. B. von Jodtinctur,
Chlorzinklösung 0*1 "/o zu machen, ist bisweilen erfolgreich. Eine vor-
ausgeschickte Einspritzung von 4 — 10% Cocainlösung macht die Ein-
spritzung schmerzlos. Manche Schleimcysten , z. B. die Ranula , füllen
sich immer und immer wieder, bis es schliesslich nach monatelangeu
Bemühungen doch gelingt, sie zu veröden.
. Cysten. Dermoidcysten. 355
Durcli Verschluss von Milchgäng-en in der Brustdrüse bilden sich
Milchcysten, derbwandige, oft mehrkammerige, kaum schmerzhafte,
kugelige oder längliche Geschwülste. Bei längerem Bestand dickt sich
der Inhalt ein und es kann zu einer Art „Buttercyste" kommen.
Eine andere Art von Cysten, w^o es sich um wirkliche Neubildung
von Geweben handelt, in denen es dann zur cystösen Entartung und
Bildung grösserer, meist mehrfächiger Cystengeschwülste kommt — die
eigentlichen Cystome sind bei den Adenomen pag. 348 besprochen.
Eine höchst eigenartige Bildung sind die Dermoidcysten. Derb-
wandige, meist so ziemlich kugelige Bälge, sind sie auf ihrer Innen-
fläche mit einer Art echter Cutis ausgestattet — nicht blos Epithel,
dem normalen Hautepithel gleich, findet sich, sondern auch Haare,
Talgdrüsen u. dergl. Sie sind erfüllt mit einer dem Atherombrei
ähnlichen, fettigen Masse, mit oft langen verfilzten Haaren, dazwischen
noch andere epitheliale Gebilde , Zähne u. dergl. Diese Cysten, im
Ovarium, aber auch im Hoden, am Halse, wo sie von den Kiemenspalten
ausgehen , wird man wohl auf eine embryonale Einstülpung und Ab-
schnürung von Haut zurückführen dürfen („Abschnürungscysten").
Andere Dermoide enthalten noch merkwürdigeren Inhalt — nicht
blos Haut, Haare und Zähne, selbst Knochen und völlige Skelettheile.
Diese Bildungen sind den echten Missbildungen — vitia primae for-
mationis — zuzuzählen und anzunehmen, dass sie entstehen durch Ein-
schluss eines rudimentären und verkümmerten zweiten Eies im Leib
des anderen, eine Foetus in foetu-Bildung. Sie stehen den Teratomen,
Wundergeschwülsten, nahe, die, durch solche Störungen der
ersten Anlage entstanden, die wunderbarsten und unregelmässigsten
rudimentären Körpertheile und Stücke eines verkümmerten zweiten
Organismus enthalten. Yergl. Boux' Experimente, pag. 311. Die Tera-
tome finden sich besondei-s in der Kreuzbeingegend.
Für die Diagnose lässt sich ausser den allgemeinen Kennzeichen
der Cysten das sehr langsame Wachsthum bei meist cougenitaler An-
lage und der Sitz der Geschwülste verwerthen. — Die vollständige
Exstirpation ist die einzig richtige Behandlung der Dermoidcysten.
Mit Cysten können gewisse durch Parasiten bedingte Bildungen
verwechselt werden. Es kommen hier hauptsächlich der Cysticercus
eellulosae und der Echinococcus hominis in Frage.
Jener bildet eine überaus zartwandige Blase von Erbsen- bis AVallnussgrösse mit
einem, so lange das Thier lebt, aus- und einstülpbaren Halse und Kopfe. Darum ent-
wickelt sich, seitens des umgebenden Gewebes , eine bindegewebige Kapsel. Er kommt
liauptsächlich in den Muskeln, dem Unterhautzellgewebe und dem Auge vor. Die Diagnose
wird — ausgenommen am Auge, wo der Blasenwurm direct gesehen werden kann —
fast immer erst bei der operativen Entfernung gemacht.
Fig. 334 stellt eingekapselte Cysticerken aus dem M. sartorius des Menschen in
natürlicher Grösse dar (nach Somtner).
Der Echinococcus bildet beträchtlichere, bis mannskopfgrosse Cysten und
Cystengeschwülste. Auch ihn umschliesst eine, vom Nachbargewebe gebildete Bindegewebs-
kapsel. Seine eigene Wandung besteht dann noch aus einer sehr derben parallel geschich-
teten Cuticularschicht, auf deren Innenseite eine weichere, zellenreiche Parenchymscliicht
folgt. Diese Schicht bildet durch Wucherung und Sprossung zapfenartige Vorragungen,
die sich entweder zu ähnlichen Cysten entwickeln wie die Mutterc^'ste, oder sie wer-
den zu Brutkapseln, die Köpfe mit Hakenkränzen (Scolices) bilden. Fig. 33.3 (nacli
Sommer) ist ein Schnitt durch die Wand einer Echinococcusblase, a die Cuticular-
schicht, b die Parenchymscliicht, c die Brutkapsel mit Scolices. Der Echinococcus kann
zu einer grossen Geschwulst werden, worin die Tochtertdasen der Wand nacli innen
23*
356
V. Caijitel. — Geschwßlste.
aufsitzen oder frei geworden umherschwimmen. Oder es bilden sich neue Tochterblasen:
auch nach aussen, und es entstehen dann mehrfächerige grosse Cystengeschwülste, die-
nun nicht rundlich , sondern vielhöckerig erscheinen, den eigentlichen Cystomen im
Aeusseren ähnlich. Die Echinococcen zeigen ausser deutlicher Fluctuation bisweilen
Hydatidensch wirren, ein eigenartiges Zittern, bedingt durch die schwingende Be-
wegung der in der Mutterblase frei schwimmenden Tochterblasen bei leichtem kurzem
Anschlagen mit dem Finger. Die Probepunction ergibt eiweissfreie Flüssigkeit , in der
sich oft die frei gewordenen Haken mikroskopisch nachweisen lassen (Fig. 336 , nach
Sommer, freigewordene Häkchen aus Echinococcusblasenj. Hauptsitz sind Leber, Lungen,
Milz und Unterhautbindegewebe, und in ihnen findet sich vorwiegend die uniloculäre
(endogene) Form; die mehrfächerige dagegen (exogene), Echinococcus multilocularis,
kommt namentlich im Knochen vor. Die Exstirpation nach vorausgegangener Function
ist die einzig mögliche Behandlung; dieselbe ist leider — gerade beim multiloculären
Pig. 334.
Pig. 335.
a b
Fig. 336.
Echinococcus — wegen der beträchtlichen Grösse und dem Sitz oft nicht ausführbar.
Bülroth incidirt und entleert, füllt mit 6— 107o Jodoformglyceriu , näht an die Haut
9.n und verschliesst dann. Die Injection von Jodtinctur ist unsicher und nicht gefahrlos.
Bösartige epitheliale Neubildungen.
Epithelialcarcinom, Krebs.
Das Epithelialcarcinom oder der Krebs (nach heutiger Be-
nennung) wird als „atypische epitheliale Neubildung" definirt,
im Gegensatz zu den bisher besprochenen epithelialen Neubildungen,
die Aehnlichkeit mit normalen epithelialen Formen behalten. Wohl
zeigt sich die Verwandtschaft mit normalen Typen, dem Papillarkörper,,
den Drüsen der Haut und Schleimhaut und dem Bau anderer Drüsen^
wie Milchdrüse , Hoden u. s. f. , im Anfang des Krebses noch oder in,
frisch entwickelten Stellen desselben und, kann man hier von specifischem
Bau nicht reden (vergl, u. A. Schuchardt^ Langenheck's Arch., Bd. 43) ;
aber bald verwischen sich diese Aehnlichkeiten mehr und mehr; die
epitheliale Wucherung wird unregelmässiger und in ihren Formen ab-
weichender, und schliesslich haben wir eine Bildung vor uns, durchaus
unähnlich den normalen Geweben des Mutterbodens. Sie besteht aus
Krebs. Allgemeines. 357
Epithel und dem dazwischen liegenden gefässhaltigen bindegewebigen
Stroma. Bindegewebige, gefässführende Streifen von grösserer oder
geringerer Mächtigkeit, strafferem oder weicherem Gewebe, umschlies-
sen rundliche oder spindelförmige Räume, worin die neugebildeten
Epithelien als Nester oder Zapfen liegen. Das Ganze bekommt da-
durch eine wabenartige Anordnung, und dieser „alveoläre Bau" ist
gleichfalls für Epithelialcarcinom charakteristisch ; derselbe ist zwar auch
in manchen Sarkomen zu erkennen, aber doch nicht so ausgesprochen.
Die Vorstellung dieser gegenseitigen Verhältnisse der Gewebe in
«inem Carcinom mag Fig. 337 — Cylinderzellenkrebs der Schilddrüse
nach Wölfler — erleichtern. Rechts sind Drüsenschläuche von noch
annähernd normalem Bau mit reichlichem bindegewebigem Zwischen-
Fig. 337
/
(i.
L
'^^G^^-,^^^.
gewebe; in der Mitte sind die Formen schon weniger regelmässig,
indem die Formen der Schläuche abweichen ; auch die Zellen sind
weniger regelmässig gelagert, das Zwischengewebe ist spärlicher ge-
worden. Je weiter nach links, um so mehr weichen die Schlauch- und
Zellbildungen von der Norm ab. Man hat lange Zapfen, die wohl hier
und dort den Charakter der Drüsenschläuche , die tu])ulösc Anordnung
noch erkennen lassen, aber schliesslich hört sowohl die Regelmässigkeit
der Schlauchform, als die Anordnung der cntbaltcnen Zellen zu einander
und die glcichnüissige cylindrische Form derselben auf. Das Zwischen-
gewebe ist aufs Aeusserstc reducirt. Man ist hier mitten im richtigen
Krebsgevvebe drin.
Ebenso wichtig wie diese eigcntlinmliche Anordnung von Epithel-
und Stützgewebe ist aber für das Carcinom das Verhalten zur Fni-
358 ■ ^- Capitel. — Geschwülste.
gebinig. Das Epithelialcarcinom hat die Eigenartigkeit, in
die Gewebe seines Standortes einzudringen und sie durch-
zusetzen. Gutartige epitheliale Neubildungen, Condylom und Blasen-
papillora, Fig. 324 und 326, ruhen auf normaler, höchstens hyperämischer
Grundlage, auf wenig verändertem Cutisgewebe oder Submucosa auf.
Das ist bei Careinomen nie der Fall. Sowie sich die Neubildung
als echter Krebs manifestirt, wachsen die epithelialen Massen in Gestalt
von Zapfen, Schläuchen (tubulöse Form) oder Drüsenwindungen (acinöse
Form) in die Unterlage, z. B. Unterhautzellgewebe oder Submucosa hinein
und weiter in Muskeln , Fascien, Knochen , Haut u. s. w. (s. Fig. 339,
Lippenkrebs).
Ferner hat das Carcinom nie eine scharfe kapselartige
Begrenzung, es ist von Anfang an diffus und in die Gewebe infiltrirt.
Dieses Eindringen der epithelialen Massen in die Nachbarschaft erfolgt
vermuthlieh längs der Bindegewebs- und Lymphspalten , vorwiegend
mit dem Lymphstrom, doch demselben auch entgegen, letzteres wohl
durch active Locomotionsfähigkeit der jungen Epithelzellen. Das vor-
handene Gewebe — z. B. Muskeln — verschwindet, vermuthlieh durch
Druckschwund. Nach Ansicht Anderer wandelt es sich in Geschwulst-
gewehe um und das bindegewebige Stroma des Nachbargewebes wird
zum Strom des Krebses. Doch ist zweifellos ein Theil des Krebs-
stromas und der Gefässe des Krebses neugebildet; und es erfolgt die
Neubildung derselben in der gleichen Weise, wie Gefässe und Binde-
gewebe auch sonst sich neu bilden (siehe Regeneration). — Lymph-
gefässe und Nerven finden sich gleichfalls in Krebsen; ob neugebildet
oder alt, ist ungewiss.
Ueber die Herkunft dieser neugebildeten epithelialen Massen ist
man heute so wenig sicher, als früher. Früher hatte VircJiow die Ansicht aufgestellt^
dass die neugebildeten Epithelien der Krebse aus der bindegewebigen Matrix hervor-
gehen, aus den, Leukocyten ähnlichen, rundlichen „indifferenten Bildungszellen".
Diese sollten sich mit Protoplasma umgeben oder ihr Protoplasma vermehren und
zu Epithelien werden. Derartige Zellen sieht man allerdings in den peripheren
jungen Bezirken der Epithelkrebse überall ; was sie aber sind , ob gewöhnliche,
durch Entzündung ausgewanderte Leukocyten oder die Vorstufen der Epithelien, das ist
eben die Frage. — Im Gegensatz zu VircJioiv haben Tlderscli, Waldei/er u. A. die
Theorie aufgestellt, dass Epithel nur aus Epithel entstehe und diesen Satz, der für die
normale embryologische Entwicklung und auch für die Regeneration bei Entzündung
und AVundheilung fast unumstösslich erwiesen ist , auch auf die Epithelialcarcinome
ausgedehnt.
Andererseits haben wieder Gussenhauer, Klehs, Schöhl u. A. Beobachtungen bei-
gebracht, die die Entstehung epithelähnlicher oder wirklich epithelialer Bildungen aus
Bindegewebe nicht ganz unmöglich erscheinen lassen.
Kerntheilungsfiguren finden sich in den Epithelialcarcinomeu , besonders in den
jüngeren, peripheren Stellen stets in ziemlicher Menge, aber atypisch (Hansemann).
Ribbert lässt das Carcinom mit einer Wucherung des subepithelialen Bindegewebes be-
ginnen (Pathol. Gewebelehre, pag. 169 ff.). Hauser hat jedenfalls für einen Theil der
Carcinome (Magenkrebse) nachgewiesen, dass die pathologische Wucherung des Epithels
das Primäre ist und ohne jede nachweisbare Betheiligung des Bindegewebs erfolgt (u. A.
Virclioiv's Axci^äxv, 141). (Vergl. pag. 311.)
Der Krebs wächst also in die Nachbarschaft ein, theils continuir-
lich, theils entstehen in einiger Entfernung, Ya bis mehrere Centimeter
vom fühlbaren Rande des Krebses, discontinuirliche Knötchen von dem-
selben Bau, Tochterknoten, die mit dem ursprünglichen Krebsknoten
schliesslich zusammenfliessen. Neben dieser Ausbreitung in der Fläche
dringt die Neubildung, jedoch in langsamerem Tempo , in die Tiefe,
durch die Muskeln zum Knochen und in diesen hinein.
Krebs. Lymphdrüseninfection.
359
Um diese Zeit macht sich auch schon die lufection der Lyniph-
drüsen bemerklich. Durch die Lymphgetässe , die ihrerseits selten
sichtbar befallen werden , setzt sich die Wucherung in die Drüsen
fort, diese schwellen an, anfangs oft nicht specifisch, sondern rein ent-
zündlich („consensuell"), bald aber entwickeln sie sich zu Drüsenknoten,
deren Bau ganz dem ursprünglichen Krebse entspricht. — Schon in
stecknadelkopfgrossen Drüschen findet sich oft echtes Carcinom. Hier
folgt nun der Process ganz demselben Verlauf, vvie an der Ursprungs-
stelle ; die Drüsen verlöthen mit einander und der Umgebung, nament-
lich Gefässen und Nerven, und können nun schwere Störungen der
Blut- und Lymphbewegung und der Nervenleitung machen (Schmerzen
Fig. 338.
und Staunngsödeine). Fig. 338. nach Birch-HlrachfeJd., zeigt eine krebsig
infiltrirtc Lymphdrüse, deren Reste von Drüsenfollikcln zum Theil noch
zwischen den Krebszellhaufen (Gebärmutterkrebs) erhalten sind. Nach
Fdrirk (Deutsche Zeitschr. f. Chir., 32) sollen die ersten Krebszellen in
den Sinus der Kinde auftreten, nachdem Entzündung und kleinzellige
Infiltration in der Drüse vorausgegangen sind (stets?). — Der ersten Etape
der Lyniplidriisen, z. B. bei Mammakrebs der Axillardriisen , folgt die
Infection der zweiten, der Subclaviculardrüsen, dieser die der dritten,
der Supraclaviculardrüsen, und schliesslich werden die Keime durch die
grossen Lymplistänime in die Venen und damit in die Bliitbahn ver-
.schle]ipt , werden hier auf enil)olischcm Wege verbreitet und machen
360 ^' (Kapitel. — Geschwülste.
nun, wo sie liegen bleiben, secundäre Krebsknoten TMetastasen).
Der Krebs hat sich verallgemeinert, generalisirt. rMiiltiple»
Auftreten von primären Carcinomen ist nach Schimnielhusch (Larifjen-
heck's Arch,, 39) nicht so selten.)
Beim Krebs haben wir ein langsames Fortschreiten durch die Lymphwege bis in
den Blutkreislauf — meist erst im Verlaufe eines oder mehrerer .Jahre ; bei Sarkom ein
unmittelbares Einwachsen in die Venenwand , Bildung sarkomatöser Thromben und
directer rascher Einbruch in die Circulatiou. Die Stellen der Localisation sind ungefähr
die gleichen wie beim Sarkom — Lungen, Leber, aber beim Krebs namentlich auch die
Knochen. Diese werden an den befallenen Stellen brüchig und brechen bei kleinen
Anlässen („Spontanfracturen").
Einstweilen ist der ursprüng-liche Krebsknoten auch nicht unver-
ändert geblieben. Er ist nicht blos unter der Haut vorwärts gedrungen,
sondern meist auch auf die Haut selbst übergegangen, hat sie durch-
brochen und nun tritt oberflächlicher oder tieferer Zerfall ein, es ist ein
Krebsgeschw^ür entstanden.
Die alten Aerzte glaubten, jeder Krebs durchliefe die drei Stadien — Beginn
als eine Verhärtung des Mutterbodens, Scirrhus, dann Bildung eines richtigen Krebs-
knotens, Cancer occultus, und schliesslich Aufbruch, Cancer apertus.
Mit dem Eintreten der Geschwörsbildung und Jauchung tritt nun
auch die Störung des Allgemeinbefindens, das in einem Theil der Fälle
oft lange ein befriedigendes bleibt, mehr in den Vordergrund, um so
mehr, wenn auch Metastasen in inneren Organen entstehen. — Ueber
die nun sich entwickelnde Krebscachexie habe ich schon pag. 315
Mittheilung gemacht. Injection von Krebssaft tödtet Kaninchen in
1—5 Tagen (L. Pfeiffer).
Verallgemeinerung des Krebses tritt in einzelnen Fällen in
äusserst stürmischer und massenhafter Weise zu Tage . die Kranken
fiebern und verfallen rasch und man findet dann unzählige kleine Knöt-
chen durch den ganzen Körper verbreitet — Carcinosis miliaris.
So symptomlos die ersten Anfänge des Krebses verlaufen — dies
ist der Grund, warum der Kranke es so oft versäumt, rechtzeitig seinen
Zustand dem Arzte zu entdecken — , so schwer sind die Leiden des
Kranken gegen das Ende des Krebses. Es ist geradezu charakte-
ristisch , dass der Krebs zu Anfang schmerzlos , selbst nicht einmal
druckempfindlich ist. Dann aber stellen sich erst ziehende, später au-
fallsweise durchschiessende, „lancinirende" Schmerzen ein, die dem
Kranken den Schlaf rauben und gegen die schliesslich alle Schlaf-,
örtlichen und allgemeinen Betäubungsmittel (Chloralhydrat , Cocain,
Morphium O'Oo und mehr) machtlos sind. Noch furchtbarer sind die
gleichraässig anhaltenden Schmerzen, die eintreten, wenn grosse Nerven-
stämme (Plexus axillaris oder die Wurzeln der Rückenmarksnerven) von
krebsigen Lymphdrüsen umklammert werden.
Der Tod des Krebskranken erfolgt am häufigsten durch Er-
schöpfung, wobei hydrämische Oedeme, hypostatische Lungenentzün-
dung u. dergl. den Kranken quälen. Ein anderes Mal führt eine Meta-
stase in lebenswichtigen Organen, im Gehirn z. B., das Ende herbei.
Wieder andere Male, und das ist noch das glücklichste Ende, geht der
Krebs auf grosse Gefässe über, arrodirt dieselben und der Kranke er-
liegt momentan einer schweren Blutung, oder geht an mehreren
Hämorrhagien hinter einander schliesslich erschöpft zu Grunde. Der Auf-
bruch führt zu äusserst übelriechenden Jauchungen, die dem Kranken
Metastasen. Metamorphosen des Krebses. 3ß[
den Aufenthalt in der menscWicbeu Gesellschaft fast immög-lich machen.
Das daran sich anschliessende septische Resorptionsfieber rafft auch
Manchen dahin.
V. Moraczeivshi fand im Blut Krebskranker eine Verminderung des Phosphor-
gehaltes (0'04 statt O'l auf 100 Com). Die rothen Blutkörperchen sind stark vermindert
( — 950.000 pr. Gem., v.Limbeck), die weissen zum Theil yermehrt (Bembach, Langenbeck's
Arch. 46, Lit.), der Hämoglobingehalt ist stets herabgesetzt, im Durchschnitt auf 45 — 707ui
im Maximum auf 18 — 20% •
Die ganze Dauer des Krebsleidens beläuft sich meist auf
einige Jahre, doch sind die einzelnen Krebse in dieser Hinsicht
äusserst verschieden. Manche Krebse der äusseren Haut können Jahr-
zehnte lang getragen werden , andere , namentlich der Schleimhäute,
z. B. des Kehlkopfes, des Darmes, tödten durch die schweren örtlichen
Störungen (carcinomatöse Verengerungen, Stricturen, Stenosen) schon im
Laufe eines Jahres.
Eine spontane Heilung des Krebses gehört zu den extrem-
sten Seltenheiten ; doch sollen Krebsknoten gangränescirt und darnach
dauernde Heilung eingetreten sein . ebenso sollen Krebse während
pyämischer Fieber sich zurückgebildet haben (Plenio).
Nach Finkeinburg soll die Krebssterblichkeit in Deutschland von 31'1 im Jahre
1881 auf 43'1 im Jahre 1890 auf 100.000 Lebende zugenommen haben; in den Städten
soll sie grösser sein als auf dem Lande, z.B. in Ostpreussen 49'2 : 23'1 , im Ehein-
land 44'6 : 22'7, in Berlin 62"3 (!) auf 100.000. (AVirkliche Zunahme oder nur genauere
Diagnosen ?)
Neben Jauchung und Blutungen treten im weiteren Verlaufe andere,
minder wichtige Metamorphosen und Degenerationen in den
Krebsen auf fvergl. pag. 47).
In den epithelialen Bestandtheilen des Krebses treten , wie auch
sonst in diesen Gebilden , namentlich Verhornung und Colloident-
artung ein.
Die Verhornung befällt besonders in Hautkrebsen vorwiegend die älteren
Epithelmassen des Krebses , und in den Krebszapfen oder Schläuchen namentlich die
centralen Partien. Werden die Zapfen vom Mikrotommesser quer getroffen , so erhält
man — vergleiche Fig. 344 — zwiebelschalenartige Anordnungen der Epithelien, deren
innere Schichten kernlose flache Plättchen sind, die die Kernfarbstoft'e nicht mehr an-
nehmen , nach aussen dagegen jüngere , kernhaltige. Diese verhornten Massen lassen
sich schon mit 1)lossem Auge als gelbgraue, über das Krebsgeschwür zerstreute Perlen
erkennen und sind, wie das verhaltene Secret der Talgdrüsen der Haut, die Hautcome-
domen, bei seitlichem Druck als längliche Würstchen auszudrücken. Diese Krebs-
comedonen sind einwichtigesdiagn ostisch es Hilfsmittel ; sie kommen auf anderen
Geschwülsten und Geschwüren nicht vor.
Die Colloidentartung führt zur Bildung des „Gallertcarcin oms''.
Die epithelialen Bestandtheile sind colloid oder mj'xomatös entartet. Das bindegewebige
Stützgelüste scheint von der Entartung frei zu bleiljen. Diese Geschwülste wachsen
wegen ilires enormen Flüssigkeitsgehaltes rasch zu grossen Tumoren heran. Sie finden
sich vorwiegend auf Schleimhäuten (Magen) und Drüsen (Mamma).
EpitheUalcarcinome können — Epithel ist ja genug da — oberflächlich über-
häuten, allerdings meist nur vorübergehend. (Bei Sarkomen kommt dies nie vor.)
Ferner entzünden sich Epithelialcarcinome häufig und schrumpfen theil-
weise narbig. Man hat so oft eine Art spontaner örtlicher Heilung vorsieh.
Leider findet dafür meist an anderen Stellen ein Fortschreiten statt. Doch gehören
solche Krebse — namentlich der schrumpfende Brustkrebs oder Cancer en cuirasse
(s. Fig. 353) — inso ferne zu den günstigsten, als sie einen überaus langsamen, oft über
Jahrzehnte sich hinziehenden Verlauf zeigen und spät oder nie Metastasen machen. —
Könnten wir diese narbige Schrumpfung erzwingen, wie es Thierscli mit seinen Arg.
nitr.-Lijectionen versucht hat, so wären wir in der Behandlung des Kreljses einen guten
Schritt weiter. — Verfettung ist in den älteren centralen Theilen des Krebses di«
J62
V. Capitel. — Geschwülste.
Kegel. Der beim Durchschneiden eines Krebsknotens abfliessende milchige Saft — der
Krebssaft — hält Fettkörnchen und -tropf chen und verfettete Epithelien in Menge.
Fig. 339.
Wir haben nun die einzelnen Formen der Krebse — die der
Haut, der Schleimhäute und der Drüsen zu besprechen.
Für die Krebse der Haut sind Lieblingssitze die Ostien des
Körpers, Mund, After, Penis, Vulva; dann Gesicht und Stellen, die
schon vorher krank sind — Geschwürs- und Narbenfiächen (von Ver-
brennungen, Lupus u. dergl.). Die Epithelialcarcinome der Haut sind,
entsprechend dem Epithel der Haut, Plattenepithelkrebse. Nach
Thiersch unterscheiden wir einen tiefen (infiltrirten) und einen
flachen Krebs.
Der tiefe Hautkrebs, dessen Typus der Krebs der Unter-
lippe ist, geht aus von den tiefen Epithelialgebilden der Cutis, als
welche Thiersch nennt die Wurzeln
der Barthaare, die Talgdrüsen der-
selben und die Knäuel der Schweiss-
drüsen. Er beginnt als eine kleine
Verhärtung, fast ausnahmslos an der
Hautgrenze des Lippenroths, wird
dann eine blutige , rissige , mit
einer oft abgerissenen Borke bedeckte
Schrunde mit hartem Grunde. All-
mählich entwickelt sich ein wirklicher
Knoten , der unter der Haut und in
die Substanz der Lippe hinein vor-
dringt und bald tritt Abstossung
des Epithels und Beginn des ge-
schwürigen Zerfalls ein.
Fig. 339 zeigt eine von Lippenkrebs
befallene Unterlippe bei Lupen- (4facher)
Vergrösserung. In dem linken noch annähernd
normalen Theile findet sich oben die Lippen-
schleimhaut mit ihrer Drüsenschicht, dann folgt von oben nach unten die massige
Muskelschicht des Orbicularis oris, dessen Fasern quer geschnitten sind; zu unterst ist
die Kinnhaut mit ihrem an Gefässen reichen Unterhautzellgewebe, den tiefen Einsen-
kungen der Haarfollikel, Drüsenmündungen und Papillen. Hierauf ruht nun, in der
Zeichnung dunkler gehalten, der Krebs, als eine zerklüftete, fast hahnenkammartig vor-
ragende Wucherung, a, b die verdickten Lippengefässe.
Fig. 340 ist dasselbe Uuterlippencarcinom bei stärkerer Vergrösserung. Links
sind schräg durchschnittene Haarbälge ,, in denen bei d noch Haare stecken. In
ihrem Umkreise findet sich — anscheinend von den Haarbälgen oder ihren Drüsen
ausgehend — junge , epitheliale Neubildung , mit meist grossen , sich gut färbenden
und scharf gegen die bindegewebige Umgebung sich absetzenden Epithelzellen. Bei c
dagegen ist kleinzellige , entschieden entzündliche Infiltration (die Zone der „in-
differenten Bildungszellen" Virchotc's). Von b strahlt ein Zug noch ziemlich normalen,
bindegewebigen und gefässhaltigen Zwischengewebes von oben nach unten , sich in der
Mitte des Bildes mehrfach theilend, zwischen die epithelialen Massen herein. Bei b
selbst einige noch ziemlich gut erhaltene, quer gestreifte Muskelfasern (vom M. orbi-
cularis oris). Hin und wieder Stellen, die durchschnittene Gefässe zu sein scheinen {ej.
Nach rechts und gerade nach unten (aj begegnen uns ältere Stellen des Krebses, kennt-
lich an der zwiebelschalenähnlichen Anordnung der Epithelien. Die Epithelien sind hier
nicht mehr die grossen, protoplasmareichen Zellen mit grossen deutlichen Kernen, sondern
flache Platten, mit undeutlichen oder gar nicht mehr nachzuweisenden Kernen und
schlecht zu färben. Sie sind verhornt, den Zellen des Stratum corneum gleich. Zwischen
Hautkrebse. Lippeukrebs. 363
diese zwei älteren Krebszapfen mit concentriseher Schichtung schiebt sich ein jüngerer,
bei dem diese Anordnung der Zellen erst angedeutet ist.
Fig. 341 ist ein Unterlippenkrebs (nat. Grösse) in vorgeschrittenem Stadium. —
Die ganze Unterlippe ist in eine zerklüftete knollige Masse verwandelt, die von einem
Mundwinkel zum andern reicht und links bereits in einigen Knoten die Oberlippe er-
griffen hat. Auf den scharf ausgefressenen Geschwürsflächen sieht man hellere (in natura
graugelbe) perlenartige Stellen, die für Krebsgeschwüre charakteristischen Epithelperlen
oder Krebscomedonen.
Für die differentielle Diagnose sei auf Fig. 342 syphilitische Geschwüre^ihin-
gewiesen. Beim Krebs harter gewulsteter Grund und ebensolcher Rand und Umgebung.
Beim syphilitischen Geschwür ist die Umgebung nur wenig infiltrirt und so gut wie
nicht gewulstet, auch der Grund im Ganzen weich. Die Geschwürsfläche zeigt bei Krebs
die mehrfach erwähnten Epidermisperlen, die bei Lues nie vorkommen. Die syphilitischen
Geschwüre sind oft mehrfach, das Krebsgeschwür eine einzige zusammenhängende Neu-
bildung. Als letztes diagnostisches Hilfsmittel wäre schliesslich eine antisyphilitische
Behandlung mit Jodkali (1 — l'ö Grm. p. d.) einzuleiten. — Wegen der differentiellen
Diagnose gegenüber anderen chronischen Hautaft'ectionen (Lupus u. A.) s. bei Haut-
aflectionen.
Fig. 340.
^^/^•^^r ^^«^^gf^'"^^^r^^^rl»^>
In seinem weiteren Verlauf ergreift der Lippenkrebs, meist
iinterminirend, die Haut und Weicbtheile des Kinns, schliesslich den
Knochen des Unterkiefers ; die Schleimhaut der Lippe bleibt oft lange
erhalten. Dann folgt Ausbreitung auf das übrige Gesicht; ebenso sind
die Submental- und Submaxillardrüsen längst inficirt und zu harten
Packeten herangewachsen. Jauchung, Blutung, seltener Metastasen
tödten den Kranken nach einer Gesammtdauer des Leidens von 2 bis
5 Jahren.
Lippenkrebs kommt fast nie bei Weibern vor. Ob er bei Männern mit unge-
schicktem Easiren, mangelnder Reinlichkeit oder dem Pfeifenrauchen zusammenhängt,
ist nicht sichergestellt; jedenfalls ist er bei Städtern viel seltener, als bei der bäuerlichen
Bevölkerung.
Bei der Behandlung ist vor Aetzmitteln, namentlich Argentum
nitricum. dringend zu warnen. Die Excision, das einzig richtige IMittel,
ist mindestens IV« Cm. vom fühlbaren Rande der Neubildung auszu-
führen. Nur in ganz frühen Stadien darf auf die Ausräumung des sub-
maxillaren Ze]lge\vcl)Os mit den onthaltent'n Lymphdrüsen verzichtet
wcrilen.
364
V. Caintel. — GescliwüLste.
Die Prognose des Lippenkrebses ist nicht schlecht;
hat für die operirten Fälle eine Heilungszahl von '62 Procent
gerechnet. (Nach meinen I^rfahrungen etwas zu optimistisch.)
Der flache Hautkrebs (Ulcus rodens, Rodent ulcer
exedens u. s. w.) ist entschieden eine specifisch andere Erkr
Die Neubildung ist hier wenig in die Augen fallend , das Ha
Fig 341.
Wörner
heraus-
, L'lcus
ankuDg.
ui
liehe ist eine überaus laugsam fortschreitende, erst spät in die Tiefe
greifende Geschwürsbildung auf hartem Grunde. Der Proeess zieht sich
über Jahrzehnte hin und kann an einzelnen Stellen temporär ver-
narben. Sowohl die mikroskopische Untersuchung (s. Fig. 343), als die,
allerdings sehr seltene, Bildung metastatischer Knoten zwingen uns
Fig. 342.
jedoch, den Proeess zu den Neubildungen zu stellen mid nicht, wie
Cohnheim wollte, zu den Geschwüren.
Nach Thiersch\s Untersucliungeu geht der flache Epithelkrebs aus von den ober-
flächlichen Epithelialgebilden der Cutis (Lanugohaare und ihre Talgdrüsen, Hornschicht
und Rete Malpighi); er beginnt meist als Wucherung der Talgdrüsen und später be-
theiligt sich dann auch das Rete Malpighi. Eig. 343 flacher Epithelkrebs nach TJiiersch.
Bei l) Schweissdrüsenknäuel , die wenig verändert sind und deren Anordnung zu den
Flacher Hautkrebs.
365
Lanugohaaren noch nicht wesentlich verändert ist, bei e weicht das Verhalten der Drüsen-
schläuche schon mehr von der Norm ab und bei/ sind nur noch unregelmässige Epithel-
nester zu sehen, mit centraler Verhornung (g), darüber noch relativ normale Haut (ßete
Malpighi (a), Lanugohaare (c) u. s. w. Auf den Zusammenhang mit allerlei anderen
Krankheiten der Haut, chronischer Seborrhoe, Unreinlichkeit u. dergl. hat Schuchardt
hingewiesen. Das Ulcus rodens kommt mit besonderer Vorliebe bei alten Leuten vor^
am innern Augenwinkel, an den Nasenwinkeln u. dergl., auch sonst im Gesicht.
Für die Therapie ist die Excision in erster Linie zu nennen^
wobei man schon bei einer Entfernung von Va — ^ Ceq. vom sichtbaren
ßand im Gesunden operirt. Nachher ist plastische Deckung des Defectes
angezeigt.
Busch hat vorgeschlagen, diese Stellen täglich mit Wattebäuschchen in^concentrirte-
Lösungen von kohlensaurem Natron getaucht, abzureiben. Ich habe gelegentlich den
Eindruck gewonnen, als ob das Verfahren nicht ohne Nutzen wäre. Auch Aetzung mit
Chlorzinkpaste (1—2 Mm. dick) gibt, wo man nicht operiren kann, gute Erfolge. (Auge!)
Kleine flache Krebse können auch elektrolytisch zerstört werden.
Die Prognose ist die günstigste aller Neubildungen; die Dauer
beträgt Jahrzehnte und meist sterben die ohnedies alten Leute mittler-
weile an anderen Krankheiten.
Fig. 343.
Nach Ohren {Langenheclcs Arch., 37) sterben bei Gesichtskrebs an der Operation
4-27o, an Eecidiven 27-87n. mit Recidiven leben 9-77o, ohne Recidiv sterben lllVor
recidivfrei leben 31'97o ; unbekannt 15"37u-
Die Epithelialkrebse der äusseren Genitalien sind dem
Lippenkrebs im Bau und Verlauf so ziemlich analog. Von ihnen gibt
namentlich der Peniskrebs eine verhältnissmässig günstige Prognose, da
mit der Amputatio penis die ganze krebsige Partie gründlich entfernt
und gerade hier die radicale Heilung häutig erzielt wird.
Ein anderer Ort, wo Hautkrebse gerne sich entwickeln , ist der
Hodensack. Namentlich bei Schornsteinfegern ist dieser Krebs öfters
beobachtet („Schornstein feger krebs") und der Gedanke liegt nahe,
dass die dauernde Einwirkung mangelhafter Reinlichkeit und der im
Russ enthaltenen entzündungserregenden Stoffe hier eine Rolle spielt.
— Unmittelbaren Uebergang chronisch entzündlicher Zustände in Krebs
kann man bei Paraffinari)eitern beobachten, an Händen, Scrotum u. s. f.
In Fig. 344 ist ein Pa r affi ii krebs vom Scrotum abgebildet. — In der rechten
Partie des Präparats deutliclier Krcl)s. Bei a, a, a die charakteristischen, im Contrum
366
V. Capitol. — Geschwülste,
verhornten, atypischen Epitlielwucherungen ; um sie herum eine Zone reichliclier , ent-
zündlicher Rundzelleninfiltration, z. B. bei b]
Fig. 344.
c sind leere Gefässe. Der linke AIj-
schnitt des Präpaiats zeigt geringe
Veränderungen , nur hin und wieder
einige Rundzellen ; ä sind querge-
schnittenc glatte Muskelfasern (Tunica
dartos) ; e eine in ihrer Wandung stark
verdickte Arterie.
Ein ähnlicher Vorgang —
Ueberg'ang- chronischer Entzün-
dung in Carcinom — liegt dem
Epi thelca rein om der Brust-
war ze zu Grunde, wo ein
chronisches Eczem in Krebs
übergeht (Pagefs Disease) und
der Entwicklung von Krebs in
Beingeschwüren , Sequester-
laden und Fistelgängen.
ß CO
Die Schleimhautkrebse
sind meist Cvlinderzellen-
krebse. Doch kommen an einzelnen Stellen — den Stimmbändern, der
Vagina — auch Plattenepithelkrebse vor.
Den Schleimhautkrebsen gehen oft länger dauernde örtliche Störungen voraus ;
den Krebsen der Wangenschleimhaut Leukoplakia buccalis, eine chronische Epithelver-
dickung in Gestalt weisslicher, etwas erhabener Flecken. Der Zungenkrebs soll sich
öfters in einer Erosion entwickeln , die durch einen defecten Zahn dauernd wund ge-
scheuert wird. Für den Kehlkopfkrebs soll chronischer Catarrh disponirend wirken
(Rauchen, öftere Heiserkeit). — Magenkrebse finden sich zweifellos häufiger bei Leuten,
die zeitlebens magenkrank gewesen. Hmtser glaubt, dass die Magenkrebse sich zum Theil
in den Narben von Magengeschwüren entwickeln. Ebenso scheinen chronische Darm-
catarrhe, mit Kothsiauung, Stenosenbildungen u. dergl. in Darmkrebse „überzugehen'",
Blasenkrebs sich, in steinhaltenden Blasen zu entwickeln u. dergl. m.
Die Schleimhautkrebse beginnen als flache verschiebliche Knöt-
chen, die sich rasch in der Fläche vergrössern und dann in die Tiefe
greifen. Die Schleimhaiitkrebse ulceriren früh und inficiren auch die
Lymphdrüsen schnell. Sie machen auch fast ausnahmslos bald schwere
Störungen , hauptsächlich Verengerungen der erkrankten Schleimhaut-
canäle — Stimmritze, Speiseröhre, Pylorus, Mastdarm. — Diese Stenosen
machen dann oft die dringlichsten Erscheinungen, und wenn die Dia-
gnose: Stenose bald klar wird, so ist die Natur derselben, ob krebsig
oder narbig, oft bis zum Tode unsicher.
Die Schleimhautkrebse kommen auch in jüngeren Jahren vor.
Ich habe Rectumcarcinome, Krebse der Portio vaginalis uteri vor und
um das zwanzigste Lebensjahr gesehen. Der Verlauf ist durchschnitt-
lich ein schnellerer, 1, IV2 bis 2 Jahre, natürlich mit Ausnahmen. Die
Prognose ist viel schlechter , als die der Hautkrebse — sie werden,
wegen der verborgeneren Lage, meist erst in vorgerückteren Stadien
erkannt; die Operationen sind schwieriger und gefährlicher (Peritoneum)
und so ist die Zahl der Todesfälle an der Operation und der späteren
Rückfälle eine viel grössere.
Fig. 345 gibt einen Zungenkrebs. Die Neubildung dringt von rechts nach
links in das Gewebe der Zunge ein. Bei h massenhafte epitheliale Massen , die . bei a
Schleimhautkrebse.
367
auch centrale Yerhornung zeigen. Links ist noch Zungengewebe , nicht normal , aber
doch als solches zu erkennen, vorhanden, c Muskelfasern, bereits zellig iniiltrirt und in
ihrem Protoplasma nicht mehr intact, bei d lockeres Zellgewebe, mit einigen Fettzellen
und ausgesprochener zelliger Infiltration, e sind Gefässe.
Der Zungenkrebs unterscheidet sich von tuberculösen und syphilitischen Ge-
schwüren durch seine Härte, durch Nachweis anderer syphilitischer oder tuberculöser
Processe, oder eine antisyphilitische Cur gibt den Ausschlag.
Fig. 346 Krebs des Pharynx. Die zapfenförmige Anordnung
der protoplasmareichen und grosskernigen Epithelzellen ist eine sehr
Fig. 34G.
regelmässige und erinnert noch an den normalen Typu.s der Drüsen der
Schleimhaut. Ein reichliches Zwischengewebe , theils aus welligem
Bindegewebe, theils aus glatten Muskelfasern bestehend, umschliesst die
epithelialen Mas.sen.
368
V. Capitel. — Geschwülste.
Fig. 347.
In Fig. 347 ist ein Epithelialcarcinom des Larynx darge-
stellt (Laryngoskopisches Bild nach Tobold, nat. Gr.). Vom Stimmband
aus wuchert die höckerige zerklüftete Ge-
schwulst in das Larynxinnere und gegen
die Stimmritze hin.
Fig. 348 ist ein Mastdarmkrebs.
Ausser den schönen Cylinderzellen fällt
der ausgesprochen drüsige Bau der Neu-
bildung auf, deren Abstammung von den
normalen Schlauchdrüsen des Mastdarmes
ohne weiteres klar wird.
Die Blasenkrebse treten bald als
gestielte polypenartige Geschwülste auf,
den in Fig. 326 geschilderten Papillomen ähnlich. Die Neubildung
von drüsen- und schlauchartigen epithelialen Wucherungen dringt
auch in die Tiefe des Gewebes , Schleimhaut , Submucosa , Mus-
cularis. Der Grund ist auch nach der Abtragung der Geschwulst hart,
rauh, höckerig und derb anzufühlen (diagnostisch wichtig!). — In
anderen Fällen tritt der Krebs von Anfang an als flächenhafte derb-
knotige Einlagerung in das Gewebe auf — „infiltrirter Blasenkrebs".
Die Blasenkrebse sind Pflasterzellenkrebse.
Die Schleimhautkrebse der weiblichen Geschlechtsor-
gane erscheinen meist zunächst als flache Infiltrate und werden dann
Fig. 348.
zum harten knotigen, oft etwas erhabenen Geschwür — namentlich an
der Portio vaginalis („Erosionsgeschwür"). — Mikroskopisch findet man
sehr schöne Drüsenschläuche oder Epitheleinstülpungen mit regelmässigen
Cylinderepithelien, den normalen drüsigen Schleimhautgebilden ähnlich.
Später erfolgt dann ein Einwachsen in die Tiefe, wobei auch die Form
der epithelialen Bildungen eine weniger regelmässige wird. In den
Drüsenkrebse.
Mammacarcinom.
369
späten Stadien kommt es oft zur Bildung- grösserer höckeriger Ge-
schwülste, namentlich von der Portio vaginalis ausgehend, die — von
einer entfernten Aehnlichkeit her — Blumenkohlgewächse genannt
werden. Die Krebse des Uterus sind 'Cylinderzellenkrebse , die der
Vagina bestehen aus Pflasterzellen.
Für die Drüsenkrebse ist das beste Beispiel das Mamma-
carcinom. Es beginnt als ein kleiner, schmerzloser, harter, aber nicht
ganz scharf umschriebener Knoten — Fibrome u. dergl. Greschwülste
fühlen sich distincter an — in einem Drüsenlappen der Mamma, häufig
im äusseren Quadranten. Er wächst unmerklich und langsam, indem
er sich allmählich nach den übrigen Theilen der Drüse hin verbreitet.
Fig. 349 gibt einen Durchschnitt dui'ch einen Krebsknoten einer 63jährigen Frau
in halber Grösse. Der fast gänseeigrosse Tumor erscheint makroskopisch gegen die Um-
gebung noch ziemlich scharf abgesetzt (mikroskopisch existirt eine solche scharfe Tren-
Fig. 349.
nungsliuie keineswegs). In frischem Zustand war er blass. fleischfarben, mit einge-
sprengten zahli'eichen hellgelben verfetteten Stellen. Von der .Scliaittfläche floss etwas
milchige fette Flüssigkeit — der bekannte Krebs saft. Das Gefüge war ein derbes.
Um den in zwei Hälften auseinandergelegten Geschwulstknoten liegt die grauliche, ge-
körnte, noch erhaltene, aber zum Theil atrophische Drüsensubstanz.
Im weiteren Verlauf breitet sich nun der Krebs einerseits nach
der Haut hin aus, verwächst mit ihr, es bilden sich massenhafte Knöt-
chen in der Haut, schliesslich bricht er auf und das Ganze wird zum
stinkenden , jauchigen Krebs (s. Fig. 351). Andererseits verwächst er
mit dem unterliegenden 'M. i)ectoralis major, durch.setzt denselben, ja er
kann auf die Rippen und die Pleura sich fortsetzen und — als »Schluss
des Leidens — eine (liäniorrhagischc) Pleuritis hervorrufen. Einst-
weilen sind natürlich auch die Lymphdrüsen der Axilla, der Infra- und
Supraclaviculargegend erkrankt ; es kommen Blut- und Lyniphstauungen
im Arm, grässlichc Schmerzen in den umwachsenen Nerven des Plexus
axillaris, oder es haben sich innere Metastasen gebildet, in Knochen,
Leber u. s. w., und die Kranken gehen an der Krebskaehexie, Blutungen,
Jauchung u. dergl. zu Grunde.
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Tlierapic. 2. Aufl. 24
370
V. Capitel. — Gfischwülste.
Blllroth unterscheidet 4 Hauptformen des Brustkrebses.
1. Die tlieils weicbereu, theils härteren Carcinom knoten TMark-
schwämme). Vergl. Fig. 349. Mikroskopiscli sind die Geschwülste von
acinösem Bau, Fig. 350. Im unteren Theil die drüsigen Wucherungen
in Gestalt von Blasen und Schläuchen, bestehend aus sch(3nen, grossen,
protoplasmareichen Zellen , grösstentheils Cylinderzellen. In der Um-
gebung entzündliche Infiltration. Rechts ein gegen die Haut heranwach-
sender Krebszapfen.
2. Die carcinomatöse Infiltration ist meist von Anfang au
ohne scharfe Grenzen, geht bald auf die Haut über und bildet rasch
zahlreiche Knötchen in der Haut. Fig. 351 nach Billroth (doppelseitigj.
Von der Warze ist rechts nichts mehr zu sehen links ist sie geschwürig
verändert, beiderseits grosse Krebsgeschwüre mit mis>farbigem hartem
Grund und unregelmässigen Rändern. Weithin ist die Haut durchsetzt
Fig. 350.
mit- grösseren und kleineren Knötchen. Die Infiltration der Achsel-
drüsen ist angedeutet. Selbstverständlich ist dieser Fall jenseits der
Grenzen eines operativen Eingriffes. Diese Form macht frühzeitige
innere Metastasen. Histologisch findet mau in Geschwülsten dieser Art
Bilder wie in Fig. 352 (auch als tubulöser Krebs bezeichnet). Die
Anordnung der grossen protoplasmareichen Zellen ist mehr eine strang-
förmige, namentlich in dem linken Theil des Präparats. Die Lagerung
der Zellen ist eine weniger regelmässige und gewinnt namentlich in
dem rechten Theil des Präparats, wo die Neubildung in das Binde-
gewebe hineinwächst, stellenweise Aehnlichkeit mit Sarkom.
3. Der atrophirende schrumpfende Brustkrebs (Cancer en
cuirasse). Fig. 353 (nach Blllroth). Von der linken Brust ist eigent-
lich nichts mehr vorhanden ; an ihre Stelle ist ein dem Knochen fest
aufsitzendes carcinomatöses Geschwür getreten, dessen Grund von harten
Knötchen gebildet wird. Von dieser Geschwürsfläche ziehen tiefe
Brustkrebs.
371
harte Narbenstränge nach allen Richtungen, namentlieh nach den Acbsel-
höhlen hin; ebenso ist die ganze iinigebende Haut in ein starres un-
nachgiebiges Infiltrat verwandelt, daher der Name Panzerkrebs, weil
er den Thorax wie ein Panzer einschnürt. — Diese Krebsform zieht
sich über eine Reihe von Jahren hin und neigt weniger zu Metastasen.
Mikroskopisch sieht man oft auf weiten Strecken nur starres, faseriges
Bindegewebe mit nur wenig epithelialer Neubildung, die anscheinend
sofort wieder von dem massigen Narbengewebe erdrückt wird.
Viel Statistik über Maromageschwülste findet sich bei Poulsen {Langenheck's
Arch., 42).
Vielfach auf Psorospermien zurückgefülirt wird die von Paget zuerst beschriebene
Krankheit der Brustwarze, die zuerst mehr eiue Art chronisches Eczem darstellt, später
aber als Krebs anzusehen ist. Es finden sich dabei in den gewucherten Epithelien
Fig. 351.
Psorospermien ähnliche Zelleinschlüsse, die lJctrier'ad\ew Kürperchen. Vergl. u. A. auch
Schidten, LangenhecKs Arcli., 48.
4. Der Gallertkrebs (Colloidkrebs). eine in der Mamma seltene
Carcinomspecies mit colloider Umwandlung der Epithelien. Er bildet
rasch zu enormer Grösse hei'anwaclisende Geschwülste , mit rapidem
klinischem Verlauf.
Beim Hodenkrebs finden sich von den Öamencanälchen aus-
gehende Wucherungen von Cylinderepithelien, in Form von Schläuchen.
Regressive Metamorphosen — \'erlettungen , Blutungen . C'ystenbiidung
sind häufig. Klinisch bilden diese (ieschwüiste zicndich rasch wach-
sende Geschwülste, die von ."syphilitischen Ibidcntuuiorcn oft nur durch
die antiluetische Behandlung unterschieden werden kijnnen. Von llnden-
sarkomen — vom Stützgewebe des Hodens ausgehend — lassen
sie sich oft erst durch das Mikroskop unterscheiden: doch wachsen
24*
372 V. Capitel. — Geschwülste.
letztere meist noch schneller und zu noch grösseren Geschwülsten heran.
Früh exstirpirt durch Entfernung des ganzen Hodens (Castrationj, kehren
sie mitunter nicht wieder.
In Fig. 337 ist ein Schilddrüsenkrehs abgebildet. Das
Charakteristische der Abbildung ist bereits auf pag. 357 hervor-
gehoben. Vergl. auch Fig. 15 (colloide Entartung der Scliilddrüse).
Diese rasch wachsenden Tumoren sind übel berüchtigt durch die früh-
zeitigen Verwachsungen mit den Eingeweiden des Halses , namentlich
der Luftröhre, die von ihnen bald auf's Aeusserste verengt wird.
Sie sind viel weniger beweglich, als die gutartigen Schilddrüsenge-
schwülste und wegen ihrer allseitigen Verwachsungen schwer, oft gar
nicht ganz auszulösen, sie kehren rasch wieder.
Die Melanocarcinome verhalten sich in ihrem histologischen
Bau ganz wie sonstige Carcinome, von denen sie sich durch die braunen
Fig. 352.
'^It^: - - >
und schwarzen Pigmentkörner unterscheiden. Diese liegen wie bei den
Sarkomen theils in, theils zwischen den Zellen. Sie kommen haupt-
sächlich auf der äusseren Haut und auf Schleimhäuten als bräunliche
oder schwärzliche Tumoren vor. Ihr klinischer Verlauf ist dem der
Melanosarkome ähnlich, wenn sie auch vielleicht nicht ganz so bösartig
sind, wie diese, namentlich nicht so rasch und massenhaft Metastasen
machen und nicht so schnell zum Tode führen. Die Melanocarcinome
sind seltener als die Melanosarkome.
Das, Cholesteatom (Perlgeschwulst, Margaritom) ist eine eigenartige, nament-
lich im Felsenbein vorkommende epitheliale Neubildung, deren Zellen (Plattenepithelien)
ungefähr in der Art der Hautkrebse angeordnet sind. Die Epithelien sind verhornt, und
der Tumor ist sehr gefässarm, auf dem Durchschnitt trocken, p er Imutter artig glänzend
und gekörnt. Er wächst inficirend, durchbricht z. B. das Felsenbein, geht auf die Dura
über, kehrt exstirpirt sehr leicht wieder und scheint auch Metastasen zu machen.
BenecJce (Virchoir's Ärch., 142) nimmt auch ein von den Endothelien der Meningen
ausgehendes Endotheliom an und verwirft den Namen Cholesteatom ganz.
Allgemeine Diagnose der Geschwülste.
373
Allgemeine klinische Diagnose, Therapie und Prognose der Geschwülste.
Um uuter diesen zahlreichen Geschwiilstformen sich leichter zu
Orientiren, ist es zweckmässig, stets einen bestimmten Gang der Unter-
suchung festzuhalten. — Wie bei jeder Untersuchung, geht der Unter-
suchung der vorhandenen Geschwulst, der Aufnahme des „Status
praesens", die Anamnese, die Erhebung der Vorgeschichte voraus.
Gutartige Geschwülste sind häufig vererbt; bei den bösartigen scheint der
Heredität durchaus nicht die wichtige Rolle zuzukommen, die ihr von Vielen auch heute
noch zugetheilt wird. Vergl. pag. 314.
Wichtig ist das AI t er des Kranken. Bei ganz kleinen Kindern kommen
gewisse angeborene Geschwülste, z. B, bösartige Nierentumoren , dann
das Cystoma colli congenitum, vor. Das 15. bis 30. Lebensjahr ist die
Liebliugszeit der Sarkome; der Krebs sucht vorwiegend die letzten
Decennien heim. Gutartige Neubildungen sind über das ganze Leben
Fig. 353.
fast gleichmässig zerstreut. Geschwülste, die seit der Geburt vorhanden
sind und wegen deren man erst in späteren Lebensjahren consultirt
wird, sind meist gutartig.
Von fr über erworbenen c lir o n i s c h e n K r a n k h e i t e n si nd bei der Anam-
nese namentlich Syphilis und Tuberculose zu berücksichtigen. Syphilitische und tuber-
kulöse Knochengeschwülste, Hoden- und Brusttumoren, Lymphdrüsengeschwülste sind
schon mehr als einmal selbst von erfahrenen Chiiiirgen als bösartige Neubildungen ent-
fernt worden. Luetische Geschwülste werden durch Quecksilber und Jodkali beeinflusst,
tuberculose Attectionen durch den Nachweis anderweitiger oder früherer tuberculöser
Leiden wahrscheinlich gemacht. Bei Drüsen-, Knochen- und Milzgeschwülston kann
gelegentlich Leukämie mit in Frage kommen.
Nach V. Esmarch (Chir. Congr., 1895) hat man an den Zusammenhang mit
Syphilis zu denken, wenn sonst Zeichen von Syphilis am Körper vorhanden sind,
bei allen Geschwülsten, die sich primär in willkürlichen Muskeln entwickeln, bei sarkom-
artigi-n Bildungen, wenn diese nach reiner Entfernung erst langsam, dann immer rascher
recidiviren (Eecurring fibroids), schliesslich bei allen Tumoren, die durch Jod, (Quecksilber,
Arsenik, ZHtviann's(^hes Decoct, Wundrose, Streptokokkentoxine beeinflusst werden.
Geschlechtliche Unterschiede kommen wenig in Bctraclit. — Bei den
Weibern finden sich überwiegend Brustdrüsen- und l'teruskrebse, ilagegen fast nie ein
374 V. Capitel. — Geschwülste.
Unterlippenki'ebs ; beim Manne viele Unterlippenkrebse und nui- als extreme Rarität ein
Brustdrüsenkrebs.
Beschäftigung, Lebensweise und Gewohnheit spielen nur in einzelnen
Fällen eine EoUe. Das Epithelialcarcinom der Unterlippe kommt fast nur in der bäuer-
lichen Bevölkerung vor. .Starkes Rauchen wird als wichtig für Lippen-, Wangen-, Kehl-
kopfkrebse angegeben ; Unreinlichkeit (Phimose) für Peniskrebse und die Gesichtskrebse
a,lter Leute. Gewisse Beschäftigungen, Paraffin-, Petroleumindustrie u. s. f., sollen zu
Hautkrebsen Anlass geben (Schornsteinfegerkrebs). Manches andere — der Einfluss der
Bodenbeschaffenheit auf Kröpfe — ist bei den einzelnen Geschwülsten angegeben.
Ebenso, dass für manche Geschwülste (Sarkome) eine Verletzung als Anlass angegeben
wird , für andere (Krebse) vorausgegangene chronische Entzündungen und andauernde
Reizungen. (Vergl. pag. 314.)
Es kommt nun die Frage über den Anfang und bisherigen
Verlauf des Leidens. — Man fragt, wann die Geschwulst zuerst be-
merkt wurde und wo, ob sie dem Knochen aufgesessen, unter der Haut
verschieblich gewesen u. dergl.
Eine wichtige Frage ist die nach der Wachsthumsgeschwin-
digkeit der Geschwulst. Langsame, gleichmässige Entwicklung
spricht meist für Gutartigkeit. Rasches Wachsthum ist mit Ausnahme
von cystischen Geschwülsten ominös. Plötzliche Wachsthumszunahme
ist sehr verdächtig, ebenso sprungweises Wachsthum, Ganz rapide Zu-
nahme, z. B. über Nacht (durch Blutung in die Geschwulst), ist fast
nur bösartigen Neubildungen eigen (vorwiegend weichen Sarkomen).
Periodisches , namentlich der weiblichen Menstruation gleichzeitiges
Wachsthum, zeigen manche gutartigen Geschwülste der Schilddrüse und
der weiblichen Brustdrüse. Li der Schwangerschaft wachsen alle Tu-
moren, besonders aber die malignen, sehr schnell (Lücke).
Eine weitere Frage ist noch, ob die Geschwulst bisher Schmerzen
gemacht hat. Gutartige Geschwülste, Lipome, Osteome, Fibrome
u. s. w., sind meist schmerzlos, von den Tubercula dolorosa (pag. 319)
abgesehen , die oft geradezu fürchterliche neuralgische Schmerzen
machen. Von den bösartigen Geschwülsten sind die Sarkome meist
während ihrer ganzen Dauer schmerzlos. Die Krebse sind es nur an-
fangs; dann stellen sich periodische, durchschiessende, „lancinirende"
Schmerzen ein und zum Schluss. wenn Nervenäste umwachsen werden,
continuirliche ausstrahlende Schmerzen.
Die letzte Frage ist dann die, ob der Träger bisher eine Ein-
wirkung der Geschwulst auf sein Allgemeinbefinden erfahren hat.
Gutartige Geschwülste lassen meist die Gesundheit des Trägers ganz
unberührt; doch ist der umgekehrte Schluss falsch, dass die Geschwulst
eine gutartige ist, weil der Träger blühend aussieht. Die meisten bös-
artigen Geschwülste verändern im Anfang die Gesundheit des Kranken
nicht, und dies ist oft der Grund, warum die Kranken nicht früh genug
zur Operation sich entschliessen.
Ehe man bei der Aufnahme des Status praesens an die Unter-
suchung der Geschwulst selbst geht, ist eine physikalische Untersuchung
von Lungen und Herz, auch eine Prüfung des Urins auf Eiweiss und
Zucker zu machen. — Sehr bedenklich ist es, wenn es schon zur „Ge-
schwulstkachexie" — als Zeichen der Bösartigkeit der Neubildung —
gekommen ist. Die Kranken sehen fahl, graugelb, abgemagert aus;
die Haut ist welk , schilfert namentlich an den Beinen ab (Pityriasis
tabescentium). In vorgeschrittenen Fällen sind schon Oedeme der Füsse
vorhanden. Der Gesichtsausdruck ist ein matter und müder.
Allgemeine Diagnose der Geschwülste. 375
Bei der Untersuchung der Geschwulst selbst gibt die Form und
Grösse meist wenig entscheidende Aufschlüsse. Ausgesprochene Kugel-
gestalt spricht für cystische Natur. — Unregelmässige, höckerige Form
kommt gutartigen und bösartigen Geschwülsten zu.
In der Bestimmung der Grösse sind genaue Aufzeichnungen nach
Centimetern zu macheu, Länge, Breite, wo möglich auch Höhe und
Umfang festzustellen und zugleich eine vergleichende Messung der gesunden
und der kranken Seite (Bein, Arm, Rumpfbälfte) vorzunehmen. Die
bekannte Grössenscala , „von Sandkorn- bis Mannskopfgrösse und
darüber" soll man höchstens nebenher gebrauchen.
Sehr grosse Geschwülste sind häufiger gutartig; einer bösartigen
Geschwulst wäre der Kranke meist erlegen, ehe sie die Grösse von
zwei Mannsköpfeu u. s. w. erreicht hätte.
Die Betastung (Palpation) gibt über Form und Oberfläche
der Geschwulst Aufschluss, ob sie kuglig, eiförmig, flach u. s. w. ; dann
ob die Oberfläche eine gleichmässige , glatte oder unregelmässige,
höckerige ist u. s. w.
Die Consistenz gibt werth volle Aufschlüsse. Man kann hier
eine Härtescala aufstellen, die am zweckmässigsten sich an die be-
kannten normalen Gewebe des Körpers anschliesst. Man hat knöcherne
Härte — Osteome, Osteosarkome, Odontome, Exostosen, Reitknochen —
ihr nahestehend Knorpelconsistenz — Enchondrome. Von sehr derbem,
hartem Gefiige sind dann die Fibrome , Fibrosarkome , manche Car-
cinomknoten, Neurome. Zu den weichen Geschwülsten, die häufig sich
zugleich elastisch anfühlen, gehören Lipome (lappig), weiche Fibrome,
weiche Sarkome (Rundzellensarkome), manche Drüsencarcinome. Sie
fühlen sich vielfach schon wie diejenigen Geschwülste an , die
Flüssigkeit enthalten, sie bieten Pseudofluctuation (ähnlich der Con-
sistenz des schwangeren Uterus). Fluctuation (s. pag. 31), (die Fort-
leitung des Stosses von dem einen Finger auf den an anderer Stelle
aufgesetzten zweiten Finger), bieten diejenigen Geschwülste, die
freie Flüssigkeit enthalten. Steht der Inhalt unter starkem Druck, so
fühlt sich die Geschwulst oft nebenbei sehr prall und hart an und das
Gefühl der Fluctuation kann schliesslich fast verschwinden und nur sehr
schwer nachzuweisen sein.
Wichtig ist das Verhalten zur Umgebung der Geschwulst,
besonders ob die Geschwulst gegen die Nachbarschaft verschieb-
lich ist oder nicht. Man prüft, ob die Haut über der Geschwulst ver-
schoben und in Falten gehoben werden kann, ob die Geschwulst mit
der Haut verlöthet ist oder nicht, ob die Geschwulst gegen Fascie,
Muskel und den Knochen verschoben werden kann , ferner ob eine
Halsgeschwulst den Bewegungen des Kehlkopfes, der Luftröhre beim
Schlucken folgt, eine Bauchgesclivvulst den Excursionen des Zwerchfells
bei der Atlimung, der Bewegung des Uterus (durch die Utcrussonde) u. s. w.
folgt. Nur gutartige Geschwülste und bösartige nur in früheren
Stadien (meist gar nicht) sind gegen die Umgebung verschieblich.
Auch über den Ausgangspunkt der Geschwulst orientirt man sich
so. Liegt nur die Haut darüber, so mag die Geschwulst vom Unter-
hantzellgewebe ausgehen; fühlt man eine stratfi; Fascie darüber weg-
gespannt, so wird sie von den unterhalb dieser gelegenen Theilen —
376 ^' Oapitel. — Geschwülste.
Muskeln, grossen Gefässen, Eingeweiden ausgehen. Ganz in der Tiefe
ruhen Knochengeschwülste u. s. w.
Pulsation kommt den Gefässgeschwülsten zu. Z.B.Aneurysmen
(s. Krankheiten der Gefässe) zeigen den Arterienpuls. Ein anderes Mal
ist es ein mehr gleichmässig periodisch verstärktes Sausen odei* Brausen
(ähnlich den Venengeräuschen). Dies kann in allen sehr gefässreichen
Geschwülsten vorkommen (cavernös entarteten Geschwülsten , Struma
aneurysmatica , Sarcoma teleangiectodes u. s. w.). Doch können Ge-
schwülste auch durch Verwachsung mit grossen Gefässen (Aorta) pulsa-
torische Erschütterung gewinnen. Mit der Gehirnrückenmarkshöhle frei
communicirende Geschwülste (Meningocele u. s. w.) können Gehirn-
pulsation zeigen.
Andere Geschwülste sind compressibel, namentlich die Gefäss-
geschwülste (Angiome) ; man kann den Inhalt in die übrigen Blutge-
tässe durch Fingerdruck entleeren. Sie sind meist auch erectil, das
heisst sie schwellen an beim Exspirium (Schreien).
Zu beachten ist ferner noch das Verhalten der Haut. Gut-
artige Tumoren lassen meist die Haut unverändert; nur wenn sie sehr
gross sind, wird sie gespannt, kann sogenannte Striae zeigen (weisse,
sehnig glänzende Streifchen), lieber bösartigen Tumoren ist die Haut
häufig gespannt und zugleich ödematös. Dabei sieht man ausgedehnte,
flache Venennetze über die Geschwulst weg ziehen — ein Zeichen der
Circulationsstörung in der Tiefe (vergl. pag. 340).
Entzündung der Haut kommt bösartigen Geschwülsten eben-
falls häufiger zu , als gutartigen. Ein fast untrügliches Zeichen der
Bösartigkeit ist das Vorhandensein kleinster Knötchen (miliarer Krebs-
knötchen) in der umgebenden Haut.
Aufbruch der Geschwulst und Bildung einer Geschwtirs-
fläche ist bei bösartigen Geschwülsten in den fortgeschrittenen Stadien
die Regel ; bei gutartigen eine Seltenheit und nur die Folge besonderer
Veranlassung (Druckbrand der Haut bei sehr grossen Geschwülsten,
Verletzungen, uuzweckmässige Behandlung). Bei gutartigen Neubildungen
kommt es dann bisweilen wieder zu richtiger Heilung; bei bösartigen
folgt gewöhnlich Verjauchung. — Krebse zeigen hin und wieder Epithel-
bekleidung und Narbenbildung , wenigstens an einzelnen Stellen ; bei
Sarkomen findet man dies nie.
Blutungen sind vorwiegend bösartigen Geschwülsten eigen.
Wirkliche Pigmentirung (schwarz, braun) zeigen nur bösartige
Tumoren.
In keinem Fall darf man eine genaue Betastung der Lymph-
drüsen der betreffenden Gegend unterlassen, z.B. der Achseldrüsen
bei Mammatumor. Sind sie nicht grösser als die der anderen Seite, so ist
dies ein gutes Zeichen ; es handelt sich entweder um eine gutartige
Geschwulst oder, wenn es eine bösartige ist, um ein frühes Stadium,
wo eine Operation Aussicht auf Erfolg gibt. Man begnüge sich hiebei
nicht mit den Drüsen der ersten Etappe, sondern betaste auch die der
zweiten und dritten — bei Mammageschwülsten ausser den Achsel-
drüsen die Infra- und Supraclaviculardrüsen ; bei einer Geschwulst am
Unterschenkel die Femoral-, Inguinal- und Iliacaldrüsen u. s. w.
Die Zahl der Geschwülste ist gleichfalls nicht ganz ohne
diagnostische Bedeutung. Zahlreiche Geschwülste von annähernd gleichem
Allgemeine Diagnose der Geschwülste. 377
Alter und Entwicklungszustand sind meist gutartig — multiple Fibrome,
Neurome, Osteome u. dergl. Hat man eine grosse Geschwulst und zalil-
reiche viel kleinere, so sind diese wohl als Metastasen der grossen auf-
zufassen und die Neubildung ist eine bösartige.
Für die dif f erentielle Diagnose von Sarkom und Carcinom werden
meist folgende Piinkte als wichtig hervorgehoben : Die Sarkome gehören vorwiegend der
Blüthezeit des Lebens an , die Krebse mehr den späteren — Involutionsjahren. Das
Sarkom schliesst sich oft an eine Verletzung an ; dem Carcinom gehen öfter chronische
Störungen voraus. Carcinome finden sich nur da , wo epitheliale Elemente vorhanden
sind. Sarkome gehen von der Bindegewebsgruppe aus. Die Sarkome sind oft anfangs
deutlich abgekapselt, die Krebse nie. Entzündungserscheinungen zeigen Krebse häufiger
als Sarkome. Blutungen in die Substanz der Geschwulst sind beim Krebs selten und
klein, beim weichen Sarkom häufig und massenhaft. Blutungen aus grossen Arterien
kommen beim Krebs öfters vor, bei Sarkomen kaum jemals. Lymphdrüseninfection ist
beim Krebs die Eegel, bei Sarkomen weniger häufig. Ist Aufbruch erfolgt, so können
Carcinome temporär oder stellenweise benarben (d. h. sich mit Epithel bedecken) , bei
Sarkomen kommt dies nie vor. Die Bildung kleiner secundärer Hautknötchen in der
Umgebung der Hauptgeschwulst kommt vorwiegend dem Krebs zu, selten triift man dies
beim Sarkom.
Eine vorliegende Geschwulst wäre etwa in folgender Weise zu diagno-
sticiren und zu beschreiben:
1. Gesunde, kräftig entwickelte Person, 35 Jahre alt. An der Aussenfläche des
Oberarms im mittleren Drittel eine 12 Cm. lange, 9 Cm. breite Geschwulst; Umfang des
Oberarms an dieser Seite (links) 38 Cm. gegen 32 Cm. rechts ; ohne bekannte Ent-
stehungsursache, seit 6 Jahren bemerkt, nicht schmerzhaft, nicht druckempfindlich. Haut
unverändert, eher blässer. Die Geschwulst ist unter der Haut etwas, gegen Fasele und
Muskeln leicht verschieblich ; Form länglich rund, Oberfläche halbkugelig, etwas höckerig.
Consistenz weich, fast fluctuirend ; der Tumor setzt sich deutlich aus einer Anzahl ein-
zelner Knoten zusammen. Diagnose : Fettgeschwulst, Lipom.
2. 23jähriger junger Mensch ; etwas kränklich aussehend. An Lunge, Herz u. s. w.
keine nachweisbaren Veränderungen , kein Fieber. Der linke Oberschenkel stark ge-
schwollen, Difl'erenz gegen rechts 9 Cm. — Die Anschwellung sitzt an der äusseren
vorderen Fläche des Oberschenkels, entsprechend seinem mittleren Drittel , nach oben
und unten ist die Grenze der Geschwulst durch die Inspection nicht genau festzu-
stellen. Haut, von einigen erweiterten Venen abgesehen, so ziemlich normal. — Patient
klagt über leichte, für „rheumatisch" gehaltene ziehende Empfindungen im Bein. Patient
weiss über den Beginn seines Leidens keine Angaben zu machen. Bei der Betastung
fühlt man eine nahezu knochenharte, halbkugelige, flache Geschwulst, über der die
Haut leicht, Fascien und Muskeln in Streckung nur schwer, in gebeugter Stellung des
Beins und dadurch erschlafl'ter Muskulatur leichter zu verschieben sind. Soweit dies bei
der dicken überliegenden Weichtheilschicht möglich ist, lassen sich ziemlich scharfe
Grenzen der Geschwulst herau.stasten. Die Untersuchung ist nicht besonders schmerz-
haft. Die Beweglichkeit des Beins ist nur durch das Gefühl der Schwere im Bein be-
schränkt. Femoral-, Inguinal- und Uiacaldrüsen links stärker entwickelt als rechts, nicht
schmerzhaft oder drackempfindlich.
Diagnose: Periostsarkom des linken Oberschenkels.
Ein Sarkom des Marks würde den ganzen Knochen blasenförmig auftreiben, nicht
an der Aussenseite eine circumscripte Anschwellung erzeugen. — Eine Entzündung der
Beinhaut würde heftigere Schmerzen, wahrscheinlich Fieber machen : die Muskeln wären
bei dieser Grösse der Anschwellung mit derselben fest verlöthet ; die Anschwellung würde
selbst der genauesten Betastung keine scharfen Grenzen geben; entzündliche Anschwel-
lungen sind fast nie so scharf begrenzt wie Geschwülste; die Drüsen der Seite wären
vergrössert und schmerzhaft.
Die Operation (liohe Oberschenkelamputation oder E.xarticulation im Hüftgelenk)
wird abgelehnt, weil die kranken Uiacaldrüsen doch nicht entfernt werden können. —
Die nach 2 Monaten erfolgte Section wies ausgedehnte innere Metastasen nach.
3. 54jährige Frau, früh gealtert erscheinend (präsenil), mager, matt aussehend;
bisher gesund, in der rechten Brust vor 25 Jahren in pucrperio eine eitrige Mastitis.
Vor i Jahren angeblich ein Stoss. Seit Vj Jahren eine „Verhärtung'* in der Brust be-
merkt, hin und wieder durchschiessende Schmerzen. — Innere Organe ohne nachweis-
bare Abnormitäten. Rechte Brust etwas grösser als die linke, ungefähr 18 Cm. breit
378 ^- t-'apite]. — Geschwülste.
und 12 Cm. hoch, gegen 16 : 10 Cm. links. Haut etc. beiderseits gleich, welk, gerunzelt.
Die rechte Brustwarze stärker eingezogen.
Im äusseren Quadranten der rechten Mamma fühlt man einen über hühnerei-
grossen harten Knoten, leicht höckerig; gegen die übrige Drüse nicht zu verschieben,
nicht scharf gegen diese abgesetzt. Kaum druckempfindlich. Die Haut ist über ihm
noch verschieblich, ebenso wie die ganze Drüse sich leicht über dem Musculus pectoralis
major hin- und herschieben lässt. Drüsen der Axilla rechts erbsen- bis bohnengross,
links nicht zu fühlen. Infra- und Supraclaviculardrüsen ohne nachweisbare Verände-
rung gegen links.
Diagnose : Carcinoma mammae (vermuthlich knotige Form).
Sarkom ist auszuschliessen wegen des höheren Alters der Trägerin, der harten
Consistenz und des langsamen "Wachsthums. Sarkome sind meist weicher, wachsen
schneller, verlöthen früher mit der Haut, zeigen früh ektatische Venen. Lymphdrüsen-
schwellung ist beim Sarkom selten, beim Krebs die Regel. Sarkome sind ganz schmerzlos,
Krebse zeigen bald die lancinirenden Schmerzen. Gegen Adenom spricht das Alter und
die Lymphdrüsenschwellung, die Einziehung der Warze, dasselbe spricht gegen F i b r o m
und Fibroadenom. Ebenso das verhältnissmässig rasche Wachsthum. Mastiten ver-
laufen mit heftigen Schmerzen und Entzündungserscheinungen, schliessen sich meist un-
mittelbar an eine bestimmte Ursache, Lactation, Verletzung u. s. w. an, sind mit Fieber
verknüpft, kommen fast nur diesseits des Climacteriums vor. Gegen Cysten, Lipom
u. s. w. spricht die Consistenz.
In der Behandlung der Geschwülste spielt das Messer die
erste Rolle; seit die Einführung der Antisepsis die Exstirpation der
meisten Geschwülste zu einer fast gefahrlosen Operation gemacht hat,
mehr denn je. Die Entfernung der Geschwülste ist ein um so berech-
tigterer Eingriff, als es sich hier nicht wie etwa bei der Amputation
eines Beins um eine dauernde Verstümmelung, sondern durch Ent-
fernung der für den Organismus werthlosen Geschwulst , um Wieder-
herstellung eines rein physiologischen Zustandes handelt. Doch ist
in jedem Falle die Gefahr, die möglicherweise mit der
Operation für den Kranken verknüpft sein kann, mit der
Gefahr zu vergleichen, die ihm mit Sicherheit aus der Ge-
schwulst erwächst.
Gutartige Geschwülste fordern nur durch besondere örtliche
Verhältnisse zu sofortigem Eingreifen auf — Kehlkopfpolypen , sehr
grosse Unterleibsgeschwülste u. dergl. Sollte die Geschwulst nur mit er-
heblicher Lebensgefahr (wegen Gefahr der Blutung, tiefer Lage u. s. w.)
entfernt werden können und sind schwere Störungen von ihr nicht zu
befürchten, so mag man sie unberührt lassen. Ist aber die Geschwulst
leicht und gefahrlos zu entfernen , wie dies meist bei den leicht aus-
schälbaren gutartigen Geschwülsten der Fall ist, so genügt der AVunsch
des Kranken, der dadurch genirt, entstellt wird oder die sichere Aus-
sicht auf spätere schwerere Störungen als Anzeige zur Entfernung.
Bösartige oder verdächtige Geschwülste sind, wenn irgend
möglich, sofort zu entfernen, und zwar, wenn thunlich, mit ihren
Lymphdrüsen und dem diese umgebenden Binde- und Fett-
gewebe.
Auf statistische Zahlen der Gefährlichkeit einzelner Operationen ist nicht so viel
zu geben, als persönliche Erfahrung der einzelnen Operateure. So hat Bülrotli für
Amputatio mammae eine Mortalität von 20'77oi Esmarch 10-22° /q, Fischer 20-4:°/ q,
Volkmann 7'63 /(,, Küster 14'397r.. Diese zum Theil aus vorantiseptischer Zeit stammen-
.den Zahlen sind durch die Erfolge von heute längst überholt. Ein Todesfall durch
Amputatio mammae kommt heute nur noch durch besondere Umstände (Herzkrankheit
u. dergl.) vor. — Bei Operationen in der Bauchhöhle ist z. B. bei Ovarialgeschwülsten
die Sterblichkeit auf 1— 37o (Lcuvson Tau) herabgedrückt. Weniger günstig steht es
Allgemeine Behandlung der Geschwülste. 379
mit den Schleimhautkrebsen, die zu gleicher Zeit eine Eröffnung des Peritoneums und
des Darms nöthig machen. Hier ist die Gefahr einer septischen Infection der Bauchfell-
höhle eine sehr naheliegende, und die Mortalität an der Operation allein dürfte immer-
ihin mit 15 — 20% (Mastdarmkrehse), 30 — 40% (Darmkrebse) anzusetzen sein. — Ope-
rationen von Geschwülsten der Nasenhöhle, des Schlund- und Kehlkopfs leiden unter der
Gefahr des Eiufiiessens von Blut und "Wundsecret in die Lunge und der dadurch ent-
stehenden Aspirations- oder Fremdköi-perpneumonien. Die Mortalität der Kehlkopf-
exstirpation als solcher ist allein schon 40 '/q.
Nicht ausser Acht lassen darf man die muthmasslichen Folgen
der Operation. Bei einer Amputation eines Beines lässt sich der
Schaden noch durch ein künstliches Glied verdecken und mildern, der
Zustand eines Kehlkopfexstirpirten nach der Operation oder eines Mast-
darmoperirten, der den Koth nicht mehr halten kann, ist dagegen ein
höchst bemitleidenswerther, selbst wenn er „geheilt" ist.
Von fast noch entscheidenderer Wichtigkeit als die Frage nach
der Mortalität der Operation ist die Frage nach dem Enderfolg der-
selben, nach der Zahl der definitiven Heilungen bei bösartigen
Neubildungen.
Hier gehen nun die Ansichten der Aerzte sehr auseinander. Manche
alten Aerzte behaupten, dass das Operiren nur das Leben der Kranken
abkürze. Diese Anschauung findet man auch im Lager der Homöo-
pathen. Diese Meinung ist entschieden unrichtig. Grosse Zahlenzu-
sammenstellungen haben ergeben, dass die Summe der Operirten länger
lebte, Va — 1 Jahr, als die Summe der Nichtoperirten.
Wie viel dauernd geheilt sind, darüber lauten die Angaben
gleichfalls sehr verschieden. Durchschnittlich betrachtet man einen
kranken als geheilt, bei dem nach 3 Jahren noch keine Spur eines
Rückfalles aufgetreten ist. Es sind jedoch Fälle bekannt, wo nach
<3 , 8 , 11 Jahren Recidiv eintrat ; dagegen wieder andere , wo nach
20, 30 Jahren kein Recidiv eingetreten war. — lieber die Möglich-
keit einer Radicalheilung des Krebses durch das Messer
kann ein Zweifel nicht bestehen; ebenso Avenig , dass einem
Kranken von vielleicht 55 — 60 Jahren, der ohne Operation binnen ein
bis zwei Jahren elend zu Grunde gegangen wäre, wesentlich genützt
ist, wenn man sein Leben durch die Operation um 6, 8 Jahre ver-
längern und so ihn das normale Lebensende fast erreichen sehen kann.
Schon die Aussicht auf mehrjährige Palliativheilung berech-
tigt zur Operation.
Wird als Heilung eine Zeitdauer von 3 Jahren nach der Operation
ohne nachweisbares Recidiv angesehen, so erhält man z. B. für die bös-
artigen Briistdrüsengeschwülste folgende Zahlen: BlUrotli geheilt 5"59Vo,
Eswarrh ll-öö^/o, Fischer Q-M^o, Volkmann IG"] 9%, Küster 25-39o o —
Differenzen um das 4- bis 5fache I Kocher hat z. B. von 5 Pharynx-
krebsen eine Radicalheilung, von 14 Zungenkrebsen 5, von 6 Mastdarm-
krebsen 4 u. s. w.
Ueber die Ergebnisse der Operationen l)ei Krebs ist u. A. v. Meyer,
Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 28, zu vergleichen.
Die Frage, wann eine Geschwulst zu operiren ist, lässt
sieh leicht beantworten: So früh als möglich; sobald die Diagnose
gestellt ist. Zögern darf man hitch.^tens bei Xcnliildiingon. über deren
gutartigen Charakter kein Zweifel möglich ist.
380 V. Capitel. — Geschwülste.
Die übrigen Behandlungsmethoden kommen neben der
blutigen Exstirpation kaum in Betracht. — Die Ligatur CAbbindenj,
das Ecrasement (Abquetschen), pag. 271, die Abtragung mit der galvano-
kaustischen Schlinge, pag. 272, kann bei gestielten Geschwülsten ge-
legentlich nützlich sein. Einige bei gutartigen Geschwülsten wirksame
innerliche Mittel etc. sind bei den einzelnen Geschwulstformen erwähnt.
Die Technik der Aetzung besprechen wir bei den inoperabeln Neu-
bildungen.
Die Therapie inoperabler Neubildungen ist eine der
schwersten Pflichten des ärztlichen Standes.
Die Entscheidung, ob eine Geschwulst noch operirbar ist oder
nicht , wird natürlich von verschiedenen Chirurgen im Einzelfall ver-
schieden getroffen, je nach Erfahrung, Muth u. s. w. des Operateurs.
Doch lassen sich einige Regeln aufstellen. Eine bösartige Neubildung
soll nicht mehr operirt werden, wenn das Vorhandensein von inneren
Metastasen zweifellos ist. Dasselbe gilt, wenn die Neubildung bereits
eine solche örtliche Ausdehnung gewonnen hat, dass eine Heilung,
selbst mit Hilfe von Transplantationen u. s. f., nicht mehr zu erwarten
ist, z. B. Mammacarcinome mit sehr ausgedehnter Hautinfiltration. Oder,
wenn die Neubildung soweit in die Tiefe geht, dass eine völlige Ent-
fernung ohne Gefährdung lebenswichtiger Organe nicht mehr möglich
ist, z. B. wenn ein Brustkrebs die Thoraxwand bereits durchwachsen
hat. Diese Indication ist nur eine relative. Dann wird man eine
Operation unterlassen, wenn die Lymj)drüsen schon so fest mit Knochen,
Nerven und Gefässen verwachsen sind, dass die muthmasslich eintreten-
den Störungen von den Kranken doch nicht mehr ertragen werden
(consecutive Gangrän, Blutungen u. s. f.).
Die meisten Chirurgen unterlassen eine Operation, wenn sie von
der Unvermeidbarkeit des Recidivs überzeugt sind, weil doch voraus-
sichtlich nicht alles Krankhafte entfernt werden kann — festgelöthete
Uterus- oder Darmkrebse, Infection tiefliegender, nicht zu exstirpirender
Lymphdrüsen u. s. w.
Ist der Kräftezustand der Kranken ein sehr schlechter, die Ab-
magerung eine hochgradige, Oedeme u. s. w. vorhanden, so ist die Ab-
lehnung der Operation auch meist geboten. Solche Kranke — z. B.
Magenkrebse — haben oft gar nicht mehr die zur Wundheilung nöthige
Energie des Kreislaufs.
Gibt man, vielleicht nach Berathung mit einem zweiten Arzt, den
Versuch der Radicalheilung auf, so erlischt damit die Pflicht, sich des
hoffnungslosen Kranken anzunehmen , keineswegs. Man kann viel
thun, um ihm die oft furchtbaren Leiden seiner letzten Leidenszeit zu
erleichtern.
Oft gewähren dem Kranken Palliativoperationen eine längere
Pause scheinbarer Genesung.
Diese Palliativoperationen haben namentlich den Zweck, die den Kranken con-
sumirende und quälende Janchung auszuschalten ; Blutungen zu stillen oder ihnen zuvor-
zukommen und die Schmerzen zu mindern. Hier spielt die Entfernung der ver-
jauchten Masse mit dem scharfen Löffel unter strengster Antisepsis die erste
Eolle ; die Desinfection erfolgt mit starken Sublimatlösungen (1 : 1000), Chlorwasser oder,
was vielleicht noch wirksamer ist, 5— 8proc. Chlorzinklösung. Nachdem die Massen
ausgekratzt sind, stillt man die Blutung mit antiseptischer Tamponade (Jodoformgaze)
oder brennt die Fläche kräftig mit der Piatina candens. In manchen Fällen kann man
Allgemeine Behandlung der Geschwülste. 381
auch noch eine Aetzung anschliessen. Zur Nachbehandlung eignen sich am besten Dauer-
verbände mit Jodoformgaze und darüber Holzwatte. Sollten diese zur Bekämpfung'
des Übeln Geruchs nicht genügen, so sind auch Umschläge mit 4-, 6- bis 8proc. essig-
saurer Thonerdelösung zweckmässig. Sarkome eignen sich, wegen ihres Blutreichthums,
ihres raschen Wachsthums , ihrer mangelnden Tendenz zu jeder Art von Vernarbung'
oder Epithelbekleidung weniger für Palliativoperationen, als Krebse.
In den vorgerückten Stadien von Neubildungen spielen die Aetz-
mittel eine Rolle.
Die Aetzmittel wirken meist coagulirend auf das Organeiweiss, d. h. sie entziehen
den Geweben — normalen und pathologischen — sehr energisch Wasser und wirken
so zerstörend. Die Gewebsstructur wird dabei oft nur wenig verändert; in Chlorzink-
schorfen z. B. habe ich später die einzelnen Gewebe mikroskopisch ganz wohl diiferen-
ziren können.
Für Neubildungen eignet sich das nur oberflächlich wirkende Argentum nitricum
nicht (Arg. nitr. gibt einen silb erweissen , am Licht sich schwarzfärbenden Schorf);
ebenso wenig sind die Säuren zweckmässig (Schwefelsäure grünlich-schwarzer Schorf),
Salpetersäure (nur für AVarzen u. dergl., gelber Schorf, von Xanthoproteinsäure). Auch
die Chlor-, Bromessigsäuren und reine Essigsäure (Eisessig) (weisser Schorf, sehr wenig^
schmerzhaft) dürften nur in seltenen Fällen genügen. Chromsäure ist gefährlich wegen
Gefahr der Allgemeinintoxication. Von der Milchsäure, die eine Zeit lang zur Zerstörung-
bösartiger Gewächse sehr empfohlen war, habe ich nichts Besonderes gesehen, ebenso
wenig von der Citronensänre , die für die Anhänger der Naturheilmethode das allein
.,uaturgemässe" Mittel gegen Krebs ist. Die Quecksilberi^räparate, in er.ster Linie Hydrar-
g3'rum bichloratum corrosivum (Sublimat), sind sehr schmerzhaft und bieten keine be-
sonderen Vortheile. Gelöst wird letzteres am besten in Alkohol (in Wasser ist es erst
1 : 20 löslich).
Von den Alkalien werden Aetzkali (Kali hydricum) in Lösungen
(1:2) oder rein (in sehr zerfliesslichen Stangen) angewandt, weniger
bei Neubildungen als bei Schankerbubonen. Es dringt tief ein und
verwandelt die Gewebe rasch in einen schmierigen schwarzen, bald
trocknenden Brei. Aehulich wirkt das seltener gebrauchte Aetznatrou.
Weniger energisch wirkt Aetzkalk (Calcarea viva, Calcarea caustica).
Für Neubildungen sind zweckmässig einige Pasten -Präparate,
Mischungen in Brei- und Teig form, die auf die Neubildung aufgetragen
werden und ungefähr so tief wirken, wie die Paste dick ist. Die ge-
sunden Gewebe werden mit Heftpflaster geschützt, das wie ein Kranz
um die Stelle herumgeklebt wird (Pflasterkorb). Auch Collodium, Vaseline
u. s. f. schützen. Etwas fliesst immer über, daher macht man die Paste
eher zu klein, als zu gross. In erster Linie zu nennen ist die Chlor-
zinkpaste (Canquom''s>Q.hG Paste; 4 Chlorzink mit 1, 2, 3, 4 Theilen
Mehl und etwas Wasser angerührt, wirkt je nach der Stärke ver-
schieden schnell und tief). Bei den starken Pasten (1:1 — 1:2) wird
der Schorf ungefähr so dick, wie die Paste aufgetragen ist. W^iener
Aetzpaste (Pasta caustica viennensis) — 5 Theile Aetzkali mit
6 Theilen Aetzkalk und Spiritus werden zur Paste gerührt. Die Arsen-
paste (Frere Cosme) ist wegen ihrer enormen Schmerzhaftigkeit und
der Gefahr der Allgemein Vergiftung mit Recht ausser Gebrauch. Es
wurde ihr ein specifischer Einfluss auf den Krebs zugescliriel)en.
In der messerscheuen Zeit des Mittelalters bis in den Anfang dieses .Jalirhundert&
wurden die Neubildungen von Anfang an mit Aetzung behandelt und die Aetzmittel
wurden nicht blos auf die freie Fläche der Geschwulst aufgetragen , sondern in Form
von Aetzstiften , Aetzpfeilen in den Grund der Neubildung direct eingestossen , oder
nachdem ihnen mit dem Messer oder dem Glüheisen der Weg gebahnt war, eingeschoben.
Fig. 354 und 355 machen das Verfahren anschaulich. Fig. 354 ist die Cauterisation
parallele ou en faisceau , wo die Geschwulst ganz gespickt wird mit parallel einge-
schobenen Aetzpfeilen. — Fig. 355 Cauterisation circulaire ou en raj'ons sollte die Basis
der Geschwulst zerstören und damit diese zur Gangrän bringen. Dann wurde noch
Cauterisation centrale, croisee. lin^aire etc. geübt.
382
V. Capitel. — Geschwülste.
Ist man von der Machtlosigkeit jedes Eingriffes iihei'zengt . so
bleibt nur noch übrig, den Kranken zu Tode zu pflegen. Jodoform und
stark absorbirende Verbandstoffe (Holzwolle, Torf, Kohlenpulver) be-
kämpfen die Jaucbung; auch Umschläge — essigsaure Thonerdc, Ohlor-
wasser sind nützlich. Von schmerzstillenden Salben fPeriibalsam oder
Borvaseline mit Extr. Opii, Belladonnae, Cocain u. s. w.j habe ich nur
wenig befriedigende Resultate gesehen. Das souveräne Mittel ist
Morphium subcutan, das man dreist in grossen, oft wiederholten Gaben
verabreichen darf. — Constante Eisbehandlung verzögert das Wachs-
thum der Neubildung, mildert die Schmerzen und ist vielen Kranken
subjectiv angenehm.
Die übrigen gegen bösartige Neubildungen vorgeschlagenen Mittel
verdienen mehr in dem Gedanken , dass vielleicht später auf diesen
Wegen etwas zu erreichen sein mag, genannt zu werden , als wegen
ihrer thatsächlichen Erfolge.
Schon lange ist es bekannt , dass in einzelnen Fällen ein über eine bösartige
Neubildung weggehendes Erysipel Verkleinerung, selbst Heilung des Processes ergeben
hat; so hat auch Plenio [Langenhech's Arch., 37) die Totalresorption eines grossen
Melanosarkoms während eines schweren, andauernden, hohen Fiebers von pyämischem
Fig. 354.
Fig. 355.
Charakter beobachtet. Andererseits hat Janiche nach einem Erysipel rasche und be-
denkliche Verschlimmerung eines Brustkrebses gesehen. Diese Beobachtungen waren die
Grundlage für die Bestrebungen Colei/s, der von 43 bösartigen Neubildungen sarkoma-
tösen (?) Charakters (vergl. pag. 373 v. Esmarcli über Syphilome) bei 11 Heilung er-
zielt haben will durch subcutane und intravenöse (!) Einspritzung von Streptokokken-
toxinen (1/10—10 Theilstriche einer Pravaz'?,c\ien Spritze von 1 Gem.). Gesteigert
wird die Giftigkeit durch Zusatz von Prodigiosus - Culturen. Die Filtrate der Culturen
sind wirksamer, als die durch (kurzes) Aufkochen sterilisirten Bouülon - Culturen.
Die zahlreichen Nachprüfer (u. A. Czerny , Münch. Medic. Wochenschr. , 1895, Nr. 36)
haben wohl Fieber mit Schüttelfrost und grösserer oder geringerer Schwächung
der Kranken erzielt, an den Tumoren aber nur unbedeutende, vorübergehende oder
gar keine Veränderungen. Ebenso wirkungslos war das „Krebsserum" von Emmerich
und Scholl, Serum von mit Erysipel infictrten Schafen. Das kokkenfi'eie Serum machte
keine, das kokkenhaltige nur wirkungslose schwache Entzündungen (vergl. z. B. Bruns,
Deutsch. Med. Wochenschr., 1895, Nr. 20, und Petersen, ebenda 20 und 27). Auch mit
Serum von einem Pferde, dem Salvati und Gaetano mehrfach Sarkomextracte injicirt
hatten, wurde nichts en-eicht.
Die Versuche von Mosetig, inoperable Neoplasmen mit I'^/q Pyoctanin (Methyl-
violett)-Lösung zu injiciren ( — 1 Ccm täglich in Mengen von O'l— 0'2 Ccm. an jeder
Stelle), haben kaum hin und wieder eine "Wachsthumshemmung erzielt. (..Tinctions-
behandlung.")
Kaarsherg (Langenbeck's Arch., 48) will durch Elektrolyse mit starken Strömen
200 — 300 Milliamperes — 680 Milliamperes (Bleiplatten als Elektroden und Stahlnadeln
= 4 — 10 Charriere Stärke) Erfolge erzielt haben.
Behandlung inoperabler Neubildungen. 383
Die iuDerliche Behandlung der bösartigen Neubildungen hat
sichtbare Erfolge bislang nicht gegeben. In altem Rufe steht das
Arsen und ich gebe es auch häufig nach Krebsoperationen , ohne Be-
weise seiner Leistungsfähigkeit geben zu können. Bei Blasenkrebs soll
Chios-Terpentin , bei Magenkrebs Condurango genützt haben, und sind
deshalb beide auch bei anderen Krebsen gegeben worden. Condurango
(Infus, cort. condur. 2*5 — 5"0 auf löO'O) ist ein gutes Magenmittel und
wird von den Kranken gelobt. Von Beneke wurde eine eigene , mög-
lichst Stickstoff lose Diät empfohlen , also vorwiegend Vegetabilien mit
Ausschluss der Hülsenfrüchte. Manche Kranke fühlen sich dadurch
psychisch beruhigt.
Die Prognose der bösartigen Neubildungen ist im Bisherigen ent-
halten. An sich, d. h. ohne Behandlung sind die Fälle absolut ver-
loren ; denn mit den nicht einmal ganz sicheren Fällen von Spontan-
heilung durch Gangränescenz u. s. w, lässt sich nicht rechnen. Das sind
unerhörte Glücksfälle.
Die Prognose des einzelnen Falles lässt sich nie mit Sicher-
heit geben. Je langsamer die Geschwulst bisher gewachsen, je härter
sie ist, je verschieblicher sie geblieben, je weniger die Haut und Nach-
barschaft erkrankt sind, je weniger sich eine Erkrankung der Lymph-
drüsen nachweisen lässt, je besser der Allgemeinzustand geblieben, um
so günstiger sind die Aussichten.
Von den Recidiven sind die örtlichen weniger gefährlich, als
die in den Lymphdrüsen. Muss man in diesen eine Recidivoperation
macheu, so sind die Aussichten auf dauernde Heilung äusserst gering.
Dagegen erinnere ich mich eines Falles, wo nach der zweiten örtlichen
Recidivoperation (Mamma) seit 7 Jahren Heilung eingetreten ist.
In der Behandlung des Krebses ist die Exstirpation mit dem Messer
nicht das Ideal, aber jedenfalls auf lange Zeit, wenn nicht auf immer,
das wirksamste Mittel der Behandlung.
VI Capitel.
Krankheiten der Haut und des Unterliautzellgewebes.
Atrophie und Hypertrophie. — Anämie und Hyperämie. — Verletzungen. — Ent-
zündung und Eiterung. — Acute Entzündungen: Furunkel und Carbunkel. Chro-
nische: Geschwüre. Lupus. Die Narben von Geschwüren.
Von den Krankheiten der Haut werden wir nur diejenigen be-
sprechen, die wegen ihrer Behandlung in den Bereich des Chirurgen
gehören.
Die acuten Entzündungen, die Stauung, den Brand u. s. f. haben wir schon be-
sprochen, hauptsächlich bei den Wundinfectionskrankheiten, die Wundrose (s. pag. 145),
das Erysipeloid (s. pag. 150) , den Milzbrand (s. pag. 167) , Gangrene foudroyante
(s. pag. 157) u. s. f. Ebenso haben die Verletzungen der Haut bei den Verletzungen der
Weichtheile (pag. 91), Verbrennung und Erfrierung ihre Besprechung gefunden.
Reine Atrophien und Hy^Dertrophien der Haut sind als selbständige Er-
krankungen im Ganzen recht selten ; um so häufiger dagegen als Folgen anderer Er-
krankungen, namentlich acuter und besonders chronischer Entzündungen. Atrophie findet
man als Folge chronischer Unterschenkeleczeme und ähnlicher Processe. Auf nervöser
Basis beruht die halbseitige Gesichtsatrophie. Die Haut ist welk, dünn, bald glänzend,
bald matt; die drüsigen Bestandtheile , Haare, Talgdrüsen u. s. f. rareficirt. Hyper-
trophische Vorgänge begleiten meist die Elephantiasis.
Das Oedem der Haut ist häufig Folge anderer, meist innerer Krankheiten —
Herz-, Lungen-, Nierenaffectionen , allgemeiner Blutarmuth und Begleiterscheinung
schweren Siechthums. Es betrifft dann vorwiegend die unteren Extremitäten und ist
doppelseitig.
Einseitige Oedeme sind auf örtUche Ursachen zurückzuführen , Hindernisse , die
sich dem venösen Eückfluss entgegensetzen , Druck von Geschwülsten auf die Haupt-
vene eiues Körpertheils , z. B. die Vena femoralis oder iliaca einer Seite , die Vena
axillaris eines Armes (z. B. durch krebsige Lymphdrüsen in der Achselhöhle) oder
Thrombosen der betreffenden Venen ; dann führen auch Erweiterungen der venösen
Strombahn (Krampfadern oder Varicositäten) zu Oedemen.
Die meisten Oedeme nehmen ab oder verschwinden in horizontaler Lage, wo der
venöse Eückstrom günstigere Bedingungen findet; sie sind daher stets bei umher-
gehenden Patienten Abends stärker als Morgens. Solche Kranke müssen liegen, bis die
Ursache beseitigt ist.
Doch gibt es auch selbständige Oedeme, namentlich nach starken Anstrengungen,
z. B. nach starken Uebungen und Märschen bei Recruten. — Leichte Massage, Priess-
nitz'seh.e Umschläge beseitigen diese „traumatischen" Oedeme rasch.
Länger bestehendes Oedem der Haut ist oft nur das äussere Anzeichen eines tief-
liegenden, zur Zeit noch verborgenen Pi'oceäses (Abscesse, Neubildungen) und verdient
daher stets eine vorsichtige Beachtung und Würdigung.
Bei Entzündungen der Haut lassen sich alle die verschie-
denen Formen der Entzündung , pag. 29 fF. , besonders leicht und un-
mittelbar verfolgen — die einfach hyperämischen Formen, die serösen,
Hautentzündungen. Furunkel. 385
zellig-en und eitrigen Infiltrationen und Exsudationen, die hämorrhagischen
und die brandigen Formen. Es entstehen so eine grosse Anzahl ver-
schiedener Effloreseenzen (Ausschläge).
Ein einfacher Fleck, über die Umgebung nicht erhaben, ist die Macula. Ist er
durch Fingerdruck wegzudrücken, handelt es sich einfach um Hyperämie — Eoseola.
Grössere Flecken nennt man Erytheme. Bleibt die Eöthung unter dem Fingerdruck,
so handelt es sich um einen Blutaustritt — per rhexin oder diapedesin — Petecchie
(Purpura) oder, wenn grösser, Ecchymose und Sugillation (Verletzungen). Handelt
es sich um eine kleine Erhabenheit , d. h. eine Infiltration der Cutis, so ist es eine
Papula, wenn grösser einNodus; mehr ödematöse Infiltrate sind die Quaddeln —
Pomphus (bei Nesselsucht). Tritt Flüssigkeit sichtbar aus, so ist es ein Bläschen —
Yesicula, wenn grösser, eine Blase — Bulla (z.B. bei der Wundrose) mit serösem,
eitrigem oder (seltener) blutigem Inhalt. Grössere Eiter enthaltende Blasen heissen
Pustulae (Pusteln); Ecthyma die grössten. Sitzt die Eiterung tiefer, in Haut und
Unterhautzellgewebe, nicht blos zwischen den obersten epithelialen Lagen, so ist es ein
Furunkel, der, wenn er sich zur völligen Eiteransammlung in Haut und Unterhaut-
zellgewebe steigert, zum folliculären Abscess wird. Wirkliche Defecte in der Haut
bedingen ausser Verletzungen (Excoriationen) die Geschwüre (s. pag. 387 ff.).
Aus diesen Formen gehen durch weitere Veränderungen andere , gewissermassen
secundäre Formen hervor — die Haut schilfert sich ab in kleinen Blättchen (Defur-
furatio) oder blättert , schuppt sich in grösseren Epidermisfetzen ab (Desquamatio). —
Die Blasen etc. trocknen zu Krusten, Borken oder Schorfen (Crnsta, Eschara) ein
und es kommt, in einem Theil der Fälle, zur Narbenbildung.
Heilt der Process in der Mitte aus und schreitet am Eand fort, so wird die
Efflorescenz kreisförmig (annularis, cireinnatus), ist nur ein Stück des Kreises noch da,
das Uebrige geheilt, so ist ein Gyms da ; entsteht durch Weiterschreiten an einer Stelle
und Heilen an anderer eine gesch-wungene, schlangenartige Linie, so ist es eine serpigi-
nöse Form u. s. w. (s. Geschwüre, pag. 389).
Die verschiedenen entzündlichen Hautkrankheiten haben für uns
mehr diagnostisches Interesse, da sie oft nur die äusseren Zeichen
schwerer innerlicher Erkrankungen sind. So sind kleine Hautblutungen
(Petecchien) oft mit septischer Blutvergiftung verbunden; chronische
vesiculöse Eruptionen (Eczeme) Zeichen vorhandener Scrophulose und
Tuberculose. Vielgestaltige Effloreseenzen (Flecke, Blasen, Knoten u. s. w.
durcheinander) finden sich bei Syphilis; furunculöse Afifectionen bei
Zuckerharnruhr , angeborener Syphilis u. dergl. Insofern ist ein ge-
naues specialistisches Studium der Hautkrankheiten auch für den
Chirurgen unerlässlich.
Wichtig sind für uns namentlich folgende eitrige Vorgänge in der
Haut: Der Furunkel und Carbunkel.
