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Full text of "Handbuch der allgemeinen chirurgischen Pathologie und Therapie für Ärzte und Studirende"

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RECAP 


HANDBUCH 


ALLGEMEINEN  CHIRURGISCHEN 


PATHOLOGIE  UND  THERAPIE 


ÄRZTE  UND  STUDIRENDE 


vox 


Dr.  ALBERT  LANDERER 


A.   O,   rU01''E8S0R  DEK  CHIKUKGIE  UND  CIIIKURGISCHEM   OBEKAJiZT  AM  KAUL-OLGA-KUANKENHAUSE 

ZU  STUTTGART. 


ZWEITE,  NEUBEARBEITETE  AUFLAGE 


MIT  480  ABmLDUNGEN  IN  HOLZSCHNITT 


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Open  Knowledge  Commons 


http://www.archive.org/details/handbuchderallgeOOIand 


HANDBUCH 


ALLGEMEINEN  CHIRURGISCHEN 

PATHOLOGIE  UND  THERAPIE 


ÄRZTE  UND  STUDIRENDE 


Dr.  ALBERT  LANDERER 


A.  O.   PKOFESSOR  DER  CHIRURGIE  UND  CHIRURGISCHEM   OBERARZT  AM   KAKL-OLGA-KKANKKNII AUSI 

ZU  STUTTGART. 


ZWEITE,   NEUBEARBEITETE  AUFLAGE 


MIT  480  ABBILDUNGEN  IN   HOLZSCHNITT 


WIEN   UNI)  LEIPZIG 
URBAN    &    yCirWAKZENBKRG 

IS'IS 


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Alle  Kechte   vorbehalten. 


DEM  ANDENKEN  AN 


CARL  LUDWIG  UND  WILHELM  BRAUNE 


GEWIDMET 


Vorwort  zur  ersten  Auflage, 


Die  folgenden  Vorlesungen  sind  grössfeutheils  aus  Vorträgen  vor 
\  Studirenden  verschiedener  Ältersclassen  hervorgegangen.  Ein  Theil  derselben 
2  ist  erweitert,  meist  sind  sie  auf  einen  engeren  Baum  zusammengezogen. 

Allgemeine  chirurgische  Pathologie  und  Therapie  kann  in  ver- 
*  schiedensfer   Weise   aufgefasst   und  vorgetragen  tverden.    Auch  sind  die 

I    Grenzen  dessen,  was  darin  aufgenommen  werden  soll,  schwankende  und 
subjective.   —  Ich  habe  die  Instrumenten-,  Operations-  und  Verhandlehre 
beschränkt   in   dem  Gedanken,    dass   diese  Fächer  in  der  Praxis,    vom 
Studenten  in  der  Klinik  und  in  Cursen  gelernt  tverden  sollen.  Ich  möchte  __ 
cmch^jii^ht_j:ntfernfj^n_J^r^  objmnj>rak:_ 

tische  Medicin  aus  Büchern  allein  lernen  könne.  Die  'unmittelbare  An- 
schauung  und  frische  Auffassung  ist  gerade  in  unserem  Fache  wichtiger^ 
und  erspriesslicher^als^Jrockene  BilchergeleJirsamkeit^  Der  Gedanke, 
welcher  mich  bei  der  Abfassung  dieses  Buches  leitete,  war  der  Wunsch, 
dem  praktisch  thätigen  Arzte  oder  Studirenden  den  inneren  Zusammen- 
hang^ der  Vorgänge  verständlich  zu  machen,  welche  sich  vor  seinen  AugeU 
abspielen,  und  ihm  die  Ziele  anzudeuten,  die  Regeln  klar  zu  legen,  nach 
welchen  er  sein  Handeln  einzurichten  hat.  Wer  lernt,  sich  stets  die  ganze 
^Kettejvon  ersterUrsache  Hsziir  letzten  .Wh-kima  klar^  zu  machen^  nnrd 
'  in  Diagnose,  Therap)ie  und  Prognose  nie  fehlgehen;  wer  dies  nicht  fasst, 
wird  zeUlebensjin  Jhcher  BoutinierhMb&ji^ 

Die  Chirurgie  ist  zwrZeit  in  einem  mächtigen  Vmbildungsprocrss 
begriffen;  sie  will  sich  aus  einer  beschreibenden  Disciplin,  was  sie  bisher 
gewesen,  herausarbeiten  zu  einer  erklär  endenWissenschaft.  Manche  reizende^ 
und  fesselnde   klinisrhe  Sch;iI(Teri(ng  muss  damit  fallen;   an  ihre  Stelle^ 
hat   (dne   u^miger   blendende   strenge  logische  Folgerung  zu  treten;  diese  2 
irird  sich  aberdem  Lernenden  imt~ganz  and^^  Energie  einprägen  und    i 
Hin  sicher  dnrcli's  Ldx'u   begleiten,   /renn  reizroJIr  lliii>srh>-  liihhr  Jäiif/st 
rerflof/eit    sl)/d. 


VI  Vorwort. 

Mai  ich  er  wird  in  diesem  Buche  zuviel  J.ihysi()logiß_undJ[^atholggie 
finden.  Dies  ist  Geschmackssache.  So'fl  nhcr  das  Gebäude  unserer  Wissen- 
schaft zu  sicherer  Höhe  geführt  werden^  so  hedu/rf  es  einer  breiten  festen 
Grundlage  und  diese  ist  —  neben  scharfer  klinischer  Beobachtung  — 
"cloch  in  letzter  Linie  die  Kenntniss  des  normalen  und  pathologischen 
Lebens j  des  normalen  und  pathologischen  Baues  unseres  Körpjers.  In 
dieser  Hinsicht  kann  nicht  zuviel  geschehen,  und  jede  Wissenschaft, 
welche  zur  Hilfe  herangezogen  werden  kann,  wird  durch  Erweiterung 
und  Vertiefung  unseres  Wissens  und  Könnens  lohnen. 

Leipzig,  Juli  1889. 

Prof.  Albert  Landerer. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Die  Fertigstellung  der  zweiten  Auflage  hat  sich  durch  unvorher- 
gesehene literarische  und  praktische  Arbeiten  über  Gebühr  verzögert. 

Das  Buch  ist  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  ein  anderes  ge- 
worden. Durch  das  Aufgeben  der  Vorlesungsform  ist  soviel  Raum  ge- 
wonnen worden,  dass  die  Gebiete  der  chirurgischen  Praxis  durch  aus- 
führlichere Behandlung  der  allgemeinen  Operations-  und  Verbandlehre 
wesentlich  eriveitert  werdenkonnten.  Durch  das  freundliche  Entgegenkommen 
der  Herren  Verleger  konnten  die  Abbildungen  fast  auf  das  Doppelte 
vermehrt  werden.  Trotzdem  ist  es  durch  gedrängtere  Fassung  gelungen, 
den  Umfang  des  Buches  nicht  unwesentlich  zu  verringern.  Den  ganzen 
Plan  und  die  Anlage  des  Buches  zu  ändern,  habe  ich  mich  nicht  eni- 
schliessen  können.  Für  ein  wirkliches  Verständniss  der  Allgemeinen 
Chirurgie  ist  es  unerlässlich ,  wo  immer  möglich,  a,uf  ihre  Grundlagt. 
die  Allgemeine  Pathologie,  zurückzugehen  und  aus  ihr  die  Folgerungeri 
für  die  Praxis  zu  entwickeln. 

Stuttgart,  im,  Januar  1898. 

Prof.  Albert  Landerer. 


Inhalts  verzeichniss. 


Seite 
Einleitung 1 

I .  Capitel :   Oertliche  Kreislaufs-  und  Ernährungsstörungen 4 

Anämie  und  Hyperämie 4 

Thrombose.  Embolie.  Oedem 12 

Entzündung 21 

Brand.  Eegressive  und  progressive  Metamorphosen 41 

II.  Capitel:  Die  Bacterien 50 

Bacterien  und  Protozoen 50 

III.  Capitel :  Verletzungen      67 

Wundheilung  und  Eegeneration 67 

Verletzungen  durch  stumpfe  Gewalt.  Quetschung  etc 90 

Blutung  und  Blutstillung.  Blutersparung 98 

Allgemeinwirkungen  von  Verletzungen  und  Operationen  (Ohnmacht,  Shock, 

Delirium  etc.) 126 

Störungen  der  Wundheilung.  Äccid enteile  Wuudkrankheiten 134 

Chronische,  chirurgisch  wichtige  Infectionskrankheiten      175 

Wundbehandlung 185 

Wundvereinigung 209 

Verbrennung  und  Erfrierung  etc.       .    .   • 218 

Narkose 229 

IV.  Capitel :  Allgemeine  Operations-,  Instrumenten-  und  Verbandlehre 251 

V,  Capitel;  Geschwülste 309 

Allgemeines 309 

Geschwülste  bindegewebiger  Natur 318 

Epitheliale  Nenbildnngeu 342 

Allgemeine  klinische  Diagnose,  Therapie  und  Prognose  der  Geschwülste    .  373 
VI.  Capitel :  Krankheiten  der  Haut  und  des  ünterhautzellgewebes      384 


yj  J]  Inhalfsvcrzcicliiiiss. 

Seite 
VII.  Capitel:  Krankheiten  der  Knochen  und  (Jelenke 399 

Entwicklung  und   I5au  des  Knochensysteins,  pjnlwiekliinfrsstijrungen    .        .  399 

Knochenbrüclie 414 

Verletzungen  der  Gelenke .        454 

Schussverletzungen  und  Kriegschirurgie 47U 

Entzündung,  Eiterung  und  Nekrose  der  Knochen 482 

Gelenkentzündungen 494 

Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke- 517 

Verkrümmungen  und  Orthopädie 534 

Anhang. 

Krankheiten  der  Muskeln,  Sehnen  und  Schleimbeutel    . 549 

Krankheiten  der  Nerven 560 

VIII.  Capitel :  Krankheiten  der  Blutgefässe 565 

IX.  Capitel:  Krankheiten  des  Lymphsystems 579 


Einleitung. 

Das  Gebiet  der  allgemeinen  chirurgischen  Pathologie  und  Therapie.    —    Die  ätio- 

logisch-pathogenetische  und  die  klinische  Betrachtungsweise  der   Krankheiten.    — 

Humoral-  und  Cellularpathologie. 

Die  einzige  sichere  Grimdlag-e ,  die  imerlässliche  Bedingimg'  rich- 
tiger ^Cl^jikenbehandlimg,  ist  die  -genaue  Kenntniss  vom  Leben  und  von 
der"  Ziisanimens^etzung    unseres    Körpers    in    gesundem    und   krankem 

*^ustand.  Die  Lebensvorgänge  im  gesunden  Organismus  und  die  Gesetze 

"ihres  Geschehens  lehrt  die  jPli^^iolp^i^ .  Die  Patho^g^  hat  diese  selben 
Processs  im  veränderten,  im  kranken  ^ustanded^Körpers  zu  schil- 
dern. .A^CJigsefl  beiden  Griindpfeilern,  Physiologie  und  Pathologie,  riiht 

_die  Lehre  von  der  Krankenbehandhmg,,  die  Therapie,,  Nur  wer  stets 
wieder  auf  die  grundlegenden  Fächer  zurückgreift ,  wer  ihre  f'ort- 
schi'itte  mit  wachsamem  Auge  verfolgt  und  bestrebt  ist,  ihre  Errungen- 
schaften für'  die  Erkenntniss  und  Behandlung  von  Krankheiten  zu 
verwerthen ,  kann  zu  wahren  Fortschritten  in  der  Kunst  des  Arztes, 
Krankheiten  zu  heilen,  gelangen. 

"  T)ie  Krankheit  ist  eine  Störung  der  Norm ,  der  normalen 
Functionen ,  des  normalen  Baues  des  Körpers  und  seiner  Theile.  Die 
Methode,  Krankheiten  zu  .betrachten,  ist  eine  doppelte  —  entweder  die 

"atiologisch-pathogenetische  oder  die  pathologisch-anatomische.  Die  einzig 
riclitige  ist  die  ätiologisch-pathogenetische.     Man    beginnt    mit  der  Er- 

"^rschung  des  Krankheitserregers,  der  ersten  Causa  morbi.  Nun  ken- 
nen wir  die  chemischen  und  physikalischen  Eigenschaften  eines 
bestimmten  Krankheitserregers,  einer  Bacterienart  oder  einer  chemischen 
Sul)stanz ,  wie  Alkohol ,  Quecksilber  u.  dergl.  Ihre  Wirkungen  können 
in  genau  abgemessener  Form  am  Thierkörper  studirt  werden.  Die  hier 
erlangten  Erfahrungen  werden  auf  den  menschlichen  Körper  übertragen ; 
allerdings  nur  mit  strenger  Kritik.  Der  menschliche  Organismus  hat 
seina  ^Besonderheiten,  die  man  stets  im^  Auge  behalteii  muss  unddie^ 
"Versuche,  Erfahrungen, ,_ die  man  am  Thierköri)er  oder  im  Keagensgl^. 
gemacht  hat.^.  ohne  Weiteres  auf  den  menschlichen  Körper  zu.  über- 
tragen, hat  oft  zu  schmerzlichen  Enttäuschungen  geführt.  Kennt  man 
nun  die  ganze  Krankheit  von  ihrer  ersten  Ursache  bis  zu  ihrer  letzten 
Folge,  ist  eine  ununterbrochene  Kette  von  erster  Ursache  bis  zur  letzten 
Wirkung  hergestellt,  so  sind  für  die  Frage  der  Krankenbehandlung  die 
Wege  geebnet.  Unter  Zuhilfenalime  unserer  Erfahrungen  aus  Arzneiwissen- 
schaft und  Chirurgie  suchen  wir  die  unheilvolle  Kette  von  .Sti>rungen,  die 

Laiiderer,  Alls},  chir.  Pathologie  u.  Thi!rai«ie.  'J.  AuH.  1 


2  P^inleituiig. 

der  Krankheitserrej^er  veranlasst  hat,  an  der  günstigsten  Stelle  zu  diireh- 
brechen  und  die  Genesung'  anzubalinen. 

Dies  ist  die  grundlegende  Idee  der  einzig  berechtigten  Auffassungs- 
weise  der  Pathologie  und  Therapie,  der  ätiologiscli-pathogenetischen, 
die  gegründet  ist  auf  die  Kenntniss  der  letzten  der  Kranklieit  zu 
Grunde  liegenden  Ursache  und  ihrer  Entstehungsweise.  Leider  besitzen 
\  wir  nur  für  wenige  Krankheiten  vollständige  Kenntnisse  über  alle  Be- 
dingungen und  Vorgänge,  von  der  ersten  veranlassenden  Ursache  bis 
zur  letzten  gesetzten  Wirkung. 

Für  die  meisten  Fälle  müssen  wir  uns  mit  einer  anderen,  minder 
A'Ollkommenen  Betrachtungsweise  begnügen.  »Sehr  häufig  kennen  wir  nur 
die  letzte  Wirkung ,  die  bestehende  Veränderung  des  Körpers ,  welche 
^  wir  als  Krankheit  am  Krankenbette,  oft  sogar  erst  beim  Zerlegen 
i  des  Körpers  nach  dem  Tode  vor  uns  sehen.  Die  erste  Ursache  der 
"Krankheit,  der  Anfang  des  Unheils  bleibt  uns  verborgen.  Können 
wir  nun  auch  nicht  überall  bis  zum  letzten  Grunde  dessen  vor- 
dringen, was  vor  unseren  Augen  liegt,  so  ist  deshalb  unsere  Mühe 
keineswegs  verloren,  das,  was  wir  haben  und  wissen,  möglichst  genau 
kennen  zu  lernen  und  zu  durchforschen.  Selbst  wenn  es  weiter  nichts 
wäre,  als  das  Vorhandensein  dieser  oder  jener  Veränderung  des  Kör- 
pers festzustellen,  zu  messen,  zuzählen,  zu  zeichnen  u.  s.  w.,  auch  ohne 
jede  Aussicht,  zur  letzten  Ursache  vorzudringen.  Vielleicht  mag  später'' 
einem  Anderen,  der  auf  unseren  Arbeiten  fusst.  gelingen,  was  uns 
heute  versagt  blieb.  Wir  begnügen  uns  für  diese  Fälle  mit  dem  klinischen 
und  pathologisch-anatomischen  Studium  der  Krankheit. 

So  kann  denn  die  Darstellungsweise  der  Krankheiten  nicht  durch- 
w^eg  eine  einheitliche,  gieichmässige  sein.  Bald  sind  wir  in  der  glück- 
lichen Lage,  dieselbe  vom  ätiologisch-pathogenetischen  Standpunkte  aus 
zu  betrachten  und  zu  erklären;  bald  müssen  wir  uns  mit  klinischer 
Schilderung  und  anatomischer  Erläuterung  begnügen. 

Wie  die  Art  und  Weise,  eine  Krankheit  zu  erforschen  und  zu 
betrachten,  eine  verschiedene  sein  kann,  so  sind  auch  unsere  Anschau- 
ungen über  das  Wesen  und  den  Sitz  der  Krankheiten  nicht  immer  die 
gleichen  gewesen.  Früher  —  im  Alterthum  und  Mittelalter  und  bis  in 
den  Anfang  dieses  Jahrhunderts  hinein  —  suchte  man  die  Ursaclie^ 
aller  Krankheiten,  allgemeiner  und  örtlicher,  in  einer  Verderbniss  dei^ 
'^den  Kö'^rper  durchziehenden  „Säfte"  —  humores  (Humoralpatholo- 
'gie).  Indem  diese  Flüssigkeiten  sieb  zersetzten,  sich  verdickten,  bald 
hier ,  bald  dort  in  normwidriger  Weise  sich  absetzten ,  sollten  sie  die 
Krankheitsproducte  hervorbringen  und  so  die  Krankheiten  bedingen. 
Wir  sind  heute  von  diesen  hypothetischen  und  phantastischen  Anschaii;^ 
ungen,  welche  mit  unseren  Kenntnissen  der  Anatomie  und  Physiologie 
nicht  mehr  zu  vereinigen  waren,  zurückgekommen.  Durch  die  Entdeckung^ 
der  Zelle  und  die  ihr  folgenden  bahnbrechenden  Untersuchungen  haben 
wir  uns  —  gestützt  auf  die  Arbeiten  Virchotv's  —  auf  den  Boden  der 
„Cellularpathologie"  gestellt.  Wir  legen  jetzt  das  Hauptgewicht  auf 
die  Veränderungen  der  deii  Körper  aufbauenden,  festen  und  beweglichen 
Zellen.  Was  wir  unter  einer  „Zelle"  verstehen,  ihr  Bau,  ihre  Eigen- 
schaften und  Verrichtungen ,  ist  aus  der  Physiologie  und  Gewebelehre 
bekannt.  Je  mehr  sich  unsere  Kenntnisse  iiber  den  feineren  Bau  der 
Zelle  erweiterrimd  vertieft  haben,  umsomehr  müssen  wir  diesen  kleinsten 


(I 


Einleituns 


3 


^heilen  unseres  Organisjnus  eine  gewisse  Selbstständigkeit,  ge\Yisse  oft 
specitisclie  Eigenartigkeit   des  Baues ,    ihrer   Lebensvorgänge    und  Ver- 

ji-ichtangen  und   damit    auch    die    Fähigkeit    zu    erkranken    zusprechen. 

Von  einer  „Pathologie   der  Zelle",    als    Grundlage    der   ganzen    Patho- 
logie, sind  wir  aber  noch  ziemlicli  weit  entfernt ,    wenn  auch  einzehie,"^ 
nicht  ganz  erfolglose  Versuche  in."  dieser  "Richtung  .schon  gemäclit  sfiid. 

Meist  betrachten  wir  die  Zellen  in  ihrer  Zusammenfassung  liiit"^ 
gleichartigen,  zu  höheren  Einheiten ,  in  ihrer  Gruppirung  zu  „Geweben" 
und  Gewebssystemen.  Die  Krankheiten  der  Gewebe  und  Gewebssvsteme 
beruhen  zumeist  auf  quantitativen  und  auch  qualitativen  Aenderungen 
des  örtlichen  Stoffwechsels  und  Alterationen  der  die  Gewebe  bildenden 
Zellen.  Will  man  diese  Störungen  verstehen ,  so  müssen  vor  Allem  die 
normalen  Verhältnisse ,  die  normalen  Vorgänge ,  welche  sich  in  den 
Geweben  abspielen,  genau  bekannt  sein.  Zu  ihrem  Verständniss  muss 
man  stets  wieder  auf  die  Physiologie  zurückgreifen. 

.lu.  neuester  Zeit  ist  die  Berechtigung  einer   rein   cellularpathologischen  Betrach- 
tung der  Krankheiten  von  verschiedenen  Seiten  in  Zweifel  gezogen  worden.  Die   Unter- 
suchungen vou\ß«c/i-«er,  Eoux ,  Behring  u.  A.  haben  gezeigt,  dass  man  die  _Iininuni- 
sirung gegen  Infectionskrankheiten  (Diphtlierie,  Tetanus),  dass  man  heilende  Einwirlcungen 
bei  solchen  Krankheiten  erreichen  kann  durch  vollständig  zellenfreie  Korpjrsäfte,  beson- 
ders durch  Blutserum,  auch' durch  entzündliche  Transsudate.  Ehrlich  \\At  gezeigt,  dass 
^ie  Milch  immun  gemachter  Ziegen  die  Jungen  immun  macht.    Andererseits  kann  man 
durch  das  Serum  kranker  Thiere  andere  Thiere  vergiften.  Derartige  Erfahrungen    ohne 
Weiteres    ge^eu    die    Cellulai'patliologie    zu   verwerthen ,    erscheint   nicht"  geinhi  iVrtii;-f. 
''Man~3a:rf^ich't  vergessen ,  dass  die  Köfpersäfte ,    welche    diese    wirksamen    rhrmisrhen 
Substanzen    enthalten^    innerhalb    des   Körpers   in    innigster   Wechselwirkung   mit    den 
zelligen  Bestandtheilen  des  Körpers  stehen ,    und   dass    diese    Stoffe  vielleicht    aus    den 
Körperzellen  ausgelaugt  oder  durch  Zerfall  von  Zellen  entstanden    sind.     Wir    kommen 
"bei  der  Besprechung  der  Entzündung  wieder  hierauf  zurück.  Diese  That'sachen  erschütj 
F  tern  die__  cellularpathologische  Auffassung  vorerst  nicht,    aber  "si^  müssen   mii"'"V'8F^m- 
i'seifigeF  tJeberschäfzung-  des  cellularpathologisclien  Standpunktes  warnen.*""  ^''  ■'- 


1* 


I.  Capitel. 
Oertliclie  Kreislaufs-  und  Ernährungsstöruugen. 

Die  normalen  Schwankungen  des  örtlichen  Blutgehaltes.  —  Functionelle  Hyperämie.  — 
Anämie.  —  Arterielle  Hyperämie.  —  Stauungshyperämie. 

Die  Grundlage  unseres  chirurgischen  Wissens  und  Handelns  ist 
die  genaue  Keniitniss  des  örtlichen  Lebens,  des  Kreislaufes,  der 
Ernährung,  des  Stoffwechsels  der  einzelnen  Gewebe,  und  der  Ab- 
änderungen dieser  Vorgänge  —  der  örtlichen  Kreislaufs-  und  Er- 
nährungsstörungen. 

Die  Abnahme  des  in  einer  bestimmten  Zeit  durch  ein  Organ 
strömenden  Blutquantums  bis  zur  völligen  Blutleere  oder  Blutlosigkeit 
desselben  ist  Anämie,  die  Zunahme  der  durch  ein  Gewebe  fliessenden 
Blutmenge  Hyperämie. 

Der  Blutgehalt  eines  Gewebes  ist  auch  unter  normalen 
Verhältnissen  nicht  immer  derselbe.  —  Die  Ursachen  dieser 
Schwankungen  in  der  Blutfülle  der  Organe  sind  schon  in  physiologischem 
Zustande  zahlreich  und  zum  Theil  ziemlich  verwickelt.  Es  handelt  sich 
bald  um  Veränderungen  an  den  Gefässen  und  Nerven ,  bald  liegt  die 
bedingende  Ursache  im  Gewebe  selbst. 

Die  LicMung  der  Arterien  ist  bestimmt  durch  die  Gefässmuskeln  und  Gefäss- 
uerven.  Die  Gefässnerven  werden  von  den  Centren  in  der  Medulla  oblongata,  durch 
psychische  Einflüsse  oder  reflectorisch  auf  heftige  Reize  an  der  Peripherie,  Schmerz,. 
Reizung  gewisser  Nerven,  der  Nierennerven,  der  Nerven  der  Genitalien,  des  Plexus 
coeliacus  u.  dgl.  erregt.  Die  —  viel  häufigere  —  Erregung  der  Vasoconstrictoren  hat 
eine  Verengerung  des  Lumens  und  damit  eine  Verminderung  der  durchströmenden  Blut- 
nienge  —  locale  Anämie  —  zur  Folge.  Seltener  treten  die  Vasodilatatoren  in  Wirkung 
und  es  erfolgt  dann  Erweiterung  der  Gefässe  mit  Vermehrung  und  Beschleunigung  des 
Blutstromes.  —  Chemische  Veränderung  des  durchströmenden  Blutes  vermag  unmittelbar 
die  Gefässmuskeln  oder  richtiger  die  in  der  Gefässwand  liegenden  eigenen  nervösen, 
gangliösen  Apparate  zu  beeinflussen.  So  bewirkt  ein  mit  Kohlensäure  überladenes  Blut 
unmittelbar  Zusammenziehung  der  Arterien ,  ähnlich  wirkt  Morphium.  Andere  Gifte, 
Atropin,  Chloral ,  haben  eine  Erweiterung  zur  Folge.  Selbst  die  Capillarwand  scheint 
unabhängiger  rhythmischer  Bewegungen  fähig. 

Ein  überaus  wichtiger  Regulator  der  örtlichen  Blutmenge  und  Blutströmuug  ist 
das  Gewebe  selbst.  Jedes  Organ  regelt  seinen  Blutzufluss  nach  seinem  Bedarf.  Ein 
arbeitendes  Organ  empfängt  ungleich  viel  mehr  Blut ,  als  ein  ruhendes.  Nach  Ranke 
beträgt  der  Blutgehalt  der  Körpermusculatur  beim  Kaninchen  in  der  Ruhe  36°/o  i  ^"^ 
Tetanus  66%  der  Gesammtblutmenge.  Es  wird  immer  nur  das  eben  arbeitende  Organ 
mit  Blut  hinreichend  gespeist,  in  den  anderen  dagegen  ist  der  Stoffwechsel  so  lange  ent- 
sprechend herabgesetzt.  Energische  Function  eines  Organes  schliesst  die  gleichzeitige  eines 
anderen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  aus.  —  Ein  arbeitendes  Organ  setzt  seiner  Durch- 
strömung weniger  Widerstand    entgegen  ,    als  ein  ruhendes.   Es  ist  dehnbarer ,    wie  der 


Anämie.  5 

arbeitende  Muskel  leichter  dehnbar  ist ,  als  der  ruhende  (E.  H.  Weber).  Der  elastische 
Widerstand  des  functionirenden  Gewebes  gegenüber  dem  einströmenden  Blut  ist  so  ein 
geringerer  geworden,  das  Blut  kann  leichter  und  in  grösserer  Menge  einschiessen.  (Vgl. 
Landerer,  Gewebsspannung,  1884.)  Ist  durch  die  reichliche  Blutdurchströmung  das  Ver- 
brauchte wiederersetzt,  so  schwindet  die  „functionelle  Hyperämie"  wieder,  wenn  sie 
ihren  Zweck  erfüllt  hat. 

Manche  äussere  Einwirkungen  wirken  ebenso  auf  die  Gewebe,  wie  auf  die  Blut- 
gefässe und  in  gleichem  Sinne.  Kälte  reizt  die  Ringmusculatur  der  Arterien  zur  Con- 
traction ,  sie  modificirt  aber  zugleich  die  Dehnbarkeit  der  Gewebe.  AVärme  lähmt  die 
Vasoconstrictoren  und  macht  zugleich  das  Gewebe  dehnbarer  (Roy). 

Die  Zeichen  der  Verminderung-  des  Blutgehaltes  eines  Organes, 
■der  örtlichen  Anämie,  sind  nicht  zu  verkennen.  Der  Körpertheil, 
z.  B.  ein  Bein ,  ist  blasser,  als  sonst ,  oder  als  das  Glied  der  anderen 
Seite,  häufig  spielt  die  Farbe  noch  etwas  in's  Bläuliche.  Dabei  ist  das 
Glied  schlaff,  welk,  fühlt  sich  kalt  an;  die  Function  ist  herabgesetzt, 
es  ist  kraftlos,  ermüdet  schnell.  Meist  hat  der  Kranke  selbst  in  dem 
Theile  das  Gefühl  der  Kälte  und  Schwäche  und  oft  recht  lebhafte 
Schmerzen.  Drückt  man  mit  dem  Finger  auf  die  Haut  und  verdrängt 
•das  Blut  vor  IIb  ergehend ,  so  kehrt  die  Blutfarbe  nur  zögernd  wieder. 
Nadelstiche,  seichte  Einschnitte  bluten  wenig  oder  gar  nicht.  —  Gegen 
äussere  Einwirkungen  sind  blutarme  Theile  viel  weniger  widerstandsfähig. 
Leichter  Druck,  unbedeutende  Quetschungen,  kurze  Einwirkung  massiger 
Kälte,  vermögen  das  Gewebe  zu  ertödten.  Die  so  entstandenen  Ver- 
letzungen heilen  schlecht  und  langsam.  —  Plötzliche  absolute  Blutleere 
eines  Theiles  lässt  bei  einer  gewissen  Dauer  des  Zustandes  nur  einen 
Ausgang  übrig,  sofortigen  Tod  des  Theiles.  Bei  allmälig  eintretender 
Verminderung  der  Blutzufuhr  ist  eine  Art  „Gewöhnung"  möglich  und 
der  Theil  vermag  —  unter  Herabsetzung  oder  Aufhebung  seiner  Lei- 
stungen —  mit  einem  Blutquantum  noch  auszukommen ,  das  bei  plötz- 
licher Aenderung  nicht  mehr  genügen  würde,  das  Leben  zu  erhalten. 

In  jedem  Fall  von  Anämie  ist  die  Ursache  aufzusuchen. 

Oft  ist  örtliche  Oligämie  —  Verminderung  des  Blutgehaltes  ein- 
zelner Theile  —  nur  Theilerscheinung  allgemeiner  Blutarmuth, 
allgemeiner  Anämie.  Ein  Blick  auf  die  blassen  Schleimhäute,  das  bleiche 
Gesicht  klärt  über  diese  Beziehungen  auf  und  man  thut  gut  daran,  sich 
über  die  letzte  Ursache  dieser  allgemeinen  Blutarmuth  zu  unterrichten, 
ob  sie  nur  auf  vorübergehender  Störung  der  Blutbildung  —  wie  Chlorose. 
Blutverlust  u.  s.  f.  —  beruht  oder  ihre  Entstehung  einer  dauernden 
schweren  Krankheit  —  der  Lungen,  der  Nieren,  Krebskrankheit,  einer 
schweren  Infection  oder  dgl.  —  verdankt. 

Die  mangelhafte  Blutversorgung  ist  bei  allgemeiner  Anämie  besonders  in  der 
Peripherie,  an  Fingern  und  Zehen  oder  der  Nase  ausgesprochen.  Diese  Theile  sind  kalt, 
es  kommt  hier  leicht  zu  chronischen  Blutstockungen,  Geschwüren,  selbst  zum  wirklichen 
Absterben. 

Verminderung  der  örtlichen  l)lutmenge  bei  normalem  151  ut- 
gehalt  des  Gesammtorganismus  erzeugen  alle  diejenigen  Momente, 
welche  den  A\''iderstand  in  den  zuführenden  Arterien  vermehren. 

In  rascher  Weise  erfolgt  eine  solche  Widerstandszunahme  durch 
Contraction  der  Ringmuskeln  der  Arterien.  VirrJioir  hat  diese 
Form  der  örtlichen  Anämie  als  ,.Ischämie'\  Blutverhaltung,  bezeichnet, 
sonst  wird  sie  wohl  auch  „spastische  Anämie"  genannt.  Am  häuti-steii 
ist  Kälte  die  Ursache.  Ferner  wird  sie  durch  nervi)se  Einflüsse  hervor- 
,gei-ufen,  z.  B.  bei  Nervenschmerz.  Hieher  gehören   auch  die  eigenthiiiii- 


ß  I.  Capitel.  —  Oertliche  Kreislaufs-   uiid  Eniähniiif^sstöruiigen. 

liehen  vasomotorischen  und  trophischen  .Störunj^en ,  welche  man  mit- 
unter nach  Nervenverlet'/ungen  beobachtet  und  „Glanzfinger^,  ^lossy 
fingers  genannt  hat.  Die  Haut  ist  verdünnt,  wie  narbig  und  glänzend. 
Verwandt  sind  jene  Zustände  der  peripheren  Theile,  die  sich  nament- 
lich bei  nervösen  und  blutarmen  Personen  finden  und  welche  man  als 
locale  Asphyxie  bezeichnet.  Finger  und  Zehenspitzen  werden  unter 
lebhaften  Schmerzen  Stunden  lang  leichenblass ,  oder  bläulich ,  kalt 
und  empfindungslos.  Bei  längerer  Dauer  der  Blutverhaltung  kann  es 
schliesslich  sogar  zum  Absterben  der  Fingerspitzen  (ganz  oder  theil- 
weise)  kommen,  zur  „symmetrischen  Gangrän."  Man  hat  hiebei  echte 
Nervenentzündungen  und  Veränderungen  in  den  Centralorganen  gefunden. 

Manche  Gifte,  besonders  das  Mutterkorn  (Seeale  cornutum,  Ergotin),  veran- 
lassen gleichfalls  eine  länger  andauernde  Zusammenziehung  der  Arterien.  Auch  diese 
Form  der  Anämie  kann  schliesslich  bis  zum  Absterben  einzelner  Tlieile  führen.  Wir 
machen  von  dieser  Eigenschaft  des  Mittels  Grebrauch  zur  Stillung  von  Blutungen, 
namentlich  in  inneren  Organen,  wo  wir  mit  unmittelbar  wirkenden  Mitteln  nicht  bei- 
kommen können. 

Andere  Processe,  welche  das  Lumen  der  zuführenden  Arterien 
beschränken ,  führen  gleichfalls  zu  Anämie ,  Blutgerinnung  inner- 
halb der  Gefässe  (Thrombosis),  Verdickungen  der  Wand,  welche 
die  Lichtung  mehr  und  mehr  verengen.  Hier  ist  besonders  die  End- 
arteriititis  obliterans  zu  nennen.  Auch  sie  kann  schliesslich  zur  völligen 
Verlegung  des  Lumens  führen.  Sie  findet  sich  bei  vorgeschrittener 
Syphilis ,  aber  auch  bei  anderen  Zuständen  chronischen  Siechthums 
und  namentlich  im  Alter.  Sie  kann  den  Blutzufiuss  besonders  zu  peri- 
pheren Theilen  bis  auf's  Aeusserste  herabsetzen  und  so  den  völligen 
Tod  der  Theile  veranlassen  (Gangraena  senilis  und  marantica).  —  Wird 
vom  Blutstrom  ein  fester  Körper,  ein  Pfropf,  in  die  Arterie  eines  Theils 
eingetrieben  (Embolie),  so  hat  dies  dieselben  Folgen,  und  das  Schicksal 
des  Theils  hängt  dann  lediglich  ab  von  dem  Verhältnisse  des  Pfropfs 
zum  Lumen  des  Gefässes  (partiell  oder  total  verstopfender  Embolus)  und 
von  der  Möglichkeit  der  Herstellung  eines  Collateralkreislaufs. 

Anämie  ist  ebenso  die  Folge,  wenn  die  zuführende  Pulsader 
von  aussen  her  zusammengedrückt  wird.  Absichtlich  oder  unab- 
sichtlich herbeigeführt,  beschäftigen  solche  Zustände  den  Chirurgen  sehr 
häufig.  Wir  drücken  die  zuführende  Arterie  mit  dem  Finger  zu  (Digital- 
compression), um  den  Blutverlust  bei  einer  Operation,  einer  Amputation 
zu  beschränken.  Ebenso  suchen  wir  bei  Verletzungen  durch  passend 
angelegte  „Compressionsverbände"  oder  eigene  Apparate  („Touruiquets") 
den  Blutzufiuss  und  damit  den  Blutverlust  zu  beschränken.  Höchst  uner- 
freulich dagegen  ist  es ,  wenn  zu  anderen  Zwecken  angelegte  unnach- 
giebige Verbände,  wie  Gypsverbände,  Heftpflasterverbände  durch  ihren 
Druck  die  Blutzufuhr  eines  Gliedes  beeinträchtigen  oder  gar  ganz  auf- 
heben. Druck  von  Geschwülsten,  schrumpfende  Narben  von  ringförmigen 
Geschwüren  ara  Unterschenkel,  können  den  gleichen  Effect  geben. 

Dann  wirken  gewisse  Stellungen  des  Glieds  anämisirend, 
besonders  hohe  Lage.  Ein  senkrecht  erhobener  Arm  wird  nach  wenigen 
Minuten  blass,  kalt,  die  Pulswelle  niedriger.  Zur  Beschränkung  des  Blut- 
verlustes bei  Operationen  und  in  der  Behandlung  von  Entzündungen  an 
Arm  und  Bein  machen  wir  von  dieser  anämisirenden  Wirkung  der  hohen 
Lage  (Elevation)  ausgedehnten  Gebrauch.  Spitzwinklige  Beugung 
der    Glieder    setzt    den   Blutgehalt    durch    Knickung     der   zuführenden 


Anämie.  7 

Arterie,  gleichfalls  erheblieh  herab.  Auch  hievon  ziehen  wir  zur  Stillung 
von  Blutungen  Nutzen  (s.  Blutstillung). 

Zustände  der  Anämie  finden  sich  ferner  bei  einer  Reihe  anderer 
Erkrankungen,  wo  der  Zusammenhang  zwischen  diesen  und  der  Minde- 
rung des  Blutzuflusses  nicht  so  unmittelbar  deutlieh  ist.  So  sind  gelähmte 
Theile  stets  anämisch  (Kinderlähmung) ;  ebenso  Theile ,  die  nicht  in 
gewohnter  Weise  gebraucht  werden,  Glieder ,  die  lange  in  Verbänden, 
namentlich  Gypsverbänden,  liegen.  Missgestaltete  Glieder,  welche  nicht 
in  normaler  Weise  benutzt  werden  können,  zeigen  oft  dauernd  anämische 
Zustände  (vergl.  pag.  4). 

Mikroskopisch  sieht  man  bei  schwerer  Anämie ,  örtlicher  wie  allgemeiner,  an 
durchsichtigen  Theilen  (Mesenterium ,  Zunge ,  Schwimmhaut  des  Frosches)  die  Arterien 
sich  auf's  Aeusserste  contrahiren,  von  Lumen  und  Blut  in  demselben  ist  oft  fast  nichts 
mehr  wahrzunehmen.  Auch  die  Capillaren  sind  leer.  Die  Venen  dagegen  bleiben  bluthaltig 
und  ihr  Inhalt  wird  oft  noch  in  eine  zitternde  Bewegung  versetzt.  Bei  nicht  völliger 
Anämie  kann  sogar  eine  gewisse  Anhäufung  von  rothen  Blutkörperchen  in  den  kleinsten 
Venen  erfolgen;  daher  auch  die  bläuliche  Färbung  anämischer  Theile. 

Das  Schicksal  eines  anämischen  Theiles  ist  abhängig  von 
der  Möglichkeit,  dass  Blut  auf  anderen  als  den  gewohnten  Wegen  in  die 
leeren  Gefässe  eindringt ,  von  dem  Vorhandensein  von  Anastomosen, 
welche  einen  Blutzufluss  auf  andern  Bahnen,  einen  Collateralkreislauf 
ermöglichen.  In  weitaus  den  meisten  Organen  sind  diese  Seitenbahnen 
überaus  entwickelt  und  man  sieht  in  der  That,  wenn  man  die  Blut- 
bahn an  einer  Stelle  eines  Gefässes  unterbricht,  den  Blutdruck  im  jen- 
seitigen Theil  des  Gefässes  nur  um  einen  ganz  geringen  Bruchtheil  sinken 
und  nm*  für  kurze  Zeit,  wenige  Secunden,  bis  höchstens  einige  Stunden. 
Bei  der  Durchschneidung  eines  grossen  arteriellen  Gefässes  schiesst 
fast  sofort  auch  aus  dem  peripheren  Ende  ein  Blutstrahl ,  nur  wenig 
schwächer  als  der  centrale,  hervor.  Hier  handelt  es  sich  um  grosse, 
arterielle  Anastomosen,  welche  sich  rasch  erweitern.  Schwieriger  ist 
die  Entwicklung  dieser  Seitenströmungen,  das  Auftreten  völliger  Strom- 
umkehrungen  da  zu  verstehen,  wo  oft  nur  kleine  Anastomosen  zur  Ver- 
fügung stehen.  Die  Erhöhung  des  Druckes  im  centralen  Theil  des 
Gefässsystemes  kann  nicht  die  Ursache  sein,  sie  beträgt  selbst  bei 
Unterbindung  grosser  Gefässe,  wie  der  A.  renalis ,  nur  10  Mm.  Hg. 
Am  wahrscheinlichsten  bandelt  es  sich  um  die  Herabsetzung  der  Span- 
nung in  dem  blutleeren  Theil  selbst,  sowohl  der  Spannung  im  Gefäss- 
system ,  als  im  Gewebe.  In  diesen  druckfreien  Raum  strömt  nun  Blut 
aus  den  benachbarten  Theilen,  wo  normaler  Druck  besteht,  so  lange 
ein ,  bis  die  Spannung  überall  eine  gleiche  geworden.  Auch  aus  den 
Venenanfängen  kann  Blut  in  dieser  Weise  in  Regionen  verminderter 
Spannung  zurücktreten. 

In  manchen  Organen  sind  die  Anastomosi'ii  ungemein  .spärlich  entwickelt.  Man 
hat  de.«halb  die  zu  diesen  führenden  Arterien  .,E  n  darterien"*  genannt  (('olinheimj. 
(lenauere  Forschungen  haben  zwar  für  fast  alle  Endarterien  doch  noch  das  Vorhanden- 
sein von  nicht  ganz  spärlichen  Anastomosen  nachgewiesen,  z.  B.  für  die  Aa.  coronariae 
cordis,  Gehirnarterien  u.  s.  w.  Bei  langsamer  p]ntwicklung  des  Verschlusses  genügen  sie, 
um,  allmählich  sich  erweiternd,  die  Circulation  zu  unterhalten.  Bei  plötzlichem  Verschlu.ss 
(Embolie)  entsteht  aber  so  hochgradiger  Blutmangel  ,  dass  der  betn-tfende  Theil  zu 
Grunde  geht. 

Für  die  Entwicklung  des  CoUateralkreislaufes  ist  es  natürlich 
überaus  wiclitig.  dass  die  Arterien  wände  dehnbar  und  elastisch  sind. 
Sind  sie  starr  und  unelastisch  (Alter.  Atherom  u.  dcrgl.).  so  fallen  die 
Folgen  ungemein  viel  schwerer  aus.  als  in  Gesundheit  und  Jugend. 


3  I.  Oapitul.  —  Ocrtliclif!  Kreislaufs-  und  EriiäliruiigKStorungcn. 

Die  Folgen  völligen  Bhitabsclilusscs  sind    vielfach    stiulirt. 

Dauert  derselbe  nur  kurze  Zeit,  z.  B.  wälirend  einer  Operation. 
wo  vs^ir,  um  Blutverlust  zu  vermeiden,  imch  v.Esmarch  das  Blut  dureli 
centripctale  elastische  Einwicklung  austreiben  und  durch  elastische  Ab- 
schnürung am  Wiedereinströmen  hindern ,  so  folgt  der  L(>sung  des 
abschnürenden  Schlauches  zunächst  eine  mächtige  Blutüberfiillung 
(Hyperämie)  und  eine  leichte  Schwellung.  Diese  Beschleunigung  des 
Blutstromes  wird  auf  Gefässlähmung  (V),  beruhend  auf  Ernährungsstörung 
der  Gefässwand,  zurückgeführt  und  deshalb  auch  paralytische  Hyper- 
ämie genannt  (vergl.  Landerer ,  Gewebsspannung).  Die  Resor])tion  und 
Lymplibildung  sind  gesteigert.  Im  Laufe  von  Stunden  verschwindet 
diese  Hyperämie  wieder  und  Alles  ist  zur  Norm  zurückgekehrt. 