Der Furunkel beginnt als ein leicht juckender oder brennender,
rother, etwas erhabener Fleck, dessen Centrum meist ein Drüsenaus-
führungsgang, am häufigsten ein Haarbalg ist. Er treibt sich rasch vor
und ])ildet eine kegelförmige geröthete Anschwellung, auf deren Spitze
ein grünlich gelber Punkt — necrotischen Gewebes — von Stecknadel-
kopf- bis Erbsengrösse zu Tage tritt. Während dem breitet sich die
Anschwellung mehr und mehr aus, ohne sich gegen die Umgebung
scharf ab/Aisetzen. Der geröthete Bezirk kann die Grösse eines Hand-
tellers erreichen, meist ist er ungefähr thalergross. Lymphgefässe und
Drüsen schwellen. Der Schmerz ist sehr lebhaft. Appetit, Schlaf kann
gestört sein, die Temperatur leicht erhöht. Nach 2 — 3 Tagen lassen
die Schmerzen allmählich nach, die bislang mehr seröse Ab.sonderung
wird citrig. scliiiesslicli (|uellen dicke Eitertropfen neben dem nc>ch
haftenden necrotischen Pfropf (dem „Eiterstock" des Volksmundes)
hervor , am 5. bis 6. Tag wird auch dieser losgestossen (vorwiegend
Ijandfrer, All^'. cliir. l'atliolnpic ii. 'l'lirTajiic. 2. Auti. 2;l
886 VI- Capitel. — Krankheiten der Haut und des IJnteihautz<;llgewebes.
aus elastischem Gewebe bestehend und einem Haarbalg oder einer Tal;^'-
oder 8chweissdrüse und ihrer Umgebung entsprechendj. Die kh^'ine, voii
Granulationen ausgekleidete Höhle heilt in 2 — 3 Tagen mit derber
Narbe. Lieblingssitze des Furunkels sind viel gescheuerte Stellen,
Nacken (wo die Halsbinde anliegt), Rücken, Achselhöhle, Umgebung
des Afters.
Ein Furunkel im Kleinen ist^ die Acnepustel, ein kleines von
einem Drüsengang ausgehendes Eiterbläschen, häufig im Gesicht. Hier
ist keine makroskopische Gangrän vorhanden.
Nur eine quantitative Steigerung dieses Processes ist der „ C ar-
bunk el"; eine ganze Anzahl von benachbarten Drüsen mit dem ihnen
zugehörigen Gewebe gangränesciren. Die dadurch bedingten Anschwel-
lungen fliessen zusammen und bedingen ein über handgrosses Infiltrat
mit starker bläulicher Röthung und intensiver Schmerzhaftigkeit. —
Schliesslich erfolgt auch hier der Durchbruch des Eiters und die Ab-
stossung der umfangreichen necrotischen Partien, die oft selbst Fascien-
stücke enthalten. Nach ihrer meist recht langsamen Ausstossung bleibt
eine unregelraJissig buchtige, mit Granulationen ausgekleidete Höhle,
deren dünne bläuliche Decke siebförmig durchlöchert ist. Nur sehr
langsam heilen die grossen Substanzverluste aus. Der Carbunkel ist
immer mit ziemlich schwerem Allgemeinleiden verbunden — Fieber oft
über 40°, Appetitlosigkeit, durch die qualvollen Schmerzen Schlaflosig-
keit und damit schliesslich starke Entkräftung selbst bei gesunden
Personen. Kranke und alte Leute gehen nicht selten an einem Car-
bunkel zu Grunde. Der häufigste Sitz desselben ist der Rücken.
Der Erreger des Furunkels und Carbunkels ist der Staphylococcns
aureus (Fig. 12). Den exacten experimentellen Beweis verdanken wir
Garre, der sich eine Reincultur dieses Pilzes in die unverletzte Haut
des Vorderarmes einrieb und mehrere Furunkel und einen Carbunkel er-
zielte. Einer Verletzung als Eingangspforte bedarf es nicht, der Pilz
scheint von den Drüsenausführungsgängen aus einwandern zu können.
Zu Furunculose disponiren ganz besonders Diabetiker (deshalb
stets den Urin untersuchen!), auch Leute mit chronischer Nephritis und
decrepide Personen, ferner solche, die viel schwitzen.
Bei der Behandlung des Furunkels streiten sich die abwar-
tende und operative Behandlung. Häufig genügen antiseptische Um-
schläge (Sublimatlösung 1 : 5000 — 1 : SOÖO) oder Salben (Borlanolin
1:30, mit 1 Perubalsam) oder Pflaster, Zinkpflastermull, Eraplastruni
Hydrargjri oder Peruba!sampflaster (1 Perubalsam zu 4 Emplastrum
adhaesivum). Bei heftigem Schmerz und deutlicher Fluctuation wirkt
ein tiefer Schnitt oder Kreuzschnitt oft erleichternd.
Coupirt soll der Furunkel werden durch Injection von einigen
Tropfen 3^0 Carbollösung (von der Seite her) oder durch Einbohren
einer Sonde, an die coucentrirte Carbolsäure angeschmolzen ist (von
der Kuppe aus). {Antoneivitsch, Chir. Centralbl., 1895, Nr. 17.) Auch
Ueberstreichen mit Jodtinctur ist nützlich.
Beim Carbunkel halte ich von der zuwartenden Behandlung
weniger — grosse dicke Sublimatcompressen (auf Wunsch des Patienten
warme Bähungen darüber). Den tiefen Kreuzschnitt durch den Cai-
bunkel bis in die Unterlage hinein — die bisher übliche, aber von
vielen Chirurgen verworfene Behandlung — hat Tischer (Chir. Centralbl.,
Carbunkel. Panaritium. 387
1895, Nr. 17) vervollständigt, indem er den Carbunkel durch eine An-
zahl sich rechtwinklig- kreuzender Schnitte in quadratische Felder zerlegte.
Die besten Erfolge hat mir die Exstirpation des Carbunkel s nach
Biedel (Deutsche Med. Wochenschr., 1891, Nr. 27) gegeben. Man präpa-
rirt die Haut zurück , schält den Furunkel im Gesunden heraus und
lässt die Haut ohne Naht über den Defect sich legen. Die Heilung er-
folgt überraschend schnell.
Zur Verhütung von Furunkeln und Carbunkeln bei Dis-
ponirten empfiehlt man — antidiabetische Kost bei Diabetikern, sonst
eine gründliche Aenderung der Lebensweise — Verbot der alkoholischen
Oetränke, besonders des Biers, Einschränkung des Fleischgenusses, Ab-
führcuren (Marienbad, Kissingen u. dergl.), von Medicamenten Arsenik,
ferner Schwefelbäder u. dergl. Die Franzosen empfehlen täglich einen
Esslöffel Bierhefe (?).
Die übrigen acuten Entzündungen und Eiterungen in Haut- und
llnterhautzellgewebe haben wir zum Theil schon bei den Abscessen
(pag. 30 ff.) besprochen. Die Haut dient durch kleine Verletzungen häufig
als Eingangspforte der Mikroorganismen und der weitere klinische Ver-
lauf wird dann oft durch die Oertlichkeit bestimmt. Als Typus dieser
Vorgänge mag das Panaritium dienen. An eine kleine Verletzung
am Finger schliesst sich eine Entzündung und Eiterung an , bald nur
in Haut und Unterhautzellgewebe (P. cutaneum) , bald im Knochen
(P. osseum); ein anderes Mal in der Sehnenscheide (P. tendinenm).
Namentlich die letzteren Formen zeigen die Neigung . sich nach der
Hand hin fortzusetzen und erscheinen dann als Eiterung in der Hand —
Phlegmone manus — , um schliesslich längs der Sehnenscheiden nacli
dem Vorderarm weiter zu kriechen — Phlegmone antibrachii. — Ein
anderes Mal tritt die Betheiligung der Lymphgefässe (Lymphangitis)
mehr in den Vordergrund und schliesslich kann es zur Entzündung und
Vereiterung der Lymphdrüsen kommen (Lymphadenitis purulenta, Lymph-
(Irüsenabscess; s. pag. 144). Antiseptische Umschläge und frühzeitige
tiefe Einschnitte sind bei diesen Eiterungen geboten.
Dann ist noch zu nennen das Eczem, ein juckender Ausschlag
seröser oder eitriger Bläschen , hervorgerufen durch allerlei die Haut
trefiende reizend wirkende Substanzen, meist chemischer Natur, z.B.
Jod, Jodoform, Sublimat, Carbolsäure u. dergl., Insectenstiche. Zunächst
acut, kann es bei fortwirkender Ursache chronisch werden und sich
dann mit allen Erscheinungen chronischer Hantentzündungen verbinden.
Das Eczem ü-ehürt in das Gebiet der Dermatologie.
Von den chronischen Entzündungsprocessen in fLiut und
Unterhaut Zellgewebe ist für den Chirurgen der wichtigste das
Geschwür.
Was ein Geschwür ist, dafür gibt es zahlreiche, mehr oder
minder zutretende Definitionen. „Ein Substanzverlust mit moleculäreni
Zerfall" (die Quetschwunde wäre ein Substanzverlust mit nicht mole-
culären , sondern groben, makroskopischen Zerfallvorgängen). „Eine
(iranulationsfläche, deren Granulationen stets wieder necrotisch zer-
fallen." Letzterer Zusatz zum l'ntcrschiede von einer gesunden, zur
Heilung tendirenden firanulationstläche, die so häulig von Laien, aber
9n*
ijgc^ VI. Capitel. — Kranklieiteri der ll;iut um! dos TJnt(:rli;uit/,ellg('weV)e,s.
auch von weniger erfahrenen Aerzten als Geschwür hezeiclinet wird.
Charakteristisch sind das „Nichtheilen" und die 'J'endenz zum Zerfall
neben Regenerationsvorgängen seitens des Organismus. Eine solche
Fläche bleibt ein Geschwür, so lange auch nur theil weise der Zerfall
des Neugebildeten erfolgt, selbst wenn an der einen oder anderen .Stelle
zweifellose Heilungsvorgänge stattfinden. — Dabei kann Anbildung und
Zerfall gleichen Schritt halten, so dass das Geschwür nicht grösser und
nicht kleiner wird — es bleibt stationär, oder es werden weitere
gesunde Gewebe eingeschmolzen, es wird grösser, es ist fortschrei-
tend, fressend (phage dänisch). Gegenüber dem örtlichen Brande
ist die Grenze eine weniger scharfe. Wo gar keine Spur von Heil-
bestrebungen des Organismus sich erkennen lassen, wird man nicht
leicht von Geschwür reden. Bei dem rapiden Zerfall der Gewebe
bei Gangrene foudroyante , oder bei groben Zerquetschungen braucht
Niemand den Ausdruck Geschwür, wohl aber gelegentlich bei langsam
sich entwickelnden , kleineren Brandflächen , wie Milz- oder Hospital-
brandgeschwür u. dergl. Eine Steigerung des Gewebszerfalles, nament-
lich bei Entwicklung makroskopischer Brandstellen , lässt die Grenze
aufs Neue verwischen; das Geschwür wird ein brandiges.
Ein klares Bild von dem, was ein Geschwür ist, ebenso wie eine
zielgerechte Behandlung, lässt sich nicht gewinnen , ohne genaue Ein-
sicht in die Ursache der Geschwürsbildung. Warum heilt die vor-
handene Wunde nicht, wie jede andere Wunde sonst? — Die Ursachen
können verschieden sein.
Entweder es wirkt diejenige Ursache, die überhaupt zum Ge-
webszerfall geführt hat, weiter und erzeugt erneuerte Necrose — dies
ist namentlich der Fall bei den Geschwüren, die durch chronische
Infectionskrankheiten bedingt sind. In Betracht kommen hier
Syphilis, Tuberculose, Lepra, Rotz u. dergl. und einige weniger häufige,
namentlich in tropischen Gegenden vorkommende Infectionen (s. pag. 395).
Diese Geschwüre bilden die grosse Gruppe der infect lösen Geschwüre.
Auch acute Infectionen können acut verlaufende Geschwüre hervor-
rufen — der weiche Chancre, Ulcus molle.
Bei einer anderen Gruppe von Geschwüren sind die Ernährungs-
verhältnisse der wunden Stelle so ungünstige, dass die neugebildeten
Gewebe, die Granulationen, immer wieder zerfallen, die Gewebe sind
so hinfällig; dass sie den Keim sofortigen Zerfalls immer wieder in
sich tragen. Hier liegt also der Fehler im Körper, nicht in dem ur-
sächlichen Moment. Bald ist es Krankheit des ganzen Körpers, welche
die Hinfälligkeit der Anbildung bedingt. Man kann diese Geschwüre
constitutionelle oder dyscrasische nennen.
Hieher gehören a. A. die scorbutischen Geschwüre. Scorbut ist eine eigeu-
thümliche Veränderung der Gewebe des Körpers, die durch einseitige ungenügende Er-
nährung, Mangel an frischem Fleisch und Gemüse entsteht , mit grosser Hinfälligkeit
des ganzen Körpers verknüpft ist. Besonders erkrankt scheint die Gefässwand. Massen-
hafte kleine Blutungen in Haut, Schleimhaut und andere Theile erfolgen ; dabei neigen
die Gewebe zum brandigen und geschwürigen Zerfall. Zahnfleisch- , Mundgeschwüre
u. dergl. treten auf; der abgesonderte Eiter ist blutig. Auch Processe , wie Noma
(pag. 43) , können solche dyscrasische Geschwüre machen ; dann gehören hieher die
„kachektischen" Geschwüre, die bei allgemeinem Siechthum des Körpers hin und
wieder auftreten. Ob eine Reihe anderer „Diathesen" — die rheumatische, arthritische
(gichtische), der sogenannte „Paludisme" (Malaria?) Geschwüre erzeugen kann, ist fraglich.
Auch Metallvergiftungen können zur Geschwürsbildung führen (mercurielle
Zahnfleischgeschwüre, Wismuth, Blei).
Geschwüre. Verschiedene Arten. 389
Für die örtlichen Geschwüre, auf gesundem Träger, kann es
sich um verschiedene Ursachen handeln. Die einen derselben, die rein
mechanischen Geschwüre, entstehen durch eine, sonst unbedeutende
kleine Verletzung, eine leichte Quetschung, eine Abscheuerung der Ober-
haut durch Druck des Stiefels, des Sattels beim Reiten u. dergl. Dass diese
Wunden nun nicht heilen, beruht in beständiger Wiederholung der Ver-
letzung bei fortgesetztem Marschiren oder Reiten („Scheuergeschwüre")
oder in Unreiulichkeit und mangelnder Pflege , z. B. bei Handwerks-
burschen. Ein anderes Mal werden die in Heilung begriffenen Ge-
schwürsflächen durch die Körperbewegungen immer wieder auseinander-
gerissen — in der Achselhöhle, am After beim Stuhlgang („After-
fissuren"') u. dergl. — Bei einer anderen grossen Gruppe von Ge-
schwüren kommt es nicht zur Heilung, weil die örtliche Circulation zu
mangelhaft ist für eine solide Granulations- und Narbenbildung. Es
handelt sich um Blutstauung, namentlich an den unteren Extremitäten,
besonders bei Venenerweiterungen — Varicositäten — Stauungsge-
schwüre, Ulcus varicosum. (S. Krankheiten der Venen.)
Eine eigenartige Form von Geschwüren sind die neuropara-
lytischen Geschwüre, die bei aufgehobenem oder herabgesetztem
Nerveneinfluss , vermuthlich durch herabgesetzte Widerstandsfähigkeit
der Gewebe entstehen. Sie finden sich nach Rückenmarksverletzungen,
bei Tabes dorsalis und ähnlichen Zuständen, seltener nach der Durch-
schneidung peripherer Nerven. Sie sind den „trophischen" Störungen
beizuzählen (pag. 35). Ihr Lieblingssitz ist die Fusssohle am Metatarsal-
gelenk der grossen Zehe; sie sind bekannt unter dem Namen „Mal
perforant du pied". Die Versch wärung durchsetzt alle Weichtheile
Schicht für Schiebt und zerstört schliesslich auch Knochen und Gelenke ;
die Kranken laufen sich die betreffenden Stellen der Sohle förmlich
weg ohne jede Schmerzen. Gerade die völlige Schmerzlosigkeit ist
charakteristisch für diese neuropathischen Geschwüre. — Manche andere
eigenthümliche, der symmetrischen oder Spontangangrän nahestehende
geschwürige Processe gehören auch in diese Gruppe (s. pag. 43).
Die Lehre von den Geschwüren (Helkologie) war eine Zeit lang
ein Steckenpferd der Chirurgie und es wurde zu dieser Zeit eine
minutiöse Nomenclatur eingeführt, von der wir auch heute noch Reste
haben. Man hat dementsprechend an einem Geschwür zu unterscheiden
die Form, den Grund, den Rand, die Umgebung, die Absonde-
rung, in zweiter Linie Zahl und Sitz der Geschwüre.
Die Form des Geschwürs ist oft eine unregelmässige und dann
wenig charakteristisch. Bei manchen Geschwüren lässt aber allein die
Form schon fast mit Sicherheit die Diagnose machen. — So sind
syphilitische Geschwüre (überhaupt Infectionsgcschwüre) oft rundlich.
Wenn sie von einer Seite her heilen, so entsteht ein Halbkreis (Gyrus).
Ulcus gyratum; schreitet nun die Ulceration an einem oder beiden
Enden dieses Halbkreises fort, so hat man die Schlangenform, l'lcus
serjjiginosuni. Heilt es in der ]\Iitte, so bleibt ein Ring — Ulcus
annulare. circinnatum. Diese Formen zeigen nicht infcctiöse Ge-
schwüre nie (s. Fig. 342: Syphilitische Geschwüre des Gesichts).
390 ^I- Caiiitel. — Krankheiten der Haut und des rinterliautzellgewebes.
Rinnen- oder spaltenfürmig sind Geschwüre in Achseliiöhle . ain
After, Mundwinkel und an anderen Stellen , wo die Ränder immer
wieder auseinandergerissen werden, sie lieissen auch Fissuren ffindere,
SpaltgeschwLire) oder Rhagaden (prjyvu|7.t, zerreissej, Schrunden.
Der Grund des Geschwürs ist meist gebildet von zerfallenden
Granulationen oder nekrotischem Gewebe; er erscheint also schmutzig
gelbgrau mit grünlichen, mit Watte nicht abzuwischenden Belägen besetzt.
Ein anderesmal lassen sich wohl die Granulationen als solche er-
kennen , aber sie sind blass , wässerig , mit grauen Stellen durchsetzt
(Tuberkelknötchen). Oder wieder ist der Grund mit einem grauen
Faserstoflffilz, der sich nicht ohne Blutung abziehen lässt , bedeckt —
das Geschwür ist croupös oder diphtheritisch belegt. Oft finden sich
auch kleine Blutungen in die Granulationen, als rothe oder dunkelblau-
rothe, selbst schwarze Flecken. Doch kann der Grund des Geschwürs
auch die Umgebung überragen — Ulcus elevatum. Dieser üppigen
Wucherung von Granulationen begegnet man namentlich bei schlecht
gehaltenen, mechanisch oft misshandelten Geschwüren, dann aber auch
bei solchen, wo in der Tiefe des Geschwürs ein fremder Körper, ein
Stück todten Knochens (ein „Sequester") verborgen liegt. Ein Unter-
schied gegenüber einer wirklichen Granulations Wucherung (Caro luxu-
rians) ist oft kaum zu machen.
Solche Geschwüre mit üppiger Granulationswucherung neigen sehr
zu parenchymatösen Blutungen und sind oft überaus empfindlich . —
sie führen dann den Namen Ulcus erethicum. Andere Geschwüre
zeigen ganz niedrige Granulationen mit äusserst spärlicher Secretion,
verändern sich in Wochen so gut wie gar nicht, weder zum Guten
noch zum Schlimmen und sind so gut wie unempfindlich — Ulcus
atonicum.
Ein harter, unregelmässig knotiger Grund — mit eingesprengten
Epithelperlen — kommt dem Krebsgeschwür zu (vergl. Fig. 341).
Der über den Geschwürsgrund weggleitende Finger fühlt oft, dass
der Grund direct vom Knochen gebildet wird, dass das Geschwiir un-
mittelbar „auf dem Knochen sitzt". In manchen Fällen fällt der Ge-
schwürsgrund jäh in die Tiefe und man kann nur mit Hilfe einer
„Sonde" (eines geknöpften Silberstäbchens) oder eines elastischen
„Bougies" den Grund des einen langen Gang darstellenden Ge-
schwürs erreichen. Es liegt ein „Hohlgeschwür" vor, eine Fistel
(Fistula), meist dadurch entstanden, dass eine tief liegende Eiterung,
z. B. eine tuberculöse oder osteomyelitische Entzündung am Knochen
nach der Oberfläche durchgebrochen ist und durch diesen oft 20 und
mehr Cenlimeter langen Gang der Eiter sich entleert. So wandert
(„senkt sich") der Eiter von der Wirbelsäule längs des M. psoas bis
unter das Pouparfsche Band zur Leiste (Psoasabscess). Diese Fistel-
gänge sind oft gewunden, hier und dort mit einer Art Klappe versehen,
die die Entleerung des Eiters stört ; in der Tiefe fühlt man manchmal
den freiliegenden Knochen. Ist die äussere Oeffhung der Fistel von
einem Wall üppiger, leicht blutender Granulationen überlagert . so ist
nicht selten im Grunde derselben ein Fremdkörper , ein Stück todten
Knochens, Kugel, Holzsplitter, Tuchfetzen u. dergl. zurückgehalten.
Der Ausdruck Fistel wird in correcter Weise auch für einige den Begriff nicht
ganz deckende Zustände gebraucht, so wird z. B. die regelwidrige Communication zweier
Form, Grund, Rand, Absonderung der Geschwüre. 391
Körperhöhleu oder einer solchen mit der Oberfläche auch Fistel genannt — Blasen-
scheiden-, Scheiden-Mastdarmflstel, Magenfistel, Thränenfistel, Pleurafistel u. s. f. Dieselbe
kann auf dem Wege der Verschwärung entstanden sein , die Wunde aber längst geheilt
und allseitig mit Epithel umsäumt. Wo die Ränder dieses Loches lippenartig dünn sind,
spricht man von „Lippenfistel". Es handelt sich also meist nur um den Folgezustand
einer Geschwürsbilduug.
Gar nie war Geschwürsbildung vorhanden bei den „angeborenen Fisteln".
Hemmungsbildungen, entstanden durch Ausbleiben des Schlusses embryonaler Spalt- und
Rinnenbildungen. So ist die „congenitale Halsfistel" entstanden durch nicht völligen
Verschluss der Kiemenspalten, ähnlich gewisse Darmfisteln, Missbildungen an Blase und
Harnröhre u. dergl. Diese abnormen Communicationsgänge sind in ihrer ganzen Länge
mit echtem Epithel und einer Art Schleimhaut ausgekleidet und können deshalb nur
durch Entfernung aller epithelialen Gebilde zur Heilung gebracht werden.
Ebenso wichtig ist es, den Rand des Geschwürs zu beachten.
Manche Geschwüre zeigen einen flachen, sanft abfallenden Rand; oft
ist dies ein Anzeichen beginnender Heilung. Zeigt sich gar der graue,
röthlich durchschimmernde , flach auslaufende Epithelsaum am Rande,
so ist dies der Beweis wirklicher Heilungsvorgänge. Steil abfallend,
wie ausgefressen und ausgenagt, „wie mit dem Locheisen geschlagen"
sind die Ränder gewisser acuter venerischer, d. h. durch geschlecht-
liche Ansteckung entstandener Geschwüre, des „weichen Chanere".
Die Ursache des weichen Chanere wird jetzt in den Ducrei/' sehen
Bacillen gesucht.
Ein anderesmal ist der Rand ein überhängender, der geschwürige
Zerfall ist im Unterhautzellgewebe weitergegangen als in der Ober-
haut; es bilden sich förmliche Höhlen und Buchten unterhalb der
Ränder — Ulcus sinuosum. Ganz besonders sind es tuberculöse Ge-
schwüre, die diese Beschaffenheit des Randes zeigen. Ist der Rand
wallartig aufgeworfen und hart, so ist er callös (Callus, Schwiele).
Eine chronische Bindegewebswucherung ist die Ursache davon. Der
callöse Rand ist ein Zeichen langen, mt)nate- bis jahrelangen Bestandes
und besonders häufig bei misshandelten mechanischen Geschwüren (Bein-
geschwüren). — Einen auffallend slarken Horn(Epidermis-)wall findet
man bei neuroparaly tischen Geschwüren.
Umgebung und Rand gehen meist ohne scharfe Grenzen in ein-
ander über. Die Umgebung ist oft fast unverändert (bei manchen
syphilitischen und tuberculösen Geschwüren), ein kaum, 1 Cm. l)reiter,
wenig gerötheter „Hof". Ein anderesmal sind auf weite Strecken hin
die Gewebe im Zustand schwerer chronischer Entzündung mit elephan-
tiastischer Veränderung oder chronischem Ekzem. Oder es ist in
den bis Fingerdicke erweiterten Hautvenen (Varicositäten) sofort die
Ursache der Geschwürsbildnng zu erkennen. Unmittelbar an das Ge
schwur anstossende narbige Processe weisen darauf hin, dass früher
vielleicht vor Jahrzehnten, sich derselbe Vorgang schon hier abgespielt
hat. Die Umgcl)ung gibt somit oft ein Stück Geschichte des Leidens
an die Hand. Harten, mit kleinen Knötchen durchsetzten Rand und
Umgebung zeigt das Krebsgeschwür (s. Fig. 341).
Die Absonderung eines Geschwürs ist selten guter, dicker
Kiter (höchstens wenn es anfängt zu heilen), sonst meist eine dünne, oft
blutgemischte (sanguinolentej . jauchige Flüssigkeit. — Die Art der
Secretion ist fiir die Erkennung der Natur gewisser Fisteln von
AVertli. Tuberculöse Knoehenfisteln geben eine dünne, graue Flüssig-
keit aus, osteomyelitische und FremdkörperHsteln gewöhnlich einen
392 VI. Capitcl. — Kriuiklieiteu der Jiaut iiud des l^jitciliaiifzcllgowebcs.
dicken, rahmigen Eiter. Tuberkelbacillcii finden sich in einem Fistel-
secret nur ausnahmsweise, selbst wenn die Fistel zweifellos tubercuh'Js
ist. Scorbutischer Eiter ist reich an rothen Blutkörperchen. Ebenso
zeigen mechanisch raalträtirte Geschwüre blutgemischten Eiter.
Die Grösse der Geschwüre ist sehr wechselnd, am Unterschenkel
finden sich oft solche, die ihn fast ganz ringförmig umziehen und
kolossale Ausdehnung gewonnen haben. Infectiöse Geschwüre, nament-
lich syphilitische werden selten so gross , weil sie gewöhnlich bei
längerem Bestand theilweise heilen.
Auch die Zahl gleichzeitig bestehender Geschwüre, resp. der von
früher zurückgebliebenen Narben ist für die Diagnose wichtig. Mecha-
nische Geschwüre sind meist einfach, höchstens doppelt, vielleicht eines
auf dem äusseren, eines auf dem inneren Knöchel. In mehrfacher An-
zahl vorhandene Geschwüre erregen stets den Verdacht, dass sie in-
fectiöser oder dyskrasischer Natur sind. (Vergl. Fig. 342: Syphilitische
Geschwüre des Gesichts.)
Schliesslich kann auch noch der Sitz gelegentlich Aufschluss
geben. Liegen Geschwüre an Verletzungen leicht ausgesetzten , un-
günstig ernährten Punkten, wo die Haut unmittelbar auf dem Knochen
liegt — an den Knöchehi, der Vorderfläche des Schienbeines u. dergl.,
so sind es wahrscheinlich mechanische Geschwüre; sitzen sie dagegen
an Stellen mit guter Circulation, an weichen muskelgepolsterten Stellen,
an der Wade, so sind es wahrscheinlich Infectionsgeschwüre.
Zu einer erfolgreichen Behandlung eines Geschwürs ist eine
genaue Diagnose der Ursache derVerschwärung und des Ausbleibens
der Heilung durchaus unerlässlich. Unter sorgfältiger Berücksichtigung
der angeführten Punkte wird es meist nicht schwierig sein, die wahre
Natur des Geschwüres zu erkennen.
Alle Geschwüre verlangen eine massvolle Antisepsis, d. h.
Antiseptica in nicht zerstörender Concentration.
Stauungsgeschwüre erheischen eine Aenderung der örtlichen Cir-
culation, Hochlage des Beins — es handelt sich ja fast nur um Bein-
geschwüre — , zum Mindesten gute Einwicklung mit Leinen- oder
elastischen {Martin' scheri) Binden , späterhin Massage. Syphilitische
Geschwüre werden örtlich (Ung. Hydrarg. praec. alb., Sol. Hydr. bichlor.
corros. 1 : 3000, Emplastrum Hydrargyri, Jodoformpulver) und allge-
mein antiluetisch (Kai. jod. 10 — 1'5 p. d. oder Quecksilbercur, s. pag. 181)
behandelt. Serophulöse Geschwüre werden energisch örtlich behandelt,
ausgekratzt und ausgebrannt und antiseptisch nachbehandelt. Fisteln
werden mit Höllensteinlösungen (1 : 100 — 1 : 10) ausgespritzt und wenn
dies, wie leider oft genug, nicht genügt, so müssen sie gespalten
werden (auf der Hohlsonde), vergl. Fig. 168, und, unter Ausstopfung der
Wunde, als Rinnen ausheilen. Während der Heilung ist scharfe Con-
trole nöthig.
Eine grosse Anzahl von Geschwüren, namentlich Beingeschwüren,
ist für Arzt und Patienten eine grosse Geduldsprobe und es bedarf oft
längeren Experimentirens, bis man findet, was das Geschwür „erträgt".
Manche — namentlich schmerzhafte — Geschwüre sind schmerzfrei bei
Salbenbehandlung (Borlanolin 1 : 30, Ung. diachylon Hebrae, Ung. emol-
liens u. dergl.), andere bei leicht antiseptischen , feuchten Umschlägen
Behandlung der Geschwüre. 393
(Aq. plumbi ; Öol. ac. salicyl. 1, Ac. bor. 6, Aq. dest. oOO"0 ; Sol. Aliim. acet.
1 : lOO'O, Sol. Zinci Chlorati V30 — 73% ^- dergl.). Wieder andere, jedoch
nur kleine, mit geringer Absonderung- können mit antiseptiscbeu Pulver-
verbänden (Jodoform) behandelt werden. Ekzeme halten sich gut bei
Puderung mit venetianischem Talk.
Selbstverständlich verlangen alle Geschwüre ausserdem möglichste
Ruhe des kranken Theiles und Schutz gegen Verletzungen. Diese sind
für die kümmerlichen Granulationen ebenso schädlich wie chemisch,
stark wirkende Mittel.
Nicht genug kann ich warnen vor der kritiklosen Anwendung der Carbolsäure,
selbst in dünnen Lösungen (IVo)- ^^^ nassen Carbolumschläge maceriren oft auf weite
Strecken hin die Epidermis, es entstehen Blasen (Ekzem), die Oberhaut geht in Fetzen
ab und das Geschwür wird von Tag zu Tag grösser.
Die Compression der Geschwüre mit kreisförmig um das Bein ge-
legten und sich dachziegelförmig deckenden Heftpflasterstreifen (Baynton-
scher Verband, vergl. Fig. 235) hat mich nur selten befriedigt.
Die Hauptsache bleibt für die meisten Geschwüre Geduld, peinliche
Reinlichkeit und ausdauernde Pflege seitens des Arztes und Patienten.
Manche, namentlich varicöse und grosse mechanische Geschwüre
sind nahezu unheilbar. In alten narbigen Massen gelegen, die
die Wundränder auseinandergezerrt halten, unmittelbar auf dem Knochen
unverschieblich aufsitzend , kann die Schrumpfung der Granulationen
nicht eintreten und ebenso fehlt es an gesunder Haut in der Um-
gebung, die lebensfähiges Epithel in genügendem Masse erzeugen
könnte. Solche Geschwüre zu heilen, ist schon viel versucht worden.
Manchmal ist kräftiges Abkratzen mit dem scharfen Lötfei, eine ener-
gische Aetzung oder Brennen mit der Piatina candens dienlich oder
man greift zur Circumcision. IY2 — 2 Cm. vom Geschwürsrand ent-
fernt wird ein kreisförmiger Schnitt ringsum bis auf den Knochen ge-
führt. Anfangs klafft er vielleicht nur Y2 t!m. , am anderen Tag oft
2 — 4 Cm. Der Geschwürsgrund ist dadurch entspannt und verkleinert
sich meist schnell, der Graben wird von beiden Seiten rasch von Epithel
überbrückt. Sicherer als die Circumcision ist die Auf p flau zung von
Haut. Man trägt die Granulationen, nachdem die Wunde durch längere
Bettruhe und antiseptische Umschläge frei von Entzündung geworden
ist, mit dem scharfen Lötfei oder flach gehaltenem Rasirmesser ab und
transplantirt nach Thiersch (pag. 276). Leider ist die so erzielte Haut-
decke doch oft etwas hinfällig und so hat man , wenn ]\laterial vor-
handen , vom andern Bein grosse gestielte Lappen herübergeschlagen
und angeheilt (MaaHj. Meist lässt sich so die früher oft wegen unheil-
baren Beingeschwürs ausgeführte Amputation des Unterschenkels ver-
meiden.
Von chronischen Infectionskrankheiten , die Entzündungen der
Haut machen, sind die Syphilis pag. 181 , die Lepra pag. 182 be-
sprochen.
Eigenartig sind die Manifestationen der Tuberculose der Haut.
Der Lupus („fressende Flechte") ist erst in neuerer Zeit als
der Tuberculose zugehörig erkannt wcn'den.
Die histologische Grundlage des Lupus ist die Bildung kleiner Grauulations-
geschwülstchen im Bindegewebe der Haut, gebaut uacli dem Tj'Jjus der entzündlichen
Granulome, aus Gefiissen, weissen Blutzellen und einer faserigen Zwischensubstanz; nach
der Peripherie hin zeigen sich die Erscheinungen gewöhnlicher Entzündung, kleinzellige
394 VI' Capitel. — Krankheiten der Haut und des Unlerliautzellgewebes.
Infiltration und bei längerem Bestand auch Biridegewebswucherung. Die ejjithelialen
Elemente der Cutis atrophiren und gehen schliesslich ganz ein. Ausserdem enthält das
Lupusknötchen ziemlieh constant Riesenzellen vom Bau tuberculöser KiesenzelJen und
Bacillen in sehr spärlicher Zahl. Durch Impfung mit Lupusmaterial wurde bei Kanin-
chen echte Tuberculose erzeugt.
Durchans in Uebereinstimmung mit dem histologischen und patho-
logischen Befund des Lupus steht der klinische Verlauf. Man hat
einen Aussciilag, bestehend aus kleinsten, Stecknadelkopf- bis erbsen-
grossen Knötchen, die sich ziemlich hart anfühlen und darum herum
einen bläulichrothen, gleichfalls härtliehen Hof chronischer Entzündung.
Hinfällig wie alle Granulationsgeschwülste verfallen diese bald secun-
därer Degeneration. Sie können ohneweiters in Narben übergehen —
Lupus cicatricans und geben dann vertiefte braunrothe Narben
ohne Haare und Drüsen, von dünner, spiegelnd glänzender Epithellage be-
deckt. Oder ehe es zur Narbung kommt, entwickelt sich Schuppenbildung,
die Oberhaut stösst sich in lange haftenden Schuppen ab — Lupus
exfoliativus. Oder es kommt zum wirklichen Zerfall und Geschwürs-
bildung — Lupus exulcerans, wenig vertiefte, mit festen Borken be-
deckte, spärlich secernirende Geschwüre mit harter knotiger Umgebung.
An anderen Stellen wieder kommt es zu warziger Verdickung der
Cutis — Lupus hypertrophicus (verrucosus). Alle diese verschiedenen
Formen können neben einander bestehen und das gleichmässige gemein-
same Ende aller ist die Lupusnarbe, unter der alles Cutisgewebe ver-
schwunden ist und die über das knöcherne Gerüst, z. B. des Gesichts,
der Hände (der Lieblingssitze des Lupus), scharf weggespannt ist , so
dass man dieselben fast durch sie durchschimmern sieht und das Ge-
sicht bei einem ausgebreiteten Lupus einem mit Wachs überzogenen
Todtenschadel nicht unähnlich ist. Die Knochen werden erst später
ergriffen und gleichfalls längsam zerstört. Auf Schleimhäuten (harter
Gaumen) findet sich der Lupus auch. Verziehungen, wie Ausstülpung
der Augenlider (Ectropium und Entropium), können die Folge sein.
Vom Krebs lässt sich der Lupus meist unterscheiden durch die reichliche
Narbenbildung, die nicht auf so hartem Boden sitzt, wie das Carcinom , dann die am
Eande angeordneten vielen kleinen Knötchen. Schliesslich das Alter; der Lupus beginnt
meist in jungen Jahren, um sich dann durch Jahrzehnte bis in 's höhere Alter hinzu-
ziehen. Bei Syphilis fehlen die Knötchen und ist meist mehr Ulceration da : doch ist
oft hier die Unterscheidung erst durch eine antisyphilitische Behandlung möglich.
Lupuskranke enden oft vorzeitig durch Gesichtserysipele, Miliar-
tuberculose oder Lungenschwindsucht.
Bei der Behandlung werden von innerlichen Mitteln alle Antiscro-
phulosa und Antituberculosa (s. pag. 179) angewandt, doch verdient von
ihnen höchstens das Arsen in grossen Dosen (von OOOö täglich, steigend
bis 0"02, selbst 0'03 !) ein gewisses Vertrauen, Oertlich w^erden die
lupösen Stellen mit Emplastrum Hydrargjri, Emplastrum balsami peru-
viani, weisser Präcipitatsalbe, Chrysarobinsalbe , Salicylkreosotpflaster,
Kreosot rein oder mit Glycerin oder Oel (1 : 10 — 1: o) u. dergl bedeckt.
Meist muss man aber zu Aetzungen greifen, indem man einen spitzen
Höllensteinstift in jedes einzelne Knötchen einbohrt. Statt dessen kann
auch der Kali causticum- oder der Chlorziukstift (1 Theil Chlorkalium,
1 Theil Kali nitricum, 2 Theile Chlorzink) verwendet werden. Die
blutigen Operationen, Auskratzung mit dem scharfen Löffel , eventuell
mit sofortiger Aetzung mit Jodglycerin oder Höllenstein, Stiehelungen,
Lupus. Hauttuberciilose. 395
d. h. feinste Stiche oder Schnittchen bis in die Untevhaut, um Narbung-
zu erzielen (Volhnann), sind heute weniger populär, angeblich wegen
der Gefahr der Erzeugung von Irapfniiliartuberculose. Wo es irgend
geht (Arme, Rumpf, Wangen) ist eine breite Excision des Lupus im
Gesunden wie beim Krebs und darauf folgende Hauttransplantation
nach Thiersch das beste Verfahren. Im Ganzen ist die Lupusbehand-
lung bis jetzt wenig erfolgreich und erzielt höchstens zeitweisen Still-
stand des mit grosser Hartnäckigkeit wiederkehrenden Uebels.
Auf alten Lupusfläclien entstehen nicht selten echte Epithelialcarcinome. Vergl.
Steinhäuser, Beitr. z. kl. Chir., Bd. XII, Lit.
Die eigentliche Tuberculose der Haut oder das Scrophulo-
derma (Gomme scrufuleuse) ist im Ganzen selten und macht sich als
langsam entstehende, röthlichbraune, allmählich erweichende und dann
im Centrum zu sinuösen Geschwüren zerfallende Knoten geltend , die
manche Aehnlichkeit haben mit syphilitischen Guramiknoten; ein
anderesmal tritt sie in Form atonischer, oft mit sichtbaren miliaren
Tuberkeln (s. Tuberculose der Knochen) besetzter Geschwüre, namentlich
am Anus , Mund u. s. w, auf (Hauttuberculose i. e. S.). Sie sind mit
Perubalsam, Spaltungen , Auskratzungen , Aetzungen u. s. w. zu be-
handeln ; im Uebrigen ist die Scrophulose oder Tuberculose allgemein zu
behandeln. Ein Theil der Hauttuberculosen entsteht secundär nach tuber-
culöser Lymphdrüsenvereiterung, tuberculösen Knochen- und Gelenk-
eiterungen.
Ein anderer eigenthümlicher Process scheint auch in einem Theil
der Fälle, jedoch nicht in allen, mit Tuberculose im Zusammenhang zu
stehen, der Leichentuberkel. Bei Leuten, die viel mit der Zer-
legung von Leichen zu thun haben, pathologischen Anatomen (bei nor-
malen Anatomen habe ich sie nie gesehen) , Leichendienern u. s. w.
bilden sich bald mehr warzige und condylomähnliche Wucherungen,
bald mehr flache, von Sehrundengeschwüren durchzogene Knoten, meist
auf Fingern und Handrücken, mit rothem Hof, ziemlich schmerzhaft,
verkrustend oder eine dünne Jauche absondernd. Ihr histologischer
Bau ist der der Granulationsgeschwülste. In einzelnen sind Tuberkel-
bacillen gefunden (Karg, Biehl), in anderen nicht. Sie bleiben im
Wesentlichen örtlich, doch ist die Möglichkeit einer Verschleppung des
Giftes durch die Lymphbahnen und damit allgemeiner Tuberculose nicht
ausser Acht zu lassen. Für die Behandlung ist Bedeckung mit Einpl.
Hydrargyri odei- Perubalsam nützlich. Ebenso sind Aetzungen mit con-
centrirter Carbolsiiure oft erfolgreich. Werden die Hände vor weiterer
Infection geschützt durch Einstellung der Beschäftigung mit Leichen,
so heilt der Process nieist von selbst aus.
Eine eigenartige Erkrankung der Haut , die nur in den Tropen namentlich
auf den Antillen vorkommt, ist die Framboesia (Yaws, Plan). Hier bilden sich
meist zunächst kleine Dermatiden, die schliesslich zu Geschwüren führen und um diese
herum, zum Theil aus diesen hfrau.sspriessend , Granulationsgeschwülstchen, von Form
und Grösse von Erd- oder Himbeeren, die gleichfalls zur Eiterung gelangen. Nacli Be-
stand von 7., — 1 Jahr heilt die Affection von selbst aus. Die Beziehungen der Krankheit
zn Lues und Scrophulose sind nocli nicht genügend klargestellt.
Eine der Framboi-sie iilinliche Erkrankung, die Mycosis fungoides oder das
Granulom der Haut (Alihertj (aucli als Pseudoleucaemia cutis beschrieben) führt
gleichfalls im Laufe weniger Wochen zur Bildung von massenhaften ulcerirenden, sarkom-
ähnlichen Granulationsgeschwülstchen auf der ganzen Haut. Unter Fiebererscheinungen
und raschem Kräfteverfall trat in dem Fall, den ich gesehen, nach 8 Wochen der Exitus
396 VI. Capitel. — Knuikhdteii der Haut und d<;.s ( Jit,i;rli;iut,/,i;]l;.'-i;\vebe«.
ein. Ob die in den Granulomen gefundenen Bactericn und Protozoen wiiklich die Ur-
sache der Krankheit sind, oder nur Begleiter derselben, ist noch nicht erledigt.
Es seien hier noch einige seltene exotische Gcschwürsf or ni e n kurz
erwähnt.
Der Madurafuss beginnt meist mit am inneren Fussrand sich entwickelnden sub-
cutanen Geschwülsten, die schliesslicli aufbrechen; unter Missstaltung des Fnsses bildet
sich schliesslich eine (oder mehrere) Höhle, in der nekrotische Sehnen, caiiöse Knochen
etc. liegen. Im Eiter finden sich gelbweisse Körnchen. Bedingt soll die Krankheit sein
durch einen dem Actinomyces ähnlichen, aber mit ihm nicht identischen Strahlenpilz.
{Paltauf, Internat, klin. Rundschau, 1894, Nr. 26.)
Die Dehlibeule ist eine knotige, unter Schuppung und Eiterung im Laufe
eines .Jahres in eine hässliche Narbe übergehende Infiltration der Haut und des TJnter-
hautzellgewebes, im Gesicht und an den Extremitäten. Ob es sich um Lupus, Lues oder eine
Krankheit für sich handelt, ist noch nicht ausgemacht. Auch die Stellung zum sartischen
Geschwür (Kokanka), zum Pendehgeschwür in Transkaspien, dem Jelisawetpolschen Jähr-
ling, der Aleppobeule (= Dehlibeule?) ist unsicher, wie das Verhalten dieser Geschwürs-
formen unter einander (Tehatjeiv).
Beim Ainhun (Tropen) kommt es mit oder ohne sichtbare Versch wärung zu einer
ringförmigen Abschnürung und schliesslich zum brandigen Abfallen einer oder mehrerer
Zehen (meist der kleinen).
Alle diese geschwürigen Processe in der Haut linden ihr Ende in der Narbe.
Narben aus früheren Krankheiten geben eine zuverlässige , von den oft unwahren
Mittheilungen des Kranken unabhängige wichtige Krankengeschichte an die Hand.
Rein mechanische Geschwüre sitzen an schlecht ernährten Stellen , wo die Haut
unmittelbar dem Knochen aufsitzt — Knöchel, Vorderfläche der Tibia. Sie sind an
einem Beine meist nur einfach oder höchstens doppelt (auf äusserem und innerem
Knöchel). Die von ihnen zurückbleibenden Narben sind, da die Verschwärung bis in's
Unterhautzellgewebe oder Periost gegangen , stark zusammengezogen und ohne alle
drüsigen Organe (Schweissdrüsen, Haare). Narben von syphilitischen Geschwüren sind
anfangs rothbraun, bald silberglänzend ; es zeigt sich an ihnen keine Narbenretraction,
da der geschwürige Process wenig in die Tiefe und mehr in die Fläche geht und Drüsen
und Haare nicht vollständig zerstört sind. Die Narben sind mehrfach und nicht an be-
stimmte Oertlichkeiten gebunden. Die syphilitischen Narben zeigen meist Kreisform. Tuber-
culöse Narben sind unregelmässig gebaut, oft wie gestrickt, dann radiär strahlig, manch-
mal von kleinen, polypenartigen Hautläppchen überragt, namentlich die von tuberculösen
Drüseneiterungeu herrührenden. Lupusnarben sind überaus dünn , spiegelnd , oft von
kleinsten Gefässen durchzogen, abschuppend und häufig mit kleinen Lupusknötchen,
namentlich am Rande, besetzt. — Betraf der geschwürige Process nur Haut und Unter-
hautzellgewebe , so sind die Narben leicht verschieblich (z. B. syphilitische) , kam das
Geschwür durch Zerfall tieferer Theile , die jenseits der Fascien liegen, oder durch
Knocheneiterung zustande, so sind die Narben tief eingezogen und oft dem Knochen fest
angelöthet.
Objective Beurtheilung von Narben kann in der Praxis sehr nützlich werden, be-
sonders unaufrichtigen Patienten gegenüber. Eine Narbe von einem scrophulösen Drüsen-
geschwür am Halse gibt über die Natur eines unklaren Gelenkleidens Aufschluss ; ebenso
lassen die Narben syphilitischer Geschwüre — z. B. am Unterschenkel — stillschweigend
in zweifelhaften Fällen eine antisyphilitische Cur einschlagen, selbst wenn die Ehrbarkeit
des Patienten nicht einmal eine indirecte Frage gestattet. — Hässliche, namentlich
stark pigmentirte Narben werden durch Aufstreichen von verdünnter Jodtinctur oder
Ichthyol allmählich weniger entstellend.
Eine Reihe von chronisch-entzündlichen Processen in der Haut,
namentlich aber langdanernde Geschwüre, führen schliesslich zu einer
Art Hypertrophie, richtiger gesagt zu Zuständen der Verdickung und
Voluraszunahme , die unter dem Namen Elephantiasis zusammenge-
fasst werden. Doch sind die Processe , die als elephantiastische be-
zeichnet werden, nach Ursache, Entstehungsart und klinischer Erschei-
nungsweise immerhin ziemlich verschieden.
Der typische Sitz der Elephantiasis sind die unteren Extremitäten,
demnächst die Genitalien , seltener andere Körpertheile. Die Beine
Elephantiasis.
397
Fig. 356.
isfe
werden zu unförmlielien plumpen Cylindern aufgetrieben, an denen von
den Contouren der Muskeln und Knochen absolut nichts mehr zu sehen
ist. Die Aehnlichkeit mit einem Elefantenbein, Elephantopus ist eine
naheliegende.
Mikroskopisch hat man massiges Bindegewebe, vorwiegend plumpe, wie ödematöse
Fasern, dazwischen reichliche Gewebsflüssigkeit, Wanderzellen in massiger Anzahl. Die
Lymphgefässe sind erweitert, oft zu makroskopisch sofort wahrnehmbaren Röhren, förm-
lichen Lymphvarices, die gelegentlich platzen können und zum Lymphfluss (Lj^mphorrhoe)
führen können (vergl. pag. 126). Helferich und Solger fanden die elastischen Fasern
des Bindegewebes bei Elephantiasis zu plumpen queren Schollen zerfallen. Das chronische
Oedem betrifft nicht allein Haut und Unterhautzellgewebe, auch die Muskeln und das
Zwischengewebe, selbst das Periost sind chronisch ödematös. Die drüsigen Organe der
Haut sind atrophisch. Die Oberhaut ist meist gleichfalls verdünnt, wenn auch an einzelnen
Stellen oft warzenartige oder granulationsähnliche "Wucherungen von Haut und Epidermis
sich finden. Häufig findet sich bräunliche Pigmentirung. Fig. 356 ist eine Elephantiasis
cruris höhereu Grades mit warziger Hypertrophie der Haut (nach Albert).
Die Ursachen der Elephan-
tiasis sind verschieden und damit
auch der Verlauf der einzelnen Fälle.
Nur selten führen reine mecha-
nische Circulationsstörungen zur wirk-
lichen Elephantiasis, wenngleich sie
begiinstigend wirken können. So hat
selbst Thrombose der Vena iliaca bei
Phlegmasia alba dolens der Wöchne-
rinnen , oder bei Druck durch Neu-
bildungen wohl chronisches Oedem,
aber fast nie Elephantiasis zur Folge.
— Die typischen Fälle von Ele-
phantiasis entstehen auf entzünd-
lichem Wege. Es sind oft sich wieder-
holende wundrosenartige Processe,
verbunden mit frischer entzündlicher
Schwellung, Schmerz, Röthung und
massigem Fieber. Jeder Anfall lässt
das Bein dicker zurück, als es vorher
gewesen und so entwickelt sich das-
selbe allmählich zu der unf(»rmlichen
Masse des Elefantenbeines.
Aehnlich ist es bei der Elephantiasis, die das chronische Ekzem
und das Beingeschwür begleitet. Die beständige Entzündung, die sich
im Lauf der Zeit ebenso in die Tiefe fortsetzt wie in die Fläche,
führt hier zur Elephantiasis.
Die schwersten Formen von Elephantiasis, wo z. B. das Scrotura
zu 50 Pfund schweren Geschwülsten entarten kann, iindet man bei der
Filariakrankheit. Die Embryonen der Filaria sitzen in den Lymph-
gängen, verstopfen diese und fuhren dadurch zu der enormen Dilatation
derselben und zur Lymphstauung. Die exotischen Fälle von Elei)han-
tiasis, z. B. auf Samoa , sind wohl sämmtlich auf diese Krankheit zu-
rückzutüliren.
Die Behandlung der Elephantiasis ist eine vorwiegend
mechanische. Hohe Lage der unteren Extremitäten und centripetale
Einwicklung der Beine mit elastischen oder nassen Leincnl)iiiden,
r
398 ^^- Capitel. — Krankheiten der Haut und des Untei'liaatzellgewebe.s.
Massag-e, nicht Streichen, sondern kräfiig-es Kh^pfen fllelj'crkhj fvergl.
l)ag. 3Ö5) bringen ineist rasch, wenigstens hei den nicht aufFilaria be-
ruhenden Fällen, eine bedeutende Vohnnsabnahrne zustande, doch sind
Rückfälle häutig. Temporäre Compression der zuführenden Arterien,
ebenso Esmarch'' ache Einwicklung wii'ken unterstützend. Dabei kann
es vorkommen , dass die Haut förmlich zu weit wird und man mit
2 Bogenschnitten grosse Striemen aus der Haut ausschneiden muss ; der
Defect wird dann sofort vernäht (Helferich). Die vorgeschlagene Unter-
bindung der Arterien ist durchaus zu widerrathen.
Bei den elephantiastischen Tumoren des Scrotums oder der weib-
lichen Labien gibt die Abtragung mit Lappenbildung und nachherige
Naht recht gute ßesultate. — Wo Beingeschwüre, chronische Ekzeme
u. s. w. die Ursache sind , ist die Beseitigung dieser das Wichtigste.
Verwandte Zustände sind die Sklerodermie und das Sclerema
neonatorum.
Bei der Sklerodermie zeigen sich nach einem ödematösen
Prodromalstadium grosse Flächen infiltrirt, so hart, dass der Finger-
druck nicht eindringt , bräunlichroth pigmeutirt , kalt ; die starre In-
filtration der Cutis verdeckt die Contouren der Haut und Muskeln völlig ;
auch ist die Bewegung derselben in diesem starren äusseren Panzer
sehr gehemmt. Mikroskopisch fand man bis jetzt nur Bindegewebs-
wucherung und Verengerung der Gefässe. Hoffa (Münch. med. Wochen-
schrift, 1892, Nr. 35) fand kleinzelliges Infiltrat der Gewebe , auch in
Media und Adventitia der Arterien ; diesen Befund bestätigt DinMer
(Arch. f. klin. Med., Bd. XLVIII), der auch die Abwesenheit von Mikro-
organismen hervorhebt. Singer (Berl. klin. Wochenschr., 1895, Nr. 11)
fand auch bei Sklerodermie schwielige Verödung der Schilddrüse. Be-
fallen sind vorwiegend obere Extremitäten und Gesicht, dann der Rumpf.
Aus diesem Stadium hypertrophicum kann die Krankheit in
Heilung oder in das Stadium der Atrophie übergehen. Die Haut
wird papierdünn ; ausser der Cutis schwinden aber auch die Muskeln
und die übrigen Weichtheile. Schliesslich kann es sogar zur Abstossung
von einzelnen Fingergliedern (Spontangangrän, vergl. pag. 43) kommen.
Die Dauer des Leidens erstreckt sich über eine Reihe von Jahren.
Unsere Mittel, hauptsächlich Massage und Elektricität, sind wenig
wirkungsvoll.
Ein ähnlicher Zustand der Hautverhärtuug findet sich bei Neu-
geborenen, aber nicht wie bei der Sklerodermie nur au einzelnen
Körperstellen, sondern über den ganzen Körper verbreitet — Sclerema
neonatorum. Die Kinder, deren Temperatur eine niedrige ist und
deren sämmtliche Lebensfunctionen darniederliegen , gehen meist bald
atrophisch zu Grunde.
Das Myxödem der Haut (vergl. pag. 20) , ein ähnlicher Zu-
stand chronisch-ödematöser Hautverdickung, ist die Folge einer Atrophie
der Schilddrüse und wird durch Verabreichung von Schilddrüsen-
substanz (vergl. pag. 351) gebessert, die auch bei Sklerodermie zu ver-
suchen wäre.
Das Rhinosclerom ist pag. 183 besprochen.
Die Neubildungen der Haut sind im Cap. IV besprochen.
VII. Capitel.
Kranklieiten der Knochen nnd Gelenke.
Entwicklung und Bau des Kno chen Systems. — Entwicklungsstörun-
gen. Rachitis. Osteomälacie. Atrophie. Hypertrophie. Riesenwuchs.
Wir besprechen die Krankheiten der Knochen und Gelenke zu-
sammen. Beide sind nicht nur eine entwicklungsgeschichtliche Einheit;
auch ihre Krankheiten sind vielfach gemeinsam. Wo eine Trennung
in der Natur der Sache liegt — wie bei den Verletzungen, sollen sie
auch getrennte Besprechung finden.
Knochen und Gelenke gehören zur Bindegewebsgruppe. Sie gehen aus einer ge-
meinsamen knorpeligen Grundlage hervor, die von einer bindegewebigen Hülle um-
Fig. 357.
.schlössen ist. Durch Spaltbildung im Knorpel entstehen .die Gelenkhühlen . deren Be-
grenzung, der Gelenkknorpel, ein Rest des alten Hyalinknorpels ist. Verrauthlich beruht
diese Öpaltbildung auf der Entwicklung der Muskeln, durch deren Bewegung sie veran-
lasst wird. Die bindegewebige Hülle wird über dem Theil des Knorpels , der erhalten
lileibt, zur Knorpelhaut (Perichondrinm) ; an den zur Knochensubstanz umgewandelten
Partien zur Beinhaut (Periost) , über den Gelenkspalten zu der Gelenkkapsel mit den
Gelenkbändern, der Synovialhaut und den Synovialfortsätzen.
Am leichtesten verständlicli ist der Bau des Knorpels (Fig. 857
nach SrJictil-). Schöne, ein- l)is niclirkernige , ziemlich prutoplasma-
400 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
reiche, meist rundliche oder halbmondfi'trrnige Zellen — die Knorpel-
zellen — liegen zu ein bis mehreren in kleinen Höhlen — Knor])el-
kapseln — und diese werden umg-eben von einer Gi'und- oder Zwisdien-
substanz. Diese ist homogen (scheint jedoch auch aus einzelnen Fibrillen
oder Lamellen zu bestehen) beim Hyalinknorpel (Fig. 357) , deutlich
faserig beim Faser- oder Bindegewebsknorpel (Fig. 558 Faserknorpel
nach Schenk) ; ein Netz elastischer Fasern beim elastischen oder Xetz-
knorpel. Die Aehnlichkeit im Bau mit gewöhnlichem Bindegewebe
(Fasern , Zwischensubstanz und Bindegewebszellen) springt in die
Augen. Gefässe hat der Knorpel keine, doch scheint er ein äusserst
feines verzweigtes System von Saftcanälen, die radiär von den Knorpel-
kapseln ausgehen, zu besitzen (Arnold , Budrje).
Der embryonale Knorpel , der den Vorläufer des Knochens dar-
stellt, ist ein Hyalinknorpel mit sehr reichlichen Zellen und verhältniss-
mässig spärlicher Grundsubstanz. — Die Umwandlung des Knorpels in
Knochen können wir an der Hand der Fig. 359 — 361 studiren. Die
Knochen wachsen bekanntlich nicht an allen Stellen, sondern nur an
bestimmten Punkten wird Knochengewebe producirt — an den Epi-
physenlinien und an der Innenfläche der Beinhaut und an den
Fig. 358.
' ' \__ ,'~^ - Knorpelzellen
Faserige Grundsubstanz —
Knorpelzellen ~
Grenzflächen des Marks. An den Epiphysenlinien — den Grenzen
des Mittelstiickes (Schaftes, der Diaphyse) und der Gelenkenden liegt
die eigentliche Wachsthumsschicht des Knochens — der Epiphysen-
knorpel. Einzelne Knoehenfortsätze (Trochanteren, Tubercula, Epicon-
dyli) oder Apophysen haben ihren eigenen kleinen Epiphysenknorpel. —
An der Grenze zwischen Epiphyse und Diaphyse beginnt nun die Ver-
knöcherung. Die Diaphyse ist beim Embryo so klein und kurz, dass
die Gelenkenden fast aneinanderstossen und die Verknöcherung in
einem Punkte zu beginnen scheint — Ossi ficationspunkt, Kno che u-
kern — und auf diese kleinen Stellen werden nun von den Epiphysen
her immer neue Verknöcherungslagen aufgesetzt (Apposition) und
dadurch wächst der Knochen in der Länge. — Der Umwandlung des
Knorpels in Knochen gehen gewisse Veränderungen voraus. In den
dem Gelenke nahen Theilen des Knorpels liegen die Knorpelzellen
weniger regelmässig, aber die Kapseln meist mit den Längsdurch-
messern der Gelenkfläche parallel und die Zellen sind meist einkernig.
Je näher der Epiphysenlinie , umsomehr beginnen sie sich zu regel-
mässigen, parallelen Reihen anzuordnen und sich zu richten („Kuorpel-
säulen") , Fig. 359. Zugleich erscheinen Kerntheilungsfiguren in den
Knorpelzellen , dieselben werden mehrkernig , theilen sich und die
Kapseln enthalten mehrere Zellen.
Knochenwachstlium.
401
In eiuer weiteren, der Epiphysenlinie näheren Zone, der „Ver-
kalkungszone" , erlischt aber diese rege Zellthätigkeit. Die Knorpel-
zellen schwellen an und erleiden eine Art hydropischer Degeneration,
während die Grundsubstanz sich trübt und der Kern schwindet. Das
Protoplasma wird stark lichtbrechend, die Kapsel wird ausgedehnt und
in diesen Hohlraum brechen von dem Ossificationskern her Gefäss-
schlingen herein und zugleich sieht man mehrkernige Zellen vom
Charakter der Riesenzellen zwischen Gefässschlingen und Kapselwand
Fig. 359.
Epiphyse
Ossifica-
tionsrand
\\uV
i. f^n ' Li
Epiphyse
auftauchen (Fig. 361 nach Stöhr). Diese Zellen — Osteoblasten ge-
nannt — scheinen nun in der That die Bildner der Knochensubstanz
zu sein. Ihre Herkunft ist nicht sicher bekannt. Von den Knorpel-
zellen stammen sie wohl nicht her, wahrscheinlich stammt das Material
dazu aus dem Blute oder ist wenigstens längs der Blutgefässe herein-
gewachsen. Die Grundsubstanz des Knorpels wird eingeschmolzen und
die Osteoblasten scheiden um sich structurlosc Lamellen ab (die beim
Kochen Leim geben), in Form eoncentrisch geschichteter Rijhren. Diese
Grundsubstanz trübt sich bald durch Einlagerung feinster anorganischer
Landerer, Allg. chir. Patliologie u. Therapie. 2. Aufl.
26
402 VIl. Capitel. — Ki'ankheiten der Knochou und Gelenke.
Körnchen, die sich in Säuren lösen und Allem nach Kaiksalze sind —
(phosphorsaurer Kalk , kohlensaurer Kalk und etwas phosphorsaure
Magnesia). Sie sieht wie bestäubt aus.
Die Osteoblasten bleiben, wie es scheint, /um Tlieil bestehen als
Knochenkörperchen des bleibenden Knochens, während ein anderer
Theil derselben eingeschmolzen wird. Sie bilden damit die Grundlagen
des Knochens. In Fig. 362 (nach SchenJc) erkennt man zunächst die
beim Erwachsenen einkernigen Knochenkörperchen mit spärlichem
Fig. 360.
if'i
Zerstreut liegende
KnorpelzeHen an der
hyalinen
Grundsubstanz
Knorpelzellen hinter
k einander geordnet
-^V 5. ^^^*(-^'tfJ-^?, Dieselben werden
Ä-s ^''"^r -^"^^ »^"s grösser
; Jijj ;/ %rK%<ifx'z^jt4l^^''S°
■^ ^y ;"'-S^'^fe!-5';%J";"Sig" 3^P/vJ''-^^ Die Knorpelzellen
■^ ^/'"''l'^^'^fCSf '?j;^:^";'^'i';J*?g5'5 rücken einander
Bildung der
neuen
Markräunae
In der Grundsubstanz
sind Kalksalze in
körniger Masse abge-
lagert
Markräume im
Knochen
Protoplasma und zahlreichen feinsten protoplasmatischen Ausläufern,
die durch ein feinstes Canalsystem , das von den Lymphgefässen her
injicirt werden kann — Knochencanälchen — mit einander communi-
ciren, durch die Lamellen der Grundsubstanz hindurch. Die Knochen-
körperchen liegen in Knochenhöhlen oder Kapseln 5 darum herum
die concentrisch geschichteten Lamellen.
Die Anordnung dieser von den Knochenkörperchen abgeschiedenen
Knochenlagen wird nun bestimmt durch die Blutgefässe. Im wachsenden
Knochen sehr reichlich (s. Fig. 361), sind sie im entwickelten Knochen
Bau des Knochens. Verknöcliei'uns
403
Fig. 361.
P .1
ow
E
Oh
^r
natürlich viel weniger zahlreich. Ausgehend von den in den Foramina
nutritia eintretenden Hauptgefässen liegen sie im Knochen eingegraben
in eigenen röhrenförmigen Canälen {Havers'^cXxQ Canäle, s. P^ig. 362
und 363,70, die bald nur ein Gefäss, bald mehrere (Arterien und
Venen) und perivasculäre Lymphräume enthalten ; die letzteren ana-
stomosiren mit den Knocheucanälchen. Um diese Ä^frers'schen Canäle
herum liegen nun Knochenlamellen in Röhrenform, die „Ht(«;ers'schen
Lamellen", auch „Speciallamellen" geuannt (Fig. 362 und 363). Natür-
lich lassen diese, wenn sie auf einander geschichtet werden, Räume
zwischen sich leer, wie etwa eine Anzahl Wasserleitungsröhren auf ein-
ander geschichtet auch freie Räume zwischen sich lassen. Auch diese
Räume werden durch Knochen-
substauz ausgefüllt, „Sehalt-
lamelien" oder „interstitielle"
Lamellen (Fig. 363).
Nun ist aber der Knorpel
nicht die einzige Matrix des
Knochens. Ein anderer Theil
geht unmittelbar aus dem Binde-
gewebe hervor, aus Perichon-
drium und der Beinhaut , dem
Periost. Das Periost besteht
aus einer äusseren derbfaserigen
zellenarmen, fibrösen Schicht und
einer inneren, weicheren, gefäss-
und zellenreicheren, der Bil-
dungs- od. Cambiumschicht
(Fig. 361,7''). In dieser lenken die
Aufmerksamkeit grosse mehr-
kernige Zellen vom Charakter der
Osteoblasten auf sich. Auch sie
scheiden Knochensubstanz ab und
bilden so äussere Deckschicliten in
Form von cylindrisclien Röhren,
die beim wachsenden Knochen
„perichondraler" Knochen ge-
nannt werden (Fig. 361, F-P)^
beim fertigen heisst diese vom
Periost gelieferte Schicht „äussere Grundlamelle" (Fig. 363). In Fig. 361
ist diese ])erichondrale Knochenbildung dargestellt. F das faserige Periost,
nach innen immer /.ellenreicher, schliesslich eine Schicht Osteoblasten (Oh')
und darunter der junge periostale Knochen (p).
Die Analogie im Aufbau des Knochens mit dem gewöhnlichen
Bindegewebe liegt auf der Hand — zellige Elemente mit Ausläufern,
hier Bindegewebskörperchen, dort Knochenzellen und dazwischen eine
fibrilläre Zwischensubstanz, die im Knochen imprägnirt ist mit Kalk-
salzen, die vermuthiich chemisch gebunden , nicht einfach mechanisch
abgelagert sind; zwischen diesen Fasern oder Lamellen in beiden
Systemen mehr oder weniger Kittsubstanz.
Ob'
:-£
Aus einem Längsschnitt der ersten Fing-erphalanx
eines 4monatl. menschlichen Embryo. 20mal ver-
grössert. M Buchten des primordialen Markraumes,
gefüllt mit Knorpelmarkzellen und h Blutgefässen;
r Riesenzelle: g verkalkte Knorpelgrundsubstanz;
E junge enohondrale Knochensubstanz, von der Seite
gesehen , E' von der Fläche betrachtet. Hier sieht
man schon zackige Knochenhöhlen mit Knochen-
zellen. Ob Osteoblasten noch wen^g geordnet ; P peri-
chondraler Knochen ; Ob' Osteoblasten schon zu einer
Lage geordnet. Die beiden obersten Osteoblasten X
sind schon zur Hälfte von Kuochensubstanz umgeben.
F Periost. — Dar links von p gelegene Theil des
Knochens ist der vom Perichondrium (Periost) ge-
lieferte Knochen (s. pag. 405). Der rechts von p (g)
ist durch Umwandlung von Knorpel entstanden
(endochondraler Knochen).
"Würde nun in dieser -Weise der Knochen weiter aufgebaut, so bekämen
massive Körper aus lauter Substantia compacta von überaus scliworem Gewichte
26*
wir
für
404
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen nnd Gelenke.
die sie bewegenden Muskeln fast unbewegliche Massen. Wie aus der Physik bekannt ist,
ist es für die Festigkeit eines Gebäudes gar nicht nöthig, dass es massiv ist. Es genügt,
wenn in den Richtungen, in welchen deformirende Kräfte einwirken, Stützpfeiler, Ver-
bindungsbälken und Di'uckwiderlager vorhanden sind, die dem Druck, Zug und der seit-
lichen Verschiebung widerstreben, gerade wie es für ein Haus genügt, wenn es feste
äussere Wände , innere stützende Säulen und sie verbindende Querbalken besitzt. So
verfällt auch im Knochen all das, was nach statischen Gesetzen unnöthig ist, der Auf-
saugung und der sparsam und praktisch arbeitende Organismus lässt nur die statisch
nothwendigen Theile bestehen ; dadurch entsteht im Knochen jenes überaus interessante
System von Knochenbälkchen, das an jedem durchsägten Knochen, namentlich am Ober-
schenkel und am Calcaneus zu bewundern ist. In zierlichster Weise mit einander und
der Rinde verbunden, entsprechen sie genau den „Zug- und Drucklinien", in denen die
Festigkeit des Knochens beansprucht wird. Wie die Trajectorien einer Krahnconstruction
schneiden sich die Spongiosabälkchen unter rechtem Winkel und laufen in rechtem
Winkel gegen die äussere Oberfläche der Knochen aus. „Der Knochen ist aus körperlich
Fig. 362.
Knoclienkörperchen
Ausläufer der
Knoclienkörperchen
CjL i^ <
Havers'sches
Canälchen
V^
>}'.
\
- ^-'V^v.. ;r^^^^l-f
Havers' sehe
Lamellen
7 ^^hhf '^^--^
/
Knochenkorperclien
gewordenen Druck- und Zugcurven aufgebaut" {Kulmann und v. Meyer). „Nur die
statische Brauchbarkeit und Nothwendigkeit und das statische Ueberflüssigsein ent-
scheiden über die Existenz und Oertlichkeit jedes einzelnen Knochenpartikelchens und
demgemäss auch über die gesammte Knochenform" {Jul. Wolff, Langenheck's Arch., 42).
So hat der Calcaneus eine „Dachstuhlconstruction" (H. v. Meyer), der Wirbelkörper eine
„Fachwerkconstruction" (K. Bardelehen), der Oberschenkel die Construction eines Krahns
(H. V. Meyer) u. s. w.
Die in dieser Weise frei werdenden Räume im Knochen nimmt die Marksubstanz
in Anspruch. Je nachdem wir weite zusammenhängende Räume haben, bekommen wir
Knochen mit weiten Markhöhlen — die Röhrenknochen — oder solche mit markerfülltem,
kleinerem Maschenwerk — spongiöse Knochen.
Das Mark ist im Wesentlichen lymphoider Natur und ähnelt in
seinem Aufbau der Milz, der es auch in functioneller Hinsicht nahe
steht (Blutbildung). So lange der Körper im Aufbau begriffen ist, finden
wir das rothe Mark (lymphoides Mark). Ein massenhaftes Blutgefäss-
Bau des Knochens. Knochenmark. 405
System durchzieht ein feinstes bindegewebiges Reticulum, worin allerlei
zellige Elemente liegen, weisse Blutkörperchen verschiedener Art, rothe Blut-
körperchen in verschiedenen Graden der Umwandlung und des Werdens,
vielkernige Riesenzellen — Myeloplaxen - — daneben auch Fettzellen
in geringer Zahl (s. Fig. 361, M, h, r u. Fig. 364).
Ist der Organismus fertig, so wandelt sich das rothe Mark um
in gelbes Mark. Hier überwiegt Fettgewebe — grosse Fettzellen,
Körnchenzellen und Fetttröpfchen in das Reticulum eingelagert- daneben
tinden sich noch die Elemente des rothen Markes — jedoch an Zahl
und Mächtigkeit erheblich reducirt. Es ist überaus interessant, dass das
gelbe Mark — wenn uöthig — sich in rothes Mark zurückverwandeln
kann ; oder, was vielleicht richtiger ist , das sich dann mächtig ent-
wickelnde rothe Mark verdrängt das gelbe, und so findet man rothes
Mark z. B. bei Knochenbrüchen an der Stelle der Verletzung wieder. —
Ein Zeichen schwerer Entartung ist das Gallertmark (gelatinöses
Mark). Es handelt sich um eine schleimige Entartung des gelben Fett-
Fig. 363.
Periost
Aeussere Grundlamellen
^_^, Havers'sche Canäle
— -^ Haveis'sche Lamellen
Schaltlamelleu
Innere Grundlamellen
Mark
Ä ' - "^^
markes , mit Auftreten von Sternzellen , schleimiger Zvvischensubstanz,
wie dies sclion pag. 47 und bei der Besprechung des Lipoma myxiv
matoäum und des Myxoms (pag. 324) geschildert ist. Gallertmark findet
sich gleichzeitig mit allgemeinem Körperschwund, namentlich im Alter.
Das Mark besitzt gleichfalls die Fähigkeit, Knochen zu bilden.
Wahrscheinlich entfalten die Riesenzellen des Markes die Thätigkeit
der Osteoblasten. Die vom Mark gebildeten innersten Lagen der Rinden-
substanz, der Substantia corticalis, werden „innere Grundlamellen'" ge-
nannt (s. Fig. 363).
Noch bleibt die Bildung der grösseren oder kleineren — Mark-
räume zu schildern. Sie entstehen durch Resorption von Knochen-
substanz und liegt hier gleichfalls ein sehr interessanter Vorgang vor
(Fig. 364 nach Stölir). Die Havers'^ohQw Canäle werden zu diesem
Zwecke ausgeweitet. Man findet in dem erweiterten Raum allerlei
zcllige Elemente, weisse Bhitzellcn u. s. w., dann unmittelbar den Knochen-
bälkchen anliegend vielkernige Riesenzellen — hier (Fig. 364, R) „Osteo-
klasten", Knochenzerbrecher genannt. — Wo sie — im Präparate —
ausgefallen sind ( Fig. 364, L^ u. L), zeigt sich eine, wie ausgenagte Lücke
406
VII. Capitel. — Krankheiten der Krio(;}icii und Gelenke.
Fig. 364.
JIL RL
.L,
Aus einem Querschnitt des Humerus
einer neugeborenen Katze, 240mal ver-
grössert. H Harers' sches Canälchen,
zwei Gefässe u. Markzellen enthaltend.
K Knochen. L Hon^ship'sche Lacunen,
in denen R Kiesenzellen (Osteoklasten)
liegen. I/, Leere Laeune.
im Knochenbälkchen — die Howship'aahe Laeune. In welcher Weise die
Aufsaugung- der Kalksalze und die Resorption der Grundsubstanz erfolgt,
ist noch nicht festgestellt. Die Einen denken an die lösende Wirkung
der im Blute enthaltenen Kohlensäure, Andere glauben an einen mecha-
nischen Druck seitens der Osteoklasten
oder der Blutgefässe. Möglich wäre es
auch, dass der Organismus sich der äther-
phosphorsauren Salze , die in Wasser lös-
lich sind, bediente, sowohl um das Material
herbeizuschaffen, andererseits auch wieder
die phosphorsauren Salze in ätherphosphor-
saure zurückverwandelte, um sie wieder
abführen zu können.
In dieser Weise wird der Knochen
allmählich aufgebaut, umgewandelt und
erneuert, und dies ist auch im Wesentlichen
die Art und Weise, wie Störungen seiner
Structur — seien sie nun durch Ent-
zündungen oder insbesonders durch Ver-
letzung (Fractur) entstanden — wieder
ausgeglichen werden. Es sind Processe, combinirt aus Anbildung an der
einen, Aufsaugung an anderen Stellen, beherrscht weniger durch Nerven-
einfluss, als durch die pag. 404 besprochenen mechanischen und statischen
Momente, durch das sogenannte „Transformationsgesetz" des Knochens
(Jul. Wolf), oder das Gesetz der „functionellen Anpassung" (Roux)^
dass jede Function sich die ihr nothwendige Form schafft. (S. auch
bei Deformitäten.)
Es erübrigt noch Einiges hinzuzufügen, z. B. über die Bildung
von Knochensubstanz direct aus Bindegewebe — wie der Unter-
kiefer und die Knochen des Schädeldaches entstehen. Dieser Process
ist nur wenig verschieden von der periostalen Knochenbildung, die
pag. 403 geschildert ist. Die reichlich vorhandenen Riesenzellen —
Osteoblasten — veranlassen eine Kalkablagerung in den sie umgebenden
Bindegewebsfasern und scheiden
zugleich Grundsubstanz aus, die
gerade so verkalkt. Die Osteo-
blasten werden dann zu Knocheu-
körperchen u. s. f. Bei der Bildung
von Periostcallus bei Knochen-
brüchen wird uns dieser Process
wieder begegnen (s. Fig. 365).
Das Periost steht ausser-
dem mit der Rindensubstanz in
Verbindung durch faserige Aus-
strahlungen, theils aus elastischem,
theils aus fibrillärem Bindegewebe, die in röhrenförmige Canäle der Com-
pacta einstrahlen {Sharpey' sehe Fasern). Diese finden sich nur in den
vom Periost gebildeten Knochenpartien, fehlen also in den eigentlichen
Harers' sahen Lamellensystemen, ebenso in den vom Mark gebildeten
Knochentheilen.
c3'
CCD
^
S^
B
^)
B Bindegewehsbündel bei B,
oh Osteoblasten.
Knochenbildung aus Bindegewebe und durch Metaplasie. 407
Schliesslich ist noch der metaplastische Typus der Knochen-
bildung- zu erwähnen. An der Hand von Fig\ 366 (nach Stöhr) lässt
sich unmittelbar der Uebergang von Knorpelzellen in Knochenzellen
und der Knorpelgrundsubstanz in Knochen-
^'^- ^'^^- grundsubstanz beobachten. Unter patholo-
~^-~ gischen Verhältnissen kommt dieser Typus
,y- ^^ nicht so selten vor (Rachitis).
i'v^ ' ^ r ' Es ist hier ein alter Streit über das
^-^-^r — \ ="v-^ Knochenwachsthum zu berühren. Lange
'^21, '. Zeit war die Theorie die herrschende, dass
^ : V) der Knochen nur durch „Apposition" wachse,
"■^^ — Cä: durch Auflagerung- an den Epiphysenlinien,
U;.V^ :^~-^ vom Periost und vom Mark aus, dass aber
'"^ der einmal fertige Knochen unveränderlich
^^LrfXs^ru^twne'nHwIs: »^i , dass keinerlei Einlagerung neueren
240mal vergrössert. Metaplastischer GcWCbCS ZWischcU diC alten Gcwebc Cr-
Typus. CKnorpelsrundsubstanz direct n ■• -> ■, . -r-i • a -\ i^ , •
übergehend in K Knoohengrundsuh- lolgc, dass kcnic „Expansiou" dcs tcrtigen
IXnf ^cTÄerga^ffofrton' Knochcus möglich sei. Gefolgert wurde dies
Knorpelzellen zu Knochenzellen. namentlich aus dcr angcblichcn Unver-
änderlichkeit zweier in bestimmten Entfer-
nungen in den Knochen eingetriebener Löcher oder Stifte. Die Beob-
achtungen sind nicht übereinstimmend , und es scheint heute die Auf-
fassung- sich anzubahnen (Strelzoff)^ dass der Knochen immerhin ein
bescheidenes interstitielles Wachsthum besitzt, und dass einzelne, wie
die Knochen des Schädels, nicht an den Nähten, sondern vorwiegend
durch interstitielles Wachsthum sich vergrössern. Manche pathologische
Erscheinungen — z. B. die Ausdehnung der Knochen durch centrale
Geschwülste (s. Sarkome, pag. 339), scheinen auch nicht anders, als
durch interstitielles Wachsthum erklärt werden zu können.
Von den Entwicklungsstörungen des Knochens kommt
mangelnde und fehlerhafte Anlage von Knochen nicht so selten
vor. So sind Fälle bekannt von angeborenem gänzlichem Mangel eines
oder beider Schlüsselbeine. Häufiger fehlt von den beiden Vorderarm-
oder Unterschenkelknochen der eine, so namentlich Fibula oder Ulna.
Die Folge ist meist eine Verkrümmung des Gliedes durch Verschiebung
von Hand oder Fuss nach der Seite, wo der Knochen fehlt — manche
Fälle von angeborenem Plattfuss, Klumphand u. dergl. Bei der Zerlegung
findet man nur einen fibrösen Strang an der Stelle, wo der Knochen
liegen sollte , oder ein Theil , z. B. das obere Ende der Fibula , ist als
dünner, nach der Mitte hin spitz endender Knochenstreifen vorhanden.
Es scheint frühzeitiger Untergang der Ossificationspnnkte vorzuliegen.
Bei anderen angeborenen Verkrümmungen, angeborener
Kluni})- und riattfuss, vielleicht auch angeboicnc Iliiftverrcnkung,
ist die Anlage des Knochens die normale; die regelrechte Entwicklung
wird jedoch gehemmt durch falsche Lage und Haltung des Kindes in
der Gebärmutter bei wenig Fruclitwasser oder durch amniotische Fäden.
Die hantigste Entwicklungsstörung des Knochens ist die Racliitis,
englische Krankheit (rickets), Zwiewuchs.
408 ^^^- Capitel. — Krankheiten der Knochen nnd Gelenke.
Die Rachitis kommt in seltenen Fällen während des fötalen Lebens
vor (fötale oder congenitale Rachitis) und ist dann meist selir hoch-
gradig. Am häufigsten beginnt sie gegen Ende des ersten Lebensjahres
oder im Laufe des zweiten, um nach 1 — 3 Jahren allmählich wieder zu
schwinden. Sie entspricht also hauptsächlich der Periode des ersten
raschen Wachsthumsschubes. Das Vorkommen der Spätrachitis, die
in den späteren Kinderjahren oder in der zweiten Wachsthumsperiode,
vor und während der Pubertätsjahre, auftauchen soll , wird mit Recht
bezweifelt.
Dem Deutlichwerden der rachitischen Veränderungen am Knochensystem geht
meist eine Periode schlechten Gedeihens oder wirklichen Krankseins des K^indes voraus,
Masern, Keucliliusten u. dergl. Häufig zeigen sich vor und während des Bestehens der
Rachitis Bronchiten und Diarrhöen. Oft findet sich Eachitis auch bei Kindern, die nie
krank waren , aber unzweckmässig genährt (zu lange fortgesetzte Milchnahrung) oder
schlecht gehalten sind. Dass atrophische, congenital syphilitische und scrophulöse Kinder
in hohem Grade zu Eachitis disponirt sind, ist natürlich.
Die klinischen Erscheinungen der Rachitis sind folgende.
Die Kinder nehmen nicht mehr zu , sehen blass und elend aus , mit
altem , oft faltigem Gesicht ; Husten stellt sich ein , ebenso Diarrhöen.
Der Bauch treibt sich trommeiförmig auf. Die Kinder werden mürrisch,
weigern sich zu gehen oder zu stehen. Die Veränderungen an den
Knochen machen sich namentlich geltend an den Epiphysenlinien;
hier quillt der Knorpel vor, so dass die Epiphysenlinie als ein
etwas weicherer gewulsteter Ring erscheint, und es oft aussieht, als
ob über der normalen Epiphyse mit ihrem etwas dickeren Gelenktheil
noch eine zweite Gelenkanschwellung läge (daher „Zwiewuchs"). Dies
ist namentlich deutlich an Hand und Fussgelenk, während sich im Knie
meist X-Beine ausbilden. Die Ansatzstellen der Rippenknorpel an die
Knochen treten als bohneugrosse Anschwellung sieht- und fühlbar her-
vor, „rachitischer Rosenkranz".
Zugleich zeigen aber auch die Diaphysen erhöhte Biegsamkeit
und wachsen bald zu abnormen Formen aus. Die sonst nur leicht ge-
schwungene Oberschenkeldiaphyse kann zum völligen Halbkreis werden,
der Unterschenkel wird bogenförmig, namentlich nach auswärts ge-
bogen (0-Bein), oder schraubenförmig nach aussen gedreht. Aehnliche
Verbiegung zeigt der Vorderarm. Die Rippen werden in ihrer Mitte
eingedrückt (vermuthlich durch den Druck der im Wickelkissen gegen
die Brust angelegten Arme); damit tritt ihr vorderes Ende schnabel-
förmig nach vorn und natürlich das Brustbein mit. So entsteht die
rachitische Hühnerbrust (Pectus gallinaceum) oder Kielbrust (P. ca-
rinatum). Die Wirbelsäule wird meist in einem gleichmässigen Bogen
nach der Seite getrieben (rachitische Scoliose , vielleicht vom Tragen
der Kinder auf einem, dem linken Arm); oft sind auch nur einzelne Theile
der Wirbelsäule in spitzem Bogen seitlich ausgewichen.
Die rachitischen Knochen zeigen erhöhte Brüchigkeit.
Rachitische Kinder brechen oft bei leichtester Verletzung die Knochen
(Oberschenkel, Vorderarm, Schlüsselbein), doch brechen die Knochen
meist nicht ganz durch , sondern knicken nur ein — rachitische In-
fractionen. Die Heilung erfolgt meist schnell.
Dann sind häufig Knickungen in den Epiphysenlinien (ohne
Verletzungen). Die Diaphyse setzt sich oft in stumpfem Winkel an die
Epiphyse an (oberes und unteres Ende der Tibia).
Rachitis. - 409
Der Schädel wird eckig und plump, oft förmlich viereckig
(Caput quadratum); das Hinterhaupt wird — durch den Druck des
Lagers — flach und plattgedrückt, die Stirnhöcker ragen vor; die
Fontanellen bleiben lang offen, schliesslich können die Schädelknochen
so weich bleiben, dass das Schädeldach fast ganz aus Bindegewebe zu
bestehen scheint (Craniotabes).
Die Zähne zeigen eine Querrille zwischen Hals und Rand.
Die Gelenkbänder werden schlaff und gedehnt (z. B. die Seiten-
bänder am Knie) und es entsteht ein massiger Grad von vSchlotterge-
lenk. Dabei werden die Ansatzstellen der übermässig beanspruchten Ver-
stärkungsbänder oft schmerzhaft (Knie- und Fussgelenk).
Welche Form der Verkrümmungen schliesslich bei dieser gestei-
gerten Modellirbarkeit der Knochen entsteht, das hängt wesentlich
davon ab , ob die Kinder während der Krankheit mehr stehen und
gehen (bogenförmige Krümmungen der Diaphysen, rachitisches X- u. 0-
Bein, rachitischer Plattfass, Scoliosen) oder liegen (Epiphysen-Knickun-
gen, Craniotabes).
Meist ist der Verlauf der Rachitis ein chronischer, ein bis zwei
Jahre und mehr, doch kommt in seltenen Fällen auch eine acute
Rachitis (üio7/er'sche, Barloiv'&che Krankheit) {Hirschsprung ^ Jahrb.
f. Kinderheilkunde, 95, Band 41). Bei schlecht genährten Kindern unter
einem Jahre entwickeln sich schmerzhafte, tiefliegende Anschwellungen
der Röhrenknochen (Blutungen unter das Periost). Daran schliessen
sich Zahnfleischentzündungen, Schweisse. profuse Diarrhöen, mitunter
auch kleine Blutungen in die Haut (Petechien), Schleimhautblutungen
(ähnlich dem Scorbut). Die Prognose dieser hämorrhagischen Formen
ist schlecht. Die Dauer der Krankheit ist 6 — 8 Wochen. Die Behand-
lung ist antiscorbutische Ernährung (s. ])ag. 388), viel Licht und Luft.
Barloic empfiehlt frische Milch, Kartoffelbrei, Fleischsaft (esslöffel weise),
Saft von Trauben, Apfelsinen, Citronen u. s. w.
Die histologischen Befunde bei Rachitis weisen überall
Störungen der Ossificationsvorgänge auf.
Vergleicht man Fig. 367 (Vergrösserung ca. 20) mit Fig. 362, so
werden die Unterschiede sofort klar werden. Die schöne Regelmässig-
keit, das gleichmässige Vorschreiten der Knorpelumwandlung und Knochen-
bildung ist verschwunden. Ueberaus reichliehe Gefässschlingen dringen
regellos gegen den Knorpel vor, die innerhalb des Knorpels sich ab-
spielenden Processe — Kerntheilung, Zellneubildung und Umbildung —
erfolgen gleichfalls nicht in normaler Weise. Die Knorpelzellen liegen
regellos durcheinander, von scharfer Richtung der Knorpelsäulen ist
keine Rede mehr. Ebenso sind die eigentlichen Ossiflcationsproeesse in
Unordnung gerathen. Wohl scheiden die Osteoblasten — unter dem
Einfluss überreichlicher Vascularisation — Grundsubstanz in Massen
aus, aber es kommt nicht zur Kalkablagerung; man hat „osteoides"
Gewebe, aber ohne Kalkablagerung. Knochenknorpcl ohne Kalksalze
und daher rührt die abnorme Weichheit des rachitischen Knochen.
Ganz in derselben Weise ist die jjeriostale und perichondrale
Knochenbildiing gestört — auch hier viel Gefässe und osteoides Ge-
webe. — Die ncugebildeten Knochenbälkchen zeigen nicht die regel-
mässige Anordnunu'. sondern sind in verschiedenster Richtung durch
einander geschoben. Im Knorpelgewebe selbst bilden sich Markräume,
410
VII. Caijitel. — Krankheiten der Knoclien und Gelenke.
V\
denn die Resorptionsvorgänge sind, nach der Reichliclikeit der jungen
Gefässe und der Weite der Markräume zu schliessen, in hohem Grade
gesteigert ; ein Grund mehr für die Gebrechlichkeit der Knochen. —
Das eigentliche Geschehen bei diesen rachitischen Veränderungen ist
unbekannt. Die Einen beschuldigen verminderte KalkaufViahme, die
Anderen vermehrte Ausscheidung derselben , wieder Andere das Vor-
handensein einer Säure (Milchsäure). Im Urin findet sich bei Rachitis
keine constante Vermehrung
^'s. 367. ^jgj. Kalksalze, wohl aber
\ \\.\l\V\Vv scheint mit dem Stuhl
mehr Kalk ausgeschieden zu
werden.
Haffenbach, ebenso Mis-
coli halten die Rachitis für
eine Infectionskrankheit.
Heilt die Rachitis, so
kommt es zur Verknöcherung
des reichlichen osteoiden Ge-
webes , und jetzt scliiesst
der Ossificationsprocess meist
über das Ziel hinaus. Die
rachitischen Knochen werden
sehr dick, plump und schwer,
bekommen eine ungewöhnlich
starke Rindensubstanz bei
engem Markraum (Eburneatio
rachitica) und der Knochen
bau bleibt zeitlebens
und plump.
Bei der Behandlung
der Rachitis spielt die
Hebung des Allgemeinbelin-
dens die Hauptrolle. Neben
guter Ernährung (Fleisch,
^I Eier , Milch , Bier , nicht zu-
viel Brot und Kartoffeln)
erreicht man am meisten mit
Soolbädern , wenn nöthig
künstlichen (1 — 1"5 Kilogrm.
Viehsalz oder Mutterlaugensalz auf eine Kinderbadewanne = 2 — 3 Pro-
cent), Seebädern, Höhenklima u. s. w., viel frischer Luft — Bewegung
nur unter sorgfältiger Beaufsichtigung, sonst viel Liegen, um Verkrüm-
mungen zu verhüten. Man rege die Kinder nicht zum Gehen oder Stehen an.
Von Äledicamenten habe ich von Phosphor (O'Ol auf lOO'O Ol.
jecor. aselli, einmal täglich nat-h dem Mittagessen ein Kafteelöffel ; um-
schütteln!) hin und wieder Gutes, meist jedoch keinen sichtbaren Erfolg
gesehen; eher noch von Arsenik (Ac. arsen. O'l. Extr. Liquir., Muc.
gumm. arab. aa. q. s. ut fiant pilulae 50, 1—2 Pillen täglich, nach
dem Essen). Auch Eisen wird gerühmt und Leberthran. — Die Verab-
reichung von Kalksalzen (z. B. Conchae praeparatae, mehrmals täglich
1 Messerspitze in Milch oder in der Suppe) nützt nicht viel.
grob
TSa^ '-i-'r.is^'AS'ai'
iii^.
-..4^
Behandlung der Rachitis. Osteomalacie. 411
Bei der Behandlung der Folgen der Rachitis, der Verkrüm-
mungen ist von der Maschinenbehandlung wenig zu erwarten. Ein
grosser Theil der rachitischen Verkrümmungen (0-u. X-Bein, Rosenkranz)
bessert sich in den nächsten Jahren von selbst. Bleiben hochgradige
Verkrümmungen stationär, was nach Veit {Langenheck' s Arch., 50) etwa
vom 6. Jahre ab der Fall ist, so ist nur die aseptische Osteotomie
am Platze (ein 2 — 4 Centimeter lauger Weichtheilschnitt legt den
Knochen bloss, der mit dem Meisel zu Vi durchtrennt und dann von
der Hand vollends durchgebrochen wird. Die neu gewonnene gute
StelluDg wird durch einen Gipsverband festgehalten). Auch die un-
blutige Knochenzerbrechung (Osteoklase) gibt gute Resultate.
Bei der Osteomalacie, einer Krankheit, die nur bei Erwachsenen
vorkommt, handelt es sich nicht um ein Weichbleiben des nicht fest
werdenden Knochens, sondern um ein Wiederweichwerden eines festen
Knochens.
Histologisch handelt es sich um ein rasches Ueberhandnehmeu der Markraum-
bildung und eine Einschmelzung der festen Knochensubstauz. Das Mark ist im höchsten
Grade hjT)erämisch, blauroth, selbst mit wirklichen Blutungen durchsetzt ; an das Mark-
gewebe grenzt osteoide Substanz, Knochengewebe mit entkalkter Grundsubstanz — ähn-
lich der Rachitis, Kuochenkörperchen umgeben von Grundsubstanz, aber ohne Kalksalze
und jenseits dieser entkalkten Schichten noch erhaltene normale Knochenlamellen. Es
scheint somit, dass in dieser kalkfreien Zone die Eutkalkung der gänzlichen Resorption
durch das andrängende Mark vorausgeht. Daneben findet aber auch Neubildung von
Knochengewebe statt, das kalklos bleiben oder wieder kalklos werden, aber auch kalk-
haltig sein kann (Rihbert). Man hat das Wesen der Osteomalacie in der Lösung der
Kalksalze (Halisteresis) gesucht. Wie diese erfolgt, ist so wenig bekannt, wie bei der
normalen Knochenresorption (Milchsäure und Kohlensäure?).
Durch diese Steigerung der Resorptionsprocesse wird die compicte
Subi>tanz aufs Aeusserste reducirt; die Rinde wird zu einer dünnrn
Schale und die Knochen können schliesslich zu häutigen, mit Mark ge-
füllten Säcken werden. Selbstverständlich sind diese Knochen äusserst
biegsam und zu (übrigens meist gut heilenden) Knochenbrüchen über-
aus geneigt und so entstehen die furchtbarsten Verkrümmungen und
Veränderungen der Körperform. jMan spricht so von Osteoraalacia cer> a,
fractiirosa, fragilis. (Man hat „Guramibecken''. „Man kann die Becken-
knochen biegen und drehen wie eine Pappscheibe." Bose^ Chir. Centralbl.,
95, 16.)
Die Osteomalacie betrifft meist schwangere und stillende Weiher
und beginnt dann in den Beckenknochen. Die viel seltenere extra-
puerperale Form, die auch Männer und alte Leute befallen kann, nimmt
ihren Ausgang von der Wirbelsäule oder vom Brustkorb. Den Verbiegungcn,
die erst die Diagnose sichern, gehen schwere „rheumatische" Knochen-
schmerzen voraus, die namentlich bei Nacht heftig werden. Nach einem
Siechthum von Monaten bis einigen Jahren gehen die Kranken zu
Grunde. Die puer|)erale Form kann mit dem Ende von Schwanger-
schaft und Lactation aufhijren und ausheilen, um mit einer Conception
auf's Neue hervorzutreten. Man hat mit gutem Erfolg die Castration
gemacht (FehJiufj). Den meisten Kranken werden die durch die osteo-
mahicischc Beckenverengerung gesetzten Geburtshindernisse verhäng-
nissvoll (Kaiserschnitt!). Die Osteomalacie, fast nur im Westen Deutsch-
lands beobachtet, ist in vielen Gegenden gänzlich ungekannt.
412 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Atrophie des ganzen Knochennystems ist mit den ineisten
Fällen schweren Siechthums verknüpft. Die compacte Substanz wird —
zu Gunsten des Markes — rareficirt, ohne dass die äussere Form des
Knochens darunter leidet (deshalb „excentrische" Atrophie, Osteopo-
rose, Anostose, genannt). Das Mark selbst ist entweder stark fetthaltig,
häufiger gelatinös entartet (s. pag. 405). Die Folge ist dann erhöbte
Sprödigkeit und Brüchigkeit des Knochens und Neigung zu Spontan-
fracturen (s. pag. 416).
Man begegnet der allgemeinen Knochen atrophie im hohen Alter, bei
Krebskranken, schwerer Syphilis (in beiden letzteren Fällen kann
noch neben der allgemeinen Atrophie eine örtliche Neigung zu Spontan-
fracturen bestehen durch Krebsmetastasen oder Gummiknoten in ein-
zelnen Knochen), ferner bei Tabes dorsalis und Geisteskrankheiten (Atro-
■phia neurotica).
Durch Fortfall der Schilddrüse entsteht Zwergwuchs, meist mit Idiotie oder
Cretinismus (Chondrodystrophia foetalis hypoplastica), durch v. Eiseisberg (Langenheck's
Arch., 49) und Hofmeister experimentell bestätigt.
Atrophie einzelner Knochen und der Knochen einzelner
Glieder ist ein häufiges Vorkommniss. Meist handelt es sich um Körper-
theile, die aus irgend einem Grunde nicht mehr recht gebraucht werden.
Am häufigsten sind es Erkrankungen des Nervensystems,
namentlich wenn sie den noch nicht völlig entwickelten Knochen betreffen,
in erster Linie die „Kinderlähmung" , Poliomyelitis anterior acuta.
Neben der Atrophie und Lähmung der Muskeln , die meist zuerst in
die Augen fällt , fehlt fast nie die Atrophie der Haut und eine oft
mehrere Centimeter betragende Verkürzung und Verschmächtiguug der
Knochen. Oft schwinden die Erscheinungen in den Weichtheilen später
ganz und es bleibt nur eine Verkürzung der Knochen zurück , deren
Ursache erst durch eine genaue Anamnese klar wird.
Dann führen Gelenkentzündungen (z.B. Coxitis) oft zur Atro-
phie des ganzen Gliedes, wesentlich durch die Gebrauchsstörung.
Ebenso wirken Beschädigungen der Epiphysenknorpel, sei es
nun , dass sie durch Entzündung zerstört werden (Tuberculose , Osteo-
myelitis), oder bei Operationen an- oder ausgeschnitten wurden oder
sonst Verletzungen stattgefunden haben (traumatische Epiphysenlösungen).
Es können so Verkürzungen bis zu 15 Centimetern eintreten. Diese
Fälle von Inactivitätsatrophie sind bei Kindern bis zu einem gewissen
Grade der Behandlung zugänglich. Man muss auf jede Weise für aus-
giebigen Gebrauch sorgen. Passende Stützapparate, die das Gehen
erleichtern, Wärme, Massage, Elektricität sind nützlich.
Bei Verkrümmungen ist oft ein Theil des Knochens im Wachs-
thum zurückgeblieben (z. B. Condylus externus femoris bei Genu
valgum) , der andere hypertrophisch (Condylus internus femoris).
Nach Amputationen atrophirt der noch erhaltene Rest des abgesägten
Knochens; so kann ein amputirter Oberarmknochen zu einer spitz
endenden Knochenröhre werden, nicht viel dicker als eine Fibula.
Diese Atrophien mit Verschmächtigung des ganzen Knochens in Um-
fang und Länge werden auch als concentrische Atrophien bezeichnet.
Schliesslich habe ich Fälle gesehen, wo ohne jede nachweisbare Ursache oder
ohne irgend eine sonstige Anomalie das eine Bein um bis 4 Centimeter zu kurz war.
Bekanntlich hat kein Mensch zwei gleichlange Beine und so mag der physiologische
Unterschied von 0"5 — 1 Centimeter auch einmal im angegebenen Grade excessiv werden.
Atrophie und Hypertrophie der Knochen.
413
Druck von Geschwülsten (Aneurysmen u. dergl.) bringt locale Atrophie der
Knochen zuwege (gewöhnlich als Druckusur bezeichnet) oder verbiegt sie (z. B. das Sep-
tum nariuiu bei Polypen). Selbst äusserer Druck kann die Entwicklung der Knochen
beeinträchtigen (Corset, schlechtes Schuhwerk).
Vorgänge hypertrophischen Charakters kommen gleich-
falls vor. Bald ist es Verminderung des dem Knochen entgegenwirkenden
Druckes, die ihn länger wachsen lässt, als ohne diese Schranke,
wie der luxirte Radius an seinem nun freien , oberen Ende sich um
Fig. 369.
mehrere Centimetcr verlängern kann. Oder es ist vermehrte Blut-
zut'uhr zum Epiphysenknorpel , wie bei Osteomyelitis, wo ich erst
kürzlich eine binnen 3 Jahren entstandene Verlängerung der Tibia um
4 Centimetcr gesehen (Hdferkh). Hyjicrtrophirt von zwei parallel ge-
414 ^'11. Capitel. — Krankheiten der Knoelien und Gelenke.
legenen Knoelien (Vorderarm, Unterschenkel) der eine, so biegt er
sich zugleich bog-enförmig. Diese letzteren , wie übrigens die meisten
sogenannten Knochenhypertrophien sind entzündlichen Ursprunges fz. B.
auch Pagets Ostitis hypertrophica etc.).
Zur Hypertrophie der Knochen sind auch manche Fälle von
Riesenwuchs zu zählen. Meist angeboren, betreffen sie hauptsächlich
einzelne Finger oder Zehen (Fig. 368 und Fig. 360, Riesenwuchs der
I. u. 11. Zehe nach Albert), doch auch hin und wieder eine oder mehrere
Extremitäten. Anderemale ist enorme Fettentwicklung damit verbunden,
eine Art Lipombildung (s. pag. 323) und die Kranken lassen sich schliess-
lich die störenden, zudem oft lücerirenden Anhängsel amputiren.
Als Akromegalie sind Fälle beschrieben, wo es sich um eine beträcht-
liche Grössenzunahme der Hände, Füsse und Gesichtsknochen ohne Avesentliche Bethei-
ligung der Weichtheile handelte. Man hat in einem Theil der Fälle Veränderungen an
der Hj'pophysis cerebri gefunden und deshalb Füttening mit Hypophysenmasse (1 Ij
versucht.
Knochenbrüche.
Knochenquetschung. — Physikalische Verhältnisse des Knochens. — Entstehungs-
weise der Knochenbrüche. — Die verschiedenen Bruchformen. — Diagnose der
Knochenbrüche. — Klinischer Verlauf. — Allgemeinerscheinungen bei Knochen-
brüchen. — Heilungsweise der Knochenbrüche. — Callusbildung. — Histologie
derselben.
Knochenquetschungen sind von den alten Aerzten wegen der
Gefahr der Pyämie sehr gefürchtet gewesen. Ist keine Wunde vor-
handen, so wird die Resorption des Blutergusses durch Massage, hydro-
pathische Umschläge, später Bepinselung mit Jodtinctur befördert. Ist
eine Wunde zugegen, so wird diese wie eine Quetschwunde (s. pag. 95)
antiseptisch behandelt. Zu verhüten ist, dass die biossliegende Knochen-
rinde durch Vertrocknen zum Absterben kommt (Trockennekrose), durch
feuchte antiseptische Umschläge oder indem man einen feuchten Blut-
schorf C^'cAec^e) bildet. Entsteht nach einer subcutanen Knoehenquetschiing
später eine Verdickung des Periosts, ein Osteophyt, so darf man an-
nehmen, dass ein Spaltbruch des Knochens vorlag, oder dass eine noch
nicht ganz getilgte Syphilis vorhanden ist.
Auf Knochenquetschungen folgt hin und wieder später Sarkombildung, auch tuber-
culöse Knochenentzündung. Für den Gerichtsarzt, und für Unfallversicherungen ist es in
einem solchen Falle oft ebenso schwer, den ursächlichen Zusammenhang abzulehnen,
wie ihn zu beiahen.
Wenn ein Knochenbruch ZU Stande kommen soll, so muss
die Elasticität und Festigkeit des Knochens durch die ver-
letzende Gewalt überwunden werden.
Die Elasticität des Knochens ist äusserst verschieden. Hier spielt das
Lebensalter die wichtigste EoUe. Der Knochen junger Kinder federt — gebogen —
förmlich in seine normale Lage zurück oder wird höchstens an einer Seite eingebrochen
(s. Infractionen). Mit zunehmendem Alter nimmt die Elasticität ab und in hohem Alter
ist die Sprödigkeit der Knochen eine grosse (vergl. Atrophie , pag. 412). Yermuthlich
ist die Elasticität der Knochen proportional dem procentischen Verhältniss der organi-
schen Substanz des Knochens zur anorganischen. — F. r. Bruns konnte den Schädel eines
Erwachsenen um 1'5 Cm. verkleinern, ehe er sprang.
Festigkeit der Knochen. Spontanbrüche. 415
lieber die Festigkeit der Knochen besitzen wir genaue Untersuchungen
(Rauber, Messerer). — Die Zugfestigkeit — praktisch bedeutungslos, da beim
Menschen durch Zug wohl Bandzerreissungen u. s. w. vorkommen, aber keine Knochen-
brüche — beträgt 533 Kgrm. pro Qcm. (am Humerus) . d.h. 538 Kgrm. wären im
Stande, 1 Qcm. Humeriissubstanz zu zerreissen. Eine Eeihe anderer Bestimmungen er-
gab 9'25— 12'21 Kilogramm pro Quadratmillimeter. — Gegen Druck ist der Knochen
noch widerstandsfähiger (12'56 — 16"8 Kilogramm pro Quadratmillimeter). Die Druck-
festigkeit des Knochens ist ungefähr gleich der des Gusseisens und doppelt so gi'oss
wie die des Holzes. Die Torsionsfestigkeit (Drehung um die Längsachse) beträgt
ungefähr 8 Kilogramm (?) pro Quadratmillimeter.
Wie verschieden widerstandsfähig die Knochen des Körpers gegenüber äusserer
Gewalt sind, und wie verschieden dieselbe Kraft wirkt, je nach der Richtung, in der
sie einwirkt, ersieht man aus folgenden Zahlen (nach P. Bruns). Zugleich geben die-
selben einen Ueberblick darüber, welche Kraft ungefähr nöthig ist, um einen Knochen
zu brechen. (D. bedeutet Druck in der Längsachse , B. Biegung , T. Drehung um die
Längsachse, Torsion.)
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Interessant ist, wie gering die brechende Kraft zu sein braucht, wenn sie drehend
einwirkt und die durchweg geringere Widerstandsfähigkeit der — graciler gebauten —
Weiberknochen. Auf den Querschnitt berechnet, ist das Festigkeitsmass des weiblichen
Knochens nicht kleiner als beim männlichen Geschlecht.
Bau, Form und Lage prädisponirt einzelne Knochen be-
sonders zu Brüchen. So sind es namentlich winkelige Biegungen oder
bogenförmige Schwingungen (Unterkiefer, Eippen, Oberscbenkelschaft,
Schlüsselbein) oder winkelige Achsenknickungen (Schenkelhals), die
gewisse Knochen leichter brechen lässt, indem die brechende Gewalt
den Winkel oder Bogen zu vergrössern oder zu verkleinern strebt und
schliesslich den Widerstand des Knochens überwindet, selbst wenn
dieser an der betreffenden Stelle besonders kräftig gebaut ist (Adams-
scher Bogen am Unterkiefer und MerkeVscher Sporn am Schenkelhals).
Vermöge ihrer Lage sind die Extremitätenknochen äusserer Gewalt
mehr ausgesetzt als die des Rumpfes, die Rippen wieder mehr als
die Wirbelsäule. Das mittlere Lebensalter kommt, obwohl die
Knochenfestigkeit hier am grössten ist, am häufigsten in die Lage,
einen Knochen zu brechen , und die Männer wieder häufiger als die
Frauen. Die Ursache ist die Beschäftigungsweise.
Natürlich linden sich auch individuelle Prädispositionen
zu Knochenbrüchen. Momente, die die Festigkeit des ganzen Kuochen-
systems herabsetzen, sind pag. 412 bei der Knochenatrophie er-
wähnt (Alter, Inactivitätsatrophie, Nervenleiden, wie Tabes, allgemeine
Paralyse: Rachitis, Östeomalacie, Scorbut, allgemeine Sy|)hilis).
Eine eigenthümlichc Form von erhöhter Knochenbrüchigkcit ist
die Fragilitas ossiuni idiojiathica oder Os tcopsathyrosis, deren
Ursachen unbekannt sind. Sie ist in gewissen Familien erblich. Auf
416 ^11- CaiJitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
geringfügige Anlässe hin brechen solche Individuen Knochen ; die
Heilung geht in durchaus normaler Weise von statten. Ich habe selbst
einen jungen Mann von 23 Jahren behandelt , welcher bereits acht
Brüche grosser Knochen erlitten hatte, meist bei unbedeutenden An-
lässen, Ausgleiten auf ebenem Boden u. s. f. Sein Onkel, ein rüstiger
Herr in den Fünfziger-Jahren , war schon beim elften Knochenbruch
angelangt. Blanchard beobachtete ein 12Y2Jähriges Mädchen, das
bereits bei seiner einundvierzigsten Fractur angekommen war. Die
Knochensalze sind normal gefunden , man beschuldigt eine krankhafte
Beschaffenheit der organischen Grundlage der Knochen. fVergl. Schulze,
Langenheck' s Archiv, 47.)
Oertliche Erkrankungen der Knochen haben oft an der
erkrankten Stelle eine Verminderung der Widerstandsfähig-
keit und damit erhöhte Brüchigkeit zur Folge (osteomyelitische oder
tuberculöse Knochenentzündungen , syphilitische Entzündungen und
Gummigeschwülste [neben der allgemeinen Osteoporosis syphilitica,
von der ich auch Fälle erlebt habe]). Ebenso wirken Geschwülste im
Knochen , metastatische Carcinome , Sarkome , primäre Marksarkome,
Enchondrome, dann Echinokokken. Das primäre Carcinom (oft sehr klein)
sitzt am häufigsten in der Brustdrüse, dann im Uterus oder Magen. —
Oertliche Atrophie kann sich neben allgemeiner bei demselben Kranken
finden.
Diese Processe setzen die Knochenfestigkeit so sehr herab, dass
oft die kleinste Bewegung, selbst ein Umdrehen im Bett, ein Husten-
stoss einen Bruch herbeiführt. Man hat deshalb diese Brüche Spontan-
fracturen genannt. Entsprechender ist der gleichfalls viel gebrauchte
Ausdruck pathologische oder secundäre Brüche. Man hat an
diese Art von Brüchen zu denken, wenn die vom Kranken als Ursache
angegebene verletzende Gewalt so geringfügig ist, dass sie bei einem
Gesunden keinen Bruch erzeugen könnte.
Eine eigenthümliche Stellung nehmen auch die spontanen Epi-
physenlösungen ein. Beim wachsenden Knochen ist der Epiphysen-
knorpel an sich die schwächste Stelle , und eine ziemlich geringe
Gewalt vermag ihn zu lösen. Der Epiphysenknorpel ist zudem
eine zu Erkrankungen disponirte Stelle, und leicht und häufig
wird er zerstört. Dann löst sich der Zusammenhang zwischen Epi-
physe und Diaphyse. Dies kommt namentlich zustande bei Osteomye-
litis, seltener bei Tuberculöse. Dann findet sich bei hereditärer Syphilis
eine eigenthümliche entzündliche Knorpelerweichuug (Chondritis syphi-
litica), die sich sogar zu förmlicher Vereiterung steigern kann. Auch
Scorbut kann zur spontanen Epiphysenlösung führen.
Die Gewalt, die den Zusammenhang des Knochens auf-
hebt, wirkt nur selten als Zug; häufiger als Druck, indem der Knochen
zwischen zwei Flächen zerdrückt oder zerquetscht wird; als Combination
von Zug und Druck sind die Biegungsbrüche aufzufassen, wo das
eine Ende des Knochen unterstützt und der Knochen unmittelbar vor der
Unterstützungsstelle (z. B. Tischrand) abgebrochen wird oder in der
Mitte durchgeknickt wird, wenn beide Enden unterstützt und die Mitte
frei schwebend belastet wird. Schliesslich entstehen Brüche durch
Drehung um die Längsachse (Torsion).
Entstehungsmeclianismus der Brüche. 417
Naeli der Entstehungsweise unterscheiden wir directe
lind indirecte Brüche.
Bei den directen Brüchen bricht der Knochen unmittelbar an
der Stelle, wo die Gewalt eingewirkt hat (Hufschlag-, Ueberfahrenwerden
u. derg-1.). Der Bruchstelle des Knochens entspricht daher immer eine
grössere oder geringere Verletzung der umgebenden Weichtheile, die bis
zu einer völligen Zertrümmerung oder Zerreissung derselben und selbst
zur Blosslegung der Bruchstelle gehen kann. Wie wenig günstig es für
die Aussichten der Wiederherstellung sein muss, wenn der zertrümmerte
Knochen inmitten eines Herdes gequetschter, halb oder ganz todter
Weichtheile liegt, liegt auf der Hand. Auch der Knochen selbst ist
lieim directen Bruch seltener glatt abgebrochen , als in eine grössere
oder kleinere Anzahl von Splittern und Stücken zertrümmert.
Bei indirecten Fracturen hat die Gewalt entfernt von der
Bruchstelle ihren Angriffspunkt, ihre Wirkung wird fortgeleitet durch
den Knochen oder auch Bänder, Fascien und Muskeln. Der Angriffs-
punkt der Gewalt kann von der Bruchstelle ziemlich weit entfernt sein.
So bricht bei Fall auf die horizontal ausgestreckte Hand mitunter das
Schlüsselbein. Die Gewalt pflanzt sich durch die ganze obere Extre-
mität fort, die im Moment der Verletzung durch Muskelaction in einen
starren Stab verwandelt ist. Der Knochen bricht dann an der, ver-
möge seiner Form oder seines Baues schwächsten Stelle, z. B. das
Schlüsselbein an der Stelle seiner stärksten Schwingung. Die durch
die unmittelbare Einwirkung der Gewalt bedingte Verletzung der Weich-
theile entspricht also nicht der Bruchstelle. Die Weichtheile an dieser
letzteren sind nur insofern in Mitleidenschaft gezogen , als sie durch
den zerbrochenen Knochen verletzt werden. Die Bruchforra ist oft eine
«infache, ohne Splitterung.
Für diese indirecten Brüche ist keineswegs immer eine äussere
Oewalt Anlass der Fractur, es kann eine solche auch durch innere
Gewalt entstehen, durch Muskelzug. Der energisch contrahirte
Muskel ist widerstandsfähiger als der Knochen, und dieser zerreisst;
meist sind es Knochenfortsätze, an denen starke Muskeln sich ansetzen,
die ab- oder durchgerissen werden — Patella, Olekranon, Tuberculum
humeri maj. u. min., Proc. posterior Calcanei, Proc. coracoideus u. s. w. ;
dann aber auch Knochen in ihrem Schaft — Humerus, Femur, Clavi-
■cula, Rippen (durch Husten I).
Bei Kiiocheiibriicheu ist — für die Aussicliteu der Wiederherstellung — nicht blos die
Art und Intensität der verletzenden Gewalt, sondern auch die Natur des ihr entgegen-
wirkenden Widerstandes zu beachten. So ist z.B. beim Ueberfahren sehr wesent-
lich, wie die Unterlage des getrotfenen Körpers beschallen ist, ob hart oder weich. Am
schlimmsten ist hart gegen hart. So wird zwischen Eisenbahnrad und Eisenbahnschiene,
wie zwischen zwei Scheerenblättern Alles ertödtet, selbst wenn Haut, Fascien u. s. f.
meclianiscli noch zusammenhalten. Deshalb sind auch die Pferdebahnüberfahrungen selbst
bei leeren Wagen so scliwer und lassen selten noch den peripheren Theil des Gliedes
lebendig. Dagegen sieht man auf weichem Feld bei beladenem Erntewagen oder schwerem
■Geschütz noch die Verletzungen oft über Erwarten gut enden. — Nicht immer ist der
menschliche Körper der ruhende und die zertrümmernde Kraft bewegt sich gegen ihn.
Häufig ist d(!r Körper der bewegte Tiieil , wie beim freien Fall . und er schlägt gegen
«inen ruhenden Willerstand auf, der Effect ist im Wesentlichen derselbe. Auch hier ist
es ebenso sehr zu beachten, ob der Verletzte auf Steine oder Sand, Stroh, Schnee u. dergl.,
auf eine glatte Fläche oder eine scharfe Kante aufschlägt.
Der Entstehungsmcchanismus der Brüche ist verschieden
und damit meist auch die Form derselben, d. h. die Art und Weise,
Landerer, Allg. chir. Pathologie a. Therapie. 2. Aufl. 27
418
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
wie der Bruch den Knochen durchsetzt, die Anordnung, Lage und
Form der Bruchlinien.
Viele Brüche entstehen durch Biegung, indem z.B. beim freien
Fall eine normale Krümmung der Winkelstellung verstärkt wird (Schaft
des Femurs , Schlüsselbeins , Unterkiefers, Schenkelhals) oder über eine
Kante gebogen wird (Abknickung). Oder ein Knochen wird in seiner
Längs- oder Querachse zusammengedrückt und zerdrückt — Quetschung,
Zerquetschungsbruch (Compressionsbruch , s. Fig. 375) , schliesslich
völlig zertrümmert — Zertrümmerungsbruch (Conquassationsbruch,
s. Fig. 377). Doch gibt es auch Knochenbrüche durch Druck in
der Längsachse, die durch erhebliche, aber nicht so kolossale Gewalt
zustande kommen. Hieher gehören die „Einkeilungsbrüche". Ein
Fig. 370.
härterer Knochen oder ein härterer Theil desselben wird in eine
weichere Partie hineingepresst und bohrt sich in dieselbe ein. Am
häufigsten wird die schmälere, aber durch ihre starke Rindenschale
festere Diaphyse in die weichere und breitere Epiphyse eingekeilt, so
namentlich am Radius. Oder es keilt sich ein Gelenkkörper in den
anderen ein, z. B. die Tibia in den unteren Gelenktheil des Femur.
Oder es werden weiche kurze Knochen ineinander hineingepresst (Wirbel-
körper durch hohen Fall). Diese Einkeilung und Ineinanderpressuug-
ist der Natur der Sache nach oft combinirt mit Sprengwirkung.
Die Rinde des weicheren Theiles wird durch die plötzliche Inhaltsver-
mehrung gesprengt. Eine Anzahl von Spalten durchsetzen denselben,
trennen auch einzelne Theile ganz ab. Ein schöner Einkeilungsbruch
ist in Fig. 370 und 371 abgebildet. Schenkelkopf und Hals sind in die
Verschiecleue Bruchformen.
419
Trochanterpartie hineingetrieben , und diese ist förmlich auseinander-
gesprengt, die G-egend des Trochanter major ist nach oben, die des Tro-
chanter minor nach unten verworfen. Namentlich deutlich ist die Ein-
keilnng auf dem Durchschnitt (Fig. 371).
Fig. 371.
Schliesslich kann auch ein (kleineres) Stück aus dem Knochen
heraus- oder abgerissen werden, Rissbruch, meist handelt es sich um
kleinere Fortsätze (Tubercula u. dergl.). — Dann haben
wir die durch Drehung, Torsion entstandenen Brüche. Fig. 372.
Eigenartig ist die Entstellungsweise der intrauterinen
oder angeborenen Brüche. Bald ist es eine während der
Schwangerschaft erlittene Verletzung des Unterleibes der Mutter, bald
eine Zerbrechung durch die Contractionen des Uterus während der
Geburt. Am häufigsten liegt eine, durch den Geburtshelfer während der
oft schwierigen Geburt erfolgte Verletzung vor. (Lösung der Arme !)
Der Entstehungsmechanismus ist bei der Unter-
suchung der Knochenbrüche wohl zu berücksichtigen.
Denn je intensiver die Gewalt, um so ungünstiger sind
durchschnittlich die Aussichten der Wiederherstellung.
Dabei kommt es , wie ich gleich hier bemerke , ebenso
sehr, oft mehr auf den Grad der Verletzung der Weich-
theile (Gefässc, Nerven, Haut) an, als den des Knochens.
Der Entstchnngsmechanismus ist auch wichtig für
die Beurtheilung der Bruch form. Diese zu kennen,
äusserst wichtig namentlich für die Frage der Behandlung.
Eine der häufigsten Bruchformen ist der Querbruch, meist ent-
standen durch I>icgung, direct oder indirect. Eine gezahnte Bruclilinie
(s. Fig. ;>72) durehsefzt rechtwinklig den Knochen, von der Hauptlinic
gehen oft noch einzelne, niciit ganz durchgehende Bruchspalten ab.
27*
ist praktisch
420
VII. Caijitcl. — Krankheiten der Knoclien und Gelenke.
Der Scliräghrucb zeigt eine liruchspalte , die mit der LängH-
achse des Knochens einen spitzen Winkel bildet (beim Querbrucb an-
nähernd ein rechter Winkel). Fig. 373, a u. &, Schrägbruch der Tibia.
Der Entstehungsmechanismus ist meist der der Abknickung. In
Fig. 373 ist der Bruch so schräg, dass förmliche Spitzen
„Flötenschnabel" — vorstehen.
wie ein
Fig. 373 a.
Fig. 373 i.
?^/
A'i
kfii
(M
.f/i
'•m
Beim Spiralbruch umläuft die Bruchlinie den Knochen schrauben-
förmig. Er entsteht indirect durch Drehung um die Längsachse, er ist
der^ eigentliche Torsionsbruch (s. Fig. 377).
Bei linksspiraliger Verwindung entsteht eine rechtsspiralige Bruchlinie {KrÖlI,
Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 28).
Der 'Längsbruch ist rein und ohne andere Bruchlinien selten.
Er kann direct entstehen, z.B. durch Schuss, wobei von einem Loch-
schuss Längsbruchlinien ausstrahlen (Fig. 373, a und h), oder wenn
zwei Knochen gegeneinander gestaucht werden, kann der eine der
Länge nach zerspringen (Tibiakopf in die Femurcondyleu eingestaucht
und umgekehrt).
Verschiedene Bruchformen.
421
Abtrennung kleiner Knochenstücke ohne bestimmte Bruch-
linie erfolgt durch Abquetschung und Abreissung — Rissbrüche. Bald
sind es Muskeln, bald auch gespannte Bänder. So werden die Knöchel
abgerissen durch Spannung der Seitenbänder im Fussgelenk ; das untere
Ende des Radius durch das Lig. carpi volare propr.
Beim mehrfachen Bruch hat man mehrere, oft unregelmässige
Bruchspalten. Sie entstehen z. B. durch Zerquetschung. In Fig. 375 ist
ein Compressionsbruch eines Wirbelkörpers abgebildet (nach Albert). —
Häufig werden durch diese mehrfachen Bruchlinien ein oder mehrere
Stücke des Knochens ganz aus dem Zusammenhang mit dem übrigen
Knochen gelöst — Stückbruch. Bald sind es T- oder Y-förmige
Fig. 374 a.
Fig. 374 J.
Bruchlinien, z. B. am unteren Gelenktheil des Oberarmes (Fig. 376 nach
Albert) oder Oberschenkels, die aus einem Längsbruch durch Stauchung
hervorgegangen sind, bald wird bei einem Biegungsbruch an der Con-
cavität der Biegung ein keilförmiges Stück ganz herausgeworfen oder
bei einem Torsionsbruch ein oft rhomboidales Stück herausgedreht.
Von Doppelbrueh spricht man, wenn ein Knochen an zwei
getrennten Stellen gebrochen ist, so dass z. B. aus dem Oljcrschcnkel-
schaft durch zwei Querbrüche ein grösserer Tlicil ganz herausge-
brochen ist.
Bei Splitter briichen (Fractura comminutiva) ist der Knochen
in eine ganze Anzahl, oft mehrere Dutzende grösserer und kleinerer
422
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Stücke und Splitter zertrümmert (s. Fig. 377, Splitterbruch der Tibia
und Sclirägbruch der Fibula nach Albert). Hiezu gehört meist grössere
Gewalt, die als Quetschung, Zermalmung (Fractura conquassataj, Ein-
keilung mit Sprengwirkung, Explosion, Schuss (namentlich durch grobes
Geschütz) einwirkt.
Nebeneinanderliegende Knochen (Vorderarm , Unterschenkel und
Rippen) brechen naturgemäss häufig miteinander (mehrfache Brüche).
[Fig. 377.]
Eine Mittelstellung zwischen Knochenbrüchen und Verrenkungen
nehmen die traumatischen Epiphysenlösungen ein. Vorwiegend
auf indirectem Wege, ungefähr auf dem Wege, wie sonst Luxationen
eintreten, entstanden, verhalten sie sich im Uebrigen — als Aufhebungen
der Continuität des Knochens, wesentlich wie Knochenbrüche. (S. Fig. 378,
Ablösung der unteren Epiphyse des Humerus nach Albert.) Die Bruch-
linie ist ihnen durch Lage und Verlauf des Epiphysenknorpels vorge-
Fig. 376.
schrieben. Entsprechend der losen Verbindung zwischen Epiphyse und
Diaphyse bedarf es meist nur geringer Gewalt, um beide zu trennen.
Selbstverständlich kommen sie nur vor Beendigung des Knochenwachs-
thums zu Beobachtung, in der Kindheit, Pubertät und unmittelbar nach
derselben. In dieser Periode sind Verrenkungen seltener, sie scheinen
also diese gewissermassen im jugendlichen Alter zu vertreten.
Nicht immer durchsetzt ein Bruch den Knochen in seiner ganzen
Dicke, sondern nur die eine Wand desselben — unvollständige
Brüche. Der Zusammenhang ist nirgends völlig aufgehoben. — Diese
unvollständigen Fracturen entstehen durch Knickung, Eindrückung oder
Zusammenpressung. Knickbrüche oder Infractionen entstehen durch
Biegung, indem der Knochen, z. B. ein langer Röhrenknochen, an der
concaven Seite in seiner Rinde eingebogen, an der stärker gespannten
convexen aber quer durchreisst. Sie sind also unvollständige Quer-
brüche. — Selbstverständlich kommen sie umso leichter zustande,
je elastischer der Knochen ist ; also besonders bei Kindern. Die beiden
Stücke lassen oft förmlich charnierartige Bewegungen gegen einander zu.
Diasnose der Knochenbrüch©-.
423
Bei platten Knochen kommen in seltenen Fällen gleichfalls Ein-
biegungen ohne Continuitätstrennungen vor. So kann der kindliche
Schädel durch das Promontorium der Mutter oder die Zange des Ge-
burtshelfers Einbiegungen oder Eindrüekungen erfahren, die meist sich
wieder ausgleichen, manchmal aber auch das 'ganze Leben durch be-
stehen.
Meist führen diese Einbiegungen zu Fissuren oder Spaltbrüchen.
Die Spaltbrüche stellen schmale Bruchspalten dar, die vorwiegend
an den Schädelknochen sich finden und hier eigentlich die typische
Fracturform darstellen. Ihr Verlauf ist bald eine einfache Längsspalte,
bald sternförmig, Sternbruch, dessen radiäre Strahlen oft wieder durch
ringförmige Spalten verbunden sind, so dass dadurch ein Stück- oder
Splitterbruch entstehen kann.
Doch kommen Fissuren auch an den langen Knochen vor, be-
sonders oft von den Gelenkenden ausgehend (s. Fig. 374). Ueberhaupt
gibt es wenige Fracturen , wo nicht von der Hanptbruchspalte kleine
Spaltbrüche in die Nachbarschaft ausstrahlten. Sicher sind Spaltljrüche
viel häufiger als man glaubt , und liegen manchen Gelenksvcrstau-
Chungen und Knochenqnetschungen zu Grunde, werden aber am
Lebenden nicht erkannt, weil sie wenig markante klinische Symptome
machen.
Als unvollständige Brüche werden dann manche Formen von
Compressionsfracturcn spongiöser Knochen bezeichnet, wo die Masse
des Knochens incinandergekeilt und der Knochen dadurch niedriger
wird (Wirbelkörper, Calcaneus).
lici Diagnose der K noch enbrü che unterscheidet man von
Alters her 8nl)jectivc und objcctive Bruclisymptomc.
Auf die subjectiveu Bruclisymptome, d. h. diejenigen Er-
scheinungen, die der Kranke selbst angibt, ist im Ganzen wenig
424 ^11- f^'fipitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
ZU geben. Manelic Verletzte haben im Momente der Verletzung das-
Krachen des Knochens gehört. Die Unfähigkeit, den Theil, z.H. ein
Bein, zu gebrauchen, zu gehen, zu stehen, kommt jeder stärkeren Weich-
theilverletzung gleichfalls zu, ebenso der .Schmerz; doch verdient der
letztere , der Bruchschmerz, eine grössere Beachtung, wenn er von
dem Kranken ganz genau auf eine bestimmte Knochenstelle localisirt
wird, bei Druck auf dieselbe gesteigert wird und bei mehrmaliger Unter-
suchung immer an derselben Stelle geklagt wird. — Er ist bei Spalt-
brüchen des Schädels, aber auch anderer Knochen, z. B. des Knöchels,
der Wirbelkörper, oft das einzige Zeichen. Bestätigt wird die Diagnose,
wenn sich später an derselben Stelle eine harte Anschwellung, der
Callus, einstellt. Der locale Bruchschmerz kann also in manchen Fällen,
für Behandlung und Prognose, dann auch bei gerichtlichen Fällen
(Kopfverletzungen) recht wichtig werden.
Entscheidender sind die „objectiven Bruchsymptome", d.h.
diejenigen Erscheinungen, welche die objective Untersuchung des Arztes
klarstellt.
Nach kurzer Befragung des Kranken über die Entstehung des
Bruches nimmt man zunächst die Besichtigung des verletzten Tbeiles
vor (Inspection). Meist fällt sofort eine Schwellung auf, die sieb
durch ihre blaue Farbe als Bluterguss erweist. — Der Bluterguss-
kommt bei Brüchen schon wenige Minuten nach der Verletzung zura
Vorschein , während er bei Verrenkungen gewöhnlich erst am zweiten
oder dritten Tag sichtbar wird.
Neben der Schwellung, oft durch diese verdeckt, macht sich als
weiteres wichtiges Zeichen die Form Veränderung des Theiles,
die Difformität, geltend. Nur zum Theil ist sie durch den Bluterguss
veranlasst, fast immer ist die Ursache eine Verschiebung der Bruch-
stücke gegeneinander, die Dislocation. Diese ist für viele Fälle
pathognomisch ; \-ve\m z. B. ein Unterschenkel zwischen Knie- und Fuss-
gelenk eine winklige Knickung zeigt, so kann dies nur möglich sein
bei einer Continuitätstrennung der Unterschenkelknochen , bei einer
Fractur. Fig. 379 und 380 (nach Albert) zeigt die charakteristische
Difformität bei Fractur am unteren Ende des Radius, Fig. 379 von der
Seite , Fig. 380 von der Volarseite , wo die Längsachse der oberen
Extremität in der Form eines ~\_ geknickt ist.
Dass die Stücke gebrochener Knochen, die „Fragmente", sich
verschieben, ist bekannt. Die Entstehungsweise der Dislocation
ist eine verschiedene. In den meisten Fällen ist es noch die Einwirkung''
der verletzenden Gewalt, die die Bruchstücke aus der Lage bringt —
„primäre Dislocation". Aber auch nach dem Zustandekommen des
Bruches können eine Reihe von Momenten die Lage der Fragmente
gegen einander ändern — secundäre Dislocation. In erster Linie
ist hier zu nennen die Schwere, die den frei gewordenen peripheren
Theil in seiner Lage erheblich beeinflusst. So entsteht bei C)berschenkel-
brüchen die Rotation nach aussen erst durch die Schwere, vermöge
der das seines Haltes beraubte Bein im Bette nach aussen sinkt, so
dass es mit seiner ganzen äussern Fläche dem Bette platt aufliegt. Ein
anderes Mal sind es die durch die Schmerzen zur Contraction angeregten
Muskeln; die Verkürzung, namentlich die progressiv zunehmende Verldir-
zung (intracapsuläre Schcnkelhalsfracturen, Brüche des Corpus femoris)
Dislocation der Knochenbrüclie.
425
ist hierauf zurückzuführen. Schliesslich ist es oft die Hand des Arztes
oder Pflegers — bei Untersuchungen, Einrichtungs versuchen, Lageände-
rungen (Umbetten), die die Fragmente verschiebt. Dass ein ungeschickt
angelegter Verband die Bruchstücke in fehlerhafte Lage drängt, ist
leider eine nicht so selten gemachte Erfahrung.
Von Alters her unterscheidet man vier Formen von Dislocation,
die durch beifolgendes Schema klar werden (Fig. 381). — Die Ver-
schiebung ad axin ist vorhanden, wenn die Achsen der Bruchstücke
einen Winkel bilden (Fig. 381, a und Fig. 379). Die winkelige Knickung,
eine der häufigsten Dislocationen, ist oft eine Wirkung der verletzenden
Gewalt ; häutig ist sie secundär entstanden durch das Ueberwiegen der
an der einen, concaven Seite angebrachten Musculatur (Beugemnsculatur).
Achsenknickung findet sich namentlich bei quer verlaufenden Bruch-
linien ; es ist dabei massige Verkürzung zu constatiren. Die Spitze des
Winkels ist oft zu sehen, fast immer zu fühlen.
Fig. 379.
Fig. 380.
Bei der Verschiebung nach der Seite (Fig. 381, h) ist die
Länge des Gliedes unverändert, nur der'Dickendurchmesser ist vergri ssert.
Sie findet sich jedoch selten allein, sondern fast immer in Verbindung
mit Verschiebung nach der Länge. Diese häufigste Dislocation
kommt in verschiedener Weise zustande; bald gleiten die Fragmente
aneinander vorüber (Fig. 381, b). Ist nun noch gleichzeitig Winkelstellung
da(Di.sl. ad axin), so kann man von „Reiten" der Fragmente reden (Chevau-
chement) (Fig. 381. d) Oder das eine Stück ist in das andere eingetrieben
(„eingekeilt") (Fig. 381, e u. Fig. 370 u. 371). — Die seltenste Form von
Verschiebung ad longitudinem ist dann vorhanden, wenn die Fragmente
auseinandergerissen sind und klaffen (Fig 381, /). Bei der letzteren
Form von Dislocation kann eine — stets geringfügige — Verlängerung
durch die Messung sich nachweisen lassen. Bei den anderen (a — e) ist
Verkürzung vorhanden.
Oft übersehen, aber praktisch
die Dislocatio ad peripheriam
doch von grosser
die Verdreliunir
Wichtigkeit ist
der Fragmente
426
yil. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
gegeneinander, oder die Rotation derselben um die Längsachse (vergl.
Fig. 381, c). Länge und Breite des Gliedes können dabei unverändert
sein, aber der Achsenverlauf des Gliedes ist ein anderer geworden.
Bei Oberschenkelbrüchen z. B. ist das obere Fragment in normaler
Richtung zum Becken geblieben, das untere dagegen ist mit dem Fusse
nach aussen umgefallen, hat sich nach aussen gedreht. Kniescheibe
und grosse Zehe sind nach aussen gerichtet, statt nach vorn, und der
Fuss liegt, statt mit der Hacke , mit dem äusseren Fussrand in seiner
Fig. 381.
\ a
Dislocatio ad axin.
Dislocatio ad latus und
ad longitudinem.
Dislocatio ad peripheriam
(Eotation).
Dislocatio ad longitudinem
und ad axin (Beiten).
Einkeilung.
/
Diastase.
ganzen Länge auf dem Bette auf. — Allein selten, findet sie sich oft
mit Dislocatio ad latus und ad longitudinem. Sie ist fast immer secundär
entstanden durch die Schwere.
Für die , namentlich wegen der Art der Behandlung so überaus
wichtige Feststellung der Dislocation hat man , um genaue Resultate
zu erhalten, stets noch die Messung zu Hilfe zu nehmen mit Hilfe des
Messbandes , wenn nöthig auch des Messkreuzes. In manchen Fällen,
wo eine Reihe anderer Symptome fehlen, z. B. bei eingekeilten Brüchen,
gibt oft nur die Messung die Entscheidung.
Abnorme Beweglichkeit. Crepitation. 427
Die Dislocatiou kann natürlich fehlen, bei unvollständigen
Brüchen. Fissuren, namentlich des Schädels , Infractionen, und ist bei
manchen anderen Brüchen , z. B. Compressionsbrüchen der Wirbel, oft
nicht nachweisbar.
Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass in seltenen Fällen Bruch-
stücke sich g-anz umdrehen können , z. B, der abgebrochene Schenkel-
kopf so , dass er die Bruchfläche der Pfanne zukehrt. Ja sie können
selbst durch Hautwunden herausgeschleudert werden.
Eine eigenartige Form der Dislocation ist auch die Depression
von Fragmenten bei Schädelbrüchen, die Eindrückung derselben in die
Schädelhöble. Sie hat ein gewisses Analogon in der Ineinanderquet-
schung spongiöser Knochen, von der wir beim „Compressionsbruch"
sprachen, und die zu einer Abplattung und Verbreiterung derselben
führen.
Man schreitetnun zurPalpation, d.h. zu einer schonenden Betastung
der Bruchstelle. Mau fasst das Glied ober- und unterhalb der verletzten
Stelle und macht leicht hin und her wiegende , drehende oder seitlich
verschiebende Bewegungen. Lässt sich eine abnorme Beweglich-
keit constatiren, kann man eine Bewegung ausführen an einer Stelle,
wo normal keine Beweglichkeit ist, in der Strecke zwischen 2 Gelenken,
so ist damit die Diagnose: Bruch des Knochens, sichergestellt — So
sicher das Vorhandensein dieses pathognomonischen Zeichens für das
Vorhandensein eines Knochenbruchs spricht, so schliesst das Fehlen
desselben einen solchen keineswegs aus. Bei eingekeilten Brüchen können
die Bruchstücke so fest ineinander eingetrieben sein, dass selbst bei
ziemlicher Kraftaufwendiing (Vorsicht !) eine Bewegung derselben gegen
einander nicht möglich ist. Ebenso fehlt abnorme Beweglichkeit bei
Fissuren.
Bei diesen Bewegungsversuchen wird man meist noch ein anderes, fast
ebenso wichtiges Symptom des Knochenbruches feststellen können, die
„Crepitation", d.h. man fühlt ein rauhes Reiben, bedingt durch das
Bewegen der unregelmässigen, rauhen Knochenflächen gegen einander.
Dieses Reiben ist ein so scharfes, dass man es oft nicht blos fühlt,
sondern hören und Anderen demonstriren kann. Es ist zu unterscheiden
von dem besonders bei Gelenkentzündungen zu beobachtenden Knorpel-
reiben, einem mehr trockenen, schabenden oder knarrenden Geräusch.
Ein ganz weiches Crepitiren machen auch durch den Finger verschobene
oder zerdrückte Blutgerinnsel, ein mehr knisterndes Geräusch in's Ge-
webe intiltrirte und durch den Finger verschobene Luft- und Gasblasen.
Auch dies Symptom kann fehlen, ohne dass deshalb eine Fractur
ausgeschlossen wäre. Die Fragmente des Knochens können völlig ausser
Contact gekommen sein, oder können es sich Weichtheile, Muskeln, Sehnen
dazwischen gelagert, „interponirt" haben. — Oder die raulien P>ruch-
flächen sind durch Blutgerinnsel so eingehüllt, dass eine so unmittelbare
Berührung, wie sie zur Erzeugung der Cre])itation nötliig ist, nicht er-
folgt. Unvollständige und eingekeilte Fracturen geben auch keine Crepi-
tation.
Durch eine A'erwerthung der angegebenen Zciclion wird sich in
den meisten Fällen die Diagnose eines Kiiochenbruciies mit voller
Sicherheit machen lassen. Doch gibt es Fälle, wo man sie nur mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit machen kann , wo alle objectiven
428 VII- CJapitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
und pathognomischen Symptome so wenig ausgesprochen sind , dass
man sich mit dem „fixen Bruchschmerz" begnügen muss ^gewisse
Knöchelbrüche). Man wird in diesem Fall, um Schaden zu vermeiden,
die Wahrscheinlichkeitsdiagnose Fractur stellen und als solche be-
handeln.
Wenn irgend möglich, darf man sich — wegen der Behandlung —
nicht mit der Diagnose Bruch begnügen, sondern soll auch die genaue
Oertlichkcit des Bruches und namentlich die Form des Bruches
diagnosticiren. Querbrüche zeigen im Ganzen weniger Neigung
zu Verkürzung, die Bruchflächen bleiben meist zum Theil im Contact,
zeigen höchstens Dislocation ad axin und latus, gelegentlich auch ad
peripheriam. Die Crepitation ist bei Querbrüchen oft sehr ausgesprochen.
Bei Infractionen lässtsich Charnierbewegung constatiren, Schrägbrüche
verkürzen sich gerne stark, da die schrägen Bruchflächen leicht anein-
ander vorübergleiten. Oft kann man die Spitzen der Fragmente durch
die Haut hindurch fühlen. Die Beweglichkeit ist oft auffallend gross,
ein förmliches Schlottern des peripheren Theiles. Die Crepitation ist
oft erst nach Ausgleichung der Verkürzung nachzuweisen. — Stück-
brüche sind sehr beweglich, meist ziemlich stark dislocirt, hin und
wieder ist ein einzelnes Stück zu fühlen und unter Crepitation für sich
verschieblich. — Bei Splitterbrüchen ist stets sehr grosse Beweglich-
keit, das Knistern und Crepitiren der Splitter in dem massigen Blut-
coagulum sofort wahrzunehmen. Spaltbrüche und Infractionen
geben — ausser Charnierbewegung — nur localen Bruchschmerz.
Die Diagnose der Knochenbrüche, sowohl der frischen, als auch
der alten , und der Folgen von Brüchen wird wesentlich gefördert durch
die Durchleuchtung mit Roentgen-Strahlen.
Der klinische Verlauf eines gewöhnlichen Knochenbruches ist
im Ganzen ein einfacher. Unmittelbar nach der Verletzung entwickelt
sich eine Schwellung durch Bluterguss. Je nach der Grösse der ver-
letzten Gefässe und der Schwere der Quetschung der Weichtheile
nimmt diese zu, bis zum 2. oder 3. Tag, bleibt ein bis zwei Tage auf
der Höhe, um dann allmählich abzunehmen. Die anfangs blaue Farbe
wird braun, dann grün, gelb, um oft erst nach Monaten zu verblassen
und ganz zu schwinden (s. pag. 93). Schon früh ist traumatisches
Oedem nachzuweisen. In dem Masse , als sich Schwellung und Ver-
färbung ausbreiten und damit diffuser werden, lässt sich an der Ver-
letzungsstelle eine mehr circumscripte Schwellung durchtasten , der
„provisorische Callus". Anfangs knorpelhart, wird er nach circa 2 bis
3 Wochen knochenhart und damit ist die knöcherne Vereinigung einge-
leitet. Zugleich hat die abnorme Beweglichkeit rasch abgenommen, hat
zunächst einer gewissen Biegbarkeit Platz gemacht, um dann gar nicht
mehr nachweisbar zu sein. Die Schmerzen, in den ersten Tagen lebhaft
und nicht so selten durch Muskelzuckungen ausgelöst — werden in
der zweiten Hälfte der ersten Woche erträglich und melden sich später
nur noch bei Bewegungen. Crepitation verschwindet (unter normalen
Verhältnissen) spätestens am Ende der ersten Woche, oft schon am 3.
oder 4. Tage.
Klinischer Verlauf der Knochenbrüclie. 429
Die Zeit der Consolidatiou, d. h. wo der Knochen wieder
fest ist, ist verschieden, je nach dem Alter und Kräftezustand des
Kranken und der Dicke des Knochens und schwankt zwischen 8 bis
10 Tagen (Kinderknochen, Radius des Erwachsenen) bis 6 Wochen
(Femur des Erwachsenen).
Eine Reihe weiterer Folgen des Knochenbruches schwindet bald.
Indem der Callus allmählich kleiner wird, bessert sich die Atrophie von
Musculaiur und Haut, die als Inactivitätsatrophie bei jedem Bruch auf-
tritt, rasch durch den Gebrauch; ebenso schwindet die Steifigkeit der
Muskeln und Gelenke. Wahrscheinlich handelt es sich um Retraction
der Muskeln und Schrumpfung der Gelenkkapsel, denen durch die
Ruhigstelking im Verband die nothwendige Dehnung gefehlt hatte. Auch
das noch einige Zeit bestehende Oedem der Weichtheile verliert sich
allmählich. V2 — 1 Jahr nach der Verletzung erinnern höchstens gelegent-
liche „rheumatische" Beschwerden in dem betreffenden Theil den Kranken
an den Vorfall.
Die Besonderheiten in den klinischen Erscheinungen einiger Bruch-
formen seien hier noch kurz hervorgehoben.
Die Gelenkbrüche, wo die in die Gelenkkapsel einbezogenen
Knochentheile gebrochen sind, werden complicirt durch gleichzeitige
Gelenkaffectiou." Stets ist ein geringerer oder stärkerer Bluterguss in"s
Gelenk da (Hämarthros) , der oft den Knochenbruch fast verdeckt
(Kniescheibenbriiche) , namentlich wenn es sich nur um in's Gelenk
einstrahlende Fissuren handelt. Manchmal heilt der Hämarthros
dann ohne Beschädigung des Gelenkes aus; sind aber umfänglichere
Verletzungen und namentlich Knochenverschiebungen innerhalb des
Gelenkes, vielleicht gar noch gleichzeitig Knochen Verrenkungen da (be-
sonders häufig im Ellbogengelenk), so kann oft selbst eine genaue
Diagnose und sorgfältige Behandlung Störungen des überaus feinen
Gelenkmcchanismus nicht verhüten; es folgt eine Beweglichkeitsbe-
schränkung des Gelenkes oder eine schleichende Gelenkentzündung
(Arthritis deformans traumatica), im schlimmsten Falle sogar Verödung
des Gelenkes und Verlöthung der Gelenkflächen (Ankylose). Wie schlecht
und unvollständig Knorpelrisse heilen, ist schon pag. 82 erwähnt.
Die traumatischen Epiphysenlösungen entstehen fast immer
indircct. Eine Gewalt, die beim Erwachsenen die Gelenkkapsel zerreissen
und damit eine Verrenkung erzeugen würde, löst die lose Knorpelfuge.
Für die Diagnose sind wichtig das Alter (Kinder und Jünglinge) und
der einer Fipiphysenlinie entsprechende Sitz der Verletzung. Die
Blutung ist meist unbedeutend , die Crepitation eine eigenthümlich
weiche (Knorpelreiben), die Beweglichkeit oft eine grosse, die Schmerz-
haftigkeit gering. Je nach dem Verhältniss der Epiphyse zum Gelenk
ist eine Gelenkverletzung mit dabei oder nicht. Der Verlauf kann ganz
einer gewöhnlichen Fractur gleichen, nur ist es oft schwer, die Frag-
mente in der richtigen Lage zu erhalten. In einzelnen Fällen ist im
weiteren Verlaufe schwere Wachsthumsstörung eingetreten (— 15 Cm.),
selten ^'erlängerung, oft gar kein Einfluss auf das Knochen wachsthura
Die AUgemeincrsche inungen sind bei einfjichen Knochen-
brüchen meist gering. Schlaflosigkeit von einigen Nächten, Gefühl von
Angegritfensein, bei starkem Bluterguss etwas aseptisches Resorptions-
fieber fs. pag. 135) — 39" Max. (Müller fand nur 3% der Fracturen
430 yil. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
fieberfrei, Grundler von 26 25mal Fieber; nacb Deinisch fiebern nur
30 Vo- Letztere Angabe stimmt ungefähr mit meinen Erfahrungen.)
Amhrosius (Deutsche Zeitschr. f. Chir,, Bd. 37) nimmt an, dass nach
multiplen Knochenbrüchen Kranke an diesem aseptischen Fracturfieber
ohne Infection zu Grunde gehen können. Im Harne finden sich gelegent-
lich Eiweiss und Cylinder, selten Fett (s. Fettembolie, pag. 18). Nur
alten und geschwächten Leuten mit kranken Lungen oder Gefässen
kann die wochenlange Bettruhe bei Fracturen der unteren Extremitäten
gefährlich werden , sie bekommen Bronchitis und gehen an hypostati-
scher Pneumonie zu Grunde.
Bierfreund fand bei subcutanen Fracturen eine Abnahme des
Hämoglobingehaltes um 13 — 140/0.
Die Heilung eines Knochenbruches beruht auf Vorgängen,
ähnlich denen des normalen Knochenwachsthums.
Ein Theil derselben ist schon mit blossem Auge wahrzunehmen.
Wenn man einen Bruch 24 — 36 Stunden nach der Verletzung — bei
Verunglückten hat man ja oft Gelegenheit hiezu — freilegt, so findet
man zunächst einen grossen Quetschungsherd. Die Muskeln sind aus-
einander gedrängt, theilweise gequetscht und zerrissen, blutig imbibirt,
ebenso ist es mit den bindegewebigen Theilen, Zwischenmuskelbinden,
Fascien u. s. f. Zwischen diesen auseinandergewühlten Weichtheilen
finden sich Blutcoagula in wechselnder Menge, mit den gequetschten
Weichtheilen stellenweise innig verfilzt. Hebt man diese Coagula
vorsichtig heraus . so sieht man die Bruchflächen gleichfalls dick
mit geronnenem Blute bedeckt : abgespült zeigen sie sich rauh,
einzelne Spitzen ragen hervor, das Periost ist zerrissen, hängt oft in
halb losen Fetzen umher, zwischen Rinde und Periost sind Blutergüsse
erfolgt. Grössere oder Ideinere Knochensplitter hängen nur noch an
Periostbrücken oder sind ganz losgelöst. Auch die Markhöhle ist durch
festhaltende Blutgerinnsel verstopft. Arterielle Gefässe und Nerven sind
dabei meist ziemlich gut erhalten und ziehen als Stränge durch den
Herd hindurch. Legt man mit der Kreissäge einen Schnitt durch den
Knochen , so sieht man neben den schon von aussen sichtbaren , oft
die ganze Länge des Knochens durchsetzenden Spalten und Sprüngen,
die Markhöhle weithin blutig durchsetzt und bei vielen Fracturen fast
die ganze Markhöhle von Blutungsherden, bald eben sichtbar, bald bis
Walnussgrösse wie gesprenkelt.
Im Laufe der ersten Tage werden die flüssigen Bestandtheile des
Blutes resorbirt , der Blutfarbstoff fängt an , sich in den benachbarten
Geweben zu vertheilen und erzeugt jene bekannte grünliche Verfärbung
der Haut. Die Vertheilung des Blutfarbstoffes erfolgt hauptsächlich längs
der Lymphwege, die Lymphdrüsen schwellen an und sind auf dem Durch-
schnitt durch Blutfarbstoff rothbraun gefärbt.
Gegen Ende der ersten Woche zeigen sich die scharfen Knochen-
ränder abgerundet, stellenweise sind die Spitzen wie weggeschmolzen,
um die Bruchränder herum findet sich eine weiche, mit dem Knochen
verbundene und in ihn ohne scharfe Grenze übergehende, sulzige, grau-
gelbe Masse, die zum „provisorischen Callus" wird. Auch die be-
I
Heilung der Knochenbrüche. Callus.
431
Fig. 382.
nachbarten Weichtheile , Muskeln, Fascien ii. s. f. sind an diese Masse
angelöthet und stellenweise drängt sich diese auch zwischen dieselben
ein. Diese Masse ist, nachdem die peripheren Weichtheile des Gliedes
abgeschwollen, als eine ziemlich harte, etwas druckempfindliche, spindel-
förmige Geschwulst von aussen durchzufühlen.
Die weiteren Veränderungen erfolgen nun in diesem neuen Ge-
bilde. — Es wird härter und härter und nimmt schliesslich das
Gefiige und die Consistenz des Knorpels an. Die Farbe ist graugelblich
bis gelbröthlich. Während sich diese Bildung gegen die umgebenden
Weichtheile zusehends schärfer abgrenzt, ist sie vom präexistenten
Knochen bald nicht mehr scharf zu trennen. Sie ist in die Markhöhle
ergossen und füllt diese beiderseits einige Centimeter lang aus, sie ist
wie eine Kapsel um die äussere Fläche des Knochens herumgelegt und
verliert sich ohne scharfe Grenze in da,s Periost. Noch am längsten
bleibt die Corticalis des alten Knochens unterscbeidbar, aber auch sie
wird bald undeutlich und wir haben nun eine, mit dem normal ge-
bliebenen Knochen ohne scharfe Grenze verbundene
spindelförmige Neubildung von knorpeligem Gefüge
und Ansehen , die die Bruchstelle überbrückt oder
vielmehr an ihre Stelle getreten ist. (S. Fig. 382,
provisorischer Callus.)
Gegen Ende der 2. Woche wird der Ossi-
ficationsprocesss — mikroskopisch schon viel früher
nachweisbar — makroskopisch sichtbar. Kleine
Knocheninseln werden sieht- und fühlbar, die bald
zusammenfliessen, dem Ganzen vorerst ein streifiges
Ansehen verleihen. Im Verlauf einiger Wochen —
bei verschiedenen Brüchen zu verschiedener Zeit —
haben wir eine etwas unregelmässige knöcherne
Neubildung, durchweg von ungeordneter Compacta
gebildet, die an der Bruchstelle die Knochen ver-
bindet. Von aussen fühlt man jetzt eine knochen-
harte, unregelmässige, leicht höckerige, nur noch
wenig druckempfindliche, spindelförmige Masse. Dieselbe ist im Stande,
den Leistungen des früheren Knochens zu entsprechen. Der Kranke
kann gehen, den Arm brauchen, der Bruch ist geheilt.
Mit dem Momente, wo der Knochen wieder functionsfähig wird, ist
aber die Kette von Veränderungen, die indem Callus — so nennen wir
diese Knochenneubildung — vorgehen, keineswegs zu Ende. Zunächst
spielen sich die an ihn angelotheten Weichtheile, Muskeln und Sehnen unter
dem Einflüsse des Gebrauchs oder durch die Hilfe des Arztes (Massage)
wieder los und der Callus ist nun allseitig frei und deutlich durchzu-
fühlen, natürlich entsprechend kleiner, da die Weichtheile, die bisher
in ihn einbezogen waren, jetzt gegen ihn verschoben und von ihm ab-
gegrenzt werden können. Im Laufe der Monate wird der Callus —
durch Resorption — kleiner und kleiner und dabei nähert sich sein
Gefüge immer melir dem des früheren Knochens an dieser Stelle. Nach
einem Jahre ungefähr haben wir — natürlich nur bei normal geheilten
Brüchen — nur nocli einen niedrigen, etwas unregclmässigcn King von
Knochenmasse, der dem Knoelien an der Bruchstelle umgelegt ist, und
nach einer Reihe von Jahren kann derselbe soweit resorbirt sein, dass
432 ^^^- Oapitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
selbst nach Abziehen des Periostes nur noch einige Unregelmässigkeiten
an der Oberfläche der ßindensubstanz zu finden sind und man bei einer
Section im Zweifel sein kann, ob hier ein Bruch vorlag. Beim Durch-
sägen des Knochens sieht man allerdings in der Markhöhle meist noch
Veränderungen. In früher Zeit findet man die Markhöhle oft 6 — 8 Cm.
weit nach beiden Richtungen hin mit neugebildeter Knoehenmasse er-
füllt (vergl. Fig. 373, h). Im Laufe der Jahre wird auch dieser innere
oder Markcallus wieder resorbirt, aber viel langsamer als der äussere
Callus, und nur bei ganz ideal geheilten Brüchen schreitet die Resorp-
tion so weit vor, dass es wieder zur Bildung einer vollständigen Mark-
höhle an der Bruchstelle kommt.
JuliusWolJf (s. pag. 404) hat uns gezeigt, dass der neugebildete Knochen genau sich
bilde entsprechend den mechanischen Anforderungen , die bezüglich Zug-, Druck- etc.
Festigkeit an ihn gestellt sind, dass bei normal geheilten Brüchen die Architektonik
genau der früheren entspreche. Bei mit Verschiebung geheilten Brüchen finden sich die
Knochenbälkchen schliesslich den neuen , geänderten Verhältnissen von Druck und Zug
entsprechend neugebildet; anderer „Beanspruchung" entspricht nun anderer Bau.
Mikroskopisch sieht man zunächst natürlich die Fracturstelle
durchsetzt mit rothen Blutkörperchen und Gewebstrümmern , die alles
Uebrige verdecken. Aber schon am 2. Tage lassen sich regenerative
Vorgänge, zuerst Gefässerweiterung, strotzende Erfüllung derselben mit
Blut und dabei reichliche Auswanderung von Leukocyten erkennen,
dann aber macht sich namentlich in der tiefen Schicht des Periostes
(Bildungs- oder Cambiumschicht, s. pag. 403) Kerntheilung, Vcrgrösserung
und Vermehrung der Zellen geltend, die zu grossen rundlichen oder
eckigen mehrkernigen Zellen auswachsen, ganz vom Charakter der Osteo-
blasten. Ein Theil der Osteoblasten scheint sich aber auch aus den
Knochenkörperchen zu entwickeln (Fig. 383 z). Die Osteoblasten scheiden
hier nun theils direct Grundsubstanz aus und bilden so eine osteoide
Substanz, die später durch Einlagerung von Kalksalzen verknöchert
(analog der normalen Knochenbildung aus dem Periost oder der Bildung
von Knochensubstanz aus dem Bindegewebe). Zu einem anderen Theil
kommt es aber erst zur Bildung eines dem embryonalen ähnlichen
Knorpels und durch Vermittlung dieses zur Verknöcherung. In den
von der Fractur entfernteren Partien findet man den unmittelbaren
Uebergang von Bindegewebe in „osteoides" Gewebe, d. h. die Grund-
substanz ist faserig (das so gebildete Knochengewebe wird auch ge-
flechtartiger Knochen genannt); je näher der Bruchstelle, um so homo-
gener wird die Zwiscbensubstanz und damit dem Knorpel ähnlicher,
um schliesslich an der Bruchstelle zu einem echten hyalinen, aber sehr
zellenreichen (embryonalen) Knorpel (Fig. 383, b) zu werden.
Auch das Mark bleibt nicht unthätig (s. Fig. 383, M). Auch hier
verdrängt starke Gefässüberfüllung und Leukocytenauswanderung rasch
den Bluterguss, zugleich aber verschwinden auch die Fettzellen und
statt diesen findet sich bald das lymphoide, rothe Mark wieder mit
seinem üppigen Gefässnetz, weissen Blutkörperchen und Markzellen
(vergl. pag. 404). Diese wachsen, theilen sich und werden zu den
pag. 405 geschilderten mehrkernigen Riesenzellen (Mydoplaxen) , die
auch hier, wie unter normalen Verhältnissen, die Rolle der Osteoblasten
übernehmen und eine meist streifige , selten homogene Grundsubstanz
bilden, welche verknöchert (Fig. 383, o).
Histologie der Callusbildung.
433
Die Covticalis (Fig-. 383 C) bleibt verhältnissmässig lange imthätig.
Der zwischen den Briichspalten sich findende Knorpelcalliis („interme-
diärer Callus") rührt vom Periost und vom Mark her. Die unmittelbar
der Bruchspalte anliegenden Schichten der Corticalis, durch die
Verletzung- ertödtet , verfallen der Resorption (Fig. 383 a^ necrotische
Knorpelzellen).
DieWeiterentwicklung dieser Knochenlagen erfolgt in der pag. 400 ff.
geschilderten Weise. Der Knorpel verändert sich, v^ie bei der endo-
Fig. 383.
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cbondralen Knochenentwicklung, in der bekannten Weise, wird vascu-
larisirt und zum Knochen umgewandelt, ebenso wird das aus dem
Periost hervorgehende osteoide Gewebe in bleibenden lamellösen
Knochen umgebildet. Doch scheinen die Processe bei der Callusver-
knöcherung nicht mit der schönen Regelmässigkeit vor sich zu gehen,
wie beim wachsenden Knochen, sondern regelloser; es scheint hier
stellenweise auch eine unmittelbare lvnorpelverknöcherung(ohne zwischen-
liegende Vascularisation 11. s. wj auf metaplastischem Wege vorzukommen
(8. Fig. 366j.
Landerer, ADg. chir. Pathologie n. Therapie. 2. Autl.
28
434 VII- Capitel. — Krarikheit.on der Kiuicluii] um] Gelenk*;.
Fig. 383 (ivdch Bono7ne) stellt eine Kaninclientihia ö Tage nach der Inf'ractioii
dar. M ist die Markliäclie, C die Gorticalis, die unverletzt geblieljeu ist, in der Mitte
des Präparates ein Querbrucli der inneren Lamellen der Kinde (C\). Ausserdem sind in
den oberen ^,'4 des Präparats die äussere und innere Lamelle (C und 6',) auseinanderge-
wiclien (Diastase). Die der Fracturlinie benaclibarten Knochenzellen sind (z. B. bei o)
necrosirt, so dass sie Farbstoif nicht mehr aufnehmen. Um die Fi'acturstelle hemm,
z. B. bei b , aber auch zwischen C und Cj findet sich überaus zellenreicher junger
Knorpel. Mehr entfernt von der Fracturstelle liegen zahlreiche Osteoblasten ("o) mit
grossen polygonalen Kernen. Sie füllen auch den grössten Theil der Diastase fJjj zwischen
inneren und äusseren Lamellen der Gorticalis aus. Bei /.;, k — auf der Markfläche der
Fractur — finden sich mehrere neugebihlete Knochenbälkchen. z Knochenzellen in Um-
wandlung zu Osteoblasten begriffen.
Schon frühe beginnt die Resorption des neugebildeten Callus —
gerade wie beim normalen Knochen auch und in derselbeii Weise (s.
pag. 405, Osteoklasten). Diese wandelt den „provisorischen", überaus
massigen, aber doch im Ganzen unregelmässig gebauten Callus in den
definitiven um. Am frühesten und intensivsten erfolgt die Resorption
an der periostalen Fläche. Die tiefsten Schichten der Beinhaut zeigen
sich gefässreich und senden in die neugebildeten Knochenmasseu hinein
Gefässschlingen und Riesenzellen (Osteoklasten), die tiefe Recessus bilden
(Howshijy Bche Lacunen, s. Fig. 364). Ebenso erweitern sich aber auch
die Havers'sGhen Canäle und werden zu Markräumen.
Viel langsamer geht die Resorption auf der Seite des Markes vor
sich , wo noch lange Zeit eine schmale Zone von rothem Mark dem
Markcallus aufliegt. In den meisten Fällen verschwindet der Markcallus
nie wieder ganz , sondern die Markhöhle bleibt an dieser Stelle
dauernd verschlossen (Fig. 373&), während der periostale Callus im
Laufe der Jahre fast völlig schwindet. An der Stelle der Fractur
findet sich dann sehr feste compacte Knochensubstanz, welche die
Fracturstelle fast fester verbindet, als vorher.
Behandlung der Knochenbriiche.
Lagerungs-Gips-Zugverbände. — Massage. — Complicirte Knochenbrüche. Verlauf
und Behandlungsweise. — Folgen und üble Ereignisse bei Knochenbrüchen.
Fehlerhafte Heilung. Pseudarthrose. Gangrän u. s. w.
Die Behandlung der Knochenbr üche hat die Aufgabe, den
verletzten Knochen bis zur vollendeten Heilung in der richtigen Lage
zu erhalten , so dass derselbe nach Form und Function genau seinem
früheren Verhalten entspricht. Um diesen Zweck zu erreichen, bedienen
wir uns der verschiedensten Verbände. ,
Nur in den seltensten Fällen kann unmittelbar nach der Verletzung
ein bis zum Abschluss der Heilung bleibender Verband angelegt werden,
meist wird man zunächst zu einem provisorischen greifen.
Der Verlauf der Behandlung wird sich am besten an einigen
concreten, häufig vorkommenden Bruchformen schildern lassen. Nehmen
wir an, es läge bei einem vor einer Stunde Verletzten ein Unterschenkel-
bruch vor. Beim vorsichtigen Aufheben des Beines bekommt man
etwas unter der Mitte des Unterschenkels eine deutliche Winkelbildung
(Spitze nach oben), auch ist durch die Haut das etwas vorstehende
untere Ende des oberen Fragments zu fühlen, Verkürzung nicht nach-
weisbar, also nur etwas dislocatio ad axin et longitudinem. Crepitation
deutlich. Es liegt vermuthlich ein einfacher Querbruch des Unterschenkels
Fracturverbände. Laden.
435
vor, mit nur wenig- Neigung- zur Verschiebung. — 'Man legt zunächst
den ersten — provisorischen — ■ Verband an.
Die Aufgabe des ersten Fracturverbandes ist es, dem'
gebrochenen Gliede eine sichere Stütze zu gewähren und
dabei der zu erwartenden Schwellung freien Spielraum zu
lassen. Jeder festanliegende, unnachgiebige Verband verbietet sich in
den ersten Tagen durch die Eücksicht auf die zu erwartende Schwellung
von selbst. — In der Privatprasis kann man sich solche provisorische
Fracturverbände sehr einfach improvisiren. Eine Steppdecke, eine lose
gefüllte Federdecke wird von beiden Seiten zusammengerollt; so bleibt
in der Mitte eine Rinne, zu beiden Seiten weiche und doch widerstands-
Fig. 384.
fällige Kolleu, das Ganze bildet eine Lade, worin ein Bein oder ein
Arm ganz behaglich und sicher ruhen kann. Einige darum geschlun-
gene , mit Sicherheitsnadeln festgesteckte Handtücher halten Lade
und Bein zusammen. — Sonst lassen sich oft ans Pai)pdeckeln, Dach-
schindeln. Cigarrcnkistendeckeln, Baumzweigen u. s. w., oder aus Stroh-
bündeln ganz zweckmässige Laden oder Schienen improvisiren, die auch
mit Strohl)ändei-n befestigt werden können fvergl. Fig. 252 — 255). Dass
man Seitengewehre. Säbelscheiden. Infanteriegevvehre, Carabiner u, s. w.
sehr wojil als Schienen benützen kann, indem man liein oder Arm dar-
über und darunter mit Tüchern, zerrissenen Hosen u. s. w. daran fest-
bindet, ist ebenso l)ekannt. Im Hospital wird man eine solche Fractur
in eine fMster'achc T^ade TFig. 884), eine Blcrhholilrinne (Fig. 385)
28*
^36 ^^^- (Kapitel. — Krankheiten dei' Knocl)en und Gt-lenke.
legen oder lose auf einer Schiene befestigen. Das Publicum pflegt
nun gewöhnlich nach Eis zu laufen , um die Schmerzen zu lindern
und der Entzündung vorzubeugen. Viel dienlicher erscheinen Friessnitz-
sche Umschläge ; die Schwellung geht dabei rascher zurück und die
Schmerzen werden gleichfalls gemildert. — Zudem verursachen Eisum-
schläge und auch Eisbeutel — letztere allerdings in geringerem Grade —
hässliche Nässe des Lagers. Wenn irgend möglich, lege ich gleich am
ersten Tage einen gut wattirten Gipsverband an (s. pag. 289j.
Ich schlichte eine Tafel geleimte (bei auch nur oberflächlichen Wunden Desin-
fection der Haut und sterile , entfettete) Watte in der Mitte auseinander, schneide sie
in 10 Cm. breite Streifen und lege sie lose um das Glied. Diese daumendicke, sehr lose
Watteunterlage wird mit einigen losen Touren einer Mullbinde befestigt, darüber kommen
G-ipsbinden. Meist schliesst man die 2 benachbarten Gelenke mit ein, am Unterschenkel,
Knie und Fuss bis zu den Zehen ; am Vorderarm Ellbogen und Hand. Am Eande
steht Watte oder die Unteiiagsbinde fingerbreit vor, damit der scharfe Gipsrand den
Kranken nicht drückt. In diesem wattirten Gipsverband fühlen sich die Kranken meist
ganz behaglich. Die Schmerzen lassen allmählich nach. Doch verlangt der Verband
strenge Ueb erwacbung. Sobald die Schmerzen die nächsten Stunden und Tage
bestehen bleiben oder gar zunehmen, sobald Zehen oder Finger blau werden, so muss der
Verband herunter. Wenn man den Kranken nicht selbst controliren und jeder Zeit
erreichen kann (Landpraxis), sind die Angehörigen aufs Strengste zu instruiren. Lieber
drei Gipsverbände unnöthiger Weise abreissen, als einen liegen lassen, der herunter musste !
Breiger's Gipswatte hat keine besonderen Vorzüge.
Am 4. — 6. Tag bemerkt man, dass der Verband loseist und man
nimmt ihn ab ; das Bein ist in sichtbarer Abschwellung , die Haut in
Runzelung, Crepitation oft schon verschwunden; eine fehlerhafte Lage
der Fragmente ist aber noch gut zu corrigiren. Während die Frag-
mente in richtiger Lage von einem zuverlässigen Gehilfen gehalten
werden — denn dieser 2. Verband entscheidet über das Schicksal des
Beines — legt man eine Unterlagsbinde an oder zieht einen Tricot-
schlauch über das Bein und darüber Gipsbinden. Auch jetzt darf der
Verletzte nach dem Anlegen keine sich steigernden Schmerzen bekommen.
In diesem Verband bleibt der Kranke liegen, bis die zur Heilung vor-
aussichtlich nöthige Zeit verstrichen ist.
Die langsam erhärtenden Verbände — Kleister, Wasserglas mit oder ohne
Schlemmkreidezusatz , Leim, eignen sich, da sie erst nach Tagen ganz hart werden,
nicht für Knochenbrüche.
Die Zeit der Heilung von Fracturen wird meist zu lang angegeben. Ich rechne
für den Kadius 8 — 10 Tage, Vorderarm 2'/2) Humerus 37.3 Wochen; Knöchelbruch 2 bis
27-2 Wochen, Unterschenkel 2Y2 — 3 Wochen, Oberschenkel 5 — 6 Wochen u. dergl. Bei
Kindern reducirt sich die Zeit auf die Hälfte bis ein Drittel ; bei alten Leuten sind
durchschnittlich 1—2 Wochen zuzurechnen.
Nach Abnahme des Verbandes wird das Bein einige Zeit zweimal
täglich massirt, dabei lässt man warme loeale und allgemeine Bäder
nehmen. Muskelatrophie und Steifigkeit bessern sieh rasch. Wo es
möglich, ist eine Badecur (Teplitz, oder ein Wildbad wie Gastein, Wild-
bad im Schwarzwald u. dergl.) sehr nützlich.
Die „mobilisirende" Behandlung der Fracturen {Lucas- Cham-
pionnüre, Lander er , Buni u. A.) besteht in frühzeitiger Massage und
gymnastischen Bewegungen. Sobald der Callus sich nicht mehr ver-
biegt, wird der Verband gespalten und die mechanische Behandlung
(Massage, passive und active Gymnastik) beginnt. Oedem , Steifigkeit
und Muskelschwäche werden hiedurch rasch beseitigt.
In anderen Fällen ist die Behandlung nicht so leicht, namentlich
wenn die Dislocation eine beträchtliche ist. Dann ist es oft sehr schwer,
Gipsverbände. Zugverbände. 437
die Fragmente in die richtige Lage zu bringen (Reposition) und
schwierig, sie in derselben zu erhalten (Retention).
Die Reposition wird meist in der Weise ausgeführt, dass das.
verletzte Glied ausgezogen wird („Extension") durch Zug in der Längsaxe,
z. B. am Fuss , während zugleich ein anderer Gehilfe dagegen zieht,
z. B. am Oberschenkel („Contraextension"). Der Arzt selbst schiebt
dann die Bruchenden in die richtige Lage (Coaptation). Während meist
das Einrichten der Fractur bei einiger Uebung sehr leicht ist, können
sich doch mitunter ziemliche Schwierigkeiten einstellen, so z. B. heftige
Schmerzen und dadurch veranlasste Muskelzuckungen oder Zwischen-
lagerungen von Muskeln oder Sehnen zwischen die Bruchenden, Inter-
position. Hier ist eine subcutane Morphiuminjection oft sehr nützlich,
und wenn diese nicht genügt , lässt man eine Narkose folgen , in der
gleich der Verband angelegt wird. Die Narkose ist oft schon zur
Diagnosenstellung nöthig, wenn dieselbe durch tiefe Lage der Bruch-
stücke, starke Schwellung, Schmerzhaftigkeit unmöglich wird. Diagnose,
Reposition und Retention folgen sich dann in einer Narkose. Schwierig-
keiten anderer Art bereiten eingekeilte Brüche; meist gelingt es, bei An-
wendung von Zug und Gegenzug die Einkeilung zu lösen; ähnlich ist es
bei stark gezahnten Brüchen. In manchen Fällen von Einkeilung (bei
manchen Fällen von Schenkelhalsbrüchen s. Fig. 370) ist es zwecklos,
die Lösung der Fragmente mit aller Gewalt erzwingen zu wollen, da die
Stellung der Fragmente nachher oft nicht besser wird , als vorher.
Sehr tiefliegende kleine Knochen, z. B. Compressionsfracturen der Wirbel-
körper, sind gleichfalls der Reposition nicht zugänglich ; ebenso sind
Schädelfracturen mit massiger Impression nicht aufzurichten. Schliess-
lich können, ohne eingreifendere Massnahmen, Bruchstücke auch dann
nur schwer oder nicht coaptirt werden, wenn dieselben durch Muskel-
zug stark auseinandergezerrt werden, die Stücke der Fatella (Quadriceps),
des Olecranon (Triceps) u. a.
In vielen Fällen fallen Reposition und Retention zusammen, d. h.
der Verband bewirkt zugleich die Coaptation der Fragmente. Diese
Eigenschaft haben in erster Linie die Zug- oder Extensionsverbände.
Sie sind ersonnen, um der bei manchen Brüchen oft sehr hartnäckigen
secundären Disloeation , namentlich der durch Muskelcontraction und
Bänderschrumpfung entstehenden progressiven Verkürzung entgegenzu-
wirken. Besonders häutig trifft man diese bei Schrägbrüchen des Ober-
schenkels mit Verkürzungen um 10 und 12 Cm. Diejenige Methode,
die sich hier des meisten Beifalls erfreut, ist die Gewichtsextension.
(Vergl. pag. 297 ff.)
Einen einlachen Extensionsverband am 01)erarm zeigt Fig. 386
nach Hamilton.
Nur in seltenen Fällen bietet es Vortheil, sich zur Extension ge-
spannter Gummischläuche zu bedienen, die allerdings als Gegenzug —
bei Extension am Beine wird eine Schlinge unVs Becken zwischen den
Beinen durchgezogen und am Kopfende des Bettes befestigt — zweck-
mässig sind.
Für Brüche . mit wenig Neigung zu Disloeation , eingerichtete
Radiusl)rüche, Infractionen oder Querl)rüche an der oberen Extremität
eignen sich auch Schienen verbände (vergl. Fig. 248 ff.), obwohl meist
mitgeschickten Gi])sverbänden dasselbe zu erreiclicn ist. Holzschienen
438
VII. Capitcl. — Krankheiten der Knochen and Gidcnke.
sind für manche Zwecke brauchbar , so namentlich zum Hochleben
(Elevation) bei starker Schwellung- (Suspcnsionsschienenj oder um eine
scharfe Supination des Vorderarmes zu erzielen (Volkmann'' s Supina-
tions schiene).
Für einfache Brüche ohne Neigung zur Dislocation und zu provi-
sorischen Verbänden eignen sich schmale Schienen (aus Dachschindeln,
Cigarrenbrettchen u. s. f.) auf allen 4 Seiten des Gliedes augelegt; zur
provisorischen Lagerung sind auch einfache Holzrinnen brauchbar.
Schmale dünne Holzstreifen auf Leder oder Baumwollstoff mit Wasser-
glas aufgeklebt (schneidbarer Schienenstoff von Esmarch) lassen rasch
einen Verband improvisiren (vergl. Fig. 248 ff.). Im Ganzen sind Holz-
Fig. 38(5.
Fig. 387.
schienen theuer, schwer und müssen für jede Grösse einzeln , also in
grosser Menge vorräthig sein. Für die Privatpraxis erreicht man das-
selbe mit Pappschienen.
Blechschienen, in dünnen Nummern schneidbar, eignen sich, wohlgepolstert,
vorzüglich zu Lagerungsschienen. Auch dickes Leder ist, durch heisses Wasser ge-
zogen, formbar und bei wenig Dislocation zu brauchen.
Schliesslich kann man auch aus in Gips getränkten Tachstreifen oder Hanf-
und Jutesträhnen, die nass angelegt werden, sehr schön passende dauerhafte Gips-
schienen erzielen (vergl. pag. 294).
Das Bestreben, Patienten mit chronischen Gelenkerkrankuugen „ambulant" mit
„Geh verbänden" zu behandeln, ist durch v. Bardeleben, Bruns u. A. auch auf
die Knochenbrüche an der unteren Extremität übertragen worden. Wenn man das Ver-
fahren nicht gedankenlos schematisch anwendet, sondern schwierige Brüche mit starker
Neigung zur Verschiebung ausschliesst , lassen sich durch Vermeidung längeren ßett-
liegens (hypostatische Pneumonie!) besonders bei alten Leuten und Trinkern gute Er-
Gehverbände.
439
folge erzielen. So ist es mir u. A. gelungen , bei einer 82jährigeu Dame mit einem
am 6. Tag angelegten Schienenhülsenapparat eine Schenkellialsfractur zur Consolidation
zu bringen.
Das "Wesentliche ist ein sich an den Sitzknorren anschliessender Sitzring, der
durch einen Gipsverband (Bardelehen, Korsch, Albert) oder seitliche Schienen (Bruns,
Liermanii) getragen wird. Ein einfacher, auch für Gelenkerkrankungen, Osteotomien etc.
brauchbarer Verband ist der BrMns'sche Gehverband, dessen Bau- und Anwendungsweise
aus Fig. 387 und Fig. 388 ohne Weiteres hervorgeht.
Noch einfacher, aber etwas primitiv ist die von Braatz veränderte alte Thomas-
sche Schiene, die man sich zur Noth selbst aus Telegraphendraht zurechtbiegen kann
(Fig. 389).
Fig. 388. Fig. 389.
Ein brauchbarer Apparat ist auch der von Heusner angegebene (Fig. 390). Der
fertige Verband und sein Gebrauch mit Hilfe der l/e«.s«er'schen Lanfl)ank ist in
Fig. 391 dargestellt. — Wie der Kranke an Krücken geht , mit erhöhter Sohle (Kork)
am gesunden Bein, zeigt Fig. 392.
Der Gipsverband als Geh verband wird meist erst, wenn die Schwellung
im Eückgang ist, also selten vor dem 3. Tag angelegt. Er wird als knapp anliegender
Verband entweder auf die rasirte, Ijefettetc Haut angelegt, oder über einen ganz glatt
liegenden Tricotschlauch. Alle Falten sind auf's Sorgfältigste zu vermeiden. Will man
nicht einen Sitzring aus Metall, der auf das Tuber ischii kommt, mit eingip.sen , so
stellt man den Sitzring aus einem etwa 20 Cm. breiten (Flanell-) Gipskataplasma in
der Fig. 393 dargestellten Weise her.
Der fri'hverband soll die den Gebrauch oft so lange störenden Oedeme , Gelenk-
steifigkeiten und Muskelatrophien verhüten. 3Ian eiTeicht dasselbe auch mit früher
Massage und Gymnastik (s. pag. 436). Immerhin ist es zweckmässig, Patienten mit nicht
zu schweren Beinbrüchen so bald als möglich im genau anliegenden Gipsverband auf-
440
VII. Capitel. — Krankheiten der Knoclien und Gelenke.
stehen zu lassen. Ich habe beim Gehverband melirere Fälle von sehr verzögerter Con-
solidation und sogar von Wiedererweiehung des Gallus erlebt.
Trotz dieser reichen Auswahl von Verbandniitteln kommen doch
noch Fälle in der Praxis vor, die eine andere Behandlung verlangen,
Fig. 390.
WO weder ein Lagerungsapparat , noch ein Contentivverband , noch
Extension die Fragmente coaptiren und coaptirt hatten. In solchen
Fig. 391.
Fällen bleibt nichts übrig, als unmittelbar auf die Brucheiiden ein-
zuwirken.
Zwei solcher Apparate verdanken wir Malgaigne. Der eine, die Malffaiffne'sche
Klammer (Fig. 395), zwei durch eine Schraube verbundene Krallen sollen die auseinander
weichenden Bruchstücke der Patella zusammenziehen. Ich habe denselben früher nicht
Knocheniialit, Massage bei Fracturen.
441
ohne Nutzen hei diesen Brüchen und auch bei Brüchen des Olecranon verwendet. Dann
ist der Malgaigne'sc\e Stachel (Fig. 394) zu nennen, der bei Schrägbrüchen der Tibia
(den sogenannten Flötenschnabelbrüchen , s. Fig. 373) in das vorragende obere Bruch-
Fig. 392.
Fig. 394.
ende eingetrieben wird und dasselbe niedergedrückt halten soll. Selbstverständlich ist
dabei strenge Antisepsis (Glühen der Instrumente, Bepuderung mit Jodoformpulver) nöthig.
Häufiger greift man heute zur Knochennalit. Bei der uumittel-
bareu Knochennaht wird der Knochen antiseptisch
freigelegt, durch die beiden zu vereinigenden Stücke
mit dem Drillbohrer ein Loch gebohrt und durch
die Löcher Fäden (Silber- oder Eisendraht, Seide,
Silkworm u. s. f.) gezogen und dieselben fest ange-
zogen und geknotet. Für manche Fälle ist die
mittelbare ebenso l)rauchbar, indem Fäden um
die Knochen herumgeführt werden oder durch be-
nachbarte Weichtheile (Sehnen, Muskeln) gezogen
werden (Patella), vergl. i)ag. 27CJ.
In seltenen Fällen können die Knochen auch
zusammengenagelt werden mit Fisen- oder Elfenbein-
stiften (s. auch bei complicirten Brüchen).
Einzelne Knoehenbrüche eignen sich zur früh-
zeitigen ]\Iassage ohne Verband, namentlich
die eingekeilten Brüche, wo eine Verschiebung
doch nicht erfolgt. z.B. eingekeilte Schenkelhal.sbrüciie , eingekeilte
Radiusbrüche (die rejionirl)aren lasse ich erst acht Tage auf einer
Pistolenschiene (Fig. '2M)) liegen: bei diesen schadet frühe Massage
442 VII. Capitel. — Krankheiten iler Knoclien und Gelenke.
nur). Ebenso lassen sich bei Kniescheiben brüchen gute Kesultate durch
sofortige Massage, rasche Resorption des Blutergusses erreichen.
Gelenkbrüche verlangen frühzeitige Stellungsänderungen und
passive Bewegungen (vom Ende der ersten Woche anj und dann bald
Massage, um Verlöthungen innerhalb des (lelenkes und Steifigkeit zu
verhüten. Die zweckmässigste Behandlung der Gelenkbrüche ist jedoch
Extension, wenigstens in den ersten 10 — 14 Tagen.
Epiphysenlösungen sind wie andere Brüche zu behandeln.
Bei Zertrümmerungs brüchen hat man sich oft anfangs auf
zweckmässige Lagerung zu beschränken und es genügt, wenn man in
der zweiten Woche einen exacter passenden Verband anlegt. Mit der
Consolidation geht es hier viel langsamer.
In der Behandlung der Knochenbrüche darf man sich keineswegs
sclavisch an bestimmte Schulregeln binden, .leder einzelne Fall fordert
auch seine besondere individualisircnde Behandlung. Das gesteckte
Ziel — Wiederherstellung der normalen Form des Knochens und der
normalen Gebrauchsfähigkeit des Gliedes — muss man mit allen nur
irgend verfüg- und durchführbaren Mitteln zu erreichen suchen. Stets
ist während der Behandlung durch Messung, Vergleichuug mit der ge-
sunden Seite, scharfe Beobachtung gewisser anatomischer Verhältnisse
das Resultat der Behandlung zu controliren. — So müssen Spin. ant.
sup. ilei , Vorderfläche der Patella , Crista tibiae und Spatium interos-
seum pedis primum in einer Linie liegen; wenn nicht, so ist Rotation
des Beines vorhanden. Der Epicondjlus ext. hum. muss gerade unter
der Spitze des Acromion liegen ; Spitze des Olecranon und Epicondylus
int. und ext. müssen in einer Linie sein ; ebenso Spin. ant. ilei sup., Spitze
des Tronchanter und tuber. ischii (Boser-Nelaton'sche Linie) u. dergl. m.
Um die genaue Wiederherstellung der normalen anatomischen Verhält-
nisse zu erzielen, wird man so lange an den Verbänden ändern und
bessern, bis das Ziel erreicht ist. Man wird bald einen Zugverband
mit Schienen combiniren, z.B. bei Oberscheukelbrüchen noch den
Obersehenkel schienen , einen nicht ganz entsprechenden Gipsverband
abnehmen und einen neuen, besseren anlegen, oder die Fragmente mit
Heftpflaster zusammenziehen, ehe man einen Gipsverband macht; hier
noch einen Ballen Holzfaser einschieben, dort etwas wegnehmen oder ab-
schneiden, um ein Bruchstück noch etwas mehr nach dieser oder jener
Seite zu treiben. Kurz, man darf nicht ruhen, bis man die Ueberzeugung
hat, besser kann es nicht gemacht werden. — In anderen Fällen wieder,
wo eine genaue Zusammenfügung nicht möglich ist, bei eingekeilten
Fracturen oder Abreissung kleiner Knochenstückchen , auf die man
nicht einwirken kann, z. B. Tubercula humeri u. s. f., wird man lieber
auf genaue Wiederherstellung der Form und Lage verzichten, aber um-
somehr durch frühzeitige Bewegungen, Massage u. dergl. auf Herstellung
Complicirte Knochenbriiclie. 443
und Erhaltung- einer möglichst guten Function bedacht sein. Keinen
einzigen praktischen Vortheil, keinen Fortschritt der Technik darf man
sich entgehen lassen.
Da die Roentgen-Strahlen auch den Gipsverhand durchdringen, so
ist in der Durchleuchtung und Photographie mit ßoentgeu-Strahlen ein
überaus geeignetes Mittel zur Controle der Lage der Bruchstücke im
Gipsverband gegeben.
Auch bei Kuochenbrüchen begegnen wir zahlreichen Abweichun-
gen des Verlaufs von der Norm.
Eine der häufigsten und schwersten Complicationen der Knochen-
brüche ist das Vorhandensein einer äusseren Wunde. Wegen der
schweren Störungen des Heilverlaufes, namentlich der sich hier über-
aus häufig einstellenden accidentellen Wuudkrankheiten, hat man diese
„offenen" Knochenbrüche mit Wunde als complicirte Knochen-
brüche schlechthin bezeichnet, im Gegensatz zu den subcutanen oder
einfachen Knochenbrüchen.
Die Weichtheilwunde bei complicirten Fracturen entsteht
meist zugleich durch die verletzende Gewalt. Bei directen Brüchen
wird Haut und Mnsciilatur mit zerquetscht oder zerrissen ; bei indirecten
ist die Verletzung der Weichtheile seltener; sie entsteht hier dadurch,
dass der Knochen von innen her die Weichtheile durchbohrt — Durch-
stechungsfracturen. Viel seltener entsteht die Hautwunde nicht im
Momente der Verletzung, sondern erst im späteren Verlauf. Bald wird
durch ungeschickte Bewegungen (Delirium tremens , ]\luskelzuckungen
oder beim Transport) die Haut vom Knochen durchbohrt , oder der
dislocirte Knochen drückt von innen gegen die Haut an und bringt
sie durch Druck zur Necrose. Oder die Weichtheile sind bei der Ver-
letzung so gequetscht, dass sie schliesslich absterben. Leider kommt es
auch hin und wieder vor, dass ein schlecht angelegter, unnachgiebiger
Verband die Weichtt^eile necrotisch macht.
Die Gefahr des complicirten Knochenbruches ist die In-
fection. In vorantiseptischer Zeit starben an den Folgen complicirter
Brüche , je nach dem Hospital und dessen Verhältnissen und der Be-
handlung, 40 — 80% sämmtlicher Verletzter; bei Schussverletzten in
schlechten Kriegsspitälern noch mehr. — Dass offene Knochenbrüche
so leicht inficirt werden, beruht vor Allem auf zwei Gründen. Bei
den direct entstandenen offenen Knochenbrüchen hat man unmittelbar
um die Bruchstelle einen ausgedehnten Quetschungsherd der Weichtheile,
und wie leicht diese halbtodten zeniuetschten Weichtheile inficirt werden,
habe ich pag. 95 auseinandergesetzt. Wenn nun die Infection der
Weichtheile erfolgt ist, so ist die Gefahr fiir's Leben eine besonders grosse,
da die weiten Gefässe des ^larkcs unmittelbar in diese Jaucheherde
hineintauchen. Die Gefässe und Venen des Markes können nicht zu-
sammenfallen und dadurch sich schliessen, wie die Venen von Weich-
tlieilcn, ihre Wände werrlen in dem starren Knochencylinder auseinander-
gehalten. So liegen sie dem Eindringen der Mikroorganismen offen,
es entstehen Venenentzündungen, Blutgei-innungen in denselben, citriger
Zerfall der Thromben, und damit ist der Pyämie Thür und Thor ge-
öffnet (s. pag. 151, Entstehungsweise der Pyämie). Diese Krankheit war
444 ^11- Capitel. — Krankheiten der Knoclion und Gelenke.
es denn haiiptsächlicli, die die Verletzten mit offenen Fraoturen schaaren-
weise dabinraft'te. Septicämie war verhältnissniassig- selten ; gelegentlich
wurde auch Gangrene foudroyante beobachtet (pag. 157j. — Bei Durch-
stechungsfracturen , wo der Zustand der Weichtheile ein viel besserer
ist, die Wunde auch kleiner, sind die Aussichten stets viel besser ge-
wesen. — Ebenso auch bei den Fällen, wo die Wunde erst secundär
in späterer Zeit entsteht, weil oft hier durch adhäsive Entzündung der
Weg in die Tiefe und zum Knochenmark verlegt ist.
Die Diagnose des offenen Knochenbruches ist meist sehr einfach.
Man sieht die Wunde, aus der oft ein Bruchstück unmittelbar zu Tage
tritt. Im Uebrigen sind alle Zeichen , die für die Erkennung eines
Knochenbruches von Belang sind, sehr deutlich ausgesprochen.
Prognose und Behandlung fallen in Eins zusammen. Ueber
das Schicksal des Verletzten entscheidet allein die antiseptische
Schulung seines Arztes. Geht eine complicirte Fractur frisch zu , so
wird man — bei irgend erheblicherer äusserer Verletzung, namentlich
direct entstandenen Brüchen — wenn irgend möglich den Kranken
chloroformiren. Nun scheuert man die ganze Gegend in penibelster
Weise (vergl. pag. 198) ab und untersuclit dann — mit sorgfältigst
desinficirten Fingern — die Wundhöhle, indem man, wenn nöthig, die
Haut genügend einschneidet. Man betastet die Bruchenden, hebt ganz
abgelöste oder nur noch lose hängende Knochenscherben , Weichtheil-
fetzen und Blutcoagula, Schmutz heraus, wischt die Wunde mit sterilen
Tupfern aus oder spült und schwemmt sie mit schwachen antiseptischen
Lösungen (Sublimat 1 : 5000) oder sterilisirter Kochsalzlösung oder
Tat^e/'scher Lösung aus, dann fühlt man mit den Fingern alle Buchten
und Gänge der Wundhöhle ab und legt an den abhängigsten Stellen
zahlreiche fingerdicke Drains ein, indem man die Kornzange von innen
her gegen die Haut andrängt, auf die Spitze einschneidet und sofort die
Röhre mit der zurückgezogenen Zange einzieht. Die Sorge für
freien Abfluss der Secrete ist die Hauptsache. Nun umhüllt man
die Wunde weithin mit dicken, gut aufsaugenden antiseptischeu Polstern
(Holzstoff) und lagert das Glied auf einer wasserdichten Schiene, z. B.
einer Blechrinne {Volkmamr&ohe T-Schiene), auch kann man sofort
leichte Extension damit verbinden.
Der Kranke ist nun sorgfältig zu beobachten, zweimal täglich die
Temperatur zu messen und je nach dem Verhalten und den Schmerzen
wird der meist bald durchtränkte Verband durch theilweise Erneuerung
und Aufpackung weiterer aufsaugender Stoffe verstärkt oder ganz ge-
wechselt. Seltener Verbandwechsel ist für den Kranken angenehm und
der Heilung des Bruches dienlich; doch ist bei Fieber jenseits SS'ö",
starken Schmerzen, üblem Geruch des Verbandes u. s. f. sofort zu
wechseln.
Bei glattem Verlauf bleibt die Temperatur normal oder in massigen
Grenzen , das Allgemeinbefinden gut. Nach etwa 8 Tagen kann man
diejenigen Drains herausnehmen, die wenig Wundflüssigkeit entleeren,
eins nach dem andern. Zeigt sich keine Entzündung der Weichtheile
und ist die Absonderung gering, auch die Consolidation im Gang, was
man durch vorsichtige Bewegungen feststellt, so kann man zu einem
andern, die Fragmente besser fixirenden Verband übergehen. Jetzt,
Complicirte Knochenbrüche. lufection. 445
Daelidem die Gefahr fiir's Leben geschwunden ist, mnss man daran
denken, eine möglichst exacte Heilung zu bekommen.
Es lassen sich allerdings eine Reihe von complicirten Fracturen
vom Anfang bis zum Ende auf derselben Schiene behandeln, wenn
man sich durch Messung u. s. w. von der guten Lage der Knochen-
stücke überzeugt. ]\Ianchmal muss man aber in der 2. oder 3. Woche
doch wechseln, sei es nun , dass man jetzt einen Zugverband machen
oder einen festen Contentivverband , einen Gipsverband anlegen will.
Nur wo die Secretion sehr gering ist , kann man einen (Jodoform-)
Dauerverband anlegen und darüber einen geschlosseneu Gipsverband
anbringen. Meist wird man zu einem gefensterten oder unter-
brochenen Gipsverband greifen müssen, um Zugang zu der Wunde
zu behalten. (Vergl. Fig. 200 u. 263.)
Birclier legt Zapfen in die Markhöhle ein {Langenheck' s Arch., 34); ebenso
Senn (Auuals of snrgery, 1893, Augustnnmmer), der auch Ringe aus Thierknochen aus-
sägt , sie 1 Stunde lang kocht , in Sublimatalkohol aufbewahrt und sie auf die Frag-
mente zu ihrer Vereinigung aufschiebt.
Die Heilung ist in Fällen ohne Eiterung dieselbe, wie bei sub-
cutanen Fracturen, eine Art Heilung unter dem feuchten Blutschorf
(s. pag. 79). Wo es sich um die Ausfüllung grösserer Höhlen unter
stärkerer Absonderung handelt , kleiden sich diese mit Granulationen
aus; Periost und Mark machen die geschilderten Veränderungen durch
und bilden bald Granulationen ; bei der Rindensubstanz dauert es
mehrere Wochen, bis aus ihr Granulationen hervorspriessen ; dabei ver-
fällt der der ßruchspalte zunächst liegende Theil des Knochens der Re-
sorption. Die Granulationen verknöchern schon früh — gegen
Ende der ersten Woche. Es kommen Osteoblasten zum Vorschein, die
osteoides Gewebe produciren, das dann verknöchert (sog. geflechtartiger
Knochen). Ein knorpliges Vorstadium des neuen Knochens findet sich
nicht bei der Entwicklung aus Granulationen, sondern es handelt
sich lediglich um Bildung von Knochen direct aus Bindegewebe.
(S. Fig. 365.)
Die Heilungsdauer complicirter Fracturen beträgt ungefähr die
doppelte Zeit gleichartiger subcutaner Brüche, doch lassen sich genaue
Regeln — ■ weil eben jeder Fall anders ist — nicht geben.
Complicirte Fracturen zeigen viele Abweichungen von dem ge-
schilderten Verlauf; die wichtigste ist das Eintreten von Infection.
Sei es nun. dass sie schon inficirt zugegangen sind, oder dass die Anti-
sepsis misslungen ist. Die klinischen Erscheinungen, an welchen die In-
fection zu erkennen ist, habe ich pag. 139 geschildert; vor Allem sind
Temperatur und Puls erhöht, der Kranke klagt über Schmerzen, zeigt
Fiebersymi)tome. Die Wunde ist geröthet, sehnierzhaft ; es ist eine reich-
liche, eitrige oder gar ül)elriechende Secretion vorhanden. Vor Allem
ist jetzt nach Eiterverhaltungen zu forschen, jede Schwellung und
Röthung ist sorgfältig zu untersuchen und wenn daselbst Fluctuation vor-
handen ist oder sich durch leichten Druck auf die Stelle Secret nach der
Wunde entleeren lässt, so niuss indicirt und drainirt werden. Man darf
sich vor Aveiten Incisioncn nicht scheuen und iiiclit nachlassen, bis der
Kranke fieberfrei wird.
Will die Temperatur nicht herunter und findet sich örtlich durchaus nichts, so
kann zu feuchten antiseptischen Umschlägen gegriffen (Sublimat 1 : 3000) oder die Irri-
446 VII- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
gatiou (s. pag. 186) mit essigsaurer Tlionerde (2 — 4 Procent), Chlorwasser u. dergl. ver-
sucht werden. Auch die Immersion — das ])ermanente Localbad (s. eliendaselbst) —
kann gelegentlicli Nutzen bringen.
Kommt man mit alldem nicht zum Ziel, zeigt sich Keimung zum
centralen Fortschreiten der Entzündung oder tritt gar schwere progre-
diente septische Phlegmone hinzu, so steht die Sache übel. Nehmen
dabei die Kräfte des Kranken zusehends ab, oder treten gar stürmische
Erscheinungen von Sepsis auf (hohes Fieber, schlechter Puls, Kräfte-
verfall), so wird nichts übrig bleiben, als die Amputation hoch oben im
Gesunden. Zur Nachbehandlung empfiehlt sich dann offene Wundbehand-
lung (pag. 186) mehr, als eine doch aussichtslose Antisepsis. Dass manche
Kranke diese Spätamputation nicht mehr überstehen, darf nicht
Wunder nehmen.
Die Amputation bei complicirten Fracturen kommt bei
sehr schweren Fällen oft schon unmittelbar nach der Verletzung in
Frage. Im Ganzen kommt es fast mehr auf den Zustand der AVeichtheile
an (vergl. pag. 5). Sind Puls und Nervenleitung im peripheren Stück
sehr geschädigt und die Circulation ungenügend, so ist die primäre
Amputation nicht zu umgehen und leuchtet dann meist jedem Laien
ohne Weiteres ein. In zweifelhaften Fällen kann ein guter und geübter
Antiseptiker — aber auch nur dieser — den Versuch der Erhaltung
machen auf die Gefahr hin, später doch noch wiegen Gangrän amputiren
zu müssen. So lange die Sache aseptisch bleibt, ist ja die Gefahr zu
beherrschen. — Bei ungenügender Schulung und unter ungünstigen
Verhältnissen (z. B. in überfüllten Kriegslazarethen) dürfte die primäre
Amputation vielleicht manches Leben retten, das sonst der mangel-
haften Antisepsis zum Opfer fällt (s. Kriegsverletzungen).
Complicirte Fracturen mit erheblicherer Eiterung werden selten
ohne Nekrose der Bruchenden durchkommen. Die der Bruchspalte
unmittelbar benachbarten Theile der Rinde werden ja immer nekrotisch,
aber meist ohne Bildung makroskopischer Splitter („Sequester") resor-
birt. Unter dem Zusammenwirken umfänglicher Quetschung und bacte-
rieller Infection werden aber grössere Knochenstücke nekrotisch , so
gross , dass die Resorptionskraft der Granulationen nicht genügt , sie
ganz einzuschmelzen, sondern dieselben müssen nach aussen entleert
werden. Es verfallen so bei stärkerer Eiterung nicht blos alle bereits
durch die Verletzung abgetrennten Knochensplitter der Nekrose und
Ausstossung, sondern auch von den Bruchenden oft Stücke von mehreren
Centimetern Länge. Diese letzteren müssen erst durch demarkirende
Granulation (s. pag. 42) im Laufe von Wochen bis Monaten losgelöst
werden, ehe sie mobil und ausgestossen werden. Man hat an Sequester-
bildung zu denken, wenn die Eiterung bei complicirten Fracturen auch
nach 4 — 6 Wochen nicht aufhört. Man kann dann mit scharfem Löffel
nicht blos den nackten Knochen unmittelbar fühlen, sondern oft Dutzende
von Sequestern herausholen. Grosse Sequester verlangen eine Erweiterung
der Fistelcanäle.
Natürlich stört diese Sequester bildung auch die Callusbildung
(s. bei Pseudarthrose).
Bei aseptischem Verlauf und subcutanen Fracturen heilen abgelöste Splitter meist
anstandslos wieder an. Bildung von Sequestern und Ausstossung durch Eiterung ist bei
subcutanen Splitterfracturen eine extreme Seltenheit.
Ueble Folgen von Knoclienbrüchen. 447
Auch die übrigen, sofort zu besprechenden Störungen und Anomalien
des Verlaufes von Knochenbrüchen sind bei complicirten Knochenbrllchen
besonders häufig.
Fast noch schwerer als diese complicirten Brüche sind die
complicirten Gelenkbrüche. Zu den Gefahren der complicirten
Fractur treten noch die einer offenen Gelenkverletzung und bei Infection
die einer Gelenkeiterung (s. Gelenkentzündungen). Peinlichste Desinfee-
tion, ausgiebige Drainage sind angezeigt ; bei günstigem Verlauf früh-
zeitige Aenderungen der Stellung und Massage (s. oben). Auch hier ist
Extension nützlich. Wiederherstellung normaler Function ist nur in
einem Theil der Fälle zu erwarten.
Complicirte Epiphysenlösungen — nicht so selten auf in-
directem Wege entstehend und mit unbedeutender Verletzung verbunden —
geben keine so üble Prognose , da die Markhöhle nicht mit eröffnet
ist. Ich habe Fälle tadellos geheilt durch Antisepsis und Reposition,
während in anderen Fällen die Epiphyse ganz oder theilweise resecirt
wurde, auch mit gutem Resultat. Wo möglich ist der meist an der
Diaphyse haftende Epiphysenknorpel zu schonen. Die Hauptsache ist
ebenfalls sorgfältige Antisepsis.
Von weiteren Complicationen der Knochenbrüche (vergl.
hierüber Fabricius, Laiigenbeck's Arch., 48) sind in erster Linie zu nennen
Verletzungen von Blutgefässen und Nerven.
Die Verletzung von Arterien kann in verschiedenster Weise
erfolgen. Das Gefäss wird einfach zugedreht oder abgerissen (torquirt)
und die Circulation unterhalb kann in hohem Grade gestört, selbst
ganz aufgehoben werden — und es folgt Gangrän. Oder es kann
nur die Intima und Media zerreissen (s. pag. 111, Fig. 73) und die
Adventitia erhalten bleiben ; auch hier folgt Thrombose. Dann kann das
Gefäss durch einen Knochensplitter angespiesst oder eingeklemmt und
so verschlossen w^erden. Die hiedurch bedingte Gangrän des Gliedes
wird oft auf einen Kunstfehler des Arztes (zu enger Verband) ge-
schoben.
Andere Male reisst das Gefäss seitlich ein, oder wird durch einen
Knochensplitter angespiesst und das Blut ergiesst sich nach aussen —
bei offenen Fracturen — und giebt Anlass zu einer enormen, oft tödtlichen
Blutung. Oder, bei subcutanen Fracturen, wühlt es sich in die um-
gebenden Weichtheile und bildet so eine grosse Blutgeschwulst (Hämatom,
s. pag. 100). die schliesslich zu einem Aneurysnia werden kann (s. Gefäss-
erkrauknngen). Auch später kann sich noch ein Thrombus lösen und
eine Blutung kommen oder ein Aneurysma entstehen, Dass pyämische
Spätblutungen auch bei inficirten complicirten Fracturen sich einstellen
können, ist selbstverständlich.
Die Verletzung der Venen macht sich Ijci Fracturen meist
wenig bemerklich, die Blutung aus ihnen ist unbedeutend; ebenso
werden wohl in allen Fällen die Venen in unmittelbarer Nähe der Ver-
letzung thrombosiren. Die .subcutanen Venen tlirond)osiren l)ei sub-
cutanen Brüchen fast nie, wohl aber sind Fälle von Thrombose
tiefer und grosser Venen nicht so selten, namentlich an der unteren
Extremität mit folgendem hartnäckigem Oedem, und in einzelnen Fällen
ist auch schwere, selbst tödt liehe Enibolie der Lunirenarteric als
448 ^II- Capitel. — Krankheitim der Knochen und Gelenke.
Folge dieser Thrombosen (an den unteren Extremitäten; vorgekommen.
Alte Leute sind zu Thrombosen besonders disponirt.
Nervenverletzung-en können in verschiedenster Weise bei
Knochenbrüchen sich ereignen. Bald wird der Xerv unmittelbar bei
der Verletzung gequetscht , zerquetscht oder zerrissen ; bald wird er
von scharfen Knochenspitzen angespiesst oder zwischen Bruchstücke
eingeklemmt, sofort oder durch spätere Verschiebungen. Schliesslich
kann er später durch den Callus oder Narbenmassen gedrückt oder in
sie eingeschlossen werden. Besonders oft wird der N. radialis verletzt,
dann der N. peroneus und der Plexus axillaris. — Die wesentlichen
Erscheinungen sind motorische und sensible Lähmungen, die bald un-
mittelbar nach der Verletzung eintreten , bald erst später. Bei An-
spiessung der Nerven stellen sich auch Schmerzen und Krämpfe ein.
Die Behandlung ist bei Krankheiten der Nerven und pag. 281 be-
sprochen.
In seltenen Fällen hat man nach Knochenbrüchen Atrophie des ganzen verletzten
Gliedes beobachtet, die vielleicht mit einer Nervenläsion zusammenhängt.
Gangrän des verletzten Glliedes kann durch die erwähnten Ge-
fässverletzungen entstehen. Es ist daher nach der Amputation eine ge-
naue Section der Gefässe nicht zu unterlassen , um die Entstehungs-
weise aufzudecken und die Unschuld des Arztes nachzuweisen. Denn
leider sind auch schon Fälle von Gangrän durch einschnürende
Verbände vorgekommen, die nicht zur Zeit abgenommen wurden.
Diesen Zuständen steht nahe die ischämische Muskellähmung.
Nach zu fest anliegenden Verbänden (und, wie es scheint, auch nach
Thrombose grösserer arterieller Gefässe, die zu einer Verminderung,
aber nicht gänzlichen Aufhebung der Blutzufuhr führt) beobachtet man
hin und wieder eine sehr rasch sich entwickelnde Muskelatrophie, die
zu völligem Schwund der Muskelsubstanz und damit auch totaler
Lähmung führt.
In einem von mir beobachteten Fall war in der Kindheit Avegen Radiusfractur
ein zu enger Gipsverband angelegt. Vier Finger breit unter dem Ellbogengelenk ver-
schmächtigte sich die Extremität plötzlich auf ein Drittel des Volums und war sämmt-
liche Muskelsubstanz geschwunden; die ganz scharfe circuläre Grenze des Schwundes
entsprach genau dem oberen Rand des Gipsverbandes. — Die Entstehiing ist wohl die,
dass die gegen Anämie sehr empfindliche Muskelsubstauz zu Grunde geht, während die
übrigen Gewebe erhalten bleiben (Leser, s. pag. 8). Massage und Elektricität sind zu
versuchen, die Aussichten sind jedoch, wenn der Verband lange gelegen, schlecht. Hilde-
brandt (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 30) berichtet von einem durch sehr energische
Massage, Henle von einem durch Verkürzung der Knochen geheilten Fall.
In wenigen Fällen schwanden durch den Druck eines schnürenden Verbandes alle
Gewebe , selbst die Knochen , und nur eine Brücke aus Haut , Nerven und Gefässen
blieb übrig.
Als seltene Complication von Knochenbrüchen wäre noch Fett-
embolie zu nennen, die nach Zerquetschungsfracturen fettreicher
spongiöser Knochen eintreten kann (vergl. pag. 18). Die klinischen
Erscheinungen wären die des Lufthungers und folgender Asphyxie. Im
Urin findet sich Fett. Die klinische Diagnose der Fettembolien ist eine
sehr unsichere und die mitgetheilten Fälle tödtlieher Fettembolie können
auch als Septicämien oder Intoxicationen (Antiseptica !) aufgefasst
werden.
Traumatisches Emphysem soll in einzelnen Fällen, selbst
ohne äussere Wunde, beobachtet sein, auch ohne Communication mit
Anomalien der Callnsbilduug. Pseudarthrose. 449
den Luftwegen, z. B. bei Unterschenkelbrüchen (septisches Emphysem?).
Bei Rippenbrüchen , Brüchen des Nasen-, Stirn- und Oberkieferbeines
u. s. w. ist es nicht selten (s. pag. 128).
Die in gebrochenen Gliedern oft sich einstellenden Muskel-
zuckungen werden durch Morphium subcutan, am besten und schnellsten
durch einen guten Verband beseitigt.
Verzögerung der Callusbildung ist nicht so selten. Oder es
kommt gar nicht zur knöchernen Vereinigung, man hat nur eine
bindegewebige Verbindung oder die Fragmente bleiben ausser aller
Berührung, Pseudarthrose (falsches Gelenk).
Alle diejenigen Momente, die die Ernährung des Knochensystems
beeinträchtigen (s. Atrophie, pag. 412), sind auch geeignet, die Callus-
bildung zu verzögern und Pseudarthrosenbildung zu begünstigen, wenn-
gleich letztere — das gänzliche Ausbleiben knöcherner Verbindung —
viel seltener allgemeinen Ursachen, sondern meist den örtlichen
Verhältnissen der Bruchstelle zuzuschreiben ist.
Hohes Alter verzögert meist die Callusbildung und ist bisweilen
auch Ursache der Pseudarthrose.
Ebenso habe ich bei Nervenstörungen , namentlich tabischen
Spontanfracturen, langwierige, aber schliesslich doch beseitigte Callus-
verzögerung gesehen ; ebenso bei syphilitischen Spontanfracturen , wo
erst die Diagnose und Behandlung der — tertiären — Lues (Jod-
kali) die Callusbildung einleitet. Dann sind Störungen der Callus-
bildung — selbst Aufsaugung von bereits in Entwicklung begriffenem
Callus — beobachtet bei Scorbut, Diabete's und ungenügender Ernährung
(in eingeschlossenen Festungen, z. B. Metz 1870).