Die  Folgen  längeren  Blutabsclilusses  sind  uns  von  Thierexperimenten, 
namentlich  am  Kaninclienohr,  bekannt.  Löst  man  das  Band,  welches  das  Ohr  umschnürte, 
nach  8 — 10  Stunden,  so  schwillt  das  Ohr  beträchtlich  an,  das  Gewebe  ist  mit  reich- 
licher Flüssigkeit  erfüllt  und  dazwischen  finden  sich  zahlreiche  weisse  Blutzellen.  Nach 
einer  Abschnürung  von  20 — 24  Stunden  zeigt  das  Ohr  ausserdem  noch  zahlreiche,  dunkel- 
rothe  Verfärbungen,  von  Blutaustritten  in  das  Gewebe  herrührend.  Bleibt  das  Unterband 
2  Tage  liegen,  so  ist  die  Verbindung  zwischen  dem  Ohr  und  dem  Körper  überhaupt  gelöst. 
Weder  Blut  noch  GcAvebsflüssigkeit  treten  mehr  in  dasselbe.  Es  ist  todt,  meist  vertrocknet 
(mumificirt)  und  schwarz.  An  der  Grenze  schliesst  sich  das  Lebende  gegen  das  Todte 
durch  eine  demarkirende  Entzündung  ab.  (Vergl.  Brand.) 

Die  einzelnen  Organe  und  Gewebe  sind  gegen  völligen  Blutabschluss  sehr  ver- 
schieden empfindlich.  Das  Gehirn,  die  Lunge  sterben  schon  nach  einer  Blutabschliessung 
von  wenigen  Minuten  ab.  Die  Nierenepithelien  gehen  nach  einer  Anämie  von  circa 
7,  Stunde  zu  Grunde  u.  s.  w.  Für  uns  Chirurgen  haben  die  Untersuchungen  von  Leser 
„über  ischämische  Muskellähmungen"  grosses  Interesse.  Leser  fand ,  dass  nach  einer 
totalen  Anämie  von  nur  .3  Stunden  im  Kaninchenmuskel  schon  schwere ,  nur  langsam, 
in  ca.  3  Wochen  sich  ausgleichende  Ernährungsstörungen  eintraten.  Bei  einer  Blutleere 
von  ca.  18  Stunden  stellte  sich  völliger  Zerfall  der  Muskelfasern  ein.  —  Sehr  beach- 
tenswerth  sind  die  Ergebnisse  von  Ehrlich,  und  Brieger  in  ihren  Untersuchungen  über 
die  Aufhebung  der  Blutzufuhr  zum  Lendenmark.  Unterbindung  der  Aorta  abdominalis 
—  der  bekannte  Sfenson's,Q\\(i  Versuch  —  bewirkt  Aufhebung  der  ßlutzufuhr  zum 
Lendenmark.  Wurde  nach  Va  Stunde  die  Blutströmung  wieder  freigegeben ,  so  erholte 
sich  wohl  die  weisse  Substanz  des  Lendenriiarks ,  nicht  aber  die  graue  Diese  war 
dauernd  geschädigt.  —  Entziehung  der  Blutzufuhr  wirkt  auf  die  verschiedenen  Bestandtheile 
eines  Organs  ganz  verschieden.  In  dem  zeitweilig  abgeschnürten  Bein  sterben  die  Muskeln 
ab  und  verschwinden;  das  Bindegewebe,  die  Gefässe,  selbst  die  Nerven  bleiben  erhalten. 
Die  Nierenepithelien  gehen  zu  Grunde,  Gefässe  und  Bindegewebe  der  Niere  dagegen 
nicht.  An  die  Stelle  von  Geweben  höherer  Dignität  treten  solche  von  niedi'igerem 
Werthe;  an  die  Stelle  von  Muskelfasern  Bindegewebe  oder  Fettgewebe.  Den  Platz  ner- 
vöser Theile  nehmen  bindegewebige  ein  u.  s.  w.  Selbst  Gewebe ,  welche  sich  functionell, 
anatomisch  und  genetisch  so  nahe  stehen ,  wie  Lendenmarkgrau  und  Lendenmarkweiss, 
verhalten  sich  verschieden.  Wir  ziehen  aus  diesen  Thatsachen  den  wichtigen  Schluss, 
dass  die  Widerstandsfähigkeit  der  verschiedenen  Bestandtheile  eines  Organes  derselben 
Schädlichkeit  gegenüber,  hier  dem  Blutabschlusse  gegenüber,  eine  verschiedene  ist,  dass 
ein  Gewebe  theilweise  absterben  kann ,  theilweise  erhalten  bleibt.  Dieser  Gedanke  ist 
n.  A.  für  die  Lehre  der  parenchymatösen  und  interstitiellen  Entzündung  der  Degenerationen 
noch  lange  nicht  genügend  beachtet. 

Am  Krankenbette  begegnet  man  Zuständen  völligen  plötzlichen 
Blutabschlusses  zu  einem  Bezirke  seltener ,  noch  am  häufigsten ,  wenn 
man  einer  Blutung  wegen  eine  grosse  Arterie  unterbinden  muss  oder 
wenn  die  wichtigste  Arterie  eines  Theiles ,  z.  B.  die  A.  poplitea, 
zerrissen  oder  zerschossen  ist.  Auch  hier  ist  zimächst  Kühle,  Blässe 
zu  constatiren.  Das  Bein  ist  nicht  zu  gebrauchen.  Der  Kranke  hat 
sehr  starke  Schmerzen.  Allmählich  schwillt  das  Bein  ,  wird  blau 
(oft  gefleckt,  marmorirt).  Die  Haut  ist  von  kleinen  oder  grösseren 
Blutungen    durchsetzt.  Die  Oberhaut  fängt  an,    sich    von   den   tieferen 


Arterielle  Hyperämie.  9 

Schichten  der  Cutis  abzulösen.  Es  entstehen  mit  brauner  bluthaltiger 
Flüssigkeit  gefüllte  Blasen.  Diese  platzen  und  das  Rete  Malpig-hi  liegt 
nackt  zu  Tage.  Trübes,  rothbraunes  Serum  sickert  aus  diesen  Epithel- 
verlusten. Das  in  seiner  Ernährung  geschädigte  Glewebe  verfällt  reissend 
stinkender  Fäulniss  (feuchter  Brand).  —  Kleinere  Theile,  Zehen, 
Fingerspitzen  können  vertrocknen  und  mumificiren  (trockener  Brand). 
Bei  Operationen,  Amputationen,  Geschwulstexstirpationen  verfallen  oft 
die  äussersten  Theile  der  Haut,  womit  wir  die  Wunde  bedecken  wollen, 
ihrer  ernährenden  Gef ässe  beraubt ,  der  Anämie  und  damit  dem  Tode 
(„Lappen-  und  Randgangrän"). 

Die  Grundsätze  der  Behandlung  örtlicher  Anämie  sind 
Unterstützung  der  darniederliegenden  Circulation  und  P^'ernhaltung  aller 
Schädlichkeiten.  —  Beengende  Verbände  sind  zu  entfernen;  jede 
Lagerung,  welche  dem  Blutzufluss  ungünstig  ist,  wie  starke  Beugung, 
ist  zu  vermeiden;  massig  erhöhte  Lage  unterstützt  den  Abfluss  des 
Venenblutes.  Vorsichtiges  centripetales  Massiren  wirkt  in  gleicher  Weise. 
—  Die  Abkühlung  wird  durch  warme  Einpackungen,  in  Watte,  Kräuter- 
kissen u.  dergl.,  hintangehalten.  —  Der  schlimmsten  Gefahr  —  dem  Ein- 
nisten von  Mikroorganismen  und  den  dadurch  bedingten  Fäulnisspro- 
cessen  —  ist  durch  strenge  Antisepsis  vorzubeugen.  Beiden  Indicationen 
können  feuchtwarme  antiseptische  Umschläge  (Sublimat  1 :  1000 — 5000) 
entsprechen. 

Chronisch-anämische  Zustände  fordern  Anregung  der  Circulation 
durch  zweckmässigen  Gebrauch  des  Gliedes,  Massage  und  Elektricität, 
warme  Bedeckung  u.  dergl. 


Bei  vermehrter  Blutzufuhr  —  arterieller  Hyperämie  — 
erscheinen  die  Theile  lebhaft  geröthet,  wärmer,  etwas  geschwollen, 
ihre  Spannung  (Turgor)  ist  erhöht.  Arterielle  Hyperämie  entsteht  durch 
all  das,  was  die  Widerstände  —  in  den  zuführenden  Arterien,  in  den 
Capillaren ,  im  Gewebe  —  herabsetzt ,  in  erster  Linie  durch  Vermin- 
derung des  in  den  Arterien  gegebenen  Widerstandes  —  arterielle, 
relaxative  oder  congestive  Hyperämie,  auch  active  Congestion 
oder  Fluxion  genannt.  Diese  Zustände  setzen  eine  ErschlafiPung  oder 
Lähmung  der  Ringmusculatur  in  den  mittleren  Arterien  voraus.  Fällt 
der  Widerstand  in  den  mittleren  Arterien,  der  etwa  einem  Drittel  des 
Gesammtbhitdrucks  entspricht,  ganz  oder  zum  Theil  weg,  so  muss  sich 
dies  als  ein  beträchtlicher  Kraftzuwachs  für  die  Bhitbewegung  in  den 
Capillaren  geltend  machen.  Das  Blut  schiesst  mit  grosser  Geschwindigkeit 
durch  die  Capillaren,  und  konnnt  nocli  hcHroth  und  pulsirend  in  den 
Venen  an.  Die  Lym])lniienge  ist  hei  arterieller  Hyperämie  nicht  wesentlich 
vermehrt. 

Der  Hyperämie  nach  Durchschneidiing  der  Gefässnervcn  begegnet 
man  in  der  Praxis  kaum  Je,  häufig  dagegen  der  Hyperämie  nach  Li»sung 
der  elastischen  Al)schnürung  einer  Extremität  (vergl.  pag.  8). 

Ausserdem  wirken  gefässläinnend  und  damit  hyperämisirend 
Wärme;  ferner  psychische  Einflüsse,  welche  zum  Erröthen  fiiiiren.  Ob 
auch  die  auf  mechanischem  Wege  entstehenden  lifUhungen  durch 
Reiben,  Drücken,  Massage    u.  s.  w.    hieher  zu  rechnen   sind,    ist  eine 


10  I-  Capitel.  —  Oertliclie  KiNjislaufs-  iuhI  KiTiilhrungsstörungen. 

andere  Frage,  sie  sind  eher  zur  Entzündung  zu  rechnen.  Schliesslich 
entstehen  Blutüberfüllung-cn  auch  durch  unrnittelhare  Erregung  der 
Gefässerweiterer  (pag.  4). 

Eine  eigenartige  Form  der  Hyperämie  entsteht  durch  rasche  Ver- 
minderung der  auf  der  Aussenwand  der  Gef  asse  lastenden  Spannung, 
wodurch  sich  dieselben  plötzlich  aufs  Aeusserste ,  oft  bis  zum  Bersten 
erweitern  (Aufsetzen  von  Schröpfköpfen),  dann  durch  Verminderung  des 
Luftdruckes  (bei  Caissonarbeitern) ,  bei  der  plötzlichen  Entleerung  von 
Ergüssen,  welche  unter  starker  Spannung  stehen,  Cysten  u.  dergl. 

Eine  Behandlung  verlangt  die  arterielle  Hyperämie  nicht.  —  Kälte 
—  Eisumschläge  oder  Eisblasen  —  kann  die  erweiterten  Gefässe  zur 
Zusammenziehung  anregen. 


Die  venöse  oder  Stauungshyperämie  entsteht  durch  Be- 
hinderung des  venösen  Abflusses.  Störungen  des  Blutabflusses 
aus  den  grösseren  Körpervenen  in  das  Herz  führen  zu  schweren  all- 
gemeinen Circulationsanomalien,  zu  allgemeiner  Stauung  und  Cyanose. 
Wir  haben  auf  dieselben  nicht  einzugehen. 

Plötzliche  Unterbrechung  des  venösen  Ab  flusses  bei  freiem  arteriellen 
Strom  führt  rasch  zu  den  schwersten  Erscheinungen.  Unter  spannenden  Schmerzen 
nimmt  das  Glied  eine  graue,  dann  eine  bläuliche ,  schliesslich  schwarzblaue  Farbe  an. 
Der  Fingerdruck  verdrängt  die  Färbung  nicht  mehr ,  wenigstens  nur  langsam  und  un- 
vollkommen. Die  Wärme  des  Gliedes  nimmt  ab.  Die  Gebrauchsfähigkeit  ist  vermindert, 
bald  ganz  aufgehoben.  Eine  halbe  bis  eine  ganze  Stunde  nach  Beginn  des  Venenver- 
schlusses fängt  das  Bein  an  zu  schwellen,  die  Falten  gleichen  sich  aus,  das  Glied  ver- 
wandelt sich  in  eine  formlose  Masse.  Die  Haut  ist  prall  gespannt;  nur  mit  Mühe  ver- 
mag der  drückende  Finger  eine  Delle  in  die  Haut  zu  drücken,  welche  stehen  bleibt  und 
erst  langsam  sich  ausgleicht,  es  hat  sich  ein  straffes,  starres  „Oedem"  eingestellt.  Bald 
löst  sich  die  Oberhaut  in  Blasen  ab ,  die  ein  blutig  gefärbtes  Serum  enthalten.  Die 
Blasen  platzen  und  es  sickert  ein  schmutzigbraunes,  rothes  Serum  aus  der  blaurothen 
fleckigen  Epidermis  hervor,  das  nur  langsam  und  schlecht  gerinnt.  Die  der  schützenden 
Oberhaut  beraubten,  ungenügend  ernährten  Gewebe  verfallen  leicht  der  Fäulniss  und 
dem  Brande. 

Unterbindet  man  beim  Frosch  die  Vena  femoralis,  welche  fast  das  ganze 
venöse  Blut  aus  dem  Froschbeine  zurückführt,  so  erweitern  sich  (Beobachtung  der 
Schwimmhaut)  die  Capillaren  und  die  kleinsten  Venen  rasch,  bis  zum  Doppelten.  Die 
Blutbewegung  wird  langsamer  und  kommt  schliesslich  zum  Stehen.  Mit  jedem  Puls- 
schlag jedoch  kommt  eine  Bewegung  in  die  Masse,  es  schreitet  eine  Welle  von  den 
Arterien  durch  die  Capillaren  nach  den  Venen  hin  fort,  wird  dort  zurückgeworfen 
und  kehrt  als  rückläufige  Welle  zurück;  es  kommt  zu  einer  eigenthümlichen  rhythmi- 
schen Hin-  und  Herbewegung  des  Blutes,  einem  Kommen  und  Gehen,  dem  bekannten 
Va  et  vient.  Die  Maschen  des  die  Blutgefässe  umgebenden  Gewebes  füllen  sich  mit 
Transsudat,  Blutflüssigkeit  und  körperliche  Elemente  verlassen  in  Menge  das  Gefäss- 
system.  Das  Transsudat  ist  bei  venöser  Stauung  sehr  dünn  und  gerinnt  schlecht. 
Es  hält  nur  wenig  Fixa ,  1 — 2'/,  gegen  3 — 5°,,  in  der  Norm.  Neben  wenig  weissen 
Blutzellen  finden  sich  rothe  in  grosser  Zahl.  Die  Lymphmenge  ist  ausserordentlich  ver- 
mehrt. Die  zelligen  Bestandtheile  des  Gewebes  sind  zunächst  nur  wenig  verändert.  Da- 
zwischen liegen ,  am  reichlichsten  unmittelbar  um  die  Gefässe ,  grosse  Mengen  rother 
Blutkörperchen,  welche  durch  die  Gefässwand  ohne  Verletzung  ihrer  Continuität  hindurch- 
gepresst  sind  (Blutung  per  diapedesin).  Bei  längerem  Bestand  der  Störung  kommt 
es  auch  zu  Zerreissungen  der  Gefässe  und  es  erfolgen  dann  wirkliche  Blutungen  (per 
r  hex  in). 

Zum  Entstehen  dieser  schweren  Formen  venöser  Stauung  ist  es  nöthig,  dass  die 
abführenden  Venen  ganz  verschlossen  sind  —  wie  es  bei  der  Abschnürung  eines  Beines 
mit  elastischer  Schnur  unter  alleinigem  Freilassen  der  Arterie  der  Fall  ist  —  oder  dass 
Avenigstens  nur  ein  verschwindend  kleiner  Bruchtheil  der  Venen  wegsam  bleibt.  Das 
Unterbinden  der  Hauptvene  eines  Theiles  genügt  nur  beim  Frosc^i,  beim  Menschen  für 


Stauungshyperämie.  11 

geAvöhiilich  nicht.  Die  Lehre  Braune' s,  dass  Unterbindung  der  Vena  femoralis  un- 
mittelbar am  Poupar fschtn  Bande  zu  völliger  venöser  Stase  und  damit  zur  Gangrän 
des  Beines  führen  müsse,  ist  durch  die  Erfahrungen  am  Lebenden  nicht  bestätigt 
Avorden.  Wie  es  scheint,  steigt  der  Druck  in  den  Venen  so  hoch  an  und  dehnt  die- 
selben so  aus,  dass  der  Widerstand  der  Klappen  überwunden  wird  und  der  Venenstrom 
an  manchen  Stellen  seinen  Lauf  umkehrt. 

Auch  bei  Hunden  und  Kaninchen  genügt  die  Unterbindung  der  Vena  femoralis 
zur  Erzeugung  vollständiger  venöser  Stauung  nicht,  es  muss  noch  eine  grosse  Anzahl 
anderer  venöser  Gefässe  zum  Verschluss  gebracht  werden.  Cohnlieim  legte  eine  elastische 
Schnur  um  den  Oberschenkel,  spritzte  dann  von  der  Peripherie  her  Gips  in  die  Venen, 
liess  ihn  erstarren  und  öffnete  dann  die  Ligatur  wieder.  So  waren  alle  grösseren 
Gefässe  verstopft  und  es  stellten  sich  schwere  Stauuugserscheinungen  ein.  Doch  auch 
sie  führten  nicht  zur  Gangrän ,  wenn  die  Einspritzung  unter  Ausschluss  von  Fäulniss- 
stotten  gemacht  war.  Nach  AVochen  stellte  sich  die  Circulation  wieder  her.  Man  sieht 
daraus,  Avas  man,  sonst  normale  Verhältnisse  vorausgesetzt,  der  örtlichen  Circulation 
in  dieser  Richtung  bieten  kann. 

Plötzlicher  Verschluss  grosser  Venen  begegnet  dem  Arzt 
in  der  Praxis  selten,  noch  am  häufigsten  sind  es  Verletzungen  — 
Schüsse  oder  Stiche  in  die  Gefässe,  Zerreissungen  bei  Streckung  von 
Ankylosen,  Einrichtungen  von  Verrenkungen  u.  dergl.  Oder  man  hat 
bei  Geschwulstausschälungen  grosse  Venen  zu  unterbinden.  Es  ent- 
stehen dann  oft  Zustände  peinlichster  Ungewissheit  für  den  Chirurgen, 
ob  die  Circulation  sich  wieder  herstellen  wird  oder  nicht  (vergl.  pag.  10). 

Zustände  langsamen  Verschlusses  von  Venen  sind  nicht  selten 
durch  langsam  wachsende  Geschwülste  oder  schrumpfende  Narben.  Bei 
langsamem  Entstehen  bleibt  der  Verschluss  selbst  grosser  Venen  oft 
ohne  jede  Folgen  und  entzieht  sich  der  Diagnose  ganz.  In  dem  Masse, 
als  die  Lichtung  der  Vene  sich  mindert,  erweitern  sich  andere  Bahnen 
und  die  Circulation  vollzieht  sich  ohne  jedes  Hinderniss.  In  wieder 
anderen  Fällen  bleibt  allerdings  der  Verschluss  grosser  Venen  nicht  so 
ganz  symptomlos,  so  kommt  es  in  den  letzten  Stadien  des  Brustkrebses 
oft  zu  schweren  Störungen  im  Arm  durch  Verschluss  der  Vena 
axillaris. 

In  Innern  Organen ,  welche  äussern  ungünstigen  Einflüssen ,  wie  Abkühlung, 
Fäulniss,  nicht  ausgesetzt  sind,  gestaltet  sich  der  endliche  Ausgang  etwas  anders.  AVird 
die  Nierenvene  unterbunden,  so  verfallt  das  Organ  nicht  im  Ganzen  dem  Brande  oder 
der  Fäulniss,  sondern  nur  einem  partiellen  Tode.  Nach  einigen  Wochen  findet  man  die 
drüsigen  epithelialen  Gebilde  verschAvunden,  die  bindegewebigen  Theile  und  die  Gefässe 
sind  erhalten  geblieben. 

Die  schliessliche  Wirkung  des  venösen  Verschlusses  berührt  sich 
mit  der  Wirkung  des  Blutabschlusses  überhaupt.  Vergl.  Anämie,  pag.  8. 

Für  die  Behandlung  schwerer  venöser  Stauung  ist  das 
weitaus  beste  Mittel  die  verticale  Elevation  des  Theiles.  Nach  kurzer 
Zeit,  oft  schon  nach  einer  halben  Stunde,  erfolgt  selbst  bei  schweren 
Stauungen  Abnahme  der  Schwellung  und  der  übrigen  Erscheinungen. 
Neben  der  Elevation  sind  centripetale  Einwicklung  mit  elastischer  oder 
Flanellbinde,  warme  Einhüllungen  des  betreffenden  Theiles  nützlich. 
Früher  wurden  gerne  warme  Pjähungen.  Fomentationen,  namentlich  mit 
Säckchen ,  die  mit  aromatischen  Kräutern  (Species  aromaticae)  gefüllt 
sind ,  gemacht.  Neben  der  Elevation  sind  oft  zahlreiche ,  antiseptisch 
ausgeführte,  kleine  Feinschnitte  (Debridement)  nützlich,  um  die  Span- 
nung zu  vermindern. 

Der  Vorsclilag,  bei  Verletzung  der  Hanptvene  einer  Extrcinitüt  auch  die  betreffende 
Arterie  (z.  B.  A.  femoralis)  zu  unterbinden,  i.st  theoretisch  schlecht  begründet  (ein  hoher 
arterieller  Druck  i.st  zur  Erhaltung  der  Ciiculation  iiöthig).  Dii;  jiraktischc  Erfahrung 
spricht  ebenso  direct  dagegen. 


12  I-  Oapitel.  —  Oertliche  Kreislaufs-  und  Ernährungsstörungen. 

Zustände  c  hr  o  n  i  s  c  h  e  r  ö  r  1 1  i  c  b  e  r  B 1  u  t  s  t  a  u  u  n  g  sind  nicht  so  selten , 
so  bei  Venenverstopfungen  (Thrombosen).  Aehnlich  wirken  (;oin])ri- 
mirende  Geschwülste,  Narben  u.  dergl.,  dann  Erweiterungen  der  Stroni- 
bahn,  welche  an  sich  natürlich  zur  Verlangsamung  des  in  dem  er- 
weiterten Bett  sich  bewegenden  Stromes  führen  —  Venenerweiterungen 
(Varicositäten).  Die  Folgen  sind  ungenügender  Blutwechsel  und  dadurch 
bedingte  Ernährungs-  und  Functionsstörungen,  Oedeme  und  Geschwürs- 
bildungen. Bei  lange  dauernder  Stauung  entwickeln  sich  wichtige  anato- 
mische Veränderungen  Die  Parenchymflüssigkeit  ist  dauernd  vermehrt. 
Pigmentscholleu ,  die  Ueberreste  zerfallener  Blutkörperchen ,  weisen 
auf  frühere  Blutaustritte  hin.  Weisse  Blutzellen  sind  nicht  zu  reichlich  ; 
die  Bindegewebsfasern  sind  gequollen,  plump  und  dick  fhydropisch), 
ebenso  die  Bindegewebszellen.  Auch  die  Gefässwände  sind  verdickt. 
Die  epithelialen  Gewebe  sind  in  ähnlicher  Weise  verändert,  gequollen 
und  wasserhaltiger,  oft  auch  rareficirt*  Die  Zustände  chronischer  venöser 
Stauung  berühren  sich  mit  der  „Elephantiasis"  oder  „Pachydermie'' 
(s.  dieses). 

Die  Behandlung  chronischer  Stauung  ist  eine  mühevolle 
und  nicht  immer  lohnende.  Hohe  Lage  des  Theiles  begünstigt  den 
venösen  Rückflüss,  den  man  noch  durch  centripetales  Massiren,  Ein- 
wicklungen  mit  elastischen  oder  nassen  Leiuenbinden  unterstützt. 

Bier  hat  massige  venöse  Stauung  von  längerer  Dauer  zur  Behandlung  tubercu- 
löser  Knochen-  und  Gelenkentzündungen  verwerthet,  in  einem  Theil  der  Fälle  mit  Erfolg 
(s.  Tuberculose  der  Knochen  und  G-elenke). 

Die  passive  Hyperämie  oder  Senkungshyperämie  hat  für 
den  Chirurgen  weniger  Interesse  als  für  den  innei'cn  Arzt.  Bei  Zu- 
ständen, welche  mit  einem  Erlahmen  der  Herzkraft,  einem  Sinken  des 
Blutdruckes  verbunden  sind,  bleibt  das  Blut  in  den  Venen  liegen, 
besonders  an  den  abhängigsten  Stellen,  wo  dem  venösen  Rückfluss 
sich  die  Schwere  als  weiteres  hinderndes  Moment  entgegenstellt.  Schlecht 
ernährt,  verfallen  diese  Theile  —  die  Kreuzbeingegend,  die  Fersen  — 
leicht  der  Oedembildung,  der  Entzündung,  dem  Druckbrand  (siehe 
dort).  Nur  von  einer  Aufbesserung  der  Herzkraft  ist  eine  Beseitigung 
der  Störung  zu  erwarten. 


Thrombose.  Embolie.  Oedem. 

Blutgerinnung  und  Thrombusbildung.  —  Der  rothe  und    der  weisse  Thrombus.  — 

Die  weiteren  Veränderungen  des  Thrombus.  —  Die  Embolie  und  ihre  Folgen.  — 

Zur  Physiologie    der  Lymphbildung.  —  Stauungsödem.  —  Marantisches  Oedem.  — 

Die  übrigen  Arten  von  Oedem. 

Eine  Reihe  wichtiger  Störungen  der  örtlichen  Blutcirculation  und 
Ernährung  entsteht  bei  Verlegung  der  Gefässlichtnng  durch  Gerinnungs- 
vorgänge innerhalb  der  Gefässe  (Thrombosis)  oder  in  Folge  von 
Verstopfung  durch  Fremdkörper  und  Pfropfe,  welche,  vom  Blutstrom 
mitgerissen,  in  die  Blutgefässe  hineingetrieben  werden  (Embolie) 

Die  Blutgerinnung  ist  die  Folge  reichlichen  Zerfalles  der  zelligen 
Elemente  des  Blutes.  Die  fibrinogene  Substanz  entsteht  durch  Zerfall 
der  /elligen  Elemente  des  Blutes.     Das  Fibrinferment  bildet    sich    vor- 


Blutgerinuung.  —  Thrombose.  13 

wiegend  aus  den  Leukocyten  (Alex.  Schmidt)  und  den  Blutplättehen 
(Bizzozero) ,  und  zwar  aus  dem  Zellkern  (Leukonuclein ,  Lüievfeld- 
Kossel).  Das  Leu-konuclein  soll  aus  der.  fibrmogenen  Substanz  das  noch 
lösliche  Thrombosin  abspalten,  und  dieses  fällt  mit  den  Kalksalzen  des 
Blutes  (Hammarsten,  Pekelharing)  als  Fibrin  aus.  Der  Uebergang  von 
Bestandtli  eilen  der  weissen  Blutzellen  in  das  Plasma  im  Beginn  der 
Gerinnung  ist  von  Löicit  (Piasmoschisis),  von  Lilienfeld  (Karyoschisis) 
direct  beobachtet  worden,  ebenso  wie  Hauser  und  Zenker  die  Leukocyten 
als  unmittelbare  Gerinnungscentren  nachwiesen.  Die  Lehre  Weigert's., 
dass  es  sich  bei  der  Gerinnung  um  Processe  von  Coagulationsnekrose 
der  Leukocyten  mit  Kernzerfall  etc.  handle,  ist  so  vertieft  und  ausgebaut. 

Stetige  Berührung  mit  der  lebenden  Gefässwand  verhindert  die 
Gerinnung  (Brücke).  Tritt  das  Blut  aus  den  Gefässen  aus,  z.  B.  bei 
einer  Blutung  in  das  Gewebe,  so  erfolgt  die  Gerinnung  des  Blutes  in 
derselben  Weise,  wie  wenn  das  Blut  nach  aussen  entleert  wird. 

Die  Gerinnung  des  Blutes  innerhalb  der  Gefässe  (Thrombosis) 
erfolgt  jedoch  nicht  genau  nach  diesem  Schema.  Die  Arbeiten  der  letzten 
Jahre  (Bizzozero^  Eberth  und  Schimmelhusch)  haben  gezeigt,  dass  zum 
Zustandekommen  eines  Thrombus  zwei  Momente  zusammenwirken  müssen: 
Veränderung  der  Gefässwand  und  Verlangsamung  der  Blutströmung 
an  der  betreffenden  Stelle.  Aenderung  der  Gerinnungsfähigkeit  des 
Blutes  ist  gleichfalls  wichtig. 

Die  frülier  ausschliesslich  geltende  Ansicht  von  Virchow  gilt  daher  zur  Zeit  nur 
mit  Moditicationen.  Indem  er  den  Process  der  Blutgerinnung  innerhalb  und  ausserhalb 
der  Cletasse  als  im  Wesentlichen  identisch  ansah  ,  liess  er  die  Bildung  von  Throml)en 
zu  Stande  kommen  durch  Aufhebung  der  Lichtung  des  Gefässes,  Compressions- 
thrombose  (bei  Druck  von  Geschwülsten,  Narben  u.  dergl.).  Durch  Stromverlang- 
saniung  soll  die  zweite  Art,  die  Dilatationsthrombose  entstehen,  indem  der  Blut- 
strom in  dem  erweiterten  Bett  langsamer  fliesst  oder  gar  stillsteht,  in  erweiterten 
Arterien  (Aneurysmen)  oder  Venen  (Varicositäten).  Die  Alterationsthrombose 
beruht  auf  einer  Veränderung  der  Gefässwand,  entzündlicher  Natur  oder  bei  Eauhig- 
keiteu ,  wie  sie  bei  der  chronischen  Arterienentzündung  (Atherom)  gefunden  werden. 
Hieher  ist  auch  die  vierte  Art,  die  traumatische,  zu  rechnen,  wenn  die  Gefässwand 
durch  eine  Verletzung  bei  Unterbindungen  beschädigt  oder  zerrissen  wird.  Durch 
Wandveränderung  und  Stromverlangsamung  zusammen  mag  die  fünfte  Form  bedingt 
sein,  die  marantische,  wenn  bei  allgemeinem  Darniederliegen  der  Ernährung  und 
des  Kreislaufs  Stillstand  des  Blutes  und  damit  Gerinnungen  desselben  innerhalb  der 
Gefässe  erfolgen.  So  einfach  diese  Virchow' sähe  Lehre  schien  —  Blutgerinnung  durch 
Stromverlangsamung  oder  Wandveränderung  —  so  Hessen  sich  doch  manche  Erfahrungen 
der  Praxis,  besonders  seit  Einfühning  der  Antisepsis,  nicht  damit  in  Einklang  bringen, 
namentlich  die  häufig  wiederholte  Beobachtung,  dass  Blut,  selbst  lange  in  Gefässen  stag- 
nirend,  nicht  gerinnt,  wenn  die  Wand  sich  nicht  entzündet  und  verändert  (Baunigarien). 
Andererseits  führen  Rauhigkeiten  der  Gefässwand ,  z.  B.  Zerreissung  der  T.  intima  und 
media,  nicht  zur  Gerinnung,  so  lange  die  Blutbewegung   nicht   verlangsamt  ist  (Zahn). 

Eine  tiefgehende  Erschütterung  erlitt  die  Virchow'sc\\e  Lehre  durch  die  Unter- 
suchungen Zahn's,  Avelchc  zur  Unterscheidung  des  „rothen"  und  „weissen"  Thrombus 
führten.  Zahn  studirte  die  Thrombusbildung  durch  unmittelljare  Beobachtung  am  Frosch- 
mesenterium.  An  der  Stelle,  wo  die  Gefässwand  durch  Verletzung  oder  chemische 
Einflüsse  (z.  B.  Auflegen  eines  Kochsalzkrystalles)  geschädigt  war,  lagerten  sich, 
namentlich  wenn  die  Circulation  in  dem  blossgelegten  Mesenterium  sich  verlangsamte, 
weisse  Blutzellen  um  weisse  Blutzellen  an ,  und  bildeten  einen  Hügel ,  welcher  in  die 
Lichtung  des  Gefässes  hereinragte,  um  schliesslich  fortgeschwemmt  zu  werden  oder  die 
gegenüberliegende  AVand  zu  erreichen  und  das  Gefäss  ganz  zu  verschliessen. 

Nach  Bizzozero,  Eherih  und  SchimmeUjuscli,  Löwit,  die  gleichfalls  am  lebenden 
Thier  direct  beobachteten,  lagert  sich  bei  verlangsamter  Circulation  an  chemisch  (durch 
Aetzung  u.  s.  w.)  oder  physikaliscli  (durch  (Quetschung)  veränderten  Stellen  der  Gefäss- 
wand hauptsächlich  der  dritte  Bestandtheil  des  Blutes,  die  Blutplättchen,  an.  Sie  kleben 
zusammen  (Conglutination)  und  bilden  zunäclist  einen  in  das  Gefäs.slamen  hereinragenden 


14  •!•  Capitel.  —  (Jertliclie  Kreisliuifs-  uimJ    l''.rniUiiuiij^.s.stöi'u)ij<(:n. 

Hügel,  der  schliesslich  das  Gcfäss  verlegt.  J>urcli  „viskose  Metamorpiiose"  der  J-'lättcheu 
wird  der  Plättcheuthrombus  schliesslich  zu  einer  festen  Masse,  „Conglutinatioiisthronilnis". 
Die  weissen  Blutkörperchen  sollen  hiebei  keine  Rolle  spielen,  doch  ist  die  Möglichkeit, 
dass  auch  sie  durch  Coagulation  einen  Thrombus  bilden,  niclit  zu  leugnen  —  ,.Coagn- 
lationsthrombus". 

Diese  Thromben  —  im  strömenden  Blut  gebildet  —  sind  weisse  Thromben, 
d.  h.  sie  enthalten  rothe  Blutkörperchen  gar  nicht  oder  nur  in  verschwindender  Menge 
im  Gegensatz  zum  rothen  Thrombus,  der,  durch  gewöhnliche  Blutgerinnung  entstanden, 
überwiegend  rothe  Blutkörperchen  enthält.  Als  Mittelding  zwischen  beiden  ist  der  ge- 
schichtete Thrombus  zu  nennen,  der  abwechselnd  weisse  und  rothe  Schichten  enthält. 

Rothe  Thromben  kommen  im  lebenden  Körper  nicht  zu  häufig-  vor. 
Zu  ihrer  Entstehung  bedarf  es  vor  Allem  einer  schweren  Erkrankung- 
der  Gefässwand,  in  erster  Linie  des  Endotliels.  Namentlich  kommen 
entzündliche  Veränderungen,  besonders  bacterieller  Natur,  in  Betracht. 
vorzugsweise  bei  inficirten  Wunden  (Pyämie,  Eitervergiftnngj  und  bei 
der  Venenentzündung  (Phlebitis),  dann  auch  in  grossen  Aneurysmen  mit 
stark  veränderter  Wand. 

Zum  Verschluss  verletzter  Blutgefässe  bei  Unterbindungen  ist 
weder  der  weisse,  noch  der  rothe  Thrombus  nöthig.  Derselbe  erfolgt, 
wie  wir  sehen  werden,  durch  eine  Wucherung  und  Verlöthung  der 
Gefässendothelien.  Doch  können  beide  Arten  der  Thrombusbildung 
bei  dem  provisorischen  Verschluss  der  Blutgefässe  mitwirken,  der  rothe, 
wenn  bei  schweren  Verblutungen  das  träge  fliessende  und  äusserst 
gerinnungsfähige  Blut  gerinnt,  und  das  Gerinnsel  die  Ader  vorläufig 
verstopft.  Ein  weisser  Thrombus  kann  sich  in  den  Fältchen  der  zer- 
rissenen, zusammengekräuselten  Intima  vor  der  Unterbindungsstelle 
bilden  oder  auf  den  Rauhigkeiten  der  Intima  bei  einer  Stichverletzung, 
und  so  zunächst  die  Oetfnung  verschliessen,  bis  der  Verklebungsprocess 
der  Intima  erfolgt  ist. 

Die  Folgen  der  Thrombose  sind  verschieden,  je  nachdem  der 
Thrombus  das  Gefässlumen  nur  theilweise  ausfüllt,  ])artiell  o  b- 
struir ender  Thrombus,  auch  „wandständiger"  Thrombus  genannt, 
oder  es  ganz  verschliesst ,  total  obstruir ender  Thrombus.  Die 
Folge  einer  Thrombose  ist  Anämie  (s.  pag.  8).  —  Die  Venen  sind  die 
eigentliche  Stätte  der  Thrombusbildung.  Bei  den  massenhaften  Anasto- 
mosen bleibt  häufig  jede  Folge  für  Circulation  und  Ernährung  aus;  wird 
jedoch  eine  grosse  Vene  thrombosirt,  so  kommt  es  zur  venösen  Stauung 
(s.  pag.  10).  An  peripheren,  der  Betastung  zugänglichen  Stellen  (V.  sa- 
phena, V.  femoralis)  fühlt  man  (Vorsicht!)  die  Stelle  der  Thrombose 
als  einen  cylindrischen ,  härtlichen,  etwas  empfindlichen  Strang  oder 
Knoten;  daneben  hat  man  die  Erscheinungen  der  Stauung. 

Die  weiteren  Veränderungen  des  Thrombus  sind  nicht  immer 
dieselben.  —  Unmittelbar  am  Froschmesenterium  beobachtet,  werden 
zunächst  die  Contouren  der  weissen  Blutkörperchen ,  respective  Blut- 
plättchen, undeutlicher,  der  Thrombus  gewinnt  erst  ein  feinkörniges, 
dann  ein  hyalines  Aussehen  und  schrumpft.  Nach  Tagen  findet  man 
an  Stelle  der  weissen  Blutkörperchen,  respective  des  Fibrins  bleibendes 
Gewebe.  Der  Thrombus  organisirt  sich.  Diese  Metamorphose 
machen  sowohl  der  rothe  als  der  weisse  Thrombus  durch.  Alle  neueren 
Forschungen  stimmen  darin  überein,  dass  es  sich  hiebei  nicht  handelt 
um  eine  Organisation  und  Umwandlung  der  Bestandtheile  des  Throm- 
bus, der  rothen  und  weissen  Blutkörperchen,  zu  bleibendem  Gewebe  — 
zu  Bindegewebe,  sondern  um  ein  Hereinwachsen  von  jungem  Bindegewebe 


Organisation  des  Thrombus. 


15 


und  feinsten  Bliitg-efässen  von  aussen  in  den  Thrombus.  Dessen  Bestand- 
theile  verschwinden  in  dem  Masse,  als  die  ])indegewebig'en  Theile 
überhand  nehmen.  Es  liegt  also  nicht  eine  Organisation  des  Thrombus 
vor,  sondern  eine  Substitution  desselben  durch  eindringendes  Binde- 
gewebe und  Gefässe. 

Fig.  1  zeigt  die  Organisation  eines  weissen  Thrombus.  Bei  a  finden  sich 
glänzende,  leicht  körnige  bis  hyaline  Massen,  hervorgegangen  aus  den  „conglutinirten" 
Blutplättchen  oder  weissen  Blutkörperchen.  Zwischen  sie  scliieben  sich  Züge  weisser 
Blutzelleu  h  herein,  an  einzelnen  Stellen  junge,  mit  zarten  Ausläufern  versehene  Spindel- 
zellen c.  Bei  d  findet  sich  eine  längliche  Spalte  im  Gefüge ,  die  vielleicht  die  Circu- 
lation  von  Lymphe  oder  Blut  einleitet. 

Fig.  2  ist  in  Organisation  begriflener  rother  Thrombus.  Sehr  deutlich  ist  der 
Unterschied  zwischen  ihm  und  dem  weissen  Thrombus.  An  Stelle  der  feinkörnigen 
Massen  hat  man  hier  das  charakteristische  Mosaik  der  rothen  Blutkörperchen.  Die 
Tunica  media  des  Gefässes  fast  normal,  nur  von  wenigen  weissen  Blutzellen  durchsetzt. 


Fig.  1. 


Weisser  Thrombus. 


Die  Gefässinnenhaut  dagegen  befindet  sich  in  lebhafter  Wucherung  und  sendet  in 
die  Masse  der  rothen  Blutköii^ercheu,  zwischen  welchen  nur  spärliche  weisse  Blutzellen 
eingesprengt  sind,  bindegewebige  Fortsätze  hinein.  Der  Innenhaut  benachbart  sind 
diese  massiger  und  zeigen  an  den  Stellen ,  wo  sie  sich  theilen ,  grössere  kernhaltige 
Zellen;  weiter  nach  dem  Centrum  des  Thrombus  zu  sind  die  jungen  Fasern  noch 
überaus  zart  und  fein.  Die  Innenhaut  ist  in  der  Abbildung  nicht  deutlich  genug 
hervorgeholjen. 

Indem  der  Thrombus  schrumpft,  können  wandständige  Throml)en 
schliesslich  fast  ganz  verschwinden  oder  zai  einem  unscheinbaren,  von 
Endothel  überkleideten  Höckerchen  der  Gefässwand  werden.  Von  total 
obstruirenden  bleibt  schliesslich  nichts  als  ein  dünner,  bindegewebiger 
Strang  als  liest  des  Gefässes.  Das  junge  Bindegewebe,  welches  in  den 
Thrombus  hineinwächst,  wandelt  sich  schliesslich  um  in  Xarbcngewebe 
und  der  ganze  Process  der  Organisation  des  Thromlms  ist  von  anderen 
ähnlichen,  die  wir  bei  der  Wundheilung  kennen  lernen  werden,  z.  B.  der 
Organisation  des  Blutgerinnsels,  gewissen  Vorgängen  bei  der  Narben- 
bildunu".  in  nichts  voi-scliieden. 


16 


I.  Capitel.  —  Oertliche  Kreislaufs-  und  Eniährungsstörnngen. 


In  einzelnen  Fällen  wird  der  Thrombus  auch  wieder  durchgängig, 
er  wird  canalisirt  (sinusartige  Degeneration),  namentlich  an  der 
V.  Cava  inferior,  am  Zusammenfiuss  der  Vv.  iliacae,  bei  sog.  Phleg- 
masia alba  dolens.  Die  in  ihn  hineinwachsenden  Gefässe  gewinnen 
nach  beiden  Seiten  hin  Anschluss,  und  indem  das  Gewebe  zwischen 
ihnen  schrumpft,  können  sie  sich  erweitern  und  die  Circulation  von 
einem  Ende  des  Gefässes  zum  andern  kann  sich  wieder  herstellen. 
Zum  Theil  kommen  auch  die  Vasa  vasorum  in  Betracht.  —  Scheraatisch 
ist  dieser  Vorgang  in  Fig.  3  dargestellt. 

Die  Gefässe  wachsen  von  beiden  Seiten  her  in  den  Thrombus  herein  und  ge- 
winnen  mit    den    von    der   Gefässwand ,    den   Vasa  vasorum,    gelieferten    neugebildeten 

Fig.  2. 


Eother  Thrombus  in  Organisation. 


Gefässchen  Fühlung.    Die  Canalisation  erfolgt  in  den  peripheren  Schichten  des  Thrombus 
früher  und  ergiebiger  als  im  Centrum. 

Bei  Ausbleiben  der  Organisation  und  Vascularisation  erweicht 
der  Thrombus  central.  Die  weissen  Blutkörperchen  zerfallen  zu  einem 
fettigen  Brei,  welcher  beim  rothen  Thrombus  auch  noch  die  Reste  des 
Farbstoffes  der  rothen  Blutkörperchen  enthält — ^  rothe  Erweichung, 
oder  es  kommt  —  wenn  in  den  Thrombus  eitererregende  Stoffe  ein- 
geschlossen sind,  zur  Umwandlung  in  Eiter,  zur  gelben  eitrigen  Er- 
weichung, puriformen  Schmelzung.  Gelegentlich  kann  ein  Thrombus 
auch  verkreiden  oder  verkalken  (Venensteine,  Phlebolithen,  Arterio- 
lithen). 

Bleibt  der  Thrombus  auf  den  Ort  seiner  Entstehung,  also  die 
wunde   Gefässstelle,    wo   er   sich   gebildet,   beschränkt,   so   ist   er   ein 


Embolie.  —  Infarct. 


17 


„aiitochthoner"  Thrombus.  Sind  die  Bedingungen  günstig,  ist 
namentlich  die  Circulation  verlangsamt,  so  wächst  er  durch  Auflagerung 
neuer  Schichten  —  fortgesetzter  Thrombus.  Schliesslich  kann  die 
Thrombose  bis  zu  einer  Stelle  des  Gefässes  vorrücken,  wo  noch  rege 
Circulation  ist  —  bis  zur  Einmündung  in  das  nächste  grössere  Gefäss. 
Der  vorbeischiessende  Blutstrom  reisst  ein  Stück  ab  und  schwemmt  es 
mit  fort;  der  Thrombus  wird  zum  Embolus  (vergl.  Fig.  4). 