In weitaus den meisten Fällen sind es örtliche Ursachen, die
die Heilung des Bruches verzögern oder vereiteln ; fast immer ist als
letzte Ursache der ausbleibenden knöchernen Vereinigung nachzuweisen,
dass die Bruchflächen gar nicht oder nicht in genügendem Umfang in
Berührung sind, oder nicht fest und dauernd genug in Berührung erhalten
werden , so dass eine Verschmelzung der von beiden Enden produ-
cirten Callusmassen nicht zu Stande kommen kann. Jedes Fragment
schliesst dann seine Markhöhle durch Markcallus , rundet sich durch
neugebildete Knochenmasse ab und ist mit dem anderen Fragment gar
nicht oder durch eine fibröse Zwischensubstanz verbunden , nur selten
l)il(let sich ein neues Gelenk mit einer Art Synovialhöhle.
Bald ist die Eigenthümlichkeit der Bruch form die Ursache;
so geben sehr schräge Brüche, namentlich wenn nicht genügend extendirt
wird , oft sehr ungenügende Heilresultate , weil die Bruchflächen von
einander abgleiten ; ebenso kilnncn Splitterbrüche gelegentlich nicht zur
knöchernen Vereinigung kommen ; dann ist die Pseudarthrose bei solchen
Brüchen, wo die Fragmente weitauseinanderweichcn — Patellar-
fractur, Bruch des Olecranon — ein nur durch grosse Sorgfalt des
Arztes zu vermeidendes häufiges Vorkommiiiss (vergl. Fig. 381./"). Ferner
kann die zur Heilung nothwendige Berührung der Bruchflächen aus-
bleiben, wenn andere Gewebe sich Zwischenlagern — Interposition von
Landerer, AUg. chir. Patliolog'o u. Therapie. 2. Aufl. 29
450 ^11- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Muskeln, Sehnen, Nerven, bald schon im Moment der Verletzung, bald
erst später (secundär). Sorgfältige Coaptation , eventuell in Narcose,
kommen dieser Störung zuvor. Man hat bei frischen Fracturen an Inter-
position zu denken, wenn bei deutlicher abnormer Beweglichkeit die
Crepitation fehlt oder die leicht in Berührung zu bringenden Fragmente
immer wieder federnd abweichen. Sie ist nach meinen Erfahrungen
seltener, als angenommen wird. Dass ein massiger Bluterguss als Inter-
ponens wirken kann , ist nach meiner Erfahrung durchaus unwahr-
scheinlich. Von Kniescheibe, Olecranon, Proc. coronoideus ulnae u. dergl.
kleinen Fortsätzen abgesehen, finden sich Pseudarthrosen bei den langen
Knochen am häutigsten am Oberarm, dann am Oberschenkelschaft. Die
Prädisposition dieser Knochen zu fehlerhafter Vereinigung hat man auf
Interposition geschoben — der langen Muskeln namentlich. Die Fälle
dieser Art, die ich gesehen, wiesen entschieden auf ungenügende
Feststellung der Bruchstücke während der Behandlung. So
waren z. B. in einem Fall von Querbruch des Humerusschaftes weder
Schulter-, noch Ellbogengelenk fixirt gewesen, sondern nur ein paar
kurze Schindeln um die Bruchstelle gebunden gewesen. — Delirium
tremens wirkt gleichfalls begünstigend wegen der Schwierigkeit guter
Fixation.
Complicirte Fracturen zeigen eine erhöhte Anzahl von Pseud-
arthrosen. Verständlich ist die Störung der Vereinigung, wenn umfäng-
liche Stücke des Knochens verloren gehen, so dass die Entfernung
beider Callusmassen zu gross ist, um überbrückt werden zu können,
namentlich wenn etwa ein interponirtes nekrotisches Knochenstück die
in diesem Fall äusserst erwünschte Retraction der Weichtheile hindert.
Die Schrumpfung der Weichtheile bringt oft die Knochen noch in Be-
rührung, selbst bei umfänglicher Knochennecrose.
Schliesslich bleibt in einer grossen Anzahl von Spontanfraeturen
die Vereinigung aus, sei es, dass ein entzündlicher Process — Osteo-
myelitis — die Regeneration stört, oder ein Gumma u. dergl. Bricht der
Knochen an der Stelle eines Sarkoms oder metastatischen Carcinoms,
so bleibt jede Andeutung einer Heilung aus.
Die Diagnose macht mau, wenn man bei der Abnahme des
Verbands zur richtigen Zeit an der Bruchstelle noch wiegende Bewe-
gungen der Bruchstücke gegen einander ausführen kann (verzögerte
Callusbildung) oder die Fragmente deutlich ohne Crepitiren gegen
einander verschieben kann. Bei tief liegenden Knochen (Oberschenkel)
ist man oft im Zweifel ; hier führt bei mehrmaligen Messungen an ver-
schiedenen Tagen zunehmende Verkürzung auf die Diagnose. Die Ver-
letzten haben meist selbst das Gefühl, dass die Sache nicht in Ord-
nung ist.
Fig. 396 ist eine Pseudarthrose bei Schrägbruch des Hnmerus mit
starker Dislocatio ad longitudinem und Bildung gelenkartiger Spalten
nach Albert.
Beider Behandlung der Pseudarthrose ist stets die Ursache
der nicht erfolgten Vereinigung zu ergründen (allgemeine oder locale
Gründe und welche); (s. oben).
Wo die Bruchflächen ausser Contact gekommen sind,
müssen sie in Berührung gebracht werden. Wo die Bruchstücke
ganz aneinander vorbeigeglitten sind (Schrägbrüche des Oberarms
Behandlung der Pseudartlirose.
451
Fig. 396.
[s. Fig. 396] und Oberschenkels mit starker Verkürzung) ist Extension
und zugleich Fixation mit Schienen zu machen , ein anderes Mal
sind annähernde Verbände zu machen , mit Binden , Heftpflasterstreifen
(Kniescheibenbrüche). In anderen Fällen kann ein exact angelegter
Gripsverband, der mehrere Wochen liegt, bei verzögerter Callusbildung
Hilfe bringen.
Eine Reihe Verfahren streben vermehrte Blut zufuhr zu der
Bruchstelle an, sei es nun, dass sie functionelle oder entzündliche,
arterielle oder venöse Hyperämie erzeugen wollen. Bald genügt es, die
Bruchflächen öfters energisch gegeneinander zu reiben und zu bewegen,
darauf wieder einen Contentivverband anzulegen. Mir hat kräftige Massage
des Callus oft raschen Erfolg gebracht. Helferich hat temporäre, selbst
Tage dauernde elastische Abschnürung angewandt, die durch einen
nicht zu fest liegenden Kautschukriug venöse Stauung erzielte. Andere
bedienen sich der Esmarch'schen Einwicklung, wo die nachfolgende
Hyperämie (pag. 113) wirksam wird. Das Einfachste und Erfolgreichste
ist es , wenn das betreffende Glied — z. B. an der
unteren Extremität — durch einen knapp anliegenden
Gehverband oder in schwereren Fällen durch einen
Schieneuhülsenapparat (Tutor) vor der Verbiegung ge-
schützt, zum Gehen benutzt wird. Diese functionelle
Hyperämie wirkt mitunter sehr rasch.
Entzündungserregende Verfahren (Injectionen in
die Zwischenmasse von Jodtinctur, Milchsäure, Carbol-
säure u. s. f.) sind wenig empfehlenswerth. Besser ist
Elektropunctur oder Ignipunctur (mit dem Fistel-
brenner von Paquelin), oder das Eintreiben von ver-
goldeten Nadeln, gutgeglühten Eisennägeln, Elfenbein-
stiften u. s. f. Diese Stifte werden bald nur in die
Zwischensubstanz eingebracht, bald werden sie zum
wirklichen Zusammennageln der Fragmente benützt,
wozu auch Stahlschrauben verwendet sind. Von diesem
Verfahren ist nur noch ein Schritt zur zweckmässigsten
Behandlung hartnäckiger Pseudarthrosen, zur Freilegung
der Fragmente , Resection der Zwischensubstanz , An-
frischen der Bruchenden und Vereinigung derselben
durch Zusammennageln oder Knochen naht. Auch das Einpflanzen von
frischen Knochenstückchen (von Kindern durch keilförmige Osteotomie
gewonnen) ist in einzelnen Fällen von Erfolg gewesen. Oder man hat
ein Knochenende zugespitzt in die Markhöhle des andern — nach vor-
ausgegangener Resection der Bruchenden — eingetrieben , oder beide
Markhölilcn durch einen Knochenstift (von der Rinde eines Thierknochens)
vereinigt , auch sind Periostlappen durch Verschiebung zwisclien die
Bruchenden eingelegt worden. W.Müller (Chir. Centralbl., 1895, 46)
schlägt einen Ilauti)eriostlappen über die Pseudarthrose weg.
Die innere Beliandlung von verzögerter Callusbildung mit Phosphor, Arsenik
u. s. f. hat bei local bedingter Pseudarthrose keine Erfolge gegeben; bei Sj-philis dagegen
ist die antisvphilitische Behandlung das einzig Richtige; bei schwächenden Krankheiten
die Besserung der Ernährung und des Allgemeinbefindens.
l)oi verzögerter Callusbildung kommt man mit dem Gebrauch des
Glieds in schützendem Verband meist zum Ziel. Bei alten bindegewebigen
29*
452 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Pseudarthrosen halte man sich mit den kleinen Mittelchen nicht zu
lange auf, sondern schreite sofort zur Resection und Knochennaht.
Immerhin bleiben einzelne Fälle, wo auch damit kein Erfolg er-
zielt wird und man die Patienten ungeheilt mit einem gut gearbeiteten
Stützapparat sofort entlassen muss.
Mangelhafte Festigkeit des Callas, die zu einer zweiten Fractur im Callus Anlass
giebt, ist recht selten. Es handelt sich meist um Fälle, wo ein Glied — namentlich ein
Bein — zu früh wieder in Gebrauch genommen wurde (Geisteskranke). Der zweite Bruch
heilt meist sehr schnell.
Was uns sonst noch von Abnormitäten des Callus interessirt, sind
schlechte Form desselben, d.h. Verheilung der Fragmente in
falscher Stellung (Difformität des Callus und übermässige
Entwicklung desselben (Callus luxurians).
Die Begriffe über fehlerhafte Fracturh eilung sind sehr ver-
schieden und zeigen sich manche Aerzte , was die Heilungsresultate
ihrer Praxis betrifft, in dieser Hinsicht überaus bescheiden. Man
kann es erleben, dass dieselben Verkürzungen um 4 — 5 Cm. als tadellose
Heilungen bezeichnen und z. B. dem Verletzten jeden Anspruch auf In-
validenrente absprechen. Sobald bei einer Fractur, was normale Lage
u. s. f. betrifft, etwas nicht normal erscheint , nimmt man den Verband
ab und sieht nach. Ich scheue mich gar nicht, in der zweiten, selbst
dritten Woche den bereits in Entwicklung begriffenen Callus nochmals
mit den Händen zurechtzubiegen oder zu zerbrechen — Reinfraction
des Callus — und in guter Stellung zu verbinden; namentlich bei un-
ruhigen Kindern wird man öfters dazu genöthigt.
Die Folgen deformer Heilung (Winkelstellungen, erhebliche Verkürzungen u. s. w.)
können ganz verschieden sein. Wahrend oft eine beträchtliche Verkürzung des Ober-
schenkels durch einen hohen Absatz ganz ausgeglichen werden kann, können an anderen
Stellen kleine Formabweichungen recht störend sein. Eine unbedeutende Knickung und
Callusdeformität am unteren Ende des Radius kann einen Ciavier- oder Violinvirtuosen
brotlos machen ; einer Axenknickung des Unterschenkels — nach Knöchelbruch — folgt
eine traumatische Plattfussstellung, die jeden, der in seinem Beruf viel gehen muss,
dienstuntauglich macht u. s. w.
Ist die Periode vorbei, wo die Reinfraction des Callus noch Hilfe
bringen kann , oder das manuelle Zerbrechen des Callus möglich ist
(Kinder), so bessern Prothesen und bei Patienten, die eine Operation
ablehnen , Massage manche Beschwerden (Radiusfracturen). Meist
bleibt nichts übrig, als den Knochen wieder zu zerbrechen — Osteo-
klase. Wo die Kraft der Hände nicht ausreicht, werden — natürlich
in Narcose — eigene Maschinen hiezu angewandt, z. B. der Dys-
morphosteopalinklast (Bizzoli) und seine Modificationen. Durch Lorenz
ist der Osteoklast so weit verbessert, dass seine Wirkung eine sichere,
örtlich genau beschränkte ist und unangenehme Nebenwirkungen
(Bänderzerrelssungen, Gelenklockei-ungen) vermieden werden können.
Ebenso empfiehlt Helferich (Münch. med. Wochenschr., 1892, 12) die
frühzeitige Osteoklase mit dem Osteoklasten. Trotzdem halten die
meisten Chirurgen an der Osteotomie fest, die ich pag. 411 geschildert.
Ein kleiner Haut- und Weichtheilschnitt erlaubt den Meissel gerade an
der Stelle anzusetzen , wo der Knochen durchgetrennt werden soll.
Allerdings ist die Durchmeisselung eines difformen Callus oft ein recht
saueres Stück Arbeit, bis man schliesslich den Rest mit den Händen
vollends durchbrechen kann. Noch mühsamer wird es, wenn man noch
Calluswucherung. Callusverschmelzung. 45 3
ganze Stücke herausmeisseln mnss (keilförmige Osteotomie). Schede
eraptielilt nach der Osteotomie forcirte Extension (am Oberschenkel
15 Kgrm. und mehr).
In seltenen Fällen — bei starken Verkürzungen der unteren Extremität — ■
liat man auch das gesunde Bein künstlicli gebrochen und in gleicher Verkürzung heilen
lassen , um so beide Beine gleich lang zu bekommen und damit das Hinken und die
schiefe Körperhaltung zu beseitigen.
In einer Reihe von Fällen, z. B. Beckenfractiiren, aber auch hoch-
sitzenden Oberschenkelbrüchen , muss sich der Kranke schliesslich in
seine Beschwerden ergeben, da die Operation in ihren Erfolgen unsicher
und dabei nicht ganz ungefährlich ist.
Ein nicht so seltenes übles Ereigniss ist die Callusverschmel-
zung zweier nebeneinander liegenden Knochen. Am Unterschenkel,
den Rippen ohne grosse Bedeutung, ist sie dagegen von unangenehmen
Folgen bei den Vorderarmknochen (Fig. 397, Callusverschmelzung der
Yorderarmkuocheu nach Albert). Es w^erden dadurch die Pro- und Supina-
tionsbewegungen aufgehoben und damit die Gebrauchsfähigkeit der
Hand erheblich herabgesetzt. Diese Callusverschmelzung von Radius und
Fig. 397.
Ulna tritt leicht ein, wenn Unterarmbrüche in Pronation verbunden
werden, wo die Knochen sich kreuzen. Werden sie in völliger Supi-
nation gelagert (die Hohlhand sieht nach oben), so ist sie nicht möglich.
Operative Entfernung der knJtchernen Zwischenmasse, wenn nöthig auch
Durchmeisselung beider Knochen und Fixation in guter Stellung (Knochen-
naht) sind in schwereren Fällen angezeigt.
Die Calluswucherung — Callus Inxurians — findet sich nament-
lich bei complicirten Fracturen mit Bildung zahlreicher Sequester, wo
die anhaltende Entzündung zur Production grosser Knochenmassen führt.
Verlöthung mit benachbarten Knochen. Ankylose naheligender Gelenke
u. s. f. sind die lästigen Folgen. Sind die Se(iuester entfernt, so verkleinert
sich — durch Massage begünstigt — auch allmählich der Callus. Auch
hier kann eine operative Entfernung der Calhismasscn sich nöthig
machen.
Einige Falle sind beobachtet, wo im Callus sich Encliondrom, Osteum oder Osteo-
sarkom entwickelt hat (vei'gl. Haberern, Langenheck' s Arch. \'^).
Die übrigen Folgen von Brüchen: Gelenksteifigkcit, Muskelschwund
u. s. f. sind pag. 429 erwähnt und werden wir sie bei den betreifenden
Capitcln noch berühren.
454 VI^- Capitel. — Ki^ankheiten der Knochen und Gelenke.
Verletzungen der Gelenke.
Zur Anatomie und Physiologie der Gelenke. — Verstauchungen. — Verrenkungen.
Entstehungsweise. Verlauf. Diagnose. Behandlung. Folgen. — Complicirte Luxa-
tionen und Gelenkwunden. Nearthrose. Habituelle Luxationen. — Pathologische
Verrenkungen. Angeborene Verrenkungen.
Manche Gelenke zeigen Knorpel als Verbindungsniasse zweier
Knochen — Synchondrosen (z. B. kSynchondrosis sacro-iliaca). Durch
centrale Erweichung und eine Art Auffaserung kann eine, ringsum
von Knorpelgewebe umschlossene centrale Höhle entstehen, und damit
ist die Möglichkeit einer allerdings unbedeutenden gegenseitigen Ver-
schiebung gegeben — Halb g denke Luschka' s (Symphysis pubis). In
anderen Fällen ist eine bindegewebige Masse das Verbindende —
Syndesmosen (Schädelnähte). — Die freien und echten Gelenke —
Diarthrosen — zeigen dagegen deutlich getrennte, hyaline Knorpel-
flächen, frei aneinander gleitend. Die Verbindung der Knochen besorgen
die bindegewebigen Theile, die Gelenk-(Synovial-) Kapsel und die
Gelenkbänder, die in einzelnen Gelenken (Schultergelenk) auch noch
der Beihilfe der periarticulären Muskeln zur Sicherung des Contactes
bedürfen.
Der Gelenkknorpel, ein Kest des alten hyalinen Knorpels, ist endothelfrei, nur
an Stellen, wo Druck auf den Knorpel nicht einwirkt, findet sich Endothel. Die Grund-
substanz besteht aus theils netzförmig, theils schichtförmig angeordneten Fasern und
Lamellen (Tilhnanns).
Die Gelenkkapsel, eine aus Bindegewebszügen mit zahlreichem elastischen Gewebe
bestehende Membran — das metamorphosirte Periost — ist auf der Innenseite von
der Synovial membran bedeckt, einer gefässreichen Bindegewebsschicht, welche nach
innen mit einem, meist einschichtigen Endothel bedeckt ist. Nach Braun (Deutsche
Zeitschr. f. Chir., Bd. 39) trägt die Synovialis kein richtiges Endothel, sondern zeigt nur
eine Intima aus dicht zusammengefügten Bindegewebszellen. Die Synovialmembran
sendet nach dem Inneren des Gelenks zottenartige Fortsätze aus — die stärkeren ge-
fässhaltig, die dünneren oft gefässlos — Synovialzotten; neben weichem, saftreichem
Bindegewebe halten dieselben oft Fett in grosser Menge. Diese Fettmassen (Appendices)
haben an Stellen, wo die Gelenkflächen nicht congruent sind, als veränderliche Zwischen-
polster den Contact der Gelenkflächen und damit den genauen Schluss der Gelenke zu
sichern (Knie- und Fussgelenk). Andere Zotten zeigen partielle schleimige Metamorphose
ihres Bindegewebes. Auch Knorpel findet sich in manchen Zotten.
Lymphge fasse enthält die Synovialmembran in ziemlicher Menge. Und es ist
die Gelenkspalte anzusehen als eine „von freien bindegewebigen Flächen begrenzte Ge-
websspalte" (Braun).
Die Synovia (Gelenkschmiere) unterscheidet sich von den übrigen Gewebs-
flüssigkeiten durch ihren hohen Mucingehalt. Sie ist bei anhaltender Bewegung des-
Gelenks concentrirter als in Ruhe. FrericJis fand beim Ochsen in Euhe 96 Procent
Wasser, 0"2 Procent Mucin, 1'5 Procent Eiweiss und 1 Procent Aschenbestandtheile,
bei anhaltender Bewegung 94 Procent Wasser, 05 Procent Mucin, 3'5 Procent Eiweiss
und bei 1 Procent Aschenbestandtheilen. Die Synovia enthält eine ziemliche Menge von
Protoplasmakörnchen, wahrscheinlich Abkömmlinge zerfallender Zellen.
Die Gelenkhöhle steht in einem ziemlich regen Stoifaustausch mit dem Lymph-
und Blutgefässsystem. Wird Zinnoberemulsion in das Gelenk eingespritzt, so findet sich
dieselbe nach 24 Stunden nicht blos in den Zellen der Synovialis, der Umgebung derselben,
sondern auch bereits in den, zum Gelenk gehörigen Lymphdrüsen. Bewegung beschleunigt
diesen Vorgang, noch mehr Massage. In's Kniegelenk gespritzte Tusche fand sich in
diesem Falle schon nach 8 Minuten in den Inguinaldrüsen. Farbstoffe, in's Gelenk ge-
bracht, dringen zunächst in das intercelluläre Gewebe, und gehen dann zum Theil
in die Lymphgefässe , zum Theil werden sie vo» Bindegewebszellen und Leukocyten
aufgenommen, zum Theil bleiben sie liegen und werden in ein Fibrinnetz eingeschlossen.
Aehnlich ergeht es mit Blut; ein Rest bleibt als Fibrinmasse liegen und ist schon
nach 3 Tagen mit Endothelbelag versehen {Riedel, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 12). —
Verstaiichung der Gelenke. 455
Die Lymphgefässe communiciren nicht offen mit dem Gelenk und lassen sich vom Ge-
lenk aus nicht injiciren (Braun).
Die Gelenkbänder bestehen aus sehr straften Bindegewebszügen, ohne elasti-
sche Beimischungen. Sie dienen nicht allein zur festen Zusammenjochung (Verstärkungs-
bänder) der Knochen, sondern haben auch auf die Function oft den wichtigsten Einfluss,
indem sie Bewegungen, die nach der Configuration der knorpeligen Fläche möglich wären,
durch ihre Spannung ausschliessen (Hemmungsbänder).
Werden Gelenke Monate lang immobilisirt (Reylier), so erhält sich der Knorpel
nur an den Stellen, wo Gegendruck stattfindet, Knorpel auf Knorpel drückt. An druck-
freien Stellen wuchert Endothel und dann Sjmovialis über den Knorpel weg , der
zum Theil verschwindet und dem Bindegewebe Platz macht. Die Kapsel selbst schrumpft
und verdickt sich.
Diese Vorgänge sind nicht als entzündliche aufzufassen, da alle Zeichen von
Entzündung fehlen, sondern als metaplastische, unter dem Einfluss veränderter Function,
oder — wie hier — Ausfall der Function.
Die Verletzuüg-en der Gelenke bestehen fast ausschliesslich
in gewaltsamer Dehnung oder Verdrehung* der Gelenke und dadurch
gesetzten Zerreissungen oder Zerquetschungen der Gelenkbänder und
Verletzungen von Blutgefässen. Mehr als die Störung in den Rand-
apparaten fällt im Anfang der Bluterguss in's Gelenk (Hämar-
thros) in die Augen. Ausser der Gelenkquetschung, die selten rein
vorkommt, ist es hauptsächlich die Gelenk Verstauchung oder Dis-
torsion, die hiezu Anlass gibt.
Unter diesem etwas weiten klinischen Begriff verstehen wir eine Verletzung des
Gelenkes, die dadurch zustande kommt, dass eine äussere Gewalt die Gelenkkörper in
einer, durch den Bau des Gelenkes verbotenen Eichtung oder in den gestatteten Eich-
tungen über das zulässige Mass hinausbewegt, dass die Bänder des Gelenkes gedehnt,
gezerrt, zerrissen werden, die Gelenkkörper von einander abgezogen werden, ohne
dauernd ihre Berührung aufzugeben. Durch das Klaffen der Gelenkkörper soll in die,
dadurch unter geringerem Druck gesetzte Gelenkhöhle eine Blutung ex vacuo erfolgen.
Der Bluterguss in's Gelenk wächst meist noch einige Stunden nach der Verletzung, um
dann stationär zu bleiben ; die Kapsel ist dabei durch den vermehrten Inhalt aufge-
trieben, an den schwachen Stellen namentlich findet sich Vorwölbuug. Man fühlt die
erhöhte Spannung. Das Gelenk ist besonders bei Bewegungen sehr schmerzhaft, seine
Gebrauchsfähigkeit erheblich reducirt.
Blutergüsse in's Gelenk (Hämarthros) verdanken ihren Ursprung
auch oft der Verletzung, dem Bruch benachbarter Knochen (nament-
lich Längsfissuren durch Stauchung der Gelenkkörper gegeneinander)
und dem Einfliessen des Blutes aus diesen in das Gelenkinnere. Mäch-
tige Blutergüsse in die Gelenke auf ganz geringfügige Einwirkungen
hin finden sich bei Blutern.
Das weitere Schicksal eines Blutergusses in's Gelenk hängt vom Verhalten des
Arztes ab. Sich selbst überlassen oder exspectativ behandelt, macht derselbe diejenigen
Verändeningen durch, die subcutane, in die Gewebsmaschen abgesetzte Blutergüsse er-
leiden. Zunächst gerinnt das Blut nach wenigen Stunden (Riedel), oft erst nach zwei-
bis dreimal 24 Stunden und noch später (Volktnann). Die flüssigen Bestandtheile des
Ergusses werden rasch aufgesaugt: die köi-perlichen dagegen, die rothen und weissen
Blutzellen, das Fibrin, sehr langsam. (S. pag. 15 und 94.) In den Blut- und Fibrin-
kuclien herein entwickelt sicli junges Bindegewebe, das zu Verdickungen und Ver-
lötlinngen der Kapsel führt, zu Auflagerungen und Eauhigkeiten auf den Gelenk-
knorpeln. Die Kapsel und Gelenkbänder schrumpfen bei der lange dauernden Buhe des
Gelenkes, dadurcli wird das Gelenk in seiner Function in hohem Grade geschädigt und
nicht blos für Tage oder Wochen, selbst für Monate und Jahre. Das Gelenk ist „steif"
und das Glied ist oft viel länger in seinem Gebrauch gestört, als nach einem Knochen-
hruch. Ja, es sind selbst völlige Verlöthungen des Gelenkes (Ankylosen) vorgekommen
( ]'olkmann) nach einer einfaclien Verstmichung. Diesen Verlauf hat man zu erwarten,
wenn man eine Distorsion nach der früheren !Metiiode mit Eulie, Eis, immobilisirenden
Verbänden, inditt'erenten Salben und Umschlägen beliandelt.
456 ^^^- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Geh^nke.
Die erste Pflicht ist, das Blut aus dem Gelenk so rasch
als möglich wegzuschaffen.
Das radicalste Verfahren ist die Entleerung des Blutes durch
aseptische Function des Gelenkes mit einem dicken Troicart und
vorsichtiges Auspressen und Ausstreichen des Blutes durch die Canüle.
Nach dem zweiten Tag sind die Chancen, dass das Blut noch flüssig ist,
sehr gering. Von geronnenem Blut bringt man selbst durch den dicksten
Troicart so gut wie nichts heraus. Eine nachherige antiseptische Aus-
waschung des Gelenkes ist unnöthig.
Meist wird man auf die Function verzichten zu Gunsten der fast
ebenso schnell wirkenden Massage des Gelenkes, die gerade hier
vortreffliche Resultate liefert.
Man beginnt mit leichtem centripetalem Streichen des Gelenks und des jenseits
gelegenen Körperabschnittes, z. B. des Oberschenkels bei Affection des Knies (vergl.
Fig. 290) ; vorerst so schwach, dass es dem Kranken nur geringe Schmerzen macht.
Nach einigen Minuten stumpft sich die Empfindlichkeit ab und man kann nun stärker
drücken und massiren, circa 74 Stunde lang. Das nächstemal kann man schon inten-
siver massiren. Wo man raschen Erfolg wünscht, kann täglich 2- — 3mal masslrt werden.
In den Zwischenzeiten packt man das Gelenk in einen hydropathischen Umschlag.
Nur wenn der Kranke sehr heftige Schmerzen hat, ist Eis zulässig. Vom dritten Tag
ab kommt neben dem Streichen und Kneten noch Klopfen der Muskeln hinzu.
Während des Massiren s sucht man die Diagnose zu vervollstän-
digen durch genaue, oft wiederholte Betastung, passive Bewegungen.
Constante Schmerzpunkte, eine Rinne im Knochen, später eine dem
sich bildenden Callus entsprechende lineare, harte Anschwellung weisen
auf einen Spaltbruch (Fissur) im Knochen hin. Abnorme Seitenbe-
wegung, auffallende Leichtbeweglichkeit des Gelenks sind Zeichen von
Zerreissung eines für den Gelenkmechanismus wichtigen Bandes, so
namentlich der Seitenbänder im Knie- oder Fussgelenk. In diesem
Falle ist das Gelenk für 14 Tage in einem leichten Gipsverband ruhig
zu stellen und später auch, wenn man die Massage aufgenommen hat,
durch einen bei Tage zu tragenden gespaltenen Wasserglas-Schlemm-
kreideverband zu schützen. Nicht erkannt, geben solche Bandzerreis-
sungen functionsunfähige Schlottergelenke, an denen nachträglich wenig
mehr zu bessern ist.
Auch die Eesiduen früherer Verstauchungen, die gar nicht, oder nur
ungenügend behandelt waren, sind ebenso zu behandeln. Energische Massage mit kräfti-
gem Eeiben und Kneten der verdickten Kapsel, kräftiges Klopfen der oft atrophischen
Muskeln sind geboten.
Unterstützen kann man hier die Massage durch Priessnitz' sehe Umschläge, warme
Vollbäder, Dampfbäder, Douchen aufs Gelenk u. s. w. Vermögende Kranke finden in
Teplitz, Wildbad i. Schwarzwald , Wildbad-Gastein , Wiesbaden, Baden-Baden Besse-
rung und Heilung. Auch örtliche Sand- (Köstritz i. Th.) und Moorbäder bringen
Nutzen ; ebenso können die gymnastischen Institute (Baden-Baden, Berlin u. s. f.) mit
Nutzen besucht werden.
In seltenen Fällen schliessen sich bei scrophulösen Kindern an Gelenkquetschungen
und Verstauchungen scrophulöse Gelenkentzündungen an. Es gut daher bei solchen
Kindern immer etwas Vorsicht in der Prognose.
Die Verstauchung entsteht meist durch eine vorübergehende ge-
waltsame Entfernung der Gelenkkörper von einander und man hat sie
deshalb — entschieden zu eng — auch als eine „Luxatio sponte reposita"
definirt. — Bei der wirklichen Verrenkung oder Luxation sind
die Gelenkkörper dauernd ausser Berührung gesetzt. Sind sie
völlig ausser jedem Contact, so ist die Luxation eine vollständige
Verrenkungen. Entstehuugsweise. 457
(Luxatio completa) ; berühren sie sich noch theilweise, so sprechen wir
von unvollständiger Luxation (Luxatio incompleta).
Während wir die Verschiebungen der Gelenkkörper in den wirk-
lichen Gelenken (Arthrodien) als Verrenkungen bezeichnen, werden die
Verschiebungen in den Syndesmosen und Halbgelenken (Symphysis
pubis. sacroiliaca u. a. m.) als Diastasen benannt.
Die Verrenkungen entstehen grösstentheils durch Ein-
wirkung äusserer Gewalt, doch gibt es auch, wie bei den Knochen-
briichen, solche, die anderen Momenten ihre Entstehung verdanken und
die wir als pathologische, secundäre oder spontane bezeichnen.
Eine weitere Gruppe sind ferner die congenitulen oder angeborenen.
Die Verrenkungen sind viel seltener als die Knoclieubrüche, auf 8 Fracturen
kommt erst eine Luxation. Die Häufigkeit der Luxationen ist auch ungemein ver-
schieden in verschiedenen Lebensaltern ; bei Kindern und Greisen findet man nur selten
eine Luxation. Bei Kindern löst sich die Epiphyse ab, wo der Erwachsene eine Ver-
renkung erleiden würde ; denn der Zusammenhang zwischen Epiphyse und Diaphyse ist
viel weniger fest und widerstandsfähig als die Gelenkbänder und -kapsei. Im höheren
Alter dagegen ist wieder der Knochen so spröde und brüchig, dass er viel eher zer-
bricht, als die Gelenkbänder zerreissen. Dieselbe Gewalteinwirkung wird also beim kräfti-
gen Mann z. B. eine Schulterverrenkung erzeugen, beim Greise vielleicht einen Bruch
im anatomischen oder chirurgischen Hals des Humerus ; beim Kinde löst sich die obere
Humerusepiphyse ab oder das Schlüsselbein erleidet eine Einknickuug (Infraction).
Das weibliche Geschlecht weist auch viel weniger Verrenkungen auf, weil es
vermöge seiner Lebensweise seltener Verletzungen ausgesetzt ist.
Die verschiedenen Gelenke des Körpers zeigen gleichfalls grosse Verschiedenheit
in der Häufigkeit der Luxationen. Je freier ein Gelenk, je kleiner die Pfanne im Ver-
hältniss zum Kopf, um so leichter gleitet derselbe aus der Verbindung mit der Pfanne
heraus. Je oberiiächlicher und damit äusserer Gewalt exponirter ein Gelenk Hegt, um
so disponirter ist es zu einer Verrenkung. So fallen 92 Procent aller Luxationen auf
die obere Extremität und nicht weniger als 51"7 Procent auf das Schultergelenk. Ihm
folgt das Ellbogengelenk mit 27 Procent. — Die unteren Extremitäten weisen nur
5 Procent, der Stamm mit dem Kopf (Unterkiefer) 2"8 Procent auf.
Die Gewalteinwirkungen, wodurch Verrenkungen herbeigeführt
werden, classificiren war bei den Knochenbrüchen in äussere und
innere (Muskelwirkung) und dann wieder in directe, unmittelbar
am Gelenk angreifende und in in directe, mittelbar aufs Gelenk
wirkende Gewalten.
Nur selten und viel seltener als Knochenbrüche entstehen Ver-
renkungen durch directe äussere Gewalt ein Wirkung. So kommt es
vor, dass eine von vorn wirkende Gewalt (Stoss, Schlag) den Kopf
des Humerus direct aus der Pfanne heraus, nach hinten schiebt.
Gewöhnlich wirkt die Gewalt entfernt vom Gelenk ein und überträgt auf das
Glied entweder eine Bewegung, die der Mechanismus des betreffenden Gelenkes nicht
gestattet, z. B. seitliche Bewegungen in Ginglymusgelenken, im Ellbogengelenk. Die
diese Bewegung hindernden Kapseltheile, z. B. ein Seiteiiband, werden zerrissen und
indem die Gewalt weiter einwirkt, kann sie nun die Gelenkkörper, deren Verbindung
gelockert oder zum Theil aufgehoben ist, von einander entfernen. Oder eine im Gelenk-
mechanismus an sich gestattete Bewegung wird durch die Gewalt über die normalen
Grenzen des Gelenkes, über die Hemmungen in Knociien oder Bändern hinausgeführt —
übermässige Streckungen, Beugungen, Drehungen u. A. m. Auch hier werden zunächst
die Bänder und die Kapsel an der entgegengesetzten Seite zenissen und dann die
Ivnochen übereinander und von einander weggeschoben.
Eine sehr häufige Entstehnngsweiso von Luxationen ist, dass der Kopf von der
Pfanne weggehebelt wird. Sie i.st typisch für eine grosse Anzahl SchultiTverreii-
kungen. Der Arm wird im Schultergelenk erhoben, bis der Humeruskopf mit seiner
Tuberkelpartie an das Akromion anstösst. Wirkt die Gewalt in dieser Richtung weiter,
so stemmt .sich der Kopf fest an"s Akromion an, dieses bildet einen Unterstützungspunkt,
ein Hypomochlion eines zweiarmigen Hebels, dessen kurzer Arm der Kopf, dessen langer
458 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Arm der übrige Theil des Humenis von den Tubercula bis zum unteren Gelenkende
bildet. An diesem langen Arm wird der Humeruskoi>f herausgehebelt aus der Pfanne
und der Kopf durch die Kapsel, am vorderen oder hinteren unteren Theil derselben
hindurchgestossen. — Ein anderesmal kann sich der Knochen um einen anderen
ünterstützungspunkt drehen, der durch, im betreffenden Moment contrahirte Muskeln
gegeben ist. Hier kann äussere Gewalt und innerer Muskelzug zusammenwirken. So
ist oft der Oberarm in der Gegend des Ansatzes des Mm. pectoralis maj. und latissimus
dorsi gegen den Leib angezogen gehalten. Wird nun der untere Theil des Armes durch
eine äussere Gewalt vom Leib abgehoben, so dreht sich der Knochen um die Ansatz-
stelle der Muskeln und der obere Theil wird aus der Pfanne herausgehebelt.
Oder es wird dem betreffenden Theil, z B. dem Oberarm, durch übermässige
Muskelaction eine sehr weitgehende Bewegung ertheilt. — Wird diese nicht zur richtigen
Zeit gehemmt, z. B. durch Auftreffen der Hand auf ein bestimmtes Ziel, einen bestimmten
Widerstand, so kann auch der Humeruskopf aus der Pfanne herausgeschleudert werden.
So hat man beim Schlagen der Tiefquart, namentlich wenn sie nicht parirt ist, Schulter-
luxation beobachtet; in diesem Fall ist also allein die Muskelaction die Ursache ge-
wesen. Verrenkungen durch Mus'kelthätigkeit finden sich übrigens häufiger bei gewissen
pathologischen Zuständen, wo heftige ungeordnete, vom Willen unabhängige Muskel-
zusammenziehungen erfolgen, als bei gewollten Bewegungen : bei allen Krampfzustän-
den — hysterischen, epileptischen, eklamptischen, urämischen Krämpfen, dann bei Tetanus,
Strychninvergiftung u. A. m. — Bei anderen Gelenken sind die Entstehungsmechanismen
der Verrenkungen verschieden ; lassen sich doch aber mutatis mutandis auf diese Grund-
typen zurückführen.
Benannt werden die Luxationen in der Weise, dass man den
peripheren Knochen als den liixirten bezeichnet — also eine
Verrenkung im Schultergelenk heisst eine Verrenkung- des Oberarmes
gegen das Schulterblatt; im Ellbogengelenk eine Verrenkung des
Vorderarmes gegen den Oberarm. — Doch spricht man auch von Ver-
renkungen im Schulter-, Hüft-, Ellbogengelenk u. s. w. — Nur beim
Schulterblatt macht der Gebrauch eine Ausnahme ; man spricht nicht
von Verrenkungen des Schulterblattes gegen das Schlüsselbein, wie es
logisch richtig wäre, sondern von Verrenkungen des Schlüsselbeines
am äusseren Ende, d. h. gegen das Schulterblatt. Bei Wirbelver-
renkungen gilt der obere als der verrenkte. Auch luxiren die Rippen
gegen das Brustbein, nicht umgekehrt.
Damit der Kopf die Pfanne verlassen kann, muss, bei normalem
Gelenk, die Kapsel zerrissen werden. Dieselbe wird über dem an-
drängenden Kopf gedehnt und zerplatzt. Der Kapsel riss, in erster
Linie von der Richtung der Gewalt abhängig, bevorzugt doch die
dünnen Stellen der Gelenkkapsel; sehr widerstandsfähige Stellen der-
selben, namentlich wo starke Bänder angebracht sind, z. B, das Lig.
ileofemorale sive Bertini werden nur bei ganz exorbitanter Gewaltein-
wirkung zerrissen. Und auch dann wird in den meisten Fällen eher
das Stück Knochen, wo das Band (oder ein Muskel) ansetzt, abgerissen,
als das Band zerrissen. So bricht eher die Spitze des Malleolus internus,
als dass das Lig. deltoides abreisst. Am häufigsten ist der Kapselriss
ein Längsspalt, und der Kopf sieht wie ein Knopf aus dem Knopfloch
heraus. Anderemale ist die Kapsel nicht nur der Länge nach ein-
gerissen, sie ist auch ein Stück weit an ihrem Ansatz abgerissen und
der Riss hat die Form eines L oder ±. Wieder anderemale ist es
ein Querspalt, der die Kapsel auf eine ziemliche Strecke von ihrer
Ansatzstelle trennt, selten handelt es sich um eine ringförmige Ab-
trennung.
Nur im Kiefergelenk erfolgen die Luxationen ohne Kapselriss, da die Kapsel ge-
nügenden Spielraum zur „Abwickelung" der Gelenkflächen von einander darbietet.
Anatomie der Verrenkungen.
459
Ist nun der Kopf aus der Kapsel ausgetreten, so bohrt er sieh
in die umgebenden Weich theile, meist die Muskeln, ein (siehe Fig. 398),
in der Richtung der austreibenden Gewalt. — Diese Stellung, die er
unmittelbar durch die Gewalteinwirkung angewiesen bekommt, nennen
wir die primäre Stellung des Kopfes. Er bleibt aber meist nicht
in derselben stehen, allerlei Momente sind im Stande, seine Lage weiter
zu ändern. Zunächst die Schwere, So steht der Arm z. B. unmittelbar
nach dem Austritt des Humeruskopfes aus dem Schultergelenk in die
Achselhöhle meist stark vom Leibe abducirt oder gar senkrecht nach
oben erhoben (Luxatio erecta). Naturgemäss wird derselbe, der
Fig. 398.
Schwere folgend, allmählich so weit als möglich an den Leib hcra1)sinken
und damit muss sich die Stellung des Kopfes ändern. — Oder der
Kranke will das betreffende Glied bewegen und die Muskelaction drängt
den Kopf in eine neue secundäre Stellung. So tritt der Humerus-
kopf später, indem der Arm gegen den Leib herabsinkt, aus der
Achselhöhle unter den Pioc. coracoideus; die Luxatio axillaris wird
zur subcoracoidea. Schliesslich sind es oft Versuche, die Luxation ein-
zurichten, die den Kopf, statt ihn in die Pfanne zurückzuführen, weiter
disloc'iren.
Die Stellung des K()])fes dient zur Boiennung der Luxa-
tion. Ist der Kopf aus dem Schultcrgelenk ausgetreten nach vorn
(Luxatio humeri anterior) oder nach hinten (posterior) und unterhalb
460 ^^^- Capitel. — Krankheiten der Kj'oclien und Gelouke.
des Proc. coracoideus oder dem Sclilüsselbein zu fühlen, so hat man
eine Luxatio humeri (anterior) subcoracoidea, Bubclavicuiaris. Im Hüft-
gelenk eine Lux. femoris iliaca, ischiadica u. s, w., eine Lux. cubiti
anterior, posterior, lateralis; eine Luxatio manus volaris und dorsalis
u. s. w.
Das Verhalten von Knochen und Weichtheilen wird aus Fig. 398 deutlich
— a der nach der Achselhöhle dislocirte Kopf , b die leere Pfanne des Schulter-
blattes, i Stücke der zerrissenen Kapsel. Aus dem M. pectoralis major Ck,lc) ist ein
grosses Fenster ausgeschnitten, um die Gegend zugänglich zu machen ; der Muse, pec-
toralis minor (f) ist bei Seite gezogen, g Caput breve M. bicipitis, dessen langer Kopf,
oder vielmehr dessen mit der Gelenkkapsel verbundene Sehne mit dem Kopf zusammen
dislocirt ist ; l Serratus anticus major. Der Kopf a ist zwischen die Gefässe und Nerven
der Achselhöhle hineingetrieben. Arteria axillaris (c) mit A. subcapillaris (e), Vena
axillaris (d) und Plexus axillaris (h). Dass in diesen verzogenen und gedrückten Ge-
fässen und Nerven Blutbewegung und Nervenleitung gestört und geschädigt sind, zeigt
die bildliche Darstellung unmittelbar.
Bei Luxationen ist der Kopf in seiner neuen Stellung gewöhnlich
ziemlich fest fixirt, durch Spannung der Muskeln und der erhaltenen
Bänder und Kapseltheile. Nur in den seltensten Fällen sind auch die
stärkeren Kapselpartien oder gar die ganze Kapsel abgerissen. Solche
Luxationen, die man mit Bigelow irreguläre oder atypische Luxa-
tionen nennen kann, zeigen oft grosse Beweglichkeit des Kopfes; zu
ihrem Zustandekommen gehören aber so kolossale Gewalteinwirkungen,
dass neben den übrigen schweren Verletzungen die Luxation häufig
sehr in den Hintergrund tritt.
Bei den gewöhnlichen Luxationen resultirt aus der Feststellung
durch übermässig gespannte Bänder und Muskeln die als charakte-
ristisch für Luxationen angegebene „federnde Fixation" des betreffen-
den Gliedes , dass das Glied , z. B. der Arm , der vom Rumpf ab-
ducirt gehalten wird, nach jedem Versuch, ihn an den Leib anzulegen,
in seine alte pathologische Lage zurückfedert — im Gegensatz zu den
Knochenbrüchen, wo die Fragmente meist leicht beweglich sind.
Die feste Fixation des Kopfes ist auch die Ursache der für
Luxation charakteristischen, ungemein heftigen, andauernden und quälen-
den Schmerzen.
Bald drückt der Kopf unmittelbar auf die Nerven — so der
Humeruskopf auf die Nerven des Plexus axillaris (siehe Fig. 398).
Oder diese sind über einen Gelenktheil straff weggespannt , z. B. bei
Ellbogenluxationen über die Pars condyloidea des Humerus. Auch die
Circulation in dem betreffenden Gliede kann in dieser selben Weise
in hohem Grade gestört werden. So stellt bei Schulterluxationen sich
sehr bald Oedem des Armes und selbst Cyanose ein. Bei Kniever-
renkungen kann es sogar zur Gangrän des peripheren Theils kommen,
indem die Art. poplitea so straff über den hintern Rand der dislocirten
Tibia weggespannt ist, dass kein Tropfen Blut mehr durch kann. In
den schlimmsten Fällen sind Gefässe und Nerven nicht nur durch den
austretenden Kopf gedrückt, sondern völlig zerrissen worden. Hier sind
natürlich die schwersten Folgen für das Leben des verletzten Gliedes
unausbleiblich.
Für die Diagnose der Luxation legen wir, wie bei den
Knochenbrüchen auf die subjectiven Symptome, die eigenen Be-
obachtungen und Empfindungen des Verletzten weniger Werth. Manche
Kranken geben an, gefühlt zuhaben, wie „die Kugel herausschlüpfte" ;
Diagnose der Verrenkungen. 461
dann klagen sie anhaltenden heftigen Schmerz, namentlich oft kehren
die Klagen über Taubheit, Ameisenkriechen, Kälte in den peripheren
Theilen wieder. Ferner ist natürlich die Gebrauchsfähigkeit in hohem
Grade gestört, meist ganz aufgehoben.
Unter den objectiven Zeichen ist das wichtigste Zeichen der
Nachweis der Leere der Pfanne und des Kopfes an anderer
Stelle. Hier ein Zuviel, dort ein Zuwenig. Bald ist mehr das eine,
bald das andere Symptom der Erkenntniss zugänglicher. So genügt beim
Schultergelenk oft schon der Anblick der fehlenden Schulterwölbung,
um das Leersein der Pfanne zu erkennen und ein Griff unter das
Akroraion bestätigt die Diagnose sofort. — Siehe Fig. 399, Luxatio
humeri subcoracoidea (nach Albert) — die Abflachung der Schulter,
die Grube unter dem Akromion und die Vorwölbung unter dem Proc.
corac. sind charakteristisch. Auch der Kopf sieht oder fühlt sich leicht
durch, wenn er nicht, wie in seltenen Fällen, zwischen die Rippen ein-
getrieben und so der Wahrnehmung entrückt ist. Beim Hüftgelenk macht
es schon geringe Schwellung unmöglich, das Leersein der Pfanne zu
fühlen, dagegen ist der Schenkelkopf meist deutlich an anomaler Stelle
zu entdecken , ein anderesmal ist auch er durch Weichtheile und
Schwellung überdeckt.
Ferner ist auf die veränderte Stellung des Gliedes zu
achten und hiebe! besonders der Axenverlauf des Glieds zu berück-
sichtigen. Folgt man auf der gesunden Seite der Axe des Oberarms oder
des Oberschenkels vom Ellbogen oder Knie nach aufwärts, so führt die
Verlängerung derselben gerade auf das Schulter- oder Hüftgelenk zu;
bei Luxation dagegen am Gelenk vorbei an die Stelle , wo genaues
Untersuchen dann meist den Kopf entdeckt — Proc. coracoideus, Fossa
iliaca. (Siehe Fig. 399 und Fig. 402.) Genau zu wissen, wo der Kopf
steht, ist natürlich für die Behandlung, die Zurückführung desselben
in's Gelenk, höchst wichtig. Die abnorme Stellung bietet bei Luxation
insofern noch eine besondere Eigenthümlichkeit, als das Glied in der
falschen Stellung federnd fixirt ist (siehe oben) und bei jedem
Versuch, dem Glied eine andere Lage zu geben, in diese Stellung
zurückschnellt. Bei Fracturen ist die falsche Stellung — von einge-
keilten Fracturen abgesehen — bekanntlich nicht fixirt, im Gegen-
theil, es ist meist sehr leicht, Stellungsveränderungen vorzunehmen.
Zur Inspection und Palpation tritt nun noch die genaue Messung;
doch gibt diese selten die Entscheidung, denn bei Luxationen kommt
sowohl Verlängerung als Verkürzung und gleiches Mass beider Seiten
vor. Die Fiinctionsstörungen sind bei Luxationen, so lange sie frisch
sind, häufig stärker als bei Brüchen; ebenso die Schmerzen, die auch
andei'cr Art sind (siehe oben), meist nach der Peripherie ausstrahlend.
Der Bluterguss ist bei manchen Luxationen unbedeutend und kommt
oft erst am 2. oder 3. Tage aus der Tiefe an die Oberfläche.
So kinderleiclit manche Verrenkungen zu diagnosticiren sind, so schwierig ist in
anderen Fällen die differentielle Diagnose. Von V erstau ch ung die Verrenkung
zu unterscheiden, wird meist keine Mühe machen, das gegenseitige Verhältniss der Gelenk-
körper ist nicht geändert, eine Fixation in falscher Stellung nicht vorhanden. — Schwie-
riger ist oft die Abtrennung von Brüchen in der Nähe der G elenk en den und
Epiphysenlösungen, z. B. am oberen Ende des Humerus. Das obere Ende des Schaftes
stellt sich bei Brüchen mit Vorliebe unter den Processus coracoideus, wo ja auch der
verrenkte Öchulterkopf so häufig steht. 3Ian findet au dieser Stelle einen harten Körper
462
VII. Capitel. — Krankheiten der Knocljen und Gelenke.
und ist geneigt, den häufigsten Fall anzunehmen, eine Luxatio huincri subcoracoidea. —
Die weitere Untersuchung klärt jedoch den Irrthum auf. Man greift untor's Akromion,
die Pfanne ist nicht leer, sondern der Kopf an seinem richtigen Platze. Man misst
und findet eine erhebliche Verkürzung ; auch ist der Arm keineswegs fixirt, ein massiger
Fig. 399.
Zug bringt ihn an seinen früheren Ort, vielleicht unter Crepitation und die Verkürzung
ist ausgeglichen. Lässt man mit dem Zuge nach, so gleitet der gebrochene Knochen so-
fort in seine Lage unterhalb des Proc. coracoideus zurück. Es ist gerade dieses Ver-
halten ein überaus wichtiges diagnostisches Merkmal zwischen Fractur und Luxation. —
Bei Fracturen gelingt es meist sehr leicht, die Dislocation durch Zug zu beseitigen und
die normale Form und Haltung herbeizuführen. Sofort mit dem Nachlassen des Zuges
Behandlung der Verrenkungen. 463
stellt sich jedoch die falsche Stellung wieder her. Bei Luxationen ist gerade das Gegen-
theil der Fall. Hier gelingt es nur sehr schwer — und meist nur durch complicir-
tere Bewegungen — die normale Lage der Knochen wieder herbeizuführen. Ist sie aber
einmal erzielt, dann stellt sich auch die Dislocation nicht so leicht wieder ein.
Ein anderesmal findet man unterhalb des Akromion eine Delle, man glaubt
Leerheit der Schultei-pfanne und damit eine Luxation annehmen zu müssen, oder weun
man nicht ganz so tief eingreifen kann, wie sonst bei Luxatio humeri, an eine unvoll-
ständige Luxation, vielleicht nach der Achselhöhle hin. Man wird noch bestärkt in
dieser Auffassung, denn die Entfernung von der Spitze des Akromion zum Epicondylus
externus humeri ist vergrössert. Man hat also eine Verlängerung wie bei Luxatio axil-
laris ; dazu steht der Arm etwas vom Leibe ab. In der Achselhöhle ist ein knöcherner
Tumor zu fühlen, der sich aber doch nicht so scharf wie der freie Humeruskopf anfühlt.
Aber es fehlt die federnde Feststellung des Oberarms, und wenn man nun den Arm
mühelos in die Höhe schiebt, so stellt sich sofort die Wölbung der Schulter wieder her
und zugleich fühlt man Crepitation. Sofort, nachdem man losgelassen, sinkt der Arm
wieder herab in die alte Stellung — es ist eine Fractur des Schulterblatthalses, der
mit sammt dem Oberarm • — der Schwere folgend — herabsinkt.
Aehnliche Schwierigkeiten der Diag-nose findet man bei Gelenk-
brüchen, denn oft verschiebt sich das abgebrochene Stück des Gelenk-
theiles zusammen mit dem peripheren Theil des Gliedes, so z. B, der
R-adius mit der abgebrochenen Eminentia capitata humeri und die
Stellung ist dann einer Luxation des Radius sehr ähnlich. Bei Fracturen
hat man meist die grössere Beweglichkeit und der Nachweis von Cre-
pitation dient der Diagnose. Ist aber dabei ein grosser Bluterguss in
und um's Gelenk, so kann die Diagnose fast unmöglich werden.
Oft sind jedoch Brüche an den Gelenktheilen mehr zufällige Be-
gleiter der Verrenkung und diese ist die Hauptsache. So brechen bei
Schulterverrenkungen die Tubercula humeri ab. Man hat dann bei
einer scheinbar typischen Schulter-Luxation Crepitation,
namentlich bei Rotation. Oder bei Luxationen im Fussgelenk bricht
ein Knöchel ab. Auch diese scheinbar wenig bedeutsamen Nebenver-
letzungen dürfen nicht übersehen werden; sie trüben die Prognose,
bezüglich der späteren Gebrauchsfähigkeit wesentlich, besonders bei
älteren Leuten.
Die Complication schwerer Gelenkbrüche mit Verrenkung im be-
troffenen Gelenk ist meist die Folge sehr heftiger Gewalteinwirkungen.
Die Verletzung, auch der Weichtheile, der Bluterguss, die Circulations-
störung sind beträchtlich. Eine genaue Diagnose ist dadurch meist
schwer, die Prognose eine trübe. Oft ist Narkose zur Diagnose nöthig,
die auch für die Einrichtung nothig wird. Dass auch hier die Durch-
leuchtung mit Roentgenstrahlen die Diagnose oft sehr fördert, ist selbst-
verständlich.
Für die Behandlung ist die Hauptaufgabe die Einrichtung
der Verrenkung, die Reposition oder Reduction des ausgetre-
tenen Gelenkkörpers in die Gelenkhöhle. Hier gilt als erste Regel der
Grundsatz — dass der Kopf auf demselben Wege in die Ge-
lenkhöhle zurückgeführt werden muss, auf dem er ausge-
treten ist. Das ist sehr häufig leichter gesagt, als gethan. Die Fest-
stellung des Austrittsmechanismus ist oft sehr schwierig.
Aus den Angaben der Patienten ist selten Viel zu entnehmen.
Zudem findet man den Kopf fast nie mehr in der Primärstellung
(s. obenj. So Ijleibt gewJ'dmlieh nichts übrig, als die für jede Luxations-
form erprobten X'erfahrcn duichzuprobiren und dabei von den ein-
fachsten und leichtesten zu den complicirtcren überzugehen.
464
Vir. Capitel. — Krankheiton der Knochen und Gelenke.
Im grossen Ganzen handelt es sich meist darum — zuerst den
Kopf aus seiner neuen Lage frei zu machen. So leicht dies oft bei
frischen Verrenkungen ist, so schwierig kann es bei veralteten Ver-
renkungen sein, wo eine längere Frist — Wochen bis Monate — ver-
flossen ist, und der Kopf durch straffes neugebildetes Bindegewebe in
seinem abnormen Lager fest angelöthet ist. Zum Freimachen des Kopfes
bedienen wir uns drehender (Rotations-) Bewegungen und — namentlich
bei nicht mehr frischen Fällen — des Zuges (Extensionsmethodenj. Manch-
mal hört man die Adhäsionen unter deutlichem Krachen zerreissen.
Dann sucht man den Kopf der Pfanne gegenüber zu stellen, meist
auch durch hebelnde Bewegungen,
wobei
sich
man sicn eines möglichst
langen Hebelarmes bedient — den
Arm am Ellbogen, den Femur am
Knie u. s. w. anfasst. Schlüpft der
Kopf nicht schon bei dieser Bewe-
gung — die oft mit einem gewissen
Schwung zu machen ist (Werfen des
Armes), in die Pfanne, so kann
dies noch durch unmittelbaren Druck
auf den Kopf in der Richtung der
Pfanne, directes Hineinschieben in
das Gelenk seitens eines Assistenten
unterstützt werden. Selbstverständlich
Fig. 400.
ist der Knochen, gegen den die Luxation erfolgt ist (Schulterblatt,
Becken), in schwereren Fällen durch einen Assistenten zu flxiren
(s. Fig. 400, Einrichtung einer Luxatio cubiti posterior).
Dass die Einrichtung gelungen, erkennt man bei frischen
Luxationen oft an einem deutlich hörbaren Schnappen; die normale
Form des Gelenkes, die Contouren der Muskeln, der Verlauf von Haut-
falten ist wieder hergestellt und auch die Function ist sofort wieder
eine annähernd normale ; Bewegungen im Gelenk sind activ und passiv
leicht und glatt auszuführen.
Die Retention ist bei eingerichteten Luxationen meist sehr ein-
fasch; ein Tragetuch (Mitella) bei Schulterluxationen, ein Handtuch
Einrichtung der Ven'enkungen. 465
um die Knie bei Hüftverrenkung', ein leichter Schienenverband und
ein Nichtgebrauch des Gelenkes von 1 — -2 Wochen genügt meist. Zweck-
mässig ist Massage (vorsichtig-, von 2 — 3 Tag* an, zunächst nur Streich-
massage).
Leichte spielende Bewegungen erreichen selbst bei nicht chloro-
formirten Patienten mehr, als derbes gewaltsames Herumzerreu. Oft
genügt einfacher Zug (hintere Ellbogen- und Schultergelenksluxationen)
oder leichte Hebelbewegungen ohne Assistenz, Veraltete Luxationen
verlangen zur Loslösung der Adhäsionen mehr Kraft, doch ist es selbst
bei genügender Vorsicht vorgekommen, dass bei den nöthigen Rotations-
bewegungen statt der Lösung der Adhäsionen der chirurgische Hals
des Oberarmes (vermuthlich durch Nichtgebrauch atrophisch geworden)
abbrach. Wenn es soweit gekommen ist, dass vier am Vorderarm vor-
gespannte Assistenten den Arm im Ellbogengelenk ganz ausrissen, so
kann man solche Rohheit nur bedauern.
Andere Male bedarf es oft vieler Mühe und complicirter Griffe,
so z. B. gerade bei der Ellbogenluxation oft starker Ueberstreckung,
dann Extension, schliesslich kräftiger Beugung, wozu manchmal eigene
Schlingen u. s. f. ganz praktisch sind (s. Fig. 400, Einrichtung einer
hinteren Ellbogenluxation nach Albert).
Der häufigste Grund, warum es bei Luxationen nicht geht, ist
active Muskelspannung wegen der starken Schmerzen. Sie wird
ausgeschaltet durch Narkose.
Bei Luxationen sind viele Chloroform-Unglücksfälle vorgekommen. Die Patienten,
meist Arbeiter und oft Trinker, müssen sehr tief chloroformirt werden, um die Muskel-
spannung ganz zu beseitigen. Halb narkotisirte — im Stadium excitationis — reponii'en
sich schlechter, als ganz Unbetäubte. Ich empfehle hiefür besonders die Morphium-
Atropin-Chloroformnarkose (s. pag. 243) , Aethernarkose gibt meist nicht die genügende
Muskelerschlaffung.
Die Narkose hilft meist auch die Spannung der erhaltenen
Kapseltheile, Bänder und Sehnen (s. Fig. 398) leichter überwinden.
Oft gelingt es wohl, den Kopf frei zu bekommen und der Pfanne
gegenüber zu stellen, aber er schlüpft nicht hinein, sondern gleitet so-
fort wieder ab. Hier ist entweder der Kapselriss zu klein, der
oft knopflochartig den Hals des Gelenktheiles unischliesst — ein paar
kräftige Tractionen oder Rotationen erweitern ihn. Oder es schiebt sich
etwas zwischen Kopf und Pfanne, es findet eine Interposition statt —
bald ist es die Kapsel, oder eine Sehne, z. B. die Bicepssehne (siehe
Fig. 398j, oder ein Muskel oder ein Stückchen Knochen — bei gleich-
zeitiger Gelenkfractur (ein Stückchen von der Cavitas glenoidea sca-
pulae oder das Tiiberculum maj. u. s. f.); hier helfen oft .schiebende
Bewegungen oder spielende Rotationen. Ist die Luxation schon alt und
sind die Theile verwachsen, z. B. der über die Cavitas glenoidalis
herübergespannte Theil der Kapsel mit der Pfannenfläche verlöthet, so
ist nicht viel zu machen, es ist dann keine Gelenkhöhle mehr da, in
die der Kopf zurückgeführt werden könnte. Die Luxation ist irre-
ponibel, d. h. ohne operativen Eingriff (s. pag. 466).
Je älter die Luxation ist, um so schlechter sind die Aussichten
für die Reposition, die deshalb stets sofort zu machen ist. Manciic
Luxation — z. B. gewisse Formen von Ellbogeniuxationen — sind
schon nach wenigen Wochen veraltet, d. h. irreponibel. Andere bleiben
lange reponibel. So sind Schulter- und Hüftverrenkungen noch nach
Landerer, AUg. chir. Pattologie u. Therapie. 2. Aufl. ^Q
4-6(5 VII. Gapitel. — Kraiiklieiton der Kiifjclion und Oolcnke.
1—2 Jahren mit Glück reponirt worden. Die Schwierigkeiten in der
Behandlung beruhen in der festen Anlöthung des Kopfes. Wo es iiir-ht
direct gelingt, die Adhäsionen zu lösen (in Narkose), kann mitunter
eine vorausgeschickte Behandlung mit Gewichtsextension fs. ])ag riOOff.)
und Massage die Einrichtung vorbereiten.
Kommt man mit allem dem nicht zum Ziel, so bleibt nur die
blutige Eröffnung und Reposition, die unter antiseptischen Cautelen
auch bei frischen Verrenkungen gute Resultate gibt {Schede, Lanfjenheeh's
Archiv, 43). Gelingt sie nicht, so bleibt nur die Resection des Kopfes
oder des ganzen Gelenkes. Frühzeitige Stell angsänderungen sind während
der Nachbehandlung nöthig, um Ankylose zu verhüten.
Sonstige Unfälle und Neben Verletzungen sind bei Luxationen
seltener als bei Brüchen. Allerdings sind Gefässe und Nerven auch
hier mancherlei Insulten ausgesetzt. Quetschungen der Gefässe, arte-
rieller und venöser, mit folgender Thrombose, oder subcutane Zerreis-
sungen mit Bildung von Hämatomen und Aneurysmen kommen nicht
nur unmittelbar bei der Verletzung vor; auch bei Repositionsversuchen
kann eine bindegewebig an falscher Stelle angelöthete Arterie abgerissen
werden (A. circumflexa humeri, selbst A. oder V. axillaris). Wie sehr
die Gefässe gefährdet sind, geht aus Fig. 398 hervor, wo der Humerus-
kopf denselben unmittelbar aufliegt. Diese Gefässverletzungen können
zur Gangrän des peripheren Theiles führen. Diese kann bei nicht
eingerichteter Luxation auch so entstehen, dass die Hauptarterie com-
primirt wird, z, B. die A. poplitea so straff über die hintere Kante der
Tibia — bei Luxation im Knie nach hinten — gespannt wird, dass
die Circulation unmöglich wird.
Auch die Nervenverletzungen können primäre sein, die im
Augenblick der Verletzung deutlich werden und durch diese bedingt
sind — Zerreissungen, Quetschungen, Erschütterungen und secundäre,
die erst allmählich — in Lähmungen motorischer und sensibler Art —
sich bemerklich machen. Oder der Nerv wird später von der neuen
Bindegewebswucherung eingeschlossen und, wenn diese schrumpft, com-
prirairt.
Auch IZwiselieugelenkknorpel — im Knie — können sicli verschieben. Der
Mechanismus ist noch nicht recht klar; kräftige Beugungen und Streckungen reponiren
sie meist.
Offene oder complicirte Luxationen sind seltene Verletzun-
gen. Aehnlich wie bei Durchstechungsfracturen zerreisst der Kopf
nicht blos die Kapsel, sondern dringt zwischen den übrigen Weichtheilen
bis zur Haut und durchbricht diese schlitzförmig, die sich oft knopfloch-
artig eng um ihn zusammenschliesst. Dadurch wird die Infection der
tiefen Theile oft vermieden und es gelingt, nach peinlichster Reinigung
der Umgebung und des vorliegenden Knochens und unter vorsichtigen
Einschnitten von Haut und Umgebung mit geknöpftem Messer, die
Luxation zu reponiren. Das Gelenk wird vorsichtig ausgewischt oder
mit dünner Sublimatlösung ausgeM'asehen und einige kurze Drains in
das. Gelenk eingeschoben (nicht durch dasselbe durchgezogen). Bleibt
die Sache aseptisch, so sind die Drains sobald als möglich zu ent-
fernen, bei unbedeutender Secretion schon beim ersten Verbandwechsel,
und frühzeitige passive Bewegungen auszuführen. Die Erfolge sind bei
aseptischem Verlauf vorzügliche.
Complicirte VeiTenkimgen. Gelenkwunclen.
467
Fig. 401.
Geht die Luxation bereits inficirt zu oder missglückt die Anti-
sepsis, so ist- bei sorgfältiger Desinfection, mit grossen, das Gelenk breit
eröffnenden Schnitten und ausgiebiger Drainage die Behandlung inticirter
Wunden (siehe pag. 283) einzuleiten. Wendet sich der Process nicht
rasch zum Bessern, sinkt die Temperatur niclit und tritt nicht, bei Hoch-
lagerung des Theiles, rasche Abschwellung ein, so ist die schleunige
Resection des Gelenkes (siehe pag. 264) mit grossen klaffenden Schnitten
nicht mehr zu umgehen, um noch Schlimmeres (Pyämie !) zu vermeiden.
Im äussersten Fall, wenn der Process central fortschreitet, kann Ampu-
tation in Frage kommen. Bei gleichzeitiger Zersplitterung der Knochen
oder starker offener Weichtheilverletzung kann schon primär Resection
oder Amputation angezeigt sein.
Im Gesagten ist auch die Behandlung offener Gelenk-
wnndeu enthalten. Ist die Wunde,
Stich- oder Hiebwunde, nur klein,
so wird die Diagnose durch das
bei Bewegungen verstärkte Aus-
fli essen der schleimigen Synovia
gestützt. Bei kleinen , nicht ver-
unreinigten Wunden genügt anti-
septische Reinigung der Wunde
und Einschieben eines Drains bis
ins Gelenk, im üebrigen Naht.
Sobald Infection sich offenbart,
sind die eben geschilderten ein-
greifenderen Verfahren geboten. Auf
die weiteren Erscheinungen der
nun sich entwickchiden eitrigen
Gelenkentzündung kommen wir bei
Geleukeiteruugen wieder zurück.
Gelingt die Reposition einer
Luxation nicht oder wird sie nicht
gemacht, weil die Diagnose nicht
gestellt war, so bildet sich an der
Stelle, wo der Kopf nun steht, ein
neues Gelenk (Nearthrose), und
das alte verödet.
Die makroskopischen Verhältnisse,
wie sie sich nun entwickeln, lassen sich aus
Fig. 401, einer nicht reponirten Luxatio praescapularis. erkennen. Von der Schulter-
pfanne (a) ist der Knorpel last ganz verschwunden, nur in den mittleren und unteren
Theilen sind noch Reste übrig geblieben. Der obere Theil ist raulv, wie eine gewöhnliche
Knochenfläche, die ganze Pars gienoidalis scajjulae ist verschmälert, an ihrer Vorder-
seite hat sich eine Schliimäche (b) gebildet, theils aus glattgeschlitlencm, elfenbein-
artigem comi)actem Knochen bestehend, zum Theil aber auch mit Knorpel bedeckt. —
Es ist hier niciit nur Knochen weggeschliffen, im hinteren Theil (d) hat Neuljildung
von Knochengewebe in (iestalt mehrerer Blättchen und Säulen stattgefunden, so dass hier
sich eine wirkliche pfannenartige Höhlung bildet. An der Unterfläche des Akromion hat
sich gleichfalls eine neue Gelenktläche (c) gebildet. Auch der Kopf verändert sich den
neuen Verhältnissen entsprechend ; hier z. B., da die Hebung des Armes ausgeschlossen ist,
nimmt er mehr Cylinderform an. Manche durch Luxation ganz druckfrei gewordene Gelenk-
kinper, wie das Cai)itulum radii. hypertrophiren zu langen, walzenförmigen Fortsätzen.
Mikroskopisch finden sich lUick- und Anbiidungsprocesse nebeneinander. Der
Gelenkknorpel vi-rwäch-st zum Tlieil mit der Synovialmembran und wird dann von jungem
30*
468 "^^I- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Bindegewebe über- und später durchwachsen (siehe pag. 455 bei Immobilisirung der
Gelenke).
An der Stelle neuen Druckes findet Knochenanbildung statt, indem sich osteoides
Gewebe bildet und verknöchert. Auch Knorpel bildet sich neu, doch kein echter Hyalin-
knorpel, sondern Knorpel mit unregelmässiger Grundsubstanz — Netz- und Faserknorpel.
Das neugebildete Bindegewebe zeigt eine Art paralleler Schichtung und gewinnt dadurch
das Ansehen einer Gelenkkapsel.
Ein solches neues Gelenk kann innerhalb gewisser Grenzen
leistungsfähig sein. Schmerz und Schwellung sind natürlich längst ver-
schwunden. Die nicht mehr gebrauchten Muskeln atrophiren binde-
gewebig.
Manche Luxationen neigen sehr zu Rückfällen. Es gibt Leute,
die sich ein Gelenk, namentlich das Schultergelenk, sechzig- bis hundert-
mal verrenken, bei geringster Gelegenheit. Die Ursache ist unvoll-
ständige Heilung einer ersten traumatischen Luxation. Bald ist wegen
nicht genügender Schonung der Kapselriss nicht geheilt, ein anderesmal
scheint eine Erweiterung der Kapsel vorzuliegen; so findet sich habi-
tuelle Luxation nach Humerusverrenkungen, wo die Tubercula humeri
abgerissen und nicht wieder angeheilt sind.
Zur Behandlung sind öftere subcutane, paraarticuläre Injectionen
von Jodtinctur empfohlen, doch ohne dauernden Erfolg. Ich habe zwei-
mal von einen Resectionsschnitt das Gelenk freigelegt, und die er-
vreiterte Kapsel durch Exeision verkleinert, mit gutem Erfolg; ebenso
Steinthal.
Auch willkürliche Luxationen kommen vor. Ich behandelte —
wegen anderen Leidens — einen stämmigen Arbeiter, der mit einer
kräftigen Einwärtsrollung und gleichzeitiger leichter Beugung den
Schenkelkopf auf die hintere Darmbeinfläche luxirte. Ein Ruck in ent-
gegengesetzter Richtung und der Kopf schlüpfte mit einem hörbaren
Schnappen in die Pfanne zurück. Meist sind keine Traumen voran-
gegangen und die Entstehungsweise ist unbekannt. Es scheinen Deh-
nungen der Kapsel vorzuliegen.
Spontane, secundäre, pathologische Luxationen sind
solche, wo die Verschiebung der Gelenkkörper weniger durch eine Ver-
letzung als durch eine abnorme Beschaffenheit des Gelenks bedingt ist.
Volkmann unterschied drei Gruppen — die Distensionsluxationen,
wo die Verschiebung der Gelenkkörper erfolgt durch Ausdehnung und
Ausweitung der Gelenkkapsel. Meist sind es seröse, seltener eiterige
Gelenkentzündungen, wo ein beträchtlicher Erguss die Kapsel ballonartig
auftreibt; es handelt sich meist um metastatische Processe bei schweren
Infectionskrankheiten — Pocken, Typhus, Scharlach, Masern, Diphtherie
u. s. f., auch bei Pyämie und fieberhaften Wochenbetten. Von chronischen
Krankheiten kommt tuberculöser Hydrops in Betracht. Eine ungeschickte
Bewegung hebelt den Kopf über den Pfannenrand weg; die bett-
lägerigen und meist benommenen Patienten merken nichts davon ; so
wird keine Reposition vorgenommen; wenn dann die Kranken auf-
stehen, ist der Kopf längst in der neuen Stellung festgewachsen. In
frischen Fällen kann die Reposition gelingen, in älteren (siehe Behand-
lung veralteter Luxationen) führt hin und wieder Gewichtsextension
zum Ziel, meist ist Gelenkschnitt oder Resection nöthig.
Die nach Muskellähmungen und Banderschlaffungen eintretenden
Dislocationen in den Gelenken sind seltener vollständige Verrenkungen,
Pathologische und angeborene Luxationen.
469
meist unvollständig-, „Subluxationen". Am bekanntesten ist das Herab-
sinken des Humeruskopfes bei Deltoideuslähmung.
Bei den Destructions-Luxationen sind die Gelenkkörper und
Kapselbänder so zerstört, dass die Gelenkflächen aneinander vorbei-
gleiten können. Die häufigste Ursache ist tuberculöse Zerstörung der
Gelenke (siehe dort). Bald ist vorwiegend die Kapsel zerstört und der
Kopf kann bei einer derben Bewegung plötzlich austreten, z. B. bei
der tuberculösen Spontanluxation im Hüftgelenk. Oder die Pfanne wird
(durch Druck und Schwund) ausgeweitet (siehe ebendaselbst) und der
Fig. 402.
\
GesUssform bei doppelseitiger congenitaler
Hüft Verrenkung.
Kopf aleitet in der erweiterten Pfanne nach oben — Pfannenwanderung.
Oder der Kopf kann so klein werden (Resorption), dass dadurch der
Schaft beweglicli wird. (Die tuberculöse Epiphysenlösung siehe ebenda.)
Sell)stverständlicli kfinnen alle drei Arten von Vcrändeningen neben-
einander bestehen und zugleich wirksam werden. Gewaltsame Repo-
sitiousversnchc sind zu widei'rathen ; alhuähliche Gowiclitsexteiision mit
folgendem tixirenden Verlnuid oder die Resection sind angezeigt. Xan
anderen Krankheiten konnnen Osteomyelitis und I'yämie in Betracht. —
Die Hpoud\k)listlies>is — das Abgleiten der Lendenwirbelsäule vom Kreuz-
bein in's Ijccken hinein — scheint eher traumatischer Natur zu sein.
470 ^^I- Capitel. — Kraiiklieiteii do' Kuodien und Gdeiike.
Bei den Deformations-Luxationen bandelt es sich nicht um
eiterige Zerstörung-, sondern um alimähliche Abschleifung der Gelenk-
flächen , wobei dann der Gelenkkopf ganz oder theilweise gegen die
Gelenkfläche sich verschieben kann. Sie kommt namentlich bei Arthritis
deformans vor (s. dort).
Bei den angeborenen Luxationen scheint es sich um eine
Hemmungsbildung der Pfanne zu handeln. Sie kommen besonders am
Hüftgelenk vor , und zwar vorzugsweise bei Mädchen. Die Ursache
der mangelhaften Entwicklung der Pfanne suchen die Einen (GrawHz)
in frühzeitigem Untergang des Y-Knorpels (des Wachsthumknorpels
der Pfanne). Andere (Roser) glauben, dass bei starker Adduction der
Beine (vor der Brust in Beugung gekreuzt) der ausweitende Druck des
Schenkel kopfes in der Pfanne fehle und so diese im Wachsthura zurück-
bleibe. Die Form des Gelenks gibt Fig. 402 nach Albert. An Schulter,
Ellbogen, Hand, Knie- und Fussgelenk sind gleichfalls angeborene Ver-
renkungen beobachtet (zum Theil bei auch sonst missbildeten Früchten).
Unblutige Einrichtungen (Lorenz) geben durchschnittlich bessere Erfolge
als die blutige Reposition (Hoffa). Häufig muss man sich mit Appa-
raten begnügen.
Schussverletzungen.
Entstehungsweise und Theorie der Schussverletzungen. — Weichtheilschüsse. —
Knochenschüsse. — Diagnose. — Behandlung. — Statistik.
Von den Kriegsverletzungen haben wir der Säbelwunden bereits
bei den Hieb- und Schnittwunden pag. 88 gedacht. Ebenso haben
Stichwunden, wie sie als Lanzen- oder Bajonnettstiche vorkommen,
schon pag. 90 Erwähnung gefunden. Die Verletzungen durch blanke
Waffen treten in den modernen Kriegen an Bedeutung immer mehr
zurück. Im Feldzug 1870/71 betrugen die Hiebwunden nur O'ßVo, die
Stichwunden l'o7o, darunter Bajonnettstichwunden 0'7°/o (v. Fetzer,
Rückblick, Deutsche Aerztezeitung, 1895).
Die Schussverletzungen kommen zustande durch Handfeuer-
waffen und grobes Geschütz. Von den Schussverletzungen waren
91"6Vo durch Gewehrprojectile, 8'4o/o durch Artilleriegeschosse bedingt.
Die Lehre von den Schussverletzungen ist im letzten Jahrzehnt
eine andere geworden durch die Fortschritte der Technik, die Ein-
führung des kleincalibrigen Infanteriegewehrs, des Stahlmantelgeschosses
statt des Weichbleigeschosses und des rauchschwachen Schiesspulvers
(aus Schiessbaumwolle etc.). Die Erfahrungen früherer Feldzüge werden
daher für künftige nicht durchaus giltig bleiben, um so weniger, als
die antiseptische und aseptische Wundbehandlung ihre Probe im Felde —
wenigstens in grossen Verhältnissen — noch nicht abgelegt hat.
Die neu eingeführten Stahlmantelgeschosse mit Bleikern sollen
vor dem bisherigen Weichbleigeschoss den Vorzug haben, dass sie am
(festen, knöchernen) Ziel sich nicht defqrmiren , d.h. nicht splittern
und durch die umhergestreuten Splitter explosive Wirkung ausüben.
Die Deformirung des Weichbleies wurde theils als mechanische Zer-
trümmerung (Reger) aufgefasst, wie der Stein au hartem Ziel zerspringt,
theils als Schmelzwirkung. Dass Blei weich wird beim Aufschlagen auf
Sclmäsveiietzuugen. Geseliosswii'kuug. 471
harte Ziele, dass die lebendige Kraft des Geschosses sich umsetzen
kann in Wärme, die ein Metall von niedrigem Schmelzpunkt weich
und formbar machen kann, ist nicht zu bezweifehi. Ich habe u. A. eine
Revolverkugel, die einen genauen Abguss einer Zahnalveole darstellt;
die Kugel war wie hineingeprägt in das Zahnfach.
Auch der Bleikern des Mantelgeschosses kann zum Schmelzen
kommen.
Das rauchschwache Pulver verleiht dem Stahlmantelgeschoss eine
sehr viel grössere lebendige Kraft, infolgedessen trägt es weiter, hat
eine gleichmässigere , rasantere Flugbahn (das Projectil „flattert"
weniger) und hat eine viel grössere Durchschlagskraft.
Das Mausergewehr trug etwa 3000 Meter bei einer Anfangsge-
schwindigkeit von etwa 500 Meter (pro Secunde), das Chassepotgewehr
etwa ebensoweit; die modernen Kleincalibergewehre sollen 5—6000 Meter
tragen. Während das alte Mausergewehr ein Caliber von 11 Mm. hatte, hat
das jetzige deutsche Magazingewehr ein Caliber von nur 7'9 Mm. und es
geht das Bestreben der deutschen, sowie fremder Armeeleitungen dahin,
das Caliber noch weiter auf 6-5, selbst auf 5 Cm. herabzudrlicken.
Die Durchschlagskraft des modernen Mantelgeschosses ist eine
enorme. Es geht auf eine Entfernung von 600 M. noch durch drei hinterein-
andergestellte Leichen hindurch (Demosthene). Selbst mit abgebrochener
Ladung geht es noch auf 2000 M. glatt durch den menschlichen Körper
hindurch 7p. Bruns). Es durchschlägt 60 Cm. dicke Holzplanken u. s. w.
WasserscMsse, wie sie oft die Selbstmörder verwendeu, wo statt der Kugel eine
Wasserscliicht zwischen zwei Pfropfen eingefügt wird, haben durch die Verdampfung
des Wassers und die dadurch entwickelten unter hohem Druck stehenden Gasmassen
fürchterliche explosive Wirkung. Bei Schüssen in den Mund wird gewöhnlich der Schädel
in tausend Fetzen zerrissen.
Auch die Form des Geschosses ist nicht ohne Einfluss. Die alten kugel-
förmigen Pi-ojectile wurden viel mehr durch den Widerstand der Luft beeinllusst, als
die modernen cylindrischen oder konischen , welche sich mit ihrem vorderen zuge-
spitzten Ende und vermöge der ihnen durch die Züge des Laufes ertheilteu Rotation
um ihre Längsaxe eine sehr gleichmässige Bahn durch die Luft bohren (.,rasante Flug-
bahn"). Ohne diese Eotation „flattern" die Geschosse namentlich glatter Gewehre hin
and her und können sich sogar in der Luft überschlagen und mit ihrer breiten Fläche
auftreffen.
Die Folgen der Schussverletzungen sind abhängig von der Be-
schaffenheit des Ziels. Je weicher das Ziel, um so grösser durch-
schnittlieh die Zerstörung und damit der Schusscanal. Kocher hat durch
treffliche Experimente erwiesen, dass, je mehr das Ziel in seinem Aggregat-
zustand sich dem Charakter der Flüssigkeit nähert, um so mehr sich
Seitenwirkungen des Geschosses geltend machen, die darauf
beruhen, dass der Druck sich nach den Gesetzen der Hydraulik nach
allen Richtungen hin glcichniässig fortsetzt. Diese „hydraulische Pressung"
macht sich namentlich geltend in mit weichem Inhalt gefüllten Ka|)seln,
wie Schädel und Knochen. Diese werden (»ft durch Schü.'^se fr»rmlich
zersi)rengt. Doch gilt diese Auffassung auch für weiche und wasser-
haltige Gewebe, wie die Muskeln.
Elastische Gewebe, wie die Haut, werden durch den Andrang
des Geschosses erst gedehnt, dann schliesslich nur mit einem Schlitz,
der kleiner ist als das Geschoss. durchri.sson.
Je härter das Ziel, um so eher wird die Kugel deformirt, um so
mehr kommt es zu umfänglichen Zerreissungen. Man bekommt des-
472 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
halb in den Weichtheilen viel mehr glatte röhrenförmige Schusscanäle ;
in den Knochen nur selten reine Lochschüsse , viel mehr ausgedehnte
Zersplitterungen.
Auch auf den Winkel, in dem das Geschoss auftrifft, kommt
es an. Trifft die Kugel rechtwinklig auf, so macht sie — selbst im
Knochen — meist glatte Lochschüsse. Schlägt sie unter einem stumpfen
Winkel auf, so folgen Zersplitterungen, oft auch förmliche Abreissungen
einzelner Theile.
Ganz besonders entscheidend aber ist die lebendige Kraft,
mit der das Projectil einwirkt; hiefür ist zunächst wichtig die
grössere oder kleinere Percussionskraft des Gewehres, Dann aber kommt
es hier namentlich auf die Entfernung an, aus der der Schuss abge-
geben ist. Je längeren Weg die Kugel beim Auftrefifen aufs Ziel bereits
zurückgelegt hat , um so mehr lebendige Kraft ist durch den Wider-
stand der Luft verzehrt , mit um so geringerer Kraft schlägt sie auf.
Man hat für das alte Weichbleigeschoss 4 Zonen unterschieden. Bei Schüssen
aus nächster Nähe (bis zu 20 Schritt) lässt sich meist eine glatte, der Grösse des
Projectils entsprechende Einschussöffnung beobachten; die Ausschussöffnung ist dagegen
um's Vielfache grösser; der Schusscanal ist ein Aveiter Trichter, dessen schmale Spitze
der Einschuss ist. Die Wirkung ist eine explosionsartige. Ob es sich hier um
hydraulische Pressung (Kochet^) oder Schmelzung (Busch) handelt, so dass die Kugel-
spUtter dann wie eine sich kegelförmig zerstreuende Schrotladung -wirkten, ist nicht
sicher erledigt. Man hat auch daran gedacht, dass der Kugel eine Schicht Luft voran-
gehe, welche innerhalb des Körpers dann explosiv wirke. Diese Ansicht ist dann in's
Gebiet der Fabel verwiesen. Doch hat in neuester Zeit Mach einen der Kugel voraus-
gehenden Luftwirbel auf dem Wege der Momentphotographie nachgewiesen.
Dann kommt als 2. Zone die der Loch eisenschüsse , wo das Projectil mit
intensiver lebendiger Kraft einwirkt. Diese Zone ging nach Langenbeck's Schätzungen
bis zu ungefähr 400 Schritt Entfernung. Die Kugel durchdringt vermöge ihrer hohen
Geschwindigkeit die Gewebe glatt und scharf, ohne die Umgebung wesentlich zu er-
schüttern oder zu zersplittern. Es entstehen AVunden , so scharfrandig , wie mit dem
Locheisen geschlagen.
In der 3. Zone, jenseits 400 Schritt, finden sich Schüsse mit mittlerer Ge-
schwindigkeit des Geschosses; oder solche, wo dieses unter einem stumpfen Winkel —
dann also nur mit einem Theil seiner lebendigen Kraft — einwirkt. Hier, wo die Bahn
des Geschosses nicht mehr eine so rasante ist, wo Seitenbewegungen, Flattern u. s. w.
regelmässig mitwirken , hat man grössere Zerstörungen mit unregelmässigen Schuss-
canälen , seitlichen Ablenkungen der Geschosse („Deviationen") durch Knochen oder
gespannte Fascien, Splitterungen durch seitliches oder tangentiales Auftreffen und bei
weichen Geschossen Deformirungen des Geschosses mit ihren Folgen, Zerreissungen,
Zerquetschungen und Zersplitterungen. In diese Zone fallen im Felde die meisten
Verletzungen.
In der letzten Zone, wo die lebendige Kraft des Geschosses im Erlöschen
ist, handelt es sich meist nur noch um stumpfe Quetschungen und Erschütterungen der
Gewebe, ohne wii'kliche Wunden. Das Geschoss ist matt und macht nur noch Prell-
schüsse. Geschosse, Avelche schon anderwärts aufgeschlagen (Mauern u. s. f.) und seit-
lich abgelenkt sind, machen auch oft (aber keineswegs immer) Prellungen (Ricochet-
schüsse).
Die Ergebnisse von P. Bt^uns (u. A. Langenbeck's Archiv, 44), die mit ..abge-
brochener" verringerter Pulverladung gewonnen waren, hatten zu der Annahme geführt,
dass das mit erheblich grösserer lebendiger Kraft wirkende Hartgeschoss (Mantel-
geschoss) mehr Lochschüsse mit engem Schusscanal ohne oder mit geringer Spreng-
Avirkung, dass es mehr einfache glatt heilende Schusscanäle mache und somit humaner
sei. Die neueren Untersuchungen von v. Coler, Kocher, Demosfene, Schjerning u. A.
haben diese Ansicht nicht bestätigt. Einige von mir beobachtete Schüsse aus nächster
Nähe (Selbstmörder) schienen durch ihre enge Ein- und Ausschussöffnung und glatte
Heilung die Bruns'sc\\& Ansicht zu bestätigen , ebenso fand Tharra (vergl. Chir.
Centralbl., 1895, Nr. 20) im chilenischen Bürgerkriege meist saubere glatte Schuss-
canäle; in den Ep:phj'sen oft reine Lochschüsse, sehr wenig Verletzungen der grossen
Verletzangen durch grobes (Tescliütz. 478
Arterien und selir wenig primäre und secundäre Blutungen. Aelnilich spricht sich
Bohoscieivicz aus (Wiener med. Presse. 1892, Nr. 35) über die Wirkungen des Mann-
lichergewehrs (8 Mm.) in der Nähe.
Nach Hahart (Wiener med. Presse, 1892, Nr. 29) sind auch beim Mannlicher-
gewehr 4 Zonen zu unterscheiden : die erste bie 500 M. mit explosiver Wirkung, die
zweite bis 1200 M. mit glattwandigen Lochschüssen, die dritte bis 1800 M. mit Split-
terung und Zerreissungen . die vierte bis 2600 M. mit Fissuren im Knochen oder
Erschütterung des Knochens, Weichtheilwunden u. dergl.
Die umfassendsten Studien über die Wirkung des modernen Kleincalibergewehres hat
^oc/«er angestellt (1895). Neben der Durchschlagswirkung (in der Richtung der Bewegung
des Geschosses) ist zu beachten die Seitenwirkung (senkrecht hierauf). Die Seitenwirkung,
die zur Sprengung führen kann, ist in ihrer Wirkung abhängig von der physikalischen
Beschaffenheit des Ziels; die Sprengung fehlt eigenilich nur bei elastischen Geweben.
Je härter und spröder, um so grösser die Sprengwirkung, die Splitterung. Doch erhält
man auch in sehr wasserhaltigen Zielen (Muskeln) Sprengwirkung. Die Deformation
des Geschosses ist zur Sprengwirkung ganz unnöthig. Jedeufalls ist ein nicht deformi-
rendes Geschoss hnraaner. Verstärkung des Mantels und Verkleinerung des Calibers
werden die Sprengwirkung weiter vermindern. — Kocher erhielt bei Schüssen in mit
Wasser gefüllte Granaten einen Druck im Wasser von 42(!) Atmosphären.
Die Verletzungen durch grobes Geschütz unterscheiden sich
in manchen Punkten von denen durch das Kleingewehr.
Die Granaten sind Hohlgeschossc aus gusseisernem Mantel, die.
mit Sprengladung gefüllt, in eine Anzahl Splitter zerspringen. Die
Shrapnels enthalten Bleikugeln, Sprengladung und Zünder; sie platzen
vor dem Feinde und überstreuen ihn mit Bleikugeln, deren Wirkung
der von Infanterjegcschossen analog ist. Kartätschen, von der Artillerie
beim Nahkampf abgegeben, streuen Zink- oder Eisenkugeln gegen den
Feind. Aehnlich wirken die Mitrailleusen.
Die Granatsplitter machen, schon wegen ihrer Grösse und unregel-
niässigen Form, umfangreichere und ungleichmässige Verletzungen. Matt
und breit aufschlagend, können sie, oft sogar ohne äussere Wunde,
den getroffenen Körpertheil zu Mus und Brei zerquetschen oder sie
reissen grosse, weite und buchtige Wunden oder trennen Glieder selbst
ganz ab. Im Ganzen kann man sagen, dass die Verletzungen durch
grobes Geschütz sich — wegen ausgedehnter tiefer und innerer Ver-
änderungen — meist schliesslich als schwerer herausstellen, als der
erste Eindruck glauben macht. Auch umfängliche Abwälzungen , z. B.
der Haut von der Fascie (Decollement) kommen vor (siehe pag. 97).
Schrotschüsse, wobei die aus kleinsten Kugeln bestehende Ladung
von der Mündung an kegelf<)rmig auseinandergestreut wird, machen
nur aus nächster Nähe (Selbstmörder) umfangreiche Zerstörungen.
Schon bei 20 Schritt Entfernung durchdringen sie kaum noch Kleidung
und Haut.
Von den \\'ciclithcil Verletzungen sind zunächst die der Haut
zu erwähnen.
Die Trell schlisse der Haut machen eine Quetschung mit Blut-
unterlaufung In schwereren Fällen kann es zu einem bedeutenden
subcutanen Blutcrguss kommen. Die geciuetschte Partie wird oft nekrotisch
und verfällt dann . wenn Infection durch aseptische Behandlung ver-
mieden wird, (lein irockenen Brand (Mumitication. siehe pag. 42). Nach
einigen Wocln-n löst sich der Schorf und eine, oft recht derbe Narbe
bleibt zurück. l'ritVt das Geschoss unter einem sehr stumpfen Winkel
oder tan":cntial auf. so entstehen St rc'l'sch iissc mit r in ncnfiirmigen
474 ^I^- Capitel. — KraiiklieitcH dej' Kiioclicu uiiil Gelenkt.
Wunden. Es können so auch Stücke ^-anz abgerissen werden oder
lappentormige Wunden (sielie pag-. 88j sich bihlen. Durclidringt das
Geschoss die Haut, so kann es einen unter der Haut hinhiufeiidcn Canal
bilden, der nicht in die Tiefe dringt, Haarseilschuss oder Ringel-,
Contourschuss , wenn der Schuss einen Knochen oder den Thorax,
Hals u. s. f. eine Strecke weit umkreist und dann die Kugel liegen
bleibt oder austritt.
In weitaus den meisten Fällen dringt die Kugel in die Tiefe und
tritt auf der andern Seite des Körpers wieder aus. Man hat einen
perforirenden Schusscanal mit Eingangs- und Ausgangs Öffnung.
Die Frage über die unterscheidenden MerkmalederEin-undAusgangsüffnung
ist viel erörtert worden. Sie ist für den Gericlitsarzt wichtiger als für den Militärarzt und die
Behandlung. Im Allgemeinen ist die Eingangsöffnung die grössere und mehr gequetscht,
während die Ausgangsöfihung kleiner und mehr eine Risswunde ist. An der Eintritts-
stelle wird die Haut gegen die Unterlage (Knochen, gespannte Fascie) contundirt ; am
Ausgang wird die Haut von der Kugel zeltförmig ausgestülpt und an der Spitze des
Kegels durchrissen. Ist die Kugel deformirt oder werden Knochenstücke mit heraus-
gerissen, so kann die Ausgangsöffnung auch eine grössere, uuregelmässige, oft stern-
förmige Eisswunde sein. Der Entstehungsweise entsprechend kann die Eingangsöffnung
vertieft, die Ausgangswunde kegelförmig ausgebuchtet sein. Bei Naheschüssen (Selbst-
mörder) ist die Umgebung des Einschusses verbrannt, geschwärzt oder sind gar Pulver-
körnchen eingetrieben.
Fehlt die Austrittsöfifnung, so spricht man von blinden Schuss-
canälen. Während ein solcher Canal das eine Mal ausser der Kugel
noch Fetzen der Kleidung, Montourstücke u. s. w. enthält, kann ein
anderes Mal die Kugel herausgefallen oder durch die nicht zerrissene,
nur eingestülpte Kleidung (bei matten Schüssen) wieder herausge-
zogen sein.
Hat der Schuss die Haut durchdrungen, so macht er oft im
lockeren Unterhautzellgewebe ziemlich ausgedehnte Zerreissungen,
selbst taschenartige Ablösungen (oder Haarseilschüsse). In die Fascien
tritt er meist mit sehr kleinem spaltförmigem Riss ein , den man oft
bei der Untersuchung mit dem Finger nur schwer findet. Im weichen
Muskel sind die Zerstörungen wieder umfänglicher, und wenn der
Muskel im Zustande der Contraction getroffen war, kann der Verlauf
des Canals ein sehr unregelmässiger, treppenförmiger, scheinbar unter-
brochener sein. Gefässe und Nerven können einer matten Kugel
ausweichen ; eine Kugel mit mittlerer lebendiger Kraft zerreisst sie,
indem es die Gefässwand zugleich quetscht und zusammenrollt , so
dass das Lumen zunächst verlegt wird. Dies ist auch der Grund,
warum die meisten Schusswunden zu Anfang so wenig bluten , weil
die Gefässlumina zugepresst werden. Selbstverständlich i^ann eine solche
Gefässwand später nekrotisch werden und dann die Blutung eintreten,
wenn nicht Verlöthung einstweilen eingetreten (secundäre Blutungen).
Die häufigsten Spätblutungen bei Schüssen beruhen aber auf Infection,
wo die verletzte Wand durch Mikroorganismen erweicht wird und die
grösste Zahl der Blutungen ist pyämischer Natur (siehe pag. 152). Kugeln
mit sehr grosser lebendiger Kraft (moderne Kleincaliberprojectile)
können Gefässe fast so scharf durchtrennen , wie ein Messer — hier
kann die Blutung dann enorm werden. Die Annahme Kocher's u. A.,
dass das Kleinkalibergeschoss vermöge seiner kolossalen Geschwindig-
keit die Arterien häufiger verletzen werde, weil sie ihm nicht mehr
ausweichen kiJnnen, steht mit den praktisclien Erfihnmgen (sielie pag. 472,
Weichtlieilschüsse. Kuoclienschüsse.
475
Fig. 403
Ybarm) nicht im Einklang'. Sehnen weichen meist den Kugeln aus
oder lenken sie ab; hin und wieder werden sie auch an der Insertion
abgerissen.
Erreicht das Geschoss den Knochen, so kann es zunächst bei
einer Knochenquetschung — mit oder ohne sichtbaren Eindruck
in der Rinde — bewenden. Dabei hat allerdings meist zugleich eine
Erschütterung des Knochens stattgefunden und das Mark ist von
grösseren oder kleineren Blutergüssen durchsetzt. Bei aseptischem Ver-
lauf kann die Sache mit einer geringfügigen Periostitis ossificans
traumatica, die einen kleinen Callus erzeugt, abgethan sein; kommt
Infection hinzu , so verfällt das durch die
Verletzung halb abgetödtete Knochenmark
sehr leicht der Infection , es folgt eine
schwere diffuse eitrige Osteomyelitis und
wenn der Eiter nicht zeitig x4.bfluss be-
kommt, kann das ganze Glied verloren
gehen (Amputation) oder gar das Leben
durch Pyämie bedroht sein.
Manchmal läuft die Kugel auch am
Knochen entlang und hinterlässt eine
Seh u SS rinne. Oder die Kugel dringt in
den Knochen ein, macht einen Lochschuss
und bleibt darin stecken (blinder Schuss-
canal). Meist gehen von der Einschuss-
ötiuung eine Anzahl Fissuren aus. Ein
solcher Fall (Lochschuss der Tibia) ist in
Fig. 403 abgebildet. Sehr hübsch sind die
in der Markhöhle eingedrückten Splitter
der Rinde zu sehen.
Ein anderes Mal macht die Kugel
einen penetrirenden Lochschuss ohne
Splitterung; ein glatter Canal durchsetzt
den Knochen.
In weitaus den meisten Fällen jedoch
gellt es bei Knocheiischüssen nicht ohne
ausgedehnte Fissuren und grössere oder
kleinere Splitterungen ab. Bald wird
durch die Kugel , namentlich wenn sie
seitlich aufschlägt, ein Stück vom Knochen
abgcsidittert (zum Beispiel ein Condylus),
ohne dass dabei die Continuität des Knochens unterbrochen wird.
Häutiger entsteht eine wirkliehe Aufhebung des Zusannnenhanges, eine
Schussfractur. Die Schussfracturen zeigen im grossen Ganzen den
Charakter complicirter Facturen (siehe i)ag. 443). Seltener handelt es
sich um einen einfachen (^nerbrncli. meist sind es Stück-, noch häufiger
Splitterbrüche, oft förmliche Zertriinnncrungen des ganzen getroffenen
Knochens. Die Verletzung der Weiclitlieile steht dabei oft gar nicht
im \erliältniss zu der des Knochens; ein einfacher riUn-enförmiger
Schusscanal der Weiclitlieile kann mit einer totalen Zersjilittening eines
ganzen Ritlircnkiiocliens verknüpft sein. Ebenso kann das Scli;i(h'l(lach
in liniidcrt Stücke zersprungen und dabei nur eine unbedeutende Haut-
476 V^I- Capitel. — Kranklieiten der Knoclieii und Gelenke.
wunde vorhanden sein. Doch kann es sich auch oft umgekehrt verhalten,
w^ie wir das schon bei den complicirten Fracturen pag. 446 crwälinten,
dass das Schicksal eines Gliedes oft mehr durch umfängliche Weichtheil-
verletzungen (Gefässe, Nerven, Gefahr der Gangrän) bedroht wird, als
durch den Zustand des Knochens.
Besonders schwer gestalten sich die Verhältnisse bei Gelenk-
schüssen. Zwar kann eine Kugel selbst durch's Kniegelenk (in Beugung)
in seltenen Fällen ohne Knochenverletzung schlüpfen. Meist aber ent-
stehen umfangreiche Zerstörungen und Absplitterungen an den Gelenk-
körpern. Natürlich kommt es sogleich zu einem Bluterguss in's Gelenk
und in vielen Fällen später auch zur Gelenkeiterung (s. complicirte Ge-
lenkfracturen (pag, 467) und Gelenkeiterungen).
Der Behandlung der Sehusswunden muss eine möglichst genaue
Diagnose zu Grunde liegen. Hier gilt jedoch als oberste Regel, an
einer frischen Schusswunde sowenig als möglich mit Finger
oder Sonde zu manipuliren. Man ist nur zu einer solchen Unter-
suchung berechtigt, wenn man einen weiteren Eingriif (Incision
einer Secretverhaltung u. dergl.) unmittelbar darauf zu gründen hat
oder wenn eine sichtbare Gefahr des Verletzten zum Eingreifen
drängt. Fehlen irgendwie bedrohliche Erscheinungen (Fieber, Eiterver-
haltung, beginnende Blutungen u. s. w.) , so ist die Sondirung ver-
boten. Eine Finger- oder Sondenuntersuchung ist als ein
verantwortungsvoller Eingriff anzusehen und selbstverständ-
lich nur unter allen antiseptischen Cautelen auszuführen.
Am besten schliesst man die etwa nöthige Operation sofort an. — Was
wir bei der Beurtheilung einer Schusswunde wissen möchten , ist zu-
nächst Verlauf des Schusscanals und Ausdehnung der Verletzungen
in der Tiefe und zweitens, ob Fremdkörper (Kugel, Kleidungsstücke)
im Schusscanal stecken. Die mit Recht verpönte Sondenuntersuchung
würde meist nur ein ungenügendes Resultat ergeben. Man kommt
in's Unterhautzellgewebe, aber — da der Schusscanal keine gleich-
massige Röhre ist — oft nicht durch den engen Fascienschlitz in die
Tiefe. Man hat so gut wie nichts erfahren, aber vielleicht die Wunde
beim Sondiren inficirt und den Kranken allen Gefahren der Infection
(Eiterung, Pyämie) ausgesetzt.
Wüsste man stets, in welcher Körperhaltung der Verletzte
den Schuss erhalten, so Hesse sich der oft ganz wunderbare Ver-
lauf des Schusses schon eher berechnen. Man muss stets daran denken,
dass ein Schuss im Liegen, in gebückter Stellung, im Anschlag, im
Stehen, ganz verschiedene Schusscanäle machen muss, bei gleicher
Einschussstelle (siehe pag. 89 bei Stichverletzungen).
Die Diagnose von Verletzungen innerer Organe — Gehirn,
Lunge, Herz, Eingeweide des Unterleibes u. s. f. — macht man ans der
Lage des Ein- und Ausschusses und den eintretenden Störungen seitens des
betreffenden Organs (Blutspucken, Athemnoth, Peritonitis, Blutharnen,
Dämpfnngserscheinungen der betreffenden Gegenden u. s w.) , wobei
man sich stets daran erinnern mnss , dass der wirkliche Schusscanal
keineswegs immer die geradlinige Verbindung von Ein- und Ausschuss
ist (Contourschüsse). Für die Erkennung von Knochenverletzungen, d. h.
Fracturen, gelten alle (pag. 423 ff.) mitgetheilten Normen.
Verlauf der Schusswuudeu. 477
Perforirende Schüsse, mit Ein- und Ausschuss , werden natürlich
seltener Fremdkörper enthalten, als blinde Schusscanäle. Doch auch
aus diesen kann das Projectil von selbst wieder ausgetreten sein. Wichtig
ist , sich die Kleidung des Verletzten genau anzusehen ; zeigt diese
nur schlitzförmige Löcher, so ist vermuthlich nichts davon in der
Wunde ; finden sich grössere Substanzverluste , so ist es eher wahr-
scheinlich, dass etwas von den Kleidern mit hineingerissen ist.
Für die Behandlung der Schusswunden ist das ^± und Cl
peinlichste Antisepsis. Im Uebrigen gilt die Regel: Nimmer zu viel.
Allzugrosse Geschäftigkeit würde dem Verletzten mehr schaden als nutzen.
Ueber den pathologiscli-anatomischen Charakter der Schusswaiiden ist viel ge-
stritten worden. Es ist bekannt, dass man bis Ambroise Pare die Schusswanden für
vergiftet hielt und mit kochendem Oel ausbrannte. Nachher rechnete man die Schuss-
wnnden zu den Brandwunden; heutzutage rechnet man die Schusswunden zu den
Eissquetschwunden und gelten für sie daher auch die pag. 95 aufgestellten Eegeln.
Der Verlauf der Wunde ist nun wesentlich von dem Grade der
Quetschung abhängig. Bei manchen Wunden ist sie so gering, dass sie
glatt , wie Schnittwunden , per primam intentionem heilen. Die ge-
quetschten Theile verfallen der Resorption , die ja auch die schmale
Quetschungsschicht bei Schnittwunden aufsaugt (siehe pag. 69). Bei
umfänglicheren Quetschungen kann natürlich Abstossung nicht ausbleiben,
doch darf es auch hier nicht zur Infection und zur Abstossung mit
Eiterung kommen, sondern nur zum aseptischen Brand und zur asep-
tischen Abstossung. Dies zu erreichen ist die Aufgabe des Arztes.
Nur ein Theil der Schusswunden — wo sehr viel Fremdkörper,
Kleidungsstücke, Erde u. s. f. darin sind ~ sind vom Anfang an als
inficirt zu betrachten, die Kugel selbst ist nicht als Infectionsträger
anzusehen. Die Wunden der Selbstmörder, welche die Pistole meist
auf die nackte Haut setzen, sind fast immer aseptisch. Es ist also
eine Desinfection des Schusscanals in seiner ganzen Länge durch forcirte
antiseptische Einspritzungen ebenso unnöthig wie aussichtslos (vergl.
pag. 209). Es genügt nach sorgfältiger Reinigung der Umgebung, die
Wunde mit einem dauerhaften Antisepticum zu decken, am besten mit
Jodoformpulver zu bestreuen und einen antiseptischen Deckverband —
Jodoform- oder Sublimatgaze — darüber gut zu befestigen. Ein beträcht-
licher Theil der Schusswunden heilt unter dem Schorf, glatt,
ohne weitere Störungen, im Verlauf von 4 — 6 Wochen. Ist der Schusscanal
weifer und der Verdacht auf einen Fremdkörper etc. vorhanden, so
schiebt man ein Drainrohr so weit ein, als es ohne Gewalt geht, und
verfährt im Uebrigen ebenso. Die Schusswunden zu nähen (Langcnbuch)
dürfte kaum Vortheile bieten ; der aseptische Occlusionsverband schützt
die Wunde so sicher wie die Naht und führt nicht zur Vcrhaltung von
Wundfilissigkeiten. c. Ben/tnaiiu und Bet/her haben im letzten russisch-
türkischen Krieg auch sehr gute Heilungen unter dem feuchten Blut-
schorf gesehen.
Die Extraction der Kugel unmittelbar nach der Verletzung ist
nur dann gestattet, wenn dieselbe ohne grösseren Eingriff und leicht
entfernt werden kann. Auf keinen Fall darf zu diesem Zweck
die Wunde der Gefaiir einer Infection ausgesetzt werden.
Aber auch in inficirten — z. B. mit Koth Ijeschmutzten Wunden darf
nicht umhergewühlt werden, um die Kugel zu suchen. In erster Linie
478 ^11- Capitel. — Krankheiteji der Knochen und Gelenke.
ist die Wunde aseptisch zu machen (ver^l. pa^'. 208 j. — Bliitung-en. die
übrigens bei Schuss wunden namentlich im Anfang nicht sehr liäufig
sind, verlangen Compression oder Unterbindung mit Freilegung des
Gefässes (siehe pag. 100). Fracturen müssen geschient und gelagert
werden (siehe pag. 434) u. s. w. Die Vorschriften über die Behandlung
innerer Verletzungen sind in der speciellen Chirurgie nachzusehen.
Der Schmerz ist bei Schussverletzungen im Anfang oft auffallend
gering. Im Gegen theil, es ist oft rings um die Schuss wunde herum ein
Bezirk , wo Schmerz- und Tastempfindung fast ganz aufgehoben sind
(„localer Wundstupor"). Bei Verletzungen von Nerven, Gelenken u. s. f.
kann eine Morphiuminjection nöthig werden. — Zustände von Shock
sind bei Schussverletzungen, namentlich bei solchen durch grobes Geschütz,
nicht selten (pag. 127 ff.).
Störungen des Wundverlaufes sind bei Schussverletzungen
überaus häufig. Diese sind seltener bei den Friedensverletzungen , die
von Anfang an in genügender Behandlung und guter Pflege sind und
meist glatt heilen, als bei den Kriegsverletzungen, wo in dem Gedränge
der Schlachten Mittel und Kräfte des ärztlichen Personals oft den auf
sie einstürmenden Anforderungen nicht gewachsen sind. Es sind im
Wesentlichen all diejenigen Störungen, die bei den Quetschwunden
pag. 96 ff. und den complicirten Fracturen pag. 443 geschildert sind.
Die Verletzung grosser Gefässe kann, wenn die gequetschte Ge-
fässwand nekrotisch wird, zu schweren Blutungen führen; oder es
kommt zur Thrombose der Gefässe und damit unter Umständen zur
Gangrän. — Häufig werden hartnäckige Oedeme beobachtet.
Die meisten Abweichungen von dem normalen Verlauf beruhen
auf Infection.
Zunächst kann — statt der Heilung unter dem Schorf, die die
ideale Heilungsweise der Schusswunde ist — Eiterung eintreten.
Beschränkt sich die Eiterung auf den Schusscanal, ohne dass die um-
gebenden Weichtheile wesentlich entzündet sind," so wird der Canal —
vielleicht nachdem einige necrotische Fascienfetzen u. dergl. abgestossen
sind, sich auch schliessen, aber statt in 4 — 6 Wochen in 3 — 4 Monaten.
Besteht die Eiterung längere Zeit fort, schiessen namentlich an der Fistel-
öffnung üppig wuchernde knopfförmig vorragende Granulationen an, so
kann man mit ziemlicher Gewjssheit annehmen, dass ein Fremd-
körper — Kugel, Kleidungsstück, ein Stück todter Knochen (Sequester)
darin steckt. Es können aber nicht blos Kugeln (namentlich Schrot- und.
Revolverkugeln) einheilen , auch Monturstücke heilen mitunter ein. So
konnte ich beobachten, wie ein Stück einer, allerdings fast neuen
Tuchhose in einer Wunde des Bauches neben der Blase (Duellver-
letzung) allmählich von Granulationen durch w^achsen wurde und einheilte.
Da der Fetzen leichtem Zug nicht folgte, Hess ich ihn sitzen, um nicht
etwa wichtige Verlöthungen zu zerreissen.
Die Annalime, dass die Kugel diu-cli die Hitze steril werde, ist widerlegt
(M. Fränhel, PfiM). Mit Staphylokokken inficirte Kugeln inficiren regelmässig die
Gelatine, die von ihnen durchschossen wird. Auf den menschlichen Körper lassen sich
diese Versuche jedoch nicht ohne Weiteres übertragen. M. Fränkel sah mit Staphylokokken
inficirte Stoffstückchen , Pfuhl Stücke von getragenen Soldatenkleidern reactionslos ein-
heilen. Zum Zustandekommen von Eiterung scheinen also grössere todte Winkel nöthig
zu sein. (Vergl. pag. 29 und pag. 30.) Nach Karlinshi (Centralbl. f. Bacteriol., 1895,
Nr. 4) soll das alte Weichblei mehr grössere Fetzen in die Wunde hineinreissen , das
Störungen der Heilung bei SchussAVundeii. 479
Mantelgeschoss den ganzen Schusscanal mit feinsten (zur Einheilung mehr geeigneten)
Fasern austapeziren. Die Vermuthung, dass Kleiderfetzen in die Wunde hereingerissen
sind, zwingt also nicht dazu, eine frische Schusswunde als inficirt anzusehen und zu
behandeln (d. h. zu erweitern). — Bleivergiftung durch eine im Knochen stecken
gebliebene, in kleine Stücke zersprengte Kugel hat Küster {Langenbeck's Archiv,
Bd. 43) gesehen.
Diese längere Zeit eiternden Fälle sind nun diejenigen , wo das
Suchen nach der Kugel etc. in der That angezeigt ist. Ausser den
gewöhnlichen, natürlich stets gut desinficirten Knopfsonden wurde hier
viel die Nelaton^(^\\Q, Kugelsonde verwandt — eine silberne Sonde
mit einem Porcellanknöpfchen an der Spitze, das bei Berührung mit
Blei einen grauen Strich erhält. Complicirter sind die elektrischen
Kugelsncher (Favre, Bendorfer , Liebreich, Wilde). Das beste Mittel
ist der gut desinficirte Finger, wobei man eine Erweiterung des
Canals mit geknöpftem Messer, so dass er für den Finger durchgängig
wird, nicht zu scheuen braucht. Findet man die Kugel in der Tiefe,
so wird sie am besten mit der amerikanischen Kugelzange ge-
fasst — einer sehr schmalen langarmigen Zange, deren beiden Enden
sich zu hakenförmigen Spitzen umbiegen. Häufig genügt auch eine
lange, gut geriefte Kornzange. Bei dieser Spätextra ction braucht man
namentlich an den Extremitäten seitliche Einschnitte nicht zu scheuen,
ebenso ist es oft nüthig, die etwa im Knochen sitzende Kugel auszu-
meisseln und hiezu natürlich den Knochen genügend freizulegen (in
EsmarcJi' scher Blutleere).
Ist die Kugel irgendwo, entfernt von der Wunde unter der Haut
deutlich zu fühlen, so kann auf dieselbe eingeschnitten und sie heraus-
geholt werden. Hier, bei den Schussverletzungen, feiert die BoentgerrschQ
Entdeckung ihre grössten Triumphe. Selbst im Schädelinnern gelingt
es, mit Koentgenstrahlen Kugeln sichtbar zu machen. Wo man über die
Tiefe, in der die Kugel liegt, durch eine Photographie nicht in's Klare
kommt, empfiehlt es sich, in einer zweiten . auf der ersten senkrecht
stehenden Ebene nochmal zu durchleuchten oder zu photographiren.
Fig. 404 zeigt eine Kugel nach innen vom Oberarmkopf in der Gegend
der Achselfalte (zehnjähriger Knabe).
Häufig beschränkt sich die Eiterung nicht auf den Schusscanal,
sondern sie nimmt — namentlich bei ausgedehnten Quetschungen, Zer-
rcissungen und Knochenzertrümmerungen — von Anfang an einen mehr
dilfusen Charakter an. Die ganze Gegend , selbst das ganze Glied
schwillt an und es können sich die bösartigsten Formen der infectiösen
Wundinfection anschliessen, wie sie pag. 96 geschildert sind. Dabei
leidet natürlich das Allgemeinbefinden, Fieber u. s. w. treten ein.
Noch verhältnissmässig ungefährlich, obgleich oft nur die Einleitung
zu schweren Processen , sind die E i t e r v e r h a 1 1 u n g e n und E i t e r-
senkungcn. Oft verlöthet die Schussöffhung schnell, während in der
Tiefe sich Eiterung entwickelt. Die Wunde röthct sich, wird schmerz-
haft, schwillt an. es tritt Fiel)er auf. Der Wundcanal ist zu öffnen und
zu drainiren oder auf die Verhaltung einzuschneiden. (Schnitt durch
die Haut, Eingehen mit spitzer Kornzange [siehe pag. 96] und reichlich
zu drainiren.) Der Kranke ist s(» lange scharf zu hcol)a('htcn. bis die
Temperatur normal ist. I^eider schlicsst sich an solche Fälle, namentlich
wenn der KniK-hen und die Markhiihle desselljcn verletzt ist. häufig
480
vir. Capitel. — Krankliuitcu dor Krjachi.'ii und Gidunkc.
eitrige Knochcnmarksentziindung- (Osteomyelitis purulcnta. siehe dort)
an und an diese Pyämie, deren Erscheinungen ich pag. 150 geschildert.
Andere Male, besonders bei Verletzungen durch grobes Geschütz,
führen progressive brandige Processe, Gangrene foudroyante
(pag. 157) in wenigen Tagen zum Tode.
Septikämie ist viel seltener als Pyämie, der der Löwenantlieil
der Todesfälle bei Kriegsverletzten /ufällt.
Fig. 404.
Von selteneren Wundcomplicationen sind subcutanes Emphysem
(pag. 128), Fettembolie, Tetanus zu nennen.
Delirium tremens (siehe pag. 129) ist bei den meist jugendliclien
Soldaten selten, und wird eher einmal bei älteren Ofticicren beobachtet.
Dagegen scheinen Zustände vorübergehender geistiger Störung, welche
an das Delirium nervosum gemahnen, infolge der nervösen Erregung
der Schlacht schon eher beobachtet zu werden (vergl. pag. 132\
Statistik über Sclmssveiietzungen. 481
Es sei hier noch etwas Statistik aus dem Feldzug 1870/71 mitgetheilt
(nach V. Fetzer, Eückblick, Deutsche Aerztezeitung, 1895).
Von 98.233 ärztlich behandelten Verwundeten fielen 96.437 auf Schusswunden.
Von 51.047 Verwundeten, über die genaue Angaben gemacht sind, sind 9737 gestorben.
Bei 2007 dieser Gestorbeneu ist eine accidentelle Wundkrankheit als Todesursache ver-
merkt. — An Wundrose erkrankt sind 470, davon gestorben 87. An Hospitalbrand und
Wunddiphtherie sind erkrankt 206 mit 50 Todesfällen (= 257o)- Grangrene foudroyante
(acutes Oedem) ist in 24 Fällen beobachtet mit 2 Fällen von Genesung. An Pyämie
und Septikämie sind 1810 erkrankt, davon sind 48 geheilt (Mortalität 97"47o)- Diese
Zahlen dürften wohl alle zu niedrig sein. An Wundstarrkrampf erkrankten 350 ; genesen
sind 31 := 8'87o- Nur 0"37o der Verwundeten erkrankten an Tetanus (Krimkrieg 0 217o,
amerikanischer Secessionskrieg 0'137o) italienischer Krieg von 1859 0'97o)- Das Zu-
rückbleiben von Fremdkörpern in der Wunde wirkte begünstigend. 19'47o d^i' Tetanus-
fälle betrafen Granatschuss Verletzungen.
5121 grössere Operationen wurden wegen Verwundungen ausgeführt (4009 an
Deutschen, 1112 an Franzosen), darunter 3747 Amputationen und Esarticulationen mit
50'37i Heilungen (44'87o Ausgang unbekannt). Die Sterblichkeit betrug bei Exarticulationen
im Handgelenk 007o! Ellbogen 607oi Schultergelenk 46'4''/o ; Amputationen im Vorder-
arm 36"37oi ™ Oberarm 34'l*'/„. — Die Esarticulation im Hüftgelenk gab 1007o Sterb-
lichkeit, Knie 41'27o. Fussgelenk 467o- Die Amputation im Oberschenkel hatte (1436 (!)-
mal ausgeführt) 65'57o) i™ Unterschenkel 41"37o) ™ Fuss 23'17o Mortalität.
1082 Gelenkresectionen ergaben o8'27o Genesung, 40'37o Sterblichkeit (Rest
unbekannt). Von den Schultergelenksresecirten genasen 56'67oi Ellbogen 70'17o) Hand-
gelenk 69'47o ; dagegen starben bei Hüftgelenksresection 92'77o) Knie 81'77oi Fuss-
gelenk 38'57o) Mittelfuss 12'5°/o. Die häufigste Todesursache war die Pyämie.
Unterbindungen der grossen Ge fasse wurden 509 Mal gemacht;
258mal die A. femoralis (Mortalität 78'37c). 81mal die Brachialis (Mortalität 12'57o)
31mal die Subclavia (Mortalität 77'57o)i 28mal die Axillaris, 27mal die Carotis, 23mal
die Uiaca (Mortalität 95'77o)- i^ie Gesammtmortalität betrug 62"77o (meist Pyämie).
Transfusion wurde 15mal gemacht. Genesungsziffer 3 = 207o i Tracheotomie
14(^?)mal mit 28'67o Genesenen.
Auf Verbandplätzen und in Feldlazarethen wurden 2941, in Kriegs-, Cantonne-
ments- etc. Lazarethen 471, im Ganzen auf dem Kriegsschauplatz 3654 grössere Operationen
(Mortalität 41'77o) gemacht, in Lazarethen ^des Inlands nur 1505 (Mortalität 40"57o)-
Die Gesammtzahl der 6661 operirten Verwundeten (4398 Deutsche , 1263 Franzosen)
ergab eine Mortalität von 46"57n'
Die Zahl der den Lazarethen zugehenden innerlich Kranken betrug 480.035,
d. h. das Fünffache der Verwundeten, mit einer Sterblichkeit von 14.904 Mann. In
andern Kriegen war das Verhältniss ein viel ungünstigeres.
Im Felde dürfte die Thätigkeit des unmittelbar hinter oder in der Gefechtslinie
befindlichen Truppenarztes eine möglichst beschränkte sein und sich nur auf Fälle
directer Lebensgefahr — Kehlkopfschüsse, starke Blutungen — beschränken. Zum Ver-
binden hat er weder Zeit noch Material. Auf den Noth- oder Truppenverband-
plätzen werden die Krauken sortirt , die transportabeln mit einem antiseptischen
Occlusiv verband versehen (Jodoform , Sublimatgaze) , dann dringliche Operationen
(Tracheotomie , Unterbindung , Entfernung von Projectilen , die in lebenswichtigen
Theilen stecken u. s. w.), Morphiuminjectionen u. s. f. gemacht. Auf den Hauptver-
bandplätzen werden die Verwundeten in definitiver Weise fertig gemacht; schwere
Knochenbriiche antiseptisch verbunden und geschient, so dass sie transportfähig werden ;
grosse Operationen vorgenommen u. s. w. Von hier gehen die Kranken in die F e 1 d-
und Reservelazarethe über. Die enorme Tragweite der Kleincalibergascliosse , die
Massenhaftigkeit des Kleiugewehrfeuers (Magazingewehr) wird die Verwendung des
Arztes in der Gefechtslinie wesentlich modificiren müssen, um eine nutzlose Vergeudung
des Sanitätspersonals zu verhüten.
Lanil.-rer, Allg. chir. PathoJoi^io u. Tli.-raiu.-. Li. Aul. 31
482 ^1^- (Kapitel. — Krankheiten der Knoclien und Gelenke.
Entzündung, Eiterung und Necrose der Knochen.
Allgemeines über Entzündungserscheinungen am Knochen, Periostitis und Osteo-
myelitis. — Osteomyelitis infectiosa (Necrose). — Klinische Erscheinungen. —
Entstehungsweise und Verlauf. — Behandlung (Necrotomie). — Der Knochen-
abscess. — Rotz und Actinomycosis. — Phosphornecrose und Perlmutterostitis. — ■
Syphilis der Knochen. — Osteosclerosis progressiva idiopathica.
Die Entzündungen der Knochen erfolgen und verlaufen im
Grossen und Ganzen nach denselben Gesetzen, wie die Entzündungen
der Weichtheile. Aber die physikalischen Eigenschaften des Knochen-
gewebes imd die Langsamkeit des Stoffwechsels im Knochengewebe,
besonders in der Compacta , lassen dieselben besonders makroskopisch
oft wesentlich verschieden erscheinen. Eigenartig ist den Knochen-
entzündungen, dass bei ihnen bald der degenerative, bald der regene-
rative Charakter einzelner Entzündungsformen besonders augenfällig ist.
So haben wir Entzündungen, die zu deutlicher Einschmelzung und damit
erheblicher Verdünnung u. s. f. des Knochens führen — Ostitis rare-
faciens, Osteoporosis u. s. f., selbst direct Gewebstod — Knochen-
necrose veranlassen, und andererseits wieder solche, wo progressive Pro-
cesse in scheinbar einseitiger Weise »vorwalten, wo es zu Auflagerungen
auf den Knochen, Verdickung der Compacta, Knochenproduction seitens
des Markes unter Verkleinerung der Markhöhle (Ostitis ossificans,
Osteosclerosis) kommt, so dass die Vorgänge eher den Eindruck einer
(entzündlichen) Hypertrophie machen. — Vielfach finden wir, wie beim
normalen Knochenwachsthum , Einschmelzung und Neubildung neben-
einander, was ganz besonders deutlich bei der Osteomyelitis infectiosa
oder Necrose (i. e. S.) zu beobachten ist. Die Art und Weise, wie diese
Vorgänge erfolgen, ist — von einer gewissen Unregelmässigkeit der
Neubildung abgesehen (siehe Callus und Rachitis) — dieselbe, wie
bei dem normalen Werden des Knochens; Resorption, Neubildung von
osteoidem Gewebe und Verknöcherung vollziehen sich in derselben
Weise bei den Entzündungen wie bei der normalen Knochenentwicklung.
Die Knochenentzündungen erfolgen , wie andere Entzündungen,
durch die Einwirkung mechanischer, chemischer und belebter (bacte-
ri eller) Entzündungserreger.
Eigenthümlich ist, dass gewisse chemisclie Agentien (Phosplior, auch Arsen)
in geriagen Mengen die Production von Knochengewebe fördern (Wegner) , in
grossen dagegen direct den Tod des Elnochens herbeiführen (Phosphornecrose der Streich-
hölzchenarbeiter). Bis zu einem gewissen Grad kommt dies auch bei bacteriellen Ent-
zündungen vor, so führt Syphilis in milderen Fällen zur Verdickung der Knochen, in
schweren dagegen zur Verschwärung, zur syphilitischen Knochennecrose.
Vielleicht, dass in einem Fall die zerstörende AVirkung des Eutzündungserregers
überwiegt (rareficirende Ostitis), im andern Fall dagegen die als Folge eintretende
entzündliche Hyperämie und damit vornehmlich die regenerativ-productive Seite der
Entzündung wirksam wird.
Wie wir dies bei den Gelenken wieder finden werden, sind die
Knochenentzündungen nach anatomischen und nach ätio-
logischen Gesichtspunkten zu trennen.
Vom anatomischen Standpunkte aus unterscheiden wir
eine Entzündung der Beinhaut — Periostitis, des Markes — Osteo-
myelitis, des eigentlichen Knochengewebes — Ostitis, wobei man
Knocheuentzündung. Verschiedene Formen. 483
schliesslich noch von einer Entzündung des ganzen Knochens — Pan-
ostitis — reden könnte.
Wenn eine Periostitis wolil ohne Osteomyelitis und diese zur Notli ohne erstere
bestehen kann, so ist doch das compacte Knochengewebe der ßindensubstanz eigentlich
immer mit betheiligt, da es mit seiner Ernährung in der äusseren Schicht auf die
Beinhaut, in seiner inneren auf das Markgewebe angewiesen ist. Bei den meisten Knochen-
erkrankungen — von einigen oberflächlichen Periostiten abgesehen — sind alle 3 Be-
standtheile des Knochens betheiligt, meist allerdings in verschiedenem Masse.
Die hj^perämische Periostitis findet sich als Anfangsstadium der meisten
schweren Formen, ebenso im Umkreis derselben und als Abortivform dieser (Osteo-
myelitis, Phosphornecrose u. s. f.), auch nach mechanischen Verletzungen leichterer Art
(Periostquetschuug). Das Periost ist verdickt, sehr blut- und saftreich (ödematös) und
leichter von der Rinde abziehbar.
In einem Theil der Fälle schliesst sich an sie eine Production jungen Knochen-
gewebes (von der tiefen Canibiumschicht aus, durch Osteoblastenbildung u. s. f., siehe
pag. 403) an, — Periostitis ossificans. Die neugebildeten, oft recht unregel-
mässigen Knochenmassen heissen Osteophyten, auch Exostosen oder Hyper-
ostosen; sie erscheinen bald als spitze Stalaktiten, bald als unregelmässige knotige
oder warzenförmige Auflagerungen auf der Oberfläche des Knochens.
Ein andermal kommt es statt neuen Knochengewebes zur Bildung massenhaften
schwieligen Bindegewebes — Periostitis fibrös a. Dies ist namentlich der Fall,
wenn nicht der Knochen der primär erkrankte ist , sondern eine Entzündung von den
benachbarten Weichtheilen auf das Periost übergreift — z. B. bei alten, unmittelbar
dem Knochen aufsitzenden Unterschenkelgeschwüren.
Oder die hyperämische Periostitis wird zur eitrigen — Periostitis purulenta.
Unter der Beinhaut sammelt sich Eiter in Form einer vorragenden Beule an. Häufig,
doch keineswegs immer verfällt dabei die vom Periost ernährte äusserste Rindenschicht
der Necrose. Die eitrige Periostitis macht sich in ihren acuten Stadien klinisch als
schmerzhafte Vorwölbung der Beinhaut bemerklich, meist mit Fiebererscheiuungen. Der
häufigste Ausgang ist Durchbruch des Eiters nach aussen, womit die Sache beendet
sein kann , wenn es nicht zur Bildung von grösseren abgestorbenen Knochenstücken
(Sequestern, siehe unten) kommt. Eine leichte Vertiefung im Knochen kann zurück-
bleiben, oft bleibt auch nichts am Knochen mehr zu bemerken. Ein anderesmal kann
der Eiter liegen bleiben, sich eindicken, von neugebildeten Knochenschalen bedeckt und
abgekapselt werden, bis durch eine Verletzung u. dergl. der Process auf's Neue ange-
facht wird.
Die Behandlung besprechen wir bei den einzelnen Krankheitsformen.
Auch eine Periostitis serosa oder albuminosa oder seromucinosa
mit Bildung schleimigen klaren Secrets ist beobachtet worden. Zuerst beschrieben von
Ollier, ist sie in neuerer Zeit besonders von Garre (Beitr. z. kl. Chir. 93) [37 Fälle] von
Schlange, Schranh {Langenb. Arch., 46), Grimm (ebenda, 48), Riedinger (Chir.
Congr. 94) behandelt worden. Ein Drittel der Fälle ist osteomyelitischen Ursprungs
(Garre) , die anderen sind syphilitischen , tubercnlösen , typhösen etc. Ursprungs.
Man hat bis tjOO Ccm. entleert (Schlange). — Die käsige Periostitis gehört zu der
Tuberculose der Knochen und Gelenke (s. dort).
Am Knochenmark finden sich dieselben Entzündungsformen. Osteomyelitis
hyperaemica kommt unter denselben Verhältnissen vor, wie die Periostitis. Trau-
matisch (Fracturen) oder bei acuten (Osteomyelitis infectiosa) und chronischen Infectionen;
dann im Umkreise schwerer (besonders eitriger) Entzündungsherde. Auch sie geht häufig
über in Osteomyelitis ossificans. Diese Eigenschaft des Marks, Knochen zu
bilden, haben wir schon l)ei der Heilung der Knochenbrüchc kennen gelernt. Sie kommt
jedoch auch bei anderen Entzündungsformen vor (Syphilis, Osteosclerosis u. s. f.) und
führt zur Verengerung des Markcanals. In Verbindung mit Periostitis ossificans kann
diese Form der Osteomyelitis zu einer enormen Verdickung des Knochens führen, so
dass grosse Röhrenknochen in ihrer ganzen Dicke fast nur aus einer elfenbeinartigen
Compacta bestehen, an der sogar der Meissel des Chirurgen vergeblich arbeitet, E b u r-
neation. — Die schwerste Entzündnngsform des Knochenmarks ist die Osteo-
myelitis purulenta. Bald ist das Mark durchsetzt von kleineren grüngell)en Eiter-
herden; das Markgewebe ist an diesen Stellen zerfallen und zu schmierigem Brei um-
gewandelt. Ein anderes Mal ist der ganze Markcylinder zu einer schmutzig graugrünen
jauchigen Ma.sse verändert. Die O.steomyelitis purulenta — wohl stets bacterieller
31*
4^4 VII. Cajjitel. — Krankheiten dei- Knochen und Gelenke.
Natur — entsteht entweder auf emboliscliem Wege (siehe Osteomyelitis infectiosaj oder
durch unmittelbare Uebertragung von Mikroorganismen auf dem Wege der Verletzung
(complicirte Fracturen, Schussverletzungen, Amputationen u. s. w.). Der Verlauf dieser
eitrigen Osteomyeliten ist (s. unten) ein äusserst schwerer; stets findet eine massenhafte
Eesorption septischer Stoffe statt, und wenn nicht zur richtigen Zeit noch der Eiter
nach aussen entleert Avird , sind schwere Allgemeinerscheinungen, namentlich Pyämie
und Sepsis, nicht zu vermeiden. Genaueres über diesen Process, seine Folgen u. s. av.
sind pag. 485 ff. angegeben.
Jauchige und brandige Osteomyeliten finden sich bei Wunden, welche in dieser
Weise verändert sind.
Die vermuthlich metaplastischen Umwandlungen des Marks, des gelben
in rothes, lymphoides und umgekehrt, die gallertige Entartung, Processe, welche auch
bei den Entzündungen gelegentlich eine Eolle spielen , sind pag. 405 bereits erörtert.
Die tuberculösen Processe im Knochenmark siehe unten.
Am leichtesten verständlich werden die klinischen und anato-
mischen Erscheinungen der acuten Knochenentzündungen durch eingehen-
dere Schilderung der acuten infectiösen Osteomyelitis, früher
auch Necrosis ossium genannt.
Die Osteomyelitis befällt fast nur Leute in der Wachsthumsperiode,
mit besonderer Vorliebe das 10. — 20. Jahr, d. h. die Z'eit besonders
intensiven Knochenwachsthums. Aeltere Leute, deren Knochcnwachsthum
ganz aufgehört hat, werden sehr selten davon befallen.
Mitten in voller Gesundheit, meist nachdem eine leichte Verletzung,
eine Quetschung vorausgegangen, bricht die Krankheit aus, oft mit
einem Schüttelfrost. Die Kranken empfinden dabei meist einen rasch
auftretenden heftigen Schmerz, z. B. im Bein. An diesen ganz acuten
Anfang schliesst sich sofort ein schweres Kranksein, mit hohem Fieber
und beträchtlicher Störung des Allgemeinbefindens. In leichteren Fällen,
WO das Bewusstsein erhalten bleibt, wird die Aufmerksamkeit des
Arztes durch die Schmerzen in den Gliedern, über welche die Kranken
klagen, namentlich wenn sie auf eine bestimmte Stelle localisirt sind,
sofort auf die Möglichkeit einer Osteomyelitis hingelenkt. In den schweren
Fällen dagegen liegen die Kranken oft eine Woche ohne klares Be-
wusstsein in einem schweren „typhösen" Fieber (40° und darüber).
Die Krankheit hat dann viel Aehnlichkeit mit einem Typhus abdomi-
nalis , und es ist oft fast unmöglich , die differentielle Diagnose zu
machen. Sie ist deshalb auch „Typhe des os" genannt worden. Das
Alter ist natürlich diagnostisch wichtig. Am Ende der ersten Woche
weisen die Schmerzen , wenn das Bewusstsein zurückkehrt , oder eine
teigige Anschwellung irgend eines Röhrenknochens auf das Vorhanden-
sein eines Knochenleidens hin und die Diagnose ist damit klar. Gerade
bei den schweren Formen handelt es sich jedoch selten nur um eine
einzige Localisation, man findet zahlreiche erkrankte Stellen, theils den
Diaphysen langer Knochen entsprechend, z, B. der Tibia, theils den
Epiphysenlinien. Dann entwickeln sich auch Gelenkergüsse und Eite-
rungen — Osteomyelitis multiplex. Mit der Ausbildung örtlicher Pro-
cesse wird jedoch in diesen Fällen multipler Osteomyelitis der Zustand
kaum weniger schwer, die Kranken sind vielleicht zeitweise bei sich,
aber das Fieber bleibt hoch (39 — 40") und die Kranken kommen
immer mehr herunter. Oft schliessen sich innere Metastasen an, Pleu-
riten, Pericarditen, dann hypostatische Pneumonien oder ausgedehnte
Eiterungen, so dass das Krankheitsbild von dem der Pj^ämie nun nicht
mehr zu unterscheiden ist. Schliesslich gehen die Kranken 3 bis
6 Wochen nach Beginn, oft auch früher, an Erschöpfung zu Grunde.
Osteomyelitis infectiosa. Verlauf. 485
Wo der Process sich nur au weuigen oder gar nur an einer
Stelle , etwa der Diaphyse der Tibia , localisirt und dementsprechend
das Allgemeinbefinden nicht so schwer gestört ist, dass der Kranke
zu Grunde geht, ist der örtliche Verlauf des Leidens sehr schön
zu verfolgen. Den Schmerzen und der Druckempfindlichkeit, die der
Kranke von Anfang an der betreffenden Stelle empfand , folgt eine
bleiche, teigige, ödematöse Anschwellung, mit Ausdehnung der Haut-
venen. Unter heftigen, tiefen, bohrenden Schmerzen und continuirlichem
Fieber röthet sich die Anschwellung allmählich. Man hat tiefe Fluctuation.
•Erfolgt kein Einschnitt, so bricht der Abscess Ende der 2. Woche
•durch. Es entleert sich ein dicker, rahmiger, fast ausnahmslos fett-
tropfenhaltiger Eiter in gross-en Mengen (oft '/a Liter und mehr). In
der Tiefe des Abscesses sieht man, bei genügend weiter Oeffnung, den
Schaft des Knochens vom Periost enblösst, nackt und weiss daliegen. Ist
dies die einzige Localisation, so fällt mit der Eröffnung des Abscesses die
Temperatur ab und die Kranken, an sich meist gesunde, junge Menschen,
«rholen sich bei kaum zu befriedigendem Appetit schnell. Die Schwel-
lung und Infiltration der Weichtheile schwindet rasch, doch bleibt eine
spindelförmige Anschwellung des Knochens zurück, am dicksten an
der Stelle des Aufbruchs, sich nach den Gelenkenden allmälich ver-
schmächtigend (vergl. Fig. 405).
I^leibt der Kranke sich selbst tiberlassen, so ändert sich nun oft
Monate, selbst Jahre lang nicht viel. Aus einer oder mehreren Oeffuungen
(Fisteln) fliesst Eiter ab, der Knochen bleibt verdickt, doch lernen die
Kranken allmählich ihre Glieder wieder gebrauchen und gehen umher.
Gelegentlich bilden sich erneute Anschwellungen durch Eiterverhaltungen
oder es stossen sich kleine Knochensplitt'rchen ab, die durch den Druck
der hinter ihnen wachsenden Granulationen oder durch Bewegungen
allmählich herausgeschoben werden. Doch kommt es nur bei sehr geringer
Ausdehnung des Processes auf diesem Wege zur Spontanheilung. Meist
ist operative Hilfe nöthig, wenn sich die Eiterung nicht jahrelang hin-
ziehen soll.
Die acute Osteomyelitis ist eine Eiterkokkeninfection der "Wachsthumsperiode mit
Localisation in Knochen und Gelenken.
Die Bacferiologieder Osteom yelitisist viel erforscht ; überwiegend häufig
■wurde Staphylococcus s^efunden, aureus und albus {Bosetihach, Becker, Kraske,
Lannelonr/ue und Acliard, Rodet und Courniont u. A. m.). Seltener fanden sich Strepto-
kokken (Lerer, Lannelongiie). Ullmaim fand Pneumokokken (V).
Lannelonyue bekam bei intravenöser Injection von Staphylokokken bei alten
Thieren keine Knochenherde, sondern Septicopyämie, ebenso erhielt er diese bei grossen
Dosen (0"5 Ccm. einer Bouilloncuitur) , bei Ol— 0'2 Gern, kam es zu Knochenlierden.
Lexer (Langenheck'' s Archiv, 48) bekam am häufigsten die Eiterung im juxtaepii)hysäreu
Theil der Diaphysen (oberes Hnmerus- und Tibiaende. unteres Ende des Femur),
secundär kamen Epiphysenlösungen und Gelenkaffectionen. Stets waren Niereiaprocesse
vorhanden.
Als Eingangspforten der Kokken sind erwiesen Darm , Lunge (Kraske),
Schleimhäute, Tonsillen (Jiusrhke , Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 38), Wunden, selbst
die unverletzte Haut {Jordan, Beitr. z. klin. Chir. JO); begünstigend wirkt z. B. Furnn-
culose (Küster, Langcnherk's Archiv, 48), überhaupt schmutzige Verhältnisse. (Ueber-
wiegen der Osteomyelitis Ixd der ländlichen Bevölkerung.) — Die Uebertragung erfolgt auf dem
"Wege derEmbolie. In den Krei.slauf eingebrachte feinste körperliche Elemente, Zinnober-
körnchen, Milchkügelchen, Bacterien u. dergl. lagern sich nach den Untersuchungen von
CohnJieiin, Schiillcr, hütiniei/cr, Wi/ssokoivifsrh bei jungen Thieren besonders in den
Epiphysenpartien, ebenso an sonst entzUndet«'n oder ge(iuetschten Stellen ab (Srliüllerj.
deshalb wirkt die dem Ausbruch der Osteomyelitis häufig vorausgehende Quetschung
prädisponirend und die Localisation der Kokken bestimmend.
486
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenkt
Dieser Pathogenese entspricht die xjathologische Anatomie der Osteo-
myelitis. Wo die Mikroorganismen im Markgewebe sich weiterentwickeln, veranla.ssen
sie wie anderwärts Nekrose der umgebenden Theile , an die sich dann Eiterung an-
schliesst. Hat man Gelegenheit, in einem so frühen Stadium sich durch einen Längs-
schnitt durch den Knochen Einblick in den Process im Innern zu verschaffen, so sieht
man entweder eine Anzahl erbsen- bis klein apfelgrosser Herde zerstreut, die gegen das
rothe Mark sich durch eine gelbe Farbe abheben und sich als erweicht und eiterdurch-
setzt erweisen, oder man findet einen grossen Herd, vielleicht durch den Zusammenfiuss
kleinerer entstanden. Das Mark ist leichter eindrückbar an diesen Stellen, eine fett-
haltige eitrige Flüssigkeit fiiesst von denselben ab, die Eindensubstanz dieser Gegend
ist blasser und das Periost darüber etwas geschwollen und injicirt. Der weitere
Verlauf des Processes ist nun von dem bei ähnlichen Vorgängen in anderen Geweben,
z. B. bei Furunkeln der Haut, nicht wesentlich verschieden, sondern nur durch die
Eigenartigkeit des Knochens modiflcirt. Wenn der Process überhaupt sich begrenzt
und das Leben erhalten bleibt , so wird der Zusammenhang zwischen Lebendem und
Todtem gelöst, und zwar durch demarkirende Eiterung und Granulation; natürlich
erfolgt dieser Vorgang im Knochen langsamer, als in Weichtheilen. Der entzündliche
Erguss ist im Innern des Knochens eingeschlossen, wo ein Ausweichen, eine Dehnung
nicht möglich ist , er steht daher unter hohem Druck , infolgedessen die heftigen
tiefen Schmerzen im Knochen und der massenhafte Uebertritt pyogener Stoffe in die
Blutbahn , der anhaltende schwere Allgemeinzustand und das hohe Fieber. Da die-
Fig. 405.
Venen des Knochens nicht zusammenfallen und so sich verschliessen können , ist die-
Gefahr einer Phlebitis mit Bildung inficirter Thromben und damit der Embolie und Pyämi&
besonders nahegerückt. Schliesslich bricht der Eiter durch und entleert sich nach aussen,
leichter der unter dem Periost angesammelte, als der in der Markhöhle. Erfolgt die Ent-
leerung desselben vollständig, so ist damit die Resorption fiebererregender Stoffe aufgehoben,,
das Fieber verschwindet und das Allgemeinbefinden bessert sich rasch. Man hat nun ein&
von Granulationen ausgekleidete Höhle, worin ein mehr oder weniger grosses Stück
todten Knochens liegt (vergl. Fig. 405). Die weiteren Veränderungen bieten nichts Be-
sonderes. Durch demarkirende Granulation wird allmählich das Todte vom Lebenden,
getrennt. Das todte Knochenstück wird Sequester genannt. Wir nennen ihn einen
totaleU; wenn er die ganze Peripherie des Knochens enthält, oder wenn er die Dia-
physe in ihrer ganzen Länge darstellt (siehe Fig. 407, Totalsequester der Tibia und
Fig. 406, Totalsequester der Fibula). Auch der Sequester bleibt nicht so, wie er im
Momente des Absterbens gewesen. Der Theil von ihm, der der Marksubstanz an-
gehörte , wird allmählich durch die andrängenden Granulationen resorbirt, so dass er
schliesslich nur noch aus Rindensubstanz besteht. Ebenso werden die Spongiosabälkchen^
die namentlich in der Nähe der Epiphysenlinie der Innenfläche oft noch anhaften,
allmählich aufgesaugt. Dann werden die Randpartien, wo die Lösung erfolgte, gleichfalls
von den Granulationen angenagt und ausgefressen , so dass die Sequester bei Osteo-
myelitis dadurch jene eigenartigen zugeschärften und ausgenagten Ränder erhalten,
die in Fig. 406 und 407 zu erkennen sind.
Die Höhle, worin der todte Knochen liegt, heisst die Todten-
lade (Necrotheke, v£x.p6; todt, O")^/.-/] die Lade), Von dem erhaltenen
Patliologische Anatomie der Osteomyelitis.
487
Fig. 407.
Theil des Markes sowohl, wie vom Periost aus findet, wie so häufig
bei Knochenentzündungen (vergl. pag. 482), Knochenneubildung statt
und so liegt schliesslich der Sequester rings in knöcherner Höhle ein-
geschlossen, die nur durch die den Eiter nach aussen leitenden Fisteln,
die „Cloaken", mit der Oberfläche in Communication steht. Fig. 405,
Necrose derTibia, schematisch. Der (weiss gehaltene) Rindensequester
liegt in einer von Granu-
Fig. 406. lationen ausgekleideten
Höhle , von dieser führen
2 Gänge (Cloaken) den
Eiter nach aussen , der
Knochen ist — der Aus-
dehnung des Sequesters
entsprechend — aufge-
trieben. Die Knochen-
schicht , die ihn deckt
(zwischen den Cloaken),
ist vom Periost neuge-
bildet. Die Knochenneu-
hildnng bildet so eine
nenc tragfähige Knochen-
hülsc um den todten
Knoclien und es wird ein
oft überreichlicher Ersatz
für das Verlorene gebildet.
Das Präparat (Fig. 407)
ist durch Amputation des Ober-
schenkels (wegen Vereiterung
des Kniegelenkes) gewonnen,
4 Wochen nachdem die Ent-
fernung des Sequesters vorge-
nommen war. Die Todtenlade
hat sich in dieser Zeit bereits
soweit verkleinert , durch Ossi-
tication der Granulationen, dass
der Sequester nicht mehr in
derselben Platz hat. Sehr deut-
lich ist auch die Unregel-
mässigkeit der neuen Knochen-
bildungen, e e die obere, g g die
untere Epiphj-senlinie. A^on a h
und c (l geht eine Bruchspalte durch (Öpontan-
t'ractur der Todtenlade infolge der enormen
Rarefaction des Knochens), die mit Verkürzung
von « bis h und c bis d geheilt ist. //Cloaken,
7t ein weiterer kleiner Sequester, bei der Ope-
ration übersehen (= h in Fig. 408 J5).
In manchen Fällen bildet sich in einem
Knochen, besonders oft im Humerus, eine
Reihe kleiner Herde, wo nur kleinste nadelformige Sequester sich bilden — Osteo-
myelitis disseminata. Dann gibt es auch Abortivform en, wo es nicht bis zur
Eiterung kommt, sondern sich nur schmerzhafte Anschwellungen einzelner Knociien-
partii-n, z. H. der Epiphj'.senlinien, oft mit leichten Gelenkschwellungen einstellen, die
nach einigen Wochen spontan zurückgehen. Hieher dürfte wohl auch da.s sogenannte
Waclistliumsfiebcr zu rechnen sein. Es kommt auch mitunter nur zu einer O.ssification
und P.ildung reichlicher compacter Substanz (Garre). (Ueber Ostitis albuminosa siehe
pag. 4S.^. ebenso übei' Knocheiiabscess pag. 491.)
488
VII. Capitel. — Krankheiten der Knoclien und Gelenk»
Die infectiöse Osteomyelitis weist in ihrem Verlaufe nicht selten
wichtige Complicationen auf.
Häufig sind die osteomyelitischen Gelenkaffectionen. .Schon
zu Anfang' hat man oft neben den Weichtheilschwellungen leiclite,
anscheinend seröse Gelenkergüsse, die meist mit der Eröffnung der
Abscesse rückgängig werden. Die in späterer Periode auftretenden da-
gegen sind ernster Natur. Sie kommen namentlich dann zur Entwicklung,
wenn die Eiferung sich bis zur Epiphysengrenze erstreckte und ent-
stehen durch Fortsetzuno; der
B
\
'^' ■ Entzüjndung auf diese. Schliess-
lich wird die Epiphyse durch-
brochen und der Eiter dringt
in's Gelenk ein , die Folge ist
eine Gelenkeiterung mit all
den schweren Folgen , die ich
pag. 467 geschildert habe. In
Fig. 408 ist ein solcher Ein-
bruch des Eiters durch die Epi-
physe abgebildet. (Derselbe Fall
wie in Fig. 407. A Gelenkfläche
der Tibia von oben gesehen.
Bei a die Perforationsstelle ; der
Knorpel der Gelenkfläche ist
ganz zerstört, ß die untere Epiphysenfläche derselben Tibia , bei a^
a Perforationsstellen, darin der Sequester /?).
Die in den Spätstadien der Osteomyelitis auftretenden Gelenk-
eiterungen sind oft auch metastatischer, d. b. pyämischer Natur.
Geht der Process bis zur Epiphysenlinie, so wird nicht selten
der Epiphysenknorpel zerstört und es kommt zur (spontanen, secun-
dären, pathologischen, entzündlichen) Epiphysenlösung (s. pag. 416).
Fig. 408 B ist eine spontane Epiphysenlösung (in Entwicklung begriffen).
Ist der Sequester ein totaler, so fällt die Production eines neuen
Knochens oft ungenügend und spärlich aus, vergl. Fig. 407, da in diesem
Fall der ganze Markcylinder
^'^•*09- zerstört ist, das Mark sich
also nicht an der Neubildung
betheiligen kann und diese
ganz dem Periost zufällt.
Beim Versuch, die Extremität
zu gebrauchen, bricht diese
dünne Schale oft durch, und
es kommt dann zur Spon-
tanfractur der Todtenlade (Fig. 407 a ^, cd). Nicht so selten folgt
diesen Fracturen und Infractionen Pseudarthrose.
Die Diagnose der Osteomyelitis ergiebt sich eigentlich aus dem Gesagten
von selbst, da der Verlauf meist ein typischer ist. Doch giebt es Fälle, die namentlich
dem Anfänger Schwierigkeiten machen und ihn zwischen Osteomyelitis und tuberculöser
Knocheneiterung (siehe dort) schwanken lassen. In beiden Fällen hat man zum
Knochen führende Fisteln, die schon seit längerer Zeit absondern. Zur differentiellen
Diagnose dienen folgende Momente. Zunächst der Beginn des Leidens, bei der Osteomyelitis
ganz acut, bei der Tuberculose äusserst langsam und schleichend ; ebenso ist der Ver-
lauf bei jener rasch, mit baldigem Aufbruch, meist unter heftigen Schmerzen und
Diagnose, Prognose, EeLar.clIung der Ostecmj-elitis. 489
Fiebererscheinuugeu. Bei der Tuberculose ist die Entwicklung eine verschleppte und
ziemlicli sclimerzlose. Osteomyelitis befällt meist junge Leute von gesunder Constitution,
die tuberculose Ostitis dagegen Kinder, welche auch sonst kränklich, scrophulös oder
tuberculös sind. Die Osteomyelitis sitzt mit Vorliebe im Schaft langer Röhrenknochen ;
die Tuberculose mehr im spongiösen Knochen ; an den Röhrenknochen daher besonders
in der Epiphyse. Die Absonderung ist bei Osteomyelitis ein dicker rahmiger gelber
Eiter, bei Tuberculose eine dünne graue Jauche. Die sichtbaren Granulationen sind bei
Osteomyelitis gesund und frisch scharlachroth, bei Tuberculose grau, schlaff und wäs-
serig.' Auch die Form des Sequesters ist in beiden Fällen ganz verschieden. In Fig. 409
sind 1 Sequester von Osteomyelitis (Necrose) — flache Rindensequester mit ihren zu-
geschärften, ausgezackten Rändern ; 2 von complicirter Fractur. Diese sind nur an der
einen Seite, wo sie durch demarkirende Granulation gelöst sind, scharfrandig, die
andere, der Fracturstelle zugekehrte Fläche ist dick und kantig, genau so, wie sie
durch den Bruch entstanden ist; 3 von Tuberculose; diese sind rundlich, warzig, oft
maulbeerartig und werden von sclerosirter Spongiosa gebildet (siehe Tuberculose der
Knochen).
Die Prognose der Osteomyelitis steht im geraden Verhältnisse
zur Ausdehnung des Processes; je mehr Punkte befallen sind und je
grösser die erkrankten Knochenpartien , um so ungünstiger sind die
Aussichten. Bei nur einer einzigen Localisation dürfte selten ein Exitus
letalis eintreten: Osteomyelitis multiplex dagegen endet häufig tödtlich.
Kleinere Sequester können von selbst ausgestossen werden und
so heilt hin und wieder namentlich die Osteomyelitis mit vielen kleineu
Herden spontan aus. Kleine Sequester können auch ganz resorbirt
werden und manche alten jahrelang bestehenden Abscesse, die den
klinischen Verlauf der Osteomyelitis zeigen, in denen aber keine Se-
quester gefunden werden, müssen so erklärt werden. Beobachtet sind
solche Abscesse, die bis zu 27 Jahren seit dem Beginn des Leidens
mehr oder weniger latent bestanden haben und wo die Kokken virulent
waren. {Garre, Elirich, Münch. med. Wochenschr. 1896, Nr. 31.)
Für gewöhnlich verlangt die Necrose Kunsthilfe, die Sequestro-
tomie, Necrotomie (Necrothecotomie). In den letzten Jahren sind
bei Osteomyelitis die an sich zweckmässigen Früh Operationen viel
empfohlen und ausgeführt worden. Sobald die Diagnose feststeht (hohes
Fieber, constante örtliche Schmerzhaftigkeit, septische Erscheinungen, wird
in Blutleere (ohne centripetale Entwicklung, pag. 114) auf den Knochen
eingeschnitten. Sulzige öclematöse Beschaffenheit des Periosts ist ein wich-
tiger Fingerzeig, doch soll man auch bei normalem Periost den Knochen
eröffnen {Thelen, Langenheck's Archiv, 38). Zur Eröffnung des Knochens
kann man sich des Trepans bedienen und zwischen '2 Trepanlöchern
die Knochenbrücke mit Knochenscheere, Hohlmeisselzange oder Schräg-
meissel wegbrechen oder man meisselt sofort mit dem Mei^sel den Knochen.
2. B. die Vorderflache des Schienbeins auf. Die Ocffnungen im Knochen
sollen nicht zu klein sein. Von hier wird nun das Mark, womöglich
ganz, wo dies nicht angeht wenigstens das Kranke bis in's Gesunde
hinein mit dem Löffel entfernt, nachher lose Jodoformgazetaniponade.
Hc'idenliaJn {L(()ujcrilr(k's Archiv, Pjd. 48j glaubt, dass sich so in einem
Tlieil der Fälle umfängliche Xecrose verhüten und der Process wesent-
lich abkürzen lasse. l)ocli ergab die Discusion auf dem Chirurgen-
congress 1894. dass auch die Frühoperation keine Sicherheit gegen
Necrose und Todesfälle gil)t.
Bei der Spätoperation, der eigentlichen Necro- oder Sequestro-
tomie, pflegte man bisher zu warten, bis der Secpiester gel()st i.st.
was bei grossen Knochen. Fcmur. Tibin etwa 3 Monate, bei kleineren
490 ^^^- Capitel. — Krankheiten der Kiioclioii und Gelenke.
mindestens 6 Wochen in Anspruch nimmt. Man führt über den Knochen
einen Längsschnitt, der am besten einige Fisteln verbindet, hebelt Wcich-
theile und Periost mit dem Schabeisen (Fig. 19--jtf) vom Knochen ab und
schlägt nun mit dem Meissel in der Richtung, in welcher eine eingelegte
Sonde den Sequester zeigt, eine Rinne in die Knochenlade und legt
den Sequester völlig frei (sieha Fig. 407 von vorne frei gemeisselte
Sequesterlade der Tibia). Der Sequester wird herausgehoben und alle
vorspringenden Knochenkanten mit Meissel oder Hohlmeisselzange ent-
fernt, die ganze Lade aufs Sorgfältigste mit dem scharfen Liiffel aus-
gekratzt. Nirgends darf mehr eine Bucht im Knochen zurückbleiben,
die nicht ausgemeisselt und ausgeschabt wäre , ebensowenig darf von
den inficirten Granulationen etwas sitzen bleiben. Die Höhle wird nun
mit Sublimatlösuug ausgeschwemmt und mit Sublimatgazebäuschchen
sorgfältig ausgerieben. Dann werden die Weichtheile möglichst in die
Rinne eingepflanzt, so dass sie p p. i. mit dem Knochen vorlöthen
können. Dieses ganze Verfahren wird durch die Esmarch'sche Blutleere
wesentlich unterstützt.
In manchen Fällen lässt sich die Heilung unter dem feuchten Blutschorf (Schede)
erzielen und wird damit eine ei'hebliche Abkürzung der sonst nach Monaten zu schätzen-
den Heilungsdauer erzielt. Die Wunde wird mit Protectif silk bedeckt und läuft nach Ab-
nahme der elastischen Binde mit Blut voll. Dieses gerinnt und wird nachher, wie bei
der Organisation des rothen Thrombus (pag. 16 und Fig. 2), von jungem Bindegewebe
durchwachsen.
Die tiefe Knochenhöhle braucht natürlich sehr lange, 3—6 Monate,
bis sie durch Granulationen ausgeftUlt ist und diese verknöchert sind (vergl.
pag. 440, Complicirte Fracturen). Die verschiedensten Vorschläge sind
gemacht worden, diesen langwierigen Process abzukürzen, durch die
verschiedensten Arten der Knochenplastik (pag. 277). Man hat die
Seitenwände der Todtenlade erniedrigt und über den Rand weg recht-
eckige Periostweichtheillappen, mit dem Raspatorium abgelöst und durch
Seitenschnitte beweglich gemacht, in die Rinne eingepflanzt und dort
festgenagelt (v. Esmarch, Neuber) — Ueberdaehungsmethode. Ich habe
mehrmals (am Schienbein) die Seitenwände oben und unten mit dem
Meissel eingekerbt, stumpf in die Höhle hineingepresst (durch Infraction)
und durch starke Silberdrähte zusammengezogen. Bier hat bei seiner
osteoplastischen Necrotomie (Lanf/enheck' s Archiv, Bd. 43) das Dach
der Todtenlade mit 3 die 3 Seiten eines Rechtecks umziehenden Weieh-
theilknochenschnitten (mit dem Meissel) umzogen, die 4. (eine lange) Seiten-
wand eingebrochen, diesen grossen Weichtheilknochenlappen wie einen
Deckel zurückgeklappt und nach Entfernung der Sequester und Reinigung
der Höhle den Lappen in den Defect eingepflanzt. Oder es werden gestielte,
zungenförmige Knochenweichtheillappen eingepflanzt (Lappenmethode). —
Andere haben versucht, die Höhle mit fremdem, todtem, plastischem
Material auszufüllen, Blut (Schede), sterilisirtem Gipsbrei, Kupferamalgam
(Plombirung des Knochens) Catgut, in Jodoformäther sterilisirtem
Fibrin, Guttapercha (nach Art der Zahnplombeu). Neuber {Langen-
beck's Archiv, 51, 3 Lit.) giesst Jodoformkleister ein (10 Grm. Weizen-
stärke mit möglichst wenig Wasser angerührt, 200 Gem. kochend-
heisse 2% Carbollösung, abgekühlt, 10 Grm. Jodoformpulver).
Bei allen diesen Verfahren ist die Hauptsache die Erzielung
völliger Asepsis der Höhle durch peinliches Auslötfeln jeder kleinsten
Bucht, Ausreiben mit Gaze und Auswischen mit 17oo Sublimatlösung.
Knocheuabscess. Phosphornekrose. 491
Ich fülle die Höhle, soweit sie sich nicht plastisch verkleinern lässt,
mit Knochensalzen (siehe pag. 248). Die Knochensalze haben den Vor-
theil, dass sie die Secrete nicht zurückhalten und auch, wenn die Asepsis
misslingt, später hei Nachlass der Secretion und auch mehrmals ein-
gebracht werden können. Die Heilung geht hiebei entschieden schneller.
In die Gruppe dieser Processe gehört auch eine seltene Er-
krankung, die früher vielfach literarisch erörtert wurde, der Knocheu-
abscess, ein Eiterherd im Innern des Knochens. Die klinischen Sym-
ptome bestehen in tiefem , dumpfem , remittirendem Schmerz , mit
Fiebererscheinungen u. s. f. Es sind unter diesem Namen früher ent-
schieden ätiologisch ziemlich differente Krankheiten zusammengefasst
worden, bald kleine osteomyelitische Herde, wo die kleinen Sequester
resorbirt sind und nur der dicke Eiter übrig geblieben, Processe, die
sich durch Jahrzehnte verschleppen können (siehe pag. 489) , dann
pyämische Metastasen , tuberculöse Knochenvereiterungen , vielleicht
auch syphilitische Processe. Die Behandlung besteht in der Freilegung,
Auskratzung und Ausfüllung in der bei der Necrotomie beschriebenen
Weise.
Als Spätfolgen der Osteomyelitis treten in einem Theil der
Fälle (Affection des Epiphysenknorpels) Wachsthumsstörungen auf,
öfters Verkürzungen, mitunter aber auch Verlängerungen, zum Theil
mit bogenförmiger Verbiegung (Helferich). Helferich {LanyenheclS s
Archiv, Bd. 36) suchte mangelhafte Ladenbildung infolge ungenügender
Knochenanbildung, ebenso wie Pseudarthrose und verlangsamte Callus-
bildung durch künstliche Stauungshyperämie zu bekämpfen (eine ela-
stische Binde wird so umgelegt , dass venöse Stauung entsteht , aber
der Puls nicht unterdrückt wird).
Von weiteren Infectionskrankheiten wären noch zu nennen der Rotz, welcher
namentlich eitrige Periostiten macht (vergl. pag.166) and die Actinomycosis (pag. 170),
die gleichfalls zu einer Verschwärung des Knochens, vom Periost nach der Markhöhle
hin führt. Sie findet sich namentlich an Unterkiefer, Rippen und Wirbelsäule. — Dass
auch die Pyämie eitrige Periostiten und Osteomyeliten macht, habe ich schon mehrfach
erwähnt. Osteomj^elitis nach Pocken beschreibt 67^^■«r^■ (Wiener med. Presse, 1892,
Nr. 47), Knochenentzündungen und Eiterungen bei Influenza (?) Frank (Langen-
iecfc's Archiv, Bd. 49). Eigenthümliche Knocheuentzündungen macht auch der Typ hu s-
bacillus (Klemm, Lanr/enbecJc's Archiv, Bd. 46— 48). In der Reconvalescenzperiode
kommt es zu Schwellung, Schmerzhaftigkeit (besonders an den Knorpelknochenfugen der
Rippen) mit Fieber. Meist kommt es zur Resorption, wobei eine Verdickung zurück-
bleibt, oder es kommt zur Verkäsung (der Typhusbacillus ist hier von Paget, Filrhringer
nachgewiesen), oder zur Verflüssigung, wobei sicli jedoch kein richtiger Eiter, sondern
eine syrupartige, rüthlich gelbe, klare, fadenziehende Flüssigkeit bildet. Schliesslich kann
es auch durch Mischinfection zu richtiger Osteomyelitis mit Sequesterbiklung kommen.
Auch septisches Emphysem ist dabei beobachtet. Aehnlich sind die Erfahrungen von
Wijssokowiisch und fJiqjonl , während Del Vecch/o und Parasaiidalo auf Grund von
klinischen und experimentellen Beobachtungen leugnen, dass der Typliusbacilius über-
haupt Eiterungen machen könne.
Eine eigenthümliche Form von l^criostitis und Necrosenbildung
findet sich bei Arbeitern, die viel mit Phosphordämpfen zu thun haben
(Zündholzfabriken; nur beim weissen Phosphor beobachtet) — Phos-
phornecrosc. Dass Plio.sjthor in geringen Mengen, innerlich gegeben,
die Ossification fiirdcrt. hat Wifpur nachgewiesen, und ist daraufhin die
Behandlung von Rachitis (siehe pag. 4l<>) und Pseudartlirosen mit Phos-
phor gegründet vvordin. Bei Arbeitern, namentlich solchen, die defecte
Zälinc haben, entwickeln sich unter dem Einfluss der Dämpfe zunächst
492 ^11- Capitel. — Krankheiten der Knoelieii und Gelenke.
Periostiten an den Kiefern, unter Zahnschmerzen, Ausfall der Zähne u. a. \v.
Die Kiefer verdicken sich zunächst durch periostitische Auflagerungen
in hohem Grade; dazu kommen Schleimhautverschwärungen. Erst später
und nicht immer kommt es zur Necrose des alten Knochens, tlieilweise
oder ganz; es entsteht dann eine Trennung zwischen diesen neuen peri-
ostitischen Auflagerungen (der „Lade") und dem necrotischen Knochen,
und nach einer Reihe von Monaten kann dieser ausgezogen werden.
Das Unterscheidende gegenüber der infectiösen Osteomyelitis und
Necrose besteht darin, dass die — vom Periost gelieferte — Lade
schon vorher fertig ist, ehe der alte Knochen abstirbt. — Wird die
Regeneration abgewartet und dann der todte Knochen schonend heraus-
gehobelt und gezogen, so kann der Ersatz ein recht vollständiger sein. —
Selbstverständlich müssen die Leute ihre Beschäftigung aufgeben. Xach
Jost (Beitr. z. klin. Chir., Bd. 12, Heft 2) beginnt die Krankheit durch-
schnittlich 8V4 Monate nach dem Beginn der Arbeit in den Fabriken
und dauert 7^4 Monate. Die Sterblichkeit beträgt im Ganzen 21-43%,
bei den Operirten 15-5"/o ; bei Necrose des Unterkiefers ist die Mor-
talität 11 0/0, des Oberkiefers 33 Vo- Er sowohl wie Häckel (Langen-
becFs Archiv, Bd. 39) empfehlen die Frühresection im Gesunden, wenn
EÖthig mit Resectionen einer Kieferhälfte; die Todesfälle durch sep-
tische Aspirationspneumonien, durch Uebergreifen auf die Schädelbasis
und folgende septische Meningitis werden so vermieden. Thiersch u. A.
hatten die subosteophytäre Resection (intermediäre Periode) empfohlen,
wegen besserer Regeneration.
Bei Perlmutterdrechslern kommen, so lange dieselben noch in der Wachs-
thumsperiode stehen, schmerzhafte Anschwellungen und Verdickungen der Diaphysen in
der Epiphysengegend vor, die auch zu harten periostitischen Auflagerungen führen
können (recidivirende Perlmutterostitis). Man vermuthet (Gussenbauer), dass es sich, um
embolische Verschleppung von Perlmutterstaub aus den Lungen und dadurch bedingte
Entzündungen handelt. Es ist dies insofern interessant, als aus dieser Thatsache hervor-
geht, dass kleinste corpusculäre Elemente durch die Lungen aufgenommen und nach den
Knochengefässen geschleppt werden können. (Vergi. pag. 485.) Wird die Beschäftigung
ausgesetzt, so schwinden die Erscheinungen, um bei Wiederaufnahme derselben wieder
aufzutreten.
Die Syphilis der Knochen liefert ein recht vielfarbiges klinisches
Bild. Oft erscheint sie nur in Gestalt herumziehender, namentlich nächt-
licher, anscheinend „rheumatischer" Schmerzen, ohne bestimmte Locali-
sation. Häufiger macht sie Localisationen, und zwar Entzündungen ver-
schiedenen Grades. Bald handelt es sieh um syphilitische Periostitis
ossificans. Hauptsächlich an oft mechanisch insultirten Stellen, wie
der Crista tibiae, entwickeln sich kleine höckerige Auflagerungen, ein
anderesmal kann es jedoch auch zu ziemlich umfänglichen Verdickungen
des Knochens kommen, die recht schmerzhaft sind, sowohl bei Berüh-
rungen und Bewegungen, als auch spontan, namentlich in der Bett-
wärme (Dolores nocturni osteocopi). Die Haut darüber röthet sich meist
nicht, aber die betreffenden Drüsen schwellen an.
Schwerer ist die Bildung von Gummata, die wir sowohl im
Periost, als auch, aber seltener, in den tieferen Schichten des Knochens
antreffen können. Auch hier treibt sich der Knochen auf, bald mit, bald
ohne Schmerzen ; aber die Anschwellung fühlt sich nicht knochenhart
an, wie die Periostitis, sondern anfangs teigig, bald deutlich fluctuirend.
Selbstverständlich können die leichteren Formen der Periostitis in die
Sj'philis der Knochen. Osteosclerosis idiopatliica.
49^
gummöse Form übergelieu. Tritt üuü die richtige Behandlung ein (Jodkali
oder Quecksilber, s. pag. 181), so kann der ganze Inhalt des Gumma
sich resorhiren, und an seiner Stelle bleibt meist ein deutlicher Defect.
(Spontanfracturen können auch an diesen Stellen eintreten, s. pag. 416.)
Andernfalls bricht das Gumma schliesslich auf und entleert seinen
schleimigen Inhalt, oft mit nekrotischen Fetzen untermischt. Meist kommt
nun Eiterung hinzu, und damit kommt es zu weiterem Absterben des
Knochens. Es können sich so grosse Flächen des Knochens abstossen
(exfoliiren). Diese Form trifft man hin umi wieder an der Clavicula,
ganz besonders aber am Schädel. Ein derartiger, sehr vorgeschrittener
Fall ist in Fig 410 (gummöse Ostitis des Stirnbeins mit Nekrose nach
Albert) dargestellt. Kleinere Knochen, wie die Nasenbeine, die Nasen-
Fig. 410.
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niuscheln u. s. f., können ganz verloren gehen und dadurch das Gerüst
der Xrtse in bekannter Weise einsinken (syphilitische Sattelnase).
Antisyphilitische Behandlung, nanicntlich Jodkali sistirt den Process
ziemlich prompt; da jedoch die Regeneration des Knochens oft ungenügend
ausfällt oder überhaupt ganz ausbleibt, sind grössere oder kleinere Defecte
des Knochens zu erwarten. — Die Sequester lassen sicli meist ohne
viel Mühe mit Zangen ausziehen.
Schliesslich wäre noch eine eigenartige Erkrankung zu nennen, über deren Ent-
stehung wir noch im Unklaren sind, die idiopatiiische Osteosclerosis {Paffet).
Es handelt sich hier — manchmal geht ein Trauma voraus — um eine unaufhaltsame
Verdickung und Verhärtung (Eburneation) der Schädelknochcn, sowohl vom Periost, als
vom Mark (l)iploe) ausgehend, die schliesslich zur Verengerung der Kopfliohlen (Schädel-
und Augenhöhlen u. s. w.) führt und damit die schwersten functionellen Störungen
494
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gehjnke.
(Epilepsie, Idiotie u. s.f.) herbeiführt. Fig. 411 ist die Hälfte eines Schädeldaches, welches
ungefähr auf das Fünffache des Normalen verdickt ist. — Eine Therapie giebt es nicht;
antisyphilitische Behandlung, an die man zunächst denken möchte, ist nutzlos. Gilles
de la Tourette und Marinesco (Centralbl. für Pathologie etc., 18i).5, Nr. 23) fanden
Verminderung der organischen Substanz des Knochens und Rückenmarksveränderungen.
Horsleij (Practitioner, 95, 1) hat solche Fälle , die er Leontiasis ossiam nennt,
wegen Trigeminusneuralgie operirt, der Knochen erwies sich als sehr gefässreich, tiefroth
und überaus porös.
Als Osteoarthropathie pneumique sind eigenthümliche Knochenverdickungen bei
chronischen Lungenaifectionen , Emphysem , Bronchitis u. dergl. beschrieben, Trommel-
schlägelflnger u. dergl. (vergl. H. Schmidt, Münch. Med. Wochenschr., 1892. Nr. 86).
Gelenkentzündungen.
Anatomische Formen der Gelenkentzündungen, hyperämische , seröse, eitrige,
adhäsive, deformirende Form. — Diagnose und Untersuchungsmethode
der Gelenkentzündungen. — Entstehungsweise der Gelenkentzündungen. —
Allgemeine Therapie derselben. — Die einzelnen Gelenkentzündungen in
ätiologischer Beziehung: Bacterielle Entzündungen, metastatische Ent-
zündungen, acuter Gelenkrheumatismus, Gelenkeiterungen, syphilitische Gelenk-
erkrankungen. — Constitutionelle Gelenkentzündungen: Gicht, Hämophilie,
Scorbut, Blei. — Arthritis deformans, chronischer Rheumatismus und neuroparalytische
Entartungen. — Gelenkneurose und freie Gelenkkörper.
Bei Gelenkentzündungen ist nicht nur eine anatomische,
sondern auch eine ätiologische Diagnose zu machen. Es genügt
nicht, zu wissen, in diesem Gelenk ist Serum, in jenem Eiter; man
muss auch die Ursache kennen, die der Gelenkerkrankung zu Grunde
liegt; nur dann kann man die einzig berechtigte, die ätiologische Therapie
einleiten. — Die Entzündungen der Gelenke weichen nach Ursache,
Entstehung und Form von den pag. 28 geschilderten Typen nicht
wesentlich ab. In erster Linie spielen sich dieselben in der Sjnovial-
membran ab, und die leichteren Formen beschränken sich auf diese.
Der Gelenkknorpel erkrankt erst secundär. Der Knochen wird eigentlich
nur von den schwersten, mit tiefgehenden Zerstörungen verknüpften
Entzündungsformen in Mitleidenschaft gezogen. Häufig genug ist aber
der Verlauf ein umgekehrter; der Knochen ist der zuerst erkrankte,
und von ihm setzt sich die Entzündung erst secundär auf das Gelenk
fort (z. B. tuberculöse Knochen- und Gelenkleiden).
Betrachten wir zunächst die anatomischen Formen von Ge-
lenkentzündungen.
Die hyperämische Gelenkentzündung bildet oft nur das
Anfangsstadium schwerer, z. B. eitriger Formen ; allein, als selbststän-
dige Erkrankung kommt sie wohl nur beim acuten polyarticulären
Verschiedene anatomische Formen der Gelenkentzündung. 495
Gelenkrheumatismus vor. Die Synovialisgefässe sind strotzend erweitert,
die Membran erscheint roth , ihre Oberfläche ist etwas uneben , wie
sammtartig; zellige Inliltration und Froliferation der Synovialis-Zellen
ist vorhanden ; die Synovia ist in geringem Grade vermehrt. Meist
wird über grosse Schmerzhaftigkeit geklagt, sowohl spontan, als nament-
lich bei Bewegungen. Die bedeckende Haut ist gespannt und etwas
geschwollen, oft bläulichroth. — Die hyperämische Entzündung geht
zurück oder in adhäsive Formen (acuter Gelenkrheumatismus) oder in
seröse und eitrige Entzündungen über.
Hämorrhagische Gelenkentzündungen finden sich — von Ver-
letzungen abgesehen — bei hämorrhagischer Diathese, weniger häufig
bei Scorbut, als bei Bluterkrankheit (Hämophilie). Meist ohne Vor-
boten erfolgt eine Anfiillung des Gelenks mit Blut. Man hat eine weiche,
undeutliche Fluctuation, die mit dem Gerinnen des Blutes noch undeut-
licher wird, nach einigen Tagen erscheint der Blutfarbstoff unter der
Haut. Die Prognose dieser Gelenksentzündungen ist schlecht, sie sind
therapeutisch fast ein noli me tangere (nur Priessiiitz'' sehe Umschläge und
Fixation) und enden nur zu leicht mit Ankylose, indem die Coagula
mit jungem Bindegewebe durchwachsen werden und dieses neue fibröse
Gewebe die Gelenkflächen aneinander festlöthet. W\ Koch (Deutsche
Zeitschr. f. Chir., 1889) fand Knorpeldefecte , die er als Inactivitäts-
atrophie auffasst, während Landotv {Langenbeck' s Archiv, Bd. 47) sie
durch die Fibrineinlagerungen wie bei Tuberculose erklärt.
Die traumatischen Blutergüsse im Gelenk haben wir schon pag. 455
besprochen.
Bei der serösen Gelenkentzündung ist das Gelenk durch
reichliche, oft trübflockige Synovia aufgetrieben. Bei der acuten
Form ist die Synovialis gleichfalls injicirt, geschwollen und serös
durchtränkt, bei der chronischen ist sie meist schwielig verdickt,
rauh und aofgefasert an ihrer Innenfläche. Die acute macht Schmerzen
und erhebliche Gebrauchsstörung, die chronische verursacht — ausser
leichterer Ermüdung — meist wenig Beschwerden. Die bedeckende
Haut bleibt hier ziemlich unverändert.
Die eitrige Gelenkentzündung ist stets mit äusserst lebhaften
Entzündungs-Erscheinungen verbunden. Zunäclist ist die Synovialis in
hohem Grade verändert, die Endothclien werden abgestossen, das Ge-
webe der Synovialis ist von massenhaften weissen Blutzellen durchsetzt
(citrige Infiltration) und kann sich schliesslich in eine Art Granulations-
gewel)e umwandeln. Die Knorpel trüben sich . auch in ihnen finden
sich zelligc Einlagerungen, die Knor])elzellen proliferiren, die Grund-
substanz wird streifig, fasert sich auf, schliesslich geht der Knorpel
tlieils in Form von mikroskopischem Detritus zu Grunde, theils st(>sst
er sich in grösseren Fetzen ab, die frei im Gelenk schwimmen (Knorpel-
geschwüre). Dadurch wird nun auch der Knochen freigelegt und er-
griffen, und es entwickeln sich in iliin, namentlich in der Spongiosa
der Gclcnkundcn, eitrige , osteoniyelitisartige Ent/iindungen . die zum
Zerfall und damit zur tlieilweisen Zersti)ruiig der Geii'nkköri)er führen. —
Der Gelenkinhalt l)esteht anfangs noch aus grünlichgelber trüber Synovia,
bald wird er zu einem dicken Eiter, in den schlininistcn Fällen kann
das Secret ein hämorrhagisch -Jauchiges werden, und fehlen «lann
auch meist umrängliche. diplithcritisartige Nekrosen an den (ieh-nk-
496 "^I^- Oapitel. — Kranklieiten der Knocln;)] uiül Gidenke.
flächen, namentlich der Synovialis, nicht. — Bei schweren, be-
sonders längere Zeit anhaltenden Gelenkeiteriingen werden auch die
Gelenkbänder eitrig infiltrirt und erweicht, ebenso auch das periarti-
culäre Gewebe. Die Kapsel wird ballonartig aufgetrieben und platzt,
der Eiter tritt in's umgebende Gewebe, macht hier periarticuläre
Abscesse und bricht schliesslich, bald nachdem er noch weite Senkungen
veranlasst, bald ziemlich direct nach aussen durch. Auch Subluxationen
entwickeln sich durch die Bändererweichung.
Klinisch macht sich die eitrige Gelenkentzündung durch schwere
Erscheinungen bemerklich. Rasch ansteigendes Fieber von dem Charakter
eines ernsten ßesorptionsfiebers und heftige Schmerzen leiten die Scene
ein. Rasch treibt sich das Gelenk auf und wird activ unbeweglich.
Die Haut wird heiss, röthet sich, erweiterte Hautvenen werden bemerk-
lich, kurz alle Zeichen eines Abscesses stellen sich ein. Häufig, aber
nicht immer, geht das Gelenk auch in bestimmte pathologische Stel-
lungen über (s. pag. 499).
Die Gefahren der Gelenkeiterung sind gross. Ein Theil der Kranken
erliegt der schweren Allgemeinerkrankung. Auch Pyämie ist im An-
schluss an eitrige Gelenkentzündung nicht selten. Mit dem Aufbruch
kann das Fieber nachlassen, Neigung zu Rückfällen des Fiebers durch
Eiterverhaltungen bleibt aber immer , so lange nicht für ganz freien
Abfluss des Eiters gesorgt ist.
Bei den leichteren (mehr katarrhalischen) Formen erzielt man
nicht so selten eine Restitutio ad integrum ; bei den schweren dagegen
wird man nur in einem kleinen Theil der Fälle ohne Beschränkung
der Beweglichkeit durchkommen , oft muss man mit Ankylose noch
recht zufrieden sein und sich freuen , wenn es nicht zur Amputation
kommt.
Die adhäsive Gelenkentzündung findet sich als Ausgang
einer ganzen Anzahl von Gelenkentzündungen. Ihr Wesen besteht in
der Bildung von Adhäsionen zwischen den im Gelenk verbundenen
Knochen und dadurch gesetzter Beeinträchtigung, selbst Aufüebimg der
Beweglichkeit (Ankylose).
Diese Form zeigt die verschiedensten Grade. Den leichtesten
beobachtet man bei lange Zeit immobilisirten Gelenken, kranken und
gesunden. Diese Vorgänge sind schon pag. 455 geschildert. Der Knorpel,
so weit er nicht mit anderen Knorpeln in Berührung steht, verschwindet
allmählich und wandelt sich (metaplastisch) zu Bindegewebe um oder
wird von Endothel und jungem Bindegewebe überwachsen. Dieses
Bindegewebe verlöthet dann wieder miteinander, so dass der freie Raum
des Gelenks erheblich eingeengt wird. Kapsel und Bänder schrumpfen
und verdicken sich und lassen die Faltung und Dehnung u. s. w.,
die bei Bewegungen nöthig sind, nicht mehr zu. Solche Formen
finden sich namentlich nach der hyperämischen Entzündung, als Aus-
gang des Rheumatismus polyarticularis acutus.
Den schweren Formen geht zumeist eine Zerstörung des Knorpels
(durch Eiterung, Tuberculose u. s. f.) voraus und es bildet sich dann
eine mehr oder weniger straffe bindegewebige Narbe zwischen den
Gelenktheilen. Eine Knorpelverlöthung kommt in irgendwie umfäng-
licherem Masse nicht vor. Dagegen ist es natürlich sehr leicht möglich,
dass die von ihrem Knorpel entblössten und mit Granulationen bedeckten
Verschiedene anatomisclie Formen der Gelenkentzündung. 497
Enochenflächen durch Verknöclierimg der Granulationen (siehe pag. 445)
eine knöcherne Verbindung eingehen.
Diese Formen kann man schon zu den ankylosir enden rechnen.
Bei den Ankylosen kommen wir nochmals hierauf zurück.
Die deformirenden Gelenkentzündungen haben unter den
Entzündungen der Weichtheile keine Vorbilder.
Wie der Name sagt, sind sie ausgezeichnet durch Formveränderungen der Gelenk-
körper und Bandapparate. Da die meisten Gelenke fast völlige Congruenz der Gelenk-
flachen für das feine Spiel ihrer Bewegungen voraussetzen, bedingen schon leichte Form-
abweichungeu erhebliche Störungen der Function. Knorpel und Knochen sind für ihre Er-
nährung auf einen gewissen Druck und Wechsel der Belastung angewiesen. Sobald sie durch
eine auch nur geringe Verschiebung oder Veränderung der Gelenkflächen ganz ausser
Beruhigung kommen oder an einzelneu Stellen einer zu starken und zu liäutigen Be-
lastung ausgesetzt oder durch Eauhigkeiten abgeschliffen werden, stellen sich in ihnen
anatomische Veränderungen ein, die ihrerseits wieder zu weiteren Störungen der Gelenk-
bewegung und somit zu neuen Veränderungen führen werden. So ist es erklärlich,
dass diese Formen der deformirenden Gelenkentzündungen so selten stationär bleiben,
sondern meist laugsam fortschreitend sind.
Das Wesen der Formveränderung besteht meist nicht in rein
atrophischen Processen, sondern in einem eigenartigen Ineinandergreifen
von Anbildung und Rückbildung. Knorpel und Knochen schwinden an
einer Stelle und werden wie weggeschlitfen , wobei sich der Knochen
an den Schliffflächen oft zu Elfenbeinhärte verdickt. An einer benach-
barten Stelle bilden sich dagegen oft massige und störende, unregel-
mässige neue Knochenmassen , so dass schliesshch von Congruenz der
Gelenkflächen nicht mehr die Rede sein kann. Diese scheinbar so
verschiedenen Processe auf eine einzige bedingende Ursache zurückzu-
führen, ist uns zur Zeit noch unmöglich. — Auch die bindegewebigen
Theile des Gelenkes betheiligen sich an diesen Processen, häufig aller-
dings nur durch Schrumpfung infolge mangelnder Bewegung.
Die angegebene Entstehungsweise mag namentlich der trauma-
tischen deformirenden Gelenkentzündung zukommen, wo sich
an eine oft geringfügige Beschädigung eines Gelenks langsam zu-
nehmende , schliesslich hochgradige anatomische Veränderungen an-
schliessen. Sie ist meist monarticulär. Am hochgradigsten sind diese Ver-
änderungen bei der eigentlichen Arthritis deformans s. Malum senile.
Eine seltene Form — meist zur Arthritis deformans gehörig, aber
auch bei Syphilis und gelegentlich als frühes Stadium der Gelenktiiljer-
culose vorkommend — ist die Arthritis villosa. Es bilden sich durch
Hypertrophie der Zotten polypöse, oft dünn gestielte Wucherungen, in
denen es sogar zur Knorpel- und Knochenbildung und durch Absciniürung
der Stiele zur Bildung freier Gelenkkörper kommen kann. Auch als End-
stadium heilender Gelenktuberculose bei Zimmtsäurebehandlung habe ich
sie mitunter gesehen. Die tuberculösen Zotten enthalten typische Rieseii-
zellen (siehe pag. 176). — Bei Betastung des Gelenks fühlt man die
harten Zotten sich verschieben. Durch Einklemmung der Zotten und
freien Körper können sehr heftige plötzliche Schmerzen entstehen.
(Siehe auch bei „Freien Gelenkkürpcrn".)
Diese verschiedenen anatomischen Formen kommen keineswegs
immer rein vor.
Landerer, Allg. chir. Pathologie n. Therapie. 2. Aufl. 32
498
Vn. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Für dieDiagnosederGelenkerkrankungenist stets ein bestimmter regel-
mässiger G-ang der Untersuchung einzuhalten.
Eine genaue Aufnahme der Anamnese und des Allgemeinzustandes ist
unerlässlich. Der Nachweis anderer Krankheitserscheinungen, wie Zeichen von Tuber-
cnlose, Syphilis, Gicht u. dergl., bringt oft sofort Licht in die Diagnose. Selbst auf
scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten, wie Gonorrhoen , ist zu achten. Lebensweise und
Beschäftigung sind auch nicht ohne Interesse (Blei).
Man beginnt nun, nachdem man sich über den bisherigen Verlauf des Leidens,
Schmerzen , Veränderung der Gebrauchsfähigkeit , etwaige Verletzungen u. s. f. unter-
richtet hat, mit der Inspection des Gelenkes. Man muss dabei immer die normalen
Formen des betreffenden Gelenks im Auge behalten. Im Anfang, wo man noch nicht
geübt ist, vergleicht man stets mit dem gleichfalls entblössten gesunden Gelenk der
anderen Seite.
Häufig fällt zunächst eine Formänderung oder Schwellung des Gelenks auf.
Man möge hiebei u. A. die angefügten 3 Figuren (nach Albert) vergleichen : Fig. 412
Fig. 412.
Kg. 413.
Fig. 414.
normales Kniegelenk, Fig. 413 seröser Erguss im Gelenk, Fig. 414 tuberculöse (scrophu-
löse) Kniegelenkentzündung. Entspricht die Anschwellung genau den Grenzen der Ge-
lenkkapsel, wie in Fig. 413 , so hat man es jedenfalls nur mit einer einfachen Auf-
treibung und Ausdehnung des Gelenks durch Flüssigkeit (Serum, Blut) zu thun. Lassen
sich jedoch die Contouren des Gelenks nicht mehr so scharf erkennen , sondern sind
verwischt und ist die Schwellung selbst nicht so scharf abgegrenzt, sondern diffus, wie
in Fig. 414 , so ist dies noch kein Zeichen , dass das Gelenk nicht erkrankt ist,
sondern dass ausser dem Gelenkapparat selbst noch die umgebenden Gewebe mit entzündet
und geschwollen sind. Selbstverständlich sind solche Stellen, die besonders stark ge-
schwollen sind, der obere Recessus im Knie (Fig. 413) , oder eine isolirte Auftreibung
eines einzelnen Gelenktheils , z. B. des Condylus internus femoris (Fig. 414) , besonders
zu beachten.
Beschaffenheit und Farbe der Haut und der umgebenden "Weichtheile ist
nicht ausser Acht zu lassen; ob die Contouren der Muskeln, Sehnen und Bänder in
normaler Weise hervortreten ; ob die Haut unverändert (chronische seröse Entzündungen),
blass und von ektatischen Venen durchzogen (Tumor albus , i. e. scrophulöse Entzün-
dung) , roth (Eiterung) oder atrophisch ist (gewisse chronische deformirende Entzün-
dungen u. s. w.).
Die wichtigsten Aufschlüsse gibt die Palpation. Die Untersuchung bei Gelenk-
leiden muss so schonend als möglich sein, alle rohen und stossweisen Bewegungen und
Untersuchung der Gelenkentzündungen. 499
Erschütterungen sind zu vermeiden. Bei der Palpation ist zu beachten der Zustand der
Haut und der umgebenden Weichtheile, die periarticulären Muskeln (Hüfte) durch
leichtes Hin- und Herschieben und Abtasten zwischen den Fingern. Dann betastet man
die Kapsel. Ist dieselbe fühlbar aufgetrieben, so prüft man auf Fluctuation (siehe
pag. '61) (Serum, Eiter, Blut). Ist das Gelenk erfüllt mit Granulationen (granulirende
oder tuberculöse Gelenkentzündung = Gelenkschwamm), so erhält man das Gefühl teigiger,
schwammiger Consistenz.
Nun sind die Knochen , die im Gelenk verbunden sind , zu betasten , möglichst
genau, unter steter Vergleichung mit den normalen Verhältnissen; keine Anftreibung
oder Vertiefung darf der Untersuchung entgehen; ganz besonders ist auf fixe and
circumscripte Schmerz- und Druckpunkte zu achten (Tuberculöse, Lues), die
auf eine im Innern des Knochens sich abspielende Entzündung hinweisen. Meist ist in
diesem Falle das Knochenleiden das Primäre, das Gelenkleiden das Secundäre.
Sowohl durch Inspection als Palpation sind etwaige Stellungsänderungen
der Knochen im Gelenk festzustellen. Viele Gelenkentzündungen führen zu be-
stimmten entzündlichen Gelenkstellungen. Am ausgesprochensten sind die-
selben bei den tuberculösen Gelenkentzündungen , während sie bei chronischen serösen
Entzündungen oft ganz fehlen. Jedes ki'anke Gelenk hat seine eigene Stellung; im
Hüftgelenk erfolgt leichte Beugung und Eotation nach aussen ; das Knie flectirt sich :
das Fussgelenk weist Plantarflexion auf; das Handgelenk Palmarliexion ; im Ellbogen-
gelenk tritt Neigung zur Beugung und etwas Pronation auf, das Schultergelenk zeigt
leichte Abductiou und sinkt meist der Schwere folgend herunter.
Die Ents t ehungsweis e dieser entzündlichen Gelenkstellungen ist
noch nicht ganz klar gestellt. Bonnet hat darauf hingewiesen, dass diese Stellungen meist
diejenigen sind, in welchen das Gelenk am meisten Flüssigkeit zu fassen vermag; doch trifft
dies gerade für manche Anfangsformen tuberculöser Gelenkaffectionen nicht zu, wo der Er-
guss minimal und die abnorme Stellung oft gerade sehr ausgesprochen ist. Nach Lücke
(Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 21) gilt die Bonnefsche Theorie nur für die acuten Synoviten,
nicht aber für die chronischen (?). Es ist Zweckmässigkeit dabei im Spiel und "Willkür (?).
Die Beugemuskeln sollen günstiger ernährt sein als die Strecker, die deshalb auch
früher und stärker atrophiren. — Die Anfangsstellungen sind z. Th. gewollt und ge-
wählt wegen geringerer Schmerzhaftigkeit, die Spätstellungen sind Folgen von Atrophien
(z.B. der Strecker) und Contracturen der weniger atrophischen Muskeln, der Beuger;
diese Stellungen werden in der Narkose nicht mehr ganz geändert (ohne gewaltsame
Zerreissungen). Die Schlussstellungen sind Folgen der Destruction der Gelenkkörper oder
narbiger Schrumpfungen. — Die Muskelatrophien sind reflectorische (Duchenne).
Diese falschen Stellungen sind nach Winkelgraden genau abzumessen , behufs
späterer Vergleichung.
Anzuschliessen ist die Messung mit dem Messband. Die Differenzen des Um-
fangs der gesunden und kranken Seite (in mehreren Ebenen) sind zu notiren. Auch Be-
stimmung der Durchmesser mit dem Tasterzirkel kann gelegentlich von Vortheil sein.
Dann schreitet man zur Prüfung der Be we glichkeit. Zuerst ist die active
Beweglichkeit festzustellen, d.h. das Mass von Bewegung, das der Kranke selbst
mit dem betreffenden Glied noch ausführen kann. Gewöhnlich ist dieselbe herabgesetzt,
durch Erguss in das Gelenk, Veränderungen der Geleukflächen, am meisten durch die
Schmerzen. Die passive Beweglichkeit ist der Grad von Beweglichkeit, die
der Arzt mit seiner Hand dem Gelenk ertheilen kann. Man prüfe hier methodisch,
Flexion und Extension; Abduction und Adduction; Rotation. Die Einschränkung der-
selben, besonders die Unmöglichkeit, extreme Bewegungen auszuführen, ist eines der
frühesten und deshalb wichtigsten Symptome chronischer, namentlich tuberculöser Ge-
lenkentzündungen. Erschlafft der Kranke, wegen Schmerzen die Muskeln nicht völlig,
so dass eine genügende Vorstellung von dem Grade der Bewegnngseinschränkung nicht
zu gewinnen ist, so kann die Narcose angezeigt sein.
Zum Schluss prüft man, ob das Gelenk Bewegungen in abnormen Rich-
tungen gestattet, wie Knie oder Ellbogen seitliche Bewegungen. Es ist dann Zer-
störung oder Verletzung des Bandapparates oder Dehnung desselben anzunehmen.
Während man diese Bewegungen im Gelenk ausführt oder ausführen lässt, kann
man oft noch andere Wahrnelmiungen machen. Oft fühlt man — mitunter ist es sogar
zu hören — wenn man die Hand aufs Gelenk legt, ein Knarren, wenn die Gelenk-
körper rauh geworden sind, bei deforniirenden Entzündungen — oder ein Reiben —
ein weiches durch Blutgerinnsel, ein rauhes, der Crepitation bei Knochenbrüchen
ähnliches, wenn die Knochenflächen von Knorpel entblösst sind (citrige. tuberculöse
Entzündungen) oder nach Geienkfracturen.
82*
500 Vn. Capitel. — Ki'ankheiten der Knochen und Gelenke.
Scliliesslicli drückt man noch die Knochen (sanft!) gegen einander an. Manchmal
— z. B. wenn man den Trochanter in die Hüftpfanne drückt oder die Wirbelsäule
zwischen Kopf und Gesäss zusammendrückt — klagt der Kranke über Schmerz, und
dieses Symptom kann, besonders wenn es regelmässig zu beobachten ist, sehr wichtig sein.
Die Schmerzen, die bei den Entzündungen der Gelenke auftreten, sind
äusserst verschieden. (S. die einzelnen Formen.) Durchschnittlich werden die Schmerzen
bei den bacteriellen Gelenkentzündungen umso heftiger, je mehr das Gelenk gebraucht
wird. Bei traumatischen Formen ist es oft umgekehrt; wenn die Kranken im Gang
sind , lassen die Schmerzen nach und kehren wieder beim Uebergang von längerer
Ruhe (Murgens) zur Bewegung. Dasselbe Verhältniss findet man oft bei den Function s-
störungen. Bei jenen nimmt die Gebrauchsfähigkeit rasch ab, mindestens tritt bald
Ermüdung auf. Bei diesen ist oft gerade ein vernünftiger Gebrauch das beste Heilmittel.
Die Entstehungsweise der Gelenkaffectionen ist eine
ziemlich mannigfaltige.
Verletzungen spielen eine wichtige Rolle, theils indem die
Gelenkhöhle durch eine äussere Wunde eröffnet wird und dadurch
Gelegenheit zu Einwanderung von Mikroorganismen gegeben ist. (Vergl.
pag. 467 , Gelenkwunden.) Oder eine bedeutendere Verletzung , ein
Knochenbruch, eine Verrenkung (vergl. namentlich unter Gelenkbrüchen)
gibt Anlass zu einer Gelenkentzündung, z. B. der traumatischen defor-
mirenden Gelenkentzündung. — Aber auch kleinere Verletzungen —
extreme Bewegungen, Verstauchungen u. s. f. — spielen eine Rolle,
indem sie z. B. für metastatische bacterielle Entzündungen eine Prädi-
lectionsstelle, einen Locus minoris resistentiae schaffen (vergl. Schüller,
pag. 485). Dann sind kleinere Verletzungen häufig der Anlass zur
Verschlimmerung oder Wiederkehr vorher bestandener Gelenkentzün-
dungen (scrophulöse Gelenkleiden).
Die bacteriellen Gelenkentzündungen bilden den grössten
Theil der Gelenkentzündungen. Nur selten ist eine in's Gelenk pene-
trirende äussere Wunde die Eingangspforte für die Mikroorganismen.
Ebenso selten ist es die Fortpflanzung entzündlicher Processe von den
Weichtheilen , doch kann z. B. eine über ein Gelenk wegziehende
Wundrose eine Gelenkentzündung veranlassen. Weitaus die meisten
Gelenkentzündungen entstehen auf embolischem, metastatischem
Wege (s. pag. 61). Die Gelenkhöhlen sind weite Gewebsspalten,
worin die Mikroorganismen sich viel ungestörter entwickeln können,
weil sie nicht wie im Innern des Gewebes den Kampf mit den dort
vorhandenen Zellen zu bestehen haben. Die Gelenkhöhlen sind in dieser
Hinsicht todte Räume (siehe pag. 29).
Ein anderer Theil der Gelenkentzündungen ist Constitution eil er
Natur, d. h. sie sind Theilerscheinungen allgemeiner Störungen des
Stoffwechsels, wie der Gicht, der hämorrhagischen Diathese, der Hämo-
philie u. s. f. — Ihnen nahe stehen die auf Intoxicationen be-
ruhenden — z. B. bei chronischer Bleivergiftung.
Diesen constitutionellen Formen dürften nahestehen gewisse defor-
mirende und auch chronisch-rheumatische Formen, die zum Theil auch
auf chronischen Infectionen oder Stoffwechselanomalien beruhen mögen.
Dazu kämen dann noch die neuroparalytischen Gelenkentzün-
dungen.
Erkältungen spielen wohl mehr als Gelegenheitsursache bei
vorhandener Disposition mit und tragen zur Verschlimmerung vorhan-
dener Entzündungen bei.
Allgemeine Behandlung der Gelenkentzündungen. 501
Nie soll man sich in praxi beriüiigen , ehe die Ursache einer
Gelenkentzündung- völlig durchsichtig geworden ist. Nur dann ist
man im Stande, die einzig richtige, die ätiologische Therapie ein-
zuschlagen.
Will man allgemeine Regeln für die Behandlung der Ge-
lenkentzündungen aufstellen, so muss man vor Allem das Ziel, das
zu erreichen ist, klar in's Auge fassen. Das kranke Gelenk soll mög-
lichst zur Norm zurückgeführt werden; wo aber das Leben durch die
Gelenkentzündung (schwere eitrige Formen) gefährdet ist, muss in
erster Linie — im Fall der Noth selbst auf Kosten des Gelenks —
die Gefahr für's Leben bekämpft werden.
Zunächst ist in den Fällen, die auf einer Allgemeinerkrankung
beruhen, auch sofort die Allgemeinbehandlung einzuleiten. Ich
denke hier zunächst an die Allgemeinbehandlung der Syphilis, Tuber-
culose, Gicht u. s. w.
Neben dieser Allgemeinbehandlung hat die örtliche Behand-
lung einherzugehen.
Eine grosse Anzahl von Fällen, vor Allem die bacteriellen , ver-
langen in erster Linie Ruhe, sie werden durch Bewegung und Ge-
brauch sofort schlimmer. Bettruhe genügt bei Patienten mit Gelenk-
affectionen der unteren Extremitäten nicht, die Gelenke müssen festge-
stellt werden. Hiezu bedient man sich der Schienen. So sind Blech-, Holz-
oder mit Guttaperchapapier überzogene Pappschienen (vergl. pag. 286)
ganz zweckmässig für Fälle, wo öfter etwas am Gelenk vorzunehmen
ist, z. B. Priessnitz' iiche Umschläge zu machen sind. Sonst empfehlen
sich Kapseln aus Gips, Wasserglas, Kleisterbinden, die bei
starker Schwellung und Schmerzhaftigkeit noch mit Watte ausgepolstert
werden. Zweckmässig ist es auch , die Kapseln der Länge nach zu
spalten, so dass sie abgenommen und das Glied nach Belieben besichtigt
werden kann; hin und wieder sind auch gefensterte Verbände zu
brauchen. Die einfache Lagerung auf Kissen und Polstern u. dergl.
leistet nie dasselbe, wie ein guter Fixationsverband , da die Kranken
namentlich im Schlaf doch Bewegungen mit den Gliedern ausführen. —
Die Fixationsverbände sind in der Stellung anzulegen, in
der das Gelenk für den Fall, dass es steif würde, am
brauchbarsten ist. Dies ist eine Grundregel, von der man nie ohne
zwingenden Grund abgehen soll. Ein im Knie rechtwinklig gebeugtes
Bein, ein im Ellbogen gestreckt steif gewordener Arm sind nahezu
unbrauchbar. Es sind zu stellen: die Hüfte in mittlerer Streckung, das
Knie gestreckt oder, noch besser, in Beugung von ITö"; das Fussgelenk
rechtwinklig zum l'ntcrschenkel. Der Oberarm soll im Schultergelenk
senkrecht herabhängen ; das Ellbogcngclenk steht in Bcugimg von 80",
in einer Mittelstellung zwischen Pro- und Supination. den Daumen nach
oben, die Handfläche dem Körper zugewendet ; das Handgelenk ist am
brauchbarsten in Mittelstellung zwischen Plantar- und Dorsalflexion
(»der bessei- etwas dorsal ilectirt.
Für viele (lelcnkentzündungen sind Zugvcrliii ndc (permanente
Extension. Distraction ) sehr zweckmässig, indem sie das (üied
allmählich in seine normale Lage zurückführen und den Druck der
Gelenkk<irper gegen einander aufheben, (^\'rgl. pag. HUO IV. und Tuber-
culose der Knochen und (!elenke.)
502
VJI. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Fig. 415.
In vielen Fällen sind tragbare Apparate nüt/lich; nicht in
dem floriden Stadium der Entzündung, wohl aber als Schutz, wenn
diese so ziemlich abgelaufen ist. Manche derselben sind sehr brauchbar,
wie die Stützapparate am
Bein, welche im Gehen ge-
statten, Hüft- oder Knie-
gelenk zu extendiren und
den Stoss des Bodens direct
aufs Becken übertragen,
so dass die Gelenke der
unteren Extremität vor
jeder Stauchung geschützt
sind. In den meisten Fällen
ziehe ich einfache Wasser-
glas- u. s. w. Kapseln vor.
Meine Erfahrungen drän-
gen immer mehr zu der
Ueberzeugung , dass man
mit gut sitzenden Ruh-,
d. h. Fixationsverbänden.
mehr erreicht, als mit
Distractions-, d. h. Zugver-
bänden (vergl. Knochen-
tuberculose). Fig. 415 gibt
einen portativen extendi-
renden Gehapparat nach
Taijlor- Wolf. Der Patient
sitzt mit dem Tuber ischii
auf einem Sitzring. Das
Bein wird gegen das
Sohlenstück des Appa-
rates extendirt. Ebenso
zweckmässig sind die bei
der Fracturbehandlung,
pag. 438 ff., besprochenen
Gehverbände, sei's nun
dass man Gipsgehverbände
oder die Apparate von
Bruns, Liermann, Heuss-
ner u. A. anwenden will.
Bei leichten Fällen ist
eine Lederkappe (z. B.
Kniekappe) ganz zweck-
mässig, um den Patienten
zu hindern , extreme Be-
wegungen mit dem Bein
auszuführen. Eine gut um-
gelegte Flanellbinde thut jedoch dieselben Dienste und ist reinlicher.
Zu diesen prophylactischen Verfahren treten andere, die mehr direct
auf das erkrankte Gelenk einwirken, bald auf die Haut und mittelbar durch
diese aufs Gelenk, bald solche, die unmittelbar das Gelenk selbst angreifen.
Allgemeine Behandlung der Gelenkentzündungen. 503
Von den äusseren Mitteln ist eines der wichtigsten und oft
recht nützlichen Agentien das Wasser. Kalte, oft gewechselte Umschläge,
ebenso Eisblasen lindern wohl die Schmerzen; einen Einfluss auf den
Verlauf habe ich nicht feststellen können. Dagegen sind Priessnitz^&che
Umschläge (4 — Sfacher Mull, darüber Guttaperchapapier, Watte und
eine Binde, alle 3 — 6 Stunden gewechselt) eines der wirksamsten Heil-
mittel, besonders in subacuten und chronischen Fällen. Der Reinlichkeit
halber lasse ich sie mit ganz dünnen Sublimatlösungen (1 : 5000 bis
1:10.000) oder Salicyllösungen (1:300) machen. Dann ist das ganze
hydropathische Verfahren sehr werthvoll, namentlich für chronische
Fälle, besonders in Gestalt von Douchen ; kalten , aber auch warmen,
die mit ziemlicher Gewalt auf das Gelenk einwirken (Strahldouchen).
Auch Wechsel kalter und warmer Douchen (schottische Douchen)
sind , wenn man nur vorsichtig damit beginnt , oft von grossem
Nutzen. Ebenso sind hydropathische Packungen des ganzen Körpers —
ein nasses Laken und darüber wollene Teppiche, bis tüchtige Schweiss-
bildung eintritt — oft zu empfehlen; desgleichen Dampfbäder. Ueber-
haupt sind allen Gelenkleidenden häufig wiederholte warme Bäder nütz-
lich. Von Bädern eignen sich besonders Thermen und Kochsalz-
thermen — Teplitz, Wildbad. Gastein, Baden-Baden, Wiesbaden u. dergl.
— Ferner sind oft überaus wirksam Moorbäder, allgemein oder in
Form von örtlichen Umschlägen; ebenso heisse Sandbäder (Köstritz)
und Schwefelbäder, Schwefelschlammbäder.
Die äusserliche Anwendung von Medicamenten hat deut-
liche Wirkungen selten aufzuweisen. Doch kann man in manchem
chronischen Fall gelegentlich auf eine Ichthyolsalbe (1 Ichthyol : 1 bis
3 Theilen Lanolin) oder einen tüchtigen Jodanstrich zurückgreifen ;
die Schmerzhaftigkeit wird doch öfters dadurch vermindert. Die Appli-
cation der Glühhitze hat mir auch in einzelnen Fällen Dienste gethan
und fehlt dieser Medication nach den Experimenten von Grawitz auch
eine gewisse theoretische Begründung nicht. — Auch Einreibung mit
grauer Quecksilbersalbe (Ung. cinereum), Jodsalbe , ist mitunter nicht
ohne Erfolg.
Von weiteren örtlichen Eingi-iffen wäre noch zu nennen die Compression, die
sich namentlich gegen seröse Ergüsse richtet. Am energischsten wirkt die Schwamm-
compression. Die Gegend der Gefässe wird gut gepolstert und mit einer Holz-
oder starken Pappschiene geschützt; dann werden um das ganze Gelenk trockene
Schwämmchen, etwa hühnereigross herumgepackt und mit fest angezogenen Binden
befestigt. Die Wirkung ist stärker, wenn die Schwämme nachträglich befeuchtet werden.
Beständige Aufsicht i.st natürlich nöthig. Ganz beträchtliche Ergüsse können so oft in
wenigen Stunden völlig verschwinden ; leider kehren sie meist rasch wieder.
Grossartige Resultate gibt in vielen Fällen die Massage der
Gelenke. Die Fälle sind mit Vorsicht und Sachkcnntniss auszu-
wählen. Ausgeschlossen von der Massagebehandlung sind alle
frischen bactcriellcn Entzündungen. Hier würden durch die
Massage die Mikroorganismen erst recht in die ("irculation eingepresst
und örtlich die Entzündung wesentlich verschlimmert. Die Praxis wider-
spricht den l''xi)erinienten Kap2)eh'r's\ dass bei Gelenkentzündungen, die
an Tiiieren durch Streptococceninjectionen erzeugt waren, die Massage
nicht schädlich war. Angezeigt ist die Massage besonders bei traumati-
504
VIJ. Capitel. — Krankheiten der KnocliO) und ()i;l(;rike.
Fig. 41G.
sehen Formen , dann aber auch in den »Spätformen anderer Entzün-
dungen ; ebenso bei den adhäsiven und deformirenden Formen.
Die Massage wird im "Wesentlichen so ausgeführt, wie ich dies X'ag. 308 geschildert
habe. Man beginnt mit leichtem centripetalem Streichen, das man allmählicli ver-
stärkt; dann kann auch noch ein Kneten der Kapsel und ein Hin- und Herschieben
derselben auf dem Knochen folgen. Sind die Muskeln atrophisch,
so werden diese geklopft (Tapotement, siehe pag. 305), die Gelenk-
gegend selbst darf nicht geklopft werden. Dann werden noch
passive Bewegungen hinzugefügt, indem ruhige Bewegungen
die Excursionen des kranken Gelenks zu vergrössem suchen.