Fig.  4   zeigt,    wie    ein   Thrombus    ia   dem    Seitenast   einer   gi'össeren    Vene    sich 
bildet,    durch    schichtweise   Auflagerung    sich    vergrössert,    bis    er    höckerartig    in    das 


Fig.  3. 


Fig.  i. 


Lumen  der  Hauptvene  hereinragt.  Hier  wird  er 
schliesslich  vom  Blutstrom  losgelöst  und  weg- 
geschwemmt. 

Aus  den  Venen  geht  der  Thrombus 
durch  das  Herz  in  die  Lungenarterien. 
Bald  bleibt  er  an  einer  Gabelung  vorerst 
hängen,  in  beide  Gefässe  hineinragend  — 
reitender  Embolus,  schliesslich  wird 
er  in  ein  Gefäss  eingetrieben,  dessen  Lichtung  er  mehr  oder  weniger 
ausfüllt.  Sind  au.sreichende  Anastomosen  da,  so  stört  er  die  Circulation 
nicht.  Die  Lücken  zwischen  ihm  und  der  Gefässwand  füllen  sich  mit 
weissen  BlutkiU-perchen  und  Fibrin  aus,  von  den  Gefässwänden  wächst 
junges  Gewebe  herein;  er  wird  organisirt,  resp.  substituirt  (pag.  15). 
Fährt  er  in  eine  Endarterie  (s.  pag.  1) ,  so  wird  der  dahinter  liegende 
Theil  anämi.sch  und  bleibt,  je  nach  dem  Verhalten  der  Gefässe,  blutarm 
oder  füllt  sich  von  den  benachbarten  Gefässen  her  mit  Blut,  so  namentlich 
in  der  Lunge;  es  entsteht  ein  hämorrhagischer  Infarct,  dessen 
weiteres  Schicksal  das  eines  Blutergusses  ist  (s.  Blutung). 

War  der  Throinl)us  mit  eiter-  oder  fäulnisserregenden  Stoffen 
durchsetzt,  so  erregt  er  an  der  Stelle,  wo  er  sich  festgesetzt,  denselben 
l^rocess,  wie  am  Orte  seiner  Entstehung:  Eiterung  oder  Jauchung;  es 
bildet  sich  ein   ..metastatischer"  Herd  oder  Abscess. 

I.andorer.   All;^.  chir.  l'atliologio  ii.  Therapie.  2.  AuH.  2 


13  '■  ''iipilel.   —  OciUicIic    Kn-islaufs-  uiid    Krniilii'iiiig.s.störuntfcn. 

Kleinere  Emboli  können  die  Lungencapillarität  passiren  und  sich 
jenseits  in  Muskeln,  Nieren  u.  s.  f.  festsetzen  und  dort  eapilläre 
Embolien  erzeugen.  Eine  Reibe  „Infectionskranklieiten",  z.  ß.  die 
Tuberculose,  vermögen  die  Gefässwände  zu  inticiren,  sie  zu  durcli- 
brecben  und  'J'hrombenbildung-  im  Gefäss  zu  veranlassen.  Wird  der 
Tbrombus  losgelöst  und  zum  Eni))olus,  so  erfolgt  eine  Verscb]e))pung 
des  Giftes,  eine  Verallgemeinerung  (Generalisationj  des  Leidens  fall- 
gemeine Miliartuberculose).  Die  „Metastasen",  bösartige  Neubildungen 
—  der  Krebse  und  namentlich  der  Sarkome  —  vollziehen  sich  in  der 
gleichen  Weise  durch  Bildung  infectiöser  Thromben  und  folgende 
Embolien.  Hieraus  ergibt  sich  die  hohe  klinische  Bedeutung  der 
Thrombose  und  Embolie  ohne  Weiteres. 

Fremdkörper,  von  aussen  durch  Verletzungen  in  die  Gefässbahn  hereingelangt, 
spielen  praktisch  nur  eine  untergeordnete  Rolle.  Wichtig  ist  gelegentlich  Hüssiges  Fett, 
■welches  zur  „Fettem bolie"  der  Lungencapillaren  führt.  Bei  Zertrümmerung  stark 
fetthaltiger  Knochenpartien,  namentlich  der  spongiösen  Enden  der  Röhrenknochen  (am 
Kme),  auch  bei  Operationen  gelangt  flüssiges  Fett  in  Tropfenform  in  Venen  und  wird 
in  die  Lungencapillaren  eingekeilt.  Sind  zahlreiche  Capillaren  verstopft,  so  können, 
bei  sonst  geschwächten  Individuen,  schwere  Respirationsstörungen,  selbst  der  Tod  die 
Folge  sein.     Anderenfalls    verschwindet   das  Fett    allmälig   wieder   aus   den  Capillaren. 

Durch  verletzte  Venen  des  Halses  und  der  Brust,  ebenso  auch  des  Uterus 
kann  Luft  in  die  Circulation  eintreten.  Die  Luftblasen  werden  in  die  Lungengefässe  ein- 
getrieben und  können  in  gleicher  Weise  wirken  (L  u  f  t  e  mb  o li  e),  oder  sie  werden  im  Herzen 
zurückgehalten,  so  dass  die  Arbeit  des  Herzens,  Klappenschluss  etc.  unmöglich  werden. 

Nach  RecMinghausen  gibt  es  auch  eine  rückläufige  Embolie,  dem  Blutstrom 
entgegen;  wenigstens  in  den  grossen  Unterleibsvenen,  wo  ein  minimaler  Druck  herrscht, 
kann  sich  ein  Embolus ,  dem  Strom  entgegen ,  seiner  Schwere  folgend ,  nach  der  Peri- 
pherie hin  bewegen. 

Die  Behandlung  der  Thrombose  und  Embolie  kann  nur  eine 
vorbeugende  sein.  Der  Thrombus  darf  nicht  zum  Embolus  Averden. 
und  dies  erreicht  man  am  besten  durch  absolute  Ruhe,  bis  er  sich 
organisirt  hat  (mindestens  10 — 14  Tage).  Die  Behandlung  der  Folge- 
zustände besprechen  wir  an  den  einzelnen  Orten. 

Oedem  ist  die  übermässige  Ansammlung  von  Gewebsflüssigkeit 
in  den  Gewebsspalten  und  Gewebszellen.  Sammelt  sich  dieselbe  in 
grösseren  vorgebildeten  Räumen  an,  so  reden  wir  von  Hvdroperitoneum 
(Hydrops  Ascites),  Hydrothorax,  Hydropericardium  u.  s.  f. 

Die  Gewebsflüssigkeit  ist  ein  Transsudat  aus  dem  Blute,  das  sich  von  diesem 
wesentlich  unterscheidet,  weil  das  Filter  (die  Capillarwand")  nur  einem  Theil  des  Inhaltes 
den  Durchtritt  gestattet,  den  anderen  zurückhält  („elective  Filtration'").  Die  treibende 
Kraft  ist  die  Gewebsspannung,  ein  Derivat  des  Blutstroms  (vgl.  Lander  er,  Die  GcAvebs- 
spannung).  Mit  vollem  Recht  fasst  man  daher  das  Lj^mphsj^stem  nur  als  einen  Neben- 
strom des  Blutkreislaufes  auf.  Die  Menge  von  Lymphe ,  welche  für  gewöhnlich  selbst 
in  sehr  ausgedehnten  Bezirken  gebildet  wird,  ist  eine  sehr  geringe.  Aus  den  grossen 
Lymphgefässen  am  Oberschenkel  des  Hundes  gewinnt  man  in  Ruhe  des  Thieres  nur 
wenig  Lymphe,  kaum  15 — 20  Tropfen  in  10  Minuten. 

Verschiedene  Momente  veranlassen  eine  wesentliche  Beschleunigung  des  Lymph- 
stromes und  eine  Vermehrung  der  Lymphe.  Zunächst  ist  es  die  Functionirung  eines 
Organes,  z.  B.  active  und  passive  Bewegungen.  Auch  Elevation  begünstigt  die  Lymph- 
bewegung. Ebenso  wirkt  directes  Ausstreichen  mit  der  Hand  (Massage).  Wenn  es  sich 
bei  der  Lymphbildung  auch  nur  um  kleine  Mengen  Flüssigkeit  handelt,  so  ist  sie 
deshalb  für  das  Leben  der  Gewebe  und  Gewebszellen  doch  sehr  wesentlich ,  weil  sie 
die  Gewebszellen  direct  umspült.  —  Das  Gewebswasser  stammt  (Heidenhain)  theils  aus 
dem  Blute,  theils  aus  der  Organlymphe ,  theils  aus  dem  Wasser  der  Zellen  und  Fasern. 
Es  ist  nach  ihm  nicht  ein  reines  Filtrat,  sondern  zugleich  ein  Secret  der  Zellen  der 
Capillarwände.  Manche  Stoffe  (kiystalloide  Substanzen,  Decoct  von  Krebsmuskeln, 
Flussmuscheln,  Pepton,  Bacterienstoffwechselproducte  u.  s.  f.)  vermehren ,  in  das  Blut 
eingebracht,  die  Lymphmenge  sehr  stark,  ohne  dass  der  Blutdruck  steigt  (Lymphagoga). 


Oedem.  19 

Ob  es  einen  Zustand  örtlicher  Verminderung  der  Gewebsflüssigkeit 
gibt,  darüber  ist  nicht  viel  bekannt.  Dass  eine  solche  als  Theilerscheinung  allgemeiner 
Wasserverarmung  —  Hydrämie  —  vorkommt,  bei  Blutungen,  profusen  Diarrhöen,  Cholera, 
Pylorusverschluss,  Yerbrennungen,  Peritoniten  u.  s.  f.,  ist  zweifellos.  Bei  manchen  meist 
zu  den  entzündlichen  gerechneten  Processen:  Arthritis  deformans,  Tendinovaginitis  cre- 
pitans  u.  dergl.  gewinnt  mau  den  Eindruck,  als  ob  eine  örtliche  Verminderung  der 
Gewebsflüssigkeit,  der  Sjaiovia  etc.  vorläge. 

Oedematöse  Tlieile  zeigen  Voliiiuszimahnie  und  Schwellung;  die 
normalen  Contouren  der  Knochen,  Muskeln  verwischen  sich,  Falten 
und  Gruben  gleichen  sich  aus,  die  Form  wird  plumper.  Die  Farbe 
des  Blutes,  welche  sonst  durch  die  Haut  schimmert,  wird  verdeckt  durch  die 
massenhafte  farblose  Gewebsflüssigkeit  und  die  Färbung  wird  eine 
bleiche,  wächserne,  bei  Stauungsödera  in's  Bläuliche  spielend.  Patho- 
gnomonisch  für  Oedem  ist,  dass  der  Druck  des  Fingers  eine  Grube  im 
Gewebe,  in  der  Haut  erzeugt,  welche  sich  nicht  sofort,  sondern  erst 
nach  Minuten,  selbst  Stunden  allmählich  ausgleicht. 

Dieses  Stehenbleiben  des  Fingerdruckes  ist  das  Zeichen  der  physikalischen  Ver- 
änderung der  Gewebe,  welche  das  eigentliche  Wesen  des  Oedems  ausmacht.  Das 
Gewebe  ist  dehnbarer  und  unvollkommen  elastisch.  (Vergl.  Landerer,  Gewebsspauuung.) 

Oedematöse  Gewebe  fühlen  sich  kühl  an.  Ausserdem  lassen  sich 
noch  allerlei  „trophische"  Störungen  an  ihnen  beobachten,  —  Ab- 
sehilferungen ,  Neigung  zu  Druckbrand,  langsame  Resorption  der  in's 
subcutane  Gewebe  eingespritzten  Stotte  u.  dergl.  m. 

Von  den  verschiedenen  Arten  von  Oedem  ist  das  Stauungsödem 
leicht  zu  verstehen  (vergl.  pag.  10). 

Der  in  Capillaren  und  Venen  fast  zur  Höhe  des  arteriellen  angestiegene  Blut- 
druck presst  Flüssigkeit  in  Menge  in  die  Gewebe  hinüber,  die  Spannung  der  Gewebe  ist 
erhöht,  sie  fühlen  sich  hart  und  gespannt  an.  Die  Folge  ist  eine  enorme  Steigerung 
der  Lymphmenge ;  die  Lymphe  ist  dünn,  blutfarbig,  wenig  zur  Gerinnung  geneigt.  Nach 
einiger  Zeit  —  bei  experimenteller  Verschliessung  der  Venen  etwa  eine  Stunde  nach 
Beginn  des  Versuchs  —  fängt  die  Lymphmenge  an  sich  zu  vermindern.  Zu  gleicher 
Zeit  tritt  Oedem  auf,  der  Theil  fängt  an  siclitbar  zu  schwellen  und  der  Fingerdruck 
bleibt  stehen.  Das  Stauungsödem  ist  ein  sehr  straffes,  pralles  Oedem,  weil  die  Gewebs- 
spannung  hoch  ist. 

Weniger  klar  und  einfach  erscheinen  Entstehung  und  Bedingungen 
des  marantischen  oder  hj^drämischen  Oedems.  Bei  Leuten, 
welche  sehr  geschwächt  sind  durch  lange  Krankheit  (Krebs,  Tuberculose, 
dann  besonders  bei  Herz-.  Lungen-,  Nierenaffectionen)  finden  sich  — 
dem  Schwächezustand  parallel  —  ödematöse  Anhäufungen,  namentlich 
an  Körperstellen,  wo  die  Circulation  an  sich  schon  durch  die  Schwere 
ungünstig  beeinflusst  ist,  an  den  Füssen,  um  die  Knöchel  herum,  bei 
Bettruhe  an  Gesäss  und  Rücken.  Diese  Oedeme  sind  „schlaft'",  selbst 
weiche  Gegenstände,  Luftringe  u.  dergl.,  drücken  tiefe  Gruben  in  die 
Haut  ein.  Das  Aussehen  der  Haut  ist  wachsgelb  oder  grau,  die  Haut 
ist  kühl;  leicht  treten  Ernälirungsstörungen,  Druckbrand  ein. 

Auch  experimentell  ist  das  liydrämische  Oedem  noch  nicht  völlig  erklärt. 
Cohnheim  und  Lichtheim  versuchten  durch  Erzielung  künstlicher  Hydrämie  mit  Hilfe 
von  Infusion  grosser  Mengen  Kochsalzlösung  in  den  Kreislauf  diese  „hydrämischen" 
Oedeme  zu  erzielen.  —  Sie  bekamen  wohl  Oedeme,  aber  nur  in  einigen  inneren  Organen, 
Pancreas,  Nieren  u.  s.  f.,  und  Ascites;  ausserdem  entstand  eine  kolossale  Steigerung 
der  Lymphmenge;  das  charakteristische  Oedem  des  Unterhautzellgewebes,  das  Oedema 
anasarca,  vermochten  sie  nicht  zu  erzielen.  Beim  echten  marantischen  Oedem  hal)en 
wir  es  mit  niedrigem  Blutdruck  und  langsamer  Blutl>ewegung  zu  thun;  in  den  Cohnheini- 
schen  Versuclien  war  Blutdruck  und  Stromgeschwindigkeit  erlieblich  gesteigert.  Hydrämie 
allein  genügt  nicht  zum  Zustandekommen  dieser  Oedeme,    es  müssen  auch  Ernährungs- 

2* 


20  I.  Capitel.  —   Ocitliclie   Kreislaufs-  nml   Ki'iiäfnungssUirangen. 

Störungen    dabei    sein.      Daher    nennt    man    diese   Oedeme    hessei-    marantische    als    hy- 
drämisclie. 

Mikroskopisch  findet  man  bei  Oedeni  die  JJindegewebsfasern 
g-e(iuollen,  plump,  die  Zellen  gleichfalls  gequollen,  von  unvegelmässiger 
Form,  oft  blasig  aufgetrieben,  das  Protoplasma  meist  stark  lichtbrechend, 
wie  wasserhaltig.  —  Das  ödematöse  Transsudat  ist  sehr  arm  an  Ei  weiss 
und  gerinnt  schlecht  und  langsam. 

Selbst  einzelne  Zellen,  nicht  blos  ganze  Gewebe,  können  ödematöse 
Veränderungen  erleiden.  Auch  hier  sind  die  Zellen  gequollen ,  wie  ge- 
bläht, oft  sehr  glänzend,  grösser  als  normal.  Der  Zustand  dieser  öde- 
matösen  Infiltration  ist  sehr  ähnlich  dem  der  „hydropischen"  Degeneration. 
Oft  ist  dieses  Quellen  der  Zellen  nur  eine  Vorstufe  des  gänzlichen  Ein- 
gehens derselben.    Die  „Mastzellen"  mögen  so  entstehen. 

Das  „Oedem  ex  vacuo"  entsteht  da,  wo  andere  Organe  schwinden, 
um  starrwandige  Höhlen  (Schädelhöhle)  auszufüllen. 

Ferner  gibt  es  Oedeme  durch  Nerveneinflnss  —  z.  B.  bei  Hy- 
sterischen, dann  durch  allerlei,  im  Wesentlichen  den  Entzündungserregern 
ähnliche  Ursachen  —  Vergiftungen  (Schlangen-,  Insectenbisse,  Berührung 
mit  scharfen  Stoffen ,  wie  Brennnesseln ,  Urticaria)  durch  Hitze  ,  Kälte 
n.  s.  w.  —  Zu  den  chemisch  erzeugten  Oedemen  gehört  das  Myxödem, 
ein  straffes,  blasses  Oedem,  welches  bei  Ausschaltung  der  Schilddrüse 
sich  entwickelt. 

Als  Begleit-  und  Theilerscheinung  anderer  Processe,  namentlich  der  Entzündung, 
tritt  Oedem  auf  —  „entzündliches  Oedem".  Auch  das  „collater  ale"  Oedem, 
welches  um  entzündete  Stellen  als  äusserster  Hof  auftritt,  ist  weniger  eine  Folge  der  Cir- 
culationsstörung,  als  die  äusserste  Welle  der  entzündlichen  Veränderung.  Manche  Oedeme 
Averden  mit  Thrombose  oder  Verstopfung  der  Lj^mphgefässe  in  Verbindung  gebracht.  Dies 
ist  bei  Fällen  vorgeschrittener  krebsiger  Infiltration,  dann  auch  bei  manchen  Formen 
von  Elephantiasis  der  Fall. 

Traumatische  Oedeme  sieht  man  nach  Verletzungen,  dann 
nach  angestrengten  Marschübungen  an  den  Füssen  u.  s.  w.  Als  letzte 
Nachwehe  von  Verletzungen  und  Entzündungen  sieht  man  oft  Oedem 
auftreten,  wenn  Operirte  aufstehen,  die  ihre  Beine  lange  nicht  gebraucht 
haben.  — -  Manche  Oedeme  werden  auf  Ischämie  bezogen  (s.  pag.  5). 

Dass  es  schliesslich  auch  Oedeme  als  selbständige  Erkrankungen 
gibt,  ist  nicht  zu  leugnen;  doch  thut  man  gut  daran,  in  jedem  Falle 
von  Oedem  auf's  Pünktlichste  nach  örtlichen  oder  namentlich  allge- 
meinen Ursachen  —  Herz-,  Nieren-,  Lungen-  u.  dergl.  Leiden  —  zu 
forschen,  ehe  man  sich  mit  der  Diagnose  „essentielles  idiopathisches 
Oedem"  beruhigt. 

Beseitigung  des  Grundleidens  (Stauung,  Marasmus)  ist  die  erste  Auf- 
gabe der  Behandlung  des  Oedems.  Im  Uebrigen  ist  dieselbe  eine 
mechanische.  Alles,  was  den  Lymphstrom  begünstigt,  hohe  Lage,  Ein- 
wicklung  mit  Binden,  vorsichtige  Auspressung  durch  elastische  Einwick- 
luiigen,  namentlich  aber  Massage  sind  zweckmässig.  Ist  die  hydropische 
Flüssigkeit  in  freien  Höhlen  (Peritoneum  u.  s.  f.)  angesammelt,  so  wird 
sie  durch  Function  mit  einem  Troicart  entfernt.  —  Die  Entleerung  der 
in  die  Gewebsmaschen  eingelagerten  Oedemfiüssigkeit  durch  capilläre 
Drainage  oder  kleine  Incisionen  gibt  meist  nur  vorübergehende  ge- 
legentliche Erfolge. 


Eutzüudung.  21 


Entzündung. 

Die  fünf  Cardinalsymptome.  —  Schmerz.  —  Functionsstörung.  —  Hitze.  —  Röthe. 
—  Schwellung.  — •  Mikroskopisches  und  makroskopisches  Verhalten  entzündeter 
Gewebe.  —  Die  verschiedenen  Formen  der  Entzündung.  —  Hyperämische,  seröse 
Entzündung.  —  Eiterung  und  Abscessbildung.  —  Hämorrhagische  Entzündung.  — 
Brandige  Formen.  —  Traumatische  Entzündung,  - —  Verschiedene  Entzündungs- 
theorien. —  Entstehungsweise  und  Erreger  der  Entzündung.  —  Ausgänge  der 
Entzündung.     —     Entzündliche    Regeneration.     —     Allgemeine    Behandlung    der 

Entzündung. 

Die  wichtigste  und  häufigste  Störung-  der  örtlichen  Circulation 
ist  die  Entzündung.  Die  hauptsäclilichsten  Erscheinungen  dieses 
Vorganges  sind  Jedem  aus  dem  täglichen  Leben  bekannt.  Bei  jedem 
schlimmen  Finger  kann  man  beobachten,  dass  entzündete  Theile  röther 
sind  als  sonst,  sich  heisser  anfühlen,  dass  sie  geschwollen  und  dass 
sie  schmerzhaft  sind.  Es  sind  damit  die  Cardinalsymptome  der 
Entzündung,  wie  sie  schon  von  den  Alten  festgestellt  sind,  der 
Dolor,  Rubor,  Tumor,  Calor  genannt.  Als  weiteres  fünftes  Symptom 
hat  die  neuere  Zeit  noch  hinzugefügt  die  Functio  laesa,  die  Func- 
tionsstörung des  entzündeten  Theiles. 

Die  S c hm erzemp findung  ist  eine  durchaus  sabjective  und  man  darf  nur 
mit  Kritik  Schlüsse  daraus  ziehen.  Der  .,Torpide"  rührt  sich  kaum  bei  der  Verschie- 
bung zerbrochener  Knochen;  sensible  und  schlaife  Naturen  erliegen  den  leichtesten 
Schmerzen  vollständig,  während  der  Energische,  selbst  um  den  Preis  der  Gesundheit, 
sich  nichts  anmerken  lässt. 

Der  Grad  des  Schmerzes  ist  überaus  verschieden.  Bei  schleichend  verlaufenden 
chronischen  Entzündungen  ist  es  nur  die  immer  wieder  sich  aufdrängende  unangenehme 
Empfindung  in  dem  kranken  Theile.  Ein  anderes  Mal  zeigt  der  Schmerz  eine  solche 
Intensität,  dass  er  jedes  Bemühen ,  ihn  auch  nur  einen  Augenblick  zu  vergessen,  über- 
windet und  schliesslich  alles  Denken  und  Fühlen  absorbirt  und  auf  sich  concentrirt. 

Die  Art,  der  Charakter  des  Schmerzes  kann  mitunter  für  die  Beur- 
theilung  des  Falles  Anhaltspunkte  geben.  Bei  manchen  schleichend,  „chronisch''  ver- 
laufenden Entzündungen,  namentlich  in  tiefliegenden  Organen,  ist  es  nur  ein  Gefühl 
schmerzlicher  Schwere  in  dem  leidenden  Theil.  Der  Schmerz  ist  „heimlich'"  oder 
dumpf.  —  Die  „rheumatischen"  Leiden  sind  durch  einen  „reissenden'"  Schmerz  aus- 
gezeichnet. Andei'e  Schmerzen  sind  bohrend,  besonders  solche,  welche  von  (syphilitischen) 
Knochenafl'ectionen  ausgehen;  andere  wieder  brennend.  „Klopfende'"  oder  ..pochende'" 
Schmerzen,  dem  Arterienpulse  synchron,  kommen  namentlich  vor,  wo  sich  die  Ent- 
zündung zur  Eiterung  anschickt.  Wenn  ein  Nerv  entzündet  oder  gedrückt  ist,  „strahlt'" 
der  Schmerz  „aus'"  auf  andere  Zweige  desselben  Nerven,  selbst  andere  Nervengebiete. 
Keineswegs  entspriclit  die  Empfindung  des  Kranken  immer  genau  der  Stelle,  wo  das 
Jjeiden  seinen  wirklichen  Sitz  hat.  Die  ..Localisation'"  des  Schmerzes  ist  eine  selir 
ungenaue.  Druck  auf  den  Stamm  eines  Nerven  wird  in  der  Peripherie  empfunden. 
Amputirte  empfinden  Störungen  im  Nervenstumpf  als  Schmerz  in  den  längst  verlorenen 
Fingern  oder  Zehen ,  Hüftgelenkleidende  verlegen  den  Schmerz  oft  in's  Knie. 
In  anderen  Fällen  vermögen  wir  den  Zusammenhang  und  die  verbindenden  Bahnen 
gar  nicht  zu  durchschauen ;  so  findet  sich  oft  Schmerz  in  der  rechten  Scliulter  liei 
Attectionen  der  Leber.  Häufig  vermag  der  Kranke  seine  Schmerzen  überhaupt  nicht 
zu  localisiren,  sie  sind  ..herumziehend,  vage'"  und  lassen  dann  mehr  auf  eine  allgemeine 
als  eine  örtliche  Erkrankung  schliessen ,  auf  anämische  Zustände,  tuberculöse  oder 
s^'philitische  Leiden,  rheumatische  Attectionen,  scliwere  Nervenkrankheiten,  namentlicli 
im  Beginn.  Der  Chirurg  legt  im  Ganzen  mehr  Gewicht  auf  ..fixe""  Schmerzen,  besDuder.^ 
wenn  sie  auf  bestimmte  kleine  Bezirke  beschränkt  sind  und  stets  genau  auf 
dieselbe  Stelle  verlegt  werden.  Die  „fixen'"  Schmerzpunkte,  z.B.  an  den  Knochen,  in 
der  Nähe  der  Gelenke  sind  als  erste  Anzeichen  tief  im  Knochen  verborgen  liegender  scliwerer 
(scrophulöser  oder  syphilitischer)  Knochen-  und  Gelenkleiden  sorgfältig  zu  beachten. 

Auch  die  Zeit  des  Auftretens  von  Schmerzen  darf  man  nicht  au.sserAcht 
la.ssen.    Manche  Schmerzen  sind   „intermittirend'" .  Schmerzanfälle  und  dazwisclien  vidlig 


22  J-  Ca|)it,el.  —  Oi'i'tliclK;  Kri'islaiiJ's-  und   KI■llilllruilf.^^.stöl■ulJg^in. 

freie  l'ciusoii.  Koinmeii  die  .Sclimerzeii  imi]  iioeJi  ganz  i'egehnäsHig  zu  Ijestimmten 
Stunden,  so  legen  sie  den  Gedanken  nahe,  da.ss  das  Leiden,  z.  \'>.  der  Nervenschmerz, 
auf  Malariainfection  (VVechselfieber)  beruhe.  Die  Nervenentzündung  macht  meist  nielir 
eine  continuirliche  Emptindung  gegenüber  der  anfallsweise  auftretenden  Neuralgie. 
Syphilitische  Knochenleiden,  bei  Tage  oft  erträglich,  sind  berüchtigt  durcli  die  heftigen 
nächtlichen  Schmerzattaquen  —  Dolores  nocturni  osteocopi.  —  Auch  rheumatische  Schmerzen 
sind  bei  Nacht  sclilimmer  als  bei  Tage. 

Eine  andere  Erscheinung  ist  aber  ebenso  sorgfältig  zu  beachten ,  die  Ab- 
Avesenheit  oder  auffallend  geringe  Intensität  des  Schmerzes  bei  Aifectionen, 
wo  man  sonst  heftige  Schmerzen  beobachtet.  So  gibt  es  Kranke,  die  auf  thaler- 
grossen  Geschwürsflächen  in  der  Fusssohle  ohne  Schmerz  stundenlang  gehen,  die  ganz 
zerstörte  Gelenke  wie  gesunde  gebrauchen ,  die  sich  die  Finger  verbrennen ,  ohne  es 
zu  empfinden.  In  solchen  Fällen  liegen  Störungen  der  Nervenleitung  oder  schwere 
Nervenleiden  (Tabes)  vor  (neuroparalytische  Entzündungen  und  Verschwärungenj. 

Ein  eigenartiger  Zustand  verminderter  oder  völlig  aufgehobener  Schmerzempfin- 
dung ist  mit  gewissen  psychischen  Störungen  (Melancholie,  Tobsucht)  verknüpft.  Ebenso 
ist  die  „Analgesie",  die  Verminderung  oder  Aufliebung  des  Schmerzgefühls  charakteristisch 
für  Säufer,  besonders  im  Säuferwahnsinn  (Delirium  tremens). 

Der  Schmerz  ist  eine  Empfindung  eigener  Art,  mit  eigenen  leitenden  Bahnen 
und  wohl  auch  eigenen  Centren  (vergl.  „gemischte  Narcose"). 

Die  Functionsstörung-  entzündeter  Theile  ist  zum  Theil 
bedingt  durch  den  Schmerz,  zum  Theil  durch  die  Beschädigung  der 
Gewebe,  zum  Theil  durch  die  entzündliche  Schwellung  und  Infiltration 
der  Gewebe.  Der  Störung  in  der  Function  geht  oft  eine  kurze  Steige- 
rung  derselben  voraus  (Drüsen,  Schleimhautkatarrhe). 

Die  Entzündungshitze,  der  Calor,  ist  früher,  namentlich 
gegen  Ende  vorigen  Jahrhunderts,  Gegenstand  besonders  eingehender 
Studien  und  lebhafter  Controversen  gewesen.  Dass  es  dasjenige  Symptom 
der  Entzündung  ist,  welches  sich  dem  Kranken  am  eigenartigsten  und 
lebhaftesten  aufdrängt,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  die  Benennung 
des  Processes  in  den  meisten  Sprachen  gerade  von  dieser  Erscheinung 
her  genommen  ist  (Intlammatio,  Phlogosis  u,  s.  w.). 

Zahlreiche  Fragen  wurden  mit  Eifer  discutirt :  Wie  hoch  ist  die  Temperatur 
eines  entzündeten  Theiles  an  sich  und  im  Verhältnis  zur  Temperatur  des  zugeführten 
Blutes  und  der  des  Körperinnern '?  Ist  der  entzündete  Theil  eine  Quelle  erheblicher 
Wärmemengen?  Beruht  das  bei  acuten  Entzündungsprocessen  nie  fehlende  Fieber  auf 
einer    abnormen  Wärmeproduction    in  dem  entzündeten  Theile? 

Die  Antwort ,  welche  John  Hunter  gegeben ,  hat  noch  heute  ihre  Giltigkeit  — 
dass  eine  örtliche  Entzündung  die  Wärme  eines  Theiles  nicht  über  die  Temperatur  zu 
erhöhen  vermag,  die  man  an  der  Quelle  der  Circulation  findet.  Hiatter's  Aufstellungen 
sind  von  Otto  '[Veber  angegriffen,  von  Jacobsohn,  BiUrotli  u.  A.  bestätigt  worden. 
Fast  ausnahmslos  fand  sich  die  Temperatur  in  entzündeten  Theilen  niedriger,  wenn- 
gleich oft  nur  um  wenige  Zehntelgrade  als  in  den  inneren  Theilen.  Dass  sie  4.  5  und 
mehr  Grade  höher  sein  kann  ( —  40")  als  die  normaler,  namentlich  peripherer  gleichnamiger 
Theile ,  hatte  schon  Hunter  gefunden.  Wir  werden  somit  die  Möglichkeit  erheblicher 
Wäi'meproduction  in  Entzündungsherden  und  die  Bedeutung  derselben  für  die  Ent- 
stehung von  Entzündungsfiebern  von  der  Hand  weisen.  Selbst  wenn  wir  den  interes- 
santen Berechnungen  von  Fiele  alle  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen  ,  dass  ein  solcher 
Entzündungsherd,  um  ein  Fieber  von  39"  oder  40"  zu  unterhalten,  nur  vielleicht  1 — IVa" 
höher  temperirt  zu  sein  brauche ,  als  das  Blut.  K.  Böser  suchte  eine  Quelle  der  Ent- 
zündungshitze in  der  eigenen  Wärmeproduction  der  die  Entzündung  erregenden  Bacterien. 
Der  Kliniker  wird  die  Möglichkeit  einer  Wärmeproduction  im  Entzündungsherd  nicht 
leugnen.  Da  aber  ganz  kleine  Entzündungsherde  —  wie  eine  entzündete  Fingerkuppe 
—  hohes  Fieber  erzeugen  können,  so  bleibt  für  ihn  kaum  eine  andere  Erklärung,  als 
dass  Fieber  und  Entzündungshitze  wenn  nicht  ganz ,  so  doch  grösstentheils  durch 
die  Einwirkung  der  aus  den  entzündeten  Stellen  aufgesaugten  giftigen  Producte  der 
Entzündungserreger,  z.  B.  der  Toxine  der  Eiterbacterien  auf  die  Wärmecentren  im  Gehirn 
entstehen  (vergl.  Fieber). 

Die  entzündlichen  Circulationsänderungen  lassen  sich  am 
seh  önsten  bei  directer  Beobachtung  unter  dem  Mikroskop,  am  lebenden 


Entzündliche  Circulationsstörung 


23 


Thier,  am  Mesenterium  des  Frosches,  der  Zunge  oder  der  Schwimm- 
haut desselben,  dem  Mesenterium  des  Kaninchens  studiren  (Colinheim). 

Beim  Mesenterium  genügt  die  einfache  Ausbreitung,  Schwimmhaut  und  Zunge 
müssen  geätzt  (z.  B.  mit  verdünntem  Crotonöl  bestrichen)  werden.  Fig.  5  zeigt  die 
normale  Circulation  in  der  Schwimmhaut  des  Frosches,  den  centralen  oder  „axialen"  Strom, 
der  die  körperlichen  Elemente,  namentlich  die  rothen  Blutkörperchen,  enthält,  und  die 
ruhende  oder  wenigstens  beträchtlich  langsamer  fliessende  Eandschicht.  Diese  hält  in 
grösseren  Gefässen  fast  nur  Plasma  („plasmatische  Randschicht").  Nur  selten  wird  aus 
dem  rasch  dahinfliessenden  axialen  Strom  ein  Blutkörperchen  —  rothe  so  gut  wie  nie, 
häufiger  sind  es  weisse  —  hinausgeworfen  in  die  plasmatische  Eandschicht,  wird  hier 
eine  Strecke  weit  langsam  längs  des  Gefässrandes  weiter  gerollt,  um  schliesslich  Avieder 
vom  Axenstrom    gefasst  und  mitgerissen  zu  werden. 

Bei  der  Entzündung  nimmt 
zunächst  dieGesch windigkeit 
des  Blutstromes  zu.  In  Arterien,  Capil- 
lareu  und  Venen  schiesst  das  Blut 
jetzt  mit  einer  Geschwindigkeit,  dass 
in  Arterien  die  einzelnen  Blut- 
körperchen nicht  mehr  zu  erkennen 
sind.  Die  Capillaren  erweitern  sich 
beträchtlich.  Viel  mehr  Capillaren 
als  sonst  werden  sichtbar.  Eine 
Eeihe  von  solchen ,  welche  für  ge- 
wöhnlich nur  Plasma  führen ,  die 
so  eng  zusammengezogen  waren, 
dass  man  sie  leicht  übersieht ,  er- 
weitern sich  und  lassen  körperliche 
Elemente  durch.  An  grösseren  Ge- 
fässen ,  Arterien  und  namentlich 
Venen  nimmt  die  Lichtung  bis  zum 
Doppelten  zu.  (Vergl.  Fig.  6.)  Die 
Erweiterung  übertrifl't  die  bei  arte- 
rieller Hyperämie  weit. 

Nach  dem  Poisseiiille' sehen 
Gesetz  verhalten  sich  in  capillaren 
Röhren  die  Durchflussmengen ,  wie 
die  vierten  Potenzen  der  Durchmesser. 
Einer  Erweiterung  des  Lumens  auf's 
Doppelte  entspricht  also  eine  Steige- 
rung des  durchfliessenden  Blutes 
aufs  Sechzehnfache. 

Nach  kurzer  Zeit  (am  Frosch- 
niesenterium  einer  Viertelstunde  bis 
höchstens  einer  Stunde)  tritt  an  Stelle 
der  Beschleunigung  die  Stromver- 
1  a  n  g  s  a  m  u  n  g.    —    Die    Bewegung 

in  den  Gefässen,  anfangs  pfeilschnell,  fängt  an  sich  zu  verlangsamen,  zuerst  in  engen 
Capillaren ;  bald  stagnirt  das  Blut  auch  in  den  Venen  und  nur  in  den  Arterien  bleibt 
noch  lange  Bewegung,  dem  Puls  isochron.  Die  Blutsäule  wird  nicht  mehr  viel  vorwärts 
geschoben ,  aber  ihr  noch  eine  zittei'nde  Bewegung  mitgetheilt.  —  Schon  während  der 
Strom  sich  verlangsamte,  fing  in  den  Venen  die  Rand  Stellung  der  weissen  Blut- 
zellen an  bemerkbar  zu  werden.  Die  Zahl  der  weissen  Blutkörperchen,  welche  aus 
dem  Axenstrom  nach  der  plasmatischen  Randschicht  getrieben  wird ,  nimmt  rasch  zu 
und  binnen  Kurzem  ist  die  Innenfläche  des  Gefässrohres  aufs  Dichteste  besetzt ,  wie 
gepflastert  mit  weissen  Blutköi-perchen  (Fig.  Tb).  In  den  Capillaren  beobachtet  man 
diese  Erscheinung  nur  wenig,  in  den  Arterien  so  gut  wie  nie.  Die  weissen  Blutkörperchen 
werden  als  specifisch  leichter  in  die  Randschicht  hinausgeworfen ,  wie  der  Papiei-pfropf 
früher  von  der  Erde  angezogen  Avird,  als  die  Bleikugel  (Weifjcrt).  Der  Randstellung 
folgt  die  Auswanderung  der  Leukocyten  aus  den  Gefässen  in  die  Umgebung, 
zuerst  gesellen  von  Dutrocliet  und  \Wtller,  in  ihrer  fundamentalen  Bedeutung  für  die 
Entzündung  zuerst  von  Colmlieim  erkannt.  Zunächst  sieht  man  ein  Aveisses  Blutkörperchen 
einen  Fortsatz  gegen  die  Gefässwand  hin  vorschicken  (Fig.  lÜa);  dieser  Fortsatz  bohrt 
sich  in  die  Gefässwand  ein  und  durch  dieselbe  hindurch,  um  als  ein  kleines  Knöpfchen 


Schema   der  normalen  Circulation   in   der    Schwimmhaut; 

des  Frosches, 
o  Arterie ,  b  Vene ,  c  Capillaren    (zum  Theil   nur  Plasma 
oder  hin  und  wieder  ein  rothes  Blutkörperchen  haltend). 
Ueher  das  Gefässnetz  hreitet  sich  das  polygonale  Epithelnetz 
der  Schwimmhaut,  die    Pigmentzellen   sind   weggelassen. 


24 


I.  Gapitel.  —  ^ertliche  Kreislaufs-  und    Kriiäliriiii;?sst()nni;,'(;n. 


Fig.,  6. 


Entzündliche  Strombeschleunigung. 
Benennungen  wie  in  Fig.  5. 


auf  der  Aussenseite  des  Gefässes  zum  Vorschein  zu  kommen.  Allmalilieli  scliiebt  .sicli  immer 

mehr  von  dem  Köqjer  der  Zelle  nach;  jetzt  ist  die  Hälfte  durch  und  die  Zolle  ist  sandulir- 

formig  eingeschnürt  (Fig.  10/^);  der 
äussere  Tlieil  hreitet  sich  fächerartig 
und  Fortsätze  aussendend  immer 
mehr  aus  und  zieht  den  Rest  nacli 
sich.  Bald  ist  Alles  draussen ,  das 
Blutkörperchen  ist  frei  I)ie  Wand 
hinter  ihm  ist  unversehrt.  Manchmal 
treten  mehrere  Blutkörperchen  liinter- 
einander  durch  diesellje  Stelle  in 
der  Gefässwand  hindurch. 

Die  Leukocyten  benützen 
wahrscheinlich  die  weiche  Kittsub- 
stanz zwischen  den  Endothelzellen 
der  Gefässe  als  Durchtritts.stelle 
(Thoma,  Arnold,  Engelmann). 

Während  die  Randstellung 
der  weissen  Blutzellen  wahrschein- 
lich ein  rein  physikalischer  Vorgang 
ist,  ist  die  Auswanderung  derselben 
aus  den  Gefässen  ein  activer  Vor- 
gang, eine  Bethätigung  ihrer  Lebens- 
und Bewegungsfähigkeit.  Dies  hat 
Tlioma  gegen  Colinheim  nachge- 
wiesen. Berieselung  des  freigelegten 
Mesenteriums  mit  1  '/^.procentig.  Koch- 
salzlösung ,  welche  die  Bewegungen 
der  Leukocyten  aufhebt ,  sistirt  die 
Auswanderung  derselben  ,  ohne  die 
übrigen  Entzündungserscheinnngen, 
die  Circulationsänderungen  zu  stören. 
Fig.  8  a  stellt  eine  weisse 
Blutzelle  des  Axolotl  im  Zustande 
des  Todes  dar;  die  Form  ist  kugelig, 
das  Protoplasma  körnig  getrübt, 
Kerne  sind  nicht  zu  sehen  (nach 
Lavdoivsky).  Fig.  8  b  zeigt  eine 
ebensolche  im  Zustande  der  Pseudo- 
podienbildung,  mit  zwei,  zum  Theil 
lang  ausgezogenen  Kernen.  Die  Zelle 
schickt  einen  langen  Fortsatz  aus: 
indem  das  Protoplasma  längs  des- 
selben —  in  der  Richtung  nach  dem 
einen  oder  anderen  Kern  —  hin- 
fliesst,  vermag  sie  zu  wandern.  — 
Fig.  9  a  ist  ein  zweikerniges,  weisses 
Blutkörperchen  vom  Menschen  ,  bei 
derselben  Vergrössernng,  a  in  Ruhe, 
h  und  c  in  Bewegung  (Pseudopodien- 
bildung).  Fig.  10  gibt  die  Auswan- 
derung der  weissen  Blutzellen  ,  bei 
starker  Vergrössernng.  In  Fig.  10  fc 
leimt  sich  das  Blutkörperchen  an  die 
Gefässwand  an;  in  10 Z*  fliesst  es 
durch,  ist  zu  einem  Theil  draussen, 
zum  andern  noch  innerhalb  des 
Gefässes. 

Dass  entzündete  Gefässe  für 
Leimlösungen  leichter  durchgängig 
sind,  als  nicht  entzündete,  hat  Wini- 
warier  nachgewiesen.  Am  entzün- 
deten Mesenterium  des  Frosches  trat 

schon  bei  25  Millimeter  Druck  Injectionsmasse  in   das  GeAvebe  über,   am   normalen  erst 

bei  75  Millimeter. 


Entzündliche  Strom  verlangsamung. 

Benennungen  dieselben. 
Bei  ä  Austritt  rother  Blutkörijerehen. 


Auswanderuno;  der  weissen  Blutzellen. 


25 


Bei  schweren  Entzündungen  treten  aucli  rotke  Blutkörperchen  durch  die  unver- 
letzten Gefässwände  durch  [Diapedesis  (Fig.  7  d]). 

Je  mehr  neue  Blutkörperchen  durchtreten,  um  so  weiter  rücken 
die  anderen  von  den  Gefässen  ab,  sie  verbreiten  sich  in  den  Geweben, 
infiltriren  sich  in  diese  (entzündliche  Infiltration)  und  erscheinen  bei 
weichen  Geweben ,  z,  B.  dem  Mesenterium ,  sogar  frei  auf  der  Ober- 
fläche. Indem  sie  hier  und  auch  im  Gewebe  über  den  Gefässen  sich 
ausbreiten,  auf  der  Oberfläche  zerfallen  und  Gerinnung'  veranlassen,  deckt 
sich  allmählich  ein  undurchsichtiger  Schleier  über  das  Ganze,  die  weiteren 
Vorgänge  verdeckend.  Doch  ist  zumeist  auch  der  Process  seinem  Ende 
nahe  gekommen.  Das  empfindliche  Mesenterium  wenigstens  ist  —  durch 
den  Contact  mit  den  allerlei  Schädlichkeiten  der  Aussenwelt  —  dem  Tode 
nahe.     In  Fig.  7  sieht  man  die  Grenzen  der  Epithelien  der  Schwimm- 

Fig.  8.  ■  Fig.  10. 


haut   verwischt,    die  Kerne   undeutlich,    verwaschen,    das    Protoplasma 
der  Zellen  getrübt. 

An  der  Schwimmhaut  oder  Zunge  des  Frosches  lassen  sich  Modificationen  her- 
vorrufen ,  für  welche  sich  das  Mesenterium  nicht  eignet.  Vor  Allem  kann  man  hier 
sehen ,  dass  sehr  leichte  Entzündungen  durch  ganz  schwache  Aetzmittel  nur  Strom- 
heschleunigung  zeigen ,  an  die  unmittelbar  die  Rückkehr  zur  Norm  sich  anschliesst. 
Zur  .Stromverlangsamung  und  irgendwie  beträchtlichen  Emigration  ans  den  Gefässen 
kommt  es  hier  ül)erhaupt  nicht.  Dann  lassen  sich  —  durch  scharf  begrenzte  Touchirung 
der  Schwimmliaut  oder  der  Zunge  mit  dem  Höllenstein-Stift  —  sehr  hübsch  die  ver- 
schiedenen Stadien  der  Entzündung  und  die  normalen  Circulationsverhältnisse  neben- 
einander beobachten.  Von  der  Trübung  des  Aetzmittels  etwas  verschleiert,  sieht  man 
in  der  Mitte,  wo  der  Aetzstift  gewirkt  hat,  völlige  Stase;  darum  liegt  eine  Zone  der 
Verlangsamung,  dieser  folgt  ein  Bezirk  mit  Circuhitionsbeschleunigung  und  schliesslich 
kommen  Tlieile  mit  normaler  Circnliition. 

Veranlasst  werden  die  farljlosen  Blutkörperchen  zur  Auswanderung 
durch  die  chemotactischen  Eigenschaften  der  ausserhalb  der  Gefässe, 
in  den  Geweben  enthaltenen  abnormen  Steife.  Unter  Chemotaxis  ver- 
stehen wir  die  von  lYc/fn-  entdeckte,  von  Lchcr,  Mamirf,  Biir.hner  auch 
für  Leukocyten  nachgewiesene  Fähigkeit  gewisser  cheiiiiseher  Stoffe, 
kleinste  Lebewesen  (Bacterien,  Leukocyten  u.  s.  w.)  anzulocken  (positive 


2Q  I.  Capitel.  —  Owtliche  Kreislaufs-  und  Ernährungsstöi'uugijii. 

Chemotaxis  oder  Chemotropismus)  oder  abzusfossen  (negative  Ch.j. 
Positiv  cliemotactisch  (Leukocyten  anlockend)  sind  die  Stoffwechsel- 
iwoducte  der  Bacterien  (Leber,  Masmrt)  und  die  Eiweissstoffe  ihrer 
Zellleiber  (Proteine)  (^J^McÄner^  selbst  in  Verdünnungen  1:3000;  negativ 
chemotactisch  sind  u.  a.:  Ammoniak,  Leucin,  Tyrosin,  Harnstoff. 

Entzündliche  Transsudation  und  Leukocytenauswanderung  dienen 
dem  Zweck ,  den  Entzündungserreger  fBacterienj  im  Gewebe  wegzu- 
schaffen oder  zu  zerstören  und  dem  Gewebe  zur  Wiederherstellung 
der  Beschädigung  (Regeneration)  Material  zu  liefern. 

Das  Transsudat  ist  nicht  nur  als  eiweiss-  und  salzreiche  Er- 
nährungsflüssigkeit für  die  Restitution  des  Gewebes  wichtig.  Das  Blut- 
plasma und  das  Blutserum  haben  schon  bei  normaler  Zusammensetzung 
bactericide  Wirkung,  d.  h.  das  Vermögen,  Bacterien  abzuschwächen  und 
zu  tödten.  Entzündliches  Transsudat  besitzt  diese  bactericide  Fähigkeit 
in  noch  erhöhtem  Masse  (BuchnerJ. 

Auch  die  Leukocyten  betheiligen  sich  an  dem  Kampf  mit  den 
Entzündungserregern.  Es  ist  eine  schon  vor  Jahren  gemachte  Beobachtung, 
dass  die  weissen  Blutkörperchen  Fremdkörper,  z.  B.  Farbstoff-,  Fett-  und 

Pigmentkörnchen ,  aber  auch 
'^'    ■  Bacterien  in  sich  aufnehmen  und 

-^ —  ^  zum  Theil  auch  in  sich  verar- 
r^/'^^)  beiten,  verdauen,  fressen  können 
f  '  \^  (Phagocytose).  Sie  können  da- 
/  -  '  durch  zu  grossen  Kugeln  mit 
^cLj»^-^^  trübem  Inhalt  (Fett-,  Pigment- 
körnchenkugeln) anschwellen. 
^  Metschnikoff  hat  in  der  Phago- 

cytose, in  dem  Auffressen,  der  Verdauung  und  Vernichtung  der  Bacterien 
durch  die  Leukocyten  das  Wesen  der  Entzündung  gesucht  und  auf  Grund 
dieses  einen  Theilvorgangs  der  Entzündung  diese  kurzweg  als  einen 
Vorgang  von  Kampf  um's  Dasein  in  Barwin'^Qhtva  Sinne  bezeichnet, 
wobei  der  Organismus  die  Leukocyten  als  mobile  Armee  dem  Feind 
entgegenwerfe.  Fig.  11  zeigt  (nach  Metschnikoff)  Leukocyten.  die  einen 
Milzbrandbacillus  in  sich  aufnehmen  a — c,  bei  c  ist  der  Bacillus  in 
3  Stücke  zerfallen.  Ob  die  Leukocyten  im  Stande  sind,  Bacterien  von  er- 
heblicherer Virulenz  in  sich  aufzunehmen  und  zu  verdauen,  ist  von 
Baumgarten  bezweifelt  worden ,  der  annimmt ,  dass  Leukocyten  nur 
schon  abgetödtete  Bacterien ,  Bacterienleichen ,  in  sich  aufnehmen  und 
weiterschaffen.  Wenn  aber  das  entzündliche  Serum  hohe  bacterien- 
vernichtende  Eigenschaften  hat  (BuchnerJ^  so  würde  die  mechanische 
Fortschaffung  der  durch  das  Serum  abgeschwächten  oder  abgetödteten 
Mikroorganismen  Seitens  der  Leukocyten  genügen. 

Die  Fähigkeit  der  Phagocytose  kommt  aber  nicht  nur  den  Leuko- 
cyten zu,  sondern  ebenso  —  vielleicht  noch  in  erhöhtem  Masse  den 
fixen  Gewebszellen  —  Bindegewebszellen,  Lymphgefäss-  und  Blut- 
gefässendothelien,  Capillarendothelien  u.  dergl.  m.  Diese  haben  sogar 
die  Fähigkeit ,  Leukocyten ,  selbst  zu  mehreren ,  in  sich  aufzunehmen, 
vermuthlich  als  Material  für  Theilung,  Vermehrung  und  Regeneration 
der  Zellen.  Die  Leukocyten  können  somit  auch  als  Material  für  den 
entzündlichen  Wiederersatz  verlorener  Zellen,  die  Regeneration,  dienen. 
Die  Aufnahme  der  Leukocyten  in  Zellen  ist  wohl  ein  Anlass  zur  Bildung 


Entzüuduugsröthe.  27 

der   bei   der  Regeneration   sich   regelmässig   findenden   grossen,    mehr- 
kernigen und  Riesenzellen  (Fibro-Osteo-Sarkoblasten  u.  s.  w.)  (Ziegler). 

Im  Gegensatz  zu  anderen  Anschauungen  lässt  Ch-aivitz  die  Zellen  der  entzünd- 
liclien  Infiltration  nicM  oder  nur  zum  geringsten  Theil  durch  Auswanderung  von  Leuko- 
cyten  aus  den  Blutgefässen  in  den  Entzündungsherd  gelangen ,  sondern  zum  grössten 
Theil  dort  entstehen  durch  Theilung  der  vorhandenen  Gewebszellen  und  durch  Eückkehr 
der  normal  im  Bindegewebe  latenten  und  unsichtbaren  „Schlummerzellen"  zum  embryo- 
nalen Charakter  und  zur  Proliferation. 

Die  makroskopischen  Beobachtungen  über  den  Rubor 
inflammatorius  sind  theils  Experimenten  am  Kaninchenohr  entnommen, 
theils  stammen  sie  von  klinischen  Erfahrungen. 

Durchschneidet  man  am  Kaninchen  den  Halssympathicus,  so  entsteht  eine  starke 
arterielle  H;yperämie  des  Ohres  dieser  Seite.  Wird  nun  dieses  Ohr  zudem  künstlich  in 
Entzündung  versetzt ,  so  erreicht  die  Gefässerweiterung  noch  einen  viel  höheren  Grad. 
Die  entzündliche  Gefässerweiterung  übertrifft  die  arterielle  noch  um  ein  Erhebliches. 

Bei  klinischer  Beobachtung  z.B.  einer  Wundrose  am  Vorderarm  zeigt 
schon  das  rasche  Gehen  und  Kommen  der  Röthe  unter  dem  Drucke  des  Fingers  die 
Circulationsbeschleunigung.  Eine  örtliche  Blutentziehung,  eine  grössere  Anzahl  kleiner 
Einschnitte  (Debridement),  liefern  sehr  viel  mehr  Blut ,  als  am  gesunden  Arm.  Aus 
der  Zeit  der  Aderlässe  ist  es  bekannt,  dass  der  Aderlass  am  entzündeten  Arme  be- 
deutend mehr  Blut  liefert  als  am  gesunden. 

Der  Farbenton  der  entzündlichen  Röthe  ist  ungemein  ver- 
schieden. Ein  sattes,  frisches  Roth,  „Scharlachröthe'"',  findet  sich 
besonders  bei  acuten  Exanthemen,  beim  Scharlach,  bei  der  Wundrose; 
eine  Beimischung  von  Blau  ist  namentlich  dem  chronischen  oder  den 
schweren,  mit  Stauung  oder  Stase  verbundenen  Entzündungen  eigen. 
Bei  tiefliegenden  Entzündungen,  z.  B,  bei  Knochenentzündungen,  ist  die 
Entzündungsröthe  ein  blasses  bläuliches  Rosa,  aus  welchem  erweiterte 
Venen  sich  herausheben. 

Wichtig  ist  das  Verhalten  der  Röthung  gegenüber  dem  Finger- 
druck, Bei  acuter  Entzündung  schiesst  das  Blut  in  demselben  Augen- 
blick, wo  der  Fingerdruck  nachlässt,  in  die  blasse  Stelle  wieder  ein, 
bei  Entzündung  mit  Stauung  nur  langsam.  Lässt  sich  die  Röthung 
durch  den  Finger  nicht  ganz  wegdrücken ,  bleibt  eine  gelbe  oder 
röthlich1)raune  Verfärbung  zurück ,  so  ist  das  ein  Zeichen ,  dass  schon 
Blut  aus  den  Gefässen  in  das  Gewebe  ausgetreten  ist  (vergl,  Fig,  7  d). 
Die  Entzündung  ist  nicht  mehr  frisch. 

Neben  der  Farbe  ist  auch  die  Ausdehnung,  die  Form,  die  Umgrenz  ung, 
der  Rand  der  Eöthung  der  Beachtung  werth.  Man  hat  diffuse  Eöthungen ,  die 
unmerklich  und  allmählich  in  die  normale  Umgebung  sich  verlieren,  bei  tiefen  Abscessen, 
welche  langsam  nach  der  Obei-fläche  fortschreiten,  circumscripte  dagegen  mit  scharf  ura- 
rissenen  Rändern  bei  Entzündungen  der  Haut  selbst.  Die  Händer  sind  zackig  und  strahlig 
bei  der  Wundrose,  geradlinig  bei  Verbrennungen,  artiliciellen  Entzündungen,  Blasen- 
pflastern ,  Senfteigen ,  trockenen  Schröpf  köpfen  u.  s.  f. ;  hier  reicht  die  Eöthung  genau 
so  weit,  wie  die  schädigende  Einwirkung.  Manche  Entzündungen  bilden  langgestreckte 
schmale  Streifen,  wahrscheinlich  Entzündung  eines  Lymphgefässes,  einer  Vene  (Lymph- 
angitis ,  Periphlebitis) :  breitere  Streifen  entsprechen  einer  entzündeten  Sehnenscheide. 
Sorgfältige  Beachtung  solclier  scheinbarer  Kleinigkeiten  bringt  oft  sofort  Licht  in  die 
Diagno.se. 

Die  Lymph menge  ist  beträchtlich  vermehrt,  auf  das  Sechs- 
bis  Zehnfache  (Lassar).  Sie  ist  dabei  viel  concentrirter ,  zeigt  bis 
8  Procent  Fixa  (gegenüber  4  Procent  in  der  Norm),  hält  namentlich 
viel  mehr  weisse  Blut/.ellen  und  gerinnt  dementsprechend  viel  leichter 
und  schneller.  Steigert  sich  die  Entzündung  bis  zum  Tod  der  Oe\vel»e. 
so  hiirt  die  Lymjthljiidung  ganz  auf.  Diese  Aenderungen  in  der  Lynipli- 
bildung  machen  sich  bemerklicli  durch  Anschwellung  der  Lymphgefässe 


23  I.  Cajjitel.  —  Oertliclio   K)(!i.slauiK-  und   Ki)iälirini}^ss1öruiiy;(;n. 

und  beträchtliche  Vergrösserung    der  Lymphdrüsen.  —  Die  Resorption 
ist  in  entzündeten  Theilen  vermehrt  und  hesclilcunigt. 

Zur  Beobachtung  der  Entzündung  an  ge fässlosen  'J'lieilen  ist  die 
Cornea  viel  benutzt  worden.  Der  Knorpel  mit  seinem  trägen  Stollweehsel  verliält 
sich  zu  passiv.  —  Wird  die  Cornea  geätzt,  so  trüben  sich  nicht  nur  das  Ejnthel  und  die 
Corneazellen  der  Stelle  selbst ,  auch  ein  wechselnder  Bezirk  ringsum  („Degenerations- 
zone") zeigt  Veränderungen  in  Epithel  und  Zellen,  Quellung  und  Trübung.  Bald  sieht 
man  vom  Rande  der  Cornea  her  theils  die  Wanderzellen  der  Cornea,  theils  weisse 
Blutzellen  in  den  Saftcanälen  der  Cornea  nach  dem  geätzten  Bezirk  hinwandern.  Ebenso 
wandern  aus  dem  Conjunctivalsack  durch  das  gelockerte  Cornealepithel  und  von  der 
vorderen  Kammer  her  durch  die  Descemefsche  Haut  weisse  Blutzellen  ein.  Die  ganze 
Cornea  quillt,  ihre  Oberfläche  ist  unregelmässig,  das  Gewebe  gelockert.  Erst  später  und 
nur  bei  schwereren  Störungen  beginnen  vom  Rande  der  Cornea  her  sich  Gefässschlingen 
nach  der  kranken  Stelle  liin  auszubilden ,  bald  von  allen  Seiten ,  bald  streifenförmig 
nur  von  einer  Stelle  aus;  damit  unterscheidet  sich  dann  der  Process  nicht  mehr  von 
dem  in  gefässhaltigen  Theilen. 

Die  entzündliche  Schwellung-  ist  jedenfalls  die  constanteste 
Erscheinung  der  Entzündung.  Sie  fehlt  nie,  auch  nicht  in  gefässlosen 
Theilen;  Röthung,  Schmerz,  Wärmegefühl  fehlen  nicht  so  selten.  Die 
Schwellung  ist  in  den  Formen  ihres  Auftretens  sehr  verschieden. 

Die  entzündliche  Anschwellung  fühlt  sich  bald  schlaffer,  bald 
straffer  an.  Entscheidend  ist  der  Körpertheil,  welcher  von  der  Schwellung 
betroffen  wird;  lockere  Gewebe,  wie  das  Präputium,  die  Schleimhaut 
des  Halses,  die  Haut  der  Lider  bieten  schlaffe  Schwellung  dar,  an 
anderen  Geweben,  namentlich  solchen  in  dicken  Kapseln  oder  unter 
derben  Fascien,  ist  die  Schwellung  straff.  Je  länger  eine  Schwellung 
besteht,  um  so  straffer  und  härter  wird  sie  meist.  Statt  der  Flüssigkeit, 
welche  die  Hauptmasse  ausmacht  bei  acuter  entzündlicher  Schwellung, 
enthalten  die  Gewebe  im  Laufe  der  Zeit  dann  mehr  körperliche  Ele- 
mente und  faseriges  Bindegewebe.  Sie  bedingen  die  grössere  Härte. 

Die  entzündliche  Schwellung  ist  die  Folge  der  physikalischen  Aenderungen  der 
Gewebe,  die  leichter  dehnbar  geworden  sind  und  deren  Elasticität  eine  unvollkommene 
geworden  ist  (vergl.  hanclerer,  Gewebsspannung).  Die  entzündliche  Volumszuuahme 
ist  nicht  möglich  ohne  eine  vermehrte  Dehnbarkeit  der  Gewebe.  Dass  die  Elasticität 
eine  unvollkommene  geworden  ist,  geht  u.  A.  aus  der  Faltenbildung  etc.  bei  der  Ab- 
schwellung  hervor. 

Die  bei  frischen  und  schweren  Entzündungen  an  den  Geweben 
zu  beobachtenden  Erscheinungen  tragen  im  Wesentlichen  iusge- 
sammt  den  Charakter  der  Degeneration.  Bald  hat  man  trübe  Schwellung 
(parenchymatöse  Degeneration),  Verflüssigung  und  Vacuolenbildung 
z.  B.  bei  Verbrennungen,  Verfettung  (bei  gewissen  Vergiftungen). 
Coagulationsnekrose  u.  s.  w.,  oder  die  Zellen  sind  aus  ihrem  normalen 
Zusammenhang  gelöst  (bei  Aetzungen  und  Verletzungen).  Selbst  die 
eingewanderten  Zellen  verfallen  im  Entzündungsherd  theilweise  der 
Zerstörung.  Dazwischen  findet  man  dann  eingewanderte  Zellen,  die 
Producte  der  beginnenden  Regeneration  u.  s.  w.,  so  dass  das  Bild  im 
Einzelnen  schliesslich  schwer  zu  deuten  ist. 

Die  Praxis  hat  dazu  geführt,  verschiedene  Formen  und 
Stadien  der  Entzündung  zu  unterscheiden.  Eine  einheitliche  ana- 
tomische oder  ätiologische  Gruppirung  ist  zur  Zeit  noch  nicht  möglich. 

Sind  vorwiegend  die  specifischen  Gewebsbestandtheile  betroffen, 
hat  man  die  Entzündung  eine  parenchymatöse  genannt,  eine  inter- 
stitielle dann,  wenn  die  Veränderungen  hauptsächlich  am  Zwischen- 
bindegewebe als  zellige  Infiltration  und  Bindegewebswucherung  auf- 
fallend sind. 


Seröse,  adhäsive,  eitrige  Entzündung.  29 

Die  leichteste  Form  und  das  erste  Stadium  der  Entzündung  ist 
die  hyperämisclie  Entzündung-  (vergl.  pag.  23).  Transsudation  und 
Lymphbildung  sind  ebenfalls  gesteigert.  Wo  die  Transsudate  in  freie 
Räume  oder  unmittelbar  nach  aussen  treten  können ,  nimmt  dieser 
seröse  Erguss  unsere  Aufmerksamkeit  unmittelbar  in  Anspruch  und  wir 
reden  von  seröser  Entzündung.  Hiebei  tritt  oft  der  Erguss  mehr 
in  den  Vordergrund,  so  in  Gelenkhöhlen,  in  der  Scheidenhaut  des  Hodens. 
Hieher  gehört  auch  ein  Theil  der  Schleimhaut-Katarrhe,  wo  vor- 
wiegend Hyperämie  und  seröse  schleimige  Ergüsse  auf  die  Oberfläche 
zu  beobachten  sind.  Jede  Entzündung  kann  mit  der  Hyperämie  ein- 
setzen. Die  entzündliche  Hyperämie  wird  wieder  rückgängig  oder  geht 
in  ein  anderes  Stadium  über.  Die  brandigen  Entzündungen  können 
gleich  mit  Blutstockung  einsetzen. 

Die  „adhäsive"  Entzündung  besteht  darin,  dass  zwei  binde- 
gewebige Flächen  direct  aneinandergelegt  oder  nur  durch  eine  dünnste 
Schicht  —  Blut,  Faserstoffgerinnsel  —  getrennt,  mit  einander  verlöthen 
(seröse  Flächen).  Die  reparatorischen  Veränderungen  treten  so  in  den 
Vordergrund ,  dass  diese  Form  der  Entzündung  besser  bei  der  Wund- 
heilung besprochen  wird. 

Eine  höchst  interessante  und  häufige  Form  der  Entzündung  ist 
die  eiterige  Entzündung. 

Die  Bedingungen  der  Eiterung  sind  in  den  letzten  Jaliren  von  den  ver- 
schiedensten Seiten  experimentell  studirt  worden. 

Früher  hielt  man  die  Eiterung  für  eine  Steigerung  der  entzündlichen  Hyperämie 
und  glaubte,  wenn  die  weissen  Zellen,  welche  aus  den  Blutgefässen  austreten,  nur  zahlreich 
genug  wären,  so  flössen  sie  schliesslich  zu  jener  Emulsion  zusammen,  die  man  Eiter  nennt. 

Die  Ansicht  von  Cohnheini,  Councilman  u.  A.,  dass  Eiterung  nur  durch  Bacterien 
hervorgerufen  werden  könne,  hat  sich  nicht  halten  lassen.  „Eiterung  ist  keine  specifische 
Eeaction  auf  einen  specifischen  Eeiz."  (Rinne,  Langenheck's  Archiv,  Bd.  39.)  Auch 
Chemikalien,  Bacterienptomaine  und  abgetödtete  C'ulturen  machen  Eiterung.  Alle  nur  durch 
Chemikalien  erzeugten  Eiterungen  heilen  nach  ihrer  Entleerung  sehr  rasch,  verbreiten  sich 
nicht  weiter  und  machen  keine  Metastasen  (Unterschied  von  den  bacteriellen  Eiteraugen). 

Wohl  ist  beim  Menschen  Eiterung  ohne  Mikroorganismen  bisjetzt  nicht  nachgewiesen, 
am  Thier  lässt  sich  jedoch  Eiterung  ohne  „Bacterien"  durch  chemisch  stark  wirkende 
Stoffe  (sog.  Acria,  wie  Argentum  nitricum,  Terpentinöl,  Crotonöl,  Quecksilber,  Cadaverin 
u.  a.)  hervorrufen  (Grawitz  und  de  Bary ,  Virchow's  Archiv,  Bd.  108  und  116; 
Rosenhach  und  Kreibohm,  Langenheclc  s  Archiv,  37). 

Es  unterliegt  auch  keinem  Zweifel,  dass  kleine  Mengen  von  Eitererregern,  ausser 
wenn  sie  von  ungewöhnlicher  Virulenz  sind,  zur  Erzeugung  von  Eiterung  nicht  aus- 
reichen. Massige  Mengen  von  Staphylokokken  werden  von  den  antibacteriellen  schützenden 
Einrichtungen  des  Organismus  vernichtet,  wenn  sie  subcutan  oder  intraperitoneal  injicirt 
werden  (Rcichel ,  Rinne,  Grawitz).  Noch  viel  leichter  wird  der  Körper  mit  ihnen 
fertig  bei  intravenöser  Injection  derselben. 

Die  Untei'suchungen  von  Rinne  {Langenheclc' s  Archiv,  39)  und  Grawitz, 
Vini  Reichel  {Langenheck's  Archiv,  42  und  49)  haben  ferner  ergeben,  dass  zum  Zustande- 
kommen der  Eiterung  noch  weitere  begünstigende  Momente  hinzukommen  müssen ; 
ganz  besonders  eine  Schädigung  oder  Vernichtung  der  Schutzkraft  des  Körpers 
{Rosenhach,  Passet,  Grawitz  u.  A.).  Entweder  es  müssen  die  Ptomaine  der  Eiterkokken 
mit  übertragen  werden,  die  die  Zellen  chemisch  schädigen  und  auch  ohne  Bacterien  Ab- 
scedirung  hervoiTufen  können  (für  Rinne  eine  Conditio  sine  ijua  non)  oder  chemisch 
reizende  Stoffe,  wie  Cadaverin ,  Ammoniak  etc.,  müssen  neben  den  Kokken  einverleibt 
werden.  Oder  dieselben  müssen  in  einen  „todten  Winkel"  eingeführt  werden ,  wo  die 
Zellen  ihre  bacterienvernichtende  Kraft  nicht  ausüben  können.  Begün.stigend  wirken  in 
diesem  Sinne  Verletzungen  und  Blutergüsse  {Rosenhach,  Fasset,  (irairiiz  u.  A.).  Nacli 
Reiche/  begünstigen  einfache  Incisionen  die  Eiterbildung  wenig,  wohl  aber  buchtige 
Wunden,  z.  B.  Muskelwunden. 

Auch  erhölite  Disposition  des  Körpers  kann  begünstigend  wirken.  So  soll 
{Reiche!,  Langenheck's  Archiv,  44)  verminderte  Alkalescenz  des  Blutes  die  Entwicklung 


30  '•  Oajiitel.   — ■   0(!rtlicli(;   Kroisliiiifs-   iiml    iMiiJJliniii^s.stöi'unK'üi. 

der  Kokken  begünstigen,  vermehrte  Alkalescenz  ihr  entgegen  wirken,  lilutverlu.st,  Hydrämie 
begünstigen  die  Eiterung  (Gürlner,  lieichel);  Zuckerharnruhr  und  älinlielie  Constitutions- 
anomalien  mögen  ähnlich  wirken.  Alles,  was  eine  länger  dauernde  Einwirkung  der 
Kokken  auf  die  inticirte  Stelle  herbeifühi-t,  was  die  Resorption  stört  oder  iiindert,  z.  B. 
Unterbindung  einer  Hauptarterie,  begünstigt  die  Eiterljildung ;  was  die  Resorption  fördert, 
wirkt   der  Eiterung  entgegen  (RpÄchel,  Rinne). 

Oertlich  wirkt  eine  energische  Zellwucherung  den  Eiterkokken  entgegen,  während 
sie   in  ödematösen  Theilen  rasch  wachsen  und  sich  verbreiten  (Graiviiz). 

In  200  Abscessen  fand  Karlinsky  82nial  S  taph ylococc  us  aui'eus  (Fig.  12). 
45mal  Streptococcus  pj^ogenes  (Fig.  13),  55nial  Staphylococcus  albus,  Tmal  Staphylo- 
coccus  citreus ,  6mal  Micrococcus  tetragenus,  3mal  Bacillus  foetidus ,  2mal  den  Fried- 
Zö'nf^er'schen  Bacillus,    theils  allein,  theils  gemischt  nebeneinander. 

Bacterium  coli  fand  sich  • —  zum  Theil  allein  —  in  gashaltenden  jauchigen 
Phlegmonen  (Fränkd,  Tavel  und  Lanz),  z.  B.  in  Strumaabscessen.  Bacterium  coli 
scheint  übrigens  keine  bacteriologische  Einheit  zu  sein ,  sondern  ist  vielleicht  identisch 
mit  Bacillus  neapolitanus  (Emmerich),  Bac.  foetidus  u.  a.  Es  soll  auch  Meningitis, 
Endokarditis  etc.  erzeugen    können  (Park,  Chir.  Centralbl.,  1894,  Nr.  21). 

Auch  der  Proteus  vulgaris  {Hauser)  macht  jauchig  eitrige  Processe  (Brunner, 
Mtinchener  med.  Wochenschr..  1895,  5),  ebenso  kann  der  Typhusbacillus  ,  der  Diplo- 
coccus  pneumoniae,  der  Gonococcus,  der  Eotzbacillus  gelegentlich  Eiterung  erzeugen. 

In  einem  Leberabscess  fanden  Grimm  (Langenheck's  Archiv,  48),  Nasse 
{Langenheck' s  Archiv,  43),  Berndf  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  40)  Protozoen. 

Um  die  aus  den  Gefässen  über- 
'^'^'  ■'"^'  ^^'  ^^'  getretenen  Entzündungsproducte  und  die 

präexistenten     Gewebsbestandtheile     in 
^,   ,  Eiter    überzuführen ,    bedarf    es    einer 

5      C "    •"  Verflüssigung  derselben,  zum  Mindesten 

,^   V  einer  Yei'hinderung  der  Gerinnung,  die 

jf^";\//  ja  sonst  sich  einstellt,  wenn  weisse  Blnt- 

!°        i'  !,'         Zellen   nnd   Plasma    aus    den  Gefässen 
•"'^    ii  austreten.  Yermuthlich  ist  die  Ursache 

\^,        ,.  hievon  in  der  eigenartigen  Wirkung  der 

.  ■'"'*.   ./'"•  eitererregenden      Mikroorganismen      zu 

i,,    ••'■"'  suchen.     Dieselben    „verflüssigen    feste 

Nährböden"  ,    Gelatine ,     Blutserum   u. 
Staphylococcus  pyogenes  und  Streptococcus  pyogenes.     dergl.,    auf  denen   sie   gezüchtet  werden. 

1  °  . 

Reincultur.  Vergr.  Zeiss  Immers.  —  Oc.  5.  und     man    ist     geneigt .     diese     Eigen- 

thümlichkeit  mit  der  Fähigkeit  der- 
selben ,  Peptone  zu  bilden ,  in  Verbindung  zu  bringen.  Peptone  gerinnen  nicht  und 
verhindern,  dem  Blute  oder  der  Lymphe  zugesetzt,  die  Gerinnung. 

Die  zur  Zeit  sich  iiocli  maniiichfacli  widersprechendeii  Ansichten 
lassen  sich  ungefähr  dahin  zusammenfassen :  Abscesse  ohne  Mikro- 
organismen gehören  in  der  Praxis  zu  den  grössten  Seltenheiten  (z.  B. 
durch  Injection  von  Calomel).  Zum  Zustandekommen  von  Eiterung  ist 
es  nöthig,  dass  Mikroorganismen  von  nicht  zu  schwacher  Virulenz  und 
in  nicht  zu  kleiner  Menge  an  Orte  gelangen,  wo  die  Bedingungen  ihrer 
Entwicklung  günstig  sind  durch  gleichzeitige  Anwesenheit  von  Stoffen, 
die  die  Gewebe  chemisch  schädigen,  z.  B.  Toxine ,  oder  todte  Winkel, 
wie  Blutergüsse,  Fremdkörper  u.  s.  f.,  oder  dass  das  betreffende  Gewebe 
oder  der  Gesammtk(5rper  durch  schädigende  Momente  in  seiner  Wider- 
standsfähigkeit geschwächt  ist. 

So  lange  der  Eiter  in  den  Lücken  zwischen  den  noch  erhaltenen 
Gewebstheilen  sitzt,  sprechen  wir  von  eitriger  Infiltration  der 
Gewebe.  Sind  aber  diese  gleichfalls  eitrig  eingeschmolzen  und  ist  der 
Eiter  zu  einer  förmlichen  Höhle  zusammengeflossen  (confluirt),  so  hat 
man  den  „Abscess",  die  Eiterhöhle,  vor  sich.  Die  Abscesse.  welche 
in  dieser  Weise  durch  die  angegebenen  Mikroorganismen  entstehen, 
sind  die  „heissen  oder  acuten  Abscesse",  im  Gegensatz  zu  den 
chronisch  entstandenen  „kalten". 


Acute  Abscesse.  —  Fluctuation.  .  31 

Die  klinischen  Erscheinung-en  der  heissen  Abscesse  sind 
meist  ziemlich  prägnant.  Beginn  und  Verlauf  ist  ein  rascher,  in  einigen 
Tagen  oder  Wochen  sich  abspielend.  Röthung  und  Schmerzhaftigkeit 
sind  stark  ausgesprochen.  Die  Schmerzen  sind  klopfend,  dem  Pulse 
isochron;  daneben  ist  oft  noch  das  Gefühl  der  Spannung  vorhanden. 
Die  meisten  acuten  Abscesse  haben  das  Bestreben,  nach  aussen  durch- 
zubrechen. Unter  hohem  Drucke  stehend,  müssen  sie  sich  nach  dem 
Orte  geringsten  Widerstandes  hin  weiter  verbreiten  und  werden  ihnen 
ihre  Wege  durch  die  anatomischen  Verhältnisse  des  Entstehungsortes 
vorgeschrieben.  Meist  sind  es  Räume  lockeren  Bindegewebes, 
Spalten  zwischen  Muskeln ,  längs  der  Gef  ässe  u.  dergl. ,  in  denen  sie 
sich  weiter  verbreiten.  Auf  der  anderen  Seite  setzen  oft  derbe  Binde- 
gewebszüge,  Fascien ,  Gelenkkapseln  oder  gar  Knochenwände  ihrer 
Durchbrechung  schwere  Hindernisse  entgegen  und  werden  dadurch  die 
Eiteransammlungen  zu  Umwegen  genöthigt.  Die  acuten  Abscesse  legen 
nicht  so  weite  Wege  zurück  wie  die  chronischen ,  weil  in  den  Grenz- 
bezirken der  Entzündung  die  Gewebsspalten  sich  durch  adhäsive  Ent- 
zündung verlöthen  und  so  dem  Weiterdringen  einen  gewissen  Damm 
entgegensetzen.  Meist  drängt  der  Abscess  auf  ziemlich  geradem  Wege 
nach  der  Obertläche  —  nach  der  äusseren  Haut,  einer  Schleimhaut  oder 
serösen  Höhle.  Nur  selten  und  nur  kleine  Abscesse  vermögen  eingedickt 
für  einige  Zeit,  für  Monate,  selbst  Jahre  und  Jahrzehnte  zu  ruhen,  um 
dann,  durch  irgend  einen  ungünstigen  Zufall  (eine  kleine  Verletzung) 
wieder  manifest  zu  werden.  Ebenso  ist  die  Abkapselung  der  Ab- 
scesse, die  Umschliessung  durch  eine  derbe  schwielige  Biudegewebs- 
lage  ein  selteneres  Vorkommniss  (Hirnabscesse). 

Auch  ohne  Züchtung  lässt  es  sich  oft  schon  nach  den  klinischen  Erscheinungen 
mit  einer  gewissen  Sicherheit  feststellen ,  welcher  Mkroorganismus  die  Ursache  des 
Abscesses  ist.  Die  Staphylokokkenabscesse  entwickeln  sich  rasch,  in  wenigen  Tagen 
nuter  hohem  continuirlichem,  gleichmässigem,  nur  geringe  Morgenremissionen  (1")  zeigendem 
Fieber,  sehr  heftigen  Schmerzen,  starker  Störung  des  Allgemeinbefindens.  Die  Röthung 
ist  lebhaft ,  die  Spannung  des  Eiters  stark,  so  dass  dieser  bei  der  Eröffnung  in  hohem 
Strahl  herausspritzt.  Nach  der  Entleerung  erfolgt  meist  rasche  Heilung. 

Der  Streptokokkenabscess  entwickelt  .sich  langsamer,  das  Fieber  ist  un- 
regelmässig, meist  nicht  so  hoch,  die  Eöthung  weniger  lebhaft,  die  Schmerzen  nicht  so 
intensiv ;  die  Spannung  des  Eiters  ist  gering.  Nach  der  Entleerung  bleibt  eine  Neigung 
zum  Weiterschreiten  und  zu  Senkungen  zurück  und  die  Heilung  erfolgt  langsam 
und  zögernd. 

In  stinkenden  und  gashaltigen  A bscessen  findet  man  meist  noch  Bacterieii. 
z.  B.   das  Bacteiium  coli,  den  Proteus  u.  s.  f. 

Ist  der  Abscess  in  eine  gewisse  Nähe  der  Oberfläche  gelangt,  so 
bietet  er  das  klinisch  äusserst  wichtige  Symptom  der  Fluctuation. 
Legt  man  die  Zeigefinger  beider  Hände  auf  den  l)etrettenden  Theil 
auf  und  gibt  mit  dem  einen  Finger  einen  leichten  Stoss.  so  setzt  sich  der- 
selbe —  wenn  freie  Flüssigkeit  vorhanden  —  nach  bekannten  hydro- 
statischen Gesetzen  durch  die  Flüssigkeit  hindurch  ungeschvvächt  auf  den 
anderen  Finger  fort  und  dieser  fühlt  deutlich  eine  He])ung.  Je  dünnei-  die 
Flüssigkeit,  um  so  deutlicher  die  Fluctuation.  Bei  starker  Spannung 
der  Wände  geht  das  Gefühl  der  Fluctuation  fast  ganz  verloren;  in 
dünner ,  wenig  gespannter  Flüssigkeit  ruft  ein  kurzer  Stoss  fönnlichc 
Wellen  —  sichtbar  und  fühlbar  —  hervor,  Undulation.  So  leicht 
es  ist,  der  Oberfläche  nahe  Flüssigkeitsergüsse  durch  die  Prüfung  auf 
Fluctuation  zu  erkennen,  so  schwer  ist  es  bei  tiefsitzenden.    Das  Gefühl 


32  T-  Capitel.  —  Oertliclic  Kreislaufs-  und  Eniälirungsstörungen. 

der  „Pseudofluctuation"  vermögen  weiche,  zellenreiche  Geschwülste, 
Muskeln,  ein  schwangerer  Uterus  u.  dergl.  hervorzurufen. 

Der  Durchbruch  des  Abscesscs  erfolgt  nach  aussen  durch 
Verdünnung  der  Haut.  Fast  immer  findet  man  dann  die  Spitze  der 
sich  konisch  zuspitzenden  Abscessdecke  nekrotisch  und  blau.  Man 
soll  die  Spontaneröffnung  nicht  abwarten,  sondern  so  früh  als 
möglich  den  Abscess  eröffnen  und  dadurch  umfänglichere 
Zerstörungen  verhüten.  Ein  zu  früh  gesetzter  Schnitt  wird  unter 
dem  Schutze  der  Antisepsis  nie  schaden.  Selbst  der  eitrigen  Infil- 
tration kann  man  durch  frühe  kleine  (1 — 2  Centimeterj  die  Fascie 
durchsetzende  Einschnitte  (Debridement  multiple)  meist  Halt  gebieten. 
Der  fertige  Abscess  erfordert  einige  Vorsichtsmassregeln  bei  der  Er- 
öffnung, namentlich  in  der  Nähe  grosser  Gefässe  oder  Nerven.  Es 
ist  ein  grober  Fehler,  mit  tief  eingestochenen  spitzen  Messern  nach  dem 
Eiter  zu  suchen.  Man  schneidet  nur  Haut  und  Fascie  mit  dem  Messer 
ein  und  bohrt  sich  dann  mit  spitzer  Kornzange  in  die  Tiefe.  Quillt  der 
Eiter  hervor,  so  zieht  man  die  Zange  halb  geöffnet  heraus  und  er- 
weitert stumpf  die  Oeffnung.  Dieses  Verfahren  ist  auch  unbedingt  der 
Eröffnung  mit  dem  Troicart  vorzuziehen,  wo  ich  die  Haut  auch  immer 
vorher  mit  dem  Messer  spalte.  Ist  ein  Theil  des  Eiters  —  nicht  zu 
schnell  —  abgeflossen,  so  kann  man,  wenn  nöthig  und  wenn  der  Abscess 
gross  ist,  stumpf  oder  mit  an  der  Spitze  geknöpftem  Messer  erweitern, 
bis  man  mit  dem  Finger  untersuchen  kann. 

Abscesse  müssen  „drainirt"  werden,  um  völligen  Abfluss  des 
Eiters  zu  sichern.  Zwischen  den  Armen  einer  Kornzange  oder  durch 
die  Canüle  des  Troicarts  schiebt  man  ein  gefenstertes  desinficirtes 
Gummirohr  ein,  das  man  an  die  Haut  auf  der  einen  Seite  des  Schnittes 
annäht  oder  durch  einen  Seidenfaden,  eine  Sicherheitsnadel  u.  dergl. 
vor  dem  Hineingieiten  schützt.  Das  früher  übliche  Auswaschen  der 
Abscesse  mit  antiseptischen  Flüssigkeiten  ist  nutzlos,  kann  aber  oft 
Schaden  bringen.  Noth wendig  ist,  dass  der  Abscess  an  dem  tiefsten 
Punkte  eröffnet  und  drainirt  wird.  Jede  Stelle,  aus  der  der  Eiter 
nicht  leicht  und  vollständig  abfiiessen  kann,  ist  für  sich  zu  drainireu. 
Das  Auswischen  mit  steriler  Gaze  oder  das  Ausräumen  mit  dem 
scharfen  Löffel  kann  mitunter  nöthig  sein.  Ein  wohl  aufsaugender 
Verband  deckt  das  Ganze.  (Ueber  die  Heilungsvorgänge  in  Abscessen 
siehe  Wundheilung.)  Eigene  neugebildete  Wandungen,  „Abscessmem- 
branen",  haben  acute  Abscesse  nicht,  ihre  Wände  sind  gebildet  von  den 
auseinandergedrängten,  entzündlich  veränderten  und  verlötheten  Geweben. 

Die  eitrige  Infiltration  trägt  klinisch  alle  Zeichen  der  acuten 
Entzündung  (siehe  pag.  21  ff.),  nur  ist  die  Fluctuation  nicht  deutlich. 
Die  Behandlung  besteht  in  Hochlagerung,  wenn  möglich  verticaler 
Elevation  des  betreffenden  Theils  und  antiseptischen  Umschlägen  (z.  B. 
Sublimatlösung  1 :  3000).  Nehmen  Schwellung,  Schmerzhaftigkeit  und 
Fieber  nicht  binnen  24  Stunden  merkbar  ab,  so  macht  man  eine 
grössere  Anzahl  kleiner  Einschnitte  (1'5— 2-5  Centimeter  lang)  durch 
Haut  und  Fascie  (Debridement  multiple).  Zunächst  kommt  blutiges 
Serum,  später  mitunter  auch  Eiter  aus  den  Schnitten  (die  durch  Ein- 
bohren einer  spitzen  Kornzange  vertieft  werden  können). 

Der  Eiter  bildet  eine  Emulsion  von  Milch-  bis  Ealimconsistenz ,  Aveiss  bis 
gelblich,  alkalisch  reagirend,  geruchlos  oder  fade  riechend  (Pus  bonum),  in  einzelnen 
Fällen  (siehe  pag.  30  und  31)  und  in  der  Nähe  des  Darmes  aashaft  stinkend. 


Eiter.  —  Fibrinöse  und  croupöse  Entzündung.  33 

Der  Eiter  setzt  sich  zusammen  aus  den  aus  den  Blutgefässen  ausgetretenen 
weissen  Blutkörperchen  und  Plasma,  aus  den  die  Eiterung  bedingenden  Mikroorganismen 
und  aus  den  Trümmern  der  abgestorbenen ,  erweichten  und  verflüssigten  Gewebe.  Die 
Eiterkörperchen  sind  vorwiegend  Abkömmlinge  der  ausgewanderten  weissen  Blut- 
zellen in  verschiedenen  Stadien  der  Degeneration ,  wenngleich  die  Möglichkeit  nicht  ge- 
leugnet werden  soll,  dass  dieselben  auch  durch  Theilung  der  lixen  Bindegewebskörperchen 
entstehen  können  {Grmvitz  lässt  auch  die  Eiterkörperchen  aus  seinen  Schlummerzellen 
entstehen). 

Die  Eiterkörperchen  mögen  aus  der  Milz,  den  Lymphdrüsen  u.  s.  w.  herstammen. 
Während  der  Abscess  sich  bildet ,  circuliren  im  Blut  stets  massenhafte  Leukocyten, 
deren  Menge  mit  der  Eröffnung  des  Abscesses  plötzlich  absinkt. 

Die  Eiterkörperchen  sind  meist  polynucleär,  etwas  grösser  als  weisse  Blutkörper- 
chen, gewöhnlich  körnig  getrübt.  Erst  nach  Essigsäurezusatz  oder  durch  starke  Kern- 
färbeniittel  treten  einer  oder  mehrere  Kerne  hervor.  Sie  halten  Fetttröpfchen,  wenn  der 
Eiter  fetthaltigen  Körpertheilen  entstammt,  ferner  sind  regelmässig  Mikroorganismen,  be- 
sonders Kokken   in  ihnen   eingeschlossen.     Daneben   finden  sich   Zellen ,    welche    schon 


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weiter  im  Zerfall  vorgeschritten  sind  —  Körnchenkugeln  u.  dergl.  (Fig.  14  C),  wo  ein 
Kern  nicht  mehr  sichtbar  zu  machen  ist.  Löst  sich  ihr  Zusammenhang,  so  zerfallen  sie 
zu  einem  feinkörnigen  Detritus ,  welcher  überall  zwischen  den  Zellen  suspendirt  ist 
(Fig.UC'j. 

Die  Form  ist  meist  eine  kuglige,  nur  ein  Theil  zeigt  noch  die  Fähigkeit,  sich 
zu  bewegen  und  Fortsätze  zu  bilden.  Ausserdem  trifft  man  im  Eiter  Trümmer  zerfallenden 
Gewebes ,  Fetzen  von  Bindegewebsfibrillen ,  elastischen  Fasern ,  Muskelfasern  u.  dergl. 
(Fig.  li  D  a  und  />),  Epithelien  (z.  B.  vom  Urogenitaltractus),  Speisereste  (bei  Abscessen, 
die  mit  dem  Darmcanal  in  Verbindung  gestanden).  Grosse  Fetttropfen  liefert  Vereite- 
rung des  Knochenmarkes. 