In den Fällen , wo Massage und passive Be-
wegung sich erfolgreich erweist, wird die Heilung
meist erheblich gefördert durch einen massigen, öfters
wiederholten, aber nie zu lange fortgesetzten Gebrauch.
In chronischen Fällen , sowie in der Nachbehandlung
abgelaufener acuter Entzündungen ist ebenfalls zweck-
mässig die Gymnastik, sowohl manuelle als maschi-
nelle (pag. 306). Sie dient zur Beseitigung der Gelenk-
steifigkeiten, sowie der so oft zurückbleibenden Muskel-
atrophien.
Von operativen Eingriffen sind in erster Linie
zu nennen Einspritzungen in's Gelenk. Hauptsäch-
lich kommen sie für die Behandlung der tuberculösen
Gelenkerkrankungen in Betracht. Sonst bringt die In-
jection von Jodtinctur gelegentlich zweifellosen Nutzen
bei chronischem Hydrops genu (mehrmals wiederholt
1 Grm.). Es entsteht Entzündung der Synovialis und
infolge davon Resorption des Ergusses
Fig. 417. (siehe pag. 40). Carbolinjectionen (3 bis
A ^Vo) werden gelegentlich gerühmt, ebenso
Sublimatinjectionen (1 : 1000 in gonor-
rhoische Gelenke). Eine hiezu geeignete
bö 11 Spritze gibt Fig. 416 nach SchüIIer.
Die Function des Gelenks, die
unter strengster Asepsis ausgeführt wird,
hat nur bei flüssigen Ergüssen, Blut (siehe
pag. 456), Serum oder Eiter, Sinn. Zur
Fig. 418.
Function der Gelenke können wir uns des Troicarts, einer Hohlröhre
mit darin gleitendem stechendem Stilet bedienen (Fig. 417). Die
Anwendung zeigt Fig. 418. Nachdem der Troicart an einer vor-
gebuchteten Stelle des Gelenks eingestochen ist, zieht man das Stilet
heraus und lässt die Flüssigkeit durch die Canüle ablaufen. Für Gelenk-
Operative Eingriife bei Gelenkentzünduugen.
505
Fig. 419.
Fig. 420.
punctionen weniger geeignet, als zur Ablassiing grösserer Flüssigkeits-
mengen (Pleuritis, Ascites) sind die Troicarts mit seitlichem Abfluss
(Fig. 419) nach Fräntzel, Thompson u. A. Wo die Flüssigkeit zu dick
ist, kann man sich auch des Aspirators bedienen — eine Spritze mit
IV2 flach durchbohrtem Hahn, mit der man Flüssigkeit ansaugen und
seitlich — nach Drehung des Hahns um 1 R. wieder ausspritzen kann
(Fig. 420), Aspirator nach Dieulafoy-Potain.
Allein gibt die Function nur vorübergehende Erleichterung; in
den meisten Fällen wird sie mit der Auswaschung des Gelenks
durch die Troicartcanüle verbunden. Nachdem die Flüssigkeit abge-
laufen ist, lässt man irgend eine
antiseptische Flüssigkeit oder
sterilisirte, O'TYo Kochsalzlösung
unter geringem Druck in's Ge-
lenk einlaufen, wieder austreten
und wiederholt dies , wenn
nöthig, bis die Flüssigkeit klar
abläuft. Leichte Bewegungen
des Gelenks vertheilen dieselbe
im Gelenk. Hiezu eignen sich
Carbollösung 3 — 5%, Sublimat-
lösung (1 : 3000 bis 1 : 1000)
{Hager, Deutsche Zeitschrift für
Chir., Nr. 27) , Salicylborlösung
(l'O Ac. salic. , 6"0 Ac. boric,
300'0 Wasser) oder eine ganz
dünne Jod-Jodkaliumlösung (1"0
Jod. pur. . 2"0 Kai. jod. , Aq.
dest. 100-0).
Bei eitrigen Ergüssen kann
man gleich durch die Troicart-
canüle ein Drainrohr einschieben
und so die Drainage des Ge-
lenks anschliessen. Doch ge-
nügt selten ein Drain, meist
muss man noch an einer oder
mehreren anderen Stellen Drain-
röhren einlegen, die jedoch
nur wenig in's Innere des Gelenks hereinragen dürfen und deshalb
— kurz wie sie sind, anzunähen sind. Grosse lange Drainröhren quer
durch "'s Gelenk zu ziehen, empfiehlt sich weniger.
Die Oetthungen für Drainröhren und Eiter müssen gross und weit
sein und an den tiefsten Punkten des Gelenkes liegen. Damit ist nur
ein Schritt zur breiten Eröffnung des Gelenkes, die mit mehreren
seitlichen und liinteren Schnitten hauptsächlich bei septischen und
jauchigen Processen angezeigt ist. An sie kann in seltenen Fällen
die i)ermanentc Irrigation des Gelenkes (mit Chlorwasser, essigsaurer
Thonerde 2 — 4%) angeschlossen werden (vergl. pag. 187).
In noch schwereren Fällen kann zur atypischen oder typischen
Resection Tvergl. pag. 2G4j geschritten werden müssen. Wenn diese
506 \ll. Capitel. — Krankheiten der Knochen und fielenke.
genügenden Erfolg nicht mehr gibt, bleibt als Letztes nur nocli die
Amputation.
Die einzelnen Formen der Gelenkentzündungen sind nun
nach ihrer Aetiologie kurz zu schildern.
Betrachten wir zunächst die metastatischen bacteriellen
Entzündungen. — Gelenkentzündungen kommen bei fast allen
acuten Infectionskrankheiten vor; es sind hier zu nennen die
acuten Exantheme, Masern, Scharlach, Pocken; dann aber auch Pneumonie,
Typhus, Diphtherie, Keuchhusten, Erysipel u. s. f., natürlich auch die
septischen Processe, wie Parotitis epidemica (Mumps), Osteomyelitis,
Pyämie , Septicämie , dann Rotz , Malaria ; schliesslich noch die Ent-
zündungen des Urogenitalcanals , Tripper, chronischer eitriger Catarrh
der Blase und der Niere. Selbst nach Einführung von Kathetern und
anderen Instrumenten in die Harnröhre sind Gelenkentzündungen be-
obachtet. Die metastatischen Gelenkentzündungen setzen meist als acute
seröse Ergüsse ein und können auf diesem Stadium bleiben und
abheilen. Oder sie werden eitrig, indem sich das Secret trübt, Flocken
abgesetzt werden; schliesslich erfüllt ein grünlichgelber Eiter das Ge-
lenk. Die Spannung dieser Ergüsse ist meist eine geringe und die
Schmerzen unbedeutend, so dass sie besonders bei benommenen Kranken
und in tief gelegenen Gelenken (Hüfte) oft übersehen werden. Der
Knorpel bleibt meist intact. Nicht selten bilden sich Spontanluxationen
aus (vergl. pag. 468).
Ein grosser Theil dieser Gelenkergüsse resorbirt sich von selbst.
Die Resorption wird unterstützt durch PriessnUz'' sehe Umschläge mit
dünnsten Sublimatlösungen (1:10.000 — 1:20.000). Im Nothfall wäre
eine Punction des Gelenks mit dem Troicart, Ablassen des Secrets
und Ausspülen mit Sublimatlösung (1 : 5000 — 1 -.2000) angezeigt. Drainage
oder breite Eröffnung des Gelenks dürfte nur selten nöthig werden.
(Die schweren eitrigen Formen s. pag. 507.) Die anfangs zurück-
bleibenden Beweglichkeitsstörungen verschwinden oft wieder unter
feuchten Umschlägen. Nachdem alle entzündlichen Erscheinungen ver-
schwunden sind, ist Massage erlaubt. Doch kommt auch Verlöthung
der Gelenkkörper und Ankylose vor.
Etwas abweichend von diesem Verlauf ist der der gonorrhoischen
Gelenkaffectionen.
Die Annahme, dass die gonorrhoischen Gelenkentzündungen nur zufällige Com-
plicationen mit acutem Gelenkrheumatismus seien, ist durch den wiederholten Nachweis
von Gonokokken im Eiter der Gelenke widerlegt. Der Tripperrheumatismus verläuft
meist — nicht immer — ohne Fieber, befällt gewöhnlich nur 1 Gelenk (Knie-, Puss-,
Handgelenk etc.) , zeigt ziemlich reichlichen Erguss , gewöhnlich seröser Natur. Doch
kann dieser auch eine trüb-flockige , selbst grünlich-eitrige Beschaffenheit annehmen.
Weitere Metastasen der Gonorrhoe sind Sehnenscheiden- , Schleimbeutelentzündungen,
Augen affectionen. Bei Tripperrheumatismus ist Salicylsäure innerlich einflusslos. Der
Verfall ist ein ziemlich chronischer, sich oft über Monate hinziehender. Trippergelenk-
affectionen recidiviren oft pünktlich mit jedem neuen Tripper.
Die Behandlung des „Tripperrheumatismus" besteht in Feststellung
und Friessnitz' wallen Umschlägen (Sublimatlösung), daneben Jodkali inner-
lich, l'öGrm. täglich (von SchüUer sehr gelobt, Aerztl. Praktiker 1896,
Nr. 17). Genügt dies nicht, so sind Function und Auswaschung mit P/oo Subli-
matlösung oder 1% Salicyl-Borsäurelösung zu empfehlen. Chronische
Gelenkentzündungen bei Infectionskrankheiten. 507
Fälle werden durch, wenn nöthig-, wiederholte Injectionen von Jodoform-
glycerin (1:9) schliesslich geheilt (s. Tuberculose der .Knochen). Trip-
perrheumatismus führt zu schweren Gelenksteifigkeiten, die oft erst im
Laufe von Jahren allmählich schwinden. Eine energische örtliche Be-
handlung der Gonorrhoe ist in dieser Zeit nicht angezeigt. Man be-
schränkt sich auf Mineralwässer u. dergl. (Wildunger Wasser) ; höchstens
die Balsamica (Copaivabalsam, Sandelöl, Cubeben) sind gestattet. Die
gonorrhoische Gelenkentzündung befällt mit Vorliebe schwächliche, be-
sonders scrophulöse Männer; bei Weibern ist sie sehr selten.
Beim acuten polyarticulären Gelenk rheumatismus werden rasch
nach einander mehrere, oft fast alle Gelenke des Körpers befallen in Form hyperämischer,
äusserst schmerzhafter Arthriten. Daneben sind Complicationen seitens des Herzens
(Endocarditen , Pericarditen) ziemlich häufig. Die Temperatur ist regelmässig erhöht,
39 — 40°. In seltenen Fällen kommt es zu enorm hohen Fiebersteigerungen, 42 — 43°
(Hyperpja'exien), die dann meist das ungünstige Ende einleiten. Der Ausgang der
Gelenkentzündungen ist gewöhnlich Rückkehr zur Norm ; grössere flüssige Ergüsse
kommen nur sehr selten vor; Eiterung (leichtere Formen ohne Zerstörungen im Gelenk)
ist sehr selten. Dagegen kommt es oft vor, dass einzelne Gelenke „steif" werden, d. h.
die Kapsel schrumpft und es bilden sich Adhäsionen zwischen den Gelenkflächen. —
Die Behandlung besteht in Salicylsäure (resp. Natr. salicyl. bis lO'O tägl.), Antipyrin
(circa 5 Gramm) und anderen Mitteln dieser Gruppe , Phenacetin , Salipj'rin. Schmerz-
lindernd kann örtlich Eis, Ol. chloroformii, Ol. Hyoscyami wirken. Ziemssen gibt eine
Salicylsalbe (1 Ac. salicyl., 4 Lanolin, 5 Ol. chloroformii). Die Krankheit neigt sehr zu
Rückfällen. Die zurückbleibenden Gelenksteifigkeiten werden durch warme Bäder (Nau-
heim, AViesbaden u. dergl.) günstig beeinflusst. Erst in den späten Stadien sind Massage
und passive Bewegung am Platze.
Leichte, rasch vorübergehende G elenkaffectionen finden sich häufig neben
Hautaff ection en, z.B. beim Erythema nodosum , der Poliosis rheumatica u. dergl.
Auch diese Processe scheinen auf infectiöser Basis zu beruhen.
Die eitrigen Arthriten haben wir schon bei den Gelenkwunden,
pag. 487, erwähnt. Für die Praxis sind zwei Formen zu unterscheiden. Bei
der leichteren, die Volhuann als „catarrhalische" bezeichnet, handelt
es sich um einen meist dünnen serös-eitrigen Erguss ohne wesentliche Be-
schädigung von Synovialis, Knorpel u, s. f., mit nur massiger Störung
des Allgemeinbefindens und im Ganzen geringen örtlichen Erschei-
nungen. Hyperämie der Haut, Schwellung und Spannung des Ergusses,
sowie Schmerzhaftigkeit bleiben in massigen Grenzen. Hier genügt oft
die exspectative Behandlung, besser ist auch hier antiseptische Function
und Auswaschung. Hieher gehört eine grosse Anzahl der metastatischen
Gelenkentzündungen. Die Aussichten sind in diesen Fällen nicht so
schlecht; ein grosser Procentsatz behält schliesslich ein fast normales
Gelenk.
In den schweren Fällen — bei Gelenk wunden, durch Einbruch
osteomyelitischer Eiterungen in's Gelenk, verjauchte fungöse Processe
u. (iergl. — lassen sich bald Zeichen schwerer Veränderungen an den
Gelenkkörpern — Zerstörung der Bänder, Crepitation durch Knorpel-
zerfall u. s. w., deutlich erkennen. Hier sind energisches Eingreifen,
breite Incisionen, Auswaschungen, Drainage, partielle und totale Re-
section dringend angezeigt (vergl. pag. 505). Der günstigste Ausgang
ist Ank3'l'>se , und ist dem Gelenk diejenige Stellung zu geben , bei
welcher es nachher am brauchbarsten ist (siehe pag. 499).
Von chronischen bacteriellen Gelenkentzündungen sind
besonders zu beachten die syphilitischen und tuberculösen. Die letzteren,
überaus wichtigen und häutigen Vorgänge finden im nächsten Abschnitt
gesonderte Besprechung.
508 VII- Capitcl. — Krankheiten der Knoclien und Gelenke.
DieSyphilis dcrGelenke (vergl . Schüller, Langenbeck's Arch . 28)
tritt in den mannigfaltigsten Formen auf und ist entscliieden viel häu-
figer, als meist angenommen wird. In der Eruptionsperiode der .Syphilis
(siehe pag. 180) treten leichte, massig schmerzhafte seröse Ergüsse auf,
die oft schon von selbst und unter antisyphilitischer Behandlung immer
rasch schwinden ; manchesmal handelt es sich auch nur um rheumatoide
Gelenkschmerzen.
Anders verhalten sich die in Spätperioden bei Erwachsenen
auftretenden Gelenkaffectionen. — Meist ziemlich schnell entwickeln
sich stark gespannte seröse Ergüsse, mit oft auffallend grosser Schmerz-
haftigkeit , namentlich bei Nacht. Die Gebrauchsfähigkeit ist nicht
immer den Schmerzen entsprechend gestört, doch waren meine sämmt-
lichen beobachteten Fälle (meist Knie) genöthigt, zu Bett zu liegen.
Oft fühlt man auch bei genauer Betastung der Knochen eine besonders
schmerzhafte Stelle , die zugleich etwas aufgetrieben ist , aber nicht
so weich, wie bei Tuberculose — eine syphilitische Periostitis,
von der der Process ausgegangen ist. Andere Male findet sich eine
elastische fluctuirende Geschwulst im Knochen — eine syphilitische
Gummigeschwulst, und diese ist als Ausgangspunkt anzusehen. Die
Kapsel verdickt sich und an der Innenseite entstehen Zotten (Arthritis
villosa); der Inhalt des Gelenks ist ein trübes Serum. Ist ein Gumma
in 's Gelenk durchgebrochen , so kann der Inhalt auch ein schleimig-
eitriger werden. In einzelneu Fällen ist auch Fieber beobachtet. Wird
der Fall nicht erkannt, so kann es sogar zum Aufbruch kommen und
es entleert sich dann aus den Fisteln eine schmieriggraue, nicht eigent-
lich eiterartige Flüssigkeit.
Die Diagnose wird wohl durch das Geständniss, dass der Kranke
syphilitisch angesteckt war , aber keineswegs immer durch den Nach-
weis anderer syphilitischer Erscheinungen unterstützt. Man wird zur
Diagnose geführt durch das charakteristische örtliche Verhalten,
den stark gespannten , brettharten Erguss , wie er weder bei ander-
weitigem chronischem Hydrops, noch durch Tuberculose erzeugt wird
und die heftigen, namentlich Nachts sich steigernden Schmerzen. Die
antisyphilitische Behandlung (Jodkali und Quecksilber) bestätigt die
Diagnose. Doch schwinden die Erscheinungen meist ziemlich langsam
und sind hier Bäder — namentlich Schwefelbäder (künstliche oder
Aachen, Baden in der Schweiz u. s. w.) sehr dienlich. Auch Massage
ist in der Periode der Reconvalescenz förderlich.
An solchen Gelenken finden sich oft im Knorpel silberglänzende,
strahlig vertiefte Narben — die Reste von Gummiknoten. — Selbst
fistulös gewordene, erheblich veränderte Gelenke heilen oft noch mit
unerwartet guter Function aus; doch kommen bei ganz vernachlässigten
Fällen auch Zerstörungen der Gelenke vor, die an die tuberculose
Caries erinnern. Hier kann es schliesslich zur Ankylose kommen.
Bei hereditär syphilitischen Kindern kommen Gelenkent-
zündungen ziemlich häufig vor (siehe Güterbock, Langenbeck''s Arch. 23
und 32, Lit.; Heubner^ Virchow's Arch., Bd. 84). Bei allen Gelenkent-
zündungen von Kindern in den ersten Lebenswochen muss man an die
Möglichkeit einer Gelenksyphilis denken. Die eine Form, die man häufig
in grossen Städten bei unehelichen Kindern zu sehen bekommt, sind
rasch sich entwickelnde Ergüsse, mit starker Röthung der Haut. Die-
Syphilis und Giclit der Gelenke.
509
selben können eitrig werden und durchbrechen. Wenn sie nicht schon
antisyphilitischer Behandlung und Priessnitz'' sehen Umschlägen (mit
Sublimatlösung) weichen , so heilen sie , incidirt und drainirt , meist
glatt und rasch. — Eine andere Form ist ein Gelenkerguss, der sich
an die syphilitische Osteochondritis, die Entzündung und Ent-
artung des Epiphysenknorpels anschliesst. Der Epiphysenknorpel ist
dabei oft ringförmig aufgetrieben (SchüUer). Auch hier kann es zur
Eiterung und zur eitrigen Epiphysenablösung kommen. Die Gelenke
können schliesslich in leidlichem Zustand ausheilen, doch dürfte wohl
nur ein kleiner Theil der schwer syphilitischen Kinder überhaupt
dauernd erhalten bleiben. Die antisyphilitische Behandlung kleiner
Kinder kann in kleinen Gaben Calomel (0"0025 , mehrmals täglich),
Sublimatbädern (1 — 2 Grm. pro Bad), später Jodeisensyrup (3mal täglich
10—15 Tropfen) bestehen. Auch eine vorsichtige Schmiercur (0*3— 0"5 Grm.
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graue Salbe jeden zweiten Tag) ist mitunter sichtlich erfolgreich. Schliess-
lich können bei hereditär syphilitischen Kindern auch ähnliche Formen
vorkommen, wie bei Erwachsenen.
Von den auf Constitutionsanomalien beruhenden Gelenk-
aff ectionen ist in erster Linie zu nennen die gichtische Gelenk-
entzündung (Arthritis uratica).
Bei der Gicht, finden sich bekanntlich nekrotische Herde (Ebstein), vorzüglich in
an sich schon schlecht genährten Geweben, wie Knorpeln, Bändern u. s. f. In diesen
nekrotischen Herden lagern sich die krystallinischen Nadeln der Harnsäure und harn-
sauren Salze ab. Fig. 421 zeigt einen Durchschnitt durch ein Gichtgelenk (milssigen
Grades). Die Gelenkknorpel sind durchsetzt mit den scharfen Xadeln der Harnsäure;
ein ebensolcher Herd mit büschellörmigen Krystallon liegt im Markgewebe der Spongiosa
des Gelenkkörijcrs (rechts im Prä])arat). — Ob diese örtlichen Nekrosen bedingt sind
durch die ätzende Wirkung der harnsauren Salze (Ebstein,) oder sicli — unabhängig
von diesen durch eine Anomalie des Stoffwechsels bilden und die Ablagerung der Urate
erst secundär erfolgt ('Caniuni), ist nicht ausgemacht. — Es scheint, dass die Gicht
sich besonders bei Leuten entwickelt , die eine sehr säurereiche Kost (überwiegend
Fleisch) geniessen und daliei schwere ßiere (Porter) und schwere Weine (Rothweine,
510 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Portweine u. dergl.) trinken (Arthritis divitum). Erblichkeit spielt eine grosse Rolle. Bei
uns in Deutschland kommt die Giclit jedoch nicht blos bei reichen Lebemännern, sondern
auch bei der arbeitenden Classe vor.
Die Gicht setzt meist anfallsweise ein, und zwar fast immer im
Metacarpopbalangealgelenk der grossen Zehe. Gewöhnlich geht ge-
störtes Wohlbefinden, Dyspesie u. s. w. einige Zeit voraus. In der Nacht
bricht plötzlich ein äusserst empfindlicher Schmerzanfall aus (Podagra,
Zipperlein). Die Haut über dem Gelenk schwillt, nimmt eine bläulich-
rothe Farbe mit Venenectasien an; spontan und bei Berührung sind
die quälendsten Schmerzen zugegen. Nach einigen Tagen lässt die
Schwellung nach, die Haut blättert sich ab, aber das Gelenk wird
nicht wieder ganz normal. Oft schon nach der ersten, sicher aber nach
mehreren Attaken verdickt sich das Gelenk, es bilden sich harte,
trockene, mit dem Finger eindrückbare Knoten — aus Harnsäure be-
stehend (Tophi uratici). Nach einem Intervall von mehreren Monaten
kommt der zweite Anfall u. s. w. Bald tritt in den Pausen keine völlige
Intermission mehr ein, sondern nur eine Remission, die Gicht wird
chronisch. Und nun kommen auch andere Gelenke daran, die Finger
(Chiragra) und namentlich auch das Kniegelenk. Die Schwellungen in
diesem Spätstadium der Gicht sind nicht mehr blos Harnsäureinfarcte in
Knorpeln, Bändern und Kapseln, sondern jetzt kommen auch überaus
langwierige , aber zeitweise wenig empfindliche seröse Ergüsse. Auch
die Wirbelsäule wird jetzt mitunter befallen.
In einem Theil der Fälle schliessen sich Endarteriitis chronica
(Atherom der Arterien) mit Apoplexien im Gehirn , Nierengicht mit
Ausgang in Schrumpfniere an und führen den Tod herbei.
Die Behandlung des einzelnen Gichtanfalles besteht in Verab-
reichung von Vinum colchici in dreisten Gaben (bis 80 Tropfen täglich)
(der bekannte Liqueur Laville besteht grösstentheils aus Zeitlosenextract),
Morphium, örtlich feuchten Umschlägen und Fixation in gut wattirten
Pappkapseln. Ueber die Wirksamkeit der sogenannten Specifica, Pipe-
racin, Citronensäurecur u. s. w. sind die Ansichten sehr getheilt.
Für die Behandlung des Grundleidens sind hauptsächlich diäte-
tische Regeln massgebend. Ersatz der schweren Getränke durch
leichte Weissweine mit Zusatz von Mineralwässern (Salvator, Biliner
Wasser) oder noch besser völlige Enthaltung; dann die lithion-
haltigen Mineralwässer (Kronenquelle , Assmannshausen u. dergl.) sind
zweckmässig. Ueber die einzuhaltende Diät gehen die Ansichten
auseinander; in neuester Zeit wird von Vielen fast ausschliessliche
Fleischdiät empfohlen, von Anderen rein vegetarische Kost. Die
Hauptsache ist grösste Massigkeit , meine Kranken haben sich
bei massigem Fleischgenuss , viel Vegetabilien , wenig Wein und
völligem Verbot des Biers und viel körperlicher Bewegung wohl be-
funden. So lange die Kranken sich nicht bewegen können, ist Massage
des ganzen Körpers, anfangs mit Freilassung, später mit beson-
derer Berücksichtigung der kranken Gelenke und energische Massage
des Bauches zu empfehlen, dann schwedische Heilgymnastik, Bewegung,
Holzsägen und -hacken , weite Spaziergänge , Reiten auf harten
Trabern u. dergl. Energische Wasserbehandlung in Gestalt von Dampf-
bädern , kalten Einpackungen , örtlich Priesstiitz' sehen Umschlägen ist
gleichfalls werthvoll, ebenso mitunter Zittmami'sohes Decoct. Energie und
Arthritis deformans. 511
Geduld des Patienten wie des Arztes sind unerlässlich. Curen in Wiesbaden,
Teplitz, Baden-Baden n. dergl. wirken unterstützend; fette Arthritiker
finden auch in Orten wie Tarasp , Kissingen , Marienbad Besserung.
Sehr chronische Geleukergüsse können mit Compression oder Function
behandelt werden. Die Excision der Gichtknoten ist zwecklos.
Die Gelenkaffectionen der Hämophilen bestehen oft in
nur leisen Gelenkschmerzen (rheumatischer Art), denen vermuthlich
kleine Blutungen in die Synovialis zu Grunde liegen. In seltenen Fällen
kommt es zu grossen Blutergüssen, die meist mit Verlöthung des Ge-
lenks enden. Nicht so selten finden sich gleichzeitig grosse Muskel-
blutungen, die gleichfalls in Atrophie ausgehen, so dass schwere
dauernde Störungen daraus resultiren. Ruhe, Feststellung und feuchte
Umschläge sind die — ziemlich ohnmächtigen Behelfe der Therapie. —
Auch bei Scorbut und hämorrhagischer Diathese kommen Ge-
lenkblutungen vor, die jedoch — für das befallene Gelenk — eine
weniger ungünstige Prognose geben.
Von den bei Vergiftungen mit schweren Metallen vorkommenden
Gelenkentzündungen hat eigentlich nur die Bleigicht grössere prak-
tische Bedeutung. Sie findet sich bei Leuten, die viel mit Blei zu thun
haben, Schriftsetzern, Buchdruckern u. dergl. ; die Erscheinungen haben
manche Aehnlichkeit mit der echten Gicht, namentlich den Gelenk-
affectionen bei der chronischen Gicht, doch sind die — meist das Knie
betreffenden — Ergüsse stärker gespannt und schmerzhafter als bei
der echten Gicht, Häufig findet sich gleichzeitig Bleikolik und ein grau-
schwarzer Bleisaum am Zahnfleisch. Die Behandlung besteht in Jodkali
innerlich (das Blei wird als Jodblei leichter ausgeschieden), energischer
Balneotherapie (Dampfbäder), Priessnifz'' sehen Umschlägen und Massage.
Wenn möglich ist die Beschäftigung auszusetzen.
Die deformirenden und atrophischen Formen der Ge-
lenkentzündungen sind ätiologisch noch keineswegs klargestellt.
Noch am leichtesten verständlich ist die Arthritis deformans
traumatica. Sie ist monarticulär, d. h. sie befällt nur ein einziges
Gelenk. Die Verletzung, die den Process einleitet , ist bald nur eine
leichtere Quetschung oder Verstauchung, ein anderesmal eine schwere
Gelenkverletzung (Gelenkbruch, Luxation mit Fractur u. dergl.). Daran
schliesst sich nun , oft unmittelbar , oft erst nach Jahren , schleichend
sich entwickelnd, eine zunehmende Functionsstörung des Gelenks ; die
Formen desselben werden unregelmässig, an der einen Stelle schwindet
der Knorpel und schleift sich der Knochen ab , an einer anderen
kommt es zur Auflagerung von Osteophyten und zur Verdickung und
Verhärtung des Knochens (Sclerosc und Eburneation). Natürlich ent-
steht im Gelenk Reiben, Knarren und Crepitiren ; die Bewegung zwischen
den nicht mehr congruenten Gelenkflächen wird immer mehr beschränkt
und schliesslich kann es bei diesen traumatischen Formen sogar zur
Ankylose kommen.
Aelinliche Veränderungen, aber in vielen Gelenken, finden sich bei
der typischen Arthritis deformans. Diese sich ziemlicli schleichend
entwickelnde Krankheit ist in ihrer Aetiologie noch dunkel ; sie befällt
meist Männer von der zweiten Hälfte des Lebens ab ; äussere Anlässe,
Beschäftigungs- und Lebensweise spielen anscheinend keine Rolle, eher
noch die Erblichkeit.
512
VII. Capitel. — Krankheiten der Knoelien und Gelenke.
Die Krankheit beginnt mit einem Gefühl der Steifigkeit, namentlich
des Morgens. Wenn die Kranken einige Zeit in Bewegung sind, werden
die Glieder wieder gelenkig, um nach längerer Ruhe wieder steif zu
werden. Bald jedoch lassen wirkliche Veränderungen an den Gelenken
keinen Zweifel mehr an der Diagnose. Die Gelenkkörper werden plump
und breit; das Knie verbreitert sich auf das Anderthalbfache, die Ge-
lenkfläche der Tibia wird napfförmig ausgehöhlt. Die Ränder dieses
vom Knorpel entblössten Gelenktellers sind mit Knochenwucherungen
— tropfsteinartigen Osteophyten — besetzt. Der zugehörige Gelenktheil
des Femur wird walzenförmig abgeschliffen, seitlich sind die Ränder
wie umgekrempelt u. s. f. Dabei wird die Stellung der Knochen gegen-
einander auch eine andere, meist entwickelt sich ausgesprochene 0-Bein-
stellung , Streckung und Beugung werden eingeschränkt ; doch ist es
Fig. 422.
eine alte Erfahrung, dass die Gelenke bei Arthritis deformans nie
völlig obliteriren. Ein Rest von Beweglichkeit bleibt immer noch zurück.
Häufig kommt es sogar zur Bildung von Schlottergelenken. — Noch
charakteristischer sind die Veränderungen am Hüftgelenk. Hier fallen
Abduction und Adduction, sowie Rotation bald fort, und der Ober-
schenkelkopf, der nur noch in der Richtung von Beugung und Streckung
bewegt wird, wird fast zu einer quergestellten Walze abgeschliffen. —
Bei Arthritis deformans wird überhaupt der Charakter der Gelenke
oft ein völlig anderer, Arthrodien (Hüfte) werden zu Ginglymusgelenken ;
während einaxige Gelenke oft mehr Freiheiten bekommen, als sie bis-
her besassen (Knie, Ellbogen). In späteren Stadien geht die Destruction
noch weiter, so dass die merkwürdigsten Formen entstehen ; der Ober-
schenkelkopf kann Hut-, Pilzform u. s. f. bekommen (Fig. 422). Dem
entsprechend wird natürlich auch die Functionsfähigkeit der Gelenke
hochgradig gestört.
Arthritis deformans. — Chronischer Gelenkrheumatismus. 513
Der Verlauf der Arthritis deformans ist fast unaufhaltsam. Die
Versehlimmerung-en erfolgen gewöhnlich schubweise, oft nach
Ueberanstrengung-en und Verletzungen, in Gestalt entzündlicher Attaken,
öfters mit serösen Ergüssen und Exacerbation der Schmerzen, die sonst
bei dieser Krankheit gering sind.
Anatomisch stellt sich in frühen Fällen zunächst eine Degeneration des Knorpels
ein, die Grundsubstanz wird faserig, die Knorpelzellen vermehren sich ; bald fasert sich
die Grundsubstanz auf, so dass die Oberfläche des Knorpels förmlich zottig wird; die
Knorpelkapseln brechen auf, und so geht der Knorpel allmählich zu Grunde. Der
nun nackt zu Tage tretende Knochen wird glattgeschliffen, so dass er wie mattes
Porzellan erscheint; er wird zugleich sehr hart durch entzündliche Sclerosirung. Die
Wucherungen an den Eaudtheilen beruhen gleichfalls auf entzündlicher Osteophyt-
bildung. — Diese Abscheuerung oder Abmahlung der Gelenkflächen schreitet nun fort,
in gleicher Weise aber auch die Anbildung verdichteten Knochengewebes.
Die Diagnose des Leidens ergibt sich aus dem Vorhergehen-
den von selbst. Die Functionsstörungen , die Formveränderungen , das
Crepitiren u. s. f., das Alter der Kranken lassen die Diagnose des Leidens
stets mit Leichtigkeit machen.
Die Behandlung des Leidens ist nicht ganz so aussichtslos, wie
man vielleicht denken möchte. Normale Gelenkformen lassen sich
natürlich nicht wieder erzielen, aber der Gang des Leidens lässt sich
mindestens sehr verzögern. — Innerlich hat mir Arsenik (O'Ol und
mehr pro die) oft zweifellose Resultate gegeben, nur rauss der Gebrauch
mindestens V* Jahr fortgesetzt werden. Oertlieh empfiehlt sich Massage,
mit passiven Bewegungen, wobei an freiliegenden Gelenken (Knie)
besonders die vorragenden und störenden Osteophyten darangenommen
werden. Dann sind Moorumschläge oder Moorbäder oft zweckmässig;
gelegentlich auch heisse Sandbäder. Kälte bekömmt den Kranken
schlecht. Massige, oft wiederholte Bewegungen sind äusserst nützlich,
sonst rosten die Gelenke förmlich ein. Ueberanstrengungen .sind sehr
schädlich. Eine massige Lebensweise scheint gleichfalls nützlich. Die
operative Inangriffnahme (Resection und Abmeisselung der Rauhig-
keiten) hat zum Theile günstige Ergebnisse geliefert {W. Müller,
Langenheck' s Archiv, Bd. 47, Riedel u. A.). Mir haben sich entlastende
Schienenhülsenapparate meist gut bewährt.
Ob man ausser der typischen Arthritis deformans noch eine eigene senile Gelenk-
entartung — Malum senile — annehmen soll, scheint fraglich. Es handelt sich
wohl mehr um sehr hochgradige Deformationen, namentlich der Hüfte, daher auch Malum
senile coxae genannt, bei Arthritis deformans. Entsprechend der Atrophie aller Organe
im Alter ist die Atrophie hier über die Regeneration überwiegend, so dass im Laufe
der Jahre der ganze Schenkelkopf und Schenkelhals allmählich weggeschliffen werden
und die Trochanterpartie unmittelbar der Pfanne ansteht.
Eine Krankheit, die mit Unrecht mit der Arthritis deformans zu-
sammengeworfen wird, ist der chronische Gelenkrheumatismus. —
Die Veranlassung dieses Leidens sind häufig wiederholte Erkältungen
und Diirchnässungen (Wäscherinnen , Jäger , Landbriefträger , alte
Soldaten u. s. f.). Aus acutem Gelenkrheumatismus scheint er auch in
einzelnen Fällen hervorgehen zu können. Auch Erblichkeit scheint in
Betracht zu kommen.
Die anatomischen Verhältnisse sind andere als bei der
Arthritis deformans (vergl. SchiUlcr , Lanfjrnbcrk's Archiv, Bd. 45). Zu-
nächst sind Schrnmpfnngsprocesse an Kapseln und Bändern vorhanden,
die die Beweglichkeit der Gelenke herabsetzen und schliesslich auf-
Landercr, Allg. chir. Pathologie u. Thorapip. 2. Aufl. 33
514 "^I- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
heben. Dann aber stellen sich auch adhäsive Processe ein, welche die
Gelenke verlöthen. Der chronische Gelenkrheumatismus zeigt eine grosse
Neigung zur Ankylosenbildung und ist daher auch als Arthritis rheu-
matica chronica ankylopoetica bezeichnet worden. Wucherungsvorgänge
zeigt der Knochen nicht, wohl aber hat man Wucherungen der Gelenk-
zotten und entzündliche Verdickung und Schrumpfung der Kapsel. Auch
die Haut wird dünn, blass, welk, kalt und cyanotisch; ebenso hat
man schon in frühen Stadien Paresen und später deutliche Atrophien
der Muskeln. Die Gelenke stehen daher schliesslich in den merk-
würdigsten Stellungen still, so dass der Körper in der wunderbarsten
Weise verdreht und verzogen wird. Liegen, Sitzen, Stehen sind oft
kaum mehr möglich, wie auch die Zufuhr der Speise mit den Händen,
Essen und Kauen allmählich unmöglich werden. — Die Gelenke sind
oft schon spontan schmerzhaft, meist aber sind Bewegungen excessiv
empfindlich, so dass die Kranken auf jeden Bewegungsversuch ver-
zichten, und hiedurch wird die Sache erst recht schlimm.
Die Behandlung gibt im Ganzen wenig Erfolge. Das Beweglich-
machen der Gelenke ist — wenn langsam und allmählich gemacht — ■
äusserst zeitraubend. Ein plötzliches gewaltsames Mobilisiren der Ge-
lenke erfordert Narcose. Doch geht das Gewonnene meist wieder ver-
loren. Massage ist nur sehr vorsichtig zu machen ; jedoch in dem
Anfangsstadium oft erfolgreich. — Warme Bäder (Wildbad, Wiesbaden,
auch Teplitz u. s. f.) sind meist nützlich, ferner Sool- und Schwitz-
bäder, schottische Douchen u. s. w., ebenso Moor- und heisse Sand-
bäder. — Von innerlichen Mitteln helfen Salicylsäure und seine Deri-
vate, Salipyrin, Phenacetin, Antipyrin etc., oft über besonders schmerz-
hafte Perioden weg; der andauernde Gebrauch, der empfohlen wird, ver-
langt Vorsicht (Nieren, Herz !). Auch Arsen ist oft von Erfolg begleitet,
seltener Jod. Auch Injection von 2''/o sterilisirter Salicylborsäurelösung
und 3Vo Jodoformglycerin wird empfohlen, ebenso Arthrektomie (Aus-
schneidung der Gelenkkapsel) mit folgender Bäderbehandlung. SchüUcr
hält den chronischen Rheumatismus für infectiöser Natur und gibt an
(Berliner med. Ges., 12. H. 1896), durch Injection von Rheumatismus-
bacillen chronischen Gelenkrheumatismus erzeugt zu haben. Zöge-
Manteuffel {Langenheck' s Archiv, Bd. 45) weist auf die Bedeutung von
Arteriosclerose durch Wucherung der Intima für rheumatische Zustände
hin. (Vergl. Muskelrheumatismus.)
Bei den neuroparalytischen Gelenkentzündungen kommt
die Aufhebung des Nerveneinflusses nicht als Erreger der Entzündung
in Betracht, wohl aber modificirt sie die Entzündung wesentlich und
beeinflusst namentlich die Ausgänge in ungünstiger Weise (vergl.
pag. 35). Die neuroparalytischen GelenkaflFectionen kommen selten
nach Nervendurchschneidungen, häufig dagegen bei Tabes dorsalis vor,
in deren Verlauf wir sie zwar nicht als regelmässige, aber doch als
häufige und typische Theilerscheinungen beobachten — tabische
Gelenkaffectionen.
Im Anschluss an eine leichte Verletzung, die bei einem Gesunden
in wenigen Tagen zurückgegangen wäre, kommt es — oft in wenigen
Stunden zu einer — ballonartigen Auftreibung eines Gelenks durch blutig
serösen Erguss, dabei ist das Gelenk so gut wie gar nicht schmerz-
haft und die Kranken werden auf die Gelenkaflfection meist nur zu-
Arthropathia tabica.
515
fällig oder durch die Unsicherheit der Bewegungen aufmerksam. Die
Spannung der Kapsel ist gering ; die Haut normal, etwas gespannt
und eher blässer. Häufig kommen gleichzeitig ausgedehnte Oedeme der
bedeckenden Weichtheile, selbst harte Infiltrate vor. Von Arthritis de-
formans unterscheidet sich der Process durch die Schmerzlosigkeit, die
dazu hinleitet, die übrigen für Tabes entscheidenden Symptome (Anäs-
thesien und Parästhesieu, Coordinationsstörungen, schwankender Gang^
fehlende Sehnenreflexe, lancinirende Schmerzen etc.) festzustellen. Auch
das rasche Kommen und Gehen des Ergusses ist wichtig. Für die Behand-
lung empfehlen sich Massage und Pnessmfe'sche Umschläge; dabei ist ein
Schutzverband, eine Kniekappe u. dergl. oder ein entlastender Schienen-
hülsenapparat anzulegen und die Bewegung einzuschränken. Ein Jodan-
strich, eine Ichthyolsalbe u. dergl. (1:1 — 1:2) können versucht werden.
Nachdem der Erguss beliebig lange, oft Monate durch, bestanden,
Fig. 423.
verschwindet er — ■ von der Behandlung ziemlich unabhängig — ent-
weder allmählich, oder ziemlich rasch. Das Gelenk kann — von einer
gevvissen Lockerung des Bandapparates abgesehen — annähernd wieder
normal erscheinen. Doch neigt der Process sehr zu örtlichen Recidiven.
Diese Form hat man als benigne Form bezeichnet.
Bei den malignen Fällen tritt rasch die Deformation der
Gelenkkörper in den Vordergrund, in einer Weise, dass man die tabischen
Arthriten mit der Arthritis deformans glaubte zusammenwerfen zu
dürfen. Sie unterscheiden sich aber von dieser neben den genannten
Sympton)en der Tabes durch die IJapidität der Zersti)rungen — binnen
wenigen Monaten können grosse Partien der Gelenkkör|)er der Re-
sorption verfallen. Fig. 428. tabischcs lliifti;('lenk, wo von Koj)f und
Hals des Fcmur, von der Pfanne des Hüftbeines so gnt wie nichts
mehr übrig ist; der Rest des Femur und die Beckenknochen sind in
eine osteo])orotische. zerfressene Masse verwandelt. Bei der Entstellung
dieser enormen Dcfecte scheinen Verletzungen der Gelenke, intraarti-
33*
516 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
culäre Fracturen und Absprengungen wesentlich betlieiligt zu sein. Die
anästhetischen Kranken werden nicht, wie Gesunde, durch die Schmerzen
zur Schonung- gezwungen und so werden diese verletzten und durch
die Störung ihrer Nerven wenig widerstandsfähigen Knochen allmählich
durch den Gebrauch förmlich zermahlen, abgekratzt und ausgefahren.
Ausser einem ziemlichen Grad von Schlottergelenk hat man meist
Crepitation ; kann intraarticuläre freie Körper u. s. w. hin- und her-
schieben. Die Anbildung und Sclerose, die man bei der Arthritis defor-
mans fast ausnahmslos findet, fehlt bei Tabes fast ganz, und während
die Gelenke bei Tabes zusehends schlottriger werden, schränkt sich
bei Arthritis deformans die Bewegungsgrösse immer mehr ein.
Die Behandlung besteht zunächst in Anlegung von Schutz-
apparaten, welche die Bewegungen einschränken und die Gelenke
stützen. In den schwersten Fällen, wo — meist im Anschluss an eine
äussere Verletzung — es zur Eiterung kommt, ist Incision und Drainage
nöthig. In einzelnen Fällen ist die Resection mit Erzielung einer
ankylotischen Verbindung gemacht worden. Die Ergebnisse haben
nicht befriedigt. Aeussersten Falls kann auch die Amputation in Frage
kommen. (Vergl. Czerny , Langenheck' s Archiv, Bd. 34, Rotter, ebenda,
Bd. 36.)
An den oberen Extremitäten kommen den tabischen ähnliche Gelenkaffectionen
vor bei Syringomyelie (Höhlenbildung im Rückenmark mit Anästhesie, Analgesie,
Störung des Temperatursinns an der Brust, Muskelatrophien, sj^mmetrischen Contracturen,
Neigung zu symmetrischer Gangrän u. s. w.) (yergl. Petersen, hang enb eck' s Archiv, Bd. 39).
Auch die Osteochondritis dissecans (siehe pag. 517) gehört zur Arthritis
deformans.
Die Gelenkneurosen gemessen heutzutage weniger Popularität als früher.
Man versteht darunter Zustände von oft extremer Schmerzhaftigkeit einzelner
Gelenke ohne nachweisbare anatomische Ursache. Zur Diagnose gehört nervöse Bean-
lagung des betreffenden Individuums — Hysterie, Hypochondrie u. dergl. Die Diagnose
des Leidens ist also nur möglich durch Ausschliessung anderer — anatomischer Gelenk-
erkrankungen und, wie schwer das ist, eine beginnende tuberculöse u. s. w. Erkrankung
mit Sicherheit auszuschliessen, ist klar. Ich bin in der Diagnose „Gelenkneurose" äusserst
zurückhaltend geworden, seit ich 2 Fälle von Gelenkneurose des Hüftgelenks — mehr-
fach in Narcose untersucht und von einer Reihe von Aerzten als „typische Neurosen"
anerkannt — einige Jahre später wieder sah mit Ankylose im Hüftgelenk in typischer
Adduction, Flexion und EinwärtsroUung.
Die Behandlung besteht in Massage oder Elektricität (constanter Strom) ; im
Uebrigen Allgemeinbehandlung (Kaltwassercur, Seebäder, Eisen). Sie ist bei hysterischen
jungen Damen meist von Erfolg, wenn auch Recidive vorkommen.
Schliesslich wäre noch der freien Gelenk körper (Corpora
libera articulorum, Gelenkmäuse, Mures articulorum) zu gedenken. Die
klinischen Erscheinungen derselben sind höchst eigenartig. Ein für ge-
wöhnlich schmerzfreies und brauchbares Gelenk steht plötzlich in
irgend einer Stellung fest, unter sehr heftigem Schmerz — der freie
Gelenkkörper hat sich zwischen den Gelenktheilen eingeklemmt. Nach
einer energischen Bewegung ist das Gelenk ebenso plötzlich wieder
völlig frei, der Schmerz verschwunden, der freie Körper ist flott ge-
worden, bei Seite geschoben und ruht nun unschädlich vielleicht in
irgend einer Falte der Synovialis. — Entzündungserscheinungen fehlen
am Gelenk.
Die anatomische Untersuchung der durch Verletzung (Ab-
sprengung aus dem Knochen) entstandenen freien Gelenkkörper ergibt
meist bohnen- oder mandelförmige flachgeschliffene Körper, aus Knorpel-
Freie Gelenkkörper.
517
Fig. 424.
oder Küochensubstanz, die entweder frei sind oder an einem kürzeren
oder längeren ( — 3 Cm.) Stiel hängen. Fig. 424, Gelenkkörper eines
14jälirigen Bauernknechtes (der durch ein Trauma abgesprengte Epi-
condylus externus humeri). Der napf-
förraige Körper ist noch durchaus
knorpelig, wie auf dem Durchschnitt
zu sehen ist. Er wurde durch Schnitt
aus dem Gelenk gewonnen. Volle
Wiederherstellung der Function.
In anderen Fällen sind freie
Gelenkkörper Theilerscheinungen der
Arthritis deformans und der neuro-
paralytischen Gelenkentzündungen. Bei
jener ist die ganze Kapsel besetzt mit aus Synovialzotten hervor-
gegangenen gestielten knorpel- und knochenhaltigen , unregelmässigen,
maulbeerartigen bis walnussgrossen Körpern. (Lit. über freie Gelenk-
körper, Bealf Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, Bd. 38.)
Ein Theil der freien Gelenkkörper entstellt aucli durch die von König (Deutsche
Zeitschr. für Chii-., Bd. 27) zuerst beschriebene Osteochondritis dissecans (vergl. Staffel,
Langenheck's Archiv, Bd. 48), wobei neben Sclerosenerscheinungen und Zottenwucherung
und serösem Erguss der Gelenkkopf fast ganz zum Schwund kommt und Reste von
ihm als freie Gelenkkörper zurückbleiben. Barth, Chir. Congr. 1896, lehnt die Osteo-
chondritis dissecans als eigene Krankheit ab.
Die Behandlung der freien Gelenkkörper ist eine sehr einfache.
Der freie Körper wird gut fixirt , dass er nicht entschlüpfen kann ;
sämmtliche Weichtheile werden mit einem Schnitt gespalten und die
andere Hand drängt den Körper heraus. Sofortige tiefe Naht schliesst
die ganze Wunde. Locale Anästhesie genügt. Bei Arthritis deformans
habe ich das Gelenk mit kleinem Schnitt geöffnet^ die Zotten und
Gelenkkörper mit Pincette und Scheere abgetragen, die ganze Synovialis
kräftig abgekratzt, circa 1 Grm. Jodoform eingebracht und das Gelenk
durch Naht geschlossen. Die Erfolge waren sehr gut und anscheinend
dauernd.
Die Tuberculose der Knochen und Gelenke.
Vorkommen der Tuberculose. — Der klinische Verlauf der tuberculösen Knochen-
und Gelenkleiden. — Pathogenese und pathologische Anatomie derselben. —
Therapie. — Conservative und operative Behandlung. — Prognose.
Die Tuberculose ist zur Zeit die mörderischeste aller Krankheiten.
Etwa 18'^ „ aller Todesfälle werden auf Lungentnberculose zurück-
geführt , dabei sind andere Tuberculosen in inneren Organen (Darm,
Harnorganc, Gehirn etc.j nicht mitgerechnet, ebensowenig die Fälle
von Tuberculose der Knochen und Gelenke. Dass auch diese keine
kleine Summe ausmachen, ist aus der Statistik von Dcnime über die
Häutigkeit des Vorkoiiinicns der Tuberculose iin Kindesalter zu ent-
nehmen, ilienach kamen auf Knochen und (Jelenke 42'5ö/o , periphere
Lymphdrüsen 35'8'%, Lungen lO'G",,,, Darm 3-5''/o, Haut 2-6%, Nerven-
centren GöVo, Geschlechtsorgane 0'5"/o5 Nieren 0"4°/o. lieber Bacterio-
logie und Histologie der 'J'uberculose sind pag. 175 tt". nachzusehen, dort
ist auch die Frage der Kjblifhkeit der Tuberculose schon besprochen.
513 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Ueber die Erblichkeit bei Tuberculose vorgl. Laser, Deutsche med. Wochenschr.,
18'J6, 31, Lit. Er fand bei 32-4— o8'97o aller untersuchten Kinder geschwollene Hals-
drüsen. (Hie mögen aber nicht alle tuberculös sein.) Starck (Münchener med. Wochenschr.,
1896, 7) fand in cariösen Zähnen zahlreiche Tuberkelbacillen und in 417o von tuber-
Gulösen Halsdrüsen Zusammenhang mit Caries der Zähne. Strauss fand von 29 Fällen
9mal Tuberkelbacillen im Nasenschleim gesunder Personen fWärter), die mit Tuberculosen
zusammen waren.
Die Tuberculose der Knochen und Gelenke ist seit den
ältesten Zeiten bekannt, aber unter anderen Namen — Arthrocace,
Arthralgia, Caries, Knochenfrass, Glied- oder Gelenkschwamni (Fungus),
Tumor albus (White swelling) u. s. w. Noch bis in die jetzige Zeit wird
festgehalten die Bezeichnung — scrophulöse oder fungöse Gelenkleiden.
Die Erkenntniss, dass diese überaus häufigen und gefiirchteten Affec-
tionen der Tuberculose zuzuzählen sind, wurde vorbereitet durch die
Arbeiten von Köster, Friedländer und Volkmann ; endgiltig entschieden
wurde die Sache durch Robert Koch. Ueber die Geschichte der chirur-
gischen Tuberculose ist u. A. zu vergleiclien Köniffs Vortrag auf dem
Chirurgencongress 1896.
Bleiben wir zunächst bei den klinischen Erscheinungen der
Krankheit. Sie ist vorwiegend, doch keineswegs ausschliesslich eine
Krankheit des Kindesalters. Nur selten werden ganz gesunde Kinder
befallen, meist haben die Kinder schon andere Erscheinungen von Scro-
phulöse (vergl. pag. 177) durchgemacht. Eine schwerere Krankheit, Ma-
sern, Scharlach, Lungenentzündung, Keuchhusten u. dergl. geht mit-
unter den ersten Erscheinungen voraus.
Fast regelmässig wird — als Vorläufer der Erkrankung — eine an
sich leichte Verletzung, ein Fall auf die betreffende Gegend u. dergl.
angegeben. Unter den unscheinbarsten Erscheinungen und überaus lang-
sam entwickelt sich nun das Leiden. Die kranke Extremität wird
zunächst nur leichter müde und wird „geschont". Kann das Kind ruhen
oder ganz liegen, so ist nach wenig Tagen die kleine Unpässlichkeit
vorüber. Es können Wochen, Monate ohne Beschwerde verlaufen.
Dann wiederholt sich, nach einer stärkeren Anstrengung vielleicht, der-
selbe Vorfall u. s. w. Dieses Stadium prodromorum kann sich über
Monate, selbst Jahre hinziehen. Allmählich aber werden die Erscheinun-
gen deutlicher, es treten wirkliche Schmerzen auf, die Kinder brauchen
die betreffende Extremität fast gar nicht mehr. Dabei wird das All-
gemeinbefinden weniger gut, die Kinder werden bleich, die Entwicklung
steht still. In diesem Stadium kann der aufmerksame Untersucher schon
wirkliche Veränderungen feststellen. Die active und passive Beweg-
lichkeit in dem betreifenden Gelenk ist beschränkt. Die Kinder bevor-
zugen eine bestimmte Stellung, meist eine leichte Beugung. Andrücken
der Gelenkkörper gegeneinander wird unangenehm empfunden. Schwel-
lung und Ausdehnung der Kapsel fehlt häufig noch ganz; dagegen sind
die Lymphdrüsen der betreffenden Seite mitunter etwas grösser als der
anderen Seite, selten druckempfindlich. Bei sorgfältiger Abtastung der
Knochen, die das Gelenk bilden, findet man bisweilen eine Stelle, die
auf Druck ziemlich schmerzhaft ist. Vielleicht ist auch etwas teigige
Schwellung darüber. Dieser „Druckpunkt" ist sehr wichtig.
Nun werden die Zeichen der Gelenkerkrankung von Woche zu
Woche deutlicher. Die Schmerzen werden heftiger, die Kinder werden
durch sie Nachts aus dem Schlafe geweckt. Das Glied wird immer
Klinischer Vei'lauf der Knoclientuberculose.
519
Fig. 425.
weniger gebraucht. Jeden Versuch, dasselbe zu bewegen, begleiten
Schmerzäusserungen. Auch örtlich werden die Veränderungen zusehends
deutlicher. Die falsche Stellung wird
ausgesprochener; das Glied in die
richtige Stellung zurückzuführen,
wird schwierig, schliesslich unmög-
lich und ist äusserst schmerzhaft.
Die Grelenkgegend schwillt an, nicht
blos die Kapsel , die ausgedehnt
ist, sondern auch die umgebenden
Weichtheile sind infiltrirt. Die Haut
ist meist ödematös, aber eher bleich
(Tumor albus). Häufig schimmert ein
Netz erweiterter Venen durch die
Haut, Diese Schwellung deckt die
normalen Formen der Gelenkgegend
völlig zu, und dieselbe ist in eine
unförmliche, oft von vorne nach hinten
etwas abgeplattete Masse verwandelt.
Freiliegende Gelenke — Hand, Ell-
bogen, Knie, Fuss nehmen oft Spindel-
form an. In die Umgebung verliert
sich die Anschwellung ohne scharfe
Grenzen. Belastung der Gelenkkörper oder Andrücken gegeneinander
ist sehr schmerzhaft.
In Fig. 425 (nach Albert) ist Stellungsänderung des Hüftgelenks
bei Coxitis abgebildet. Man sieht zugleich die dififuse Schwellung der
Hüftgelenkgegend. Untersucht man das Gelenk in Narkose, so sind die
Bewegungen erheblich freier, bleiben aber beschränkt; Zeichen von
Zerstörung der Gelenkkörper fehlen.
Diese Periode kann man — nach dem Stadium prodromorum —
I. Stadium oder Stadium manifestationis nennen (entzündliches
Stadium).
An anderen Gelenken als dem Hüftgelenk, z. ß. dem Kniegelenk,
ist in diesem Stadium häufig ein anderes Bild zu constatiren. Es findet
sich ein Hydrops tuberculosus. Höchstens bei Erwachsenen (wenn
eine reine Synovialistuberculose vorliegt) kann derselbe mit einem
andersartigen Hydrops verwechselt werden. Bei Kindern fehlen ausser
dem serösen Erguss die teigige Schwellung der Weichtheile, Druck-
punkte oder Auftreibungen der Knochen nicht.
Fig. 426 — 428 geben die Unterschiede eines normalen Knies, eines
mit Hydrops und eines mit Knochentuberculose, Knochenherd im Condylus
internus.
Der weitere Verlauf ist nun — in den unaufhaltsam fortschreitenden
Fällen — gekennzeichnet durcli immer mehr hervortretende Zeichen
der Zerstörung (Stadium destructionis) an den Knoclien und Band-
apparaten. Eine Rückführung in die normale Stellung ist ganz uniii()glich,
meist spannen sich Stränge dem Versuche entgegen (geschrumpfte oder
gespannte Fascienstreifen oder bindegewebig entartete Muskeln). Active
Bewegung im CJelenk ist so gut wie ganz ausgeschlossen, die passive
gering, der Kranke stellt das Gelenk ganz ausser Dienst und sucht
520
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke,
die nöthigen Bewegungen in anderen Gelenken auszuführen — so be-
wegen Kranke mit Hüftgelenkentzündung ihr Hüftgelenk nur scheinbar,
in Wahrheit sind es die oft abnorm beweglich gewordenen Gelenke
des Beckens und der unteren Wirbelsäule, in denen Beugung und
Streckung u.s. f. erfolgen. Hieran schliessen sich wirkliche Verschiebungen
Fig. 426.
Fig. 427.
Fig. 428.
1.
I
Ä»
Normales Kniegelenk.
Mit Flüssigkeit stark gefülltes Kniegelenk.
Knietuberculose mit Herd
im Condylus internus.
der Knochen im Gelenk, die man unmittelbar an der falschen Stellung der
Knochen zu einander erkennen kann oder an der Veränderung gewisser
Knochenlinien (Ellbogenlinie, i?05er'sche Linie u. dergl. vergl. pag. 442).
Die Verschiebungen beruhen auf Ausweitungen der Kapsel oder Zer-
störung der Pfanne mit sogenannter Pfannen Wanderung oder secun-
därer (pathologischer) Luxationsstellung oder auch auf Lösungen in den
Klinischer Vei'lauf der Knochen- und Gelenktuberculose. 521
Epiphysenlinien und Verschiebungen der Diaphyse gegen die Epiphyse
(vergl. pag. 416 und pag. 468). Bei einer Untersuchung, namentlich
in Narkose, fühlt man nicht so selten Reiben (Crepitation) im Gelenk.
Der übrige, namentlich periphere Theil des erkrankten Glieds atrophirt
mehr oder weniger stark. — Das Allgemeinbefinden leidet sehr, die
Kinder machen einen kranken Eindruck; Schlaf und Appetit sind selten
mehr in Ordnung. Geringe Temperatursteigerungen des Abends sind
häufig. Die Kinder schreien oft Nachts im Schlafe auf. Bierfreund
{Langenheck's Arch., 41) fand bei Tuberculosen (chir. Tub.) im Mittel
einen Hämoglobingehalt von 63° o» selten über 65°/o, herunter bis 40%.
Der weitere Verlauf ist nun ein verschiedener, je nachdem
die Krankheit sich noch zum Guten wendet oder weitere schwere Ver-
änderungen, namentlich Eiterung, sich einstellen.
Zur Heilung kann sich die Krankheit in jedem Stadium wenden;
umso leichter, je früher die Periode der Krankheit noch ist. Nicht jede
tuberculöse Gelenkerkrankung muss immer in das zweite Stadium über-
gehen. Das zweite Stadium ist aber derjenige Zeitabschnitt, jenseits dessen
Heilungen schwieriger und seltener sind; je weiter die Zerstörung vor-
schreitet, umso ungünstiger werden die Aussichten.
Im günstigen Falle gehen die Erscheinungen allmählich zurück,
die Schmerzen lassen — zunächst zeitweise — nach ; die Anschwellung
nimmt nicht mehr zu , bleibt wochenlang stationär , dann fangen die
Theile an lockerer und verschieblicher zu werden und endlich merkt
man deutliche Volumsabnahme. Die normalen Hautfalten und Muskel-
contouren kehren zurück. Die Kinder schonen das Gelenk nicht mehr
so ängstlich und fangen an, das Glied wieder etwas zu brauchen. In
vorgeschrittenen Fällen bleibt jedoch die falsche Stellung fixirt und es
bleibt somit eine Ankylose zurück. Die das Gelenk umgebenden Muskeln
und Fascien fühlen sich gleichfalls geschrumpft und verkürzt an.
Im ungünstigen Fall schliesst sich an dieses Stadium der Schwel-
lung das der Eiterung und daran meist der Aufbruch nach aussen
an. — Die Schmerzen werden heftiger, die Temperatur wird unregel-
mässig; die Abendtemperatureu sind meist etwas erhöht, 38 — 39". Die
bisher ziemlich difi'use Schwellung fängt an sich auf einen Punkt zu
concentriren, der sich halbkugelförmig vorwölbt. Jetzt lässt sich Fluctua-
tion in der Tiefe erkennen. Auch in dieser Periode kann noch eine
Aufsaugung des Eiters erfolgen. Meist aber tritt derselbe immer näher
an die Oberfläche heran ; die Fluctuation wird nun sehr deutlich, die
Haut röthet sich jedoch nicht, sondern ist wegen der starken Dehnung
oft geradezu anämisch ; die Betastung des Abscesses selbst ist meist
so gut wie unempfindlich. Man hat das typische Bild des „kalten
Abscesses". Bleibt die Sache sich selbst überlassen, so hebt sich
schliesslich eine Stelle spitz vor, die Haut verdünnt sich und der Abscess
bricht durch.
Der Eiter dieser chronischen tuberculösen Abscesse ist eigenartig. Er hat ein
sehr dünnes Serum, ist viel dünner als gewöhnlicher, auf dem Wege acuter Entzündung
entstandener. In ihm schwimmen dicke, käsige Fetzen und Krümel — geronnenem Casein
ähnlich — (daher der Eiter auch grumös genannt, von gruma, Krümel). Lässt man
den Eiter in einem Becherglas absitzen, so bekommt man oben ein dünnes, oft fast
durchsichtiges Sernm, unten eine Schicht dicker, flockiger Massen. Ganz frisch entleert
enthält die Flüssigkeit meist keine Kokken, doch sind auch Tuberkelbacillen nur aus-
nahmsweise darin zu finden. Doch gelingt es durch intravenöse Injectionen des Eiters,
522 ^I-f- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Tuberculose bei Thieren zu erzielen, auch habe ich einmal eine Cultur daraus züchten
können. Er hält jedenfalls Sporen in Menge. — Intacte weisse Blutkörperchen sind
nur in geringer Zahl vorhanden, dagegen viel Detritus, Kömchenhaufen und einzelne
Körnchen.
Für das weitere Schicksal ist es entscheidend, ob die Wunde
aseptisch bleibt oder Eitererreger hinzutreten. Bleibt die Wunde asep-
tisch, so sondert sie meist eine dünne, geruchlose, fast seröse, eiweiss-
ähnliche Flüssigkeit, oft in grossen Mengen ab, die in den Verband-
stoffen wenig färbende, graue Flecken hinterlässt. — Die Möglich-
keit bleibt hier nicht ausgeschlossen, dass nach Wochen bis Monaten,
vielleicht nach Ausstossung eines kleinen nekrotischen Knochenstück-
chens die Fistel ausheilt — dauernd oder um nach Monaten wieder
vorübergehend aufzubrechen. Für den Process in der Tiefe ist — mit
dem Aufbruch des Abscesses — oft ein sichtlicher Nachlass der Er-
scheinungen gegeben und es kann auf diesem Wege zur Ausheilung
kommen. Auch das Allgemeinbefinden bessert sich einigermassen. Doch
bleiben die Temperaturen unregelmässig.
Wird jedoch die Wunde von aussen „septisch" inficirt (es sind
die gewöhnlichen Eiterpilze, die auf die offene Wunde übertragen
werden) , so ändert sich die Scene in ungünstiger Weise. Die Wund-
ränder und die Umgebung röthen sieh, der Eiter wird zu missfärbiger
Jauche , stinkt abscheulich , die Granulationen zerfallen zu einer grau-
grünen Masse. Das Allgemeinbefinden wird in schwerster Weise verändert.
Vor Allem stellt sich ein regelmässiges Fieber ein — niedere, fast nor-
male Morgentemperaturen mit hohen Abendtemperaturen (39'0 — 40'0").
Dieses Fieber hält ununterbrochen an über Wochen und Monate und
die Kranken zehren sich — ■- wie Schwindsüchtige im letzten Stadium —
sichtbar auf, Febris hectica.
Nun treten auch Zeichen der Erkrankung der übrigen Organe her-
vor; nicht so selten bronchitische und pneumonische Processe tuber-
culöser Natur, dann namentlich Amyloiderkrankungen, die sich in Ver-
grösserung der Leber und Milz manifestiren — Albuminurie, schwere
Diarrhoen mit Appetitlosigkeit , Zeichen von tuberculöser Meningitis
u. dergl. — und schliesslich führt die eine oder andere dieser Erkran-
kungen das Ende unmittelbar herbei.
In der Praxis sind die einzelnen Fälle unendlich verschieden.
Von einem typischen Verlauf kann schon insofern keine Rede
sein, als der Process in jeder Phase stillstehen und zur Heilung sich
wendei) kann. Ebenso ist es für das ganze Bild von ausschlaggebender
Bedeutung, ob eines der grossen Gelenke (Hüft-, Kniegelenk) oder ein
kleines Fingergelenk (Spina ventosa) ergriffen ist. Andererseits ist
es ebenso klar, dass manche Fälle, ohne irgendwelche Zeichen von
Eiterung, in jeder Phase der Krankheit an innerer Tuberculose zu Grunde
gehen können. Bei Kindern macht namentlich oft eine rasch sich ent-
wickelnde tuberculose Hirnhautentzündung ein schnelles Ende.
Wichtig für das Verständniss dieser Processe ist die Kenntniss
der Pathogenese und pathologischen Anatomie der Knochen-
und Gelenktuberculose.
Die tuberculösen Knochenerkrankungen entstehen, wie pag. 117
gesagt, durch Embolie. Der primäre Herd, von dem die Bacillen ent-
nommen werden, sind meist innere Tuberculosen.
Pathogenese der Knochentuberculose.
523
In ungefähr 150 Fällen fungöser Erkrankungen, deren Sectionsberichte ich in dem
Archiv des Leipziger städtischen Krankenhauses durchging, habe ich nur in seltensten
Fällen ausdrücklich als älter hervorgehobene tuberculöse Affectionen innerer Organe, nament-
lich der Bronchialdrüsen, vermisst. Diese Beobachtung ist auch therapeutisch nicht ohne
Bedeutung.
Dass die Tuberkelbacillen sich gerade an den spongiösen Theilen der Knochen
ablagern, daran scheint die in dem Kindesalter sehr reichliche Vascularisation dieser
Stellen, verbunden mit der Langsamkeit der Circulation daselbst, Schuld za sein. Ferner
machte Schfdler die interessante Beobachtung, dass besonders an entzündeten und ver-
letzten Stellen, wo der Kreislauf verlangsamt ist, sowohl feinste körperliche Massen,
als auch Bacterien besonders reichlich aus den Gefässen in die Gewebe übertreten. —
Die fast immer den tuberculösen Localisationen vorausgehende Verletzung (s. oben) ge-
winnt im Hinblick hierauf an Interesse, weil sie es ist, die den Ort der Localisation
der im Blut ki-eisenden Bacillen oder Sporen bestimmt. W. Müller (Deutsche Zeitschr.
f Chir. , 25) gelang es durch Injection tuberculösen Eiters in die A. nutritia, typische,
keilförmige, tuberculöse Herde im Knochen zu erzeugen.
An den betreffenden Stellen entsteht nun die geschilderte tuber-
culöse Entzündung- mit Bildung nekrobiotischer Herde, andererseits von
Grranulationen, denen der Knochen zum Opfer fällt. Der Zerfall erfolgt
bald unmittelbar, indem die Knochensubstanz durch gefässhaltiges junges
Bindegewebe aufgezehrt wird ; ein anderes Mal erfolgt erst eine sklero-
Fig. 429.
sirende Ostitis und der so verhärtete Knochen verfällt dann meist in
grösseren makroskopischen Stückchen (Sequester) der Nekrose.
Diese tuberculösen Knochensequester sind um-egelmässig geformte plumpe Knochen-
stückchen , von meist warziger abgerundeter Oberfläche , die hin und wieder ihre
Entstehung aus verdickter spongiöser Substanz noch erkennen lassen. Sie sind — bei
geringer Uebung — auf den ersten Blick zu unterscheiden von den flachen schalenför-
migen Osteomj^elitisseqnesfern (3), mit ihren scharfen, verdünnten, ausgefressenen Rändern,
die ausschliesslich aus Rindensubstanz bestehen. Sie sind oft so klein , dass sie z. B.
in ausgeschabten Granulationen eingeschlossen, sich wie Sandkörnchen zwischen den
Fingern anfühlen (Fig. 429, 1).
Diese tuberculösen Herde liegen meist vorerst ziemlich central im
Epiphysentheil des Knochens. Doch findet sich an demselben schon
etwas Auftreibung, z. B. eines Condylus femoris (s. Fig. 430). Häufig
lässt sich auch an demselben eine circumscripte Anschwellung nach-
weisen, die als „fixer Schmerzpunkt" klinisch festgestellt werden
kann. In einzelnen Fallen kann der entzündliche Process nun nach der
Rinde hin fortschreiten, diese durchbrechen und unter Bildung eines para-
articulären Abscesses sich darstellen. In diesem Fall kann das Gelenk
ganz un])etheiligt bleiben. Vergl. Fig. 431 nach Volbnann, tuberculöser
Herd im Selienkclhals mit 4 tuberculösen Se(|uestern, Fntlcerung nach
aussen unter Freibleiben des Hüftgelenks.
Weitaus häufiger schreitet der Process dem Saftstrom folgend
nacii dem Gelenk hin fort, erreicht den Gelenkknorpel, hebt ihn ab oder
524
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
durchbricht ihn und bricht in's Gelenk ein. An diese Infection des Ge-
lenks schliesst sich nun eine Entzündung; desselben an, die verschieden
erscheinen kann. Bald bildet sich ein seröser Erguss, so dass das Ge-
lenkleiden oft zunächst als Hydrops articuli aufgefasst werden mag;
bald kommt es daneben noch zu einer Wucherung der Gelenkzotten
(Arthritis villosa). Weitaus am häufigsten kommt es zur Bildung von
Granulationen von den Synovialhäuten aus, aber auch von den Knochen-
flächen, von denen der Gelenkknorpel theilweise eingeschmolzen,
„usurirt" , theilweise abgehoben wird. Allmählich verwandelt sich
die ganze Gelenkhöhle in eine grosse Granulationshöhle. Diese Granu-
lationen sind von der bekannten Beschaffenheit — blass grauröthlich,
hin und wieder mit deutlichen hirsekorngrossen Knötchen besetzt. Vergl.
Fig. 432, eine tuberculöse Abscessmembran, aus einem grossen pericoxi-
tischen Abscess herausgeholt.
Diese Veränderungen würden etwa dem I. klinischen Stadium
entsprechen.
Die Verhältnisse in einem solchen Gelenk zeigt Fig. 433 (nach einem Spiritus-
präparat), Durchschnitt durch Schenkel- und Hüftpfanne bei Coxitis (natürliche Grösse).
Der Trochanter major ist noch zum Theil knorpelig. Der Epiphysenknorpel des Schenkel-
Fig. 431. Fig. 432,
kopfes ist in seinem oberen Theile d noch ziemlich normal. In der Mitte des Schenkel-
kopfes, welcher im Ganzen schon etwas erweicht und in seiner Form verändert, platt-
gedrückt ist, findet sich ein tuberculöser Herd. Nach abwärts davon liegt. ein kegel-
förmiger tuberculöser Sequester c, der im Leben durch seine graugelbe Farbe scharf
absticht gegen die noch lebende gelbröthliche Spongiosa. Er wird vom übrigen Knochen
durch Granulationen abgetrennt. Vom Epiphysenknorpel ist in seiner unteren Hälfte
nur noch ein schmaler Saum erhalten. Der Gelenkknorpel h, b ist fast überall durch
Granulationen von der Spongiosa abgehoben. — Der Punkt, wo der Process in's Gelenk
eingebrochen ist, befindet sich vermuthlich unten an der Stelle des tuberculösen Sequesters.
Im Uebrigen ist das Gelenk ausgefüllt von dicken Granulationswülsten (a), der Gelenk-
knorpel der Pfanne ist ganz verschwunden. Der Hüftknochen zeigt in seinem oberen
Theile bereits Defecte (Caries). Die Gelenkkapsel ist in ihrem unteren Theile noch so
ziemlich erhalten, der obere Theil dagegen zerstört.
Es ist ohneweiters verständlich, dass diese in weiche Granu-
lationen umgewandelten Gewebe jedem Druck erliegen müssen — die
ergriffenen Theile verfallen daher der Zerstörung; ganze Knochen-
flächen — namentlich wo ein stärkerer Gegendruck seitens des gegenüber-
liegenden Gelenkkörpers stattfindet, verfallen der Druckresorption; so
die hintere Fläche der Condylen des Femur bei Gonitis, der obere,
am meisten gedrückte Rand der Hüftgelenkpfanne bei Coxitis. Der
ganze Gelenkkopf z. B. des Femur kann eingeschmolzen werden (vergl.
Fig. 434 nach Albert).
Pathologische Anatomie der Knochentuberculose,
525
Eine eigenthtimliche Rolle in der Entstehung der tuberculösen Gelenkentzündungen
-weist Köniff (Chir. Centralbl., 1894, Nr. 22; Ueber Kniegelenktuberculose, Monographie, und
Fig. 433.
Fig. 434.
Laudow, Langenbeck's Archiv , Bd. 47) dem Faserstoif zu. In frühen Stadien der
Gelenktuberculose sollen Faserstoffgerinnsel sich an typischen Stellen niederschlagen und
dadurch die Beschränkung der Beweglichkeit
herbeifühi'en. Diese Fibringerinnsel sollen zum
Theile organisirt und zu Granulationen wer-
den {?). Im Gegensatz hiezu lässt Schucliardt
das Fibrin und die Reiskörperchen , die man
bei der Arthritis villosa (S. pag. 497) tuber-
culosa antrifit, durch Coagulationsnekrose der
innersten Schichten der Synovialis entstehen.
Goldmann hält sie für fibrinös entartete
Granulation.
Diese Zerstörungen müssen na-
türlich die Function und Form des
Gelenkes in hohem Grade beeinträch-
tigen. Werden ein Theil der Gelenk-
körper und zugleich die Gelenkbänder
zerstört, so können sich die Knochen
gegeneinander zum Theil verschieben,
und es entsteht eine unvollkommene
Luxation, eine Subluxation, und
zwar eine pathologische oder Destruc-
tionsubluxation (vergl. Fig. 435, Luxa-
tion der Hüfte).
Oder wenn eine Stelle der
Pfanne , z. B. der obere Rand der
Hüftgelenkpfanne, beständigen Druck vom Oberschenkelkopf aushalten
muss und dadurch resorbirt (usurirt) wird, so weitet sich die Pfanne
526
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
in dieser Richtung aus, und es erfolgt so eine Erweiterung und schliess-
lich eine Art Verlagerung der Pfanne, die man Pfannen Wanderung
nennt (s. Fig. 436, nach Albert). Ein anderesmal löst sich die Verbin-
dung im Knochen selbst, z. B. wenn der Process die ganze Epiphysen-
linie durchsetzt, und dann hat man eine pathologische Fractur
oder eine secundäre Epiphysenlösung. — Verschieden ist hiebei die
Menge von Flüssigkeit, die in der Gelenkhöhle angesammelt ist. Fehlt
sie ganz und finden, fast ohne entzündliche Erscheinungen, vorwiegend
Einschmelzungsprocesse statt, so haben wir Caries sicca, namentlich
häufig am Schultergelenk, wo oft der ganze Kopf fast symptomlos
in dieser Weise verzehrt wird.
Ist die Menge Flüssigkeit sehr gross , die Kapsel stark ausge-
dehnt, so wird nicht selten durch eine brüske Bewegung der Kopf
Fig. 435.
Fig. 436.
Über den Pfannenrand weggehebelt, da er innerhalb der weiten Kapsel
Spielraum genug hat, und bleibt jenseits des Pfannenrandes liegen.
Man hat dann eine wirkliche pathologische Luxation (vergl.
pag. 468).
Die Erweichung der Gelenkkapsel und -bänder lässt die "Ver-
schiebung der Knochen leicht zu Stande kommen. Sammelt sich jedoch
eine grössere Menge Flüssigkeit im Gelenk unter einem gewissen Druck
an, so wird die erweichte Kapsel — meist an den an sich dünnsten
Stellen — leicht durchbrochen, der Eiter verbreitet sich im umgebenden
Gewebe, das seinerseits wieder inficirt und entzündet wird, und es
entsteht der periarticuläre Abscess. Dieser bricht meist nach aussen
durch und hinterlässt Fistein. Werden diese inficirt, so verjauchen
Gewebe, Weichtheile und Knochen und zerfallen eiterig.
Behandlung der Knochentuberculose. 527
Heilen kann der Process in jedem Augenblick, indem die Granu-
lation in Narbe übergeht (vergl. Fig. 176). Allerdings erfolgt dieser
Process schwierig und langsam. Von einem Knochen zum anderen
spannen sich dann straffe Narbenstränge, welche die Knochen in dieser
— oft falschen — Stellung fixiren, und es kommt zur Ausheilung durch
Ankylose. Da diese Granulationen und Narben — zwischen Knochen
gelegen — verknöchern können, kann die fibröse schliesslich zur
knöchernen Ankylose werden.
Nocli 4 — 5 Jahre nach abgeheilter Gelenktuberculose habe ich bei der Operation der
Ankylose noch Grannlationsherde — mit Kiesenzellen und Bacillen — innerhalb der
fibrösen Massen gefunden und selbst so Reinfection der Wunde gesehen — ein Beweis,
wie langsam die Heilung erfolgt und eine Mahnung zur Vorsicht.
Bei der Diagnose kann eigentlich nur eine Verwechslung mit den Folgezu-
ständen der Osteomyelitis in Frage kommen. Folgende Zusammenstellung wird fast immer
leicht über die Schwierigkeiten hinweghelfen.
Osteomyelitis . Tuberculose
Träger meist gesund meist deutlich scrophulös
Anfang plötzlich unmerklich
Verlauf schwere fieberhafte AUge- langsam, ohne auffallende Er-
meinerkrankung, dann Ge- scheinungen, zunehmender
sundheit Verfall
vorwiegender Sitz Diaphysen langer Knochen kurze Knochen und spongiöser
Theil langer Knochen
Secretion dicker rahmiger Eiter dünne seröse Flüssigkeit
Granulationen gesund, üppig bleich und schwammig, manch-
mal Knochensand
ausgestossene Sequester spitze Rindensequester abgerundete Spongiosasequester.
Mitunter mag es wichtig sein, die differentielle Diagnose zwischen der osteogenen
und der synovialen Form der Gelenktuberculose zu machen. Bei Kindern ist
die Gelenktuberculose fast ausnahmslos osteogen. Bei Erwachsenen mag vielleicht die
Hälfte der Fälle in der SjTiovialis beginnen, es sind dies namentlich diejenigen, welche
unter dem Bilde eines Hydrops oder einer zottigen Gelenkentzündung beginnen. Fixe
Schmerzpunkte an den Knochen sprechen natürlich für osteogenen Ursprung.
Die differentielle Diagnose gegenüber syphilitischen und gonorrhoischen Gelenk-
leiden s. pag. 506 und 508. Dass auch in den Diaphysen Tuberculose nicht so selten
vorkommt, haben Eeichel {Langenheck's Archiv, Bd. 43) und Garre nachgemesen.
Die Behandlung muss eine zweifache sein, eine allgemeine und
eine örtliche.
Zunächst ist die Scrophulose energisch zu behandeln (pag. 178).
Zweckmässige Ernährung (Fleisch, Eier, Fette, malzreiche Biere), viel
frische Luft bei geringer geistiger Anstrengung sind geboten. Wo es die
Verhältnisse gestatten, schickt man die Kinder in Soolbäder oder an die
See, wobei die Luft (Xordseeluft) fast Avichtiger ist als die Bäder. Wo
kalte Seebäder zu angreifend sind, können warme genommen werden.
Sonst sind auch künstliche Soolbäder oft wirksam (1 — IV2 Kgr.
auf die Kinderbadewanne, Erwachsene 4 — 6 Kgr.). Von Medicamenten
kann Arsen gegeben werden (z. B. Ac. ars. 0"1, Extr. et pulv. Li(inir.
q. s., ut fiant pilulae # f)0 1 — 3 Pillen, je eine Pille eine Stunde nach
dem Essen zu nehmen; die Pille enthält 2 Mgrm.). Gelegentlich fuge
ich noch 1 — 2 Grra. Cliininuia sulfnricum hinzu oder gebe das letztere
als Tinct. Cliin. compos. auch allein. Sonst erfreuen sich noch Leberthran
und .Malzpräparate eines gewissen Rufes. Man erzielt hiedurch oft eine
erfreuliche (lewichtsznnahmc.
Der Jahrzehntelange Streit über die iM'tliche Behandlung der
Knoclien- und Gelenk tul)er('nl()sen beginnt sich allinälilicli. liaiipt-
528 ^I- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
sächlich durch die Bemühungen von P. Bruns, zu Gunsten der conser-
•vativen Behandlung zu entscheiden. Die Anfang der 80er Jahre durch
Volkmann vertretene rein operative Behandlung hat in letzter Linie zu
ungenügende Ergebnisse gezeitigt. Ganz besonders rauss die sogenannte
Frühresection — jede Knochen- und Gelenktuberculose sofort der Re-
section, sogar der typischen Resection zu unterziehen — als Verirrung
angesehen werden. Auch der Einwand Biedel's^ dass er bei 83% seinei'
resecirten Fälle Sequester gefunden habe, kann nicht zu Gunsten der
operativen Behandlung angeführt werden, seit wir wissen (vergl. Osteo-
plastik, pag. 278), dass implantirte todtcKnochenstUcke einheilen, so lange
Infection mit Eiterkokken fehlt. Schliesslich darf nicht vergessen werden,
dass man durch Resection wohl eine örtliche Heilung der Tuberculose —
in einem Theil der Fälle — erreichen kann, nicht aber eine Heilung
der stets vorhandenen inneren tuberculösen Processe, so wenig man eine
Syphilis heilt durch Exstirpation eines Gummas. Dass es keine primäre
Gelenktuberculose gibt , d. h. , wo diese der einzige und primäre Herd
im ganzen Körper ist, dürfte heute wohl Jedermann zugeben.
Nehmen wir an , es sei ein noch nicht zu vorgeschrittener Fall
von Gelenktuberculose — eine Hüft- oder Kniegelenkentzündung —
zugegangen, so wäre die örtliche Behandlung etwa in folgender Weise zu
leiten. Ein Theil der Chirurgen beginnt mit der Distraction des
Gelenks, d. h. der Anlegung eines Extensionsverbands mit Gegenzügen
nach Art der in Fig. 273 bis 283 und pag. 300 ff. angegebenen Ver-
bände. Die angewandten Gewichte betragen 2 — 8 Pfund (bei Kindern).
Die Wirkung der Distraction auf die Gelenke ist namentlich durch Riedel studirt
worden. Die Gelenkflächen weichen um einige Millimeter auseinander , und der gegen-
seitige Druck der Gelenkkörper aufeinander wird aufgehoben. Dies ist sehr wichtig
bei entzündlicher Erweichung der Knochen, denn dadurch wird der gegenseitigen Druck-
nsur vorgebeugt. Andererseits steigt der intraarticuläre Druck und dadurch wird der
Durchbruch der Kapsel und die Bildung periarticulärer Abscesse begünstigt. Ich habe
bei den von mir und Andern mit Extension, besonders mit lange fortgesetzter Exten-
sion behandelten Kindern einen so auffallend hohen Procentsatz von Eiterungen gesehen,
dass ich dies unmöglich als Zufall ansehen kann. Dass die Extension nicht ganz gleich-
giltig ist, geht daraus hervor , dass meist mit Beginn der Extension die Abendtempera-
turen einige Tage lang erhöht sind.
Wo man Distraction machen will, macht man sie am besten nicht
mit einem festliegenden Heftpflasterverband, sondern mit einer abnehm-
baren schnürbaren Extensionsgamasche oder Extensionsstrumpf. So
lassen sich Soolbäder (drei- bis siebenmal die Woche) nebenher machen.
Auf das kranke Gelenk selbst kommt ein Priesswife'scher Umschlag
mit Wasser oder noch besser mit dünner Soole. Diese Behandlung ist
mindestens 6—8 Wochen streng durchzuführen. Zeigt die Untersuchung
sämmtliche Bewegungen im Gelenk so ziemlich frei und schmerzlos, so
kann das Kind mit einem tragbaren Extensionsverband, z. B. einer Taylor-
TFbZ^schen Schiene (Fig. 415), oder auch mit einem einfachen fixirenden
Schienenverband (z. B. Thomasschiene) vorsichtig ausser Bett und an
die Luft gebracht werden. — Klagt das Kind über Schmerzen, so hilft
oft ein kräftiger Anstrich mit Jodtinctur (neben sonstiger Behandlung) ;
auch eine Eisblase kann gelegentlich, aber nur so lange, als dringend
nöthig, aufgelegt werden. Eine Ichthyolsalbe u. dergl. kann man, um
die Zeit auszufüllen, gleichfalls gelegentlich anwenden. — Im günstig-
sten Falle ist strenge Schonung des Beines auf mindestens ein halbes
Jahr anzuordnen.
Behandlung der Knochen- und Geleuktuberculose. 529
Ich komme aus den oben angeführten Gründen von Jahr zu Jahr
mehr von der Exteusionsbehandlung zurück und M^ende sie nur an,
weich — vor der Anlegung fester Verbände — eine Stellungscorrectur ohne
Narkose erzielen will. Das regelmässige Verfahren ist die Anlegung
distrahirender erhärtender Verbände in Narkose, In tiefer
Narkose wird die falsche Stellung vorsichtig und laugsam corrigirt,
dann in kräftiger Extension ein Gipsverband von den Zehen bis zum
Becken geletg (vergl. Fig. 262). Bei stärkerer Schwellung wird zunächst
ein wattirter Gipsverband am geeignetsten sein; nach 3 bis 4 Wochen
kann man zu einem etwas knapper angelegten (mit Tricot- oder
Flanellunterlage) übergehen, der auch wieder 6 Wochen liegen kann.
Die Schmerzen sind meist momentan beseitigt. Gelingt die Correctur
der falschen Stellung nicht gleich mit dem ersten Verband, dann viel-
leicht mit dem dritten und vierten. Später spaltet man den Verband
(Fig. 268), so dass er an- und abgelegt werden kann und lässt das
Kind jetzt wieder fleissig baden.
Von Massage fiingöser Gelenke habe ich — trotz sorgfältiger und vorsichtiger
Versuche — nur Schlechtes gesehen.
Für die tuberculösen Erkrankungen an den untern Extremitäten
ist durch die Geh verbände, wodurch das schwächende lange Bett-
liegen vermieden wird, ein grosser Fortschritt erzielt. Die Verbände
werden — meist in Narkose — in der bei Knochenbrüchen pag. 438 fl'.,
sowie pag. 501 skizzirten Weise angelegt in leichter Distraction. Die
Correctur falscher Stellungen soll hiebei nicht auf einmal in zu gewalt-
samer Weise ausgeführt werden (Eiterung!), sondern lieber in mehreren
Sitzungen. Die Gehverbände können sowohl bei nicht operirten Patien-
ten als nach Resectionen angewandt werden ; in Form von Gipsverbänden
(Fig. 393) oder als Schienen von Bruns (Fig. 387 , 388) , Heussner
(Fig. 390, 391) u. A.
Unter dieser Behandlung wird man einen Theil der Fälle aus-
heilen sehen ; die frischen mit fast normalem Gelenk, ältere und hart-
näckigere mit beschränkter oder aufgehobener Beweglichkeit (Ankylose).
Doch hat man im Auge zu behalten, dass die tuberculösen Gelenk-
leiden häufig wiederkehren. Scheinbare Heilungen sind oft nur jahre-
lange Stillstände des Processes.
Von weiteren Behandlungsmethoden sind zu nennen die Injec-
tionsverfahren.
Zuerst hat Hüter die intraarticulilre und parossale Injection ausgebildet. Er
bediente sich 3"/oiger Carbollösungen und spritzte in einer Sitzung bis 3 Pravazsch.e
Spritzen iu's Grelenk, an den Knochen, oder wenn derselbe erweicht war, in den Knochen
herein. Die Erfolge sind sehr vorübergehend. Die Injectionen mit phosphorsaurem
Calcium (Kolischer) sind wegen ihrer schweren örtlichen und allgemeinen Folgen
längst verlassen.
Mehr Erfolg geben die Jodoform injectionen in tuberculöse
Herde und Gelenke, die wir Heussner, P. Bruns, SchüUer (mit Guajacol)
verdanken. Ihre Ergebnisse finden allerdings zur Zeit nicht mehr die
gleiche Anerkennung wie vor .Inhren. Trendcfcnhiirf/ hat beim Hand-
gelenk 60"/q Erfolge , licim Ellbogen 37%, Knie und Fuss 33o/o-
Bruns (Lantjenhec/c's Archiv, Bd. 40) injicirt in tuberculöse Herde
2 — 4 — 6 Gern, alle 8 Tage, in tuberculöse Abscessc alle 2 — 4 Wochen
10 — 20 — 30 Ccm. einer 10 — 20Voigen Schüttelmixtur in (V2 Stunde lang
sterilisirtem) Glycerin oder Oel. Schiillcr setzt einer 10 — löo/oigen Jodo-
La n dl' r 1- r , A llff. cliir. l'atlioloific u. Tlicrapii". 2. Aufl. 34
530
VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gehsnke.
formemulsion 0"5 oder l%Guajacol hinzu und gibt nebenher Guajacol
innerlich in der für Lungentuberculose vorgeschriebenen Form. Man
hat bei der Jodoforminjection weniger darauf zu achten, die tuber-
culösen Gelenke mit Jodoformemulsion zu füllen , als in die kranken
Knochenherde einzudringen. Hiezu eignet sich unter Anderem gut die
kräftige Hohlnadel mit Stilet nach SchüUer (Fig. 43 7 j , auf die eine
gut sterilisirbare Spritze, etwa die von Windler (Fig. 438) passt. Die
Stellen, wo man am besten in die Gelenke eindringt, sind in Fig. 439 — 443
nach SchüUer und Krause {Lang enh eck' s Archiv, Bd. 41) dargestellt;
meist lässt man sich durch die Schwellung leiten.
Abscesse werden mit dem Troicart oder der Hohlnadel punctirt, so-
weit möglich entleert und dann mit Jodoformemulsion eingespritzt (Bruns,
s. oben), oder mit S^/oiger sterilisirter Borsäurelösung ausgewaschen, bis
die Flüssigkeit klar abläuft und dann Jodoformemulsion eingebracht.
Billroth spaltet den Abscess — wenn möglich — breit, räumt ihn aus,
Fig. 437.
Fig. 439.
Fig. 438.
näht ihn zu und füllt mit Jodoformemulsion. SchüUer injicirt nach der
Exstirpation der Abscesswände Jodoform in die Umgebung.
Die Jodoforminjectionen sind nicht ohne unangenehme Folgen. Die
Schmerzen sind meist heftig (Eisblase , Morphium) , auch tritt meist
Temperatursteigerung (oft über 39") für mehrere Tage ein. Die Gefahren
der Jodoformintoxication (s. pag. 191) scheinen zwar gering, da das
Jodoform aus tuberculösen Herden sehr langsam resorbirt wird, wenigstens
habe ich es noch nach einem halben Jahre bei der Eröffnung nachweisen
können.
Durchaus unerlaubt ist die Verwendung von Glycerin
zur Herstellung von Emulsionen zur parenchymatösen Injection.
Schellenberg {Lcmgenheck's Archiv, Bd. 49) hat schwere Intoxicationen
(Hämaturie , Cjlinder im Harn) und bei Verwendung von 60 — 65 Grm.
sogar den Tod gesehen. Ebenso habe ich eine peracute und zwei sub-
acute tödtliche Nephriten gesehen. Schellenherg hält nur 10 Gern, für
erlaubt. — Ich verwende nur noch sterilisirte Kochsalzlösung (oder
Wasser, SchüUer-). Schellenherg nimmt eine entzündungserregende Wir-
kung des Glycerins an.
Behandlung der Knochen- und Gelenktuberculose.
531
Fig. 440.
Ebenso wie Stubenrauch (s. pag. 192) schlägt Haassler (Langen-
beck's Archiv, Bd. 50) die aiitibacterielle Wirkung des Jodoforms nicht
hoch an, sondern führt die Erfolge auf eine die Knochenregeneration
anregende Wirkung desselben zurlick.
Die Behandlung der Gelenktuberculose mit Stauungshyperämie
nach Bier (Langetiheck's Archiv, Bd. 48) geht in Anlehnung an ähnliche Experimente
Helferich's zur Vermehrung des Knochenwachsthums (pag. 491) von dem Gedanken aus,
dass bei Herzfehlem mit Stauung es in den Lungen fast nie zur Entwicklung von
Tuberculose kommt. Man wickelt das Glied bis unterhalb des Herdes mit Binde fest
ein und legt dann über dem Herd eine elastische Binde so um, dass der Puls nicht
verschwindet, aber Stauung und straifes Oedem sich bildet. Die Binde ist mehrmals
des Tages an anderer Stelle wieder anzulegen und soll besonders auch des Nachts ge-
tragen werden. Tuberculosen leichteren Grades bessern sich dabei, namentlich wird die
Beweglichkeit eine freiere. In den
meisten Fällen kann das Verfahren
wegen Schmerzhaftigkeit nicht durch-
geführt werden. Ausserdem wird die —
doch immer unerwünschte — Äbscess-
bildung dadurch sehr gefördert, so dass
diese dann geöffnet oder mit Jodoform
injicirt werden müssen. Bei fistulösen
Processen stört die enorme Secretion
sehr. — Das Verfahren wird wenig
mehr geübt.
Die Application der Glüh-
hitze war früher viel im Gebrauch.
Mir ist eine Eeihe alter fungöser
Knochenleiden , namentlich Coxiten,
aber auch einzelne Spondyliten , vor-
gekommen, die vor Jahrzehnten ge-
brannt und dauernd geheilt geblieben
sind. Die ganze Gegend des Gelenks
wird dabei mit dem Glüheisen oder
der Piatina caudens (dem Flach-
brenner) oberflächlich, d. h. bis in's
Unterhautzellgewebe gebrannt. — In
neuerer Zeit hat man mehr die
Ignipunctur angewandt, d. h. den
Stich- oder Fistelbrenner des Pacquelin
tief eingesenkt. Auch damit sind Er-
folge erzielt (Kocher, Genzmer).
Wegen der operativen
Behandlung bei Knochen-
und Gelenktuberculose ist zum Theil auf pag. 504 ff", zu verweisen.
Die verhältnissmässig unschuldigen Auswaschungen tuberculöser
Gelenke mit SVoi&er Carbollösung — es eignet sich nur der Hydrops
tuberculosus, also nur gutartige Anfangsformen — sind neuerdings (chir.
Congress, 1896) von König wieder lobend hervorgehoben worden.
Ueber die Indicationen zum operativen Eingreifen sind die
meisten Chirurgen insofern einig, als sie mit F. Briins (Chir. Congress
1894) sagen: „Die Resection tritt erst in ihre Rechte, wenn die con-
servative Behandlung niclit zum Ziel führt." Die typischen, viel vom
Knochen opfernden Rcsectionen (s. pag. 264 ff.) w'crdcn heute wenig ge-
übt bei Tubcrcuhjse; ein Theil der Cliirurgcn begnügt sicli mit Spaltung
und Auskratzung der tubcrculöscn Abscesse, Frcilegung und Ausschabung
der tuberculösen Knochenherde, Spaltung der Fisteln; wenn nöthig,
schreitet man auch zur breiten Eröffnung der Gelenke mit typischen
Resectionsschnitten (Arthrotomiej, trägt die in tuberculi»sc Granulation
532
VII. Oajjitel. — Krankheiten der Knoclieii und Gelenke.
umgewandelte Öynovialmembran iriit Schere oder Messer und Piriectte
möglichst im Gesunden ab (Arthrectomie), entfernt die kranken Partien
im Knochen mit Löffel oder Hammer und Meissel bis in's Gesunde.
Die Wunde wird mit Jodoformpulver dünn ausgepudert, drainirt und
mit Jodoformgaze verbunden. — Die rein aseptische Behandlung tuber-
culöser Wunden, wobei man Defecte in Knochen und Weichtheilen mit
Blut volllaufen lässt und (nach Schede) zur Heilung unter dem feuchten
Bluischorf bringen will, ist weniger geeignet und disponirt entschieden
zu örtlichen Recidiven der Tuberculose. Bei offenen Tuberculosen sind
die Ergebnisse geradezu schlecht zu nennen. — Gelagert werden die
operirten Glieder zunächst auf Schienen oder in gefensterten und unter-
brochenen Gipsverbänden (vergl. pag. 268). Nur wo wenig Absonde-
ruug zu erwarten ist, kann ein geschlossener Gipsverband angelegt
werden, der nachher gespalten und als Kapsel benützt werden kann.
Fig. 442.
Epic. int.
Epic. ext.
Cap. rSaii
Olecr.
Gelenkraum
Linkes Ellenbogengelenk.
Die nach der Operation häufig zurückbleibenden Fisteln werden
ausgekratzt oder mit Jodoformäther (1 : 9) oder Perubalsamäther (1 : 4)
ausgespritzt, mit dem Höllensteinstift öfters geätzt, bis sie sich ein-
ziehen und mit derber Narbe ausheilen.
Auch in der Nachbehandlung der atypischen und typischen Re-
sectionen wird vom Geh verband mit Nutzen ausgiebiger Gebrauch
gemacht.
Die statistischen Erhebungen sprechen nicht zu Gunsten der Resectiouen.
So fand Albrecht für die Coxitis eine Gesammtmortalität von 507o i ^ie mit Resection Be-
handelten zeigten eine Mortalität von 77"/,,. Am Knie ergab sich eine Gesammtmortalität
von 43°/o ; die conservativ Behandelten ergaben 36"67o , die Eesecirten 57"17o-
Nach Bruns (Chir. Congr. 1894) kommt es in Vs der Fälle bei Coxitis nicht zur
Eiterung, in 7.3 (?) tritt Eiterung ein. Die conservative I^ehaudlung gibt 557o Heilungen.
Der Tod tritt im Ganzen in 407o ^in. König {Langenheck's Archiv, Bd. 44) gibt 197o
Todesfälle im unmittelbaren Anschluss an die Hüftresection an. Sasse {LangenhecTc's
Archiv, Bd. 51) berichtet aus v. Bergmann' s Klinik über 114 Fälle von Coxitis, hievon
starben 21 Fälle (lömal Meningitis, .3mal Jodoform intoxication) ; 52 heilten ohne Fistel.
Operative Behandlung der Knocheutuberculose.
Die functionellen Ergebnisse der Resecirten waren ungünstiger als der conservativ Be-
handelten. Sasse empfiehlt gleichfalls die conservative Behandlung. Wartmann (Deutsche
Zeitschr. f. Chir., Bd. 24) berichtet über 225 (!) Todesfälle bei 837 Eesectionen, darunter
26 Fälle von Miliartuberculose, die er auf Inoculation während der Operation zurück-
führt. Aus Btllrotli's Klinik berichtet TJiaitsiiig {Langenhech's Archiv, Bd. 46). In dem
Zeitraum 1881 — 1891 starben von den Fällen von Coxitis ohne Eiterung 127o, geheilt
wurden 70"87oi uugeheilt blieben 17'2''/o ; von den Fällen mit Eiterung starben 25"6%,
geheilt wurden 34'9'' „, ungeheilt blieben 39'5'Vo-
Die Todesursache der Resecirten ist meist Erscliöpfiing- durcb
die lange Eiterung und Amyloidentartung. Bei den Operirten ist all-
gemeine Miliartuberculose be-
Fig. 443.
sonders häutig, sonst bei
Kindern auch tuberculöse
Meningitis.
Man hat dieselbe als Impf-
tuberculose aufgefasst, indem bei
der Operation in die frischen Wunden
tuberculöses Material eingeimpft
wii'd. Von den Kranken König's
waren von den Eeseciii;en in den
ersten 4 Jahren 21'57o ^n Tuber-
culöse gestorben; von den nicht
Operirten erst in 16 Jahren 27''/q. —
Die statistischen Erhebungen stimmen
insofern alle nicht , als unter den
conservativ Behandelten die grosse
Mehrzahl der leichten Fälle einge-
schlossen ist, während die Operirten
vorwiegend schwerere Fälle betreifen.
Oertliche Rückfälle der
tuberculijsen Entzündung mit
Bildung langdauernder Fisteln
u. s. f. sind bei Resectionen
die Regel. Und die Heilung
tritt meist, wenn überhaupt,
erst nach öfteren Xachope-
rationen (Auskratzungen der
Fistelgänge u. s. w.) ein.
Mit der Eröffnung chro-
nischer, sogenannter kalter
Abscessc braucht man sich nicht zu beeilen. Manche heilen nach Injection
von Jodoformemulsion (1 Jodoform: 9 Theilen Olivenöl, Wasser oder Gly-
ceriu circa 10 — 60Grm.), indem sie nach Monaten zu schrumpfen anfangen
(Spondylitis). Ueber Glycerin s. pag. 530. Manche resorbircn sich auch
von selbst in Gipsverbänden. In manchen Fällen hat mir das Aus-
waschen mit Pernbalsamäther gute Dienste gethan. Wieder andere
bleiben Jahre lang fistulös: bleibt die Wunde aseptisch, so kann es
noch zur Ausheilung kommen. Oft tritt mittlci'weile Exitus ein.
In Fällen hochgradiger Zerstörung, l)ildung schwerer Subluxations-
stelliing. n)it ausgedehnter Fistelbildung, hohem Fieber, Verjauchung
mit raschem Kräfteverfall, kann — besonders in höherem Alter (jen-
seits der 40er Jahre) — die Amputation (siehe pag. 253) nothwendig
werden.
Meine Dcliamlliuig der tuberculöseu kimclien- und Gelenkerkran-
kunffcn besteht in der Anwcnduni:- der a-eschiiderten Hilfsmittel der
I
Linkes Schultergelenk; Skelettheile stark
hervorgehoben. Einstichstellen.
534 ^^1- CapiM. — KranklKiitcn der Kiioclii:ii und (jühtnki:.
conservativen Behandlung und der Verwendung von Zimmtsäure-
präparaten. Um gleichzeitig die innern und localen Herde zu be-
seitigen, wird zimmtsaures Natron in Dosen von Ol Mgrrn. bis 1 Dgrm,
intravenös (oder bei Kindern glutäal) injicirt. Die Herde werden mit
zimmtsaurem Natron local injicirt. Abscesse werden punctirt, zum Theil
auch mit in sterilisirter Kochsalzlösung aufgeschwemmter Zimmtsäure-
lösung injicirt, tuberculöse Wunden mit Zimmtsäure bepudert u. s. w.
Septisch inficirte, hochfieberhafte Processe werden breit eröffnet, aus-
giebig drainirt, ausgeschabt etc. Die Heilungen betragen über 90'^ o-
Die Prognose der tuberculösen Leiden ist schwer zu stellen.
Immer ist die Dauer nach Jahren zu bemessen. Sehr getrübt wird
die Prognose durch das Eintreten von Eiterung. Nichteiterige Coxiten
zeigen nach Billroth eine Mortalität von llVoi eiterige von 56Vo- Here-
ditäre Belastung trübt die Prognose gleichfalls, ebenso ungünstige
äussere Verhältnisse.
Verkrümmungen und Orthopädie.
Allgemeines. Klumpfuss, angeborener und erworbener. Plattfuss, Spitz- und Hacken-
fuss. Knieverkrümmungen. Skoliose. Schiefhals. Andere Verkrümmungen. — Anky-
lose und Schlottergelenk. — Die Neubildungen der Knochen und Gelenke.
Unter Verkrümmungen, Deformitäten (Difformitäten) verstehen
wir Formabweichungen des menschlichen Körpers.
Die Ursachen der Verkrümmungen sind mannigfaltige. —
Selten handelt es sich um Vitia primae formationis, Störungen der frühesten
Entwicklungen (analog den i?ow.r sehen Experimenten, vergl. pag. 311).
sie führen eher zur Bildung wirklicher Missbildungen (vergl. auch
pag. 355, Teratome).
Die Missbildungen entstehen meist als totale Hemmungsbildungen , d. h. die
normaler Weise zu bestimmten Zeiten sich vollziehende Schliessung von Spalten, Ver-
einigung von Wülsten oder Fortsätzen kommt nicht zustande — congenitale Spaltbil-
dungen — wie Hasenscharten , Blasenektopie, Nabelschnurbrüche , Meningocelen u. s. w.