Das  Eiterplasma  stellt  eine  blassginingelbe  Flüssigkeit  dar,  die  spontan  nicht 
gerinnt  und  Eiweiss,  namentlich  Peptone  enthält.  Die  Salze  sind  ungefähr  in  dem  Ver- 
hältnisse der  Blutsalze  vorhanden. 

Fig.  14  A  ist  Eiter  aus  einer  osteomyelitischen  Fistel ,  zahlreiche  Eitei'zellen 
mit  deutlichen  mehrfachen  Kernen,  sehr  Avenig  Kokken.  14 -B  Eiter  von  einem  Pana- 
ritium  iMitnommen ,  hält  Kokken  in  etwas  grösserer  Jlenge ,  die  grösseren  Stapliylo- 
kokkeii,  die  kleineren  Streptokokken;  die  Eiterköi-perchen  znm  Theil  monojuicleär,  zum 
Theil  ohne   sichtbaren  Kern.    14  C  ist  Eiter  von  einem   pyämischen  Abscess,  die  Eiter- 

Landerpr,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Theraj)ie.  2.  Aufl.  3 


t>^  T,  Ca|)it(!l.  —  Oertlidi«  Kreirslaufs-  und  Ernäbruiig.sstöran,u;eii. 

körpeiclHMi  sind  in  dür  Form  weniger  gut  erbalten,  iiornlo.s,  zum  Tlieil  ziM'falleiid,  daneben 
enorme  Mengen  Kokken,  namentlicb  kbiine  streptoeoceusartige.  (Säimntlieb  JJeckglasj)rä- 
l)arate  naeli  (?rf/m  doppelt  gefärl)t.  Hartn.  8.  Oc.  IV.)  14  D  ist  Eiter  obiie  Färbniig 
und  Zusatz,  Detritus  baltend.  —  Die  Zalil  der  P^iterkörpereben  im  Cubikmillinieter  beträgt 
cirea  400.000—1,500.000.  Trübe  Exsudate  entbalten  von  eirca  50.000  aufwärtH.  Der 
p:iter  besitzt  massige  bactericide  Eigenscliaften.  Ausser  dem  grünen  Eiter  kann  eine 
auf  speeifiscben  Bacterien  beruhende  rotbe  und  eine  auf  Blutpigment  b(-rubcnde  orange- 
rotbe  Farbe  vorkommen.  —  Ueber  blauen  Eiter  s.  Ijei  Wundinfection. 

In  andeven  Fällen  gerinnt  das  Exsudat,  welches  die  Gefässe  ver- 
lässt  —  fibrinöse  Entzündung.  Am  deutlichsten  ist  dies  zu  beobachten, 
wenn  das  Transsudat  auf  freie  seröse  Flächen  tritt.  Man  hat  einen 
Filz  von  Fibrinfäden,  meist  wirr  durcheinandergeschlungen,  darin  ein- 
geschlossen weisse  Blutzellen  in  wechselnder,  oft  geringer  Zahl  fveru-1. 
pag.  13).  Ausser  auf  serösen  Flächen  findet  man  solche  fibrinöse 
Einlagerungen  auch  in  Wundspalten  u.  dergl.  Das  Fibrin  wird  schliess- 
lich resorbirt  und  substituirt,  wie  der  Thrombus  (vergl.  pag.  15).  Sonst 
können  fibrinöse  Exsudate  auch  verfetten,  verkreiden  und  verkalken. 

Auch  innerhalb  der  Gewebe  und  ihrer  Spalten  begegnet  man 
gerinnenden  fibrinösen  Ergüssen  .  namentlich  bei  der  Einwirkung  von 
Aetzmitteln.  Gerinnende  Exsudate  tragen  neben  der  Wucherung  der 
Gewebszellen  durch  Verschluss  der  Gewebsspalten  wesentlich  dazu  bei, 
die  Entzündung  an  der  Propagation  zu  hindern  und  die  Entzündung 
zu  begrenzen. 

Bei  der  croupösen  Entzündung  hat  man  ein  gerinnendes  fest- 
haftendes Exsudat  auf  der  Oberfläche  von  Schleimhäuten.  Auch  die 
oberen  Schichten  der  Schleimhaut  gehen  in  demselben  auf,  nachdem 
ihreEpithelieu  eine  eigenartige  nekrobiotische  Veränderung  erlitten  haben 
(Heubner).  Ein  anatomischer  Unterschied  zwischen  croupösen  und 
diphtheri tischen  Entzündungen  ist  nicht  zu  machen.  Meist  sind 
Mikroorganismen,  seltener  ätzende  Stoffe  die  Ursache. 

Bei  den  hämorrhagischen  Entzündungen  verlassen  rothe 
Blutkör])erchen  mit  den  weissen  die  Gefässe  theils  auf  dem  Wege  der 
Auswanderung'  (Diapedesis,  Fig.  IcT],  oder  die  Wand  wird  z.  B.  durch 
die  zerstörende  Wirkung  von  eingedrungenen  Mikroorganismen  so  brüchig, 
dass  sie  zerreisst  und  das  Blut  durch  ein  Loch  durchtritt  (Blutung  per 
rhexin).  Seltener  beruht  der  hämorrhagische  Charakter  der  Entzündung 
auf  einer  erhöhten  Disposition  des  Kranken  zu  Blutungen  überhaupt 
(angeborene  hämorrhagische  Diathese,  Hämophilie  oder  erworbene  hä- 
morrhagische Diathese,  Scorbut  u.  dergl.)  oder  auf  mechanischer  Miss- 
handlung einer  entzündeten  Stelle  (Entzündungen  am  Bein  im  Umher- 
gehen). Meist  ist  die  Ursache  eine  besonders  schwere  Mikroorganismen- 
infection.  So  sind  die  hämorrhagischen  Formen  der  acuten  Infections- 
krankheiten,  Scharlach,  Masern,  Pocken  („die  schwarzen  Blattern ''),  als 
die  schlimmsten  seit  lange  gefürchtet.  Der  Chirurg  kennt  diese  hä- 
morrhagischen Entzündungen  namentlich  von  den  schwersten,  fast  aus- 
nahmslos tödtlichen  Formen  der  Blutvergiftung  her  (s.  dort). 

Die  schliinmsten  Formen  der  Entzündung  sind  die  jauchigen 
und  brandigen  Entzündungen.  —  Bei  diesen  durch  Mikroorga- 
nismen (meist  sind  es  Bacillen,  Bacillus  tremulus,  Bacterium  coli, 
Proteus  u.  s.  w.)  bedingten  Processen  verfallen  die  Gewebe  fast  in  dem 
Augenblick  ihrer  Erkrankung  schon  der  Zerstörung  und  wandeln  sich 
in  eine  faulige,   oft   aashaft  stinkende  Masse  um,   bestehend   aus   zer- 


Brandige  und  traumatische  Entzündung.  35 

fallenden  Geweben,  zersetztem  Blut,  oft  mit  G-asentwicklimg  innerhalb 
der  Gewebe;  eine  rotlibraune  oder  grünliche  Jauche  füllt  die  Gewebs- 
spalten  an.  Diese  Formen  von  Entzündung  scheinen  sofort  mit  Blut- 
stockung einzusetzen;  die  Gewebe  sterben  sofort  ab,  und  so  bilden 
diese  Arten  der  Entzündung  den  Uebergang  zum  eigentlichen  Brand. 
Zu  wirklicher  Entzündung  kommt  es,  wenn  der  Körper  nicht  mittler- 
weile zu  Grunde  gegangen,  nur  da,  wo  der  Process  zum  Stehen  ge- 
kommen, wo  noch  lebendes  Gewebe  erhalten  ist.  Dieses  wird  in  „de- 
markirende  Entzündung"  versetzt,  schliesst  sich  gegen  das  todte  ab  und 
stösst  es  schliesslich  ab  (s.  Brand). 

Bei  der  traumatischen  Entzündung  ist  der  Anlass  eine  me- 
chanische Zerstörung  von  Gewebsbestandtheilen  und  Gefässen.  Das 
betroffene,  z.  B.  gequetschte  Gewebe  bildet  einen  Herd,  in  dessen  Maschen 
Blut  und  Gewebstrümmer  eingelagert  liegen.  Nur  ganz  spärliche  weisse 
Blutzellen  finden  sich  darin.  Hyperämie  und  Auswanderung  von  weissen 
Blutzellen  i?t  auch  im  späteren  Verlaufe  nur  wenig  ausgesprochen,  da- 
gegen treten  früh  die  Erscheinungen  der  Ptegeneration  hervor,  in  Gestalt 
von  Bildung  epithelioider  Zellen  ,  Kerntheilungsfiguren  in  den  Zellen  u.  s.  f. 
Auf  der  anderen  Seite  fehlen  auch  Oedeme  nicht. 

Die  traumatische  Entzündung  bildet  ein  Mittelglied  zwischen  Entzündung, 
Wundheilung  und  Regeneration. 

Noch  einige  "Worte  über  die  n  e  u  r  o  p  a  r  a  1  y  t  i  s  c  h  e  Entzündung.  Es  ist  noch 
nicht  lange  her ,  dass  man  der  Ansicht  Avar ,  gestörter  Nerveneinfluss ,  Nervendurch- 
schneidungen ,  Nerven-  oder  Eückenmarksentartungen  führten  an  sich  schon  zur  Ent- 
zündung. Zwar  hatte  schon  VircJwiv  die  Aufhebung  des  Nerveneinflusses  als  Eutzün- 
dungsursache  energisch  zurückgewiesen :  „Wir  können  sowohl  an  gelähmten ,  als  an 
ganz  und  gar  nervenlosen  Theileu  durch  directe  Irritamente  dieselben  Eeizungsvorgänge 
hervornifen,  welche  wir  an  unveränderten  und  nervenreichen  Theilen  erzeugen  können. 
Schnelligkeit,  Grad  und  Ausdehnung  der  Processe  mögen  verschieden  sein,  die  Processe 
selbst  sind  es  nicht.  Mit  dem  Nachlass  der  Innervation  tritt  nur  ein  Nachlass  der 
"Widerstandsfähigkeit  der  Theile  oder  kurz  eine  grössere  Disposition  zu  Erkrankungen 
hervor.'^  Diejenigen  Beobachtungen,  welche  noch  bis  zuletzt  zu  Gunsten  des  Vorkommens 
echter  neuroparalytischer  Entzündungen  angeführt  wurden ,  sind  jetzt  als  auf  anderen 
Ursachen  beruhend  erkannt  worden.  Die  Corneavereiterung  nach  Trigeminusdurch- 
schneidung  lässt  sich  vermeiden,  wenn  das  Auge  vor  jeder  Verletzung  auf's  vSorgfältigste 
bewahrt  wird.  Bei  der  „sj-mpathischen''  Ophthalmie,  der  Entzündung  des  anderen  Auges. 
nachdem  das  erste  verletzt  war,  ist  Ueberwandening  der  Mikrokokken  in  der  Opticus- 
scheide  von  einem  Auge  zum  anderen  nachgewiesen  worden  (Deitfschmann).,  Und 
auch  die  ,,Vaguspnei;monie'",  die  Lungenentzündung  nach  Vagusdui'chschneidung  ist  auf 
Mikroorganismen  zurückgeführt.  Die  Nerven  haben  keinen  Einfluss  auf  die  Entstehung 
der  Entzündung,  wohl  aber  wird  der  Verlauf  durch  Aufliebung  des  Nerveneinflusses  un- 
günstig beeinflusst  (s.  chron.  Entzündung). 


Die  Zahl  der  Theorien  über  das  Wesen  der  Entzündung  ist  eine  fast  un- 
endlich grosse.  Die  Alten  begnügten  sich  mit  der  Aufstellung  der  vier  Cardinalsymptome  und 
mit  der  Frage,  welches  der  vier  Symptome  das  wichtigste  und  die  Grundlage  des  ganzen 
Vorganges  wäre.  Celsiis  hielt  den  Rubor  für  das  Avichtigste ,  das  Uebermass  des  Blutes. 
Andere  wandten  die  Lehre  von  den  vier  „Qualitäten",  der  heissen  und  kalten,  der 
trockenen  und  feuchten  Qualität  und  ihrer  „Complexionen"  auf  die  Entzündung  an. 
Diese  sollte  ein  Uebermass  der  heissen  Qualität,  l)isweilen  in  Complexion  mit  der 
trockenen  sein.  Den  Alexandrinern  schien  die  Entzündung  eine  übennässige  Anhäufung 
des  Blutes  in  dem  kranken  Theile,  so  dass  es  sich  aus  den  Enden  der  Blutadern  in 
die  Arterien,  welche  sich  die  Alten  bekanntlich  mit  Luft  gc^füUt  dachten,  verirren,  dort 
festsetzen  und  zersetzen  sollte.  Das  ]\nttelalter,  welches  die  Ansicliten  der  Alten  kritiklos, 
in  philologischer  Manier   weiter  commentirte,    k::m  von  diesen  Anschauungen  nicht  los. 

Ein  mächtiger  Anstoss  zu  neuer  selbständiger  Auffassung  und  Forschung  musste 
auch  in  die  Lehre  von  der  Entzündung  koinmiMi  durch  die  Entdeckung  des  Kreislaufes 
durch  Servet  und  Harveij  im  sechzehnten  Jahrhundert.  Die  Ae  nderungen  derCir- 
culation    wurden    nun    mit    besonderer  Vorliebe    studirt.     Beherr.sclit    wurden    die  \\\- 


3(5  J-  Capitel.  —  Oertlichi!   Kreislaufs-  und  Ernähiunj.^sstiJrung(;ii. 

schauungen  von  der  „Stasenthcorifs",  welche  besoiirlo's  von  Hoerhave  ausgeVjildet  wurde. 
Als  wesentliches  Moment  der  Entzüiulung  sah  hoerhave  die  Stockung  des  Blutes  in 
den  entzündeten  Geweben  an.  Poisseuüle  und  auch  Mayendie  nahmen  eine  Eindickung 
des  Blutes  an,  eine  Erhöhung  seiner  Klebrigkeit,  welche  es  weniger  leicht  durch  die 
Gefässe  durchschlüpfen  lasse.  Die  Anwesenheit  reichlichen  Faserstoffes  im  Aderlassblut 
bei  Entzündungsüebern,  die  sogenannte  Crusta  infiammatoria,  Hess  an  eine  Vennehrung 
des  Faserstoffes  denken  (Simon)  oder  an  eine  erhöhte  Gerinnungsfähigkeit  desselben 
(Rohitansky).  Cruveilhier  stellte  sogar  als  Ursache  der  entzündlichen  Stase  direct 
eine  Gerinnung  des  Blutes  in  den  Capillaren  hin.  Die  letztere  Annahme  wurde  von 
Paget  als  hinfällig  erkannt ;  Blut  aus  entzündeten  Theilen,  welches  drei  Tage  lang  durch 
Ligaturen  abgespei'rt  gewesen,  war,  als  es  aus  der  Ader  entleert  wurde,  gerade  so  flüssig, 
Avie  normales. 

Nach  der  Entdeckung  der  Gefässmuskelu  suchte  man  die  Entzündung  durch 
Gefässkrampf  mit  folgender  Gefässerschlaff'ung  zu  erklären  (Brücke,  EisenmannJ.  Henle 
dagegen  stellte  als  wichtigste  circulatorische  Erscheinung  die  Gefässlähmung  auf,  die 
die  entzündliche  Hyperämie  bedinge.  Durch  Erweiterung  des  Strombetts  soll  dann  die 
entzündliche  Stromverlangsamung ,  schliesslich  die  Stase  entstehen.  Wenn  ein  Strom 
plötzlich  in  ein  erweitertes  Bett  tritt,  so  liiesst  er  langsamer.  Dieses  Gesetz  gilt  jedoch 
nur  für  Röhren  grossen  Kalibers.  Auf  capilläre  Bohren  —  und  die  Gefässe,  in  welchen 
sich  die  Entzündung  abspielt ,  sind  im  Sinne  des  Physikers  alles  capilläre  Räume  — 
hat  das  PoissemUe-Jacobsohn'sche  Gesetz  Anwendung,  dass  die  Durchflussmengen  sich 
verhalten  wie  die  vierten  Potenzen  der  Durchmesser.  Einer  Erweiterung  des  Lumens 
einer  Capilläre  aufs  Doppelte  entspricht  somit  eine  Vermehrung  der  durchfliessenden 
Blutmenge  aufs  Sechszehnfache.  Die  Erklärung  der  Stromverlangsamung  als  einer 
Dilatationsstase  würde  also  wohl  für  gi'osse  Gefässe  vom  Kaliber  einer  Aorta  oder  Fe- 
moralis  passen;  .nicht  aber  für  kleine  Arterien ,  Venen  und  Capillaren.  In  welcher 
Weise  die  Circulationsänderungen  entstehen ,  ob  reflectorisch ,  ob  durch  directe  Beein- 
flussung der  Gefässmuskeln  oder  der  nervösen  Plexus  der  Gefässwand,  darüber  liess 
sich  noch  viel  weniger  Einigung  erzielen.  —  Andere  Theorien  legten  den  Schwerpunkt  auf 
Veränderungen  der  Gewebe,  in  das  die  Gefässe  eingebettet  liegen.  Broiissais 
nahm  eine  erhöhte  Vitalität  der  Gewebe  an.  Nach  Virchoto  beruht  die  Entzündung  auf 
„Aenderungen  der  Gewebszellen,  Avelche  sie  in  die  Lage  setzen,  aus  der  Nachbarschaft, 
sei  es  ein  Blutgefäss  oder  ein  anderer  Körpertheil,  eine  grössere  Quantität  von  Stoffen 
an  sich  zu  ziehen,  aufzusaugen  und  je  nach  Umständen  umzusetzen".  Der  Punkt,  der 
hiebei  nicht  klargestellt  war,  sind  die  Circulationsänderungen.  Für  ihre  Entstehung 
bietet  die    Virchoiv  sc\iq  Darstellung  keine  Erklärung. 

Auf  der  Annahme  moleculärer  (chemischer)  Veränderungen'  der  Gefässwand, 
welche  diese  für  Flüssigkeiten  und  weisse  Blutzellen  durchlässiger  macht ,  und  welche 
ausserdem  ihre  Anziehungskraft  für  die  körperlichen  Elemente  des  Blutes  ändert,  beruht 
die  Cohnheim'sche  Entzündungstheorie.  Dass  die  Gefässwand  durchlässiger  ist,  poröser, 
darüber  kann  ein  Zweifel  nicht  bestehen,  dies  zeigt  die  unmittelbare  Beobachtung 
(Cohnheim)  und  das  Experiment  {Winitvarter,  vergi.  pag.  25).  Die  circulatorischen  Aende- 
rungen sind  jedoch  dem  Verständniss  durch  diese  Annahme  nicht  näher  gerückt  und  es 
bleibt  schwer  verständlich,  wie  dieselbe  Ursache  bald  den  Durchtritt  des  Blutes  durch 
die  Gefässe  erleichtern  soll,  bald  erschweren.  Dies  ist  der  wunde  Punkt  der  Cohnheim' sehen 
Entzündungstheorie. 

Ich  suche  die  Erklärung  für  die  Aenderungen  in  Blut-  und  Lymphbewegung  in 
den  von  mir  nachgewiesenen  Veränderungen  der  physikalischen  Beschaffenheit  der  Ge- 
webe und  auch  der  Gefässe.  Durch  die  Einwirkung  der  Entzündungserreger  werden 
die  Gewebe  leichter  dehnbar  und  besonders  bei  starker  Veränderung  wird  die  Elasticität 
derselben  eine  unvollkommene.  In  Folge  des  verminderten  Widerstands,  den  die  Gewebe 
ihrer  Durchströmung  entgegensetzen ,  kommt  es  zur  entzündlichen  Strombeschleunigung 
lind  Steigerung  der  Lymphbewegung.  Bei  schwerer  Störung  wird  das  Gewebe  unelastisch 
und  die  Kraft  des  strömenden  Blutes  erschöpft  sich  nutzlos  in  unelastischem  Stoss 
(Stromverlangsamung).  Ein  Analogon  der  entzündlichen  Stromverlangsamung  ist  die 
Stromverlangsamung  in  den  erweiterten  und  starren,  unelastischen,  atheromatösen  Arterien, 
speciell  der  Aorta  (vergl.  Landerer,  „Gewebsspannung".  Leipzig  1894  und  .,Zur  Lehre 
von  der  Entzündung",   Volkmann's  Kliu,  Vorträge,  1885). 

Dass  bei  der  Entzündung  neben  diesen  physikalischen  Aenderungen  der  Gewebe, 
auf  die  ich  zuerst  aufmerksam  gemacht  habe,  auch  sehr  wichtige,  bisher  nicht  genau 
studirte  chemische  Veränderungen  einhergehen ,  zeigen  verschiedene  Beobachtungen. 
Buchner  fand ,  dass  das  entzündliche  Serum  eine  sehr  viel  stärkere  bacterien vernich- 
tende Kraft  hat,  als  das  gewöhnliche  Serum.  Und  dass  die  weissen  Blutkörperchen 
durch  chemische  Einflüsse  in  die  Gewebe  herübergelockt  werden  (Chemotaxis),  ist  eben- 
falls nicht  zu  vergessen. 


Entzünduugstheorien.  —  Entzündungserreger.  37 

Die  Entzündung  —  ein  complicirter  Vorgang,  wie  schliesslich  alle  Lebensprocesse  — 
ist  nicht  von  einem  Gesichtspunkte  aus  zu  erklären  und  nicht  mit  einigen  Worten  zu 
defieiren.  Die  Entzündung  deshalb  aus  der  Reihe  der  pathologischen  Begrift'e  ganz  zu 
streiuhen ,  wie  es  Thoma  will ,  dies  verbietet  schon  die  unerlässliche  Rücksicht  auf  die 
tägliche  Praxis. 

Eine  die  heutigen  Anschauungen  über  das  AVesen  der  Entzündung  wohl  am 
besten  deckende  Definition  ist  die  von  Ziegler:  „Die  Entzündung  ist  ihrem  Wesen 
nach  eine  durch  irgend  eine  Schädlichkeit  bewirkte,  mit  pathologischen  Exsudationen 
aus  den  Blutgefässen  verbundene  örtliche  Gewebsdegeneration ,  an  welche  sich  zur  Re- 
generation oder  auch  zur  Hypertrophie  führende  Clewebswucherungen  bald  früher ,  bald 
später  auschliessen." 

So  sehr  auch  die  Meiniing'en  auf  dem  Gebiete  der  Entzündung' 
noch  auseinandergehen,  so  bildet  sich  doch  über  manche  Punkte  all- 
mählich eine  gewisse  Uebereinstimmung-  aus. 

So  ist  die  früher  viel  erörterte  Frage  der  „Entzündungsreize" 
heute  so  ziemlich  dahin  erledigt,  dass  die  erste  Ursache  der  Entzündung 
eine  durch  innere  oder  äussere  Schädlichkeit  g-esetzte  Schädigung  der  Ge- 
webe h\(  Weigert).  Der  E  n  t  z  ü  n  d  u  n  g-  s  e  r  r  e  g'  e  r  ist  entweder  eineVerletzung 
—  Trauma,  Hitze,  Kälte,  oder  ein  chemisches  Agens,  Bacterien,  diffe- 
rente  Chemikalien,  Blutmang-el  und  ähnliche  Momente.  Die  so  gesetzte 
Gewebsläsion  oder  -degeneration  veranlasst  dann  die  als  Entzündung 
bekannten  Aenderungen  in  Blutströmung" ,  Lymphbewegung,  Stoffwechsel 
und  Regeneration  des  betroffenen  Gewebes.  Ausgelöst  werden  die  Circu- 
lationsänderungen  bei  der  Entzündung  mit  physikalischer  Nothwendig- 
keit  durch  die  pag.  36  besprochenen  Aenderungen  in  den  physi- 
kalischen, besonders  den  elastischen  Eigenschaften  der  Gewebe. 

Die  Schädigung  der  Gewebe  durch  den  Entzündungserreger  lässt 
sich  oft  schon  unmittelbar  nach  der  Einwirkung  als  Nekrose  erkennen, 
in  Form  von  Gerinnung  (Coagulation)  bei  Chemikalien ,  von  völliger 
Auflösung  und  Verflüssigung  bei  thermischen  Einflüssen  (Verbrennung). 
In  anderen  Fällen  wird  die  Necrose  erst  nach  Beginn  der  Entzün- 
dungserscheinungen deutlich ;  bei  chronischen  Infectiouen  (Tuberculose, 
Syphilis  u.  s.  w.),  kommt  es  oft  erst  spät  zur  wirklichen  Nekrose  (s.z.  B. 
Tuberculose).  Dass  auch  hier  die  Schädigung  der  Entzündung  voraus- 
geht, darf  man  wohl  annehmen. 

Es  ist  auch  nicht  gleichgiltig,  darauf  zu  achten,  w'o  die  Entzündung^ erreger 
zuerst  einwirken.  In  überwiegender  Häufigkeit  ist  das  Gewebe  das  zuerst  und  haupt- 
sächlich Getroffene.  Verletzungen,  Verbrennungen  treffen  stets  zuerst  die  Gewebe,  ehe 
sie  die  Gefässe  erreiclien.  Ebenso  siedeln  s-ich  3Iikroorganisraen,  die  häufigsten  Entzün- 
dungserreger,  zuerst  im  Geweihe  an.  Nur  ein  kleiner  Theil  der  Entzündungserreger 
setzt,  auf  embolischem  Wege  lierangebracht,  zuerst  an  der  Gefässwand  an.  Das  Innere 
des  Gefässes  bietet  —  wegen  des  überaus  lebhaften  Flüssigkeitswechsels  —  sogar  keinen 
besonders  günstigen  Boden  für  die  Entwicklung  von  Entzündungen,  namentlich  bactc- 
rieller  Xatur.  Spritzt  man  Faulflüssigkeit  in  die  Gewebe,  so  bekommt  man  schon  nach 
wenigen  Stunden  lebhafte  Entzündungserscheinungen.  Bringt  man  dagegen  einen  äusserst 
infectiösen  Embolus  in  die  Ohrarterie  des  Kaninchens,  so  beobachtet  man  erst  naili 
circa  1^'.,  Tagen  die  Anfänge  von  Entzündung  (Cohnheim). 

Die  Frage,  ob  die  Entzündung  ein  „zweckmässiger"  Vorgang  oder  ob  dieselbe 
ein  schädlicher  Process  sei,  ist  damit  schon  erledigt.  Der  Entzündniig.serregei'  .setzt 
immer  eine  für  das  (fewelje  und  den  Organismus  unerwünschte  Schädigung.  Die  übrigen 
„reactiven"  I<]rsclieiiinngen  seitens  Circulation ,  Lymphl)ildung ,  Regeneration  etc.  sind 
für  den  Organismus  nützliche  Vorrichtungen.  Es  ist  kaum  zweifelliaft ,  dass  eine  so 
energische  Dnrcliströmung  eines  kranken  Theiles  mit  Blut  (das  Sechzehn-  und  Zwanzig- 
fache der  Norm)  eine  so  reichliche  Zufuhr  neuen  Materials  und  so  gründliche  Ab- 
sclnven)inung  des  A'ei-brauchtt'n,  wie  sie  die  auf's  Vielfache  in  der  Entzündung  gf!steigerte 
Lvinplibildnng  mit  sich  bringt,  für  die  geschädigten  Gewebe  die  denkbar  günstigsten 
Eriiälirungs-  und  Erholungsbedingungen  schafl't. 


^■3S^  T.  Capitel.  —  Ocrtliclie   Kreislaufs-  und  Eniährnngsstöniiif^eii. 

Die  regenerativen  und  liypcrtrophisclien  Vorg-änj,^c  lassen  (;l)enso 
kaum  eine  andere  Deutung  zu.  Die  in  Darwin'^chGm  Sinne  aufgestellte 
Behauptung,  dass  die  Entzündung  eine  im  Laufe  der  Entwicklung  er- 
worbene und  vervollkommnete  Schutzeinrichtung  des  Organismus  gegen 
auf  ihn  eindringende  Schädlichkeiten,  eine  „Waffe  im  Kampf  um's 
Dasein"  sei,  kann  daher  nicht  ohne  Weiteres  als  eine  ungereimte 
zurückgewiesen  werden.  Ich  glaube  also,  dass  wir  die  entzündlichen 
Erscheinungen  als  reparatorische  auffassen  dürlen  und  müssen,  und  die 
degenerativen  Processe,  welche  wir  finden,  lediglich  auf  Rechnung  der 
Entzündungserreger  zu  setzen  haben. 

Diese  Ansicht  bestätigen  auch  die  Ausgänge  der  Entzündung. 
—  Ein  grosser  Theil  wird  spontan  rückgängig.  Am  deutlichsten 
ist  dies  bei  den  Fällen,  wo  es  nur  zur  Hyperämie  kommt.  Unmittelbar 
an  diese  schliesst  sich  die  —  oft  vollständige  —  Rückkehr  zur  Norm, 
Restitutio  ad  integrum  an.  Durch  die  günstigen  Ernährungs- 
bedingungen sind  die  Schäden  reparirt,  die  Entzündungserreger  vernichtet 
oder  fortgespült.  Die  Exsudate  werden  durch  den  Lymphstrom  fort- 
gespült, nekrotische  Theile  und  körperliche  Exsudate  werden  resorbirt 
oder  substituirt  (vergl.  pag.  15).  Das  wieder  normal  gewordene  Gewebe 
setzt  dem  Blutstrom  den  alten  gewohnten  Widerstand  entgegen  und 
dämmt  die  Circulation  in  ihre  alten  Grenzen  ein. 

Makroskopisch  erkennt  man  das  Rück  gängig  werden  der  Ent- 
zündung an  dem  Nachlassen  der  Röthung;  häufig  mischt  sich  jetzt 
dem  Roth  ein  bräunlicher  oder  gelber  Farbenton  bei.  Die  Schwellung 
nimmt  ab,  die  Oberhaut  runzelt  sich.  Das  Oedem  bleibt  gewöhnlich 
noch  am  längsten  stehen.  Die  Schmerzen  verschwinden.  Mit  einer 
reichlicheren  Abstossung  der  Oberhaut  in  Schuppen  oder  gar  in  grösseren 
Fetzen  gewinnt  die  Haut  ihr  normales  Ansehen  wieder,  häufig  bleibt 
sie  noch  einige  Zeit  zarter  und  etwas  pigmentirt  oder  anders  gefärbt. 
Auch  das  Infiltrat  zwischen  den  Weichtheilen  wird  aufgesaugt. 

Die  entzündliche  Regeneration  besteht  in  einer  Neubildung 
der  verlorenen  Gewebe  seitens  der  noch  erhalten  gebliebenen.  Alle  neueren 
Untersuchungen  stimmen  darin  überein,  dass  die  Regeneration  der 
Muskeln  ausgeht  von  den  erhaltenen  Muskeln,  der  Nerven  von  den 
Nerven  u.  s.  w.  Es  sind  Fortsatzbildungen ,  Theilungen  der  Kerne 
und  der  protoplasmatischen  Theile  (vergl.  Wundheilung).  Wucherungs- 
vorgänge kann  man  bei  gewissen  Formen  der  Entzündung  schon  früh 
beobachten.  An  den  Bindegewebszellen,  Lymph-  und  Blutgefässendo- 
thelien  lassen  sich  schon  nach  8  Stunden  die  ersten  Kerntheilungs- 
figuren  erkennen.  Die  weissen  Blutzellen,  welche  ja  an  solchen  ent- 
zündeten Stellen  stets  überreichlich  sich  finden ,  spielen  bei  der 
Regeneration  keine  Rolle ,  höchstens  insoferne  sie  den  fixen  Gewebs- 
bestandtheilen  vielleicht  als  Bildungsmaterial  dienen  (vergl.  pag.  26, 
Phagocytose). 

In  manchen  Fällen  können  auch,  die  Regenerationsvorgänge  über  das  Mass  des 
Normalen  hinausgehen,  es  kann  zu  .,Luxusproductionen",  zu  entzündlicher  Hypertrophie 
kommen  (Samuel). 

In  einer  Reihe  von  Fällen  kommt  der  entzündliche  Process  gar 
nicht  zu  einem  richtigen  Abschluss,  weder  zu  völliger  Restitution,  noch 
zum  örtlichen  Tode ;  es  entwickelt  sich  allmählich  eine  Art  von  bleibendem 
stationärem  Zustand,  die  Entzündung  wird  chronisch.    Die  Ursache 


Ausgänge  der  Entzündung.  —  Chronische  Entzündung.  39 

hievon  ist  entweder  ungenügende  Ernährung  der  betreffenden  Theile  und 
damit  ungenügender  Ersatz  oder  fortdauernde  Einwirkung  entzündungs- 
erregeuder  Momente. 

Bei  venöser  Stauung  ist  die  Zufuhr  von  Ernährungsmaterial  eine  so  geringe, 
dass  die  neugebildeten  Gewebe  sofort  wieder  zerfallen.  Aufhebung  des  Nervenein- 
Üusses ,  Nervendurchschneidungen ,  Rückenniarksatfectionen  setzen  die  Lebensfähigkeit 
der  Gewebe  gleichfalls  so  erheblich  herab ,  dass  die  kleinste  Störung ,  eine  leichte  Ver- 
letzung ,  die  sonst  in  zwei  Tagen  heilt ,  zu  Monate  bis  Jahre  dauernden ,  selbst  iinheil- 
baren  Störungen,  namentlich  Geschwürsbildungen  führt.  Aehnlich  ist  es  bei  Leuten, 
welche  allgemein  geschwächt  sind ,  Lungen-,  Herzkranken ,  Greisen.  Oft  sind  es  fort- 
gesetzte lind  wiederholte  Verletzungen ,  welche  immer  und  immer  wieder  beschädigend 
und  zerstörend  einwirken  und  der  Heilung  Einhalt  thun. 

Dann  ist  es  in  der  Natur  mancher  Entzündungserreger  begründet ,  dass  die  von 
ihnen  hervorgerufenen  Processe  von  Anfang  an  langsam  und  schleppend  verlaufen,  so 
bei  Sj'philis ,  Tuberculose ,  Lepra  und  anderen  ., chronischen"  Lifectionskrankheiten. 
Gewöhnlich  entwickeln  sich  die  Veränderungen,  welche  sie  an  den  GcAveben  hervorrufen, 
nur  langsam  und  allmählich ,  die  Hyperäniie  fehlt  oft  gänzlich.  Zur  Eiterung  führen 
sie  spät  oder  gar  nicht. 

Die  mikroskopischen  Bilder ,  welche  chronische  Entzündungen  liefern  ,  sind  oft 
schwer  zu  deuten  wegen  des  In-  i;nd  Durcheinandergreifens  von  degenerativen  Vor- 
gängen ,  welche  auf  die  Einwirkung  des  Entzündungserregers  zurückzuführen ,  und 
progressiven  reparatori sehen  Bildungen,  welche  den  Heilungsvorgängen  zuzuzählen 
sind.  Chronisch  entzündete  Theile  zeigen  häutig  Verfärbungen ,  namentlich  bräunliche 
Pigmentirungen ,  entstanden  durch  frühere  entzündliche  Blutaustritte.  Ebenso  fühlen 
sie  sich  meist  anders  an,  bald  verdünnt,  häufiger  verdickt  (intiltrirt)  und  verhärtet 
(induiirt).  Mikroskopisch  findet  sich  meist  reichliches  Bindegewebe,  so  derb  und  zellenarm, 
wie  es  sonst  nur  Narben  zeigen :  daneben  hat  man  alle  möglichen  Zeichen  der  Zer- 
störung —  Verlust  der  Kerne,  unregelmässige  Zellformeu,  Quellungen,  Trübungen  des 
Protoplasmas ,  dazwischen  weisse  Blutzellen  in  geringer  Anzahl ,  ferner  Spindelzellen, 
epithelioide  und  Riesenzellen  (Tuberculose),  Verdickung  der  Gefässwände  u.  dergl.  m. 
Doch  fehlen  auch  productive  Vorgänge ,  Kerntheilungsfiguren  nicht.  Es  spielen  so  Ent- 
artung und  Regeneration ,  Schwund  und  Anbildnng  in  so  merkwürdigen  Combinationen 
in  einander,  dass  der  betroffene  Theil  oft  in  seiner  Form  und  Gestalt  ein  total  anderer 
wird  und  man  von  „deformirenden"'  Entzündungen  sprechen  kann. 

Wenn  man  —  trotz  vieler  gegentheiligen  Auffassungen  —  die 
Entzündung  als  einen  zweckmässigen,  zur  Beseitigung  und  Ausgleichung 
von  Störungen  dienenden  Vorgang  ansieht,  so  ist  damit  das  thera- 
peutische Verhalten  zur  Entzündung  von  selbst  gegeben.  „Anti- 
phlogose"  als  solche  treibt  heute  Niemand  mehr. 

Methodus  antiphlogistica  war  überaus  entwickelt  und  in  kunstvolle  Systeme 
gebracht.  Manche  hiehergehörigen  Massregeln  haben  auch  heute  noch  ihren  Werth, 
andere  nicht.  Eine  Bekämpfung  der  entzündlichen  Hyperämie ,  als  eines  in  hohem 
<irade  nützlichen  Vorganges,  erscheint  zwecklos.  Die  Beseitigung  der  entzünd- 
lichen Stase  ist  möglich  durch  Erhöhung  des  Blutdruckes  oder  Verminderung 
der  Widerstände.  Das  erstere  ist  kaum  durchzuführen ,  höchstens  bei  chronischen  Ent- 
zündungen .  wo  durch  gute  Ernährung  mit  dem  Steigen  des  Blutdruckes  etc.  auch  die 
Entzündung  zum  Ablauf  kommen  kann.  —  Hier  wäre  ein  Versuch  von  CohnJieim  zu 
nennen.  Spritzt  man  einem  Frosche,  in  dessen  freigelegtem  Mesenterium  es  zur  ent- 
zündlichen Sta.se  gekommen,  1  Ccm.  O'ß"/,.  Kochsalzlösung  in  eine  Vene,  so  steigt  der 
l'.lntdiuck ,  die  Stase  löst  sich  —  wenigstens  für  einige  Zeit.  Jedenfalls  i.st  Alles  zu 
vermeiden,  was  den  Blutdruck  zum  Sinken  bringt,  besonders' Aderläs.se.  Erzeugt 
man  bei  einem  Frosche ,  in  dessen  entzündetem  Mesenterium  der  entzündliche  Strom 
anfängt  sich  zu  verlangsamen  und  eben  Randstellung  <ler  weissen  Blutzellen  sich  aus- 
iiildet,  durch  Abschneiden  eines  Beines  hochgradige  Anämie,  so  sieht  man  die  Strom- 
verlangsamung  sofort  in  völlige  Stase  übergehen. 

Die  Verminderung  des  AVider  sta  n  des  lässt  sich  erzielen  durch  ört- 
liche Blut  e  n  tz  ieh  ungen,  mit  Blutegeln,  Schröpfköpfen  oder  zahlreiehen  kleinen 
Incisionen  (Debridement).  Auch  hier  kann  man  an  der  entzündeten  Schwimmhaut  des 
Frosches  (^GcnzmerJ  die  Stase  direct  sich  lösen  sehen.  Energi.scher  und  ohne  die 
scliädlirhe  Nebenwirkung,  welche  jede  Blutentziehnng  hat,  ist  die  hohe  Lage,  die 
Elevation  ,    welche   ich    für  Entzündungen    an  den  Extremitäten  nicht  genug  empfehlen 


40  '•  Capitel.  —  Oertliche  Kreislaufs-  unil   Ernähi'ung.sstörungiin. 

kann.  Diircli  sie  wird  die  Entleerung  der  Venon  enerjiiscji  untersUJlzt  und  damit  aucli 
die  Entleeiung  der  ('ai)illaren  bewirkt.  iJie  liolie  .Spannung-,  die  auf  die  Gewebe  und 
die  Cireulation  äusserst  ungünstig  einwirkt,  wird  dadurch  sclinell  vermindert.  —  Ent- 
spannende Einschnitte  können  oft  die  Cireulation  wieder  in  Gang  hiingen  und  dem 
Brande  vorbeugen. 

Auf  alle  Fälle  bedürfen  alle  acuten,  infectiösen  Entzündungen 
absoluter  Ruhe,  im  Bette,  auf  Schienen,  in  Kapsel  verbänden  u.  dergl., 
um  eine  Weiterverbreitung-  der  Entzündung  zu  verhindern. 

Ob  entzündete  Tlieile  warm  oder  kalt  zu  halten  sind,  ob  Eisbla.se,  kalter 
Umschlag  oder  Priessnitz'scheT  Umschlag  (Sfach  Mull,  in  Wasser  ausgeningen,  darüljer 
Guttaperchapapier,  das  Ganze  reichlich  mit  Watte  oder  Wolle  gedeckt)  oder  auch  warme 
Bähungen  anzuwenden  sind,  darüber  sind  die  Acten  noch  keineswegs  geschlosseii.  Wanne  er- 
weitert die  Gefässe  und  macht  die  Gewebe  leichter  dehnbar.  Man  kann  also  durch  feuchtwarme 
Umschläge  oder  warme  Bähungen  Begünstigung  der  Hyperämie  und  rascheren  Ablauf 
der  Entzündiing  erreichen.  Kälte,  am  besten  in  Gestalt  der  Eisblase,  erzeugt  Contrac- 
tion  der  Gefässe,  vermindert  den  Blutzufluss  und  setzt  namentlich  die  Erregbarkeit  der 
Nerven  herab.  Während  die  anästhesirende  Wirkung  der  Kälte  wohl  nie  im  Stiche 
lässt,  habe  ich  sonst  meist  nur  eine  —  selten  wünschenswerthe  —  Verschleppung  und 
Verzögerung  des  Vorganges  gesehen.  Bei  manchen  Organen  (Gehirn,  Herz)  ist  die 
beruhigende  Wirkung  auf  Sensorium  und  Cireulation  allerdings  sehr  erwünscht. 
Bei  Verletzungen ,  Verstauchungen ,  Knochenbrüchen  dient  Eis  lediglich  als  Anodynum. 
Eine  Eisblase  vermag  nach  mehr.stündiger  Einwirkung  die  Hauttemperatur  um  15 — 20" 
zu  erniedrigen.  Ebenso  kann  sie  nach  längerem  Liegen  selbst  durch  dicke  Muskel- 
schichten bis  auf  den  Knochen ,  durch  die  Bauchwand  auf  die  Därme  wirken  und  die 
Temperatur  daselbst  um  mehrere  Grade  heruntersetzen.  Bei  tage-  und  wochenlangem 
Liegen  habe  ich  gelegentlich  Erfrierungen  der  Haut  gesehen. 

Selbstverständlich  ist  in  dem  Bisherigen  nur  eine  symptomatische 
Behandlung  skizzirt ,  wie  man  die  ungünstigen  Erscheinungen  zu  ver- 
hindern oder  zu  beseitigen  sucht.  Die  allein  zielgerechte  Behandlung, 
der  Indicatio  causalis  entsprechend,  verlangt  dem  Entzündungserreger 
selbst  direct  zu  Leibe  zu  gehen.  Dies  ist  nun  leichter  gesagt,  als  gethan. 
Den  meisten  Entzündungserregern  —  Bacterien  —  können  wir  zur  Zeit 
nur  unmittelbar  entgegenwirken ,  indem  wir  die  natürlichen  Schutz- 
vorrichtungen des  Körpers  unterstützen.  Einen  Theil  derselben  —  die 
Eitererreger  —  können  wir  durch  Einschnitte  nach  aussen  entleeren. 
(Siehe  Behandlung  der  einzelnen  Krankheiten.) 

'  Für  chronische  Entzündungen  ist  oft  ein  wichtiges  Mittel  zu 

ihrer  Beseitigung  eine  künstlich  erzeugte  acute  Entzündung.  Gewisse 
chronische  Entzündungsformen  heilen  ab,  wenn  über  den  betreifendeu 
Theil  eine  acute  Entzündung  hingeht ,  namentlich  werden  chronische 
seröse  Ergüsse  oder  alte  Infiltrate  in  dieser  Weise  oft  resorbirt.  So 
heilt  eine  Hydrocele,  ein  Hygrom,  ein  chronischer  Glelenkerguss  oft 
durch  Einspritzung  von  einigen  Gramm  Jodtinetur  in  die  Höhle.  Oder 
wir  streichen  bei  chronischen  Entzündungen  Jodtinetur  auf  die  Haut, 
reiben  eine  Jod-,  Quecksilber-  oder  Ichthyolsalbe  auf  die  Haut,  um 
die  Resorption  zu  fördern  (?).  Seltener  und  nur  auf  der  Haut  verwenden 
wir  andere  stark  entzündungserregende  Substanzen  (Canthariden- 
präparate,  Tart.  stibiatussalbe,  verdünntes  Crotonöl,  Schmierseife  u.  s.  f.). 
Diese  Behandlungsweise  der  Entzündung ,  welche  früher  allgemein  mit 
Eifer  geübt  wurde,  ist  heutzutage  fast  ganz  in  Misscredit  gekommen. 
So  oft  man  diese  „ableitende",  „derivatorische"  Behandlung  aber 
begraben  hat,  erscheint  sie  doch  immer  wieder  und  spukt  weiter,  wenn 
nicht  in  den  Köpfen  der  Aerzte,  so  doch  der  Laien  —  vielleicht  weil 
die  Erfahrung  der  Praxis  doch  hin  und  wieder  für  sie  spricht. 


Feuchter  und  trockener  Brand.  41 

Die  schädlichen  Stoffe,  die  „Noxen",  sollten  abgeleitet  werden  nach  der  Haut, 
dem  Darm  oder  den  Nieren.  Nun  werden  nicht  blos  chemische  Gifte ,  sondern  auch 
Mikroorganismen  auf  diesem  Wege  ausgeschieden  und  es  ist  theoretisch  und  praktisch 
gleich  erprobt,  manche  Krankheiten,  Syphilis  u.  dergl.,  mit  Abführcuren  oder  mit  einer 
Steigerung  der  Harnentleerung  (Diurese)  und  Schwitzcuren  zu  behandeln.  Auch  durch 
die  Haut  und  den  Schweiss  werden  Mikroorganismen  ausgeschieden.  Weniger  zweck- 
mässig will  es  erscheinen ,  innere  Entzündungen  durch  Erzeugung  eines  Entzüiidungs- 
herdes  auf  der  Haut  zu  bekämpfen  ,  so  z.  B.  Fontanellen  (ein  ausgeschnittenes  oder 
ausgebranntes  Loch  in  der  Haiit  wird  durch  eine  eingelegte  Erbse  am  Heilen  gehindert), 
Moxen  (kleine  Brandwunden ,  mit  Grlüheisen ,  Räucherkerzen ,  Cigarren  erzeugt  und  in 
Eitening  ei'halten),  Haarseile  zu  setzen  (ein  Stück  Lampendocht  oder  dergl.  wird  durch 
eine  Hautfalte  gezogen  und  so  Eiterung  unterhalten).  Wenn  die  Entfernung  zwischen 
dem  kranken  Theile  und  der  Haut  nicht  zu  gross  ist,  pflegen  gewisse  Wirkungen  nicht 
auszubleiben,  z.  B.  ein  Senfteig  (Senfmehl  mit  etwas  Wasser  zu  einem  Brei  gerührt, 
in  Leinen  geschlagen  und  5 — 15  Minuten  liegen  gelassen)  mildert  die  Schmerzen  bei 
leichten  Entzündungen  der  Pleura ,  der  Muskeln.  Aehnlich  können  Blasenpflaster  (aus 
Canthariden ,  si^anischen  Fliegen  bereitet)  wirken.  Ob  es  sich  hier  um  Reflexe  seitens 
des  Gefässapparates  handelt ,  wie  eine  Reihe  sorgfältiger  Experimente  wahrscheinlich 
machen ,  lassen  wir  dahin  gestellt.  Für  uns  Chirurgen  stellt  sich  doch  von  Zeit  zu 
Zeit  der  Anlass  zu  einer  solchen  Behandlung  ein  und  es  lässt  sich  nicht  leugnen, 
dass  ein  energischer  Anstrich  mit  Jodtinctur  oder  Jodjodkaliumglycerin  mitunter  bei 
Gelenkaffectionen,  einer  Epididymitis,  einer  Drüsenschwellung  gute  Dienste  thut.  Ebenso 
lassen  manche  Aerzte  sich  Erfolge  bei  Anwendung  des  Glüheisens  (Cauterium  actuale) 
am  Rücken  auf  Rückenmarksleiden  nicht  abstreiten.  Die  Ignipunctur  (mit  einer 
glühenden  Platinnadel ,  Paquelin ,  werden  kleine  Brandwunden  in  Haut  und  ünterhaut- 
zellgewebe  erzeugt)  bei  manchen  Knochen-  und  Gelenkentzündungen  ist  von  Kocher 
empfohlen. 

Die  in  chronisch  entzündeten  Theilen  stagnirende  Lymphe  zu 
entfernen,  den  Bhitstrom  zn  beschleunigen,  eignet  sich  auch  vorzüglich 
die  Massage,  verbunden  mit  zweckmässigen  activen  und  passiven 
Bewegungen. 

Trotzdem  Kappeier  experimentell  nachgewiesen ,  dass  Staphylokokken  aus  ent- 
zündlichen Herden  durch  Massage  nicht  verschleppt  werden ,  spricht  die  praktische 
Erfahrung  gegen  die  Massage  bei  frischen,  infectiösen  Entzündungen. 


Brand.  Regressive  und  progressive  IVIetamorphosen. 

Feuchter  und  trockener  Brand.  —  Die  verschiedenen  Arten  des  Brandes.  — 
Ursachen  des  Brandes.  —  Behandlung.  —  Nekrobiose.  —  Coagulationsnekrose. 
— -Atrophien.  —  Pseudohypertrophie.  —  Die  Degenerationen. —  Parenchy- 
matöse Degeneration.  —  Fettentartung.  —  Amyloid-  —  Schleimige  - —  Colloid- 
Entartung.  —  Verkalkung.  —   Metaplasie.   —  Hypertrophie. 

Zwischen  Leben  und  Sterben,  auf  dem  Wege  von  voller  Ge- 
sundheit zu  Tod  und  Vernichtung  gibt  es  eine  grosse  Anzahl  von 
Etappen  und  Zwischenstufen. 

Den  völligen  örtlichen  Tod  eines  Theiles,  Brand,  Gangrän, 
Nekrose.  Sphacelus,  zn  erkennen,  ist  nicht  immer  leicht,  namentlich 
wenn  der  Zustand  erst  in  Entwicklung  ist.  Die  Blässe,  Kälte,  Welkheit 
und  Functionsnnfähigkeit  thcilt  die  Gangrän  mit  der  Anämie;  dieselben 
Sym])t()nie  l)ei  dunkler,  blauer  Verfärbung  und  Schwellung  mit  der 
venösen  Stauung  ( vergl.  ])ag.  5  und  8).  Die  Prüfung ,  ob  der  Finger- 
druck ein  Konnnen  und  Gehen  des  Blutes  erkennen  lässt,  führt 
nicht  innner  zu  einem  zweifellosen  Ergebniss.  Ist  wirkliche  Gangrän 
vorhanden,  so  konnnt  es  bei  tiefen  Stichen  oder  Schnitten  in  die  Haut 
nicht  mehr  zu  wirklichem  fortdauerndem  Bluten,  höchstens  sickert 
etwas  blutige,  später  bräunliche  Flüssigkeit  her\(n-. 


42  I-  Capitel.  —  Oertliche   Kj'i'-islaufK-  iiml  ?]i'i)ähjiiiigs.st<)ruiifreri. 

Die  Gang-rän  tritt  in  zwei  klinisch  mit  Recht  unterschiedenen 
Hauptformen  auf,  dem  trockenen  Brand  (Mumificationj  und  dem 
feuchten  Brand  (Sphacelus). 

Beim  trockenen  Brande  ist  die  wichtigste  Veränderung  der 
todten  Gewebe  der  Wasserverlust.  Die  Gewebe  schrumpfen ,  trüben 
sich  körnig.  Die  Haut  wird  schwarz,  lederartig  hart,  faltet  und  runzelt 
sich;  das  Ganze  kann  so  trocken  und  fest  werden,  wie  altes  Holz, 
dass  es  beim  Daraufklopfen  förmlich  klingt.  Der  trockene  Brand  lässt 
—  mangels  der  nöthigen  Flüssigkeit  —  Fäulnissprocesse  nicht  zu. 
Deshalb  ist  der  trockene  Brand  die  günstigere  Form.  Zersetzungs- 
producte,  welche  in  die  Circulation  übertreten  könnten  und  dort  Schaden 
anrichten,  werden  nicht  gebildet  und  der  mumificirte  Theil  bleibt,  bis 
er  abgestossen  wird,  ein  unschädliches  Anhängsel  des  Körpers. 

Anders  beim  feuchten  Brand.  Nur  in  innern ,  tiefliegenden, 
vor  dem  Eindringen  von  Fäulnisskeimen  geschützten  Theilen  (Gehirn, 
abgebundenen  Stücken  von  Geschwülsten  in  der  Bauchhöhle  u.  s.  w.) 
bleibt  die  Fäulniss  aus.  Bleibt  Infectiou  aus,  so  werden  die  gangränösen 
Gewebe  theils  resorbirt  und  durch  einwachsendes  Bindegewebe  ersetzt; 
oder  sie  zerfallen  allmählich  zu  breiartigem  Detritus,  der  je  nach  dem 
Gehalt  an  Blutfarbstoff  rothe  oder  gelbe  Erweichung  genannt  wird. 
Mikroskopisch  findet  man  in  Plasma  suspendirte  Körnchenkugeln, 
feinste  Körnchen,  Fett-  und  Häminkrystalle  u.  derg:l. 

Der  faulige.  Zerfall  gangränöser  T heile  erfolgt  in  derselben  Weise  wie 
aticla  sonst  Eiweissköi-per  faulen.  Zunächst  sickert  z.  B.  bei  einem  brandigen  Fusse 
dünne ,  bräunliche  Flüssigkeit  durch  das  Corium  durch ,  hebt  die  Hornschicht  in  rasch 
platzenden  Blasen  ab;  die  frei  werdende  Lederhaut  nimmt  eine  grünliche  Farbe  an, 
wird  matsch  und  schmierig,  und  bald  bricht  durch  die  Haut  faulige,  stinkende,  braun- 
rothe  Jauche  hervor ,  gemischt  mit  Tropfen  ranzigen  Fettes ,  Muskelfetzen  u.  dergl. 
Unzählige  Mikroorganismen  verschiedenster  Art  tummeln  sich  in  der  Brandjauche;  die 
Bacillen  der  Eiweissfäulniss,  Stäbchen,  häufig  mit  endständigeu  kolbigen  Verdickungen 
{Sporenbildung),  von  Trommelschlägelform.  Wenn  die  Sporenbildung  mehr  in  der  Mitte 
des  Bacillus  erfolgt  und  hier  eine  Auftreibung  erfolgt ,  sehen  sie  wetzsteinförmig  aus. 
Dann  finden  sich  alle  möglichen  Formen  von  zum  Theile  in  lebhafter  Bewegung  be- 
findlichen schraubenförmigen  Vibrionen,  Mikrokokken  u.  A.  m.  Kurz,  das  Bild  gewöhn- 
licher Fäulniss. 

Der  feuchte  Brand  zieht,  wenn  an  der  Grenze  des  Lebenden 
Fäulnissproducte  (vergl.  Bacterien)  aufgesaugt  werden ,  den  Körper  in 
schwere  Mitleidenschaft,  namentlich  in  den  ersten  Tagen.  Es  entsteht 
eine  gefährliche  Erkrankung  des  Gesammtorganismus  („septisches 
Resorptionsfieber",  Faulfieber)  (s.  Septicämie),  dabei  können  sich  die 
Fäulniss-  und  Eiterungsprocesse  in  Lymphspalten ,  Sehnenscheiden 
u.  s.  f.  centralwärts  fortsetzen  und  zu  umfangreichen  Zerstörungen, 
Jauchungen  und  Eiterungen  führen.  Geht  der  Kranke  nicht  mittler- 
^weile  zu  Grunde,  so  schliessen  sich  die  Gewebsspalten  durch  adhäsive 
Entzündung  ab  und  es  bildet  sich  an  der  Grenze  des  Lebenden  und 
?odten  die  demarkirende  Granulation  (s.  Wundheilung).  Die 
Stelle  der  Trennung  heisst  Demarcationslinie  oder  -Rinne. 

Die  Ursachen  des  Brandes  sind  schwere  äussere  Einwirkungen, 
Verletzungen,  namentlich  Zertrümmerungen,  Zerquetschungen  u.  dergl. 
(traumatische  Gangrän).  Auch  leichter  Druck  genügt,  wenn  er  an- 
haltend wirkt;  so  machen  vorspringende  Kanten  von  Verbänden, 
Schienen  leider  häufig  örtliche  Brandstellen  (an  der  Hacke,  Condylus 
internus  humeri)  —  Druckgangrän,  Decubitus.  Auch  ein  schlechtes 


Verschiedene  Formen  des  Brandes.  •  43 

Lager  kann  an  den  gedrückten  Stellen,  besonders  am  Kreuzbein,  Decu- 
bitus hervorrufen.  Dann  sind  Verbrennungen  und  besonders  Erfrierungen 
zu  nennen  (Frostgangrän);  seltener  sind  es  chemische  Einwirkungen, 
Verätzungen  u.  dergl.  Gewisse  Mikroorganismen  (Gangrene  foudro- 
yante,  progressive  Gangrän,  Hospitalbrand)  wirken  ebenfalls  direct  er- 
tödtend  auf  Gewebe. 

Eine  häufige  Ursache  zum  Brand  sind  Behinderungen  in  der 
Blut  zufuhr,  wie  sie  bei  Anämie  und  venöser  Stauung,  bei  Thrombose 
und  Embolie ,  dann  auch  bei  den  schweren ,  mit  Blutstockung  ver- 
knüpften Entzündungen  erwähnt  sind.  Gefässerkrankungen,  welche  mit 
Verdickung  der  Gefässwand  und  in  Folge  davon  mit  Verengerung, 
selbst  Verlegung  der  Gefässlichtung  einhergehen  (Arteriitis  obliterans) 
führen  schliesslich  zur  Gangrän.  Diese  Gefässveränderungen  sind  häutig 
im  hohen  Alter  (Gangraena  senilis),  dann  auch  bei  anderen 
Schwächezuständen,  vorgeschrittener  Syphilis  u.  dergl. 

Beim  Altersbrand  beginnen  unter  heftigen  Schmerzen  die  Zehen  sich  blauroth 
zu  verfärben ,  bald  wird  die  Haut  schwärzlich  und  damit  ist  dann  die  Diagnose  ge- 
sichert (z.  B.  gegenüber  der  Gicht).  Das  hohe  Alter  und  die  deutlich  zu  fühlende 
Arterienveränderung  lassen  keinen  Zweifel  übrig.  Die  Radialis  fühlt  sich  wie  ein  harter, 
mit  Kalkplatten  durchsetzter  Strang  an. 

Wir  kommen  auf  diese  Fälle  von  „angiosklerotischer  Gangrän" 
nochmals  bei  den  Erkrankungen  der  Gefässe  zurück.  Auch  das 
Arterienatherom  führt  gelegentlich  zu  Gangrän.  Verletzungen  der  Haupt- 
arterien eines  Theils  führen  gleichfalls  zur  Gangrän  durch  Anämie. 

Bei  Streckung  im  Winkel  steif  gewordener  Glieder  im  Knie,  bei  der  Einrichtung 
veralteter  Verrenkungen,  avo  die  Gefässe  oft  mit  den  Knochen  verwachsen  sind,  wird 
leider  dann  und  wann  einmal  die  Arterie  (A.  poplitea,  brachialis)  zerrissen.  Sonst  sind 
es  üeberfahrungen,  Schüsse  und  ähnliche  Verletzungen. 

In  vielen  Fällen  ist  es  ein  hoher  Grad  von  Schwäche  der  Gewebe 
selbst,  namentlich  bei  schwerer  allgemeiner  Erschöpfung,  welcher  diese 
leichten,  von  gesunden  Theilen  kaum  empfundenen  Schädlichkeiten 
sofort  zum  Opfer  fallen  lässt. 

Wo  die  Zeichen  des  Brandes  ohne  nachweisbare  Ursache  oder 
auf  unbedeutende  Einwirkungen  hin  eintreten,  „Spontangangrän", 
muss  man  an  das  Vorhandensein  gewisser,  die  Widerstandsfähigkeit 
der  Gewebe  herabsetzender  Krankheiten  denken.  — 

Bei  heruntergekommenen,  durch  andere  Krankheiten,  Scharlach,  Masern  u.  dergl. 
geschwä(;hten  Kindern  fallen  oft  zunächst  die  Weichtheile  des  Mundes ,  die  Wangen- 
schleimhaut, dann  aber  auch  die  übrigen  Weichtheile  der  Lippen,  des  Gesichtes  einem 
brandigen  Zerfall  anheim.  In  wenigen  Tagen  wandeln  sich  dieselben  in  schwärzlich 
grünliche,  schmierige  Massen  um ,  welche  schichtweise  abzulösen  sind.  Auch  hii-r  sind 
Mikror)rganismen  mit  im  Spiel,  welchen  die  schlechtgenährten  Gewebe  nur  wenig  Wider- 
stand entgegensetzen.     ]\Ian  hat  den  Vorgang  Noma,  Wasserki'ebs,  genannt. 

Die  diabetische  Gangrän  befällt  meist  grössere  oder  kleinere 
Bezirke  von  Haut  und  Unterhautzellgewebe.  Nach  äusserst  langsamer 
Abstossung  des  Todten  bleiben  hartnäckige,  schmierige  Geschwüre. 
Das  allgemeine  Siechthum,  der  Nachweis  von  Zucker  im  Harn  führen 
zur  Diagnose.  Analog  sind  die  Fälle  von  kachek  tisch  er  Gangrän 
(Kachexie  =  Siechthum),  die  l)ei  allerlei  schweren  Allgemeinerkran- 
kungen eintreten  können  und  oft  als  „multiple  kachektische  Hautgangrän" 
auftreten,  wo  zahlreiche  Hautstellen  dem   Brande  verfallen. 

Durch  Aufhebung  der  Verbindung  mit  den  zugehörigen  nervösen 
Ccntren    kommt    es     zur    neurotischen    Gangrän    (vergl.    pag.  ?>b}. 


44  !•  Capitel.  —  Oertliche  Kreislaufs-  und  Eriiälirunj^sstörurif^en. 

Diese  Art  von  Gangrän  tritt  uns  in  der  Praxis ,  namentlich  bei  Er- 
krankungen des  Rückenmarkes,  bei  Wirbelbriichen  und  (seltener) 
bei  Wirbelverrenkungen  entgegen.  Ganz  plötzlich  verfärbt  sich  die 
Haut  an  allen  Stellen,  wo  Druck  ist  (an  Kreuzbein,  Schulter- 
blättern, Waden,  Haken),  blau  und  fast  von  Stunde  zu  Stunde  sieht 
man  die  Gewebe  dem  Brande  verfallen.  In  wenig  Tagen  lösen  sich 
alle  Weichtheile  ab,  ausgedehnte  Knochenentblössnngen,  Jauchungen 
u.  s.  f.  treten  ein.  Dieser  acute  Decubitus  ist  eine  äusserst  unan- 
genehme Complication  der  betreffenden  Leiden. 

Durch  Krampf  der  Arterienmusculatur  soll  die  symmetrische  Gangrän  zu 
Stande  kommen ,  wo  hei  schlecht  genährten ,  nervösen  Personen  die  Fingerspitzen  der 
Reihe  nach  allmählich  absterben  und  abgestossen  werden.  Durch  Arterienkrampf  ent- 
steht auch  die  Gangrän  bei  Vergiftungen,  z.B.  mit  Mutterkorn,  Seeale  cornutum 
(Kriebelkrankheit).  Die  durch  Mikroorganismen  bedingten  Gangränformen  —  Ganga-ene 
foudroj^ante,  Milzbrand,  Hospitalbrand  u.  dergl.  —  besprechen  wir  bei  den  accidentellen 
Wundkrankheiten . 

Die  Behandlung  des  Brandes  ist  zunächst  eine  vorbeugende. 
Bei  den  durch  Circulationsstörungen  und  Gewebsschwäche  bedingten 
Fällen  sind  alle  Momente,  welche  die  Blutbewegung  fördern,  zu  berück- 
sichtigen. Massige  Elevatiou,  feuchtwarme,  antiseptische  Umschläge, 
vorsichtiges  centripetales  Massiren  u.  dergl.  neben  kräftiger  Ernährung 
sind  nützlich.  Ist  das  wirkliche  Absterben  nicht  mehr  zu  vermeiden, 
so  ist  die  Fäulniss  auszuschliessen  und  möglichst  der  trockene  Brand 
anzustreben ,  am  besten  durch  energisch  austrocknende ,  antiseptische 
Verbände  (Holzstoff,  Torf,  Kohlenpulver).  Die  brandigen  Theile  müssen 
trocken  und  geruchlos  sein. 

So  lange  erhöhte  Temperatur  besteht,  ist  auch  irgendwo  noch  ein  fauliger  Herd 
mit  ungenügender  Entleerung  der  Faulflüssigkeiten  anzunehmen  und  man  muss  durch 
Einschnitte  in  den  bereits  abgestorbenen  Theilen  die  Austrocknung  begünstigen  und 
etwaige  Eiter-  und  Jaucheverhaltungen  im  noch  lebenden  Gewebe  durch  dreiste  In- 
cisionen  eröffnen. 

Das  Todte  ist  zu  entfernen,  am  besten  durch  Auslösung  in  einem 
Gelenke,  und  damit  die  Quelle  der  Fäulniss  auszuschalten.  Zugleich 
sucht  man  durch  starke  ,  fäulniss  widrige  Stoffe  die  Zersetzung  einzu- 
schränken durch  Bepuderung  mit  Jodoform  oder  Wattebäusche  in 
starker  Chlorzinklösung  (1 : 8)  getränkt  (bei  Noma).  Oft  wird  man 
in  die  Lage  kommen,  durch  eine  Operation  (Amputation  oder  Exarti- 
culation)  das  Todte  und  Kranke  zu  entfernen.  Die  Frage,  wann  und 
wo  zu  operiren  ist,  ist  oft  schwer  zu  entscheiden.  Operirt  man  weit 
central wärts,  z.  B.  bei  Brand  des  Unterschenkels  oben  im  Oberschenkel, 
so  operirt  man  wohl  meist  im  Gesunden  und  wird  gute  Wundverhält- 
nisse haben,  aber  man  opfert  Theile,  die  vielleicht  noch  zu  erhalten 
waren.  Operirt  man  dem  Brandherd  nahe,  so  operirt  man  in  inticirten 
Theilen  und  bekommt  meist  schlechte  Wundheiluiig,  vielleicht  auch 
tödtliches  Resorptionsfieber. 

Wenn  die  Kräfte  des  Kranken  ausreichen ,  so  wartet  man,  bis 
die  Demarcation  sich  gebildet  hat,  die  entzündlichen  Erscheinungen 
in  den  Geweben  abgelaufen  sind,  die  Gewebsspalten  sich  verschlossen 
haben,  d.h.  bis  zur  3. — 4.  Woche.  Bringt  man  den  Kranken  durch  bis  zu 
vollendeter  Demarcation,  so  heilen  die  Amputationswunden  meist  schnell. 
Verfällt  der  Kranke  rasch  und  muss  man  vor  erfolgter  Demarcation. 
also  in  den  ersten  Tagen  operiren,  dann  gehe  man  soweit  nach  dem 
Centrum,  dass  man  in  wirklich  gesunden  Theilen  operirt. 


Neki'obiose.  —  Coagiüationsnekrose.  45 

Die  Fälle  von  Gangrän  durch  Erkrankung-  des  Gefässsystems 
oder  Gewebsschwäclie  bieten  dem  operativen  Eing-reifen  keine  guten 
Aussichten.  Immerhin  glückt  mitunter  der  Versuch.  Bei  diabetischer 
Gangrän  mag  man  es  zunächst  mit  antidiabetischer  Ernährung  ver- 
suchen. Ist  der  Kranke  nicht  zu  elend,  so  warte  man  auch  hier  nicht 
zu  lange  mit  dem  Eingrilf.  In  manchen  Fällen  verschw^indet  die 
Zuckerausscheidung  erst  nach  der  Operation  (König). 

Die  Weichtheile  an  der  Operationsstelle  —  von  den  kranken 
Gefässen  gleichfalls  schlecht  ernährt  —  fallen  leicht  wieder  der  Gangrän 
anheim. 

Zustände ,  wo  Tod  und  Leben  in  einander  und  durcheinander 
spielen,  wo  Theile  eines  Gewebes,  ja  nur  Theile  einer  Zelle  absterben, 
nennen  wir  nekrobio tische. 

Diese  Vorgänge  sind  durchaus  nicht  alle  pathologisch ;  wir  finden  Beispiele  genug 
im  normalen  Getriebe  des  Organismus.  Den  gewöhnlichen  Erueuerungs-  oder  Ersatzvor- 
gängen im  Körper  gehen  Abstossungen  auf  nekrobiotischem  Wege  parallel.  In  dem 
Masse,  als  neues  Epithel  auf  der  Haut  gebildet  wird  und  das  alte  sich  von  der  er- 
nährenden Schicht  entfernt ,  erleiden  die  älteren  Schichten  Veränderungen ,  die  wir  als 
Verhornung  bezeichnen,  das  Protoplasma  nimmt  Farbstoffe  weniger  an,  der  Kern 
verschwindet  und  die  ganze  Zelle  wird  zu  einem  trockenen  Plättchen ,  das  schliesslich 
abgeschilfert  wird.  Auf  pathologischem  Gebiete  findet  sich  die  Verhornung  als  häufige 
A''eränderung  epithelialer  Neubildungen,  namentlich  bei  den  Krebsen  wieder. 

Die  von  Weigert  entdeckte  „Coagulationsnekrose"  beruht  aut 
einer  Gerinnung  des  Eiweisses  der  Zellen  und  Gewebe.  Die  Tlieile 
gleichen  in  der  That  geronnenem  Eiweiss  oder  Käse  schon  makro- 
skopisch. Die  Ursachen,  welche  zur  Coagulationsnekrose  führen,  sind 
denen  des  gewöhnlichen  Brandes  ähnlich,  doch  nicht  so  intensiv.  Die 
betroifenen  Gewebe  bleiben  immer  noch  durchströmt,  wenn  auch  nicht 
von  Blut,  so  doch  von  Lymphe. 

Die  Coagulationsnekrose  betrift't  ganze  Gewebsstücke,  welche  dabei  in  grauweisse 
oder  gelbliche,  trockene,  fibrinähnliche  Massen  sich  umwandeln.  Es  sind  dies  meist 
durch  Embolie  bedingte  ., weisse  Infarcte"  in  der  Niere,  Milz,  Placenta;  dann  ent- 
stehen unter  dem  Einflüsse  von  Mikroorganismen  Coagulationsnekrosen ;  die  Verkäsungen 
bei  tuberculösen  Entzündungen  gehören  hieher.  Es  können  auch  nur  einzelne,  besonders 
empfindliche  Gewebsbestandtheile  der  Verkäsung  anheimfallen;  so  können  bei  unge- 
nügender Blutzufuhr  die  Epithelien  einer  Schleimhaut  dieser  Veränderung  erliegen, 
während  Gefässe  und  Bindegewebe  erhalten  bleiben  (vergl.  pag.  8).  Die  so  entstandene 
Coagulationsnekrose  der  Schleimhautepithelien  ist  bekannt  als  Diphtheritis  der  Schleim- 
häute.    Bei  den  Muskelfasern  ist  die  wachsige  Degeneration  hieher  zu  rechnen. 

Die  der  Coagulationsnekrose  verfallenen  Zellen  färben  sich  nicht 
mehr  oder  schlecht.  Meist,  aber  nicht  immer,  sind  die  Kerne  ver- 
schwunden. Man  hat  körnige,  blassgelbe  Massen,  bald  wenig,  bald 
.stärker  fetthaltig,  hin  und  wieder  sind  deutliche  Schollen  zu  erkennen. 
Auch  einzelne  Zellen  können  theilweise  nekrotisch  werden,  zum  anderen 
Theile  lebendig  bleiben.  Die  Kerne  können  dabei  erhalten  bleiben 
(wachsige  Degeneration  der  Muskeln),  sogar  in  grösserer  Anzahl  vor- 
handen sein  (tuberculöse  Riesenzellen).  Coagulatiousnckrotische  Theile 
können  später  erweichen  oder  verkalken. 

An  die  nekrobiotischen  Processe  schliessen  sich  eng  an  die  De- 
generationen und  Atrophien. 

Wir  sprechen  von  Atrophie  bei  einer  Abnahme  eines  Organes 
in  toto.  in  allen  seinen  Theilen,  der  Zahl  und  Masse  nach.  Als  Aplasie 


46  I.  ('a|)itol.   —   Oertliclio   Kreislaufs-   iiinJ    KinäliniiiKs.stöninj^oii. 

(Hypoplasie)  wird  die  angeborene  ungenügende  Entwicklung  eines 
Organs  bezeichnet. 

Atrophie  eines  Theiles  begegnet  den  Chirurgen  nicht  selten. 
Wir  weisen  sie  durch  Messung  und  Vergleichung  mit  dem  Theile  der 
anderen  Seite  nach,  z.  B.  am  Arm  und  liein.  Wir  schliessen  sie  auch 
aus  der  Verminderung  der  Function.  Atrophische  Theile  sind  ])lutfirm. 
blass,  kühl ,  welk ,  oft  zeigen  sie  auch  chronische  Stauung ,  neigen  zu 
weiteren  Ernährungsstörungen,  Oedemen,  Geschwürsbildungeu.  AA'ir  l;e- 
gcgnen  diesen  Zuständen  von  Atrophie  bei  drüsigen  Organen  und 
Muskeln,    aber  auch  bei  Haut  und  Knochen. 

Eine  der  häufigsten  Ursachen  der  Atrophie  ist  die  Stömng 
oder  Aufhebung  der  Verbindung  mit  den  nervösen  Centralorganen  oder 
Erkrankung  dieser  trophischen  Centren;  also  bei  Kervendurchschnei- 
dungen ,  Nervenquetschungen ,  Lähmungen  peripheren  und  centralen 
Ursprungs  u.  s.  f.,  am  häufigsten  bei  der  Poliomyelitis  ant.  acuta  oder 
,, essentiellen  Kinderlähmung" . 

Ferner  entsteht  Atrophie  durch  Nichtgebrauch.  (Schwund  der 
Musculatur  in  Gypsverbänden  u.  dergl.  oder  durch  absichtlichen  Nicht- 
gebrauch bei  Simulanten  und  Betrügern.) 

Auch  durch  anhaltende  ungenügende  Blutzufuhr  entsteht  Atrophie 
(s.  pag.  8,  Anämie). 

Mikroskopiscli  findet  man  bei  der  Atrophie  oft  nur  Verkleinerung  der  specifischen 
Elemente,  z.  B.  Terschmäleiaing  der  Muskelfasern ;  ein  anderes  Mal  ist  das  Zwischen- 
gewebe vermehrt  und  namentlich  reichliche  Einlagerung  von  Bindegewebe  wahrzunehmen. 
Das  Bild  nähert  sich  dann  sehr  dem  chronischer  Entzündungen  massigen  Grades. 

Wieder  ein  anderes  Mal  ist  zwischen  reducirtem  erhaltenem  Ge- 
webe massenhaftes  Fettgewebe  eingelagert.  Der  Umfang,  z.  B.  des 
Muskels,  kann  dabei  bis  auf's  Doppelte  vermehrt  sein  und  daher  führen 
diese  Zustände  auch  den  Namen  „Pseudohypertrophie",  d.  h.  un- 
echte Hypertrophie.  Dem  Wesen  nach  ist  es  jedoch  ein  rein  atrophi- 
scher Vorgang ,  wie  pcbon  die  fast  völlige  Vernichtung  der  Function 
solcher  Muskeln  erweist. 

Die  Behandlung  der  Atrophie  verlangt,  Blut  in  überschüssiger 
Menge  einem  solchen  Theile  zuzuführen.  Man  erreicht  dies  theils  durch 
Gebrauch  des  Theils  (functionelle  Hyperämie),  theils  durch  andere  Mittel 
(Massage  und  Elektricität).  Wärme  pflegt  den  Kranken  subjectiv 
angenehm  zu  sein  und  ist  nicht  ohne  Nutzen.  Dass ,  wo  es  möglich, 
die  Verbindung  mit  den  Centralorganen  wieder  herzustellen  ist ,  z,  B. 
durch  Nervennaht,  ist  selbstverständlich. 

An  die  reine  Atrophie  reihen  sich  die  Degenerationen  oder 
Metamorphosen.  Das  Gemeinsame  dieser  Vorgänge  ist,  dass  an  die 
Stelle  einer  Gewebsart  eine  andere  physiologisch  minderwerthige  oder 
ganz  werthlose  tritt,  welche  dementsprechend  an  Stottwechsel  und  Cir- 
culation  auch  geringere  Ansprüche  macht.  Es  handelt  sich  also  häufig 
um  eine  Art  Substitution  oder  Metaplasie. 

Bei  der  Pigmentatrophie  findet  man  neben  Verminderung  der 
Parenchymbestandtheile  Ablagerung  körnigen  Pigments  in  und  zwischen 
den  Zellen,  vielleicht  als  Rest  untergegangener  Gewebsbestandtheile. 

Die  leichteste  Form  der  Degeneration  ist  die  trübe  Schwel- 
lung, parenchymatöse  Degeneration  (albuminöse  Infiltration). 

Meist  betrifft  diese  Veränderung  innere,  besonders  drüsige  Organe,  Leber,  Nieren, 
doch   auch   Muskeln.   —  Die    Theile   sind    etwas    geschwollen,    ihre   Farbe    matter,    die 


Atrophie.   —   Vei'schiedene  Degenerationen.  47 

Schnittfläche  trüber.  Die  Zellen  sind  weniger  scharf  contourirt ,  oft  deutlich  plumper 
und  etwas  grösser ,  das  Protoplasma  durch  feinste  Körnchen  (vermuthlich  moleculäre 
Eiweissgerinnungen)  getrübt ,  die  Kerne  normal  oder  gleichfalls  getrübt ,  oder  von  den 
in  Essigsäure  sich  lösenden  Körnchen  überdeckt.  Earbstoife  werden  weniger  leicht  auf- 
genommen. Die  trübe  Schwellung  findet  sich  als  erste  Veränderung  bei  schweren 
fieberhaften  Krankheiten ,  besonders  schweren  Infectionen ,  Blut-  und  Eitervergiftung, 
Wundrose,  Scharlach,  Typhus ,  dann  auch  bei  Metallvergiftungen  (As,  P),  hochgradiger 
Blutarmuth.  Während  man  früher  geneigt  war,  sie  auf  die  hohe  Temperatur  und  hier- 
durch bedingte  Eiweisscoagulation  zu  schieben,  betrachtet  man  sie  jetzt  mehr  als  directe 
Folge  der  circulirenden  Gifte.  —  Die  trübe  Schwellung  bildet  sich,  mit  dem  glücklichen 
Ende  der  Allgemeinerkrankung,  meist  wieder  zurück,  kann  jedoch  auch  in  andere 
Degenerationen  übergehen.  Oder  es  schliessen  sich  wirkliche  Entzündungserscheinungen 
an.  Von  Vielen  wird  sie  als  erste  Stufe  entzündlicher  Gewebsveränderung  aufgefasst 
und  parenchymatöse  Entzündung  genannt. 

Nahe  steht  die  hydrophische  Degeneration,  eine  Vergrösserung  der  Zellen 
durch  Flüssigkeitsaufnahme,  wie  sie  sich  namentlich  bei  chronischem  Oedem  findet. 

Die  fettige  Entartung  ist  von  der  Fetteinlag-eriing-,  der  Fett- 
infiltration wohl  zu  unterscheiden.  Bei  letzterer  handelt  es  sich  um  die 
Entwicklung-  von  Fett  zwischen  den  Gewehsbestandtheilen ,  aber  auch 
innerhalb  der  CTewebselemente  durch  Ablagerung,  z.  B.  in  den  Leber- 
zellen. Bei  der  Fettinhltration  hat  man  mehr  grosse,  abgrenzbare  Fett- 
tropfen, bei  der  Fettdegeneration  gleichmässigere  Durchsetzung  der  Zellen 
mit  feinsten  Körnchen.  Bei  der  fettigen  Entartung  handelt  es  sich 
um  eine  Umwandlung  der  Protoplasmazellen  in  Fett.  Die  Zellen  sind 
mit  feinsten  glänzenden  Körnchen  erfüllt,  die  in  Aether  und  Alkohol 
löslich  sind  und  mit  Ueberosmiumsäure  sich  schwarz  färben  (im  Ge- 
gensatz zur  trüben  .Schwellung,  wo  sich  die  Körnchen  in  Essigsäure 
lösen).  Diese  Körnchen  können  zu  wirklichen  Tropfen  zusammenfliessen. 
Gelegentlieh  kommt  es  auch  zur  Bildung  von  Fettsäurekrystallen.  Die 
fettige  Entartung  betrifft  die  Musculatur,  Drüsen  u.  dergl.  und  entwickelt 
sich  namentlich  in  Folge  von  Sauerstoffmangel,  bei  Vergiftungen  (Phos- 
phor. Chloroform,  Jodoform,  Aether,  Stoffwechselpi'oducte  der  Bacterienj. 
bei  Fieber  und  endlich  bei  Lähmung  der  Muskeln. 

Die  Amyloidentartung  geht  mit  einer  glasigen  Verquellung  der 
bindegewebigen  Theile  der  Gev/ebe,  namentlich  der  Wände  kleiner 
Gefässe  und  Capillaren  einher.  Diese  sind  verdickt,  die  glasige  Sub- 
stanz färbt  sich  mit  Jod-,iodkaliumlösung  mahagonibraun  und  mit 
Methylviolett  roth.  Das  Amyloid  ist  ein  veränderter  Eiweisskörper. 
der  vermuthlich  aus  dem  Blut  in  die  Capillarwand  und  bei  grösseren 
G^efässen  auch  in  die  Media  abgelagert  wird.  Es^kann  auch  \vieder 
resorbirt  werden.  Makroskopisch  sehen  die  Organe  (Leber,  Milz,  Nieren) 
mattglänzend,  speckig  aus.  weshalb  man  auch  von  „speckiger  Entartung'" 
spricht.  Für  den  Chirurgen  ist  diese  Entartung  insofern  wichtig,  weil  sie 
bei  langem  Siechthuni  eintritt  und  Kranke  mit  jahrelangen  Eiterungen 
schliesslich  an  der  Amyloidentartung  zu  Grunde  geben.  Ablagerungen 
von  Amyloidsubstanz  finden  wir  in  Geschwülsten ,  in  Narben ,  Granu- 
lationen u.  s.  f,  dann  im  Alter  in  der  Prostata  als  geschichtete  Amy- 
loid körperchen  (^Corpora  amylaceaj.  Hier  müssen  sie  zum  Theil  au.^ 
dem  Epithel  hervorgegangen  sein.  Walirscheinlich  sind  diese  Gebilde  \(>n 
dem  AmyloYd  der  Gefässe  specitisch  verschieden. 

Bei  Kachexie  und  in  einzelnen  Sarkomen  hat  man  auch  eine  pathologischf  Gly- 
kogen a  1)  1  a  g  c.  r  u  n  g  Ijeobachtet. 

Bei  der  der  physiologischen  Schleinibildung  analogen  schleimigen  Ent- 
artung quellen  die  Zellen  zu  glashellen  Massen  auf,  daneben  können  noch  Reste  der 
Zellen    erhalten    bleil)en.     Die    faserige    Grundsubstanz    des    Bindegewebes,    aber   auch 


48 


I.  Capitel.  —  Oertliclie  Kreislaufs-  uml  Eriiälirun^^sstörungen. 


Epitliclicii  uütolii'gcji  dieser  Veräiiderniig,  welcln;  najucutlich  in  Gesell wiilsti;)!  auftritt, 
jedoch  auch  bei  gewissen  krankhaften  Zustäaden  an  Knochen ,  Knorpel ,  Fettgewebe, 
Sehnenscheiden,  Synovialmembrane))  sich  einstellt. 

Ihr  nahe  steht  die  Colloiden  tartung,  der  eigentlich  nur  epitheliale  Bildungen 
unterworfen  sind.  In  den  Epithelien  (besonders  der  Schilddrüse)  treten  helle  Kugeln 
auf,  welche  die  Zellen  sprengen  und  zum  Theil  zum  Verschwinden  bringen.  Sie  fliessen 
dann  zu  grösseren  Kugeln  zusammen.  ICssigsäure  und  Alkohol ,  welche  Schleim  zur 
Gerinnung  bringen ,  verändern  Colloid  nicht.  In  der  Schilddrüse  und  auch  in  der 
Prostata  tritt  die  Bildung  von  Colloidkugeln  im  Alter  ganz  regelmässig  auf. 

In  Fig.  15  ist  eine  in  colloider  Entartung  begriffene  Schilddrüse  dargestellt  (nach 
Woelfler).  Bei  a  sind  noch  normale  Drüsenblasen ,  bei  b  zeigt  sich  in  der  Mitte  eine 
glänzende  glasige  Masse,  bei  c  ist  die  Blase  stark  ausgedehnt  durch  grosse,  stellenweise 
perlenartig  glänzende  Massen ,  welche  ihre  Abstammung  aus  Zellen  durch  ihre  Anord- 
nung noch  zu  verrathen  scheinen.  Die  noch  vorhandenen,  zum  Theil  schon  verändeiten 
Epithelien  sind  an  den  Eand  gedrängt. 

Eine  hyaline  Entartung  des  Bindegewebes,  mit  Volumszunahme  und 
glasiger  Verquellung,  dem  Amyloid  wohl  nahestehend,  von  diesem  jedoch  durch  mangelnde 

Fig.  15. 


.Jodreactiou  zu  unterscheiden,  wird  gelegentlich  in  der  Schilddrüse  und  sonst  im  Binde- 
gewebe gesehen. 

Hieher  gehört  auch  die  pathologische  M  u  c  i  n-  und  P  s  e  u  d  o  m  u  c  i  n  a  b  1  a  g  e  r  u  n  g. 

"Wichtig  ist  noch  die  Verkalkung.  In  schlecht  ernährten  Theilen,  der  Mittel- 
haut kranker  Gefässe,  tnberculösen  Lymphdrüsen,  im  Innern  grösserer  Geschwülste  lagern 
sich  in  Form  staubiger  Trübungen  der  Zellen  Kalksalze  ab.  Dieselben  bestehen  haupt- 
sächlich aus  kohlensaurem  und  phosphorsaurem  Kalk  und  sind  in  Säuren  löslich.  Es 
können  sich  auch  grössere  Kalkconcretionen  bilden. 

Die  Ablagening  von  harnsauren  Salzen,  welche  sich  in  Form  glänzender 
Nadeln,  namentlich  in  den  Gelenken  bei  der  echten  Gicht  absetzen,  werden  wir  bei  den 
Gelenkentzündungen  näher  besprechen.  Auch  ihr  gehen  nekrotische  Zustände  _der  be- 
troffenen Gewebe  voraus. 

Die  nahen  Beziehungen  von  Degeneration  und  Entzündung  sind 
nicht  zu  verkennen  (vergl.  pag.  37).  Bei  der  Behandlung  dieser  Zu- 
stände kann  es  sich  nur  um  Aufbesserung  der  allgemeinen  und  ört- 
lichen Ernährung  handeln.  Doch  dies  ist  meist  leichter  gesagt,  als 
gethan.    Ein  Theil  dieser  Processe  ist  einer  Rückkehr  zur  Norm  fähig. 


Metaplasie.  —  Hypertrophie.  49 

Bei  der  Metaplasie  tritt  an  Stelle  eines  Gewebes  ein  anderes,  oft  nicht  einmal 
sehr  nahe  verwandtes.  Als  Typus  dieser  Veränderungen  gibt  Virchow  gewisse  physio- 
logische Metamorphosen  des  Knochens  an;  wo  bei  Embryo  und  Kind  Knorpel,  findet 
sich  später  Knochensnbstanz.  Auch  diese  kann  mit  dem  Wachsen  des  Knochens  zum 
Theil  wieder  verschwinden  und  jetzt  tritt  Markgewebe  auf.  Dieses  erst  als  rothes, 
später  als  gelbes  u.  s.  w.  Erfolgt  ein  Knochenbruch ,  so  stellt  sich  wieder  für  kurze 
Zeit  Knorpel  ein ,  dann  wieder  Knochengewebe.  Auch  dieses  schwindet  wieder  und 
macht  wieder  dem  Markgewebe  Platz.  Beim  Embryo  besteht  das  Unterhautgewebe  aus 
Schleimgewebe ,  später  wird  dies  zum  Unterhautfettgewebe.  Doch  kann  auch  dieses 
wieder  zu  Schleimgewebe  sich  zurückbilden.  In  Fettgeschwülsten  ist  gerade  diese  Meta- 
plasie oft  anzutreffen.  —  Innerhalb  physiologischer  Grenzen  scheinen  die  Metaplasien 
mit  veränderten  functionellen  Beanspruchungen  parallel  zu  gehen. 

Hypertrophie  ist  die  Zunahme  eines  Organs  in  allen  seinen 
Theilen  mit  gleichzeitiger  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit.  Am 
häufigsten  findet  sich  Hypertrophie  als  Folge  regelmässigen,  jedoch  nicht 
übertriehen  gesteigerten  Gebrauchs  (Arbeitshypertrophie).  Die  func- 
tionelle  Hyperämie  übercompensirt  die  Abnützung  (vergl.  pag.  5)  und 
das  Organ  kann  wachsen,  seine  Elemente  können  der  Masse  und  wohl 
auch  der  Zahl  nach  zunehmen. 

In  anderen  Fällen  ist  die  Hypertrophie  eine  vicariirende,  wenn 
ein  Organ  die  Function  eines  gleichartigen  oder  verwandten  zu  Grunde 
gegangenen  übernehmen  muss  —  eine  Niere  für  die  andere,  Lymph- 
drüsen und  Knochenmark  für  die  Milz  u.  s.  f.  —  Die  Hypertrophie  ist 
eine  bleibende  oder  vorübergehende.  Jedenfalls  liegt  es  nicht  im  Wesen 
der  Hypertrophie,  dass  ihr  später  die  Atrophie  folgt. 