Ein grosser Theil der orthopädischen Leiden ist ange-
boren. Bald kommt die embryonale Anlage eines Theils nicht zustande
oder geht früh wieder zu Grunde; in dieser Weise entsteht angeborner
Mangel eines oder beider Schlüsselbeine, eines Theils der Tibia, Fibula,
des Radius und dergl. Oder im Uterus wirken äussere Ursachen auf
den Fötus hemmend oder verkrümmend ein; so entstehen angeborene
Klumpfiisse zum Theile durch enge Umschliessung der Theile seitens
des Uterus bei zu wenig Fruchtwasser. Noch häufiger sind abnorme
Verwachsungen mit dem Amnion zu beschuldigen , oder amniotische
Fäden, die durch ihren Zug die normale Entwicklung eines Theils hindern
oder durch Umschntirung einzelne Theile zur Verkümmerung, selbst zum
völligen Schwund bringen können. So erklärt man die Selbstamputation
von Fingern, Zehen, selbst ganzer Extremitäten. — Auch Verletzungen
des Eies und des Fötus können zu Verkrümmungen, z. B. durch
intrauterine Knochenbrüche, fuhren. Ebenso können Missbildungen die
Folgen von intrauterinen Erkrankungen des Fötus sein, namentlich von
fötaler Rachitis (pag. 408) und fötaler Syphilis.
Während der Geburt erworben werden Verkrümmungen
durch Verletzungen (Knochenbrüche), besonders während schwerer Ent-
bindungen.
Verkrümmungen. Allgemeines. 535
Bei den postfötal erworbenen Deformitäten spielen verschie-
dene Ursachen mit. Bei den myog;enen und neurogenen Verkrüm-
mungen handelt es sich meist um Lähmungen bestimmter Muskel-
gruppen. Die häufigste Ursache dieser Lähmungen ist die „essentielle"
Kinderlähmung — Poliomyelitis anterior acuta (siehe Muskelkrankheiten).
Infolge davon kommt es theils durch die Schrumpfung der nicht ge-
lähmten Antagonisten , theils durch die nun in abnormer Weise ein-
wirkende Schwere (Voihmmn) zu Verkrümmungen (paralytische Ver-
krümmungen).
Die grösste Rolle in der Entstehung der Verkrümmungen spielt
aber die Schwere — Belastungsdeformitäten. Die Schwere,
d. h. die Belastung kann in verschiedener Weise zur Ausbildung
von Verkrümraungen fahren. Sie kommt wenig oder fast gar nicht
als ursächliches Moment in Betracht bei der — nicht belasteten —
obern Extremität, umsomehr bei der untern Extremität und der
Wirbelsäule. Werden z. B. die untern Extremitäten im Wachsthumsalter
wie in der Pubertätszeit zu lange belastet durch langes und häufiges
Stehen (Kellner, Kaufmannslehrlinge u. dergl.), so wird das Fussgewölbe
allmählich abgeflacht, es kommt zum Plattfuss (Pes valgus acquisitus),
ebenso kann der normal etwa 175° betragende , nach aussen offene
Winkel zwischen Unter- und Oberschenkel immer kleiner werden , es
kommt zum X-Bein (Genu valgum, Bäckerbein). Hier handelt es sich
gewissermasssen um Üebertreibung physiologischer Vorgänge, es kann
aber durch die Schwere auch zur allmählichen Fixirung falscher Körper-
haltungen kommen, die zunächst aus Bequemlichkeit oder Ermüdung
eingenommen werden. So entsteht durch die besonders in der Schule
oft eingehaltene seitliche Einknickung des Rumpfes beim Sitzen die
seitliche Rückgratsverkrümmung, die habituelle Skoliose.
Wieder andere Verkrümmungen entstehen auf entzündlichem
Wege, d. h. durch Narbenschrum))fung (vergl. pag. 88). Diese Ursache
liegt vielen im späteren Leben erworbenen Gelenksverkrümmungen zu
Grunde, ebenso manchen Formen von Rückgratsverkrümmungen als
Folge schrumpfender Rippenfellergüsse mit Schwielen- und Schwarten-
bildung. — Bei der Besprechung einzelner wichtigerer Formen ist noch
dies und jenes ursächliche Moment nachzutragen , ebenso auch die
wichtig.>;tcn Punkte der Behandlung.
Der Klumpfuss, Pes varus, ist eine eigenthümliehe Zusammen-
krüinmuug des Fusses, wobei derselbe zugleich in starker Supinations-
stellung sich befindet, so dass der Kranke mit dem äusseren Fussrand,
oder selbst dem Fussrücken statt der Fusssohle auftritt (vergl. Fig. 444
und Fig. 445 nach Allxrt).
Die in Fig. 444 und 445 abgebildeten Füsse sind aiigel)orene
Klumpfüsse (Pes varus congenitus). Jedes neugeborene Kind hat eine An-
deutung von Klumpfuss, d. h. einen stark gewölbten Fnss, dessen Sohlen-
fläche mehr nach einwärts als gerade nach abwärts sieht, und erst
wenn es anfängt zu gehen, wird das Gewölbe des Fusses durch die auf
ihm ruhende Last des Körpers niedergetreten und langgedriickt und der
Fuss bekommt die Form , die wir als die normale Fussform des Er-
wachsenen anzusehen gewohnt sind. Die Klumpfüssigkeit ist also nur
eine l'ebertreibung der physiologischen Fussform des Neugeborenen. Der
Grund der KlumpfnsslüUlung wird theils darin gesucht , dass während
5;',6
VII. Capitcl. — Kraiiklieitoii dor Ktmclien iiikI Gcloikf-,
der Schwangerschaft zu wenig Fruchtwasser vorhanden ist, tlieils in
Feststellung des Fusses durch amniotische Fäden. Der angeborene
Klumpfuss ist in seiner falschen Stellung durch die zu kurz gewachsenen
Sehnen und Bänder fest fixirt, er ist eine „Oontractur", im Gegensatz
zum erworbenen oder paralytischen Klumpfuss, wo man ein
übermässig bewegliches Fussgelenk, ein „Schlottergelenk" hat.
Dieser ist fast ausnahmslos die Folge der Kinderlähmung — Poliomyelitis anterior
acuta. — An solchen gelähmten Füssen entstehen häufig im Laufe der Zeit Deformitäten
verschiedener Art. Sind die Zehenstrecker gelähmt oder paretisch und liegt das Kind,
weil es noch nicht laufen gelernt hat, zu Bett, so sinkt allmählich die Fassspitze herab,
der eigenen Schwere folgend und durch die Schwere des auf ihr liegenden Deckbettes
niedergedrückt. Der Fuss krümmt sich allmählich zusammen und wird zum Klumpfuss,
doch ist er meist noch mehr ausgehöhlt und die Fussspitze noch mehr gesenkt, als beim
angeborenen Klumpfuss (Pes varo-equinus excavatus paralyticus). Wird der halbgelähmte
Fuss von älteren Kindern zum Gehen benützt, so bildet sich kein Klumpfuss aus, im
Gegentheil, der ziemlich haltlose und übermässig bewegliche Fuss wird durch die Körper-
schwere nieder- und flachgetreten, es entsteht ein paralytischer Plattfuss (s. unten).
Allmählich wachsen dann die AVeichtheile und Knochen auch in diesen Fällen in die
t
falsche Stellung hinein, so dass diese dann auch — bis zu einem gewissen Grade — fixirt
wird. Sind die Strecker intact und die Beuger gelähmt, so entsteht gewöhnlich gar
keine Deformität.
Die differentielle Diagnose zwischen Pes varus congenitus und paralj^ticus ist
nicht schwer. Einmal ist die Anamnese zu beachten , ob angeboren oder erst in den
ersten Lebensjahren erworben ; dann ist der angeborene Klumpfuss im Fussgelenk ge-
wöhnlich sehr fest gestellt ; beim paralytischen ist fast immer Schlottergelenk da.
Fasst man den Unterschenkel und sucht den Fuss zu schütteln , so flattert er beim
paralytischen förmlich hin und her ; beim angeborenen steht das Fussgelenk fest.
Schliesslich kommt noch die elektrische Untersuchung der Muskeln zu Hilfe.
An der Behandlung des Klumpfusses lassen sich verschiedene
orthopädische Methoden studiren. Nur in leichten Fällen gelingt es,
durch häufiges Herüberdrehen des Fusses mit den Händen in die
normale Form, diese allmählich dauernd zu erzielen („Manipulation").
Wirksamer ist das gewaltsame Redressement.
Man macht dasselbe in Narkose, legt in möglichst corrigirter Stellung einen Wasser-
glasschlemmkreideverband an und darüber einen Gipsverband. Ehe dieser trocknet,
wird die Correction noch verstärkt. Der Gipsverband kann nachher abgenommen werden-
und das Kind soll nun 6 — 8 AVochen in dem Wasserglasstiefel gehen (Julius Wolff).
Dann kommt ein n«uer Verband, der in noch stärker corrigirter, womöglich übercorrigirter
Klumpfuss.
537
Stellung angelegt wird u. s. w. Die Dauer der Behandlung beträgt 3 — 8 Monate. Dann
sind Knochen und Weicbtheile der neuen Form entsprechend gewachsen und dieselben
können des Verbandes ganz entbehren, oder man lässt noch einige Zeit einen Schienen-
schuh tragen, der der Klumpfussstellung entgegenwirkt {Scarpa' scher Schuh). Fig. 446
und 447 geben einen für die Nachbehandlung des Klumpfusses von V. v. Brims an-
gegebenen Verband.
Lorenz hat das Verfahren verbessert, indem er, was übrigens vor ihm schon von
Anderen geübt wurde, nicht plötzlich redressirt, sondern im Verlaufe von einer halben Stunde
und mehr den Fuss durch oft wiederholte Manipulation ohne grosse Gewalt allmählich in
die normale Stellung überführt — modellirendes Eedressement. Mitunter fügt man dem
Eedressement die subcutane Durchschneidung der stark gespannten Achillessehne hinzu.
Bei sehr stark deformirten Füssen und älteren Kindern kann man noch weiterer ein-
greifender Operationen bedürfen. Sehr gute Dienste hat mir der grosse Weichtheilschnitt
von Pliclps gethan, indem die Weich theile der Fusssohle, namentlich die geschrumpfte
Aponeurosis plantaris und die kurzen Sohlenmuskeln mit einem schrägen von dem inneren
nach dem äusseren Fussrand bis auf die Knochen geführten Schnitt durchtrennt werden
und sobald als möglich dann die orthopädische Behandlung aufgenommen wird.
Fig. 446.
Fig. 447.
Die Zahl der bei Klumpfuss vorgeschlagenen und ausgeführten Operationen an
den Knochen des Fusses und Unterschenkels ist eine sehr grosse. Bald wurde der Fuss
in der Hölie des Naviculare, bald der Unterschenkel über dem Fussgelenk linear durcli-
meisselt, um dann das Kcdressement auszuführen, bald an diesen Stellen Knochenkeilc
herausgenommen oder einzelne Knochen (Talus, Würfelbein, Kahnbein) ganz oder theil-
weise (Talushals) entfernt. In allen Fällen ist die orthopädische Nachbehandlung für
den endlichen Erfolg mindestens eljcnso wiclitig wie die Operation.
Paralytische Klumpfüsse massigen Grades werden oft durch Massage und elektrisclie
Behandlung der befallenen Muskeln wesentlich gebessert.
Gewissermassen das Gegenstück dos Klumpfusses ist der l'latt-
fass (Pes valgus).
Das Kind wird mit einer leichten Klumpfu.ssstellung geboren und diese Form geht
durch allmähliches Niedertreten des .spitzen Fussgewölbes durch die Körperlast in die
gewöhnliche, etwas flachere Fussfonn über. Schies.st diese Abflaehung durch zu lange
und zu liäufigr Belastung in der Wachsthumsperiode über das Ziel hinaus, wird das
Gewölbe übermässig in die Länge gezogen und zugleich niedergedrückt, so entsteht ein
Plattfnss. Die Ausbildung des Plattfusses i.st also nur eine Steigerung einer physiohi-
538
VII. (japitel. — Kranklioiteii der Kiioi;l]<;ii ujkJ Gelunkt;.
gischen Umbildung des Pusses. — Fig. 448 nach Albert stellt einen Plattfuss massigen
Grades dar. Das Os naviculare (a) ist Ms zum Boden herabgotreten , ihm folgt das
Fig. 449.
Capitulum tali (b) und in schlimmsten Fällen kann sogar der Malleolus internus (e)
mit der Bodenfläche in Berührung kommen. Der Plattfuss zeigt also äussersten Grad vo|i
Pronationsstellung.
Die Diagnose des Plattfusses wird erleichtert durch Sohlenabdrücke, gewonnen
durch Auftreten auf ein mit Terpentinöl oder Campherspiritus berusstes Blatt. Fig. 449
gibt den Abdruck eines normalen und eines
Plattfusses. Mit 1% Schellacklösung kann der
Abdruck fixirt werden.
Die Beschwerden des Plattfusses be-
stehen meist nur in schneller Ermüdung und
verminderter Leistungsfähigkeit. Doch finden
sich bei jungen Leuten, die viel zu stehen
haben, oft Plattfüsse, die so schmerzhaft sind,
dass Gehen und Stehen unmöglich Avird —
Pes valgus dolorosus, inflammatorius, Tarsalgia
adolescentium. In schweren Fällen hat man
auch tonische Contracturen der Muskeln und ^^
hiedurch Fixation des Fusses in dieser falschen
Lage („contracter" Plattfuss). Es entwickeln
sich unerträgliche Schmerzen am Ansätze der
Aponeurosis plantaris , an der Tuberositas
calcanei , an den Köpfchen der Mittelfass-
knochen , dem äusseren Knöchel , seltener am
Fussrücken. Ich habe alle diese Fälle durch '
energische Massage, namentlich Tapotement der
das Fussgewölbe stützenden Muskeln geheilt, ^*^^^^'
und dies ist auch der Grund, weshalb ich an- —
nehme , dass die Musculatur — durch ver-
minderte Functionsfähigkeit oder übermässige Beanspruchung — bei der Entstehung des
Plattfusses eine Eolle spielt. Im Uebrigen werden keilförmige Einlagen in den Schuh,
die das innere Fussgewölbe heben sollen, verwandt. Hin und wieder wurde auch ein
Keil aus dem inneren Fussrand herausgeholt (Ogston) oder der Unterschenkel über den
Knöcheln durchgemeisselt und das Fussgewölbe so wieder gewölbter gemacht. Die Eesultate
sind zum Theil gute gewesen. Vom gewaltsamen Eedressement und Fixirung dieser
Stellung in erhärtenden Verbänden habe ich keine dauernden Erfolge gesehen. Auch
durch schlecht geheilte Knöchelbrüche entstehen Plattfüsse (traumatischer Plattfuss).
Plattfuss. Spitzfuss. Hackenfuss.
539
All diese Plattfüsse sind erworbene (acquisitus) , doch gibt es auch einen a n-
geborenen Plattfuss, der in derselben "Weise wie der erworbene Klumpfuss durch
fehlerhafte Haltung des Kindes in utero entsteht. Den paralytischen Plattfuss habe
ich schon pag. 5B6 erwähnt.
Schliesslich sind zwei Verkrüramungen des Fasses zu er-
wähnen, die jedoch viel seltener sind, der Spitzfuss und der Haken-
fuss. Beim Spitzfuss (Pes equinus, s. Fig. 450 nach Älhert) tritt der
Kranke mit der Fussspitze auf. Die Ursache ist meist Schrumpfung der
Wadenmusculatur bei Lähmung der Dorsalflexoren (Pes varo-equinus
paralj'ticus, s. pag. 526). Hin und wieder hilft Tenotomie der Achilles-
sehne und ein passender Schienenschuh. Fig. 451 ist ein Schienenschuh
zur Hebung der Fussspitze bei Spitzfuss (nach Bauer), vgl. auch Fig. 284.
Der Hackenfuss (Pes calcaneus, s. Fig. 452 nach Älhert) kommt
theils angeboren vor (s. angeborene Klump- und Plattfüsse), bald er-
Fig. 451.
worhen durch narbige Schrumpfung auf dem Fussrücken oder durch
Liiimiung der Wadenmusculatur. Der Kranke tritt auf der Hacke auf.
Meist genügen Bandagen, die den Fuss gegen die Sohle (des Schuhes)
hinziehen.
Die Verkrümmungen im Knie führen meist zu einer (seitlichen)
Winkelbildung zwischen Ober- und Unterschenkel. Ist der Winkel nach
aussen offen, so sjjricht man von Genu valgum (X-Bein); im anderen
Falle von Genu varum (0-Bein).
Ober- und Unterschenkel sind — normaler Weise — unter einem nach aussen
ofl'enen Winkel von 172 bis 178" miteinander verbunden. Die Folge davon ist, dass die
Schwerlinio des Beines etwas näher dem Condylus femoris externus liegt als dem
internus. Ist nun der Knochen weicli und der Oberkörper schwer, wie dies ■/.. IJ. bei
vielen rachitischen Kindern zutrifft, oder wird das Bein durch langes Stehen während
dei- WachsthuniS])eriodi' bei gewissen Berufsclasseu (Commis, Kellner, Schriftsetzerlehi-
liugen u. s. w.) besonders oft und lang belastet , so bleibt der stärker gedriickte
Condylus ext. im AVaclisthum zurück, es entsteht ein Genu valgum (vergl. Fig. 453);
540
VII. Capite]. — Kraiiklicitoji dw Kiiocln;ji und GcJcukf:
Fig. 453.
der Condylus iat. liyportropliirt, doch betrifft diese Hypertrophie des Condylus int. nur
den vorderen, im Stehen der Tibia zi;gewendeten Theil des Knochens, die hintere Partie
bleibt unverändert ; deshalb verschwindet auch die Winkelstellung zwischen Ober- und
Unterschenkel, sobald der Unterschenkel gebeugt wii'd. Wie schon angedeutet, sind zwei
Formen von Genu valgum zu unterscheiden , das Genu valgum infantum s. rachiticum
(bis zum 6 — 7. Jahr) und Genu valgum adolescentium staticum (von der Pubertät an).
Entsprechend der Entstehungsweise ist das X-Bein häufig mit Plattfuss combinirt.
Das X-Bein ist — von der Hässlichkeit abgesehen — viel weniger
leistungsfähig; Schmerzpunkte finden sich an den Ansatzpunkten der
Seitenbänder im Knie und am äusseren Knöchel.
Für das Genu valgum infantum genügt orthopädische Behandlung.
Gegen eine äussere Stahlschiene, vom Becken bis zum Schuh herab-
gehend, wird das Knie mit einer
Lederkappe angezogen und damit
nach aussen gezogen. Oder ein
elastischer Zugstreifen , mit Heft-
pflaster am Ober- und Unterschenkel
befestigt, zieht das Knie nach innen.
Beispiele solcher Verbände sind
Fig. 285 und Fig. 454 — 455.
Das Genu valgum adolescen-
tium ist durch orthopädische Ma-
schinen U.S. f. nicht mehr wesentlich
zu beeinflussen. Das operative
Verfahren von Ogston^ der von
einer kleinen Stichwunde aus den
Condylus fem. int. schräg absägte
und dann am Femur in die Höhe
schob und dort anheilen Hess, er-
freut sich heute weniger der Be-
liebtheit, als die Methode von Mac
E'wen , die Osteotomie des Ober-
schenkels. Etwas über dem Con-
dylus internus wird von einem
5 Cm. langen Schnitt aus der Ober-
schenkel durchgemeisselt und das
Knie unter vorsichtigem Einbrechen
einer noch stehenden Knochen-
brücke am äusseren Theil des Femur, gerade gestellt. Das Kniegelenk
bleibt hiebei ganz unberührt und dies ist der grosse Vorzug dieses
Verfahrens.
Beim Genu varum (0-Bein) ist umgekehrt der Condylus exter-
nus femoris hypertrophisch. Dasselbe ist meist durch Rachitis bedingt.
Das Genu varum rachiticum der Kinder verwächst sich häufig ganz
von selbst oder unter Beihilfe orthopädischer Apparate, ähnlich denen
bei Genu valgum. Ist das Genu varum bei Erwachsenen hochgradig,
so ist Osteotomie nöthig.
Bei der angeborenen Hüft Verrenkung bleibt durch frühzeitige
Verknöcherung des Wachsthumsknorpels die Hüftpfanne in ihrer Ent-
wicklung zurück. Infolgedessen bat der Schenkelkopf keinen Raum mehr
in der Pfanne und tritt unter Erweiterung der Gelenkkapsel aus. meist
nach oben auf das Darmbein (Luxatio iliaca). Infolge der losen
Kiiieverbiegungen.
541
Befestigung des Kopfes am Darmbein und der Atrophie der kleinen
Gesässmuskeln (Trendelenhurg) entsteht ein hässlicher, watschelnder
Entengang, Verkürzung und Deformität (vergl. Fig. 402). Die blutige
Zurüekführung des Kopfes in die Pfanne nach Hoffa hat nur in einem
kleinen Theil der Fälle gute Resultate ergeben. Man macht heute bei
Kindern unter 6 Jahren den Versuch der unblutigen Einrenkung (Lorenz)
und hält die gewonnene Stellung durch portative Verbände fest. Andern-
falls begnügt man sich mit Apparaten.
Die Ursache vieler Verkrümmungen der unteren Extremität ist
ferner' die Rachitis. Ausser den bereits besprochenen veranlasst sie
namentlich häutig Verbiegungen der Diaphysen ; der Oberschenkel kann
zu einem förmlichen Halbkreis werden. Am Unterschenkel finden sich Ein-
knickungen in den Epiphysen und der Schaft nimmt oft eine eigenthüm-
Fig. 455 &.
m ^^
Innere Schiene bei Genu valgum.
Aeussere Schiene bei Genu valguin.
liehe, fast korkzieherartig gewundene Form an. Doch kommen auch hier
bogenförmige Auskrümraungen vor. Pag. 408 sind auch noch die kiel-
förmige Verbiegung des Thorax (Hühnerbrust, Pectus carinatum) er-
wähnt; ebenso die eigenthündiche Plumpheit des Schädels — Caput
quadratum — beides Thcilerscheinungen der Rachitis.
Vielleicht hängt auch mit Rachitis zusammen die Coxa vara. Der Schenkelhals
steht zum Schaft in einem kleinereu Winkel als normal (bis unter 1 R) und ist seitlich
abgeknickt. Die Folge ist Verkürzung, Beschränkung der Einwärtsrollung und Einschrän-
kung der lieweglichkeit.
Die Verkrümmungen der oberen Extremität sind viel seltener
als die der unteren. Hier fehlt das Moment, das an der unteren Extre-
mität in so hohem Grade die Verbiegung begünstigt, die Belastung
durch die Scliwcre. Fast innner liandclt es sich um W'achsthumsstr»-
rungen durcli Beschädigung der Epij)liysenknorpel. Häufig sind diesel-
542
VII. Capitel. — Krankheiten der Kriociieii und Gelenke.
ben aucli mit Bildung- von Sclilottergelenken und atropliisclien Zuständen
der Musculatur verknüpft und führen dadurch zu Functionsstöi-ungen.
Kräftigung durch Massage, stützende Apparate sind zweckmässig.
Am Rumpf ist die wichtigste Verkrümmung die seitliche Rück-
gratsverbiegung, die Skoliose.
Die Form und die unmittelbaren Folgen der seitlichen Rückgrats-
verkrümmung zeigen Fig. 456 und Fig. 457 (nach Albert), rechtseitige
Verkrümmung der Brustwirbelsäule. Die Brustwirbelsäule ist stärker nach
rechts ausgebogen, infolgedessen sind Lenden- und Halswirbelsäule
nach links ausgewichen, man nennt dies compensirende Skoliosen, weil
ohne diese Gegenkrümmung der Kopf nicht mehr seine mediane Lage
Fig. 456.
Fig. 457.
innehalten könnte. Die ganze Wirbelsäule macht so den Eindruck einer
mehrfachen Krümmung, einer schlangenartigen Verbiegung — Scoliosis
multiplex oder serpentina. An der Seite, die der Convexität der Krüm-
mung entspricht, also hier nach rechts, werden dadurch die Rippen aus-
einander gefaltet, auf dei- concaven Seite zusammengeschoben wie ein
stärker und ein weniger stark auseinander gefalteter Fächer. Daher
wird die convexe Brustseite länger, weiter und höher, und damit tritt
auch das rechte Schulterblatt mehr in die Höhe — hohe Schulter.
Auch die betreifende Hüfte tritt meist höher — hohe Hüfte.
Die Deformität entwickelt sich sehr langsam und schleichend. Anfangs handelt
es sich mehr um falsche Haltung, daher das Ganze auch Scoliosis habitualis ge-
nannt wird. In diesem ersten („mobilen") Stadium verschwindet die Verbiegung sofort
mit dem Aufhören der Belastung der Wirbelsäule, d. h. beim Liegen, im Hang, selbst schon
Rückgratsverkrümmungen. 543
im Voruüberbiegeu. Bald jedoch gleicht sich die Verbieguug bei Aufhören der Belastung
nur noch zum Theil aus (II. Stadium) und im dritten Stadium ist eine Veränderung
durch nichts mehr herbeizuführen (III. Stadium oder Stadium der Fixation). Diesen Ver-
hältnissen entsprechend lässt sich im I. Stadium eine anatomische Veränderung an den
Knochen noch nicht nachweisen. Bald jedoch stellt sich ein falsches "Wachsthum sämmt-
licher Knochen des Thorax ein, die Wirbelkörper werden auf der convexen Seite höher,
auf der coucaven niedriger, die Eippen der convexen Seite länger, auch das Sternum
verbiegt sich. Selbstverständlich werden in diesen hochgradigen Fällen auch die ßrust-
eingeweide (Herz und Lunge) in Mitleidenschaft gezogen und verschoben.
Die Skoliose wird heute als eine „Belastungsdeformität" (s. pag. 535) bezeichnet,
auch als Ermüdungs-, Schuldeformität u. s. w.
Für die diff erentielle Diagnose sind verschiedene ähnliche Processe im Auge
zu behalten. Zunächst ist die habituelle Skoliose zu trennen von der narbigen (z. B. durch
Verbrennungen), der durch innere Schrumpfungsprocesse (Empyem der Rippenfellhöhle,
Lungenschrumpfungen u. s. f.) bedingten, dann von der „statischen", die bedingt
ist durch angleiche Länge der Beine. Dann ist die „Totalskoliose" der kleinen
Kinder ein anderer Process. Diese entwickelt sich in den ersten Lebensjahren, ehe die
Wii'belsäule ihre phj'siologischen Krümmungen erhalten hat , und bildet einen einzigen
Bogen — meist nach links vom Atlas bis zum letzten Lendenwirbel herab (im Gegen-
satz zur Scoliosis multiplex). — Die rachitische Skoliose macht oft ziemlich spitz-
winklige seitliche Ausbiegungen kleinerer Abschnitte der Wirbelsäule.
Scharf ist die Skoliose zu trennen von der Spondylitis. Die Spondylitis ist
eine tuberculöse Erweichung und Vereiterung der Wirbelkörper. Infolge der auf den
erweichten Wirbeln ruhenden Last des Oberkörpers sinken dieselben ein und bilden,
indem die meist nicht veränderten Dornfortsätze nach hinten hinausgetrieben werden, einen
spitz nach hinten vorragenden Buckel (Kyphose). Die Spondylitis betrift't im Gegensatz
zur Skoliosis nie die ganze Wirbelsäule, sondern nur einzelne Wirbel (2—10), und diese
lassen die Zeichen der Entzündung nicht verkennen; es fehlen nicht örtliche Schmerzen,
Schmerz bei Bewegung der Wirbelsäule und Zeichen von Entzündung oder Degeneration
des meist mit entzündeten Rückenmarks (Lähmungen der unteren Extremitäten, der
Blase, des Mastdarmes ; Anästhesie und Parästhesie, Erhöhung der Reflexe). In späteren
Stadien treten noch die schon geschilderten tuberculösen Abscesse hinzu , die oft weite
Wege machen und unter dem Poiqiarf sehen Band, an der Hinterfläche des Beckens, der
Oberschenkel, am Rücken zu Tage treten.
Von sonstigen Verkrümmungen der Wirbelsäule wäre noch zu nennen die Alt er s-
kyphose. AVenn die Musculatur anfängt, schwach zu werden, so schwindet die straffe,
gerade , militärische Haltung immer mehr, erst der Kopf, dann der Rumpf sinken nach
vorne über und man hat eine runde Kj^phose, namentlich in Brust- und Halswirbelsäule.
Bei schwächlichen Personen kommt dieser „runde Rücken" oft schon in frühen Jahren,
ebenso bei Leuten, die viel Lasten auf dem Rücken tragen (Sackträgerkyphose).
Bei der Beb and hing; der Skoliose sind zAinächst die fast immer
vorhandene Blutarm iith und Scliwäcblichkeit der Kinder zu bekämpfen.
Friscbe Luft und kräftige Krnäbrung , mögliebst wenig geistige An-
strengung, Einschränkung oder Einstellung des Schulbesuches. Die Kinder
sollen so wenig als möglich sitzen oder stehen, sondern umherlaufen
oder liegen. Bei der örtlichen Behandlung sind in den ersten Stadien
diejenigen Verfahren am erfolgreichsten , welche die Musculatur des
Rückens zu kräftigen bestrebt sind — Massage und Gymnastik. Später
kommen dann auch redressirende Apparate u. s. f. in Frage, von denen
das in corrigirter Stellung angelegte abnehmbare Gips- oder Leder-
corset fvergl. Fig. 272) entschieden das Beste ist. Doch sind Corsets,
Stützapparate erst dann zu verwenden, wenn die Skoliose schon vor-
geschritten ist und CS sich eigentlich nur darum handelt, eine Ver-
schlimmerung zu verhüten.
Am oberen Ende der llal,swirl)elsäule tindet sich der Schiefhals
(Caput obstipum). Es handelt sich dal)ei um eine Verkürzung des M.
sternoeleido-mastoideus (in Fig. 458 nach Albert des linken). Derselbe
ist entweder zu kurz gewachsen (Prfrrst)/) durch falsche Haltung des
Fötus in utero, wie der angel)orene Klumpfuss. (Jder der Muskel ist
544
VII. Cdpitol. — Kranklieiten der Knochen und Gelenke.
während der Geburt zerrissen und nachher narbif^- g-eschrumpftf?). Häufig
ist die betreffende Gesichtshälfte auch in der Entwickhing zurückgeblieben.
Die Behandlung beginnt am besten mit einer subcutanen oder oWenen fFolk-
Fig. 458.
mann) Durchschneidung des Muskels oberhalb seines Ansatzes (Tenotomie
mit feinem Sichelmesser). Auch die Exstirpation des Muskels wird em-
pfohlen (Mikulicz). Nachher lässt man eine steife Cravatte tragen oder
den Kopf an einem Suspensionsapparat (Minerva) in die Höhe und ge-
rade ziehen.
Ankylose nennen wir Aufhebung der freien Beweglichkeit in
einem Gelenk (Steifheit). Der Name kommt von äv/.ulo; (Winkel) und
bedeutet eigentlich Feststellung im Winkel. Uneigentlich gebraucht man
auch den Ausdruck „gestreckte Ankylose", d. h. Feststellung in gestreckter
Stellung.
Man hat die Ankylosen in echte und in falsche eingetheilt (A. vera und spuria).
Bei der echten sitzt das Bewegungshindemiss im Gelenk selbst, bei der unechten ist
die Schrumpfung und Starrheit der umgebenden Weichtheile die Ursache. Die Ursachen,
die eine Ankylosis spuria bedingen können, sind natürlich sehi- verschiedener Art.
Bald ist es die Haut; hier kommen namentlich umfängliche Narbenschi'ump fangen, be-
sonders nach Verbrennungen, in Betracht. Ein anderesmal sind es Fascien, die durch
ihre Verkürzung die Beweglichkeit eines Gelenkes hindern. Noch häufiger handelt es
sich um Muskelleiden, „Contracturen". Und zwar sind es bald chronische Contrac-
tionszustände. meist durch Nervenleiden bedingt (Spasmen, Myotonia congenita u. s. f.),
bald narbige Schrumpfungen, im Anschluss an chronische Muskelentzündung, oder noch
häufiger durch Eiterung veranlasst. So entsteht oft nach Phlegmone des Vorderarmes,
durch eiterigen Zerfall von Muskeln und nachherige Schrumpfung von Muskeln , Sehnen
Ankylose. 545
und Fascien, Contracturstelluug der Hand. Jedoch auch Nervenlähmungeu haben,
indem sie zur Lähmung und Schrumpfung der Muskehi führen , Contracturstellungeu
zur Folge.
Die Diagnose ist zum Theil durch unmittelbare Besichtigung (z. B. der Narben)
und die Anamnese (vorausgegangene Eiterungen, Lähmungen u. s. f.) zu machen; oft
sind auch elektrische Untersuchung und Narkose uöthig. Die Beweglichkeit ist bei An-
kylosis spuria oft nur in einzelneu Eichtungen — gerade im Sinne des Hindernisses —
beschränkt.
Die Schrumpfung der Weichtheile beschäftigt uns übrigens oft als unan-
genehme Beigabe wahrer Ankylosen. "Wenn diese behoben sind, z. B. durch eine Osteo-
tomie (siehe unten), so kann es vorkommen, dass die im Laufe der Jahre auf's Aeusserste
geschrumpften Weichtheile einer Aenderung der Stellung hartnäckigen Widerstand ent-
gegensetzen. Es bedarf dann oft methodischer Behandlung derselben — G-ewichtstension,
gewaltsamer Dehnungen in Narkose, Durchschneidung einzelner Stränge, Massage u. s. f.
Die Weichtheile machen so oft mehr Mühe als die eigentliche Ankylose.
Man unterscheidet eine fibröse, knorpelige und knöcherne
Ankylose, je nachdem die Vereinigung der beiden Knochen eine bindege-
webige, knorpelige oder wirklich knöcherne ist. Die knorpelige ist ohne
Weiteres zu streichen, denn die Gelenkknorpel verlöthen nicht mitein-
ander, da dies die Eigenartigkeit ihres Gewebes und ihres Stoffwechsels
verhindert, es handelt sich hier nur um fibröse Verlöthung mit Knorpel-
resten dazwischen.
Viele Ankylosen sind überhaupt nur scheinbare, namentlich die
fibrösen, es handelt sich nur um Schrumpfung der Bänder und Kapsel,
die die active Behandlang unmöglich machen.
Es ist — wegen Behandlung und Prognose des Falles —
wichtig, in jedem einzelnen Falle sich genau darüber klar zu werden,
welcher Art die Ankylose ist. Manchmal hilft die Anamnese mit; acuter
Gelenlsj-heumatismus macht z. B. meist nur Kapselschrumpfungen; bei
schwerer Eiterung und Tuberculose handelt es sich häufig, aber
keineswegs immer um knöcherne Vereinigung. Lässt sich eine auch nur
ganz leichte Bewegung im Gelenk ausführen, so hegt eine fibröse
Ankylose vor. Dann misst man den Winkel und die Entfernung zweier
Punkte (z. B. Spitze des Trochanter maj. und Mall, ext.) genau und
legt einen Extensionsverband mit starker Belastung (20 — 25 Pfund,
s. pag, 300 ff.) an. Streckt sich der Winkel einigermassen, dann ist die
Prognose günstiger. Entweder gelingt es mit fortgesetzter Extension
(und Gegenextensionj, das Gelenk allmählich zu strecken oder man streckt
es in Narkose. In tiefer Betäubung wird das Gelenk — langsam, ab-
satzweise, nicht plötzlich — gestreckt und zugleich der Winkel nieder-
gedrückt; ein ruhiger Druck ist nöthig. plötzliches gewaltsames Reissen
zerbricht oft den Knochen. Dann wird zunächst ein wattirter Gipsver-
))and angelegt. Meist ist später das Verfahren zu wiederholen.
Von den Apparaten zur Streckung der Ankylosen, deren Anlegung
den Kranken selbst überlassen bleibt, ist nicht viel zu halten. Sobald
die Sache etwas schmerzt, werden die Schrauben nachgelassen und
man erreicht fast nie ein l)ciVic(ligcndcs Resultat. Fig. 4ö9 nach CoH'ui
stellt einen A])parat zur Streckung der Knieankylosc dar. Zweckmässiger
sind portative Apparate. Ein praktischer Apparat zur Streckung der
Knieankylosc ist der von Bidder angegebene (Fig. 460). Ein Apparat
für Fingerstreckung (nach (iolchicivsld) ist in Fig. 461 abgebildet (nach
Wolznidorff).
KnJtcherne Ankylosen verlangen nur dann einen Eingriff, wenn
das (ielenk in gebruuclisuntäbigcr Stellung feststeht, z. V>. der Arm im
Landerer, AUg. chir. Pathologie u. Therapie. 2. Aufl. 35
546
VII. Capitel. — Kranklieitc» der Knochen und Gelenke.
Ellbogen g-estreckt, das Knie gebeugt ; oder wenn ein bewegliches Gelenk
erzielt werden soll. Die Stelle der Ankylose wird mit einem bogenför-
migen oder linearen Schnitt freigelegt und mit Säge oder Meissel ein
keilförmiges Stück entfernt, bis dem Gliede die normale Stellung ge-
Fig. 459.
geben werden kann (keilförmige Osteotomie). Nachher werden die
getrennten Knochen durch einen Schienen- oder Gipsverband oder durch
Zusammennageln oder Knochennaht vereinigt. Zweckmässiger ist die von
Helferich angegebene bogenförmige Durchsägung mit feiner Säge,
ähnlich Fig. 196; die beiden Knochen lassen sich dann gleitend überein-
ander verschieben und es fällt vom Knochen nichts oder fast nichts weg.
Fig. 461.
Das Redressement force, Brisement force, das gewaltsame Strecken
oder Brechen ankylotischer Gelenke empfiehlt sich bei knöchernen An-
kylosen nicht. Gewöhnlich bricht es anderswo im Knochen, aber gerade
nicht im Gelenk ; es entstehen Epiphysenlösungen, Brüche der Diaphysen
u. s. f. und Bildung hässlicherBajonnettstellungen, Schlottergelenkbildung
und dergleichen.
Beliaudluna- der Ankvlose. ScUottero-elenk.
547
Bei den Residuen tnberculöser Gelenkerkrankungen muss jede
Spur von Schmerz und Entzündung- seit Jahren versehwunden sein.
Sonst facht man durch Redressement force und auch durch Osteotomie
die Tuberculose auf's Neue an.
Interessant ist die Beobachtung von Roitx, dass bei winkligen knöchernen Aukj'-
losen sich die ganze Architektur der Knochen, die Eichtung der Knochenbälkchen der ver-
änderten Beanspruchung entsprechend, umbildet (fuuctionelle Anpassung, vergi. pag. 404).
Schwieriger ist oft die Herstellung fis. 462
beweglicher Gelenke bei Ankylose
und Gelenksteitigkeit. Handelt es sich nur
um Kapsel- und Bänderschrumpfung oder
fibröse Ankylose, so kann durch ausdauernde
mechanische Behandlung — Massage, active
und'passive Gymnastik, maschinelle (Zaiider-
sche) Gymnastik (vergl. pag. 306 ff.) oft ein
guter Erfolg erreicht werden. Fig. 462 gibt
Albers'' Verband zur Beseitigung von Steifig-
keiten im Kniegelenk durch elastischen
Zug. Auch die Kr ukenherf^' sehen Pendel-
apparate sind oft von Nutzen. Bei der
knöchernen Ankylose ist an der untern
Extremität ein bewegliches Gelenk selten
von Nutzen , weil es nicht die nöthige
Festigkeit bietet, wohl aber ist ein solches
an der obern Extremität von Werth. Hier
wird zunächst die Resection des Gelenks
gemacht (pag. 264 ff). Schon vom 1. Ver-
bandwechsel ab werden Stellungsäoderungen
vorgenommen und von der 2. Woche an
passive und bald active Bewegungen. Aber
auch hier geht der Erfolg später oft verloren,
indem es wieder zu Ankylose oder zu
Schlottergelenkbildung kommt. Das Einlegen
todten Materials (Silberblech, Celluloid u. s.w.)
gibt keinen Erfolg; Helfer ich hat einmal
am Kiefergelenk mit gutem Erfolg ein
Stück lebenden M. temporalis zwischen die
Knochenflächen eingeheilt.
Schlottergelenk ist eine Lockerung
in der Gelenkverbindung zweier Knochen.
Das Gelenk gestattet Bewegungen in weiterem
Tnifang als normal, oder in Richtungen, in denen es sonst Bewegungen
überhaupt nicht zulässt. So können in Ginglymusgelenken (Knie, Ell-
bogen) ausser Beugung und Streckung auch seitliche Ikwegungen aus-
geführt werden. Die Festigkeit des Gelenkes ist herabgesetzt, die Be-
wegungen des betretenden Gliedes sind unsicher und kraftlos oder
können sogar — bei gänzlicher Haltlosigkeit des Gelenkes — ganz un-
möglich sein.
Die Ursachen der Schloltergelenkbildung liegen theils im Ge-
lenk selbst, theils in den dazugehörigen Weichtheilen (Muskeln und
Nervten). So können Ergüsse in die GelcnkhiUile, welche die Kapsel
35*
548 VII- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
dehnen und die Bänder zur Erschlaffung bringen, zum Schlottcrgelenk
führen (z.B.neuroparalytische Gelenkentzündungcnj. Häufiger sind es Ver-
letzungen, die durch Zerreissung von Bändern und Kapseltheilen zum
Schlottergelenk führen, z. B. Zerreissung eines .Seitenbandes im Knie-
oder Ellbogengelenk, u. s. w. Auch schwere Verrenkungen mit ausge-
dehnten Bandzerreissungen lassen oft ein Schlottergelenk zurück. Dann
führt Rachitis zu Schlottergelenken massigen Grades, indem die Bänder
gedehnt werden.
Für manche Gelenke führt auch die Lähmung der zum Gelenk
gehörigen Muskeln zum Schlottergelenk. Es sind dies solche Gelenke,
wo die Muskelspannung für den Contact und festen Schluss der Ge-
lenkflächen unerlässlich ist — in erster Linie gilt dies für das Schulter-
gelenk. Wird der Deltoideus gelähmt, so sinkt der Oberarm am Schulter-
blatt herunter, es entsteht eine Subluxationsstellung und zugleich Schlot-
tergelenk. — Lähmung der Unterschenkelmuskeln führt zum Schlottern
des Fussgelenkes (s. pag. 536, paralytischer Klumpfuss).
Die Behandlung des Schlottergelenkes ist verschieden, je nach
der Ursache. Muskellähmungen u. s. f. sind als solche zu behandeln
(s. pag. 550). Li vielen Fällen bessert Massage sowohl des Gelenkes,
als auch namentlich der zugehörigen Muskeln (durch Klopfen, siehe
pag. 303) den Zustand insofern, als dadurch doch eine Festerstellung des
Gelenkes erreicht wird. Im Uebrigen sind Wassergiaskapseln, Schutz- und
Stützverbände (Tutoren) angezeigt. Die Einspritzung schrumpfender
und entzündungserregender Mittel in die Umgebung der Kapsel, wie
Jodtinctur u. dergl, gibt keinen dauernden Erfolg. In manchen Fallen
ist die Arthrodesis (r^sco, binden) angezeigt (vergl. Zinsmeister, Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie, Band 26). Das Gelenk wird eröffnet mit einem
Resectionsschnitt (pag. 264), die Knochenflächen werden durch energi-
sches Abtragen des Knorpels angefrischt und vernäht oder mit Schlingen
von Draht miteinander verknüpft. Die Operation ist nur da angezeigt,
wo die zu erwartende Ankylose eine bessere Gebrauchsfähigkeit der
Extremität zulässt als ein Schlottergelenk.
Die Neubildungen der Knochen und Gelenke haben wir
zwar schon pag. 324 f. erwähnt , doch seien hier noch einige praktisch
wichtige Bemerkungen angefügt.
Von gutartigen Geschwülsten kommen am Knochen namentlich
Osteome, Enchondrome und Gefässgeschwülste vor; von bösartigen die
Sarkome und metastatische Carcinorae. Leicht ausschälbare, oft wie
in Nischen im Knochen lose liegende Epithelialcarcinome , früher als
primäre Knochenkrebse geführt, sind wohl ausnahmslos metastatiecher
Natur, nur findet man das primäre Carcinoma oft nicht. Dann sind noch
die Parasiten zu erwähnen , besonders die Echinokokken (siehe Fischer,
Deutsche Zeitschr. i. Chirurgie, Band 32), von chronischen Entzündungs-
processen sind Lues und Tuberculose zu nennen. Das Lipoma arbo-
rescens ist pag. 323 erwähnt.
Die differentielle Diagnose der Knochenaffectionen ist namentlich im An-
fang, so lange die Symptome noch unklar sind, besonders wenn der Knochen tief liegt,
oft recht schwer, häufig unmöglich. So kann z. B. eine harte Anschwellung des Unter-
kieferperiosts eine gewöhnliche Parulis, ausgehend von schlechten Zähnen, sein, ebenso
aber auch eine tuberculose oder syphilitische Periostitis, je nachdem sonst Erscheinungen
Neubildungen der Knochen. Muskelveiietzungen. 549
dieser oder jeuer chrouisclieu Infectionskrankheit an dem betreifenden Kranken zu finden
sind. Es kann sich aber auch um ein centrales Sarkom oder ein periostales Sarkom
(Epulis) handeln. Für letzteres würde langsames Wacbsthum und gänzliche Schmerz-
losigkeit sprechen.
Tiefliegende, namentlich centrale Osteosarkome (Markschwämme u. s. w.) machen
anfangs ganz verschwommene Symptome. Die Schmerzen, die dumpfe , tiefe Spannung
werden als rheumatisch gedeutet ; wenn dann der Knochen anfängt zu schwellen, denkt
man an tuberculöse oder syphilitische Ostitis oder Periostitis. Kommt schliesslich die
weiche, schwammige Geschwulst bis zur Oberfläche, so ist allerdings die Diagnose klar.
Spontanfracturen klären oft die Diagnose früher auf. Echinokokken lassen sich oft
schwer von erweichten Enchondromeu unterscheiden; denn die Anamnese ist auch nicht
immer sicher.
Schliesslich ist noch des Knochenaneurysma zu gedenken. Vermuthlicli handelt
es sich um eine Gefässgeschwulst, die im Innern des Knochens entstanden, allmählich
denselben zur Resorption bringt und nun eine tiefliegende, pulsirende und schwirrende
Geschwulst darstellt. In dem Stadium , wo die Geschwulst erkannt wird , ist die
Resorption der Knochen Substanz meist so weit vorgeschritten, dass die Erhaltung des
Knochens keinen praktischen Werth mehr hat. Die Amputation ist daher angezeigt.
Oeliler (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Band 37) hält das Knochenaneurysma über-
haupt für ein centrales gefässreiches Osteosarkom.
Auch chronische Knochenabscesse (vergl. pag. 491) können gelegentlich eine
Knochengeschwulst voi'täuschen.
Krankheiten der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel.
Wunden und Zerreissungen von Muskeln. — Muskelatrophien. Lipomatose und
Pseudohypertrophie. Entzündungen. Muskelrheumatismen. Functionsanomalien und
Contractur. Myositis ossificans. Neubildungen. — Sehnenwunden und Sehnennaht.
Verrenkungen der Sehnen. Sehnenscheidenentzündungen. — Krankheiten der
Schleimbeutel. Hygrom und Ganglion. Krankheiten der Fascien.
Die Wunden der Muskeln und die Art und Weise ihrer Re-
generation sind schon pag. 82 besprochen. Muskelquetschungen und
Zerreissungen sind bei irgend schweren Verletzungen, schweren Quet-
schungen (pag. 93) , complicirten (pag. 443) und nicht complicirten
Fractiiren sehr häufig. Als einzige Verletzung sind die subcutanen Zer-
reissungen von gesunden Muskeln nicht gerade oft beobachtet. Sie
entstehen durch sehr energische oder krampfhafte >[uskei zusammen-
ziehungen. So zerreisst der M. quadriceps femoris über dem Knie, wenn
Jemand — hinten überfallend — sich aufrecht erhalten will, doch
kann hiebei auch die Patella quer durchreissen, Oder der Biceps
l)rachii zerreisst ])ei einem energischen Wurf. Fast häufiger kommt es
Ijei denselben Anlässen zu einer Zerreissung der Sehne oder zu einer
Abreissung derselben von ihrem Muskelbauch oder ihrer Ansatzstelle.
Ein plötzlicher Schmerz, oft auch ein Krachen wird empfunden ; die
Function des Muskels ist aufgehoben; ein weicher, oft etwas crepi-
tirender und ziemlich empfindlicher Bluterguss bezeichnet die Stelle.
Für die Behandlung ist Ruhe nöthig (mit Fnrssnitz'^Q\\QW. Um-
schlägen). Das ergossene Blut wird durch Massage entfernt. Ziendich
rasch regenerirt sich der zerrissene Muskel , stets wuchert Bindege-
webe in den Muskelriss hinein und es entsteht eine Art traumatischer
Tnscri))tio tcndinea. die, wenn, sie nicht zu breit ist, die Function des
.Muskels wenig st<")rt.
Die Xaiit des gerissenen Muskels ist nur selten, eigentlicli nur
bei alten, mit breiter bindegewebiger Zwisclicnsubstanz geheilten Rissen
und liei wirklicher Functionsstörung nöthig. Die Stelle wird freige-
550 ^^^- Capitel. — Ki'ankheiten der Kiioclicii und Gelenke.
legt, die Zwisehensubstanz exstirpirt und die angefri.sclit.en Muskel wun-
den durch verlorene Nähte aneinander geheftet. Nach Maydl (Deutsche
Zeitschr. f. Chir., Bd. 17 u. 18, Lit.) kommt es nach Muskelzcrreissungen
nie zur Verkürzung des Muskels (wichtig für die Entstehung des
Sehiefhalses, pag. 544).
Als spontane Muskelrupturen bezeichnen wir — in Analogie mit den
spontanen Fracturen — solche Fälle, wo auf eine an sich geringfügige Verletzung hin der
kranke und erweichte Muskel zerreisst. Fast immer ist es der wachsig entartete Muse.
rectus abdominis bei Typhus abdominalis, der zerreisst. Ein Blutergnss bezeichnet die
Stelle. Ruhe ist das Beste. Heilt der Typhus , so heilt meist auch der Muskelriss ohne
besondere Folgen. Selten kommt es zur Eiterung (vergl. pag. 491).
Bei Hämophilie finden sich grosse Muskelblutungen, die zur schwieligen
Entartung und zu unheilbaren Contracturen führen. Ruhe ist das einzig Richtige.
Gleichfalls auf traumatischem Wege entsteht die Muskelhernie.
Die den Muskel einschliessende Fascie platzt oder wird zerquetscht
und bei jeder Muskelzusammenziehung tritt ein Wulst von Musculatur
geschwulstartig aus dem Riss heraus. Ich habe Muskelhernien nament-
lich an den Adductoren und am Vorderarm beobachtet. Machen sie
wirkliche Beschwerden, so wird der Fascienriss vernäht.
Sehr ausgedehnt ist das Gebiet der Muskelatrophien.
Atrophie durch Nichtgebrauch beobachtet man regelmässig
unter der Einwirkung von Gipsverbänden , sei's nun , dass dieselben
wegen Knoehenbrüchen oder wegen Gelenkleiden angelegt wurden, aber
auch als Folge von Gelenkleiden, wo nie ein erhärtender Verband ange-
legt war, wenn die Function des Gliedes dabei wesentlich beeinträchtigt
war. Noch ausgesprochener ist die Atrophie bei Ankj^osen.
Mikroskopisch findet man die einzelnen Fasern nur sehr verschmächtigt, auf
die Hälfte oder gar ein Viertel ihrer Breite reducirt , ohne eine wesentliche Structur-
anomalie zu zeigen , oder ihre Anzahl ist vermindert. Andere Male sind die Fasern
trüb, wie bestäubt, ihre Querstreifung undeutlich ; anscheinend sind dies feinste Eiweiss-
gerinnungen, wie bei parenchymatöser Degeneration ; bald zeigt sich wirklicher Zerfall
in den Fasern, oder dieselben sind mit feinsten Fettkörnchen durchsetzt, die schliesslich
zu förmlichen Fetttropfen zusammenfliessen können. Dabei nimmt das Bindegewebe zu,
die Muskelscheiden sind verbreitert, und es zeigt sich Einlagerung von Rundzelleu.
Diese Formen von Atrophie stehen der chronischen Entzündung sehr nahe. — Aeussersten
Falles können die Fasern so gut wie ganz verschwinden, und man hat nur noch die
leeren Schläuche , die zum Theil mit Fett erfüllt sind. Doch bleiben die Muskelkerne
lange erhalten und von ihnen aus scheint selbst noch nach langer Zeit — wenn die
Ursache der Atrophie, z. B. eine Nervendurchschneidung, behoben werden kann — eine
Regeneration möglich zu sein. In manchen Fällen, z. B. nach Nervendurchschneidung,
kann man von einer wirklichen bindegewebigen Atrophie reden , indem an Stelle der
schwindenden echten Muskelfaser Bindegewebsneubildung tritt. Dieses Bindegewebe
schrumpft schliesslich und führt damit zu einer dauernden Verkürzung des Muskels —
zur Contractur. Makroskopisch erscheint ein atrophischer Muskel neben der
Abnahme seines Querdurchschnittes blasser, gelblich, bald gelb gestreift, bald gespren-
kelt ; schliesslich nimmt er ein fettähnliches Aussehen an.
Die wachsige Entartung der Muskeln kommt bei schweren Infectionskrankheiten,
namentlich Typhus abdominalis vor und disponirt zu Spontanrupturen.
Selbst nach leichten Gelenkdistorsionen entwickeln sich oft hart-
näckige Muskelatrophien, besonders der Streckmuskeln; diese „arthro-
pathischen" Muskelatrophien werden bald als Inactivitätsatrophie erklärt,
bald als Myositen mit secundärer Atrophie (Strümpell), oder als reflectorisch
bedingt (^Fw/^^icm; Charcot), wobei Charcot besonders daraufhinweist, dass
die Nerven der Gelenkkapseln auch die Streckmuskeln versorgen.
Die ischämischen Muskellähmungen sin§ pag. 8 und 448 be-
sprochen, die nach Umschnürung mit der Efiniarch' sehen Binde pag. 114.
Muskelatrophien. 551
Die Muskelatropliien durch Nervenverletzuiigeu sind
daran zu erkennen, dass genau die von bestimmten Nerven oder Ner-
venästen versorgten Muslveln gelähmt werden , entarten und meist
narbig schrumpfen. Sie kommen nicht blos bei Nervendurchschuei-
dungeu, Quetschungen der Nerven, Einschliessungen in Callusmassen,
entzündlichen Schwielen, Druck durch Geschwülste u. s. f. vor. Auch
bei subcutanen Fracturen wird oft ein Nerv zerrissen und die Schuld
der später sich kundgebenden Lähmung dem Arzte beigemessen. Die
einzig richtige Behandlung ist Wiederherstellung der Nervenleitung durch
Nervennaht oder Freimachung der eingeklemmten Nerven (Neurolyse,
s. Krankheiten der Nerven).
Die nach Knochenbrüchen u. s. w. zurückbleibende Muskelsteifigkeit beruht
auf Schrumpfung der Muskeln und Sehnen. Energische Dehnungen und Massage der
Muskeln beseitigen das Uebel meist rasch.
Die essentielle Kinderlähmung oder Poliomyelitis an-
terior acuta (vielleicht eine acute Infection) befällt unter schweren
Erscheinungen — Fieber mit Erbrechen, Bewusstlosigkeit, Krämpfen —
Kinder bis zum zehnten Jahr, am häutigsten im zweiten bis fünften
Jahr. Kommen die Kinder zum Bewusstsein, so werden ausgedehnte
Lähmungen, bisweilen aller 4 Extremitäten bemerklich. Auch im Ge-
biete der Hirunerven kommen Lähmungen vor (Strümpell). Ein grosser
Theil dieser Lähmungen schwindet wieder, aber in gewissen Muskel-
gruppen — von verschiedener Anzahl und Ausdehnung — bleibt die
Lähmung und diese verfallen in den nächsten Monaten der Atrophie.
Die Muskeln fühlen sich dann als schmale weiche Bänder an, die Re-
liefs und Contouren derselben verschwinden.
In ii'gendwie höheren Graden ist eine Atrophie der betroffenen Extremität im
Ganzen nicht zu verkennen, die Knochen sind verkürzt und verdünnt, die Gelenke
schlatf, auch Haut und Gefässe sind zweifellos abnorm. Sind, wie so häufig, bestimmte
Muskelgruppen schwerer betrofl'en, als andere, so wachsen diese letztern — der Dehnung
entbehrend — zu kurz, sie ., verkürzen sich nutritiv", sie können sich so scheinbar im
Zustand der Verkürzung oder der Contractur befinden und dadurch wachsen die Gelenke
allmählich in eine falsche Stellung hinein (vergl. die Entstehung des paralytischen Klump-
fusses pag. .536). Siehe dort auch die Diagnose.
Anatomisch findet man Degeneration der grossen Ganglienzellen in den Vorder-
hörnern des Rückenmarks. Diese scheinen die nutritiven Centren zu enthalten nicht nur
für die Muskeln, sondern auch für die Knochen und Gelenke.
Ein Theil der poliomyelitischen Atrophien bessert sich, wie ge-
sagt, etwa bis zu einem halben Jahre auffällig, dann hört die Besse-
rung auf und der Zustand bleibt stationär. Doch kann durch energische
Massage, Warmhalten der Glieder, Gymnastik, Elektricität noch Man-
ches erreicht werden. Besonders wichtig ist ein energisches Klopfen
der Musculatur (vergl. pag. 803tf.j.
Sobald als möglich sind die Glieder, wenn möglich durch Maschinen
gestützt, in Gebrauch zu nclimcn.
Bei der progressiven ]\[uskel atroph ic findet sich Verschmächtigung der
Muskelfasern, selbst bis auf ein Zehntel ihres Volumens. Ein Theil sclieint auch ganz
zu Grunde zu gehen. Man sieht diese Krankheit besonders an den Muskeln des Daumen-
ballens, dann den Interossei, Kleinfingerballen u. s. w. beginnen. Der Verlauf ist überaus
chronisch, in Jahren und .Tahrzehnten sich langsam ausbreitend. Die rohe Kraft der
Muskeln vermindert sich entsprechend dem Grade der Atrophie. Verzögernd wirken
elfktrisclie Behandlung und Massage.
Die juvenile Form (Erb) beginnt, auf hereditärer Grundlage beruhend, meist
an den Muskeln des Oberarmes, geht dann auf den Rumpf, Hals u. s. w. über. Ihr
Verlauf ist ein viel rascherer.
552 "^I^- Capitol. — Kiunkheitci] ilar Kiioclion uud Gelenke.
Bei der Lipomatosis musculor um oder Pseu dohypertr o]j li io handelt
es sich um enorme Fettentwicklung im Muskel. JJie Sarcolemmschläuche sind von
Fettzellen erfüllt und der grösste Theil der Fasern ist geschwundeu. Aeusserlicli seheint
der Muskel enorm verdickt und machen die betreffenden Körpertheile, z. B. die Waden,
den Eindruck von geradezu athletischer Entwicklung. Die rohe 'Kraft ist aber erheblich
reducirt, ja kann so gesunken sein, dass die Kranken sich nicht einmal me-hr aufrecht
halten können. Vorwiegend Kinder sind betroffen. Eine erfolgreiche Behandlung dieser
seltenen Krankheit gibt es nicht.
Als Myotonia congenita (Thomsen'sc'he Krankheit) wird eine bei zu früh
geborenen Kindern sich entwickelnde und unaufhaltsam fortschreitende Muskelsteifigkeit
bezeichnet, wobei schliesslich fast jede active Bewegung durch die bretthart gespannten
Muskeln unmöglich gemacht wird. Als Folge kommt es zu allerhand Verbiegungen,
X-Beinen, Klumpfüssen, scheinbaren Ankylosen. Elektricität, Massage, warme Bäder
werden angewandt, aber ohne Erfolg
Die echte Muskelhypertrophie existirt — ausser am Herzen — höchstens
als ein massiger Grad von Arbeitshypertrophie. Doch ist Makrochilie durch Muskel-
hypertrophie beobachtet. (Eikenbusch, Beitr. z. Chir., Bd. 11.)
Acute Entzündungen der Muskeln sind meist fortgesetzte
und bilden eitrige und jauchige Myositen bei Phlegmone und progre-
dienter Gangrän gewöhnliche Vorkommnisse, z. B. bei Phlegmonen des
Vorderarmes. Die metastatischen Muskelabscesse sind ziemlich constante
Theilerseheinungen der Pyämie. Doch sind in seltenen Fällen auch
idiopathische Muskelabscesse aus unbekannter Ursache beobachtet.
{Walther, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 25.)
Die Ausgänge bestehen meist in eitriger Einsclimelzung und ne-
krotischen Ausstossungen einzelner Muskelpartien oder ganzer Muskeln.
Der dadurch bedingte Ausfall der Function, die Bildung von Xarben
und Contracturen sind dann sehr unangenehme Folgezustände, z. B. der
Vorderarmphlegmonen, wo sie zu Verkrümmung und Steifigkeit von
Fingern führen (s. auch eitrige Sehnenscheidenentzündung).
Auch Rotzabscesse finden sich in der Musculatur.
Die Tuberculose der Muskeln ist fortgesetzt häufig, z. B. von
den Wirbelkörpern auf den M. psoas. Isolirte Tuberkelmetastaseu in
den Muskeln sind selten. Ueber hämatogene Muskeltuberculose — ver-
wechselt mit Grumma, Echinococcus, Geschwülsten, Aktinomykose,
rheumatischen Schwielen (s. unten) u. dergl. — berichten Lanz und de
Quervain in LangenbecFs Arch., 46 (Lit.).
Syphilis der Muskeln ist nicht so selten. Bald handelt es
sich um diffuse, langsam kommende Infiltrationen mit massigen Schmer-
zen. Die Gebrauchsstörung ist dagegen meist beträchtlicb. In anderen
Fällen kommt es zur Bildung von Gummigeschwülsten, rundlichen,,
schmerzlosen, sarkomähnlichen (pag. 555) Anschwellungen. Denkt man
bei Zeiten an die richtige Diagnose, so hilft Jodkali schnell. Anderen-
falls entstehen Schwielen im Muskel, oder das Gumma zerfällt und es
kommt zu fistulöser Absonderung.
Der acute Muskelrheumatismus beginnt plötzlich, oft nach
einer plötzlichen ungeschickten Bewegung und besteht in überaus hef-
tiger Empfindlichkeit der befallenen Muskelgruppe, spontan, namentlich
auch bei Berührungen und Bewegungen Auch die Fascie ist oft
empfindlich (Fascia lumbodorsalis). Der Muskel fühlt sich hart, wie
contrahirt an. Schwitzen, Massage, starke Bewegung; örtlich Senfteige,
eine Morphiuminjection, Ung. Ichthyoli u. s. f. sind dienlich. Der acute
Muskelrheumatismus hat seinen Sitz namentlich in den Rückenmuskeln
(Lumbago, Hexenschuss), aber auch in den Hals- und Kopfmuskeln
(gewisse Formen von Migräne).
Muskelrheumatismus. 553
Ob es sich hier um wirkliche Entzündung handelt (etwa HA'perämie und seröse
Durchtränkung oder iim partielle Gerinnungen des Myosins durch Erkältung, vorüber-
gehenden Krampf der Gefässe u. s. w., also Störungen ähnlich den ischämischen, ist
noch ganz unsicher. Zöge-Mant euffel und Thoma denken bei den arteriosklerotischen
Formen (pag. 514) au eine übermässige Inanspruchnahme der Media der Arterien durch
wiederholte Erkältungen. Thatsache ist, dass der Muskelrheumatismus häufig an Erkäl-
tungen sich auschliesst, der acute an einmalige bestimmte, der chronische an oft wieder-
holte Durchnässungen.
Beim chronischen Muskelrheiimatismus klagen die Kranken
über herumziehende Schmerzen in den verschiedensten Muskeln, welche
die Bewegung derselben in hohem Grade erschweren, so dass bald
diese, bald jene Bewegung (Rockanziehen, Armheben u. s. f.) äusserst
schmerzhaft und fast unmöglich wird. Die Schmei'zen sind nachts oft
so heftig, dass die Kranken im Schlafe gestört sind. Die Schwerbeweg-
lichkeit ist nach längerer Ruhe am grössten. Oft wird auch über
Schmerzen in den Gelenken geklagt, ohne dass an diesen Verände-
rungen wie beim chronischen Gelenkrheumatismus, nachzuweisen wären.
(Nach Rohin sind nur die Gelenke befallen.) Ebenso lässt sich an den
befallenen Muskeln nichts finden als Druckempfindlichkeit. Auch hier
spielen chronische Erkältungen eine Hauptrolle und ist der chronische
Muskelrheumatismus in der hart arbeitenden, allen Unbilden der
Witterung ausgesetzten Bevölkerungsciasse am häufigsten. Doch darf
man nicht vergessen, dass diese Krankheit, weil sie jedes objectiven
äusseren Zeichens entbehrt, auch mit besonderer Vorliebe von arbeits-
losen Subjecten simulirt wird.
Die Behandlung des Muskelrheuraatismus besteht in Schwitzcuren :
Dampfbäder oder feuchte Einpackungen mit Trinken von schweiss-
treibenden Thees (Lindenblüthen , Flieder), Maceration von 4 Grm.
Jaborandi auf lO'O Spir. u. 1500 Aqua (Rohin)^ Schwefelbädern u. s. f.,
dann Massage und Elektricität, methodischer Heilgymnastik; örtlich
bei festsitzendem Rheumatismus Ichthyolsalben mit dicker Wattepackung,
Kampherspiritus, Chloroformöl, Senfpapier ; im schlinmisten Falle eine
Morpliiuminjection.
Mit der Bequemlichkeitsdiagnose .,chronischer Rheumatismus" werden oft grobe
Verstösse begangen. Hier zeigt sich das Bischen Rheumatismus, mit welcher Diagnose
Hausarzt und Patient jahrelang befriedigt operirten, als eine vorgeschrittene Tabes und
die rheumatischen Beschwerden sind nichts als die bekannten lancinirenden Schmerzen
bei Tabes. Ein anderesmal kommt eine schleichend sich entwickelnde Nierenaffection zu
Tage. z. B. bei chronischer Lumbago. Oder es sind syphilitische Beschwerden, die auf
Jodkali verschwinden. Vielfach sclieinen rheumatische Beschwerden auch bei Queck-
silbennissbrauch aufzutreten. Auch Bleivergiftung kann Ursache sein. Dann habe ich
bei Tuberculosen in früh.en Stadien rheumatische Beschwerden beobachtet u. s. w. Die
Diagnose chronischer Rheumatismus ist nur dann gestattet, wenn alle andern ernsten
Leiden mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.
In einzelnen Fällen sollen sich an chronisch-rheumatische Zustände
ansehliessen die BiUlung harter bindegewel)iger Stränge im Muskel,
als Folgezustand chronischer Entzündung — - die rheumatische
Schwiele. Der Muskel ist dabei meist auch im Uebrigen entartet,
wenig functionsfäliig und durchzogen von harten, unnachgiebigen Strän-
gen. In manchen Fällen dürfte die Ursache dieses Entzündungs und
Sclirumpfungsprocesses wohl weniger das Rheuma sein, als die Syi)hilis
(syithilitisehe Schwiele |s. pag. 552]). Ausser diesen Arten von
Schwielenbildung kommen aber auch noch andere Formen vor, z. V*.
traumatische (?) (vergl. pag. 550).
554
VII. Capitel. — Krankhcitfjii der Kiioohcii und Gelenki.
Daucnide Verkiir/ungen der Muskeln nennt man Contrae-
turen. Die Ursaelie kann eine sehr verscliiedene sein. Bald ist der Muskel
von Anfang- an zu kurz gewachsen, wie beinn angeborenen Klumpfuss
(s. pag-. 536), bald wächst er allmählicli zu kurz, weil die nothwendige
Dehnung durch die Antagonisten fehlt, z. B. beim paralytischen Klump-
fuss (s. pag. 536); er „verkürzt sich nutritiv". Ein anderes Mal ver-.
kürzt er sich allmählich, wenn die Gelenke, zu denen er gehört, ankylo-
siren, z. B. bei den fortgeschrittenen Fällen von Scoliosis, Coxitis u. s. f.
Schliesslich beruhen Contracturen als tonische Muskelzusammen-
ziehungen auf nervösen Einflüssen (Hysterie, Tetanus, Vergiftungen
(Strychnin) u. dergl.). Für die
Fig. 463. Therapie ist es natürlich wichtig,
zu erkennen , ob dieselbe eine
primäre ist, z. B. durch Schrum-
pfungsprocesse im Muskel selbst,
oder eine secundäre, infolge von
Ursachen , welche ausserhalb
liegen. Ausser Beseitigung des
Grundleidens sind meist Massage
und elektrische Behandlung an-
gezeigt.
Die Function sstörungen
der Muskeln bezeichnen wir
als Paralyse (Lähmung), wenn
die Function völlig aufgehoben,
als P a r e s e , wenn sie nur herab-
gesetzt ist. Seltener sind es pri-
märe Erkrankungen der Muskel-
substanz selbst, Entzündungen,
Entartungen , Atrophien , Neo-
plasmen u. s. w. , welche die
Function beeinträchtigen , als
Störungen des Nerveneinflusses,
und diese wieder sitzen seltener
in den peripheren Nerven (s.
Krankheiten der Nerven) , als
in den nervösen Centren. Letz-
tere fallen ganz in das Gebiet
der inneren Medicin.
Die Fälle von übermässiger Thätigkeit der Muskeln (Krämpfe, Hyper-
kinesen) gehören gleichfalls nicht in das Gebiet der Chirurgie. Die dauernde
(„tonische") Contraction der Muskeln beobachtet man z. B. im Tetanus, vorübergehende
(„klonische") Zuckungen hin und wieder bei Nervenaffectionen (Tic convulsif u. a. m.).
Bei der Myositis ossificans entwickeln sich in den Muskeln
unter entzündlichen Erscheinungen knöcherne Stränge, die schliesslich
einen grossen Theil der Gelenke steif stellen und dadurch grosse Un-
behilflichkeit herbeifüren können. In Fig. 463 ist ein Fall von Myo-
sitis ossificans nach Helferich dargestellt. Man sieht die Platten und
Stränge, die über den Rücken weglaufen, das linke Ellbogengelenk ist
ankylotisch. In fast sämmtlichen Fällen sind Ossificationsdefecte an der
grossen Zehe gefunden worden.
Myositis ossificans. Sehuenveiietzuugen. 555
Lexer (Langenhecl-'s Archiv, Bd. 50) unterscheidet ein entzündliches Stadium
mit teigiger Schwellung, ein zweites der bindegewebigen Induration, ein drittes mit
Verknöchei'ung der Schwielen. Der Process beginnt mit Zellenwucherung im intermus-
culären Bindegewebe, die Zellen gehen über in grosse runde Zellen und diese in Knorpel-
zellen, die Yerknöcherung erfolgt nach dem periostalen (pag. 403) und endochondralen
(pag. 400) Typus.
Die Behandlung ist machtlos.
Primäre Bildung echter Gesehwülste findet sich im Muskel
selten (ßhabdomyome , siehe pag. 327, Leiomyome pag. 328). Lipome,
Endoehondrome, Hämatolymphangiome (Bitschl, Beitr. z. klin. Chir., 15)
u. dergl. sollen in vereinzelten Fällen beobachtet worden sein. Secundär
finden sich in den Muskeln Sarkome und Carcinome , die sich un-
mittelbar per continuitatem, z. B. von der Brustdrüse in den M. pecto-
ralis major herein, von den Lippen in die Gesichtsmuskeln (s. Fig. 339)
fortgesetzt haben.
Primäre Muskelsarkome sind beobachtet, häufiger als Spindel-
zellen- denn als Rundzellensarkome, v. Esmarch räth, bei jedem primär
im quergestreiften Muskel sich findenden Tumor zuerst an Syphilis zu
denken.
Die Muskeln sind nicht selten der Sitz von Parasiten, z. B.
der Muskeltrichine. Auch der Cysticercus bildet hier seine kugligen,
fluctuirenden, mit Syphilomen, Sarkomen u. dergl. verwechselten Ge-
schwülstchen. Auch Echinokokken kommen vor (s. pag. 355).
Verletzungen der Sehnen sind häufig genug. Wir durch-
schneiden sie (Tenotomie) offen oder von einer kleinen Wunde aus mit
einem Sichelmesserchen (subcutane Tenotomie), um geschrumpfte Sehnen
und Muskeln sich verlängern zu lassen (zu orthopädischen Zwecken,
s. Klumpfussbehandlung). Auch bei zufälligen Verletzungen (Säbel-
wunden, Schnittwunden an der Hand) sind Sehnendurch schnei-
dungen häufig. Es ist ein grober Fehler, dieselben zu übersehen und
nicht sofort wieder zu vereinigen. Die Gefahr liegt nahe genug, da
die Sehnen vermöge der elastischen Spannung der Muskeln sich so-
fort zurückziehen, oft bis zu 10 Cm. und daher die durchschnittenen
Stüm])fe nicht immer in der Wunde unmittelbar zu sehen sind. Natür-
lich fällt die Function des Muskels aus, wenn die Sehne entfernt von
ihrem Ansatzpunkte anwächst. Die Folgen sind gerade an den Fingern
höchst störend. Die Sehnenstümpfe müssen vernäht werden. Ueber
Sehnen- und Muskelnaht sind pag. 278 ff. zu vergleichen.
Bei Quetschungen und Zerreissungen werden sehr häufig die
Sehnen gequetscht und in grösserem Umfange blossgelegt, beson-
ders bei Maschinenverletzungen der Hand. Ausser sorgfältigster Anti-
septis oder Asepsis müssen die Sehnen vor Vertrocknung bewahrt werden,
sonst sterben sie ab. Gelingt es nicht, sie durch Hautverschiebuug und
Situationsnähte (pag. 274) zu decken , so eignet sich zum Schutz
der freien Sehne der feuchte Blutschorf C/SV^fv/r; vortrefflich. Man lässt
etwas Blut über den Sehnen stehen und gerinnen und schützt dasselbe
(durch l'rotectif ,silk) vor dem Verdunsten. Dann bleibt die Sehne meist
erhalten.
Sehnenzerreissungen und -abreissungen von ihrer Ansatz-
stelle oder vom Muskel sind nicht gerade häufig. Die Entstehung ist
556 VII. Capitel. — Krankheiten dei' Kiioelien und Oelenke.
wie bei den Muskclnipturen eine heftige Muskclzusainrnenzieliiing. Docli
kommen — gerade wie an den Muskeln — aiicli spontane Rupturen
vor, bei chronischer Erweichung der Sehnen fTuberculose, Lues u. s. f.).
So wird durch übermässigen Gebrauch die Sehne des M. extensor pol-
licis longus bei Trommeln mitunter erweicht, aufgefasert und reisst
schliesslich durch — mit Unrecht so genannte Trommlerlähmung (Dibm,
Naturf.-Vers. 1 895). Das II. Glied des Daumens steht dann in dauernder
Beugestellung. Sonst betrifft die Sehnenzerreissung hauptsächlich die
Sehne des langen Fingerstreckers, die vom Nagelglied abreisst. dann
die Achillessehne, selten reisst das Lig. patellae von der Tuberositas
tibiae ab. Die Function des Muskels ist plötzlich aufgehoben; an der
Stelle der Ruptur findet man eine auffallende Leere; meist fühlt man
auch das centrale Ende. Der Blut-
Fig. iu. erguss ist unbedeutend. Die einzig
richtige Behandlung ist, einzuschneiden
I Ig und die Sehne an ihrer Insertionsstelle
I \Mi anzunähen oder , wo dies nicht geht,
1 |l| mit vergoldetem Nagel anzunageln.
Verrenkungen der Sehnen
kommen in seltenen Fällen vor. In
starker Beugestellung des Fusses (hohe
Absätze!) können die Peronealsehnen
bei einer heftigen ungeschickten Be-
wegung nach vorn vor den Malleolus
externus rutschen und lassen sich
hier als drehrunde harte Stränge
fühlen; hinter dem Knöchel ist dann
eine abnorm tiefe Grrube. Die Sehnen
lassen sich meist leicht wieder zurück-
schieben (s. Fig. 464, Verrenkung der
Sehne des Peroneus longus nach Albert). Ob die Sehne des Biceps
brachii sich — ohne Schulterluxation — aus ihrem Sulcus intertubercu-
laris luxiren kann, ist noch fraglich. Die Sehnentransplantation ist
pag. 280 erwähnt.
Die Krankheiten der Sehnenscheiden haben vermöge der Ana-
logie des Baues und der Function eine sehr grosse Aehnlichkeit mit
den Affectionen der Gelenke, sowohl in ihrer Entstehungsgeschichte,
als in ihren anatomischen Formen und ihrem Verlauf.
Die eigentlichen Entzündungen der Sehnenscheiden und
Sehnen, Tendinovaginitis, sind wie die Grclenkleiden metastatisch
oder per contiguitatem fortgesetzt.
Acute ser Öse S e h n e n s c h e i d e n e n t z ü n d u n g findet sich namentlich
bei Gonorrhoe. Man hat eine längliche, dem Verlauf der Sehne ent-
sprechende, meist nicht geröthete Anschwellung und bei der Bewegung
derselben Schmerz. Feuchte Wärme, Ruhe, ein kräftiger Jodanstrich^
Jodkali innerlich sind angezeigt.
Häufig geht die acute über in die chronische Form, den Hydrops
der Sehnenscheiden. Diese meist sehr langweiligen Formen finden
sich namentlich an den Beugern der Finger und" erzeugen hier oft
Sehnensclieideuentzimdungen. 557
grosse Geschwülste. Sie können bei längerem Bestand zu tief greifenden
und nur langsam sich wieder ausgleichenden anatomischen Verände-
rungen führen, Verdickungen der Scheide, Rauhigkeiten, zottigen Wuche-
rungen, die sich schliesslich stielen und sogar durch Abschnürungen
zu freien Körpern werden können (Reiskörperchen). Die Behandlung
ist der der sofort zu besprechenden Glanglien analog.
Ob auch durch Ueberanstrengung acute seröse Sehnenscheiden-
entzündungen entstehen , ist fraglich. Bei einer Form der Sehnen-
scheidenentzündung dürfte diese Entstehungsweise — infolge über-
mässiger und ungewohnter Anstrengung , wie Rudern u. s. f. ■ — fest-
stehen, bei der Tendinovaginitis crepitans. Bei jeder Bewegung
der Sehne hat man ein oft weithin hörbares, bei aufgelegtem Finger
leicht fühlbares Knarren. Ob es sich um eine abnorme Trockenheit
der Sehnenscheide, Blutergüsse, Fibrinauflagerungen wie bei der Pleuritis
sicca handelt, lässt sich nicht sagen, da Sectionsbefunde , soviel mir
bekannt, nicht vorliegen. Massage und feuchte Wärme beseitigen das
Uebel in einigen Tagen.
Eitrige Sehnenscheidenentzündungen findet man häufig an
der Hand beim Panaritium tendinosum. Von der Stelle der Ver-
letzung aus bricht die Eiterung in die Sehnenscheide ein und mau hat
rothe schmerzhafte fluctuirende Streifen längs der Sehne. Nur früh-
zeitige ausgiebige Incision und Drainage wird die Hauptgefahr, das
Absterben der Sehne und die dadurch bedingte Fingersteiiigkeit, ver-
meiden lassen. Das Absterben der Sehnen zieht den Process, z. B. bei
Panaritien. sehr in die Länge. Bei der Langsamkeit der gewebs-
bildenden Vorgänge in der Sehne dauert es immer 2 — 3 Wochen, bis ein
necrotisches Sehnenstück durch demarkirende Granulation losgestossen
ist und entfernt werden kann.
Die Sehnenscheiden sind überhaupt häufig die Wege, in denen
der Eiter wandert, nicht nur der Schwere folgend (Senkungen), son-
dern auch — durch active Bewegungen — derselben entgegen. Sie
sind daher bei allen eitrigen Processen, namentlich grösseren Phleg-
monen, aber auch Gelenkvereiterungen, inficirten Quetschungen stets
scharf im Auge zu behalten und nöthigenfalls frühzeitig zu eröffnen.
Die tuberculöse Sehnenscheidenentzündung ist meist eine
fortgesetzte und neben der primären Knochen- und Gelenktuberculose, von
der aus die Tuberculöse auf die Sehnenscheide übergegriffen hat, nur
ein nebensächlicher Process, jedoch wohl zu beachten, da gerade in
den Sehnenscheiden der tuberculöse Vorgang sich oft weiter erstreckt,
als in den übrigen Weichtheilen und diese daher bei operativen Ein-
griffen besonders sorgfältig zu berücksichtigen sind. — Die primäre
Tuberculöse der Sehnenscheiden ist ein seltener Process. Unter
geringfügigen Beschwerden schwellen die Sehnenscheiden , z. B. der
Finger, zu langen cylindrischen , wenig schmerzhaften, teigigen Ge-
schwülsten heran, die .schliesslich an dieser oder jener Stelle fistulös
aufbrechen . (dnie damit wesentlich abzuschwellen. Spaltet man die
Selinensclieiden der Länge nach , so finden sich dieselben ausgefüllt
von bleichen Granulations wülsten, die sich oft von der Sehnenscheide
und Sehne noch zicndich leicht abschälen lassen , wie isolirte Ge-
schwülste. Leider genügt selbst die sorgfältigste Entfernung des Kranken
niclit immer, um Recidive zu verhindern und hat man sich daher
558 ^^^- '^'iipitül. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
schon 7A\Y Amputation entschlossen. Ich habe mit innerer und örtlicher
Anwendung der Zimmtsäure auch hier sehr gute Ergebnisse gehabt.
Chronische Entzündungen der Sehnen und Sehnen-
scheiden kommen vor, bald nach Verletzungen, bald nach andauern-
den Bewegungen. Die Sehne verliert dadurch ihre glatte Oberfläche
und cylindrische Form , sie bekommt Einschnürungen und Anschwel-
lungen. Ebenso zeigt aber auch die Sehnenscheide oft Stenosen und
so kommt es dann zu Störungen der Beweglichkeit. Die Sehne gleitet
nicht mehr glatt und leicht in ihrer Synovialscheide hin und her, son-
dern muss mit einem kräftigen Ruck durch die verengte Stelle durch-
gezogen werden („schnellender" Finger).
Primäre Neubildungen der Sehnen und Sehnenscheiden kommen
sehr selten vor. In den Sehnenscheiden findet sich gelegentlich ein
Lipoma arborescens als schmerzlose, weiche, langgestreckte Geschwulst.
SencUer hat Fibrome beobachtet (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 26).
Die Krankheiten der Schleimbeutel sind im Ganzen nicht
gerade häufig. Sie verhalten sich wesentlich wie grössere Lymph-
spalten und ihre Krankheiten sind dementsprechend theilweise secun-
där (s. dort). Bekanntlich bilden sich an Stellen , die viel gedrückt
und verschoben werden, auch im späteren Leben noch supernumeräre
neue Schleimbeutel.
Nach Schuchardt {Langen'bec¥s Archiv, Bd. 40) handelt es sich hiebei nicht
um einfache Spaltbildung im Bindegewebe , sondern zunächst um entzündliche Gewebs-
neubildung mit Exsudation und späterer Einschmelzung der Zwischenwände.
Die acuten Entzündungen der Schleimbeutel finden sich
namentlich an den Bursae praepatellares und an der Bursa mucosa
pro olecrano. Sie sind bacterieller Natur. Die Eingangspforte der Bac-
terien ist keineswegs immer eine Verletzung des Sehleimbeutels selbst,
sondern es können solche von entfernten Punkten (Zehen, Finger) mit
dem Lymphstrom nach dem Schleimbeutel getragen werden und finden
dort einen günstigen Boden. Der Schleimbeutel schwillt an zu einer
gespannten, deutlich fluctuirenden schmerzhaften Halbkugel, mit frischer
Röthung der Haut. In diesem Stadium bringen oft feuchte Sublimat-
umschläge und Ruhe die Entzündung noch zur Resorption. Steigern
sich Schmerzen, Schwellung und Fieber, so ist eine Incision mit aus-
giebiger Drainage dringend angezeigt.
Die chronische seröse Entzündung der Schleimbeutel
nennen wir Hygrom. Die Wand des Schleimbeutels ist verdickt, oft
bis über 5 Mm. , und besteht aus derbem concentrisch geschichtetem
fibrösem Gewebe. Auf der Innenfläche finden sich papilläre Wuche-
rungen, die zu gestielten, festen, langen Polypen von derber Beschaffen-
heit auswachsen. Dieselben können sich abschnüren und schwimmen
dann als freie Körper — von der Form von Pflanzen- (Gurken-)
Kernen — in der Flüssigkeit umher — Reiskörper, Corpora oryzoidea.
Schmerzen macht das Hygrom nur bei derber Berührung und mecha-
nischer Misshandlung (Knien auf einem Hygroma praepatellare, Scheuer-
weiber, Zimmerleute u. s. w.). Häufig entzündet sich hiebei der Balg. — •
Die Diagnose stellt man aus der anatomischen Lage an Stellen,
wo sich regelmässig Schleimbeutel finden ; im Uebrigen hat das Hygrom
ganz die Eigenschaften echter Cysten.
Hygi'om. Ganglion. Ki'aukheiteu der Fascien. 559
Man kann die Hygrome exstirpiren. Bei messerscheuen Patienten
mache ich Einspritzungen von Chlorzink (circa 1 Ccm. einer O^l^/o
Lösung mehrmals). Das Verfahren ist wenig schmerzhaft und der Beutel
schrumpft ohne Narbe.
Secundäre Tuberculose der Schleimbeutel findet sich hin und
wieder bei Tuberculose der Knochen und Gelenke. Ranke beschreibt
Myxome. Sarkome und Angiome der Schleimbeutel (Langenheck's Archiv,
Bd. 33).'
Das Ganglion oder Ueberbein erscheint als eine hernien- (bruch-)
artige Ausstülpung der Sehnenscheide und man hat z. B. auf dem
Handrücken, von einer Streckersehne ausgehend, eine rundliche, harte
(etwas verschiebliche) und mit der Bewegung der Sehne sich ver-
schiebende Geschwulst von Nussgrösse, bei Druck und spontan nicht
besonders schmerzhaft, von normaler, nicht gerötheter, höchstens etwas
verdünnter Haut bedeckt. Das Ganglion enthält eine zäh - gallertige,
dickflüssige Masse, die sich durch die Canüle einer Pra^^a2;'schen Spritze
meist nicht entleeren lässt. An der Wand stehen mitunter Zotten
an, die sich auch zu freien Körpern abschnüren (Reiskörner, Corpora
oryzoidea). Mit der Sehne oder dem Gelenk communicirt der Balg
seltener breit , als durch einen dünnen , oft strangförmig ausgezogenen
Stiel, häufig gar nicht.
LedderJiose (Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 37, Lit.) und Falkson {Lang enh eck' s
Archiv, Bd. 32) lehnen die bisherige Ansicht, dass die Ganglien durch herniöse Ausstülpung
der Wand von Sehnenscheiden und Gelenkkapseln entstehen, schlechthin ah und lassen
dieselben sogar unabhängig von diesen Geweben (Falkson) als echte Neubildungen im
paratendinösen und paraarticulären Gewebe entstehen. Anfangs raehrkammerig, fliessen
sie zu einer Cyste zusammen und platzen schliesslich spontan oder durch Trauma
(Ledderhose). Für die acut entstehenden Ganglien dürfte diese Theorie nicht zu halten
sein. — Die Eeiskörperchen sind keineswegs immer tuberculös , sie sind die Folgen
einer Gewebsdegeneration, nicht einer Gerinnung (Goldmann, Beitr. z. klin. Chir., Bd. 15).
In frischen Fällen hilft Massage, besonders Drücken, Reiben und
Kneten. Die Exstirpation gibt hässliche Narben (Handrücken junger
Damen I), Synechien der Sehnenscheiden und schützt nicht gegen Re-
cidive. Ich bevorzuge z. Z. die (mehrmalige) Injection von O'l — 0'5 Ccm.
einer O'lVoigen Chlorzinklösung, wenn nöthig nach Einspritzung einer
2<'/oigen Cocainlösung. Das Ganglion schrumpft in 2 — 4 Wochen.
Erkrankungen der Fascien sind selten. Blutarm und aus
äusserst derl)em, widerstandstähigem Gewebe l)estehend , widerstehen
sie mechanischen und ehemischen Einwirkungen besonders energisch.
Dem Andrängen von Geschwülsten und Eiterungen u. s. f gegenüber
bleiben sie lange intact. Doch werden sie schliesslich durchbrochen
oder verfallen — in Eiterungen — der Nekrose. Es dauert dann
Wochen bis Monate, bis die todten Fascienfetzen durch demarkirende
Granulation abgestossen werden, gerade wie bei Sehnen. Die einzige,
einigcrmassen selbständige Erkrank ungsform von Fascien ist ihre
Schrumpfung (Retraction). Sie findet sich — indem an Stelle des
elastischen Gewebes schrumpfendes Bindegewebe tritt — als selbstän-
diges Leiden an der Fascia palmaris { Unjuc/trorso-he Fingercontractur).
Anhaltende active Krüiiiniinig der Finger scheint als l'rsaohe mitzu-
wirken. Bei subcutanen Zerrcissungen der Apoiieurosis jjlantaris hat
560 "^11- C!apitel. — Kraiiklioituii der Kiioolicn und Gelenko.
Ledderhose (Chiv. Coiigr. 1894) äliuJicIic Knoten gesehen, wie bei der
Duput/tren' sehen Contractur. Als Theilersclicinung lindet sich die Faseien-
schriimpfiing bei manchen anderen Leiden , so schrumpft die Fascia
lata femoris im Endstadium der Coxitis ; die Fascia plantaris bei
Klumpfuss u. s. w. Dass der „Muskelrheumatismus" sich auch in Fascien
(Fascia lumbodorsalis, Lig. ilio-tibiae oder Maissiaf acher Streifen) loca-
lisiren kann, haben wir pag. 552 erwähnt.
Krankheiten der Nerven.
Verletzungen der Nerven. — Neuritis und Neuralgie. — Die Operationen an
Nerven: Nervendehnung, Nervenlösung, Neurotomie und Neurectomie, Neurex-
ärese. Nervennaht und Nervenplastik. — Neubildungen.
Ob es eine Erschütterung peripherer Nerven gibt mit
vorübergehender Functionslähmung — analog der Erschütterung des
Gehirns und Rückenmarks — ist nicht sichergestellt. Vielleicht mag
der örtliche Wundstupor bei Schussverletzungen , die auffallende
Empfindungslosigkeit der betroffenen Theile unmittelbar nach einer
Schussverletzung als solche aufzufassen sein (vergl. pag. 478). — Ein
kurzer Stoss auf einen gemischten Nerven ruft die von dem Stoss
auf den Ulnaris (dem sogenannten „Mäuschen") bekannten Erschei-
nungen hervor — von der Druckstelle ausstrahlende , excentrisch pro-
jicirte Schmerzen, kurz dauernde Schwäche oder Lähmung der betref-
fenden Muskeln; binnen wenigen Minuten ist Alles vorüber. Länger
dauernder localisirter Druck auf einen Nervenstamm kann zu einer
völligen Durchquetschung der Nervenfasern an der betreffenden Stelle
und damit zu den auch sonst beobachteten Folgen der Quertrennung
eines Nerven , zur Degeneration des peripheren Stückes führen ; doch
tritt die Eegeneration meist, allerdings erst nach einer Reihe von
Monaten, ein.
Solche, im Verlaufe von Stunden eintretenden langsamen Durchquetschungen der
Nerven treten z. B. ein bei Betrunkenen, die im Schlafe mit dem Oberarm auf einer
scharfen Stuhlkante den N. radialis der Compression aussetzen u. dergl. Manche ..rheu-
matische" Lähmung mag in Wirklichkeit auf eine Compression des Nerven im Schlafe
oder sonst eine ungeschickte Lage und Haltung zurückzuführen sein.
Eine einmalige starke Contusion eines Nerven führt zu einem
Bluterguss in die Substanz desselben. Dadurch können zunächst die
Erscheinungen erhöhter Haut- und Muskelreizbarkeit, später Lähmungs-
erscheinungen bedingt sein , die mit der Resorption des Blutergusses
schwinden, wenn nicht die Durchtrennung einer Anzahl Nervenfasern
sich nun geltend macht. Eine der folgenschwersten stumpfen Beschä-
digungen eines Nerven ist die bei Knochenbrüchen mitunter
vorkommende. Fast typisch hiefür ist die Verletzung des N. radialis
bei Brüchen der Diaphyse des Humerus. Bald handelt es sich um
acute Quetschung im Momente der Verletzung, dann ist die Sensibilität
und Motilität unmittelbar oder wenigstens schon einige Tage nach dem
Unfälle aufgehoben. Leider unterlässt man es häufig, in der Sorge um
den Verband, sofort die Nervenleitung zu prüfen und man ist dann
kaum im Stande, die differentielle Diagnose gegenüber der zweiten
Form zu machen, wo der Nerv langsam an den Callus angelöthet und
Nervenveiietzungen. 561
in ihn eingeschlossen wird. Die Schmerzen sind in diesem Fall unge-
mein heftig und werden bis in die Finger ausstrahlend empfunden.
Die erste Form ist häufiger bei directen Brüchen , wo eine unmittel-
bare Quetschung des Nerven stattgefunden , die zweite kommt auch
bei indirecten vor; doch kann auch an die Nervenquetschung später
die Umklammerung des Nerven sich anschliessen.
In beiden Fällen wird man nach Abnahme des Verbandes durch
die Radialislähmung unangenehm überrascht. Die Prognose dieser Ver-
letzungen ist keine gute. Wenn Massage den vielleicht nur oberfläch-
lich an den Callus angelötheten Nerven nicht freizumachen vermag,
bleibt nur die blutige Aufsuchung übrig. Der Nerv wird freigelegt und
freigemeisselt , dann legt man den Nerven bei Seite und fixirt ihn in
den Weichtheilen , in einiger Entfernung vom Callus mit einigen ver-
lorenenNähten — Nervenlösung, Neurolyse (vergl. Neugebauer^ Beitr.
z. klin. Chir., Bd. 15). Selbst in diesen verhältnissmässig günstigen
Fällen kommt es nicht immer zur Wiederherstellung der Function, oft —
namentlich wenn die Fractur eine complicirte und der Nerv ganz durch-
rissen war — findet man das eine oder andere Ende in dem schwieligen
Gewebe nicht. Man kann dann das periphere Stück in einen andern
Nerven einzupflanzen suchen (Nervenpfropfung , pag. 281). Auch in
Weichtheilnarben können Nerven eingeklemmt sein und schwere Stö-
rungen machen. Es können refiectorische Krämpfe einzelner Körpertheile,
z. B. des Armes, eintreten, aber auch allgemeine Convulsionen mit
Verlust des Bewusstseins (refiectorische Epilepsie). Auch hier muss der
Nerv auf blutigem Wege befreit werden , wenn nicht Massage hilft.
Schlimmsten Falles ist die Durchschneidung hier das kleinere Uebel.
Furchtbare Schmerzen macht die Umklammerung von Nerven-
stämmen durch Neubildungen. Hier besteht meist zugleich Anästhesie.
Am bekanntesten sind die kaum zu ertragenden Schmerzen , wenn
der Plexus axillaris von krebsigen Achsellymphdrüsen (nach Carcinoma
mammae) eingeschlossen wird, oder bei Wirbelkrebsen, wo die aus
dem Rückgratscanal austretenden Nerven comprimirt werden (Anaesthesia
dolorosa).
Gegen Dehnung, Zerrung, Ab- und Ausreissen sind gesunde
Nerven äusserst widerstandsfähig ; bei Eisenbahnverletzungen hängt oft
die sonst ganz abgefahrene Extremität nur noch an ein paar Haut-
brücken und den Nervenstämmen. Doch soll der an den Humeruskopf
angelöthete Plexus brachialis bei der Reposition veralteter Luxationen
gelegentlich abgerissen worden sein.
Luxation beider Nn. ulnares ist bei flachem Sulcus ulnaris von Schilling
(Münchn. Med. Wochschr., 92, 38) beobachtet (Section).
Die Durchtrennung von Nervenfasern oder ganzen Ner-
venstämmen hat — nach einem kurzen lebhaften Schmerz — immer
zunächst gänzlichen Ausfall der Empfindung und Bewegung der inner-
virten Theile zur Folge.
Die Heilung erfolgt selbst bei sofortiger genauer Zusammenfügung
beider Enden erst im Laufe von Wochen und Monaten. Die Regene-
rationsvorgänge sind pag. 83 besprochen.
Die immediata reunio der Nerven, welche einige Chirurgen (Gluck) beobachtet
haben wollen — so dass schon 24 Stunden nach einer Radialisdurchschneidung im
ganzen Gebiete des Nerven normale Empfindung gefunden wird — ist eine Tauschung.
Landerer, Allg. chir. Pathologie u. Therapie, 2. Aufl. 36
562 VII. Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
Es kann als Regel ohne Ausnahme gelten, dass die Heilung des Nerven nur jjer secun-
dam eintritt, und dass nie die charakteristischen Erscheinungen aus?j]eiben, die im
Wesentlichen bestehen in der Atrophie des peripheren Endes und einer allerdings
weniger in die Augen fallenden Verdickung des centralen Endstückes (s. pag. 83 fi'.).
Die physiologischen Erscheinungen nach einer Nervendurchschneidung bestehen
neben Empfindungslähmung in zunächst erhöhter EiTegbarkeit der Muskeln, die sich
bis zu klonischen und tonischen Contractionen steigern kann. Noch einige Tage (4 — 10,
Ärloing) bleibt der Muskel vom Nerven aus erregbar, bald erlischt dieses Phänomen.
Auch die Erregbarkeit des Muskels gegen den unmittelbar appliciiien inducirten Strom
nimmt — nach einer kurzen Steigerung — gleichfalls bis zum Verschwinden ab. Die
galvanische Erregbarkeit des Muskels selbst dagegen nimmt zu und ist schliesslich die
einzig vorhandene elektrische Reaction des jetzt degenerirten Muskels (Entartungs-
reaetion). Zu gleicher Zeit können sich auch „trophische" Störungen im Gebiete des
durchschnittenen Nerven einstellen, Unregelmässigkeiten der Circulation, Stauung,
Kältegefühl, selbst Oedeme, zögernd verlaufende Entzündungen u. dergl. Auch andere
trophische Störungen können sich einfinden, Anomalien der Schweisssecretion, des Haar-
wuchses, Exantheme (Herpes zoster) u. s. f. Aber nicht blos die Weichtheile, selbst der
Knochen kann atrophiren. Häufig finden sich Muskelcontracturen.
Die Neuritis oder echte Entzündung- eines Nerven in seinem
Verlauf kommt dem Chirurgen selten vor.
Die Symptome sind Schmerzen, erhöhte sensible und motorische
Erregbarkeit. Zum Unterschied von der Neuralgie sind die Schmerzen
continuirlich , nicht anfallsweise , und es sind nicht nur bestimmte
Punkte des Nerven (Points douloureux der Neuralgie) auf Druck em-
pfindlich, sondern der Nerv in seinem ganzen Verlauf. Bei oberflächlich
liegenden Nerven kann man den geschwollenen, schmerzhaften Strang
durch die Haut hindurchfühlen. Fremdkörper im Nervenstamm können
Neuritis herbeiführen. Sie sind natürlich zu entfernen. Jodanstrich,
Blutegel, Eis, Elektricität u. dergl., ebenso forcirte Compressiou (s.
unten) werden angewandt. Schliesslich kann man zur unblutigen oder
blutigen Dehnung schreiten.
Worauf der Nervenschmerz, die Neuralgie, in letzter Linie
beruht, ist unbekannt. Wir diagnosticiren sie, wenn im Gebiete eines
bestimmten Nerven — z. B. eines Trigeminusastes, des Ischiadicus —
anfallsweise Schmerzen auftreten. Hyperämien und Secretionsanomalien
(Schweisse, Thränenträufeln) begleiten mitunter die Anfälle. Am Ver-
laufe des Nerven hat man bisher — makroskopisch und mikrosko-
pisch — nichts Abnormes mit Sicherheit nachgewiesen. Fast pathogno-
monisch ist es für die Neuralgie, dass gewisse Punkte auf Druck be-
sonders schmerzhaft sind (Points douloureux). Sie finden sich vor-
wiegend da, wo die Nerven eine enge Stelle zu passiren haben, am
Durchtritt durch einen Knochencanal , eine Fascie, einen Muskel
u. dergl. Ein Theil der Neuralgien scheint seinen Sitz im Verlauf der
Nerven zu haben (periphere Neuralgie), ein anderer in den Wurzeln
oder Centren derselben (centrale Neuralgie). Manche Fälle sind zweifel-
los die Folgen von Infectionen : Malaria, Syphilis, Tripper oder lutoxi-
cationen (Quecksilber u. s. f.).
Hilft die Behandlung des Grund leidens nichts — Chinin in grossen
Dosen (2—5 Grm.) scheint oft auch bei nicht mit Malaria zusammenhän-
genden Neuralgien zu nützen — , so ist zunächst auf den Rath von
Gussenbauer, v. Esmarch eine sehr energische Abführcur (mehrmals jeden
2. Tag IVg — 2 Esslöffel Ol. Ricini) zu versuchen. Ich habe eine ganze
Anzahl zur Operation geschickter Neuralgien so geheilt. Mitunter hilft
Operationen an den Nerven. 563
Massage, namentlich Tapotement. Zweifellose Erfolge gibt mitunter die
forcirte, nm* einige Secunden dauernde Compression des Nerven, der
Points douloureux gegen eine feste Unterlage (Knochen) (Delorme). Ein-
spritzungen in die Nähe des Nerven von Morphium, Cocain, Kochsalz-
lösung, salzsauren Salzen (Schleich), Osmiumsäure, Chloroform u. dergl.
geben vorübergehende, selten dauernde Erfolge. Schliesslich bleiben
gegen das überaus quälende Leiden, das die Kranken nicht selten zum
Selbstmord getrieben hat, nur noch blutige Eingriffe, die Nervendehnung,
-durchschneidung oder -resection, oder -exärese übrig.
Eigentiich angezeigt sind Nervendurchsclineidungen nur bei peripheren Neural-
gien, wo man hoffen kann, den Sitz des Leidens za entfernen. Doch sind sie auch bei
centralen nicht ohne allen Sinn. Durch die Aufhebung der Leitung werden die peri-
pheren Eeize aufgehoben, die oft den Anfall einleiten.
Die Nervendehnung ist durch Nussbaum gelegentlich einer Operation ent-
deckt und ausgebildet worden. Der Nerv wird auf dem kürzesten und schonendsten
Wege frei gelegt, mit flachen Messerzügen oder dem Finger auf 1 — 2 Cm. frei gelegt,
dann schiebt man den Finger — besser, als einen Haken — unter und zieht den Nerven
an , nach beiden Eichtungen hin dehnend. Die Nerven halten in dieser Beziehung
ziemlich viel aus. Die unmittelbaren functionellen Folgen sind vorübergehende Lähmung
und folgende Muskelschwäche, massige Schmerzen und Gefühl der Schwere und Taub-
heit, die sich jedoch im Verlauf von wenigen Tagen verlieren. Mikroskopisch hat man
an gedehnten Nerven Hyperämien tind Zerfall der Markscheiden beobachtet.
Die Nervendehnung wird wegen ihrer fast regelmässigen Misserfolge heute nur
sehr- selten angewandt. Vielleicht bei Neuralgien gemischter Nerven, z. B. Ischias, wo
man die Durchschneidung scheut, mag sie als eine im Grunde doch ungefährliche und
unschädliche Operation immer versucht werden, dann bei Krämpfen peripheren Ur-
sprungs, Eeflexepilepsien u. s. f.
Die unblutige Dehnung ist nur am Ischiadicus gemacht worden. Sie besteht
in einer gewaltsamen Ueberbeugung im Hüftgelenk bei gestreckten Knien. Als unschäd-
licher Eingriff kann sie gemacht und wiederholt werden , ist auch bei Ischias nicht
ohne Erfolg.
Die Nervendurchschneidung und die Nervenresection
(Neurectoniie, Herausschneiden eines Stückes aus dem Nerven) sind
heute so ziemlich verlassen zu Gunsten der Neur exärese (Thiersch).
Der freigelegte Nervenstamm wird mit einer Zange — der Köberle'schen
pag. 56 ähnlich, aber das Maul längsgerieft — fest gefasst und indem
man die Zange langsam um ihre Längsaxe dreht, aufgewickelt. Schliess-
lich reisst er an beiden Enden ab und man hat , um die Zange ge-
wickelt, ein oft 10 — 12 Cm, langes Stück herausgedreht. Es gelingt
so, nicht nur ein grosses Stück vom Stamm, sondern auch die Ver-
ästelungen bis in die feinsten Fäden herauszuholen.
Keines der Verfahren schützt sicher vor Recidiven, da eben
manche Neuralgien central bedingt sind.
Nervennaht und Nervenplastik sind pag. 281 besprochen.
Es sind hierüber noch Etzold, Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 29,
Alhrcchf, ebenda , Bd. 26 (Lit.), Tillmanns^ Lawjenheck' s Arch., Bd. 32
zu vergleichen.
Der verschiedenen Arten der für den Chirurgen wichtigen Nerven-
lähmungen ist pag. 551, 554, 8, 448, 114 gedacht.