Häufig  zeigen  die  hypertrophischen  Theile  nicht  eine  ganz  genaue  Wiederholung 
lies  ursprünglichen  Tj'pus.  Es  finden  sich  Unregelmässigkeiten  der  Anordnung,  Ab- 
weicliungen  in  Grösse  und  Form  der  Zellen.  Diese  progressiven  Bildungen  stellen  eine 
Brücke  dar  zu  den  GeschAvülsten.  Sie  finden  sich  namentlich  in  drüsigen  Organen,  wo 
die  Hypertrophie  unmittelbar  in  die  Geschwulstbildung  (Adenom)  übergehen  kann,  aber 
auch  i)ei  glatten  Muskeln  (Myome).  Jede  Hypertrophie,  welche  nicht  auf  eine  der  ge- 
nannten Ursachen  zurückgeführt  werden  kann,  ist  verdächtig,  dass  sie  nur  eine  Vor- 
stufe einer  geschwulstartigen  Neubildung  darstellt. 

Als  eine  meist  erwünschte  Selbsthilfe  des  Organismus  bedarf  die 
echte  Hypertrophie  einer  Behandlung  nicht. 


L  (i  I)  (1  c  r  ■•  r  ,    -Mlp.  '-liir.  I'atlir.Infc'i«-   ii.    rini:i)iii 


IL  Capitel. 

Die  Bacterien. 

Eintheilung  der  Bacterien.  —  Die  verschiedenen  Arten  und  Gattungen.  —  Fort- 
pflanzung und  Stoffwechsel.  —  Saprophyten  und  Parasiten.  —  Die  Wirkungsweise 
der  pathogenen  Bacterien  ist  die  einer  Vergiftung.  —  Virulenz.  —  Die  Thore 
und  Wege  der  Infection.  —  Localisation  und  Prädisposition.  —  Die  Ausscheidung 
und  Vernichtung  der  Bacterien.  —  Immunität.  —  Schimmel-  und  Sprosspilze.    — 

Protozoen. 

Die  häiifi.iisteu  Krankheitserreger .  denen  wir  in  der  Praxis  be- 
gegnen, sind  die  Mikroorganismen.  Diese  niedersten  Lebewesen 
werden  meist  Bacterien,  d.  i.  Stabthierchen ,  Stabpflänzchen  oder 
Spaltpilze,  ftchizorayceten  genannt.  Zellen,  deren  kleinster  Durch- 
messer circa  1  u.  (O'OOl  Millimeter),  der  grösste  vielleicht  das  3 — 4fache 
beträgt,  bestehen  sie  meist  ans  einer  eivveissartigen  Substanz  (Myco- 
l)rotein,  Xenclä).  Gegen  die  Peripherie  hin  verdichtet  sich  dieselbe  zu 
einer  gelatinösen  Hülle,  einer  Art  Membran,  welche  kohlenhydrat-(Celln- 
lose),  in  einzelnen  Fällen  selbst  fetthaltig  sein  soll.  Jenseits  derselben 
findet  sich  häufig  wieder  eine  durch  Quellung  der  Membran  entstandene 
schleimige  Masse  (Zoogloea).  welche  die  einzelnen  Individuen  zu  ver- 
schiedenartigen Gruppen  und  Verbänden  vereinigen  kann.  Das  ganze 
Individuum  ist  als  eine  Zelle  anzusehen.  Zellkerne  sind  vielleicht  vor- 
handen fSchoftelius),  jedoch  bei  den  gewöhnlichen  Färbungen  nicht  zu 
erkennen.  Die  Hülle  scheint  elastisch ,  namentlich  bei  schraubig  ge- 
wundenen Exemplaren  und  läuft  bei  einzelnen  Formen  in  geissel-  oder 
cilienartige,  der  Bewegung  dienende  Fortsätze  aus. 

Ein  Theil  der  Forscher  — •  Nagelt,  früher  BülrotU  —  leugnete  jede  Specificität 
der  Arten,  die  Kugel-(Coccus-)forni  sollte  in  die  Stäbchen-(Bacillus-)form  übergehen 
können,  je  nach  äusseren  Bedingungen;  und  derselbe  Pilz  sollte  bald  die  Buttersäure- 
gährung,  bald  die  Eiweissfäulniss,  bald  diese  oder  jene  Infectionskrankheit  des  Menschen, 
Diphtheritis ,  Milzbrand  u.  s.  w.  bedingen  können.  Weder  die  Form .  noch  die  physio- 
logischen Eigenschaften  seien  constant.  —  Den  entgegengesetzten  Standpunkt  vertritt 
Cohn,  welcher  auch  für  die  Bacterien  eine  Eintheilung  in  ebenso  scharf  charakterisirte 
Arten  verlangt ,  wie  für  höhere  Pflanzen.  Noch  entschiedener  ist  Koch,  welcher  füi' 
die  A^on  ihm  aufs  Genaueste  untersuchten  pathogenen,  d.  h.  krankheitserregenden  Pilze 
einen  ganz  constanten,  höchstens  in  Kleinigkeiten  schwankenden  Artcharakter  verlangt 
und  durch  seine  Züchtungen  in  Dutzenden  von  Generationen  auch  nachgewiesen  hat. 
Die  Erfahrungen  des  praktischen  Arztes  zwingen  gebieterisch,  dem  Standpunkte  Cohn- 
Koch's  beizutreten.  Die  Versuche  Buchner's,  Milzbrandbacillen  in  die  unschädlichen, 
in  Heuaufgüssen  sich  entwickelnden  „Heubacillen"  (Bacillus  subtilis)  durch  allmähliche 
Veränderung  der  Nährböden  umzuzüchten  und  umgekehrt,  sind  nicht  einwandsfrei. 

Ein  Theil  der  Bacterien  ist  streng  monomorph,  d.h.  er  tritt  stets  nur  in 
einer  Wuchsform  auf;  während  einzelne  Arten  (Cladothrix,  Beggiatoa)  pleomorph  sind, 
d.  h.  sie  zeigen  verschiedene  Wuchsformen  (kugelige,  schrauben-    und  stäbchenförmige). 


Hauptfonneu  der  Bacterieii.  51 

Die  drei  Haupt  formen,  in  welchen  die  den  Chirurgen  be- 
schäftigenden Spaltpilze  auftreten,  sind  die  Kugel-(Coccus),  (vergl. 
Fig.  16),  Stäbchen-(Bacillus)  und  die  Schraubenform  (Spirillum). 
Sehr  passend  nimmt  de  Bari/  als  Vergleich  eine  Billardkugel,  einen 
Bleistift  und  einen  Korkzieher.  Dazwischen  gibt  es  Uebergänge  vom 
gekrümmten  Stäbchen  zur  Schraube;  ein  ovaler  Coccus  sieht  wieder 
einem  kurzen  dicken  Stäbchen  mit  abgerundeten  Kanten  ziemlich 
ähnlich.  Manche  Abweichungen  der  Form,  wie  Keulen-  oder  Trommel- 
schlägelform der  Bacillen  hängen  mit  Entwicklungsphasen  (Sporen- 
bildung) zusammen  oder  gehen  dem  Zerfall  des  Bacteriums  voraus 
(„Involutionsformen"). 

Durch  die  schleimigen  Aussenhüllen  der  Bacterien  werden  die 
Crlieder  eines  Stammes  verknüpft,  zu  „Verbänden"  vereinigt.  Ruhende 
Haufen  nennt  man  „Zoogloea"  (vgl.  Fig.  16),  bei  weniger  fest  verbundenen, 
beweglichen  spricht  man  von  „Schwärmen".  Indem  sich  Kokken,  ihrer 
Entwicklungsrichtung  entsprechend ,  zu  Reihen  aneinanderlegen ,  ent- 
steht eine  Kette  —  Kettenkokken  (Streptokokken).  Eine  solche  Kette 
kann  Aehnlichkeit  mit  einem  gekrümmten  Stäbchen  gewinnen.  Legen 
sie  sich  zu  Haufen  —  traubenförmig  —  aneinander,  so  hat  man  den 
Traubencoccus,  Staphylococcus,  wenn  zu  vieren,  den  Mikrococcus  tetra- 
genus  u.  s.  w.  (Fig.  16). 

Die  Bacillen  (Stäbchen)  reihen  sich  aneinander  zu  fadenartigen 
Formen.  Diese  Gebilde,  auch  „Scheinfäden"  genannt,  sind  oft  von 
beträchtlicher  Länge,  gestreckt,  winklig  geknickt  oder  schraubenförmig 
gewunden.  Die  Entstehung  aus  einer  Anzahl  kleinerer  Elemente  ist 
bald  durch  deutliche  Trennungslinien  gekennzeichnet,  bald  sind  die 
Grenzen  der  Einzelindividuen  kaum  angedeutet  oder  nur  durch  be- 
stimmte Reagentien  sichtbar  zu  machen.  Manche  dieser  langen  Fäden 
scheinen  auch  nur  ein  Einzelindividuum  zu  repräsentiren. 

Will  man  die  Bacterien  in  Gruppen  eintheilen,  so  würde  sich 
am  meisten  die  Theilung  in  Kokken  (d.h.  Kugelformen),  Bacterien  i.  e.  S. 
(Stäbchen)  und  Spirobacterien  (Spirillen,  Spirochäten,  Vibrionen,  Schrauben- 
formen)  empfehlen.  Die  alte  Ehrenherg-Cohi'^Qh.Q  Classificirung  war: 
Tribus  I.  Sphaerobacteria ,  Kugelbacterien ,  Gattung  1  Mikrococcus. 
Tribus  II.  Mikrobacteria ,  Stäbchenbacterien ,  Gattung  2  Bacterium. 
Tribus  III.  Desmobacteria,  Fadenbacterien,  Gattung  3  Bacillus,  Gattung 
4  Vibrio.  Tribus  IV.  Spirobacteria ,  Schraubenbacterien ,  Gattung  5 
Spirillum,  Gattung  6  Spirochaete.  Die  Hauptformen  der  Bacterien  sind 
in  Fig.  16  halbschematisch  nach  Baumgarten  (Vergr.  ca.  700)  dar- 
gestellt. 

Von  den  Lebenseigenschaften  und  Bedingungen  der  Bacterien  ist 
ganz  besonders  wichtig  die  Kenntniss  der  Fortpflanzung  der  Bac- 
terien. Zunächst  vermehren  sich  dieselben  durcli  Theilung.  Der 
betreffende  Bacillus  oder  Coccus  wächst  etwas  in  die  Länge .  schnürt 
sich  dann  in  der  Mitte  ein,  theilt  sich  durch  Hereinwachsen  der  Mem- 
bran völlig  und  die  beiden  Hälften  wachsen  rasch  zu  einem  normal 
grossen  Individuum  heran.  Häutig  bleiben  die  Glieder  noch  verbunden 
zu  Fäden  oder  Ketten.  Die  Theihmg  geht  sehr  rasch  von  statten, 
der  ganze  Process  ninunt  bei  manchen  Bacterien  nur  etwa  eine  halbe 
Stunde  in  Ans])rnch.  Bei  ganz  ungest<»rtcr  Vermehrung  würde  sich 
somit  ein  solches  Bacterium    binnen  24  Stunden    auf  2S  Piillionen  ver- 


52 


n.  Capitel.  —  Oci-tliche  Kreislaufs-  iiiid  KniahningssWrungen. 


mehren  können.  —  Daneben  bilden  die  Bacterien  „Sporen"  oder  Daiier- 
formen ,  den  Samen  der  Pflanzen  verft-lcichbar.  Es  sind  dies  kleine 
rundliehe  bis  ovale,  stark  lichtbrechende  Korperchen  ,  welclie  von  den 
meisten  Farbstoffen  mit  den  gewöhnlichen  Methoden  nicht  gefärbt 
werden ,  wahrscheinlich ,  weil  sie  eine  äusserst  widerstandsfähige  und 
schwer  zu  durchdringende  Membran  haben.  Die  Sporen  bilden  sich 
auf  Kosten  der  Substanz  des  Mutterorganismus,  für  den  die  Sporen- 
bildung meist  den  Anfang  vom  Ende  bildet.  Häufig  zeigt  dieser  vor  der 
Sporenbildung  Unregelmässigkeiten  der  Form,  „Involutionsformen". 
Manche  Bacillen  nehmen  Keulen-  oder  Trommelschlägelform  an : 
das  Mutterbacterium  färbt  sich  weniger  intensiv  mit  Farbstoff'en ,  die 
Contouren  sind  nicht  mehr  so  deutlich  und  schliesslich  zerfällt  es    und 


Fig.  lli. 


Jt 


Formen  der  Bacterien   (nacli  Baumgarten).   Circa  700faclie  Vergrösserung. 

die  Spore  ist  frei.  Ein  Theü  der  Bacterien  bildet  die  Sporen  im 
Innern  des  Mutterorganismus  —  ..endogene"  Sporenbildung.  Diese 
Bacterien  werden  auch  „endospore"  Bacterien  genannt. 

Figur  17  ß  zeigt  üppig  wuchernde ,  überaus  gleichmässige  Vegetation  von 
Milzbrandbacillen,  theil weise  zu  langen  Fäden  ausgewachsen;  von  einem  Ausstrich  aus 
der  Milz.  IIb  Sporenbildung,  die  gefärbten,  dunkel  gehaltenen  Partien  sind  die 
Bacillen,  welche  viel  weniger  gleichmässig,  stellenweise  plump  und  undeutlich  sind  (im 
Holzschnitte  nicht  ganz  entsprechend  gegeben).  Die  Sporen  sind  zum  Theile  durch 
Zerfall  der  Bacillen  frei  geworden.  In  17  c  sind  nur  die  Sporen  gefärbt,  die  Substanz 
de]'  Bacillen  ist  ungefärbt  geblieben  (Ueberhitzungspräparat).  b  und  c  ßeincultureu 
Vergr.  Zeiss,  Immers.  Vi 21  Oc.  5. 

Andere  Mikroorganismen  haben  ectogene  Sporen bildung. 
Diese  entstehen  nicht  ausserhalb  des  Mutterorganismus,  sondern  an  den 
Enden,  häufig  an  der  Stelle,  wo  die  kettenweise  aneinandergereihten 
Kokken  oder  Bacterien  gelenkartig  zusammenhängen,  auch  arthrogene 


Lebensbediiiffunffen  der  Bacterien. 


53 


Sporenbildiing-  und  Artlirosporen  genamit.  —  Die  Kokken  scheinen 
keine  Sporen  zu  bilden,  jedenfalls  keine  endogenen.  Den  Anlass  zur 
Sporenbildung  sucht  man  im  Nahrungsmangel  der  Mikroorganismen. 

Die  Sporeu  werden  mit  Recht  als  „Dauerformen"  der  Bacterien  bezeichnet.  Die 
ausgewachsenen  Bacterien  ertragen  keine  Hitze  über  11'^;  die  meisten  gehen  schon  bei 
50—55°  zu  Grunde.  Die  Sporen  dagegen  werden  selbst  durch  Temperaturen  von 
100 — 120°  erst  nach  längerer  Einwirkung  getödtet.  Gegen  Kälte  sind  Bacterien  Aveniger 
empfindlich,  und  Sporen  fast  ganz  unempfindlich.  Milzbrandsporen,  bei—  110'-'  ein- 
gefroren ,  blieben  entwicklungsfähig.  Selbstverständlich  ist  dieses  Verhalten  für  prak- 
tische Fragen  —  Yernichtung  der  Bacterien,  d.  h.  Desinfection  —  überaus  wichtig. 

Von  einer  Anzahl  von  Bacterien  kennen  wir  eine  Sporenbildung 
nicht  und  diese  scheinen  sich  nur  durch  directe  Theilung  zu  ver- 
mehren. 

Die  Bacterien  sind  für  ihren  Lebens-  und  Entwicklungsgang, 
ihren  Stoffwechsel  und  ihre  Fortpflanzung  an  eine  Reihe  von  Be- 
ding u  n  g  e  n  gebunden. 

Zunächst  ist  eine  gewisse  Temperatur  unerlässlich.  Man  hat 
für  die  Bacterien    ein  „Temperaturoptimum"    aufgestellt,    bei    dem    sie 


Fig. 17  a. 


Fig.  17  b. 


am  besten  gedeihen.  Für  viele  ist  die  Temperatur  des  menschlichen 
Körpers  die  angemessenste  Wärme;  für  die  meisten  30—40'^  C.  Da- 
neben unterscheidet  man  als  die  Temperaturgrenzen,  wo  sie  eben  noch 
gedeihen,  ein  Minimum  und  Maximum.  Für  jene,  die  nur  im  mensch- 
lichen Körper  wohnen,  sind  nur  geringe  Schwankungen  nach  oben  und 
unten  möglich;  für  andere,  welche  auch  ausserhalb  des  thierischen 
Körpers  zu  existiren  vermögen,  kann  das  Minimum  bis  18",  bis  10" 
und  noch  tiefer  heruntergehen  und  das  Maximum  sich  bis  50°,  in 
einzelnen  Fällen  65''  hinauf  erstrecken. 

Die  Spaltpilze  bedürfen  zu  ihrem  Fortkommen  der  Feuchtigkeit, 
d.  li.  einer  gewissen  W^assermenge ,  wie  nur  feuchte  Gegenstände  der 
Fäuhiiss  anheimfallen  können,  völlig  trockene  (Mumien)  von  ihr  nicht 
angegriffen  werden.  Sie  vermögen  grösstentheils  nur  in  alkalischen 
oder  neutralen  Medien  sich  ungestört  zu  entwickeln.  Stärkere  saure 
Reaction,  z.B.  der  Magensaft,  hebt  bei  den  meisten  das  Wachsthum 
auf  (Schimmel))ilzcn  ist  saure  Reaction  zuträglicher).  Ein  Theil  der- 
selben liedarf  zu  ihrem  Leben  dringend  des  Sauerstotfzutritts ,  „aiiro- 
bische"  Bacterien  (Fastenrj.  Andere  können  ihn  entl)eiiren  oder  er 
ist  geradezu  schädlich  fiir  ihre  Entwickhing  („anacroljischc  Formen). 
Jene  halten  sich  in  einer  Nährlösuim-    an    der  01)erfläche ,    häufig   dort 


54  "•  ('Hpitcl.  —  J)io  l'jiuteriüii. 

eine  Art  Haut  (Kahnihaut)  bildend,  diese  sinken  in  der  Flüssigkeit  zu 
lioden;  daneben  gibt  es  Zwisclienstnfen ,  welche  wenif^  .Sauerstoff 
braueben  oder  für  die  er  indifferent  ist.  Aenderungen  aller  dieser  Lebens- 
bedingungen werden  von  den  »Sporen  in  viel  grösserem  Umfange  und 
viel  länger  ausgehalten,  als  von  den  Bacterien  selbst. 

Ausserdem  bedürfen  die  Bacterien  zu  Leben  und  Fortpflanzung 
mineralischer  Bestandtheile,  Schwefel,  Phosphor,  Kali,  Calcium,  die  sie 
aus  anorganischen  Salzen  oder  organischen  Stoffen  entnehmen.  Au8 
den  organischen  Stoffen  (Eiweiss)  nehmen  sie  auch  den  nöthigen  Stick- 
stoff, den  sie  aber  auch  aus  Ammoniakverbindungen  —  Aminen  fz.  B. 
Propylamin),  Amidosäuren  (Leucin .  Asparagin),  Amiden  (Harnstoff), 
Ammoniaksalzen  und  (ein  Theil)  sogar  aus  salpetersauren  Salzen  ent- 
nehmen können.  Die  Eiweis>skörper  werden  theilweise  als  Peptone 
assimilirt. 

Der  Stoffwechsel  der  Bacterien  ist  wichtig,  ebensowohl  durch 
die  Stoffe,  welche  die  Bacterien  in  sich  aufnehmen,  als  diejenigen, 
welche  sie  abgeben.  Corpusculäre  Theilchen  können  sie  nicht  in  sieb 
aufnehmen;  was  sie  bedürfen,  anorganische  und  organische  Stoffe, 
Eiweiss  und  Salze ,  rauss  ihnen  in  gelöster  Form  sich  bieten  oder 
wird  von  ihnen  gelöst.  Von  ihrem  Standort,  ihrem  ..Nähi-boden",  ihrer 
„Nährlösung",  ziehen  die  Bacterien  die  ihnen  zusagenden  Stoffe  mit  grosser 
Energie  an  sich.  Ein  Theil  derselben  vermag  nur  todte  Stoffe  zu  verar- 
beiten; diese  Bacterien  werden  als  „Saprophyten"  (G-a-oo?,  faul)  be- 
zeichnet. Andere  dagegen  vermögen  auch  lebenden  Körpern  die  ihnen 
nöthigen  Stoffe  zu  entnehmen,  sie  sind  „Parasiten".  Zwischen  beiden 
gibt  es  Zwischenformen;  es  finden  sich  Mikroorganismen,  welche  für 
gewöhnlich  saprophytisch  leben,  aber  gelegentlich  oder  in  gewissen  Ent- 
wicklungsstadien als  Parasiten  auf  dem  Thier-  und  Menschenkörper 
leben  können  („facultativ  parasitische"  Mikroorganismen),  gegen- 
über den  „obligaten  Parasiten",  welche  ausschliesslich  und  ganz  im 
Thierkörper  leben. 

Die  Eigenschaft  gewisser  Mikroorganismen ,  ebensogut  ausserhalb  wie  im  thie- 
rischen  Körper  existiren  zu  können ,  ist  praktisch  natürlich  wichtig.  So  können  die- 
Bacillen  des  Milzbrandes,  der  Cholera  in  feuchter  Erde,  in  Wäschestücken  u.  dergl. 
leben  und  sich  vermehren,  um  vielleicht  nach  Wochen  erst  wieder  auf  ein  Thier  über- 
tragen zu  werden  und  hier  parasitisch  zu  vegetiren.  Andere,  wie  die  Tuberkelbacillen,. 
können  sich  nur  im  Thierkörper  vermehren ,  wenn  auch  ihre  Dauerformen  sich  längere 
Zeit  ausserhalb  des  Körpers  zu  halten  vermögen;  aber  sie  können  wenigstens  auf 
Menschen  und  Thieren  verschiedener  Arten  und  Gattungen  leben.  Andere  wieder,  wie- 
die  Syphilis-  und  Leprabacillen,  sind  auf  das  Parasitenthum  beim  Menschen  beschränkt 
und  können  sich  ausserhalb  des  menschlichen  Organismus  nicht  erhalten ;  sie  finden. 
auf  Thieren  ihre  Existenzbedingungen  nicht  und  sind  daher  nicht  auf  sie  übertragbar. 
Die  Gefährlichkeit  eines  Pilzes ,  die  Häufigkeit  seiner  Uebertragung  auf  den  Menschen 
muss  eine  um  so  grössere  sein,  je  mehr  er  in  der  Aussenwelt  verbreitet  und  je  weniger 
eine  nnmittelbare  Uebertragung  von  Mensch  zu  Mensch  nöthig  ist  (Cholera,  Strepto- 
und  Staphylococcus).  ■ —  Die  Botaniker  sind  geneigt ,  anzunehmen ,  dass  die  Bacterien 
erst  im  Laufe  der  Zeit  den  Parasitismus  „erworben"  haben,  dass  sie  ursprünglich  reine 
Saprophyten  gewesen  und  die  Fähigkeit ,  im  lebenden  Körper  zu  existiren ,  erst  durch 
„Anpassung"  erlangt  haben. 

Mikroorganismen,  die  im  Körper  krankhafte  Veränderungen  her- 
vorrufen können,  nennen  wir  pathogene. 

Die  pathogenen  Bacterien  entziehen  ihrem  Wirth ,  dem  Thier- 
körper, die  zum  Leben  absolut  noth wendigen  Eiweisssubstanzen ,  die- 
Kohlenhydrate ,    den  Sauerstoff  u.  dergl,     Sie   nehmen    dieselben   nicht 


Producte  der  Bacterien.  55 

nur  aus  den  ernährenden  Flüssigkeiten ,  dem  Blute ,  der  Lymphe, 
sondern  auch  aus  den  geformten  Theilen,  den  Zellen,  nehmen  sogar  Be- 
standtheile  der  Zellen  selbst  in  sich  auf  und  erzeugen  so  entweder 
eine  Ernährungs-  und  Lebensstörung  der  Zelle  (Atrophien  u.  dergl.) 
oder  völliges  Absterben  derselben.  Sie  zerlegen  diese  Stoffe  in  ihrem 
Innern  und  deponiren  die  Producte  ihres  Stoffwechsels ,  ihre  Abfall- 
und  Auswnrfsstoffe  in  die  Gewebe  des  Wirthes. 

Die  Producte  der  Bacterien  sind  je  nach  der  Art  des  Bac- 
teriums  verschieden,  wenn  auch  einige  ziemlich  constante  darunter  vor- 
kommen, so  die  gewöhnlichen  Producte  des  Eiweisszerfalls,  Ammoniak 
und  seine  Derivate,  die  verschiedenen  Amine,  CO2,  HoS,  Indol,  Scatol, 
Phenol,  Asparagin,  Leucin,  Tyrosin  u.  dergl. 

Einzelne  Bacterien  bilden  Farbstoffe,  zum  Theil  nur  mit  dem 
Sauerstoff  der  Luft,  meist  unter  Lichtabschluss ;  so  erzeugen  der  Bacillus 
prodigiosus,  die  Bacillen  der  rothen  Milch  einen  rothen  Farbstoff,  der 
Bacillus  pyocyaneus  blaue,  grüne,  braune  Farbstoffe  u.  s.  w.  Ebenso 
gibt  es  Bacterien,  die  reducirende  Eigenschaften  haben  (Indigblau 
im  Nährboden  wird  zu  Indigweiss  reducirt).  Einige  Bacterien  vermögen 
auch  Lichterscheinungen  zu  erzeugen  (phosphorescirende  Bacterien). 

Dann  gibt  es  Bacterien,  die  Säuren  oder  Alkali  produciren.  So 
bilden  die  Choleravibrionen  salpetrige  Säure. 

Wichtiger  ist  die  Bildung  von  Fermenten  (Enzymen).  Am 
deutlichsten  ist  dies  bei  Bacterien,  die  den  festen  Nährboden,  auf  dem 
sie  wachsen,  verflüssigen  („verflüssigende"  und  „nicht  verflüssigende" 
Bacterien).  Die  Verflüssigung  beruht  auf  der  Bildung  eines  leimlösenden, 
])eptonisirenden  Ferments.  Daneben  kennen  wir  diastatische  (Stärke  in 
Zucker  umwandelnde),  ferner  invertirende  (Rohr-  und  Milchzucker  in 
Glykose  umsetzende)  Fermente. 

Schon  seit  Jahren  wissen  wir,  dass  die  Bacterien  auch  alkaloid- 
artige,  giftige  Stoffe  erzeugen.  Sie  stammen  aus  dem  Zellleib  der 
Bacterien  selbst  (Büchner)  und  sind  nicht  (?)  entstanden  durch  Zer- 
legung der  Eiweisskörper  der  Nährflüssigkeit.  Die  alkaloidähnlichen 
Körper  theilt  man  zur  Zeit  nach  Brief/er  in  ungiftige  —  Ptomaine 
genannt  —  und  giftige  —  Toxine.  Sie  werden  (nach  Brieger)  durch 
Auskochen  der  zerhackten  Organe  mit  schwach  salzsäurehaltigem  Wasser 
und  eine  ziemlich  complicirte  Weiterbehandlung  gewonnen.  Dann  unter- 
scheidet man  hitzebeständige  Stoffe  aus  dem  Zellinhalt  der  Bacterien  ■ — 
von  ^Mr/mer  Proteine  genannt  (Anthracin,  Malle'in,  Pyocyanin,  Tuber- 
culin ,  Pneumonokokkenprotein  u.  s.  w.).  Die  hitzeunbeständigen  hat 
man  Toxalbumine  genannt.  Die  letzteren  werden  besonders  durch 
Abtiltriren  der  Bacterienleiber  von  der  Nährflüssigkeit  mit  bacterien- 
undurchlässigen  (Thon-)  Filtern  gewonnen  oder  durch  Vacuumdestillir- 
apparate.  Die  hitzebeständigen  erhält  man  am  einfachsten  durch  Er- 
hitzen der  Culturen.  Andere  exactere  Methoden  (Dialyse,  Ausfällung) 
sind   sehr  complicirt. 

Die  liacterien  besitzen  auch  die  Eigenschaft  des  Chemotropismus 
oder  der  Chemotaxis  in  hohem  Grade  (vergl.  pag.  2ö).  d.  Ii.  in 
Flüssigkeiten  suspendirt  werden  sie  durch  ihnen  zuträgliche  Stoffe  an- 
gelockt, durch  andere  abgestossen.  Meist  zeigen  sie  auch  wie  die 
Leukocyten .  Thermotaxis  oder  Thcrmotro))ic,  d.h.  sie  werden 
durch   ihnen  zusagende  Wärmegrade  angelockt. 


56  n.  C'apitel,  —  Die  Bacturien. 

Die  Wirkung  der  Bacterien  auf  ihren  Träger  ist  also  weniger 
aufzufassen  als  eine  Störung  der  Ernährung  desselben,  als  eine  Sauer- 
stoftentziehung  (Pasteur),  oder  als  eine  mechanische  Wirkung,  z.  B. 
Versto])fung  der  Capillaren  mit  Mikroorganismen  bedingt.  Die  wesent- 
liche Wirkung  der  Bacterien  ist  als  eine  directe  Vergiftung  des 
Wirthes  anzusehen.  Ein  Beispiel  aus  dem  täglichen  Leben  wird  dies 
deutlich  machen. 

Die  „Sprosspilze"  (Hefe ,  Saccliaromyces  cerevisiae)  erzeugen  in  den  ihnen  zu- 
sagenden Nährlösungen  (Weinmost,  Biermaische  u.  dergl.)  aus  den  Kohlenhydraten 
Kohlensäure  und  Alkohol.  Die  Sprosspilze,  von  denen  man  z.  B.  in  frischem  gährenden 
Moste  enorme  Massen  zu  sich  nimmt ,  schaden  nichts ,  nur  das  Product  ihres  Stort- 
wechsels ,  der  Alkohol ,  erzeugt ,  in  den  Organismus  eingeführt ,  die  bekannten  ver- 
giftenden Wirkungen. 

Die  producirten  Gifte  sind  je  nach  der  Art  des  Mikroorganismus 
verschiedener  Natur,  ihre  Wirkung  auf  den  Organismus  ist  ebenso  eine 
verschiedene.  Daher  die  ditferenten  Krankheitsbilder,  welche  wir  durch 
die  verschiedenen  Mikroorganismen  entstehen  sehen. 

Die  Intensität,  mit  der  die  Mikroorganismen  ihren  Nährboden 
angreifen  und  zersetzen,  mit  anderen  Worten  die  Giftigkeit  oder 
Virulenz  ist  eine  sehr  verschiedene.  Manche  sind  kaum  im  Stande,  den 
Zellen  des  thierischen  Organismus  ihr  Eruährungsmaterial  streitig  zu 
machen,  sondern  werden  von  diesen  meist  rasch  überwältigt  —  Schimmel- 
pilze. Andere  dagegen  vermögen  sich  in  den  Geweben  zu  halten  und 
mit  den  Zellen  den  „Kampf  um's  Dasein"  mit  rascherem  oder  lang- 
samerem Erfolge  aufzunehmen. 

Die  Giftigkeit  oder  die  Virulenz,  d.  h.  die  Fähigkeit,  den  Organismus  des  Wirthes 
anzugreifen,  krank  zu  machen  und  unter  Umständen  zu  vernichten,  ist  bei  derselben 
Bacteriengattung  nicht  immer  die  gleiche,  constante.  Sie  wird  — •  absichtlich  oder  un- 
absichtlich—  abgeschwächt,  wenn  der  Mikroorganismus  unter  Bedingungen  versetzt 
wird ,  die  seinem  Fortkommen  ungünstig  sind  —  TJebertragung  auf  Thiergattungen, 
die  wenig  empfindlich  für  ihn  sind,  z.  B.  des  Schweinerothlaufes  auf  Kaninchen,  des  Milz- 
brandes auf  Frösche  u.  dergl.,  ferner  durch  Züchtung  auf  künstlichem  Nährboden, 
besonders  solchen ,  die  ihm  nicht  sehr  zusagen.  Oder  die  Nährböden  werden  mit  ent- 
wicklungshemmenden Mitteln  —  Carbolsäure,  verdünnter  Schwefelsäure  u.  s.  w.  versetzt. 
Das  Verfahren  ist  unsicher.  —  Pasteur  ist  die  Abschwächung  des  Milzbrandes  dadurch 
gelungen,  dass  er  Milzbrandbacillen  bei  höherer  Temperatur  (42 — 43'')  züchtete  (24  Tage 
lang  I.  schwächerer  vaccin,  12  Tage  laug  II.  stärkerer  vaccin,  womit  er  Thiere  gegen 
subcutane  Impfung ,  nicht  aber  gegen  Fütterungsmilzbrand  immun  machte).  Je  höher 
die  Temperatur,  um  so  kürzer  braucht  sie  zu  wirken,  um  abzuschwächen,  über  45'^'  nur 
Stunden,  über  50°  nur  Minuten. 

Einwirkung  des  Sonnenlichts  (langsamer  auch  des  diffusen  Tageslichts),  erhöhter 
Druck,  comprimirter  0  und  COj   setzen  die  Virulenz  herab. 

Eine  Steigerung  der  Virulenz  wird  am  sichersten  und  raschesten  erzielt 
durch  Weiterzüchten  von  Bacterien  in  ihnen  zusagenden ,  sehr  empfänglichen  Thiergat- 
tungen, besonders  auch  jungen  Thieren.  oder  man  inficirt  das  betreffende  Thier  mehrmals 
hintereinander.  Es  gelingt  auch  die  Virulenz  zu  steigern  oder  manche  Thierarten  erst 
empfänglich  zu  machen ,  wenn  man  gleichzeitig  zwei  verschiedene  Bacterienarten  in 
die  Thierkörper  einführt ,  z.  B.  Tetanusbacillen  und  Bacillus  prodigiosus ,  Streptococcus 
und  Proteus  vulgaris;  Streptococcus  und  Diphtheriebacillus.  —  Werden  Streptococcus 
und  Bacillus  prodigiosus  zusammen  auf  künstlichem  Nährboden  gezüchtet,  so  steigert  sich 
die  Virulenz  des  Streptococcus. 

Die  Steigerung  der  Virulenz  bei  Fortzüchtung  im  lebenden  Organismus  ist  auch 
die  Ursache,  weshalb  Infectionen  direct  vom  kranken  Thier  oder  Menschen  (z.B. 
pyämische  Infectionen  der  Chirurgen  bei  Operationen)  meist  so  überaus  schwer  und  ge- 
fährlich sind. 

Die  Einwirkung  der  Bacterien  auf  die  Zellen  zeigt  sich 
als  Schädigung,  selbst  Nekrose  der  Zellen  und  meist  Entzündung.  Unter 
dem  Zusammenwirken    der    gestörten  Ernährung  .  der  Giftwirkung  und 


Schutzvorrichtungen.  —  Immunität.  57 

der  Lebeiisäussenuig-en  der  geschädigten  Zellen  entstehen  jene  merk- 
würdigen, zwischen  Tod  nnd  Leben  liegenden,  nekrobiotischen  Zell- 
formcD,  wie  die  Riesenzellen  ,  Mastzellen ,  epithelioiden  Zelleo  ,  Lepra- 
zellen 11.  s.  f.  neben  Stellen ,  wo  völliger  Tod  durch  die  Mikro- 
organismen hervorgerufen  ist.  Anderen  Mikroorganismen,  z.  B.  denen  der 
progressiven  Gangrän,  fallen  die  Zellen  des  Körpers  rettungslos  und 
sofort,  ohne  irgend  ein  Zeichen  des  Widerstandes,  einer  „Reaction'" 
zum  Opfer.  Andere  Male  hat  man  parenchymatöse  Degeneration,  Ver- 
flüssigung der  Zellen  u.  s.  w. 

Die  Schutz-  und  Abwehrmittel  des  Organismus  gegen- 
über den  Bacterien  sind  zahlreiche  —  locale  und  allgemeine. 

Locale  Gegenwehr  leistet  das  von  Bacterien  befallene  Gewebe 
in  der  reichlichen  Blut-  und  Lyniphdurchströmung,  wie  wir  sie  bei  der 
Entzündung  kennen  gelernt  haben.  Die  normale  Gewebsflüssigkeit, 
das  normale  Plasma  besitzt  hohe  bactericide  Eigenschaften ,  die  des 
entzündlichen  sind  noch  viel  stärker  (H.  Büchner). 

Dazu  kommt  die  bacterienvernichtende  Kraft  der  Gewebszellen 
und  weissen  Blutkörperchen,  die  Pbagocytose  (vergl.  pag.  26).  Durch 
adhäsive  Entzündung  (siehe  pag.  29)  und  Zellwucherungen  schliessen 
sich  die  benachbarten  Gewebe  gegen  weiteres  Eindringen  und  Vor- 
schreiten der  Bacterien  ab.  Ebenso  wird  ein  Theil  der  Mikroorganismen 
in  den  Lymphdrüsen  zurückgehalten ,  zerstört ,  abgekapselt  oder  nach 
aussen  entleert.  Allerdings  gibt  es  Bacterien  von  so  hoher  Virulenz 
(z.  B.  Rauschbrandbacillen) ,  dass  die  Gewebe  hier  keine  wesentliche 
Gegenwehr  zu  leisten  vermögen. 

Das  Blut,  besonders  das  Blutserum,  besitzt  hohe  bacterien- 
vernichtende Eigenschaften  ausserhalb  des  Organismus  und  im 
Körper.  Selbst  beträchtliche  Mengen  von  Eitererregern ,  durch  intra- 
venöse Injection  dem  Blute  beigemischt,  gehen  rasch  darin  zu  Grunde. 
Ebenso  geht  es  den  Bacterien ,  die  in  nicht  zu  grosser  Menge  aus 
den  Geweben  in's  Blut  übertreten. 

Ausser  der  Vernichtung  der  Bacterien  in  Säften  und  Geweben 
können  Bacterien  ausgeschieden  werden  (lebend  und  todt)  in  den 
Excreten  der  Drüsen  und  Schleimhäute  (Harn,  Koth,  Auswurf,  im  Schweiss 
(v.  Eiselsherg).  auch  durch  Abkapselung  können  sie  —  für  Zeit  oder 
immer  —  aus  der  Circulation  ausgeschaltet  und  dadurch  unschädlich 
werden.  (Dass  sie  lange  lebens-  und  entwicklungsfähig  im  Körper 
liegen  bleiben  können,  ist  auf  pag.  61  erwähnt.) 

Unter  den  allgemeinen  Schutzmassregeln  des  Körpers  (vom  Blut 
abgesehen)  ist  die  wichtigste  die  Immunität. 

Manche  Bacterien  vermögen  auf  bestimmten  Thiergattnngen  nicht 
zu  haften  und  zu  gedeihen,  so  ist  die  Feldmaus  nicht  empfänglich  gegen 
die  Mäu8ese])ticän)ic.  der  die  Hausmaus  olnie  AVeiteres  erliegt.  Es  ist  dies 
eine    ange])orene    natürliclie    Immunität  (LJncmpfänglichkeit). 

Es  ist  l)ekannt,  dass,  wer  gewisse  bacterielle  Krankheiten  (In- 
fectionskrankheitenj  einmal  überstanden  hat ,  nur  in  äusserst  seltenen 
Fällen  zum  zweiten  Mal  daran  erkrankt  und  auch  dann  meist  viel 
leichter,  als  das  erste  Mal  —  erworbene  natürliche  Immunität. 
Solche  Krankheiten  sind  u.  .\.  von  acuten  Infectionskrankheiten 
Masern,  Scharlach,  Pocken.  Keuchhusten,  von  chronischen  Syphilis.  In 
diesen  Fällen  dauert  die  Immunität  meist  durch  das  £:anze  Leben  des 


58  n.  Capite].  —  Die  Bacterioi. 

betreffenden  Individuums.  Eine  kurz  dauernde  Immunität  (Monate)  soll 
bei  Diphtlierie ,  Strepto-  und  Staphylokokkenkranklieiten ,  Cholera  zu 
beobachten  sein.  Gewisse  Infectionskrankheiten  —  in  erster  Linie  die 
Tuberculose  —  lassen  keinerlei  Unernpfänglichkeit  gegen  neue  Infection 
zurück,  im  Gegentheil,  die  Disposition  scheint  eher  zu  wachsen. 

Es  ist  selbstverständlich ,  dass  der  Arzt  bemüht  ist ,  die  Unem- 
pf'äng'lichkeit  künstlich  herbeizuführen,  künstliche  Immunität.  Die 
Erzeugung-  einer  künstlichen  Immunität  ist  das  Ziel  der  heutigen 
wissenschaftlichen  Therapie  der  bacteriellen  Erkrankungen.  Die  Wege, 
auf  denen  man  dieses  Ziel  zu  erreichen  suchte,  sind  sehr  zahlreich. 

Ein  selten  geübtes  Verfahren  ist,  sehr  geringe,  allmählich  an- 
steigende Mengen  von  Infectionserregern  einzuverleiben.  Hiedurch  ge- 
winnt der  Organismus  schliesslich  die  Fähigkeit,  auch  schweren,  sonst 
unbedingt  trjdtlichen  Infectionen  zu  widerstehen. 

Ein  oft  und  zum  Theil  mit  gutem  Erfolge  betretener  Weg  ist 
der,  durch  Einverleibung  abgeschwächter  Culturen  gegen  voll- 
virulente Infection  fest  zu  machen;  dies  gelingt  z.  B.  durch  Durch- 
schicken der  Mikroorganismen  durch  den  Körper  wenig  emjjfäng- 
licher  Thiere.  Auch  Fütterung  mit  Bacterien  hat  —  durch  Abschwäehung 
derselben  durch  die  Salzsäure  des  Magensaftes  —  gelegentlich  Immuni- 
sirung  erzielt. 

Die  älteste  erfolgreiche  Methode  auf  diesem  Gebiete  ist  die  Kuh- 
pockenimpfung  von  Jenner.  Die  Menschenpocken  werden  durch 
absichtliche  oder  unabsichtliche  Uebertragung  auf  das  weniger  empfind- 
liche Rind  abgeschwächt.  Wird  diese  abgeschwächte  Erkrankung  auf 
den  Menschen  übertragen ,  so  genügt  diese  durchgemachte  schw'ächere 
Erkrankung  meist,  ihn  gegen  die  echten  schweren  Menschenpocken 
unempfänglich  zu  machen.  So  lässt  sich  der  Schweinerothlauf  im 
Kaninchen  abschwächen  u.  A.  m. 

Auch  ausserhalb  des  Organismus  lassen  sich  Mikroorganismen  in 
der  (pag.  56)  erwähnten  Weise  abschwächen  und  dann  zu  Immunisirungs- 
versuchen  verwenden. 

Auch  durch  chemische  Mittel  hat  man  Immunität  erzielt ,  so  hat 
Behring  Meerschweinchen  und  Kaninchen  durch  Vorbehandlung  mit 
Wasserstoffsuperoxyd  immunisirt  gegen  Diphtherie,  ebenso  durch  locale 
Behandlung  der  Diphtherie  mit  Jodtrichlorid. 

Ein  anderes  Verfahren  bedient  sich  der  durch  Siedhitze  abge- 
tödteten  Culturen  oder  der  durch  Filtration  gewonnenen  sterilen  Bac- 
terienproducte.  Eine  eigentliche  Immunität  ist  so  bis  jetzt  wohl  kaum 
erzielt  worden,  nur  eine  gewisse  Gew()hnung  und  erhöhte  Widerstands- 
fähigkeit gegen  die  Toxine  und  die  3Iikroorganismen  (vergl.  Krebs- 
beb an  dlung). 

Besser  sind  die  Erfolge  bei  massiger  Erhitzung  (60—70"),  ob 
man  nun  nachher  filtrirt  hat  oder  nicht  {Smith  gegen  Schweineseuche, 
Roger  gegen  Streptokokken,  Fränkel  gegen  Diphtherie). 

Wirksame  Impf-,  respective  Immunisirungsstofte  sind  auch  durch 
Filtration  gewonnene ,  sterile  Körpersäfte  von  Thieren ,  die  der  be- 
treffenden Infection  erlegen  sind.  Bei  der  Pasteur'^Qh^n  AVuthimpfung 
werden    getrocknete    Organstücke    der   inficirten    Thiere  übertragen. 

Ueberaus  wichtig  für  die  praktische  Verwerthung  ist  die  von 
verschiedenen   Forschern  (NutaU- Flügge,   Fodor ,    Büchner)    gemachte 


Theorien  der  Immunität.    ■  59 

Entcleckmig"  gewesen,  dass  das  Blutserum  dieser  immunisirten  Thiere, 
andern  Tliieren  subcutan  injieirt,  diesen  auch  einen  gewissen  Grad  von 
Immunität  verleiht.  Praktisch  zum  Ausdruck  gekommen  ist  diese  Er- 
fahrung in  dem  Behrinfschen  Diphtherieheilserum,  dessen  Erfolge  nicht 
mehr  bezweifelt  werden  können. 