Die Neubildungen der Nerven haben wir schon erwähnt (pag. 297
u. 328): die echten Neuromc, die falschen oder Neurofibrome. Zu
letzteren sind auch die kolbigen Anschwelhingen zu rechnen, die in
seltenen Fällen bei Amputationen ül)er der Durchschneidungsstelle ent-
36*
564 ^^^- Capitel. — Krankheiten der Knochen und Gelenke.
stehen — „Amputationsneurome". Sie bestehen aus vielfach ge-
wundenen Nervenfasern und Bindegewebe und scheinen auf entzünd-
lichem Wege zu entstehen. Ihre Verhütung ist pag. 256 besprochen.
Auch des Tuberculura dolorosum (pag. 352) und der plexiformen
Rankenneurome haben wir pag. 297 gedacht.
Als Elephantiasis nervorum congenita beschreibt ßruns fChir.
Centralbl., 1895, 8) grosse Neurofibrome an den Nerven des Stammes.
Von bösartigen Geschwülsten kommt das Sarkom hin und wieder
primär an den Nerven vor, das Carcinom nur fortgesetzt.
VIII. Capitel.
Krauklieiten der Blutgefässe.
Krankheiten der Arterien. — Atherom. — Aneurysmen. — Verschiedene
Formen und Behandlung. Krankheiten der Venen. Phlebitis. Venenerweite-
rungen (Varicositäten).
Die Verletzungen der Arterien, die Bildung des Verschlusses
und des Collateralkreislaufes sind schon pag. 110 ff. besprochen.
Die Wände einer Arterie bestehen aus Intima — einer Endothelschicht (Fig. 465
nach Schenh), die auf elastischen Membranen ruht, einer Media, die an den grössten
Arterien aus elastischem Gewebe , an den übrigen aus ringförmig und längsgelagerten
glatten Muskelfasern besteht. Darauf folgt die Adventitia, innen festeres, nach aussen
lockeres, fibrilläres und elastisches Bindegewebe. Die Entartungen spielen sich theils in
der Intima , theils in der Media ab ; die Adventitia kommt hiefür kaum in Betracht.
Fig. 466 Ä, Arterienquerschnitt , das Lumen mit Blutkörperchen gefüllt, a die gefaltete
Intima, h Media, c Adventitia. B Querschnitt einer Vene, Benennungen dieselben.
Fig. 465.
Acute Entzündung der Arterien ist sehr selten. Die Arterien,
im Besitze einer eigenen, von der Umgebung ziemlich unabhängigen
Gefässversorgung (der Vasa vasorum) ziehen oft intact durch grosse
Abscesshijhlen, durch Lungencavernen u. s. f. hindurch, Fig. 467 zeigt
eine Arterienwand im Zustande eiteriger Infilti-ation (nach Marchand).
Dagegen sind die Arterien ziemlich häufig Entartungen ihrer
Wände unterworfen. Die Ursachen der Arterienentartung sind zum Theile
mechanische. Es handelt sich hauptsächlich um häufig wiederholte,
dauernde oder vorübergehende Steigerungen des Blutdruckes, wie sie
z. B. schwere Beschäftigungen mit sich bringen, oder wie sie der Alkohol-
genuss herbeiführt, oder manche andere Erkrankungen, z.B. Nieren-
schrumpfungen.
Die Elasticität der Arterienwände wird dadurch übermässig oft und übermässig
stark in Anspruch genommen, sie werden überdehnt und verfallen der Entartung. Diese
566
VIII. Capitel. — Krankheiten der Blutgefässe.
beginnt daher und findet sich am ausgesprochensten an solchen Stellen , wo der
Blutdruck besonders ungebrochen und stark einwirkt, z.B. an Krümmungen, wo
die Arterienwand dem Blutstrom eine andere Richtung giebt, wie dem Arcus aortae
u. s. f. Ferner entartet die Arterienwand in Fällen, wo die Ernährung überhaupt leidet,
bei Carcinom, im Alter u. s. f. Unter den chronischen Infectionskrankheiten ist es
namentlich die Syphilis, die Arterienentartung macht. Im Fieber ist die Dehnbarkeit der
Arterienwände sofort erheblich erhöht, ohne nachweisbare Structurändernngen (lioy).
Fig. 466.
.^Ä
B
mm
' Intima gefaltet
-'- Media, dicker
I als in der Vene
Adventitia
— Adventitia
Die chronischen Entartungen der Arterien be stehen zunächst meist
in fettiger Entartung von Intima und Media. Die Zellen, Fasern
und Membranen sind von feinsten Fetttröpfch en durchtränkt , die
die Structur zum Theile verdecken. Neben der Verfettung oder im An-
schluss an sie findet sich Verkalkung. Auch sie kann Intima und
Fig. 467.
a
a Adventitia , stark inflltrirt. m Media , mit theilweise erhaltenen länglichen Muskelkernen,
zahlreichen Zerfallsformen und Kernen von Lymphkörperchen , welche nach der Färbung
(Hämatoxylin) als dunkle Punkte hervortreten, h Starke eiterige Infiltration unter der ah-
gehobenen Elaslica, an deren Innenfläche ebenfalls Anhäufungen von Kundzellen und Zerfalls-
producten (c).
Media zugleich betreffen. Diese Vorgänge werden deutlich aus Fig. 468
nach Marchand.
Am ausgesprochensten sind diese Entartungserscheinungen bei
dem allgemeinen Arterienatherom (Arteriosklerosis). Es ist dies
eine vorwiegend im Alter auftretende Entartung des ganzen Arterien-
systems. Bei Potatorium, Syphilis u.dgl. tritt sie aber auch schon
früher ein.
Entzündungen und Entartungen der Arterien.
567
Das Primäre und die für die Blutcirculation wichtigste Erscheinung ist der
Elasticitätsverlust der Arterien ; die Folge davon ist erhöhte Arbeitsleistung und damit
Schwächung und Entartung des Herzmuskels. Atherom steigert daher die G-efahren des
Bhitverlustes, der Narkose, der Operationen, überhaupt jedes schwereren Processes er-
heblich. Dieses Leiden verdient daher die Aufmerksamkeit des praktischen Chirurgen
in hohem Grade.
Oertlich finden sich in der Intima Verdickungen , theüs durch Wucherung der
Zellen bedingt, theils durch fettige Entartung ; die Fetttröpfchen können schliesslich zu
einem förmlichen Brei zusammeniii essen. Der Herd kann nach dem Gefässlumen hin
durchbrechen und lässt nun eine endothelfreie Lücke zurück („atheromatöses Geschwür").
Auf diesem können sich Fibrinablagerungen bilden , die wieder z.u Embolis u. s. w.
Fig. 468.
A Längsschnitt, B Querschnitt der Arterie.
an verkalkte Stellen der Media, 6// erhaltene Muskelfasern, in ^ quergeschnitten, in ö längs-
getroffen, c Adventitia, d elastische Membran der Intima, «Verdickungen der Intima. Vergr, 15.
werden können. Ein anderes Mal findet sich Infiltration mit Rundzellen und Wuche-
rungsprocesse. Regelmässig kommt es in den späteren Stadien zu Verkalkung der Intima
in Gestalt weisser, glänzender Platten.
Auch die Media ist der Sitz von Ernährungsstörungen, die Kerne der Muskel-
fasern sind weniger deutlich, auch sie entarten fettig und Verkalkung stellt sich ein.
Stets ist die physikalische Festigiteit der Arterie vermindert; sie
buchtet sich unter dem auf ihr lastenden Druck des iJlutes aus und
bricht schliesslich durch. Starrheit und Brüchigkeit sind somit lie-
zeichnend für atheromatöse Arterien. Die Folgen .sind Neigung zur
Arterienerweiterung fAneurysnuibildung, örtlicher und allgemeiner), vgl.
Fig. 469, und zur spontanen Gefäs.sruptur, der Bildung von Apoplexien
(namentlich im Gehirn). Aber auch ohne diese P^rschcinungcn ist der
Atheromkranke bei Blutverlust, Narkose u. dergl. mehr gefährdet, weil
568
VIII. Capitel. — Krariklieiten der Blutgefässe.
das starre Gefässsystein sich Veränderungen der Blutmenge fvergl,
pag. 119 bei Blutung) nicht mehr anzupassen vermag und meist auch
der Herzmuskel entartet ist.
Die Syphilis der Arterien macht ähnliche Veränderungen.
Die Verkalkung tritt liier zurück , aber die Media ist gleichfalls ausgedehnter
Entartung unterworfen (vergl. Fig. 470). Hier treten die Wucherungsprocesse in der
Intima besondei's hervor , in einem Masse , dass das Lumen hochgradig verengt und
selbst durch neugebildete Falten und Septa in verschiedene Eöhren und Abtheilungen
getheilt werden kann. Auch pflegt die Adventitia stark ergriffen zu sein , verdickt,
gequollen, mit weissen Blutzellen durchsetzt. An einzelnen Stellen (Fig. 470, g) kann es
zu förmlichen gummösen Processen kommen. Auch die Gefässsyphilis disponirt zu Rup-
turen und zu Blutungen.
Diese Wucherungsprocesse der Intima sind auch ohne
Ruptur oder Erweiterung des Gefässes von grösster Wichtigkeit für
die Ernährung des betreffenden Organs, indem sie das Gefäss verengen
und so die Blutzufuhr herabsetzen. An manchen Stellen (Gehirn, Herz)
können sie schliesslich zur totalen Anämie und damit zu schweren
Fig. 469
- _. _ l
Arterie mit beginnender Aneiirysmabildung und Einlagerung einer glänzenden gelben skleroti-
schen Platte in der Intima x. i Lymphscheide mit Kernen. «Adventitia. «iMuscularis, in der
>Iitte^verdünnt und geschwunden, i die längsstreiflge Intima.
Störungen führen (Hirnerweichung, plötzlicher Herzstillstand). Man hat
diese Vorgänge auch als Endarteriitis obliterans bezeichnet. Sie
kommt nicht blos bei Syphilis vor, auch in Carcinomen (vergl. z.B.
Fig. 339 &), wo eine deutlich verdickte Arterie in einer carcinomatösen
Stelle zu sehen ist. Auf die Bedeutung der Angiosklerose, Endarteriitis
sclerotica, für die Entstehung von Spontangangrän hat besonders Zöge-
Manteuffel aufmerksam gemacht.
Aehnliche Vorgänge kommen auch physiologisch vor. So liegen sie dem Verschluss
des Ductus arteriosus Botalli und der Nabelarterie zu Grunde; der Verschluss unter-
bundener Gefässe (pag. 110) ist in letzter Linie nichts anderes. Ebenso verdickt sich
in unterbundenen Gefässen (z. B. bei Amputationen) die Intima der zuführenden Arterie
soweit, als die Menge des circulirenden Blutes vermindert ist (Thoma).
Diese Entartungen der Arterienwand sind eine der Ursachen der
Arteriener Weiterungen, der Aneurysmen (ävsupuo), erweitern).
Die Eintheilung der Aneurysmen leidet noch an einer gewissen Unklarheit. Man
spricht von einem Aneurysma verum, wenn alle Arterienhäute gleichmässig ausgebuchtet sind,
von einem Aneurysma spurium, wenn dasselbe durch Berstung sämmtlicher Häute und
Ergiessung des Blutes in die Umgebung entsteht. In diesem Falle kann dann die Hülle
des Sackes von dem umgebenden Gewebe gebildet sein, oder es kann die Adventitia
erhalten sein und das Blut sich zwischen die Arterienwände einwühlen (A. mixtum
Atherom. Syphilis der Arterien. Aneurysmen.
569
od«r dissecans). Die Einwühlung des Blutes in die Umgebung ohne scharfe Abgrenzung
(Aneurysma spurium diffusum) ist weiter nichts als ein anderer Name für einen Blut-
erguss. Grenzt sich der Bluterguss ab und bleibt der Inhalt des neugebildeten Sackes
in offener Verbindung mit dem Lumen des Gefässes (Stichverletzungen), so gewinnt die
so entstehende Geschwulst (das Aneurysma spurium circumscriptum) durchaus den
klinischen Charakter eines Aneurysma. An alten Aneurysmen ist überhaupt nichts mehr
von der ursprünglichen Gefässstructur zu erkennen als Intima und Adventitia, welche
ja doch zum grössten Theile neugebildet sind, und die Unterscheidung zwischen echtem
und unechtem Anemysma fällt von selbst weg.
Das Aneurysma ist bald spin- Fig. 470.
delförmig (verg-1. Fig. 471), ein
anderes Mal ist es sackförmig- und
sitzt mit einem relativ schmalen
Stiel der Arterie auf (s. Fig. 472).
Das nicht traumatische „spon-
tane" x4neurysma kommt fast nur in
gewissen Bezirken (deutsche Küs-
ten, England, Nordamerika u. s. f.)
vor und besonders bei der hart
arbeitenden Bevölkerung (Schiffs-
volk). Harte Arbeit, Alkoholmiss-
brauch und Syphilis scheinen die
wesentlichen Ursachen zu bilden,
wie sie auch die Degeneration der
Gefässwand bedingen.
Besonders disponirt sind Stel-
leu, wo die Arterie bei Bewegungen
vielfachen mechanischen Insulten
ausgesetzt ist. Weitaus am häufig-
sten ist deshalb das Aneurysma an
der A. poplitea, die bei starker
Beugung geschlängelt und com-
primirt wird ; dann kommt die Cru-
ralis und Carotis. Das traumatische
Aneurysma (A. spurium) ist ein ab-
gekapselter Bluterguss, der mit dem
verletzten Gefäss in offener Ver-
bindung geblieben ist und Blut in
theilweise noch flüssigem Zustand
enthält.
Klinisch stellt sich das Aneu-
rysma dar als circurascripte harte
Geschwulst , im Verlaufe einer be-
kannten Arterie gelegen. Nicht alle
Aneurysmen pulsiren, wie auch nicht immer ein diffuses Geräusch mit
dem Stetlioskop zu hfiren ist. Meist ist peripher von der Geschwulst
der Puls auf der kranken Seite schwächer als auf der gesunden.
Druck auf die Gescliwulst lässt den Puls kleiner werden oder ver-
•schwinden. In manchen Fällen sind Abscesse, weiche Sarkome, Ljanph-
drüsenknoten u. dergl. schon mit Aneurysmen verwechselt worden.
Auch eine Probepunction führt nicht immer zum Aufschluss. Die
übrigen Erscheinuniren sind häufig gering — verminderte Lcistungs-
Zwei kleinere Gehirnarterien, Aeste der Art. basi-
laris, mit syphilitischer Endarteriitis im Quer-
schnitt. Das Lumen läer grösseren ist durch Binde-
gewehswuchsrungen in mehrere Abtheilungen zer-
legt, -welche mit deutlichem Endothel ausgekleidet
sind und zum Theil Keste von Thromben enthalten.
Das Lumen der kleineren Arterie ist verengt durch
die allseitig verdickte Intima.
«Adventitia, sehr stark mit Lymphkörperchen
iniiltrirt, am stärksten in der Gegend der Ver-
bindung beider Gefässe ; links findet sich eine
feinkörnige käsige Einlagerung j, in deren Um-
gebung einzelne Kiesenzellen r und dicht ge-
drängte Lymphkörperchen.
mMuscularis, durch die nach innen fortschrei-
tende Infiltration vielfach undeutlich.
/ M. fenestrata, gefaltet, ebenfalls durch Lymph-
körperchen zum Theile verdeckt.
i Die sehr verdickte , aus fibrillärem Bindege-
webe und spindelförmigen Zellen bestehende
Intima ; in derselben Anhäufungen von Rund-
zellen und Beste von Blutpigment h. (Nach
Marchand.)
570
VIII. Capitel. — Krankheiten der Blutgefässe.
fähigkeit, allerlei vasomotorische Störunj^-en. Die ausstrahlenden Sehmerzen
durch Druck auf benachbarte Nervenstämme sind mitunter beträchtlich.
Aneurysmen auf atheromatöser Grundlage sind nur mit grosser
Vorsicht anzugreifen, im übrigen gestaltet sich die Behandlung der
Aneurysmen verschieden , je nachdem die Geschwulst äusseren Ein-
griffen leicht zugänglich ist oder nicht (innere A.). Für letztere muss
man sich daher oft mit inneren Mitteln begnügen.
Eines alten, nicht unverdienten Eufs erfreuen sich die Vorschriften von Valsalva
— im Wesentlichen handelt es sich um eine Entziehungscur — , knappe Diät, Abführ-
mittel, Aderlässe, Ruhe sollen den Blutdruck zum Sinken bringen und die Gerinnung.s-
fähigkeit des Blutes steigern. Modificirt und durch Weglassen der Aderlässe verbessert,
ist das Verfahren durch Tuffnell. Er legt den Hauptwerth auf monatelange, absolut
strenge Bettruhe und knappe Diät (300 Grm. feste Speisen, 200 Flüssigkeit). In einer
ziemlichen Anzahl von Fällen sind Besserungen, selbst Heilungen erzielt worden. —
Gleichfalls gute Erfolge sind von der Behandlung mit Jodkalium berichtet (Xelaton,
Balfour). Es sind grosse Dosen (3—5 Grm. täglich) nöthig und Ausdauer im Gebrauch
(12 Monate Minimum, am besten mehrere Jahre lang). Dadurch soll eine fibröse Ver-
dickung der Wand angeregt werden ; mitunter war sogar die Wand verkalkt. Doch hat
das Verfahren auch oft im Stich gelassen; — die neuralgischen Beschwerden werden
allerdings meist gelindert und dies ist schon ein Vortheil.
Fig. 471.
Vier Aneurysmata fusif. nach Monro : a A. poplit. geöffnet, Ih Aa. femoral., c A. inguin.
Die Galvanopunctur und Einführung von Fremdkörpern bezwecken
Gerinnung. Diese — in ihrer Wirkung unsicheren und nie ganz ungefährlichen — Ver-
fahren eignen sich nur für sackförmige , der Arterie seitlich aufsitzende Aneurj'smen,
während die vorher angeführten auch für spindelförmige Erweiterungen des Kolas sich
anwenden lassen. Es gehören hieher das Einschieben von Uhrfedern (Baccelli), fil de
florence (Schrötter) , Silberdraht (Loreta) , Pferdehaaren u. s. f. durch Troicart-
canülen; die Acupunctur ist von Macewen neuerdings wieder empfohlen, die Nadeln
(Va — IVs M™- dick) bleiben einige Stunden bis 48 Stunden liegen. Die Galvanopunctur
ist von Ciniselli ausgebildet; 2 — 6 Nadeln werden in das Aneurj^sma eingestochen und
mit dem positiven Pol verbunden. Der negative Pol wird am besten als Platte aussen
auf die Haut gesetzt. Das Einführen beider Pole in das Aneurysma soll einen festeren
Thrombus geben, als der positive, allein die Gefahr der Emboüe ist eine grössere, doch
soll dieselbe bei vorsichtigem Verfahren nicht zu fürchten sein. Nachher kommt eine
Eisblase auf das Aneurysma. Unter Umständen wird das Verfahren nach 3 — 4 Wochen
wiederholt. Die Elektrolyse ist bisher erfolglos gewesen. — Die Einspritzung von Ergotin
in die Umgebung des Aneurysmas (Langenhech) setzt die Anwesenheit contractions-
fähiger organischer Musculatur in der Wand des Sacks voraus und diese ist meist nicht
vorhanden. Die Erfolge sind daher keine befriedigenden gewesen. Lannelongue (Therap.
Wochenschr., 1896, 3) spritzt 3—4 Tropfen lOVoiger Chlorzinklösung in die Nachbar-
schaft des Aneurysmas. — Das Einspritzen gerinnungserregender Substanzen , z. B.
Liquor ferri sesquichlorati, ist höchstens zulässig, wenn es gelingt, die Mündungen des
Aneurysma temporär, d. h. für Stunden, sicher zu schliessen. Sonst ist die Gefahr von
Gangrän und Embolien nicht ausgeschlossen. Ausserdem ist die Wirkung eine höchst
unsichere.
Sehr ausgebildet sind in neuester Zeit die Compressions ver-
fahren. Theils wird der zuführende Arterienstamm, theils der Sack
Beliaudluug der Aneurysmen.
571
selbst compiimivt. Sie bezwecken, durch Verlangsamung des Blutstromes
und Verminderung des Binnendrucks ein Zusammenfallen des Sackes
und eine verscbliessende Thrombose des Blutes in demselben herbei-
zuführen.
Die Compression der zuführenden Arterie erfolgt durch Fing er-
druck — durch Stunden bis Tage lang. Oder man stemmt eine ge-
polsterte Stange zwischen einen über das Bett gestellten Galgen oder
die Zimmerdecke und Fig. 472.
die Arterie (Esm.arch\s
Stangendruck). ^47-
cock füllte einen ver-
korkten Trichter mit
Schrot (6-5 Pfd.) und
Hess ihn auf der Arterie
fixiren. Die Tourniquets
(pag. 115) sind sehr
schmerzhaft und werden
schlecht ertragen.
Sie sind aucli nicht
ohne Gefahr. So ist z. ß. ein
Pat. von Brijant, hei dem
die Bauchaorta unterhalb
eines Aneurysmas mit dem
Z/is^er'schen Compressorium
comprimirt worden war, an
Darmgangrän gestorben; in
einem gleichen Fall führte
eine Perforation in's retro-
peritoneale Zellgewebe den
Tod herbei.
Ebenfalls sehr
schmerzhaft u. schlecht
ertragen wird die for-
cirte Beugung der Ex-
tremitäten , die ja
auch die grossen Ar-
terien schliesst (vergl.
Fig.68ff.)Ausder 5i>/-
ro^/i'schen Klinik sind
vor einigen Jahren sehr
günstige Erfolge mit-
getheilt von der elasti-
schen Ein Wicklung,
mit Fingercompression in den Pausen combinirt (Gersumj). Es wird
zu diesem Zweck die Extremität von ihrer Spitze an bis zum
Aneurysma langsam eingewickelt. Die Binde überbrückt den Sack
oder, wenn er stark gespannt ist, wird sie, damit er nicht platzt, leicht
darüber weggeführt und am oberen Pol der Geschwulst wird die Ex-
tremität abgeschnürt. Das Blut im Aneurysma stockt und soll gerinnen.
Löst man die Einwicklung, die bis 2\2 Stunden dauern kann, so wird
die Arterie mit dem Finger comprimirt. Stellt sich der Puls im Aneu-
rysma wieder ein, so kann nach V2 — 1 Stunde eine zweite Einwicklung
folgen, (icrsinnj hat in einem Fall im Ganzen 8 Stunden 40 Minuten
1 \\\
Aneurysma der A. feitioralis. Die Sackwandung nur aus
Advcntitia a und Intima b bestehend. Die Muscularis c
nur als liest an der Communicationsüffnung vorhanden
(Weher).
572 VIII. Capitel. — Krankheiten der Blutgefässe.
abwechselnd comprirairt und eingewickelt. Die Heilung wird so mit-
unter in Einer Sitzung erzielt. Die Schmerzen werden durch Morphium
oder Chloroform bekämpft. Die directe Compression des Sackes mit
Schrotbeuteln (John Wood) u.s. f., bis die Pulsation im Sacke aufhört,
führt selten zum Ziel, kann aber eine andere Therapie unterstützen. Das
Auflegen von Eisbeuteln hat nur palliative Wirkung (Aortenaneurysmen).
Die Operationsmethoden reichen bis in 's Alterthum zurück.
Die Methode des Anüjllus (3. Jahrhundert nach Chr.) besteht in der
Unterbindung dicht ober- und unterhalb des Sackes, Eröffnen und Aus-
räumen desselben. Während die zuführende Arterie comprimirt ist, wird
der Sack eröffnet, ausgeräumt, die zuführende Arterie aufgesucht, unter-
bunden, ebenso das abführende Gefäss. Der Sack wird mit Jodoform-
gaze ausgestopft und schrumpft durch Granulation. Die Gefahr der
Nachblutung ist gross — wegen der Collateralen, die vielleicht gerade
vom Aneurysma abgehen und meist ist die Arterienwand so nahe
dem Aneurysma, wo sie unterbunden wird, auch nicht völlig ge-
sund. Die vor Antyllus geübte Methode (M. des Philagrius) exstirpirte so-
gleich den ganzen Sack — ein Verfahren , das unter Verwerthung der
elastischen Abschnürung nach v. Esmarch, mit sorgfältigster Unterbindung
aller Collateralen und womöglich exacter Naht und unter dem Schutze
der Asepsis heutzutage als das Normalverfahren angesehen werden
muss. Nur wo es nicht auszuführen ist, kann das Verfahren von
Hunter — Unterbindung am Ort der Wahl, zwischen dem Herzen und
dem Aneurysma, an einer Stelle, wo gesunde Arterienwand zu erwarten
ist, gemacht werden. Es ist leichter auszuführen ; der gewünschte Zweck,
die Coagulation des Blutes im Aneurysma, bleibt bei genügend offener
Collateralbahn jedoch häufig aus. Gangrän ist nur selten bei der
Hunter'' sehen Methode eingetreten.
Auf anderem Wege suchten Brasdor- Wardrop Gerinnung im Aneu-
rysma zu erzielen, indem sie die Arterie zwischen Aneurysma und
Peripherie unterbanden. Die Erfolge sind noch viel unsicherer als bei
anderen Metboden, doch ist die Methode bei gewissen Aneurysmen —
Anonyma , Arcus aortae , Aorta abdominalis — die einzig mögliche.
Vergl. Rosenstein, Langenheck's Archiv, 34.
Eine eigenthümliche Art von Gefässgeschwülsten ist das Aneu-
rysma cirso'ideum oder Angioma arteriale racemosum (Ranken-
angiom). Stamm und sämmtliche Aeste einer Arterie (meist A. occi-
pitalis oder temporalis) — sind aufs äusserste erweitert und in geschlän-
gelte Gefässe umgewandelt, die, knäuelförmig an einander gereiht,
ziemlich grosse, flache, unregelmässig bucklige Geschwülste bilden und
so das ganze Hinterhaupt, die Stirne einnehmen können (vergl. Fig. 473
Aneurysma cirsoideum der Occipitalis nach Kümmel).
Dieses Aneurysma ist nach dem Typus der Teleangiectasie gebaut , nur sind
die Gefässe statt Capillaren Arterien , das Zwischengewebe reichlicher, die Wände im
Zustande der Degeneration und Earefaction, an anderen Stellen wieder durch Auflage-
rung neuen Bindegewebes verdickt. Im Innern können, durch Schwund der Zwischen-
wände, grössere ein- oder mehrkammerige Eäume entstehen. Die Haut über der Ge-
schwulst verdünnt sich, doch wird der Knochen gewöhnlich nicht angegriffen. Das Aneu-
rysma cirsoides scheint aus einer Teleangiectasie hervorzugehen, die, oft im unmittel-
baren Anschluss an eine Verletzung, sich vergrössert. Das Wachsthum ist meist ein
schubweises, oft von langen Pausen unterbrochen.
Ausser einem belästigenden Gefühl von Druck und Sausen läuft der
Triiger jederzeit die Gefahr des Platzens und einer tödtlichen Blutung.
Aneurysma cirso'ideum. Krankheiten der Venen.
573
Fig. 473.
Die Diagnose ist nicht schwer — die knäiielartig angeordneten
pulsirenden Gefässe, einer Arterie entsprechend, sind deutlich zu fühlen ;.
über der Geschwulst hört man meist lautes Sausen.
In der Behandlung ist von Compression der Geschwulst durch
Druckverbände oder der zuführenden Arterie nichts zu erwarten. Die
Einspritzung schrumpfender und ge-
rinnungserregender Mittel ist gefähr-
lich. Ebenfalls nutzlos sind Elektro-
punctur und Elektrolyse. Durch Ein-
spritzung von Alkohol (bis 75''/o) in
die Umgebung der Geschwulst (nicht
in die Gefässe !) allmählich fort-
schreitend nach dem Centrum hat
Thiersch (Plessing , Langenheck' s Ar-
chiv, 33) ein Rankenangiom geheilt.
Von operativen Eingriffen ist die
Unterbindung der zuführenden Arterie,
z. B. der A. carotis externa oder com-
munis, f;ist in allen Fällen nutzlos ge-
wesen, höchstens werthvoU als Voract
für die Exstirpation der Geschwulst,
wobei immer noch — durch doppelte
Unterbindung vor der Durchschneidung
— eine grosse Anzahl von Gefässen
oft bis zur Dicke einer A. brachialis
zu unterbinden bleibt. Allein sicher ist die Exstirpation der ganzen
Geschwulst, unter sorgfältigster Unterbindung aller Gefässe. Gelingt
die Entfernung wegen zu starker Blutung nicht in einer Sitzung, so
kann dieselbe auch in mehreren Absätzen gemacht werden. Vergl. Siege-
mund, Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, Nr. 37, Lit.
Das Knochenaneurysma ist pag. 549 besprochen.
Die Krankheiten der Venen sind denen der Arterien nur zum
Theil analog. Der Bau der Venen entspricht im Wesentlichen dem
der Arterien (s. Fig. 466 B). Eine Intima, bestehend aus einer Endo-
thellage und elastischen Elementen , wird getragen von einer Media.
Diese besteht aus Ring- und Längsfaserzügen , die aber viel weniger
mächtig sind als in den Arterien. Darauf folgt eine lockere Adventitia.
Die acute Venenentzündung (Phlebitis) ist wohl ausnahmslos
bacteriellen Ursprungs. Von einer kleinen Verletzung ausgehend , ent-
wickeln sich geröthete , den Venen, z. B. der Vena saphena entspre-
chende entzündete Streifen , spontan und namentlich bei Bewegungen
schmerzhaft. In den meisten Fällen handelt es sich wohl zunächst um
eine Periphlebitis, d. h. eine Entzündung des die Venen einschei-
denden Gewebes, besonders der die Venen begleitenden und plexus-
artig umsi)innenden Lymphgefässe. Die Venenwand ist hiebei mit
entzündet. Die inneren Schichten derselben bleiben anfangs frei, ebenso
ist der Blutstrom ungestört. Wird der Process in diesem Stadium rück-
gängig, so bleil)t die Vene durchgängig. In schwereren Fällen wird auch
die Intima ergriffen, und jetzt bilden sich Thrombosen im Gefäss.
574
VIII. Capitel. — Krankheiten der JJlutgefässe.
Fig. 474.
Damit hat natürlich die Sache ein anderes Aussehen gewonnen. Jeden
Augenblick kann ein solcher — infectiöser — Thrombus zum Embolus
werden , und es kann sogar Pyämie sich daraus entwickeln. Manche
„kryptogenetische" oder „spontane", „primäre" Pyämie (d.h. unbekannten
Ursprungs) entsteht in dieser Weise, und die Phlebitis, von wo sie
ausgeht, wird oft erst nach langem Suchen, in den Bein-, Genital-,
Hämorrhoidalvenen , bei der Autopsie gefunden. Andererseits können
aber auch tödtliche embolische Verstopfungen der A. pulmonalis entstehen.
Jede Venenentzündung ist daher als ein ernstes Leiden zu behandeln.
Völlige Ruhe, am besten auf einer Schiene , bis der Thrombus in Or-
ganisation ist, d. h. allermindestens 14 Tage, vorsichtiger Weise 3 bis
4 Wochen und antiseptische feuchte Umschläge sind zu empfehlen. Auch
Ichthyolsalben 1:1 — 1:10, mit dicken Watte-
einpackungen sind nützlich. Die kleinen Ab-
scesse , die sich in seltenen Fällen bilden,
sind antiseptisch zu öifnen. Massage — zur
Bekämpfung zurückbleibender Oedeme — ist
erst in späten Stadien, nach Monaten, erlaubt.
Die Vene selbst ist dabei nicht zu massiren.
Eine besondere Art der Phlebitis mit Tbromben-
bilduug ist die Phlegmasia alba dolens der
"Wöchnerinnen. Innerhalb der ersten Wochen aach einer
Entbindnng, selten auch nach einer gynäkologischen
Operation schwillt ein Bein rasch stark, oft bis auf's
Doppelte an. Dasselbe ist meist ganz blass (daher der
Name „alba") und zeigt sehr straffes Oedem , ist dabei
äusserst empfindlich. Fieber ist nicht immer zugegen, die
Temperatur aber unregelmässig. Man wird nie eine
frische Affection des Beckenbindegewebes oder alte der-
artige Vorgänge vermissen. Dieselbe geht auf die Vena
iliaca oder cruralis über, die vielleicht unter Mitwirkung
der geschwächten Circulation thrombosirt. Die Thrombose
setzt sich oft peripher nach der Vena femoralis hin fort.
Der Process — der nur äusserst selten zur Pyämie
oder tödtlichen Embolie der Lungenarterien führt — ist
ein äusserst langwieriger. Nach Monaten erst schwillt
das Bein ab und wird erst nach Va J3,hr wieder ge-
brauchsfähig. Eine Neigung zu Oedemen und Bein-
geschAvüren bleibt zeitlebens. Die Behandlung ist zu-
nächst Wochen- bis monatelang absolute Euhe und hohe
Lage des Beines , mit warmen, feuchten Ein Wicklungen,
Ichthyol- oder Quecksilbersalben. Erst nach Monaten,
"wenn im Becken alle Processe abgelaufen und das Oedem durchaus nicht weicht, ist ein
Tersuch vorsichtigster Massage berechtigt. Die thrombosirten Venen werden nicht so selten
■durch „Canalisation des Thrombus" (s. pag. 17 und Fig. 3) wieder theilweise durchgängig.
Ueber das Wesen der Venenerweiterungen , der sogenannten
Varices, Varicositäten sind wir noch nicht im Klaren. Es sind
meist gleichmässige, schlauch artige Erweiterungen, mit stärkeren Buchten
an Stelle der Klappen oder Zusammenflüsse mehrerer Venen, seltener
finden sich auch seitlich ansitzende, sackartige Ausbuchtungen (nach
Art von Aneurysmen) (vergl. Fig. 474, Varicositäten des Unter-
schenkels). Als wesentlichster Befund sind nach meinen Untersuchungen
Schwund der Venenklappen und die Rarefaction des elastischen Gewebes
der Venen anzusehen. Die Rarefaction der Venenklappen ist überhaupt
«in Involutionsprocess , der vom Neugeborenen bis in's höhere Alter
fortschreitet (Braune).
Phlebitis. Venenvaricositäten.
575
Hauptsächlich sind die Vena saphena magna und die Vena sper-
matica sin. (die V. sperm. dextra nur bei Situs visceium transversus),
selten auch die Venen der Bauch wand betroffen. Häutig- sind die Vari-
cositäten der Mastdarmvenen, die „Hämorrhoiden".
Circnlationsstörungen sind niclit als bedingende Momente der Varicositäten anzu-
sehen, höchstens als mitwirkende. In der ziemlich unklaren Vorgeschichte der Varicosi-
täten spielen Venenverschlüsse (z. B. Phlegmasia alba dolens), Thrombose (der Pfort-
ader oder Vena cava), Unterbindungen selten die entscheidende Eolle; auch gelingt es
Fig. 476.
nicht, experimentell sie zu erzeugen. Häufig werden Verletzungen beschuldigt, zunächst
entwickelte sich dann eine Ectasie an der betretfenden Stelle und der Vorgang geht
von hier aus weiter. Die Unterschenkelvaricositäten finden sich besonders häufig neben
Plattfuss. Erblichkeit ist oft vorhanden.
Die Folgen der Venenvaricositäten sind Ernährungsstörungen, Stau-
ungen mit ihren BegleiterscheinuDgeu , chronischen Ekzemen, Elephan-
tiasis. Geschwürsbildung u. dergl. Doch kann die Phlebitis gerade hier
zu schwereren Processen (Embolie , selbst
Pyämie) Anlass geben , namentlich an den
unteren Extremitäten (s. pag. 574 und Fig. 474,
Ulcus cruris varicosum). Der Hoden verfällt
bei Varicocele (Erweiterung der Venen des
Samenstranges) der Atrophie (vergl. Fig. 475
nach Albert). Fig. 476 nach Albert zeigt Ec-
tasien der Mastdarmvenen , „Hämorrhoidal-
knoten". Diese zeigen weniger die Anordnung
erweiterter geschlängelter Stränge , sondern
sind mehr angeordnet in Gestalt rundlicher,
raehrkamnierigcr Knoten, mit zum Theil
rareficirten Zwischenwänden. Hier bekommt
man oft mehr den Eindruck einer wahren Gefässgeschwulst (s.
pag. 352 ft'.).
Varicöse Venen sind überaus häufig Sitz von Phlebiten, ausgehend
von schlecht heilenden kleinen Verletzungen. Daran schliessen sich dann
Thrombosen. Die gebildeten Thromben führen entweder zur Obliteration
der Vene, die sich in einen derben, narbigen Strang umwandelt, oder
sie verkalken und werden zu Venen steinen (Phlebolithen), erbsen-
bis l)ohnengrossen, länglich ovalen, harten, etwas verschieblichen Kör-
576
VIIJ. Capitel. — Krankheiten der Jilutgofässe.
nern. Neben denselben kann die Circulation wieder frei werden und
sie liegen dann in seitlichen Aussackungen der Vene.
Eine weitere gefährliche Beigabe sind die Blutungen aus ge-
platzten Varicen. An den Mastdarmvenen werden diese „ Blutflüsse ",
so lange sie innerhalb massiger Grenzen bleiben, von den betreffenden
Kranken oft als eine Erleichterung ihrer Beschwerden empfunden ; sie
führen aber bei häufiger Wiederholung doch zu schwerer Anämie. Aus
Varicen an den Unterschenkeln kommen öfter tödtliche Verblutungen vor.
Bei Männern seltener und hier, wie es scheint, auf erblicher An-
lage beruhend, entwickeln sich die Varicositäten meist nach der Puber-
tätszeit, um für das ganze Leben eine Last für den Träger zu bleiben.
Bei Frauen sind sie ungleich häufiger, Sie entwickeln sich in der
letzten Zeit der Schwangerschaft, gehen im Wochenbett etwas zurück.
Fig. 477.
'"»Sfö^
ohne ganz zu verschwinden und werden
von Wochenbett zu Wochenbett schlimmer.
Die palliative Behandlung ist
mühselig und lässt nur Stillstand oder
massige Besserung erwarten. In den von
Phlebitis freien Pausen lässt man vor-
sichtiges Tapotement (vergl. pag. 300)
machen (Kneten und Streichen sind nicht
zweckmässig), daneben kalte Douchen.
Centripetale Einwicklungen mit Leinen-
binden werden, correct angelegt, auf die
Dauer besser ertragen als elastische Bin-
den. Auch poröse Gummistrümpfe werden
oft getragen. Regelmässiger Stuhlgang
ist nicht ohne Einfluss. Methodische
Muskelübungen und überhaupt Bewegung sind zweckmäsig, Stehen und
Sitzen meist sehr schädlich. Neue Geschwürsbildungen oder frische Nach-
schübe von Phlebiten verlangen zunächst Ruhe in Hochlage des Beins.
Die von mir angegebenen Venenklappen (Fig. 477 und 478)
mindern in den Fällen, wo die Venenvaricositäten unterhalb oder ober-
halb des Knies in einen grossen Venensinus zusammenlaufen , die
Stauung und die Beschwerden der Patienten ganz wesentlich.
Bei der operativen Behandlung der Venenvaricositäten
ist die von Trendelenburg angegebene Unterbindung der V. saphena
am Oberschenkel zwar einfach und auch mit localer Anästhesie aus-
zuführen. Die Heilung der varicösen Geschwüre wird gefördert, aber
die Beschwerden werden nur in einem Theil der Fälle gelindert, häufig
fehlt jeder Erfolg. Dagegen hat mir die völlige Exstirpation der V. sa-
phena mit den varicösen Hauptästen (Madelung) in den meisten Fällen
sehr gute Dienste geleistet.
Die Mastdarmvaricositäten lassen sich durch Abbinden oder Ex-
stirpation, besser durch Abbrennen (Langenheck) nach Art von Gefäss-
Aneurysma varicosum. 577
g-escliwülsten dauernd beseitigen. Auch wird hier die Injection von
flüssiger Carbolsäure (einige Tropfen pro Knoten) als ungefährlich und
sicher anempfohlen.
Eine Combination von Aneurysma und Varicositätenbildung ist der
Varix aneurysmaticus, das Aneurysma varicosum oder das
Aneurysma arterio-venosum. Durch eine directe Communication ergiesst
sich arterielles Blut in eine benachbarte Vene. Die Entstehung dieser
Verbindung ist fast immer eine traumatische, am häufigsten eine Stich-
verletzung, die in beiden Gefässen ein Loch setzt, namentlich Aderlass,
dann Schüsse , seltener stumpfe , quetschende Gewalten ; am selten-
sten usurirt ein Aneurysma arteriale allmälig die Wand der Vene und
bricht in diese durch. Die Communication ist bald eine directe, so dass
die Wände beider Gefässe unmittelbar verwachsen. Es bildet sich dann
nur eine örtliche Ausbuchtung der Venenwand,
ein „Varix aneurysmaticus" (Fig. 479). Ein Fig.479.
anderes Mal ist die Verbindung nicht eine so
directe, sondern zwischen beiden Gefässen liegt
ein aneurysmatischer Sack und man hat dann
die Varietät des Aneurysma varicosum. In
diesem Falle hat zunächst das Blut aus dem ver-
letzten Sack in die umgebenden Weichtheile sich
eingewühlt, hier ein traumatisches Aneurysma ge-
bildet und dann erst den Uebertritt in das
Venenlumen gefunden.
Ein Theil des arteriellen Blutes tritt in die
Vene über, dieselbe erweitert und verdickt sich
varicös, ein hoher Druck (bis 20 Mm. Hg) herrscht
in derselben, doch ist in der Vene gewöhnlich keine Pulsätion vorhanden.
Der periphere Theil der Arterie dagegen ist schlecht gefüllt. So resul-
tiren für die betreffenden Theile bei vermindertem arteriellen Druck
und übermässiger venöser Spannung schwere Störungen des Blutstromes,
Stauung mit allen ihren üblen Folgen (s. pag. 10), namentlich Atrophie
der Musculatur, Störungen der Sensibilität und Motilität, Paresen, Ge-
schwürsbildung u. s. w.
Ueber wiegend häufig ist die Ell beuge Sitz des Uebels, das übrigens,
seit der Aderlass aus der Mode gekommen, ungemein selten geworden ;
ebenso ist es mit der Stirn, wo früher die Arteriotomia temporalis zur
Entlastung der Gehirncirculation gemacht wurde. Sonst kommt noch die
Schenkelbeuge in Betracht. Bemerkenswerth ist, dass bei Varix aneu-
rysmaticus der Schenkelgefässe wegen der eigenthümlichen Klappen-
anordnung in der V. saphena eine Ausdehnung der peripheren Venen
nicht erfolgt, die an der oberen Extremität nie ausbleibt.
Die Diagnose ist unter Berücksichtigung der Oertlichkeit , der
vorausgegangenen Verletzung , der Spannung der Venen , der chroni-
schen Stauung, der Geschwulst, die meist pulsirt, nicht schwer und
wird durch ein systolisch verstärktes Sausen in der Geschwulst sicher
gestellt.
In der P>ehandlung ist von Compression der Geschwulst, Massage,
Einwieklungen u. s. f. nicht viel zu hoffen. Ebenso haben die Digital-
oder Pelotencompression und die Unterbindung der zuführenden Arterie
nur vereinzelte Erfolge gehabt. Nur die Freilegung der Geschwulst und
Landerer, Allg. chir. Pathologie U.Therapie. 2. Aufl. 37
578 VIII. Capitcl. — Krankheiten der Blutgefässe.
doppelte Unterbindung sowohl der Arterien , als der Venen und Ex-
stirpation des Sackes sichert gegen Misserfolge. Sollte sich die Exstir-
pation des Sackes als zu schwierig und zeitraubend erweisen, könnte
man sich mit der Unterbindung, Spaltung und antiseptischen Tamponade
begnügen. (Vergl. Aneurysmen.)
Echte Neubildungen gehen selten primär von den grösseren
Blutgefässen aus. DieGefässgeschwülste, die wir pag. 329 erwähnten,
gehen wohl meist von den Capillaren aus. Ebenso nehmen die Angio-
Sarkome ihren Ausgangspunkt von den kleinsten Gef ässen . Vergl. pag. 335.
Dass in vielen Neubildungen, wenn diese „cavernös entarten", die Blut-
gefässe einen sehr erheblichen Bruchtheil der Geschwulst ausmachen,
ja oft in erster Linie hervortreten (Struma aneurysmatica u. s. w.), ist
auch schon erwähnt.
Die Fortsetzung bösartiger Neubildungen auf Venen ist allerdings
von wesentlicher Bedeutung. Wenn ein Sarkom — bei Carcinomen ist
dies seltener — in eine Vene hineinwächst, so bildet sich ein aus
Sarkomgewebe bestehender Thrombus, der losgerissen, fortgeschwemmt
werden und an anderer Stelle eine Metastase hervorrufen kann (Weigert).
Insofern hat die secundäre Venensarkomatose eine äusserst wichtige Be-
deutung für die Metastasirung bösartiger Neubildungen. Sie kommt
auch bei Carcinomen häufiger vor, als bisher angenommen wurde.
IX. Capitel.
Krankheiten des Lymphsystems und des Bindegewebes.
Acute und chronische Entzündungen der Lymphdrüsen. — Syphüis und Tuberculose.
— Neubildungen. — Entzündungen der Lymphgefässe, Lymphvarix.
Krankheiten der Lymphdrüsen und Lymphgefässe sind
gewöhnliche Vorkommnisse der täglichen Praxis. Doch sind sie fast
nie primär, sondern — mit verschwindenden Ausnahmen — se-
sundär, d. h. Processe an anderen Orten und in andersartigen Geweben
ziehen die Lymphbahnen , in die die Lymphe entleert wird , in Mit-
leidenschaft.
Ist der primäre Process sehr ausgesprochen und in die Augen fallend, so machen
wir aus der Mitbetheiligung der Lymphbahnen nicht viel "Wesens. "Wenn z. B. bei einem
Krebs der Brustdrüse die Achseldrüsen geschwollen sind , so beachten wir dies wohl
mit, die Hauptsache bleibt uns aber doch immer der Krebs der Mamma. Anders steht
es in Fällen , wo der primäre Herd entweder sehr unbedeutend ist, eine kleine Haut-
abschürfung an der Zehe u. dergl., oder in inneren, unserer Untersuchung nicht direct
zugänglichen Theilen sitzt — innere Neubildungen zum Beispiel — , in diesen Fällen
ist der Anfänger oft geneigt, sich mit der Diagnose Entzündung u. s. f. der Lymph-
drüsen, Lj'mphgefässe zu begnügen und den primären Sitz zu übersehen. Gerade hier
gilt es aber, das ganze periphere Gebiet, aus dem die betreffende Lymphdrüsengruppe
ihre Lymphe bezieht, zu durchsuchen, bis der Ausgangspunkt des Processes gefunden
und der ganze Vorgang durch und durch klar geworden ist.
Beifolgende Skizze (Fig. 480 nach Schenk) möge das Wichtigste
über den Bau der Lymphdrüsen in Erinnerung rufen.
Die Entzündungen der Lymphdrüsen, Lymphadenitis, sind acute
und chronische. Die acute Lymphdrüsenentzündung tritt in ver-
schiedenen Formen auf, als einfache Schwellung mit Hyperämie und
seröser Durchtränkung , als Infiltration mit Rundzellen , die sich bis
zur Vereiterung und zum Lymphdrüsenabscess steigern kann (Lympha-
denitis purulenta, Bubo).
Die Ursachen der acuten Lympbdrüsenentzündung sind fast
immer bacterieller Art. Die Eingangspforte ist häufiger nur eine gering-
fügige, oft übersehene Verletzung als eine grosse Wunde. So schliesst
sich an kleine Verletzungen der Zehen eine acute Entzündung der
Schenkeldrüsen, an Abscheuerungen oder geschwürige Processe an den
Genitalien (Ulcus molle) eine Entzündung der Inguinaldrüsen an (Bubo
virulentus, venereus). Doch können Drüsenschweilungen auch in anderer
Weise entstehen, z. B. durch ungewohnte starke Anstrengungen der be-
37*
580 1-^- tlapitel. — Krankheiten des Lyirijjli.systorns und des I5indegewebe.s.
treffenden Körpertheile. So findet sich bei Recruten während der Aus-
bildung- im Marschiren häufig Schwellung der Femoraldrüsen, auch ohne
Wunden. Man hat diesen nicht auf Infection beruhenden, nicht „viru-
lenten" Bubo auch — unpassend genug — Bubo rheumaticus genannt.
(Manche der „rheumatischen" Bubonen haben aber eine andere Ursache,
z. B. Tuberculose; s. unten.) Diese „rheumatischen" Bubonen vereitern
fast nie. — Klinisch machen die LymphdrüsenentzLindungen meist ziem-
lich deutliche Symptome. Ich kann auf pag. 144 verweisen, wo auch
die Behandlung der infectiösen Bubonen besprochen ist. Für den nicht
Fig. 480.
Drüsenelement
hängt mit dem
Zellbalken
zusammen
Einsenkung
der Kapsel
zwischen den
Drüsen-
elementen
Kapsel
Zellbalken
Mark-
snbstanz
Portsetzung
der Kapsel
in die Mark-
substanz
Mit Injections-
masse gefüllte
Eäume in der
Marksubstanz
virulenten Bubo genügen meist Ruhe, feuchte Umschläge. Manchen Pa-
tienten ist Eis angenehm.
, Die chronische entzündliche Schwellung der Lymph-
drusen hat verschiedene Bedeutung, je nachdem sie eine örtliche ist
oder eme allgemeine. Die erstere weist darauf hin, dass in dem Gebiet
der betreöenden Lymphdrüsen eine chronische Entzündung sich abspielt
z. B, bei, einer einseitigen Schwellung der Inguinaldrüsen eine Hüft-
gelenkentzündung.
Die allgemeine chronische Lymphdrüsenschwellung ist
t^st immer ein Zeichen einer latenten chronischen Infec-
tionskrankheit und insofern von hoher diagnostischer
Bedeutung.
Entzündung und Tuberculose der Lymphdrüsen. 5 81
Hauptsäclilicli handelt es sich um Lues und um Tuberculose. Besonders charak-
teristisch ist in dieser Beziehung die Schwellung solcher Drüsen, die nicht häufig durch
örtliche Processe anschwellen, wie der Cubitaldrüsen, der Präauriculardiüsen u. s. f. —
Die Drüsen lassen sich meist als erbsen- bis bohnengrosse, nicht besonders empfindliche,
harte (namentlich bei Lues), leicht verschiebliche Knoten durchtasten. Doch sind die
einzelnen Individuen, was die Entwicklung und Fühlbarkeit der Diüsen betrifft, auch
innerhalb der Grenzen des Normalen sehr verschieden.
Die Syphilis macht an Stellen, wo z.B. gerade syphilitische Localprocesse
sich abspielen, Drüsenschwellungen von grösserer Ausdehnung. Die einzelnen Drüsen
werden walnussgross, hart, bleiben aber wenig empfindlich und verlöthen fast nie mit-
einander (im Gegensatz zum Bubo venereus). Ohne besondere Zwischenfälle (Verletzun-
gen u. s. f. oder Combination mit weichem Schanker) kommt es auch nicht nur
Eiterung.
Im Anschlüsse an den Bubo venereus (vergl. pag. 388 ff.) kommt es in seltenen
FäUen zur Umwandlung des Abscesses in ein chankröses GeschAvür mit eiterig-speckigem
Grund , scharf abfallenden zerfressenen Rändern und der Tendenz zur weiteren ge-
schwürigen Einschmelzung. Auskratzen und Ausbrennen, Aetzung mit Chlorzinklösung
(bis 1 : 1) oder Kali causticum , dann Verband mit Chlorzinklösung (0'57o) , essig-
saurer Thonerde (2 — 47o) oder Chlorwasser sind angezeigt.
Ein häufiges Vorkommniss und eine gewöhnliche Theilerscheinung
der Scrophulose (s. pag. 177) ist die Tuberculose der Lymph-
drüsen. Typisch sind die tuberculösen (oder scrophulösen) Lymph-
di'üsenschwellnngen am Halse, seltener sieht man sie als Schenkel- u. s. w.
Inguinaldrüsentuberculosen.
Der primäre Herd wird selten vermisst ; bald ist es ein scrophulöses Ekzem der
behaarten Kopfhaut, bald ein chronisches Augen- oder Ohrenleiden ; häufiger noch eine
scrophulose Affection der Nasenschleimhaut (Ehinitis scrophulosa , Ozaena scrophulosa,
chronischer Schnupfen, Stockschnupfen), chronischer Rachenkatarrh mit Affection der Ton-
sille oder Caries der Zähne (vergl. pag.177). Zunächst schwellen die Drüsen zu haselnuss-
grossen, massig weichen, mit der Umgebung kaum verlötheten, etwas druckempfindlichen
Knötchen an. Auf diesem Stadium bleiben sie oft lange und werden bei Besserung
des primären Leidens auch wieder kleiner, bleiben jedoch fast immer fühlbar. Oder
sie wachsen weiter, verlöthen unter einander und bilden nun kleinapfelgrosse Knollen,
die, schon von weitem sichtbar, schliesslich zu über faustgrossen Tumoren an-
schwellen und nun durch ihre Grösse stören und auch sehr entstellend wirken.
Schmerzen machen sie auch jetzt nicht besonders. In diesem Stadium können sie oft
lange verharren. Häufig aber schicken sie sich zum Aufbruch an. Sie verlöthen mit der
Haut, werden weicher, undexitlich üuctuirend; die Haut röthet sich langsam im Ver-
laufe von AVochen , spitzt sich allmählich zu und bricht endlich durch. Doch entleert
sich zunächst nur wenig krümlicher Eiter unter geringem Druck; später entleeren sich
dann einmal deutliche käsige Massen, zum Theile sogar Kalkkrümel; dann wird die
Secretion dünner und weniger; eine blassgelbgraue Jauche wird abgesondert, aber die
Stelle heilt nicht ; die Haut ist unterminirt , blasse blaurothe ödematöse Granulationen
liegen zu Tage und. hängen aus der Fistel heraus. Man hat ein Ulcus tuberculosum
sinuosum fistulosum (vergl. pag. 395). An anderen Stellen bricht mittlerweile eine zweite
Drüse auf und wandelt sich in gleicherweise in eine stets eiternde Fistel um. Schliesslich
kommen auch die tiefen Drüsen, z.B. in der Carotidenfurche , dran; sie bilden oft
Senkungen längs der Halsmuskeln , ehe sie die Fascie durchbrechen und machen so
lange Gänge. Hier heilt schliesslich eine Fistel zu, dort bricht eine auf und der ganze
Hals ist in eine abscheuliche Fläche von Narben, Fisteln und Geschwüren verwandelt.
Die Diagnose ist nach dem Vorausgehenden nicht schAver.
Die Exstirpation der noch nicht aufgebrochenen Drüsen ist nicht
schwer, namentlich wenn man die Drüsen möglichst stumpf heraushebt.
Leider schützt die Exstir|)ation nicht vor Recidiven. Manche Fälle
werden durch Arsenik (bis üOlö täglich I) innerlich ganz crhel)lich ge-
bessert, selbst geheilt. Ich habe mit Zimmtsäure flocal, intravenös und
glutäal injicirt) sehr schöne Erfolge gehabt.
Die Igni^jimctur der Drüsen ist auch mit Nutzen gemacht worden
(Genzmer). Die fistulösen Fälle behandle ich mit l'erubalsam ; bedecke
582 IX. Capitel. — Krankheiten des Lymjihsystems und des Bindegewebes.
die geschwungen Stellen mit Perubalsampfiaster (1 : 3 — 4 Heftpfiaster-
masse), spritze die Gänge mit Perubalsamäther (l :3 — 4) aus, schiebe
mit Perubalsam getränkte Gazestreifen oder Wieken in die Fisteln ein,
spalte dieselben auf der Hohlsonde oder erweitere und kratze sie aus.
Histologiscli findet man zunäclist eine mächtige Durchsetzung der Drüsensubstanz
mit weissen Blutzellen, dann bald Verkäsung mit Riesenzellen (siehe Fig. 17ß). Bacillen
sind meist nur in geringer Zahl vorhanden , dagegen lässt die Leichtigkeit der Ver-
impfung von Tuberculose aus käsigen Lymphdrüsen auf die Anwesenheit von Sporen
schliessen. Oft stellt sich Verkalkung und Verkreidung ein.
Dem äusseren Ansehen nach ähnliche Lymphdrüsentumoren machen
auch andere Krankheiten, die Leukämie und Pseudoleukämie. Dann
kann die Diagnose schwanken zwischen scrophulösen Lymphdrüsenge-
schwülsten und Lymphosarkom (vergl. pag. 342 und Fig. 322). Klinisch
ist die dififerentielle Diagnose oft nicht so leicht, umsomehr , da auch
das Lymphosarkom oft durch Arsen innerlich und örtliche Injectionen
beeinflusst wird. Doch wächst das Lymphosarkom rascher , zeigt noch
mehr Neigung zur Verlöthung der Tumoren unter einander und mit
der Nachbarschaft (Gefässen u. s. w., Haut) ; auch sind die Geschwülste
im Ganzen grösser, weniger verschieblich und noch weicher.
Der Epithelialkrebs der Lymphdrüsen ist stets secundär. Es
handelt sich um harte , knollige , rasch mit Haut und Unterlage ver-
löthende Geschwülste, die durch Druck auf Nerven und Gefässe meist
früh Schmerzen und Circulationsstörungen hervorrufen. Die Knoten
selbst sind nur wenig druckempfindlich. Wenn möglich, sind sie sobald
als möglich zu entfernen.
Von den Krankheiten der Lymphgefässe sind die Entzün-
dungen die häutigsten. Die Lymphgefässe bestehen aus einer Endothel-
lage auf elastischer Membran ruhend (Intima), darauf folgt die aus
ringförmig angeordneten Muskelfasern bestehende Media und darüber
eine Adventitia.
Die Lymphgefässentzündung, Lymphangitis, LymphangioitiS;,
ist ausnahmslos bacterieller Natur. Der Process nimmt seinen Aus-
gang von einer kleinen Wunde, z. B. an unreinlich gehaltenen Zehen oder
Füssen oder an den Fingern. Längs des Armes oder Beines ziehen nun
längliche rothe schmerzhafte Streifen herauf nach den Lymphdrüsen-
gebieten ; z. B. an der Innenseite des Armes oder Beines. Seltener sind
mehrere Streifen netzförmig mit einander verbunden. Die Streifen fühlen
sich hart an und sind schmerzhaft. Lymphthromben finden sich häufig,
die Lymphe ist leichter gerinnbar. Stets ist intensives Resorptionsfieber
mit intensivem Krankheitsgefühl vorhanden (s. pag. 144).
Eine massige Schwellung der Lymphdrüsen schliesst sich immer
an, doch braucht es keineswegs zur Vereiterung derselben zu kommen.
Die Möglichkeit , dass an eine Lymphangitis sich ein schwererer
Process — eine Septikämie — "anschliesst oder eine solche unter dem
Bild einer Lymphangitis einsetzt , ist stets gegeben und der Process
deshalb immer als ein ernster aufzufassen (vergl. pag. 161).
Die Annahme VerneuiVs^ dass die Lymphangitis stets auf Strepto-
kokkeninfection beruhe, ist nicht richtig. Fischer und Levi/ (Deutsche
Zeitschr. f. Chir., XXXVI, Lit.) sahen bei Lymphangitis 5mal Staphylo-
coccus albus, Imal aureus, Imal Bacterium coli ; in Lymphdrüsenabscessen
4nial Staphylococcus albus, Imal albus und aureus, 2mal Staphylococcus,
Imal albus und Streptococcus zusammen. Bei der Behandlung ist zu-
Lymphgefässentzündung. 583
nächst der prioiäre Herd breit zu incidireii und durch feuchte anti-
septische Umschläge zu desinficiren. Dann wird Arm oder Bein hoch
gelegt und mit grossen Compressen , in dünne antiseptische Lösungen
(Salieyllösung , Sublimat 1 : 3000 — 1 : 5000 u. s. f.) getaucht, umhüllt.
Darüber kommt wasserdichter Stoff, z. B. Guttaperchapapier. Absolute
Ruhe ist unerlässlich. Hiebei schwinden die örtlichen und allgemeinen
Erscheinungen meist rasch. Etwa sich bildende kleine Abscesse längs
der Lymphgefässe sind antiseptisch zu eröffnen. Später können Ichthyol-
lanolinsalben (1 : 10 — ^1 : 1), Quecksilbersalben, Quecksilberpflaster (In-
toxication !) zweckmässig sein.
Erweiterung der Lymphgefässe — nach Art der Venen-
varicositäten — kommt vor , wenngleich nicht häufig. Diese Lymph-
varices scheinen noch am ehesten bei der Filariakrankheit sich einzu-
stellen , wo die centralen Partien des Gefässes durch die Embryonen
des Wurmes verstopft werden und dann die peripheren ektatisch werden
zu rosenkranzartigen, milch weissen Strängen. Sie platzen gelegentlich
und geben dann Anlass zur Lymphorrhagie (s. pag. 97 und 126,
Lymphabscess).
Neubildungen localisiren sich selten in Lymphgefässen , sondern
vorwiegend in den Lymphdrüsen (Carcinome).
Das lockere Zellgewebe, das Wurzelgebiet des Lymphsystems,
wird selten als Ausgangspunkt von Krankheiten angesehen , obgleich
sowohl Neubildungen (Sarkom u. s. f.) davon ausgehen und auch andere
Krankheiten, wie Tuberculose, sich daselbst localisiren können (primäre
Zellgewebstuberculose). Es hat jedoch eine wesentliche Bedeutung als
die vorgeschriebene Strasse , auf der flüssige Ergüsse sich verbreiten.
So wandert das ergossene Blut im Zellgewebe , theils dem Lymph-
strom, theils der Schwere folgend ; und in ihm macht der Eiter seine
Senkungen und legt dabei oft weite Wege zurück — von der Wirbel-
säule zum Oberschenkel u. dergl.
Verzeichniss der Holzschnitte.
Fig. 1.
„ 2.
„ 3.
„ 4.
„ 5.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
Seite
Weisser Thrombus 15
Eotlier Thrombus in Organi-
sation 16
Canalisation des Thrombus . . 17
Schema der Embolia .... 17
Schema der normalen Circula-
tion in der Schwimmhaut
des Frosches 23 .
Entzündl. Strombeschleunigung 24
Entzündl. Stromverlangsamung 25
^ ^ . ^, . r 25
I Formen von weissen Bmt- 1
( Zellen nach Leivandoivski j .
Phagocyten 26
Staphylococcus pyogenes, Eein-
cultur 30
Streptococcus pyogenes, Eein-
cultur . 30
Eiter, mikroskopisch .... 33
Colloidentartung nach Wölf ler 48
Formen der Bacterien .... 52
Milzbrandbacillen 53
Frischer pyämischer Herd in
der Niere 62
Gelatineplatte 63
Staphylococcusculturen auf J 63
Gelatine \ 63
Micrococcus tetragenus auf Kar-
toffel 64
Hefezellen 64
Soorpilz 64
Aspergillus glaucus 64
Favuspilz 65
Trichophyton tonsurans ... 65
Malariaplasmodien 65
Protozoen 66
Seite
Fig. 30. Plasmatische Circulation nach
Thiersch 70
„ 31 . Heilung per primam inten-
tionem, schwache Vergröss.
„ 32. Heilung per primam inten-
tionem, stärkere Vergröss. .
„ 33. Gefässneubildung nach Ziegler
„ 34. Junge Granulationen , mikro-
skopisch
,, 35. Epithelioide Zellen aus Granu-
lationen nach Ziegler . .
„ 36. Aeltere Granulation
„ 37. Zellen aus jungen Narben nach
Ziegler
,, 38. Heüung per secundam inten-
tionem 78
„ 39. Wunde der Cornea nach «j.PF^/ss 81
„ 40. Eegeneration der Cornea nach
Ti
41. Eegeneration des Muskels nach
0. Weher
82
,,
42.^
r84
))
43.
84
,,
44.
Nervenregeneration nach
84
„
45.
Eichhorst
85
»
46.
85
„
47. J
Uö
n
48.
49.
50.
\ Nerven regen er ation nach
i GlucTc
86
86
86
„
.51.
Aeltere Narbe
87
„
52.
Hämatom nach Virchow . .
100
„
53.
Unterbindung m. Köberle'sdher
Zange 101
54. UnterhininngmitLangenbecJc-
scher Zange 101
Verzeichniss der Holzschnitte.
585
Seite
Fig. 55. Verschiedene Arten von Unter-
bindungspiucetten .... 102
„ 56. Unterbindungszange n. Spencer
Wells 103
„ 57. Unterbindungspincette nach
V. Bergmann 103
„ 58. Torsion (^Lwer'sche Arterien-
zauge) 103
„ 59. Unterbindungshaken .... 103
„ 60. Aneuiysmanadel 103
„ 61. Torsion nach Ämussat . . . 103
„ 62. Umstechung 104
„ 63. Zange nach Pean-Köberle . . 104
„ 64. Acupressur 105
„ 65. Acufilopressur 105
„ 66. FreileguDg einer Arterie . . 105
„ 67. Unterbundene Arterie . . . 106
„ 68. Blutstillung durch forcirte Beu-
gung in der Hüfte .... 107
„ 69. Blutstillung durch forcirte Beu-
gung in der Schulter . . .108
., 70. Blutstillung durch forcirte Beu-
gung im Ellbogen .... 108
., 71. G-efässverschluss nach i?aa6 . 109
,, 72. Dasselbe , stärkere Vergrösse-
rung 110
„ 73. Regeneration der Intima nach
Zahn 111
^ 74. Dasselbe 111
„ 75. Gefässunterbindung , schemat. 112
„ 76. CoUateralkreislauf nach £"&£?; 112
„ 77. JEswarcA'sche Eimvicklung . 113
„ 78. Abschnürung mit Schlauch . 113
„ 79. Abschnürung mit elastischer
Binde 113
.. 80. Digitalcompression der A.
feraoralis 114
„ 81. Scliraubentourni([uet n. Petit 115
" ^' Knebeltourniquets ... I ^
„ 83. I Ul6
,. 84. Aortencompressorium . . .116
„ 85. Verblutungscnrve 118
„ 86. Infusion 123
. 87. Aderlass 125
„ 88. Staphylococcns pyogen, aureus 136
„ 89. Dasselbe, Gelatinestichcultur 137
_ 90. Gelatinestichcultur d. Staphylo-
coccns cerens 138
„ 91. Gelatinestichcultur d. Strepto-
coccus pyogenes 138
Fig. 92.
„ 93.
„ 94.
„ 95.
„ 96.
„ 97.
„ 98.
„ 99.
„ 100.
„ 101.
., 102.
„ 103.
„ 104.
„ 105.
„ 106.
., 107.
„ 108.
„ 109.
. 110.
„ 111.
„ 112.
. 113.
„ 114.
, 115.
„ 116.
„ 117.
,, 118.
., 119.
„ 120.
„ 121.
122.
„ 123.
„ 124.
.. 125.
„ 126.
„ 127
,. 128.
. 129.
., 130.
„ 131.
r, 132.
.. 133.
Seite
Pneumoniediplokokkeu . . . 139
Bacillus des blauen Eiters . 139
Erysipelkokken 146
Temperaturcurve des Erysipels 148
Temperaturcurve der Pyämie 152
Streptokokken 153
Junge Streptococcencolonie in
der Niere 154
Pyämischer Eiter . . • . . . 154
Curve der Septikämie . . .156
Rauschbrandbacillen . . . .158
Bacillus der Mäuseseptikämie 159
Bacillus der Kaninchensepti-
kämie 159
Bacillus des malignen Oedems 159
Bacillus oedematis maligni,
Glycerinagarcultur . . . .160
Tetanusbacülen 164
Gelatinecultur des Tetanus-
bacillus 164
Rotzbacülen 166
Milzbrandbacillen 168
Gelatinecultur des Milzbrand-
bacülns 168
I Actmomyces
Tuberkelbacillen 175
Tuberculöse Granulation . . 176
Blutserumcultur des Tuberkel-
bacillus 176
Leprabacillus 182
Rhinosklerombacülen .... 183
Offene Wundbehandlung . . . 186
L-rigation 187
Aseptischer Operationssaal . 197
Instrumentensterilisator . . 200
Tupfer 201
"Wassersterilisator 201
Drainröhren 204
Verschiedene Arten von Nadeln 211
Nahtanlegung 211
Nadelhalter nach Boux . . 212
Nadelhalter nach Dieffen-
hacJi, Roser, Collin . . . 212
Nadellialter nach Hagedorn 213
Drahtschnürer 213
1 ^^""1''-'^'* l!u
Verschii;denc Arten der Faden-
knotung 214
586
Verzeichniss der Holzschnitte,
Seite
Fig. 134. Matratzen nalit, 215
„ 135. Kürschnernaht 215
„ 136. Fortlaufende Naht .... 215
„ 137. Zapfennaht 216
„ 138. Perlnaht 216
„ 139. Umschlungene Naht .... 216
„ 140. Versenkte Naht 216
„ 141. Darmnaht 217
„ 142. Serres fines . . . . . . .217
„ 143. Brandblase nach Ziegler . 220
„ 144. Brandnarben nach Bruns . 224
„ 145. Blitzfiguren nach Heusner 225
„ 146. Esmarch' sehe Maske . . . 231
„ 147. Tropfflasche 232
„ 148. Junker'scher Apparat . . . 233
„ 149. i^oser'sche Kieferzange . . 236
„ 150. Mundspiegel nach Heister . 236
„ 151. Zungenzange , 237
„ 152. Englischer Handgriff ... 237
„ 153. Lüften des Unterkiefers nach
Kappeier 238
„ 154. Zungenhalter nach Gutsch . 238
„ 155 ö und b. Künstliche Athmung
nach Silvester 240
„ 156. Aethermaske nach Wanscher 245
„ 157. Aetherspray 248
„ 158. Aethylchloridspray .... 249
„ 159. Verschiedene Scalpellformen 250
„ 160. Verschiedene grosse Messer 251
. 161. j f 251
„ 162. I Verschiedene I 251
„ 163. I Messerhaltung I 251
„ 164. I l 251
„ 165. I [ 252
„ 166. I Verschiedene Arten der ) 252
„ 167. Incision | 252
„ 168. ' ^ 253
„ 169. Wundhaken 254
1 Verschiedene Scheeren j ^-j,
,^^'1 und Scheerenführung 1 ^,^
„ 172. -• l 255
„ 173. Amputation des Unterschen-
kels mit einzeitigem Cirkel-
schnitt 255
„ 174. Easpatorium . 256
„ 175. Sägen 256
„ 176. Knochenzangen 256
„ 177. Schema der Lappenschnitte 257
„ 178. Exarticulation am Fusse mit •
Doppellappen 257
Seite
Fig. 179. Cirkel-; Lappen- und Man-
schettenschnitt am Unter-
schenkel :^58
„ 180. Lappenschnitt am Ober-
schenkel 259
" ■ I Piroaoff'sche osteoplasti- [
„ 182. ■^r^ , _.^ 260
" sehe Amputation
„ 183. I I 260
„ 184. Exarticulation am Fusse . . 262
„ 185. Handgelenksexarticulation
mit Cirkelschnitt .... 262
„ 186. Daumenexarticulation mit
Ovalärschnitt 262
" ■ 1 Resection im Schulter- (
„ 188. \ , , 264
" gelenk
„ 189. J ' 265
„ 190. Eesection im Kniegelenk . . 265
„ . 191. Resectionsmesser 266
„ 192. Resectionszangen 267
„ 193. Elevatorien 268
„ 194. Stichsäge 268
„ 195. Kettensäge 268
„ 196. Bogensäge 269
„ 197. Meissel, verschiedene Arten 269
„ 198. Meisselführung 269
„ 199. Knochenbohrer 270
„ 200. Gefensterter G-ipsverband . 271
„ 201. Ecraseur 272
„ 202. Scharfe Löffel 272
„ 203. I Thermokauter nach | . . 272
„ 204. 1 Paquelin \ . . 272
205. -i / ... 273
" 9f\R I Gralvanokaustisclie |
l 207.') Instrumente [; ; ; ^73
l 208. ^ r 274
„ 209. Plastische Operationen • 274
„ 210. I ' 275
„ 211. Ehinoplastik aus dem Arme 276
„ 212. Rhinoplastik aus dem Gesicht 277
„ 212 a — d. Schema der Sehnennaht 279
„ 213. Peritendinöse Sehnennaht . 280
„ 214. Directe und paraneurotische
Nervennaht 280
„ 215. ) Technik des Binden- f . .281
„ 216. J wickelns i . . 281
„ 217. Cirkeltour 282
„ 218. Spiraltouren 282
„ 219. Umschlag (renverse) . . . 283
„ 220. Achtertour, Spica pedis . . 283
„ 221. Spica coxae , 283
Verzeicliniss der Holzschnitte.
58^
Fig.
222.
223.
224.
225.
226.
227.
228.
229.
230.
231.
232.
233.
234.
235.
236.
237.
238.
239.
240.
241.
242.
243.
244.
245.
246.
247.
248.
249.
250.
251.
252.
253.
254.
255.
256.
257.
258.
259.
2(iO.
261.
262.
263.
264.
265.
266.
267.
268.
Seite
Spica manus 283
Spica pollicis 283
Spica humeri 284
Stapes 284
Testudo genu 284
Einwicklung des Beins . . 285
Einwicklung der Hüfte . . 285
Compressorium mammae . . 285
Suspensorium mammae . . 285
Monoculus 285
Mitra Hippocratis 285
Capistrum duplex 286
Kinnschleuder 286
Vielköpfige Binde 286
Mitella, Armtragetuch . . . 286
Mitella parva 287
r287
287
287
287
287
287
288
288
288
J
] Pappverband am Unter- j 288
i Schenkel i 289
Pap])schiene für Eadiusbruch 289
Armholzschiene 289
Improvisirter Schienen ver-
band (Vorderarm) .... 289
Schienenverband für Radius-
bruch nach Böser
Verschiedene Tuch-
verbände
nach Wolzendorff
Improvisii'te Schienen
Einfache Schienen aus
Zinkblech
290
290
290
290
290
291
291
Schiene aus Drahtgitter . . 292
Gipstuchverbände 292
Gipsholzspanverband . . . 293
Brückengipsverband .... 293
] Verschiedene modiücirte | 293
1 Gipsverbände i 293
Gipshanfschienen nach lieelij 294
Gipstarlatanschienen nach
Herrtjoit 294
Abnehmen des Gip.^verbandes 295
Fig,
269.
270.
271.
272.
273.
274.
275.
276.
277.
278.
279.
280.
281.
282.
283.
284.
285.
286.
287.
288.
289.
290.
291.
292.
293.
294.
295.
296.
297.
298.
299.
300.
301.
302.
303.
304.
305.
306.
307.
308.
309.
310.
311.
312.
313.
314.
Seite
Gipsmesser 295'
Gipsscheere 295
Holzspan 296
Holzcorset 296
Zagverband am Unterschenkel 296
Extension am Bern .... 297
Verticale Extension .... 297
Schleifendes Fussbrett nach
Volkmann 297
j ( 298
I Zusammengesetzte Ex- ) 299
tensionsverbände j 300
' 300
Extension am Vorderarm . . 301
\ Extensionsverbände für ( 301
J den Oberarm y 301
\ Zugverbände mit elasti- | 302
i sehen Gurten l 302
Massage-Reiben 303
Massage-Streichen .... 304
1 ( 304
< Knetmassage i „^.
Effleurage 305
Klopfen und Hacken . . . 305
Vibration 306
.. ( ■ 306
Widerstandsgymnastik > .,„„
Zelleinschlüsse bei Carci-
uom 313
Narbensubstanz 319
Neurofibrom 319
Fibroma molluscum nach
Virchotv 320
Dasselbe, mikroskopisch . . 321
Keloid '322
Lipom 322
Myxomgewebe nach Ziegler 324
Myxom nach Virchow . . 325
Osteom 326
Enchondrom des Fingers . . 326
Enchondrom der Parotis . . 327
Fingerencliüiidroiii , Durdi-
schnitt 327
Myom, mikroskopisch . . 329
Gliomzellen nach Ziaßer . 329
Teleangiektasie 330
Cavernüses Angioni .... 330
Angiom, mikroskopisch . . 331
Blutcyste nach Gramer . 332
Sarkomgcwcbr 334
•588
Verzeichniss der Holzschnitte.
Seite
Fif;'. 315. Cystosarkoiu der Mamma
nach Albert 335
„ 316. Rundzellensarkom .... 336
„ 317. Spindelzellensarkom nach
Ziegler 337
.„ 318. Rieseiizellensarkom .... 338
„ 319. Centrales Osteosarkom des
Femur nach Virchoiv . . 340
„ 320. Periostsarkom des Femur
nach Virchoiv 340
„ 321. Cystosarcoma mammae pro-
liferum nach Albert . . . 341
„ 322. Lymphosarkom 342
„ 323. Spitzes Condylom 344
.„ 324. Spitzes Condylom , mikros-
kopisch, nach Kaposi . . 345
„ 325. Papillom der Blase .... 346
„ 326. Dasselbe, mikroskopisch . . 347
.„ 327. Epithelioma contagiosum . 348
„ 328. Hypertrophie der Mamma
nach Albert 349
„ 329. Fibroadenoma mammae . . 350
„ 330. Ovariencyste, schwache Ver-
grösserung ....... 351
„ 331. Dasselbe, stärkere Vergröss. 351
„ 332. Atherome des Kopfes . . . 354
„ 333. Atheromcyste 354
„ 334. Muskelcysticerken .... 356
„ 335. Echinococcus 356
„ 336. Häkchen aus Ecliinococcus-
blasen 356
„ 337. Krebs der Schilddrüse nach
Wölfler 357
-„ 338. Krebsige Infiltration einer
Lymphdrüse 359
,, 339. Krebs der Unterlippe, Lupen-
vergrösserung 362
,. 340. Dasselbe, mikroskopisch . . 363
„ 341. Vorgeschrittener Unterlippen-
krebs nach Bruns , . . 364
„ 342. Syphilitische Geschwüre des
G-esiclits nach Bruns . . 364
.„ 343. FlacherHautkrebs n. Thiersch 365
„ 344. Parafflnkrebs 366
„ 345. Zungenkrebs 367
,, S46. Pharynxkrebs 367
„ 347. Kehlkopfkrebs nach Tobold 368
,, 348. Mastdarmkrebs 368
.. 349. Brustdrüsenkrebs , Durch-
schnitt . 369
Heite
Fig. 350. Acinöses Carcinom d. Mamma 370
„ 351. Carcinomatöse Infiltration der
Mamma 371
,, 352. Tubulöses Carcinom der
Mamma 372
„ 353. Cancre en cuirasse nach
Billroth 373
„ 354. Cauterisation parallele . . 382
„ 355. Cauterisation circulaire . . 382
„ 356. Elephantiasis crnris nach
Albert 397
„ 357. Bau des hyalinen Knorpels
nach Schenk 399
„ 358. Faserknorpel nach Schenk . 400
„ 359. 1 Verknöcherung nach | 401
„ 360. i Schenk l 402
„ 361. Knochenbildung nach Stöhr 403
„ 362. Bau des Knochens . ... 4:04:
„ 363. Dasselbe , nach Stöhr . . .405
„ 364. Knochenresorption nach
Stöhr 406
,, 365. Knochenbildung aus Binde-
gewebe nach Stöhr . . . 406
„ 366. Metaplastische Knochen-
bildung 407
„ 367. Rhachitis 410
" o/ifx' ( Riesenwuchs nach ylZÄerH _„
„ oo9. > ( 413
„ 370. Eingekeilte Schenkelhals-
fractur 418
„ 371. Dasselbe, Durchschnitt . . 419
„ 372. Querbruch 419
„ 373. Schrägfractm- der Tibia . . 420
„ 374. Lochschussfractur der Tibia 421
„ 375. Compressionsfractur eines
"Wirbels nach Albert . . 422
„ 376. T-Fractnr des Hnmerus nach
Albert 422
„ 377. Splitterfractur des Unter-
schenkels nach Albert . . 423
„ 378. Epiphysenlösung d. Humerus
nach AlbeiH 423
„ 379. Radiusfractur von der Seite
nach Albert 425
„ 380. Dasselbe, von der Volarseite
nach Albert 425
., 381. Schema der Dislocationen . 426
„ 382. Provisorischer Callus ... 431
„ 383. CaUusbildung 433
„ 384. Heister'sche Lade .... 435
Verzeichniss der Holzschnitte.
589
Fig.
385.
386.
387.
388.
389.
390.
391.
392.
393.
394.
395.
396.
397.
398.
399.
400.
401.
402.
403.
404.
405.
406.
407.
408.
409.
410.
411.
412.
413.
414.
415.
416.
417.
418.
Seite
Blechscliieuen für den Unter-
schenkel 435
Extensious verband am Ober-
arm nacb Hamilton . . . 438
T. ■ (438
Gehverband nach Bruns y
Gehverband nach Braatz 439
l Gehverband nach Heussner 440
Gehverband 441
Gipsgehverband 441
Malgaiffne'schev Stachel . . 441
Malgaiffne' sehe Klammer . 442
Psendarthrose des Humerus
nach Albert 451
Callusverschmelzung am Vor-
derarm nach Albert . . . 453
Luxatio humeri axillaris
(halbscliematisch) .... 459
Luxatio humeri subcoracoidea
nach Albert 462
Eeposition einer EUbogen-
luxation nach Albert . . 464
Nearthrose nach Humerus-
luxation 467
Angeborne Luxation im Hüft-
gelenk nach Albert . . . 469
Lochschuss der Tibia , . . 475
Roentgenphotographie (Kugel
im Oberarm) 480
Nekrosis tibiae (schematisch) 486
Nekrotische Fibula .... 487
Todtenlade der Tibia mit
Sequester 487
Osteomyelitische Verände-
rungen an den Gelenkenden
der Til)ia 488
Verschiedene Arten von
Seque.stern 488
Sjq)hilitische Nekrose des
Schädels nach Albert . . 493
Osteosclerosis cranii .... 494
Normales Knie > / 498
Hydroi)S genu \ \ 498
r,, , , . Albert ,oq
luljcrculosis geuu > \ 49o
Taijlor- H^oZ/Tscher Apparat
nach Albert 502
Punctioiisspritze 504
Troicart 504
Function 504
Seite
Fig. 419. Troicart nach Fräntzel . . 505
„ 420. Aspirator nach Dieulafoy . 505-
„ 421. Arthritische Gelenkverände-
rung, histologisch .... 509
„ 422. Arthritis deformans des
Schenkelkopfes 512
„ 423. Tabische Zerstörung des Hüft-
gelenks 515-
„ 424. Gelenkmaus . 517
„ 425. Stellungsänderung beiCoxitis
nach Albert 519
„ 426. Normales Knie 520
„ 427. Seröser Knieerguss .... 520
„ 428. Knietuberculose 520
„ 429. Verschiedene Formen von
Sequestern 523
„ 430. Tuberculöser Herd im Con-
dylus femoris nach
Volkmann 523
„ 431. Tuberculöser Herd i. Schenkel-
hals 524
„ 432. Tuberculöse Granulation . . 524
„ 433. Durchschnitt durch eineTuber-
culose des Hüftgelenkes . 525
„ 434. Cariöse Zerstörung d. Schenkel-
kopfes 525
„ 435. Spontanluxation bei Coxitis
nach Albert 526
„ 436. Pfannenwanderung bei Coxitis
nach Volkmann .... 526
„ 437. Injectionsnadel nach S'cA« Wer 530
„ 438. Injectionsspritze n. Windler 530
„ 439. Injectionsstellena. Kniegelenk 530
„ 440. Injectionsstellen a. Hüftgelenk 531
„ 441. Injectionsstellen a.Fussgeleak 532
„ 442. Injectionsstellen am Ellbogen-
gelenk 532
„ 443. Injectionsstellen am Schnlter-
gelenk ....... 533
„ 444. 1 Verschiedene Formen von ( 536
„ 445. i Klumpfuss nach Albert l 536
„ 446. ] Klumpfussapparat nach [ 537
„ 447. 1 V. Brims ^ 537
„ 448. Plattfuss 538
„ 449. Sohlenabdrücke bei Plattfuss 538
„ 450. Spitzfuss nach Albert . . . 539
„ 451. Spitzfussapparatnach Bauer 539
„ 452. Hackenfuss nach Albert . . 539
„ 453. Genu valgum nach Albert . 540
. 454. lunercScliieneb.Genu valgum 541
590
Verzeichiiiss der Holzschnitte.
Seite
Fig. 455. Schienenapparat hei Genu
valgum 541
456. Skoliosis na,ch Albert .
457. Dasselbe, skelettirt", . .
458. Schiefhals nach Albert
459.
460.
461.
462.
Kniestreckmaschin en
{;
. 542
. 542
. 544
. 546
. 546
. 546
Fingerstreckmaschine
Kniemobilisirapparat nach
Albert 547
463. Myositis ossificans nach
Helferich 554
464. Verrenkung d.Peronealsehne 556
465. Endothel der Arterien . . . 565
466. Bau der Arterien und Venen 566
Seite
Fig. 467. Entzündete Arterie .... .566
„ 468. Verkalkte Arterie 567
„ 469. Beginn. Aneurysmabildnng 568
„ 470. Syphilis der Arterien . . . 569
„ 471. Spindelförmige Aneurysmen . 570
„ 472. Sackförmiges Aneurysma . . 571
„ 473. Aneurysma cirso'ideum . . . 573
„ 474. Venenvaricositäten des Unter-
schenkels 574
., 475. Varicocele 575
„ 476. Hämorrhoidalknoten .... 575
" *'^'^' 1 Künstliche Venenklappe [ ^"^^
„ 478. i ^^ i 576
„ 479. Varix aneurysmaticus . . . 577
,, 480. Bau der Lymphdrüsen . . . 580
Sachregister.
Die Ziffern bedeuten die Seitenzahlen.
A.
Ableitende Behandlung 40.
Abscess, acuter 31.
— -blutungen 99.
— kalter 521.
— periarticulärer 523.
Accidentelle Wundkrankheiten 134.
Actinomykosis 170.
Adenom 346.
— der Mamma 346.
— der Schüddrüse 349.
— des Ovariums 347.
— der Haut 352.
Aderlass 124.
Aethernarkose 244.
Aethylchlorid 248.
Aetzmittel 381.
Ainhun 396.
Alkoholismus 133.
Aluminium aceticum 207.
Amputationen 253.
Amputationsneurom 256, 564.
Amyloidentartung 47.
Anämie, örtliche 5.
— allgemeine 117.
Anästhesie 229.
— locale 248.
Aneurysma 568.
— cirsoidenm 572.
— varicosum 577.
Aneurysmanadel 103.
Angiom 329.
Ankylosis 544.
Anthrax 167.
Antiphlogose 39.
Antisepis 188, 206.
Aplasie 45.
Arterien, -Bau 565, -atherom 566,
-Verletzungen 110, -entzündung 565,
-Verkalkung 566, -Syphilis 568.
Arthrektomie 532.
Arthrotomie 531.
Arthritis deformans 511.
— Vera (Gicht) 509.
Asepsis 195.
Aseptische Wundbehandlung 196.
Atherom 353.
Athmung, künstliche 240.
Atrophie 45.
Aussatz 182.
B.
Bacterien 50.
— -toxine 55.
— -Virulenz 56.
Züchtung 63.
Bindenverbände 282.
Bismuthum subnitricum 192.
Bisswunden 98.
Blitzschlag 224.
— -figuren 225.
Blutcyste 332.
Blutdruck 119.
Blutegel 125.
Bluterkrankheit 99.
Blutcrsparniss 113.
Blutgehalt der Gewebe 4.
Blutgeschwulst 100.
Blutkörperchen, Auswanderung 23.
Blutleere (künstliche) 113.
592
Sachregister.
Blutresorption 93.
Blutung 67, 99.
Blutungen per diapedesin 100, spontane 100.
Blutstillung 101.
Blutvergiftung 155.
Blutverlust 117.
Folgen 124.
Borsäure 190, 207.
Brand 41.
Bromäthyl 247.
Bubo 144.
c.
Callusbildung 431.
— luxurians 453.
— -versclimelzung 451.
— -Verzögerung 449.
Caput obstipum 544.
Carbolsäure 189.
— -spray 188.
Carbunkel 386.
Carcinom 311.
— -parasiten 312. .
Carcinosis 360.
Catgut 188, 202.
Cellularpathologie 2.
CelluloidmuUverband 299.
Chancre, weiclier 388.
— harter 180.
Chloroform 229.
Clüorom 342.
Chlorzinkpaste 381.
Chromgut 203.
Cirkelschnitte 255.
Coagulationsnekrose 45.
Cocainanästhesie 248.
Collaps 127.
CoUateralkreislauf 17, 112.
Collodium 210.
CoUoid (CoUonema) 323.
CoUoidentartung 48.
Commotio 90.
Condylom 343.
Constitution sanomalien 133.
Contactinfection 190.
Contractur 647.
Corneawunden 81.
Creolin 207.
Crepitation 427.
Cutis pendula 320.
Cysten 332.
Cysticercus 355.
Cystoadenom 348.
— ovarii 349.
Cystom .348.
Cystoma proliferum papilläre 349.
Cystosarkom 336, 841.
D.
Dauerverbände 194.
DecoUement 97.
Decubitus 42.
Deformitäten 622.
Degenerationen 46.
Dehnung 91.
Delhibeule 396.
Dermoidcysten 355.
Delirium tremens s. alcoholicum 128.
— nervosum 132.
Desinfection 197.
Diabetes mellitus 133.
Distorsion 455.
Drainage 32, 204.
E.
Echinococcus 855.
Einspritzungen in Gelenke 504, 529.
Eiter 33.
— blauer 139.
Eiterkörperchen 34.
— -verhaltung 139.
Elephantiasis 396.
Elevation 11.
Emphysem, traumatisches 128.
— septisches 157.
Embolie 17, Fett- 18, Luft- 18.
Enchondrom 326.
Endarteriitis obliterans 568.
Englischer Handgriff 237.
Englisches Pflaster 210.
Entzündung 21.
— Cardinalsymptome 21.
— Schmerz 21, Cii'culationsstörungen 22,
Schwellung 28, physikalische Aende-
rungen 28.
— -Formen: parenchymatöse und inter-
stitielle 28, seröse 29» adhäsive 29,
eiterige 29, fibrinöse 34, croupöse 34,
hyperämische 29, hämorrhagische 34,
Sachregister.
,593
jauchige 34, brandige 3.4, tratimatische
35, neuroparalytische 35.
^Entzündung, chronische 38.
— -theorie 35.
— Ausgänge 38.
— -Eegeneration 38.
— Therapie (Antiphlogose) 39.
Epiphysenlösung, traumatische 429.
— spontane 416.
— osteomyelitische 488.
— tuberculöse 525.
— complicirte 447.
Epithelcyste 353.
Epithelialcarcinom 356.
Epitheloide Zellen 75.
Epizootien 165.
Epiilis 338.
Erfrierung 226.
Erschütterung 90.
Erysipel 145.
Exarticulationen 262.
Extensionsverbände 300, 437.
F.
Fascienerkrankungen 559.
Fettembolie 18, 128.
Fettgeschwulst 322.
Eettige Degeneration 47..
Fibroma 318.
— molluscum 320.
Fibrosarkom 338.
Fieber 140.
— aseptisches 134.
Fissuren 423.
Fluctuation 31.
Flnxion 9.
Fiactur 414, pathologische 416, osteo-
myelitische 487.
Fragilitas ossium 415.
Framboesie 395.
Fremdkörper in AVunden 80, 135.
Furunkel 385.
G.
Gallertcarcinom 361.
Galvanokaustik 272.
Ganglion 654.
Gangrän 42.
— diabetische 43.
I/andercT, Allg. cliir. Pathologie «. Therapie
Gangrän, neurotische 43.
— symmetrische 44.
Gangrene foudroyante 157.
Gefässgeschwülste 329.
Gefässnarbe 111.
Gefässneubildung 73.,
Gefässverschluss (Histologie) 110.
Gebverbände 438. .
Gelenke:
— Bau 454.
— -Brüche 429, complicirte 430.
— -entzündungen , anatom. Formen 494,
gichtische 509 , gonorrhoische 506,
metastatische 507 , bei Hämophilen
495, Bleiintoxication 511, scorbutische
511, syphilitische 508, neuroparaly-
tische 514.
— -erkrankungen , Diagnose 498, Ent-
stehungsweise 500, allgemeine Thera-
pie 501.
— -körper, freie 5.16.
— -neurosen 516.
— -mause 516.
— -rheumatismus, acuter 507.
— chronischer 513.
— -Schüsse 476.
— -Stellungen, entzündliche 499.
— -Verstauchung 455.
— -wunden 467.
Gemischte Narkose 243.
Genu valgum 539.
— varum 540.
Geschosswirkung 471.
Geschwüre 387.
Geschwülste 308.
— Diagnose 373.
Gicht 509.
Gipsverbände 289.
Glanzflnger 6.
Gliom 328.
Glieder, künstliche 263.
Granulom 395.
Granulation 74.
— Verklebung 80.'
— dcmarkirende 42.
Grützbeutel 353.
(jyninastik 306.
H.
Hackenfuss 539.
Hämartliros 455.
2. Aufl.
38
594
yacliregister.
Hämatom 10(5.
Hämophilie 99.
Hämorrhagische Diathese 99.
Hämorrhoidalkaoten 679.
Händereinigung 198.
Hängender Kopf 243.
Hauthorn 344.
Hautkrankheiten 384.
Hautkrebs, tiefer 362.
— flacher 364.
Hauttransplantation 274.
IIavers'sch.e Canäle 403'.
Hiebwunden 88.
Hitzschlag 226.
Holzstoff, Holzwatte 193.
Hornhautwunden 81.
Hospitalbrand 157.
Hüftverrenkang, angeborne 469.
Humor alpathologie 2.
Hundswuth 172.
Hyaline Entartung 48.
Hygrom 654.
Hyperämie, functionelle 5, arterielle 9,
venöse 10, passive 12.
Hypertrophie 49.
— der Mamma 349.
I.
Immersion 186.
Immunität 56.
Infiltrationsanästhesie 249.
Infractionen 422.
Infusion 121.
Instrumentenreinigung 200.
Irrigation 186.
Ischämische Muskellähmung 8, 448.
J.
Jodoform 191.
— -ersätzmittel 192.
— -injectionen 529.
— -Vergiftung 191.
Junker'scher Apparat 233.
K.
Kaninchenseptikämie 159.
Kapselriss bei Luxationen 458.
Keloid 322.
Kleisterverband 298.
Klumpfuss, angeborner 535.
— paralytischer 536.
Kinderlähmung 551.
Knochenabscess 491.
— -aneurysma 549.
atrophie 412.
— -bau 399 , -entwicklung 400, -elastici-
tät 414, -festigkeit 415.
Knochen briiche 414.
— Entstehungsweise 415, Formen 419,
spontane 416, angeborne 419, Sym-
ptome 423, Dislocation 424, unvoll-
ständige 422, complicirte 443, (iangrän
bei 442 , Muskellähmangen 448 , -be-
handlung 434.
Knochenentwicklungsstörungen 407.
— -geschwulst 324.
— -hypertrophie 413.
— -mark 405, -marksarkom 339.
naht 270, 451.
— -resorption 405.
— -quetschung 414.
Knorpelhistologie 399.
— -geschwulst 326.
— -wunden 82.
Kochsalzlösung, physiologische 122.
Konischer Stumpf 261.
Krebs 310, 336.
— Diagnose 373, -behandlung 378, -hei-
lung 379.
— Prognose 383.
— -kachexie 315, -recidive 315.
— -metastasen 359.
— der Unterlippe 362, des Gesichtes 364,
der Schleimhäute 366, der Zunge 366,
Kriegsstatistik 481.
Kugelsonden 479.
Künstliche Glieder 263.
L.
Lappenschnitte 257.
Leichentuberkel 395.
Leimverband 298.
Leiomyom 328.
Lepra 182.
Lipoma 322.
— diffusum 323.
Lufteintritt in die Venen 18-
Luftembolie 48.
Sachregister.
Ö95
Luftinfection 190.
Lupus 393.
Luxation 456.
— Entstehungsweise 457 , Diagn. 460,
Eeposition 463, veraltete 465.
— complicii'te 466, habituelle 468.
— willkürliche 468, spontane (patho-
logische) 468, bei Tnberculose 526,
angeborne 470.
Xymphabscess 97, 126.
Lymphadenitis 144, 579.
Lymphangitis 143, 582.
Ijymphangiom 332.
Lymphdrüsenerkrankungen 579.
Lymphom 341.
Lymphorrhagie 126.
Lymphosarkom 341.
Lymphvarix 583.
Lysol 207.
Lvssa 172.
M.
Hadurafuss 396.
Malignes Oedem 159.
Malleus 166.
Mammacarcinom 369.
Manschettenschnitt 258.
Miirkschwamm 339.
Maske (Esviarch' sc}ie) 231.
Massage 303.
Maul- und Klauenseuche 167.
Mäuseseptikämie 159.
Meissel 269.
Melanocarcinom 372.
Mclanosarkom 338.
Meningocele 353.
Messer 250.
Metaplasie 49.
Milchcysten 355.
Milzbrand 167.
Mollu.scnm contagiosum 34S.
— peiidiilura 320.
Moos 193.
Morphiumiithernarkose 24(5.
Morph iiimchloroformiiarkosc 243.
Mumification 42.
Muskel, -atrophie 550 , -entzündungen
552, -hernie 550, -wunden 49, 82, -zer-
reissungen 549, -naht 278, Pseudo-
hypertrophie 552 , -regeneration 82,
-geschwülste 327, 555.
Muskellähmnngen, ischämische 448, polio-
myelitische 551, neurotische 551.
Muskelplastik 278.
MuskeLrheumatismus , acuter 552 , chro-
nischer 553.
Mycosis fungoides 395.
Myom 327.
Myositis ossificans 554.
Myxödem 20.
Myxom 323.
Mvxofibrom 324.
N.
Nachblutungen 99.
Nadelhalter 211.
Nadeln 211.
Naht 211, 214.
Naevus pigmentosus 343.
Narben, Histologie 187.
Narbengeschwulst 322.
Narbenschrumpfung 87.
— -Wucherung 188.
Narkose 229.
Nearthrose 530.
Nekrobiose 45.
Nekrose 41.
— der Bruchenden 446.
— der Knochen 484.
Nekrotomie 488.
Nervencontusion 560, -Umklammerung 561,
-durchtrennung 561, -entzündung 562,
-schmerz 562, -dehiiung 563, -diii'ch-
schneidung563, -naht 280, -plastik 281.
-regeneration 83, -lösung 282, -trans-
plantation 281, -wunden 83.
Nervengeschwulst 328.
Neubildung 309.
Neuralgie 562.
Neurektomie 563.
Neurexärese 563.
Neuritis 562.
Neurofibroiii 319.
Neurom 328.
Neuroparalytische Entziindungcii 35.
— Geschwüre 389.
— Gelenkentzündungen 514.
38*
596
Sachregister.
OcclüsioDsverfaliren 187.
Oedem 18, Stautings- 19, liydrämisches
(marantisclies) 19, Myxödem 20, col-
laterales 20, maUgnes 160.
Odontom 326.
OhnmacM 126.
Operationslehre, allgemeine 250.
Organisation des Thrombus 15.
— des Blutgerinnsels 79. ■
Ossification 400.
Osteoblasten 401.
Osteofibrom 321.
Osteochondritis 517.
Osteoklasten 405.
Osteom 325.
Osteomalacie 411.
Osteomyelitis 483.
— infectiosa 484.
— Gelenkaffectionen bei 488.
Osteoplastische Operationen 277.
Osteoporosis 412, 482.
Osteopsathyrosis 415.
Osteosarkom 339.
Osteosklerosis (Paget) 493.
Osteotomie 540.
Ostitis 482.
— typhosa 491.
Ovalärschnitt 262.
Ovarien cj^sten 348.
Palliativoperationen (bei Krebs) 380.
Panaritium 387.
Papillom 343.
Parafflnkrebs 365.
Parenchymatöse Degeneration 46.
Periostitis 482.
Periostsarkom 339.
Perlmutterostitis 492.
Phagocytose 26.
Phlebektasie 574.
Phlebitis 573.
Phlegmasia alba dolens 574.
Phosphornekrose 491.
Pigmentsarkom 338.
Plasmatische Circulation 71.
Plasmodien 66.
Plastische Operationen 274.
Plattfuss 537.
Pneumococcus 139.
Poliomyelitis 551.
Polypen 320.
Prima reunio 68.
Pseudarthrose 451.
Pseudohypertrophie 46.
— der Muskeln 552.
Ptomaine 55.
Punction der Gelenke 504.
Pvämie 150.
Q-
Quetschung 93.
Quetschwunden 95.
R.
Eauschbrand 157.
Eeamputation 261.
Resection 264.
— subperiostale 265.
Respiration, künstliche 240.
Ehabdomyom 327.
Rhachitis 467.
Rheumatismus der Muskeln 552.
— der Gelenke 507, 513.
Eheumatische Schwiele 553.
Ehinosklerom 183.
Eiesenwuchs 414.
Eiesenzellensarkom 338.
Risswunden 97.
Eoentgenphotographie 480.
Eotz 166.
Eückgratsverkrümmungen 542.
Eundzellensarkom 337.
Sägen 256, 269.
Salicylsäure 190.
Sarkom 333.
Schiefhals 543.
Schienen verbände 286.
Schimmelpilze 64.
Schlangenbisse 174.
Sachregister.
597
Schleimbeuteleutzünduugeu 558-
— -hygrom 559.
Schleimcyste 353.
Schleimgeschwulst 323.
Schleimhautkrebse 366..
Schleimha uttransplantation 277.
Schlotter gelenk 537.
Schnittwunden 88.
Schorfheilung 80.
Schornsteinfegerkrebs 365.
Schussverletzuügen 470, der Weichtheile
473, der Knochen 475.
Schutzvorrichtungen des Organismus 57.
Schwämme (Zubereitung) 188.
Sclerema neonatorum 398.
Scorbut 388.
Scrophuloderma 395.
Scrophulose 178.
Sehnenverletzungen 555, -plastik 279.
— -abreissungen 280 , -naht 279 , -re-
generation 86 , -transplantation 280,
-Verrenkungen 556.
Sehnenscheiden , -entzündungen 555, Hy-
drops 559, -neubildungen 558, -tuber-
culose 556.
Seide 201.
Septikämie 154.
Septische Processe 160.
Sequester 486.
Sequestrotomie 488.
Shock 127.
Silberdraht 203.
Silk worm 214.
Sklerodermie 398.
Skoliosis 542.
Sonnenstich 225.
Spaltbrüche 423.
Sphacelus 42.
Spindelzellensarkom 337.
Spitzfuss 539.
Spondylitis .543.
Spontanfractur 416.
Spontangangrän 43.
Sporozoen 65.
Sprosspilze 63.
Staphylococcus 137.
Stauung.sbyperämie 10.
— -ödem 19.
Sterilisation 205.
Stich wanden 89.
Stickoxydiil 247.
Strahlenpilz 170.
Streptococcus 137.
Struma parenchymatosa 350.
— cystica 350.
Styptica 109.
Sublimat 193.
— -antisepsis 194.
— -Vergiftung 194.
Substitution des Blutgerinnsels 79.
Syphilis 179.
— der Grefässe 568.
— der Gelenke 508.
— der Knocheu 492.
— der Muskeln 552.
Syringomyelie 516.
T.
Tabische Gelenkaffectioneu 514.
Tamponade 186.
Teleangiektasie 329.
Tendinovaginitis 652.
Teratom 355.
Tetanus (Trismus) 162.
Thermokauter 241.
Thonerde, essigsaure 190.
Thrombose 12.
Thrombus, weisser 14.
— rother 15.
— -Canalisation 17.
— -Organisation 15.
— -Erweichung 16.
Thymol 190.
Todtenlade 486.
Torf 192.
Torsion der Gefässe 102.
Tourniquet 115.
Transfusion 121. I
Transplantation der Haut 274.
— der Nerven 281.
Tumor 309.
Tuberculose, Histologie und Pathogenese
175.
— der Haut 395.
— der Muskeln 552.
— der Sehnenscheiden 557.
— der Knochen und Gelenke 517.
u.
Ueberhäutung, einsäumende 77.
— inselförmige 78.
-598
öachrof^ister.
Ulcus prominens 260.
Umstechung der Gefässe 104.
Undulation 31.
Unreinheit einer Wunde 76.
Unterbindung (der Gefässe) 100.
Varices 574.
Varix aneurysmaticus 577.
Venenkrankheiten 676.
Verbände 282.
Verbandtücher 284.
Verblutung 119.
Verbrennung 218.
Vereinigung per primam intentionem
— per secundam intentionem 74.
Verkalkung 48.
Verknöcherung 400.
Verkrümmungen 534.
Verrenkung 456.
Verruca 343.
Verschorfungsverfahren 186.
Verstauchung 455.
'^^oUbad, permanentes 186.
w.
Warze 343.
Wasserglasverbände 296.
Wasserscheu 172.
Wiener Aetzpaste 381.
Wundbehandlung 185.
— aseptische 190.
— offene 186.
Wunddiphtherie 158.
Wunden gefässloser Theile 81.
Wundentzündung 139.
Wundfieber 140.
Wundheilung 68.
— per secundam intentionem 74.
Wundrose 145.
Wundstarrkrampf 162.
Wundvereinigung 209.
z.
Zellgewebserkrankungen 583.
Zerreissung 92.
Zerrung 91.
Zimmtsäure 533.
Zuckerkochsalzlösung 122.
Zugverbände 300.
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2002091020