Auch  gewisse  Secrete  haben  immunisirende  Wirkung,  der  Harn 
(Behring)  und  die  Milch.  Gegen  Tetanus  immunisirte  Ziegen  über- 
trugen die  Immunität  auf  ihre  gesäugten  Jungen;  ja,  es  konnten  sogar 
aus  der  Milch  Schutzstoffe  isolirt  werden  (Ehrlich  und  Brieger). 

Ueber  die  Vorgänge  im  Organismus,  durch  welche  die  Immunität 
erzielt   wird  ,    ist  bis  heute  noch  keine  völlige  Klarheit  erzielt. 

Die  Krschöpfungstheorie  (Pasteur,  Klehs),  dass  die  specitischen 
Nährstoffe  der  betreffenden  Bacterien  im  Organismus  verbraucht  seien 
und  diese  deshalb  ihre  Existenzbedingungen  nicht  mehr  linden  können, 
dass  der  Boden  für  die  Bacterien  steril  wird,  ist  heute  aufgegeben. 

Ebensowenig  gilt  die  Theorie  Metschnikoffs,  der  annimmt,  die 
Leukocyten ,  vielmehr  Phagocyten,  würden  bei  der  Immunisirung  im 
Kampfe  gegen  die  Leukocyten  geübt. 

Chttiweau  hat  dann  die  sogenannte  Retentionstheorie  aufgestellt, 
dass  der  Körper  unter  dem  Einfluss  der  Immunisirung  Stoffe  bilde  und 
späterhin  zurückhalte ,  die  eine  Neuansiedlung  und  Entwicklung  von 
Bacterien  verhindern.  Erst  glaubte  man,  dass  zum  Zustandekommen  der 
Immunität  die  Ueberwindung  einer  Infection  mit  lebenden  Bacterien 
nothwendig  sei.  Aber  schon  Salomon  und  Smith  zeigten ,  dass  man 
Tauben  durch  Uebertragung  der  bacterienfreien  Stoffwechsel producte, 
also  auf  rein  chemischem  Wege  gegen  Schweinecholera  immunisiren 
kann.  Behring  und  Kitasato  zeigten  weiter,  dass  man  Thiere  durch 
innnunisirendes  Serum  nicht  nur  gegen  Infection  mit  Tetanusbacillen, 
sondern  auch  gegen  Intoxication  mit  den  Tetanustoxinen  unempfänglich 
machen  kann.  Ehrlich  zeigte  ferner,  dass  man  Thiere  auch  gegen 
Gifte,  die  nicht  von  Bacterien  herstammen ,  sondern  gegen  Pflanzen- 
gifte (Abrin,  Ricin)  „fest"  macheu  kann.  Daraus  hat  dann  Behring  den 
Schluss  gezogen,  dass  während  der  Immunisirung,  besonders  während  der 
tieberhaften  Reaction  sieh  Gegengifte,  Antitoxine,  „Antikörper"  bilden, 
welche  das  Gift  der  Bacterien  zerstören,  indem  Gift  und  Gegengift  sich 
zu  einem  für  den  Organismus  unschädlichen  Körper  verbinden. 

Hiegegen,  d.h.  gegen  die  Annahme  einer  directen  chemischen 
Neutralisation,  wendet  sich  BucJmer,  denn  ein  Gemenge  von  Tetanus- 
toxin  und  -antitoxin ,  das  Mäuse  intact  lässt ,  tödtet  noch  Meer- 
schweinchen. Er  nimmt  an,  dass  es  sich  nicht  um  Giftzerstörung, 
sondern  um  rasche  Immunisirung  handle. 

Gruher  glaubt,  dass  die  immunisirenden  Stoffe  die  Hülle  der 
Bacterien  verändern,  klebrig  machen  (deshalb  Glabriiicine  genannt)  und 
dass  die  Körpersäfte  dann  wegen  der  grösseren  Permeabilität  der 
Membran  die  Bacterien  leichter  abtödten  können. 

Vielleicht  liegen  bei  verschiedenen  Infectionen  verschiedene  Vor- 
gänge vor. 

Wenn  die  praktischen  Erfolge  des  Di))lithcricheilseruüis  /unächst 
mehr  zu  Gunsten  Biliriug's  zu  sprechen  scheinen,  so  sind  dafür  ge- 
wichtige experimentelle  Ergebnisse  nur  durch  die  Ih/r/ijirr'>^che  Theorie 
zu  verstehen. 


ßQ  II.  Capitel.  —  Dia  Biicterieti. 

Antitoxine  sind  auch  schon  verhältnissniässig  rein  dargestellt 
worden,  so  das  Tetanusantitoxin  als  weisses  Pulver  durch  Buchner. 

Schliesslich  darf  der  Praktiker  nie  die  Thatsaclie  vergessen,  dass 
wir  auch  durch  Einverleibung  klarer  chemischer  Körper  Infections- 
krankheiten  heilen  können  —  Malaria  durch  Chinin  und  Arsenik, 
Syphilis  durch  Quecksilber  und  Jod,  Tuberculose  durch  Zimnitsäure 
u,  A.  m. 

Dass  es  eine  Reihe  bacterienwidriger  und  bacterienvernichtender 
chemischer  Stoffe  —  Antiseptica  —  gibt,  werden  wir  bei  der 
Wundbehandlung  sehen. 

Mitunter  gelingt  es,  eine  Bacterienart  an  einem  Standort  durch  eine  andere  zu 
verdrängen.  So  kann  ein  Erysipel  einen  Lupus  (Tuberkelbacillen)  zur  Ausheilung 
bringen.  Emmerich  impfte  Thiere ,  welche  er  bereits  mit  Milzbrand  inficirt  hatte, 
einige  Stunden  nachher  an  derselben  Stelle  mit  Erysipelkokken,  das  Erysipel  kam  zum 
Ausbruche,  aber  der  Milzbrand  nicht,  während  die  nicht  mit  Erysipel  geimpften  Control- 
thiere  an  Milzbrand  starben.  Haben  nun  hier  die  Erysipelkokken  die  Milzbrandbacillen 
vernichtet  oder  hat,  was  nicht  unmöglich  ist,  die  die  Wundrose  begleitende  Entzündung 
so  gewirkt?  —  Dass  in  Nährlösungen  oft  ein  Pilz  den  andern  verdrängt,  darauf  hat  schon 
Nägeli  aufmerksam  gemacht.  In  Weinmost,  Traubenzuckerlösungen  wachsen  zunächst 
die  Sprosspilze  und  bilden  Alkohol.  In  diesem  entwickeln  sich  dann  die  Pilze  der 
Essiggährung,  deren  Wachsthum  bisher  von  den  Sprosspilzeu  zurückgedrängt  war.  Auf 
dem  Essig  gerathen  die  Schimmelpilze.  Haben  sie  die  saure  Reaction  der  Lösung  durch 
Aufnahme  der  Säure  neutral  gemacht ,  so  treten  die  Fäulnisspilze  hervor.  Es  kommt 
aber  auch  im  Menschen  vor ,  dass  ein  Pilz  dem  anderen  den ,  Nährboden  bereitet :  so 
scheinen  die  Streptokokken  sich  häufig  auf  und  in  den  durch  den  Diphtheriepilz  er- 
zeugten croupöseu  Pseudomembranen  zu  entwickeln  und  dann  in  den  Organismus  ein- 
zudringen. Manche  der  „septischen"  und  „pyämischen"  Formen  der  Diphtherie  mögen  dieser 
„Mischinfection"  ihre  Entstehung  verdanken. 

Für  praktische  Zwecke  ist  es  überaus  wichtig  zu  wissen,  auf 
welchem  Wege  die  Bacterien  in  den  Körper  gelangen,  die  Thore  und 
Wege  der  Bacterieninfection  zu  kennen. 

Die  gewissenhaften  Versuche  Meissner's,  welche  durch  Hauser's  nicht  minder 
exacte  Untersuchungen  bestätigt  wurden,  lassen  kaum  Zweifel  darüber  bestehen,  dass 
unter  normalen  Verhältnissen  Bacterien  —  wenigstens  Fäulnissbacterien  — ■  in  den 
thierischen  Geweben  nicht  enthalten  sind.  Die  Möglichkeit,  dass  rein  zufällig  einmal 
Fäulnissbacterien  oder  andere  in  geringster  Menge,  wie  sonstige  feste  Partikelchen,  Russ- 
stückchen u.  dergl.,  in  Gewebe,  Lj'mph-  oder  Blutbahnen  hineingelangen,  z.  B.  von  den 
Lungen  aus ,  ist  nicht  zu  leugnen.  In  den  obersten  Schichten  der  Darmschleimhaut, 
namentlich  im  Blinddarm ,  hat  Eibbert  Mikroorganismen  innerhalb  der  Epithelien  ge- 
funden, in  der  Submucosa  fehlten  sie.  Vielleicht  spielen  hier  die  Epithelien  die  Rolle 
der  Mefschnikoff'schen  Phagocyten. 

Die  Eingangspforten  sind  am  häufigsten  Wunden,  und  zwar 
vorwiegend  frische  Wunden.  Manche  Mikroorganismen ,  z.  B.  Staphylo- 
kokken, können  auch  in  die  unversehrte  Haut,  wenigstens  die  Drüsen- 
mündungen, eindringen,  indem  sie  zunächst  in  die  Drüsen  und  Follikel 
der  Haut  gelangen  und  von  hier  aus  in  die  Tiefe  gehen  (Garre).  Für 
andere  Infeetionskrankheiten  bilden  die  Schleimhäute,  namentlich 
des  Respirationstractus  und  des  Darms,  die  Haupteingangspforte.  Für 
wieder  andere  sind  es  die  Schleimhäute  der  Genitalien,  und  zwar  nicht 
blos  für  die  Bacterien  der  eigentlichen  Geschlechtskrankheiten ,  z.  B. 
des  Trippers ,  sondern  wahrscheinlich  auch  anderer  Infeetionskrank- 
heiten ,  der  Tuberculose ,  namentlich  bei  Frauen.  In  vielen  Fällen 
gehen  die  Bacterien  durch  Vererbung  von  der  Mutter  oder  selbst 
dem  Vater  auf  das  Kind  über  —  „hereditäre"  Syphilis  oder  Tuber- 
culose. 


Eingangspforten  und  Localisation  der  Baclerien.  gl 

Nach  zalilreiclien  Untersuchungen  bildet  die  Placenta  keinen 
sicheren  Schutz  für  den  Fötus  gegen  den  Uebertritt  von  Spaltpilzen; 
besonders  wenn  Blutungen ,  Epithelverluste ,  Entzündungen  vorhanden 
sind  (Birch- Hirschfeld).  Jani- Weigert  fanden  im  Sperma  Tuberculöser  — 
selbst  solcher  ohne  tuberculöse  Herde  in  den  Geschlechtsorganen  — 
Tuberkelbacillen.  Diese  Untersuchungen  sind  anderweit  bestätigt 
worden. 

Von  dem  Orte  der  Infection  gelangen  die  Bacterien  in  die  Lymph- 
bahnen und  von  da  in\s  Blut  und  circuliren  hier,  wenn  nicht  stets 
neue  Einbrüche  erfolgen,  nur  für  kurze  Zeit.  Dieses  Verhalten  ist  für 
einige  Bacterien  mit  Sicherheit  erwiesen  —  für  Tuberkelbacillen  bei 
allgemeiner  Miliartuberculose ,  für  Typhusbacillen,  für  Staphylokokken 
bei  fiebernden  Verwundeten;  für  alle  ist  es  wahrscheinlich  („Eruptions- 
stadien" der  Syphilis,  der  acuten  Exantheme  u.  s.  f.).  Schinimelbusch 
bat  gezeigt,  dass  schon  eine  halbe  Stunde,  nachdem  eine  frische  Wunde 
am  Schwanz  der  Maus  mit  Milzbrandbacillen  inficirt  war,  Bacillen  in 
der  Leber  zu  finden  waren. 

Nachdem  sie  im  Blute  circulirt  haben,  „localisiren"  sich  die 
Bacterien  an  verschiedenen  Stellen.  Leber,  Milz,  Knochenmark,  letzteres 
namentlich  beim  wachsenden  Thiere,  sind  besondere  Prädilectionsstellen 
für  die  massenhafte  Ablagerung  corpusculärer  Stoffe.  Es  scheinen  dies 
vorwiegend  Orte  mit  langsamerer  Circulation  oder  mit  engmaschigem 
Capillarnetz  (gewisserraassen  Sieb  mit  feinen  Poren)  zu  sein.  In  gleicher 
Weise  lagern  sich  diese  Stoife  an  solchen  Stellen  in  besonderer  Masse 
ab,  welche  schon  vorher  der  Sitz  von  Entzündungen  oder  Verletzungen 
gewesen,  deren  Circulation  also  gleichfalls  eine  gestörte  ist  (Schiiller). 
In  die  gesunden  Gewebe  übergetreten ,  geht  ein  grosser  Theil  der 
Bacterien  zu  Grunde  —  von  gewissen  stark  pathogenen  natürlich  abge- 
sehen, die  sofort  eine  schwere  Allgemeinerkrankung  heibeiführen.  Die 
Zeit,  innerhalb  welcher  diese  Vernichtung  erfolgt,  scheint  sehr  ver- 
schieden. Wyssoli-oivitsch  konnte  noch  nach  drei  Monaten  aus  der  Milz  die 
Sporen  von  Bacillus  subtilis  zur  Auskeimung  bringen.  Nach  Bibbert 
werden  —  vom  gesunden  Thiere  —  selbst  pathogene  Kokken ,  wie 
Staphylokokken,  in  reichlicher  Menge  eingespritzt  wieder  ausgeschieden. 
Aeusserst  beachtenswerth  sind  die  ferneren  Ergebnisse  Bibbert's  und 
Ortli's.  Sobald  im  Gefässsystem  eine  Verletzung  gesetzt  war,  eine 
Klappe ,  z.  B.  eine  Valvula  semilunaris ,  durchstossen  oder  auch  nur 
etwas  Intima  aI)gestossen  war  ,  so  vermochten  sich  hier  die  Bacterien 
anzusiedeln  und  brachten  schwere  Veränderungen  hervor.  Waren  seit 
der  Verletzung  3 — 4  Tage  verstrichen ,  so  dass  die  wunden  Stellen 
sich  inzwischen  wieder  mit  Endothel  hatten  bedecken  können,  so 
wurden  diese  Punkte  auch  nicht  mehr  angegritfen,  sondern  die  Mikro- 
organismen in  gewöhnlicher  Weise  ausgeschieden.  Injicirte  Bumm  in 
eine  gesunde  liarnblase  Staphylococcusculturen ,  so  wurden  dieselben 
wieder  ohne  Schaden  ausgeschieden.  AVar  die  Blase  vorher  mechanisch 
oder  chemisch  insultirt  oder  wurde  die  Harnentleerung  gestört,  so  ent- 
standen eitrige  Blasenentzündungen. 

Diese  Versuche;  und  Beo])achtungen  gewälireii  uns  einen  Einblick  in  die  Frage 
der  „Prädisposition".  AVie  bekannt,  kommt  es  oft  vor,  dass  von  zwei  Menschen, 
die  sich  derselben  Ansteckungsgefahr  aussetzen,  der  eine  erkra)ikt,  der  andere 
nicht.     "Wie   diese   Versuche   zeigen ,     bedarf   es   des   zeitlichen   Zusammentreft'ens    von 


62 


II.  Capitel.  —  Die  Hacffiriüii. 


Fig.  18. 


d 


Bacterieninvasion  und  einer  verletzten  oder  kranken  Stelle,  wo  sie  haften  können.  I.st 
dieses  unglückliche  Zusammentreffen  gerade  nicht  vorhanden  ,  so  wird  die  Ansteckung 
überwunden.  Dieses  interessante  Verhältniss  des  „Locus  minoi'is  resisti^ntiae",  wie  ein 
solcher  an  sicli  sclion  veränderter  und  für  weitere  Localisationen  besonders  begünstigter 
Fleck  genannt  wurde,  hat  Huber  genauer  beleuchtet.  Da  gesunde,  kräftige  Leute  solclie 
Punkte  seltener  und  in  geringerer  Zahl  aufweisen,  sind  sie  auch  den  meisten  Infections- 
krankheiten  gegenüber  weniger  prädisponirt ,  als  schwache,  die  schon  vorher  irgendwo 
krank  sind. 

Localisiren  sich  die  Bacterien  an  einem  l)estimmten  Punkte .  so 
vermehren  sie  sich  daselbst  und  bilden  Colonien.  Eine  junge  Strepto- 
kokkencolonie  in  der  Niere  ist  in  Fig.  18  zu  sehen,  wo  auch  die  De- 
generation des  Nierengewebes  deutlich  ist.  Wo  die  Mikrokokken  fmj 
liegen,  sind  die  Epithelien  zerfallen  zu  undeutlich  l)egrenzten,  körnigen 

Massen  (d),  die  Kerne  fehlen  ganz  oder 
sind  kaum  noch  zu  erkennen.  Einige 
weisse  Blutzellen  zeigen  den  Beginn  der 
Entzündung.  Das  übrige  Nierengewebe  — 
im  unteren  Theil  der  Abbildung  —  ist 
intact  (Hartn.  Obj.  8,  Oc.  IV).  Verbreiten 
sich  die  Mikroorganismen  in  der  Wand 
der  Blutgefässe  und  gelangen  in  das 
Innere  der  Gefässe,  so  können  sie  fort- 
geschwemmt werden ,  allein  oder  mit 
Blutgerinnseln,  die  sich  unter  ihrem  Ein- 
fluss  gebildet  haben.  So  entstehen  auf 
embolischem  Wege  neue  und  wieder  neue 
Localisationen  und  entsprechend  der  Zahl 
derselben  wird  die  Krankheit  durch  diesen 
Einbruch  in 's  Gefässsystem  schliesslich 
„generalisirt".  (Vgl.  pag.  18.) 

Für  die  Behandlung  von  Bac- 
terieninvasionen  des  Körpers  sind  schon 
auf  pag.  57  eine  Reihe  von  Winken  gegeben.  Wo  uns  sogenannte 
Specitica  (Quecksilber  und  Jod  gegen  Syphilis,  Chinin  bei  Malaria, 
Salicylsäure  gegen  Gelenkrheumatismus  u.  s.  w.)  nicht  zur  Verfügung 
stehen,  wo  die  immunisirenden  Methoden,  die  Antitoxine  im  Stiche 
lassen ,  wo  eine  mechanische  Entfernung  durch  Incision  oder  Aus- 
kratzung nicht  möglich  ist ,  besitzen  wir  nur  in  Mitteln ,  welche  den 
Kreislauf  heben  und  damit  die  Ausscheidung  und  Vernichtung  der 
Bacterien  befördern,  Hilfe.  In  erster  Linie  ist  hier  eine  energische 
Balneotherapie  zu  nennen,  ebenso  Hydrotherapie  (Schwitzbäder  u.  s.  f.). 
Manche  Mittel ,  welche  die  Oxydationsvorgänge  im  Organismus  be- 
schleunigen oder  erhöhen ,  so  namentlich  Arsenik ,  werden  bei  chro- 
nischen Infectionen  gelegentlich  mit  Nutzen  verwerthet. 

Die  wissenschaftliche  Bacteriologie ,  die  Reinzüclitung  von  Bacterien  ist  ganz 
besonders  durch  B.  Koch  auf  ihre  heutige  Höhe  gebracht  worden.  Schon  Pasteur  war 
es  gelungen,  durch  Weiterzüchtung  in  geeigneten  Thierkörpern  „Eeinculturen"  zu 
erhalten,  wo  nur  Individuen  einer  Art  sich  fanden.  AVeniger  sicher  gelang  die  Isolirung 
einzelner  Arten  aus  Nährlösungen  (Nährbouillon,  weniger  geeignet  Pil'anzensäfte  u.  dergl.), 
wenngleich  diese  zur  Weiterzüchtung  einmal  gewonnener  Eeinculturen  sich  gut  eignen. 
Die  Schwierigkeit  war  beseitigt,  als  Koch  den  festen  Nährboden  erfand  durch 
Zusatz  erstarrender  Stoffe  (Gelatine,  Agar)  zu  den  Nährflüssigkeiten.  Die  Bacterien- 
mischung  wird  dem  durch  leichtes  Erwärmen  verflüssigten  Nährboden  zugesetzt,  durch 
vorsichtige  Bewegungen   wird    gemischt   und    die    Flüssigkeit   dann   auf   eine    Glasplatte 


Züclitunss  verfahren . 


63 


ausgegossen,  wo  die  Gelatine,  durch  Eis  gekühlt,  rasch  erstarrt.  Aus  jedem  einzelnen 
Mikroorganismus  wächst  nun  bei  dieser  Plattencultur  eine  Colonie  heran  (vergl.  Fig.  19). 
aus  der  mit  geglühter  Platinöse  die  gleichartigen  von  einem  Mutterbacterium  abstammenden 
Bacterien  entnommen  und  weiter  auf  andere  Nährböden  übertragen  werden  können. 

Fig.  20  und  Fig.  21   zeigen   kleinere    und   grössere  Colonien   von  Staphylococcus 
(Eitercoccus),  die  im  Begriffe  sind,  die  Gelatine  zu  verflüssigen. 

Fig.  19. 


Gelatineplatte  mit  verschiedenen  Inseln. 

Die  Weiterzüchtuug  kann  nun  auf  festem  Nährboden  stattfinden  —  z.  B.  in  Rea- 
gensrohrchen.  die  Gelatine,  Glycerinagar  enthalten,  oder  auf  sterilisirten  Kartoil'elhälften 
oder  -Scheiben  (siehe  Fig.  22)  (Kartolfelcultur  des  Micrococcus  tetragenus,  nach  Schenlc) 
oder  in  flüssigen  Nährböden  (Bouillon  u.  s.  w.).  Weiteres,  sowie  Abbildungen  verschiedener 
Cultuien,  Besonderheiten  des  Wachsthums  der  einzelnen  Bacterienarten  ist  bei  acciden- 
tellen  Wundkrankheiten,  Eiterung,   Tuberculose  u.  s.  w.  nachzusehen. 


Fig.  20. 
Kleinste  Inseln 


Grössere  Insel 


Aeltere  Insel 
in  der  Mitte 
verflüssigend 


Fig.  21. 


Inseln  vom  .staphylococcus  pyogenes  aureus  auf  der  Gelatinoplatte. 


Auch  die  Spross-fHefe-)  und  Schimmelpilze  .sind  im  Stande. 
Krankheiten  l)cim  ^lenschen  /,u  erzeui^-en.  Diese  Pilze  —  den  Bacterien 
im  Bau  und  liesonders  in  ihrer  Entwicklung  fernstehend  —  gehören  zu 
den  chloroi)hylllosen  Thallophyten. 

Die  Sprosspilze  (Saccharomyces  cerevisiae  etc.),  die  Erreger  der 
Alkoholgährung,  finden  sich  in  den  olicrn  Theilen  des  menschlichen 
Darmcanals  als  harmlose  Sapro])hyten ,  doch  hat  Busse  eine  unter 
einem  der  Pvämie  älinlichen  Bilde  zum  Tode  führende  Sprosspilz- 
crkraukuiig  lieschrieben  (Naturf.-Vers.  1895).     Es  sind  ovale,    oft    Va- 


64 


II.  Capjtel.  —  Die  Bacterieii. 


cuolen  (Höhlen)  enthaltende  Zellen,  die  sich  durch  KnoBpung  (Sprossung) 
vermehren  (vergl.  Vig.  23). 

Heute  wird  auch  der  im  Munde  und  Rachen  atrophischer  Kinder 
und  Greise  weisse  Ueberzüge  und  aphthöse,  oft  nicht  ungefährliche 
Entzündungen  erzeugende  Soorpilz  (Monilia  Candida,  Mycoderma  al- 
bicans) zu  den  Hefepilzen  gerechnet  [(Flaut)  vergl.  Fig.  24|.  Früher 
wurde  er  als  Oidium  albicans  zu  den  Schimmelpilzen  gestellt.  Dieser 
pathogene     Sprosspilz     vermag     nicht    nur    in     die    Schleimhaut    des 


Pig.  22. 


Fig. 


Sprossverband  (Knospung) 


Mutterzelle 


_-    Vacuole 


Kartoffelcultur  des  Micrococcus 
tetragenus  conoentricus. 


Hefezellen  (Saccharomyces  cerevisiae). 
goofach  vergrössert. 


Mundes    einzudringen ,    er   macht   auch   gelegentlich    innere  Metastasen 
in  den  Nieren   (Schmorl). 

Die  Schimmelpilze  haben  für  den  Chirurgen  eine  geringe  Be- 
deutung. Ich  habe  allerdings  fest  anhaftende  Schimmelvegetationen  von 
Aspergillus  glaucus  (vergl.  Fig.  25)  auf  den  Zehen  gesehen,  ebenso 
linden  sie  sich  gelegentlich  im  Gehörgang,  in  Lungencavernen  u.  s.  w\ 
Für  gewöhnlich  rein  saprophytisch  auf  der  Oberfläche  des  menschlichen 
Körpers  vegetirend ,  haben  sie  doch  in  seltenen  Fällen  auch  in  den 
Kreislauf  einzudringen  vermocht  (Bibbert)  und  sind  in  Gehirnabscessen 
(Zenker^  Paltauf)  gefunden  worden.    Die  Eintrittspforte  war  der  Darm. 


Fig.  2i 


Fig.  24. 


Sterigmen  mit  Sporen 
Fruchtkopi 


Conidien 


Faden 
Soorpilz  (Monilia  Candida). 


Hyphe 


Mycel 


Aspergillus  glaucus. 


Eine  weitere  Gruppe  —  die  Faden pilze  —  sind  die  Erreger 
von  Hautkrankheiten.  So  ist  das  Achorion  Schönleinii  der  Erreger 
des  Favus  (Stägige  Cultur  auf  Rinderblutserum)  in  (Fig.  26  nach 
Plaut).  Das  Trichophyton  tonsurans  (vergl.  Fig.  27)  ist  der  Erreger  des 
Herpes  tonsurans  u.  s.  w.  Der  Madurafuss  (s.  diesen)  soll  gleichfalls  durch 
einen  Fadenpilz  bedingt  sein  (Chionyphe  Carteri). 

Die  Protozoen  (Protisten),  niederste  schmarotzende  Thiere,  aus 
einer  kernhaltigen  Zelle  bestehend,  lenken  zur  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
mehr  auf  sich,  als  bisher,  seitdem  es  nicht  mehr  angezweifelt  werden 


Protozoen. 


65 


karm,  dass  sie  Krankheiten  beim  Menschen  und  Tbier  erzeugen 
können.  Vier  Classen  kommen  in  Betracht:  Rhizopoden,  Infusorien, 
Sporozoen  (Gregarinen)  und  Plasmodien. 

Von  den  Rhizopoden  finden  sich  die  Amöben  (einzellige,  kern- 
haltige Gebilde  aus  weichem ,  pseudopodienaussendendem  Protoplasma) 


Fig.  26. 


Fig.  27. 


Segmentirter 
Schlauch 
(8.  Tag) 


Mycelschläuehe  des  Trichophyton  tonsurans  aus   einer 
Beincnltur  auf  Malzaufguss. 


> 


fi'fi 


1^ 


Malari  aplasmodi  en . 
Halbmondförmige,  sichelförmige  Körperchen  und  freie 
geisseltragende  Körperchen   (nach  Jaksch). 


Nenn  Tage  alte  Strichcultur  des  Favus- 
pilzes  auf  Rinderblutserura  (nach  Plaut). 


als  harmlose  Schmarotzer  im  Darm,  aber 
auch  als  Erreger  der  (Amöben)  Dysenterie 
(Ruhr).  A  uch  in  Leberabscessen  sind  zwei- 
mal Amöben  gefunden  worden  (Grimm). 
Von    den  Infusorien    findet  man 
geissei-  und  wimpertragende  Formen  harm- 
los schmarotzend  in  Darm ,  Scheide  etc. 
(Trichomonas  vaginalis,    intestinalis). 
Wichtiger  sind  die  Sporozoen  oder  Gregarinen,  die  bei  Thieren 
nachgewiesenermassen  Krankheiten  machen ,   so    erzeugen  sie   die  Coc- 
cidiengescliwnlst  des  Kaninchens,   die  Eisballengeschwulst  des  Pferdes, 
die  J/^.vrAer'schen  Schläuche  in  den  Muskeln  der  Schafe  u.  s.  w. 

Jung  sind  es  hüllenlose,  vermuthlich  kernhaltige  Protoplasma- 
kliimpchen,  die  in  Epithelien  schmarotzen.  Nachher  bildet  sich  eine  Hülle 
und  die  Sporozoen  verlassen    dann  ihre  Stätte.    Später   ballt    sich   das 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Theraiiie.  2.  Aufl.  5 


66 


IL  Caiiitel.  —  Die  Bactoriun. 


Protoplasma  zu  vier  Sporocystcji  zusammen,  in  diesen  bilden  sich  kuglige 
oder  ovale  Sporen,  die  je  zwei  sichelförmige  Keime  enthalten. 

Durch  reactive  Entzündung'  seitens  des  befallenen  Gewebes,  die 
sich  besonders  als  Bindegewebsentwicklung ,  Ein-  und  Abkai)sclungs- 
versuche,  bisweilen  mit  Verkalkung  darthun,  können  förmliche  Ge- 
schwülste entstehen. 

Beim  Menschen  soll  das  Molluscum  contagiosum  und  das  Carci- 
nom  (?)  nach  L.  Pfeifer  auf  Sporozoeninvasion  beruhen  (siehe  Neul>il- 
dungen),  ebenso  die  sogenannte  Pagefs  Disease  of  the  nipple. 

Fig.  29. 


3  4 

Protozoen  aus  der  Niere  der  Gartenschnecke. 

1  Nierenzelle,  eia  kernhaltiges  Plasmodium  von  Klossia  helicina  einschliessend. 

2  Sporen haltige  Cyste  desselben  Parasiten  in  hochgradig  vergrösserter  Nierenzelle. 

3  Encystirte  Klossia  (Kern  nicht  erkennbar).    4  Spore  mit  Keimen  (links)  und  freie 

sichelförmige  Keime  (rechts). 


Kaum  mehr  anzuzw^eifeln  ist,  dass  die  Malaria  auf  der  Anwesen- 
heit von  Plasmodien  im  Blute  beruht. 

Als  Beispiel  einer  auf  Protozoen  beruhenden  menschlichen  Krank- 
heit sei  Fig.  28  (Malariaplasmodien ,  nach  Jaksch)  hier  mitgetheilt  — 
halbmondförmige  und  sichelförmige  Körperchen ,  mit  einem  die  Farbe 
leicht  aufnehmenden  äusseren  Theil  (Ectoplasma)  und  einem  inneren, 
wenig  leicht  zu  färbenden  (Entoplasma),  das  kernhaltig  ist;  daneben 
freie    geisseltragende  Körperchen. 

Fig.  29  nach  Birch-Hirschfeld  zeigt  Protozoen  aus  der  Niere 
der  Gartenschnecke.  1.  Eine  Nierenzelle,  ein  kernhaltiges  Plasmodium 
enthaltend  (Klossia  helicina).  2.  Sporenhaltige  Cyste,  Nierenzelle  sehr 
vergrössert.  3.  Encystirt  (Kern  nicht  mehr  sichtlDar).  4.  Keimhaltige 
Spore  und  rechts  die  freien  sichelförmigen  Keime. 


III.  Capitel. 

Verletzungen. 

Wundheilung. 

Klaffen  der  Wunde.  —  Blutung.  —  Heilung  per  primam  reunionem.  —  Die  ver- 
schiedenen Arten  der  Heilung  per  secundam  intentionem.  —  Granulationsbildung 
und  Ueberhäutung.  —  Organisation  des  Blutgerinnsels.  —  Heilung  unter  dem 
Schorf.  —  Verklebung  der  Granulationen.  —  Wunden  gefässloser  Theile  (Cornea, 
Knorpel).  —  Regeneration  (Muskeln,  Nerven,  Sehnen,  innere  Organe).  —  Die  Narbe 
und  ihre  weiteren  Veränderungen.  —  Krankheiten  der  Granulationen.  —  Besondere 
Arten  von  W^unden  (Hieb-,  Lappenwunden  u.  dergl.). 

Der  Cliii'urg  muss  die  Vorgänge  der  Wundheilung  genau  kennen, 
wenn  er  in  der  chirurgischen  Praxis  nicht  als  müssiger  Beobachter  der 
Heilung  der  Wunden  zuschauen ,  sondern  sie  mit  kundiger  Hand  zu 
bestimmten  Zielen  leiten  will. 

Nehmen  wir  den  einfachsten  Fall,  eine  frische  Schnittwunde, 
die  ohne  Substanzverlust  Haut,  Unterhautzellgewebe  bis  in  die  Muscu- 
latur  glatt  durchtrennt ,  im  Gesicht  oder  auf  dem  Kopf.  Das  Erste, 
was  man  beobachtet,  ist  das  Klaffen. 

Die  Ursaclie  des  Klaffen s  ist  sehr  einfach.  Die  meisten  Theile  des  Körpers 
sind  in  ihrer  Zusammenfügung  über  ihre  elastische  Ruhelage  hinaus  gedehnt  und  treten 
deshalb ,  wenn  sie  getrennt  werden ,  auseinander.  Der  Grad  des  Klaffens  der  Haut  ist 
ein  verschiedener.  Muskeln  klarten  Immer  stark,  am  meisten  solche  mit  langen  Sehnen. 
Durch  einen  Säbelhieb  am  Handgelenk  durchtrennt,  treten  die  Sehnenenden  der  Vorder- 
armmuskeln oft  6 — 8  Cm.  und  mehr  auseinander.  Frisch  durchschnittene  Nerven  weichen 
zunächst  nur  wenig  auseinander,  doch  ziehen  sie  sich  später  oft  stark  zurück.  Knorpel 
und  Knochen  klarten  gar  nicht.  Fett  quillt  oft  stark  über  die  Wunde  hervor.  Bei 
mageren  Personen  klarten  die  Wunden  überhaupt  weniger. 

Die  zweite  wichtige  Erscheinung  ist  die  Blutung.  Entsprechend 
den  verschiedenen  Arten  von  Gefässen  sind  drei  Arten  von  Blutungen 
zu  unterscheiden  —  arterielle  —  im  Strahle,  dem  Pulse  isochron 
vermehrt,  spritzt  hellrothes  Blut  aus  den  Arterien.  Bei  venöser 
Blutung  (piillt  das  Blut  schwarzroth ,  unter  geringem  Drucke  ziemlich 
gleichmässig  aus  der  Wunde  hervor;  bei  der  parenchymatösen  oder 
capillären  i.st  es  ein  Hervorsickern  aus  kleinen  und  kleinsten,  kaum 
sichtbaren  Oetfnungen,  Capillären  und  kleinen  Venen,  wie  aus  den 
Poren  eines  Schwammes.  Die  Farbe  des  Blutes  steht  der  venösen  Be- 
schatfenheit  näher  als  der  arteriellen. 

Es  ist  eine  jedem  Laien  geläufige  Erfahrung,  dass  die  Menge 
des  sich  ergiessenden  Blutes  l)ald,  auch  ohne  äusseres  Zuthun,  abnimmt, 
meist  ganz  versiegt.    Am  wenigsten  ist  bei  arterieller  Blutung  Aussicht 


(38  III.  Capitel.  —  Verletzungen. 

auf  spontanes  Aufhören  der  Blutung-.  Doch  ist  es  nicht  selten,  dass 
selbst  aus  Gefässen  von  der  Stärke  einer  Arteria  radialis,  die  Blutung 
schliesslich  von  selbst  zum  Stehen  kommt.  Arterielle  Blutungen  ver- 
langen die  rasche  Hilfe  des  Arztes  (siehe  Blutstillung).  Venöse  und 
capilläre  Blutungen  kommen  leicht  durch  comprimirende  Verbände,  Kälte, 
hohe  Lage  des  verletzten  Theiles  u.  dergl.,  auch  von  selbst  ohne  jedes 
Zuthun  zum  Stehen, 

Durchschnittene  Arterien  retrahiren  sich  vermöge  ihrer  Längs- 
musculatur  stark,  das  Lumen  tritt  dadurch  in's  Gewebe  zurück.  Indem 
dieses  aufquillt  und  sich  wie  eine  Art  Deckel  darüberlegt ,  wird  dem 
ausfliessenden  Blut  der  Austritt  erschwert.  Mit  der  Durchschneidung 
des  Gefässes  fällt  die  erweiternde  Wirkung  der  Längsmusculatur  weg, 
die  Ringmusculatur  vermag  nun  ohne  Widerstand  zu  wirken  und  durch 
ihre  Contraction  das  Gefäss  vollends  zu  verschliessen.  Anämie  reizt 
zudem  die  Ringmuskeln  zur  Zusammenziehung.  Durch  diese  Momente 
kommt  die  Blutung  aus  kleinen  und  mittleren  Arterien  zum  Stehen.  Grosse 
Arterien  sind  zu  unterbinden. 

Bei  den  Venen  sind  dieselben  Kräfte  thätig.  Wenn  die  Gefäss- 
muskeln  schwächer  sind ,  ist  auch  der  Blutdruck  in  ihnen  geringer. 
Die  Annahme ,  dass  bei  durchschnittenen  Venen  die  Blutung  aufhöre, 
weil  die  vis  a  tergo  fehle,  wenn  die  zugehörigen  Arterien  durchschnitten 
seien,  ist  bei  der  Leichtigkeit  collateralen  Zuflusses  nicht  haltbar. 

Das  Verquellen  des  Gewebes  wirkt  auch  mit  für  die  spontane 
Stillung  der  Blutungen  aus  Capi Ilaren.  Auch  diese  retrahiren  sich 
und  umso  leichter  wird  die  in's  Gewebe  zurückgetretene  Lichtung  ver- 
legt. Als  weiteres  Moment  für  den  Verschluss  der  Capillaren  kommt 
hinzu  die  Quellung  der  Endothelien  an  der  durchschnittenen  Stelle. 
Eine  einzige  Endothelzelle  vermag  durch  ihre  Anschwellung  das  Lumen 
unwegsam  zu  machen. 

Auch  die  Blutgerinnung  (siehe  pag.  13)  wirkt  als  ein  w^esent- 
liches,  aber  nicht  zu  überschätzendes  Moment  bei  der  Blutstillung  mit. 

Der  Wundschmerz  einer  frischen  Wunde,  meist  ein  Gefühl  von 
Brennen,  ist  bei  normalem  Verlauf  in  einigen  Stunden  wieder  verschwunden. 

Nehmen  wir  an ,  die  Wunde  sei  genau  vereinigt ,  ein  Wundrand 
sei  angeschmiegt  an  den  andern ,  kein  fremder  Körper ,  kein  Blut- 
gerinnsel liege  dazwischen.  Jetzt  beginnen  die  Processe,  die  zur  Heilung 
der  Wunde  führen. 

Die  mit  blossem  Auge  zu  verfolgenden  Vorgänge  an  einer  asep- 
tisch, d.  h.  ohne  Entzündung  und  ohne  Störung  und  durch  erste  Ver- 
einigung (per  primam  intentionem,  p.  p.  i.)  heilenden  Wunde 
sind  wenig  in  die  Augen  fallend.  Die  der  Wunde  benachbarten  Theile 
sind  etwas  härter ,  leicht  infiltrirt ,  ebenso  die  Wundränder  und  Um- 
gebung im  geringen  Grade  geschwollen,  aber  mehr  ödematös  als  ent- 
zündlich, nicht  geröthet,  eher  blässer  als  sonst.  Die  Ursache  dieser 
Erscheinungen  ist  die  (übrigens  unbedeutende)  Circulationsstörung  durch 
den  Verschluss  zahlreicher  Gefässe  und  die  Schädigung  der  Gewebe 
unmittelbar  durch  die  Verletzung.  Die  Wundspalte  erscheint  als 
schmaler  Graben ,  bedeckt  von  einem  Streifen  geronnenen  Blutes. 
Dieses  ist  weich  bei  einem  für  Feuchtigkeit  undurchlässigen  Verband  ; 
zum  „Schorf"  oder  zur  Kruste  vertrocknet,  wenn  die  im  Coagulum 
enthaltene  Flüssigkeit  frei  verdunsten  kann. 


Heilung  p.  p.  i.  —  Primäre  Wundverklebung.  ß9 

Ueber  die  Art  und  Weise  der  ersten  Verklebuiig-  von  Wund- 
flächen, besonders  über  den  Stoff',  der  frische  Wunden  in  den  ersten 
Stunden  zusammenhängt,  ist  man  auch  heute  noch  nicht  völlig-  im 
Klaren.  Die  Ansicht  Hunter's,  dass  das  geronnene  Blut  die  Wunde  verklebe 
und  dass  aus  ihm  die  dauernde  Narbe  sich  aufbaue ,  ist  heute  völlig- 
verlassen.  Zvrischen  die  Wundflächen  ergossenes  Blut  ist  im  Gegentheil 
der  Vereinigung  in  hohem  Grade  hinderlich  und  eine  der  häufigsten 
Ursachen  des  Ausbleibens  rascher  Verklebung.  Die  meisten  Autoren 
(Zieghr-Krafft)  fanden  fast  ausnahmslos  zwischen  den  Wundflächen 
eine  —  oft  allerdings  sehr  schmale  — •  Fibrinschicht  als  Bindemittel 
eingelagert.  Woher  das  Fibrin  kommt ,  aus  geronnenem  Blut ,  zer- 
fallenen Leukocyten,  ob  durch  Zerfall  des  verletzten  Gewebes  selbst, 
steht  noch  dahin. 

Nach  Thierscli's  Ansicht  ist  es  das  gequollene  Gewebe  selbst, 
namentlich  das  mit  Blut  und  Plasma  durchtränkte  Bindegewebe  (Fig.  31 «, 
32  cj,  welches  sich  unmittelbar  verklebt  (etwa  wie  zwei  heisse  Siegel- 
lackstangen, die  sich  aneinanderlegen).  Dass  ein  solches  unmittelbares 
Aneinanderkleben  und  Verwachsen  von  Wundflächen  —  ein  zuerst  von 
Maccartney  aufgestellter  und  von  ihm  immediate  reunion  genannter 
Heilungsmodus  —  wirklich  vorkommt,  ist  in  neuerer  Zeit  von  Graser 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  27)  festgestellt  worden,  wenn  auch  nur 
für  einzelne  Theilstrecken  von  Wunden.  Auch  Busse  (Virchow's  Arch.,  134) 
vertritt  diese  Ansicht. 

Mikroskopisch  zeigen  an  einer  frischen  Schnittwunde  der 
Weichtheile  einige  Stunden  nach  der  Verletzung  die  Gewebe  entlang  der 
Wundspalte  V  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g-  e  n  d  e  g  e  n  e  r  a  t i  v  e  r  N  a  t  u  r .  Die  Bindegewebs- 
fibrillen  sind  unregelmässig-  in  ihrer  Form,  aufgequollen  und  mit  Blut- 
farbstoff (grünlich)  durchtränkt.  Hin  und  wieder  liegen  Blutkörperchen, 
in  Häufchen  oder  Streifen ,  zwischen  den  Fasern  des  Unterhautzell- 
gewebes (Fig.  31 6').  Die  durchschnittenen  Muskelfasern  haben  sich 
zurückgezogen  in  die  zum  Theil  leeren  zusammengefalteten  Sarcolemm- 
schläuche  (Fig.  Slg).  An  einzelnen  Stellen  sind  Schollen  von  Muskel- 
substanz ausgetreten,  deren  Querstreifung  undeutlich  geworden  und  die 
statt  dessen  einen  eigenthümlichen  CoUoidglanz  zeigen.  An  injicirten 
Präparaten  sieht  man,  wie  die  in  die  Gewebe  zurückgetretenen  Gefässe 
sich  zu  konischen  Spitzen  zusammengezogen  haben  und  einen  Thrombus 
meist  nicht  enthalten  (Fig.  30  a).  Die  Kerne  der  der  Wunde  benach- 
barten Gewebe  färben  sich  schlecht  oder  gar  nicht,  können  auch  ganz 
verschwunden  sein;  die  Zellen  sind  plump  und  gequollen.  Daneben 
sind  weisse  Blutzellen  zunächst  in  kleiner  Anzahl  in  die  Gewebe 
eingesprengt,  jedoch  lange  nicht  so  zahlreich,  wie  bei  Entzündungen. 
Bei  ganz  aseptischen ,  nicht  misshandelten  Wunden  können  Leuko- 
cyten auf  grössere  Strecken  ganz  fehlen.  Hin  und  wieder  findet  sich 
auch  körniger  Detritus  u.'  dergl.  Diese  Veränderungen  der  Gewebe  (mit 
Ausnahme  der  Leukocyten)  sind  die  P^olge  unmittelbarer  Beschädigung 
durch  die  Verletzung.  Selbst  das  schärfste  Messer  trennt  nicht,  ohne  zu 
quetschen  und  zu  zertrümmern. 

Die  A\'unds palte  sell).st  bietet  keineswegs  überall  das  gleiche 
Bild.  An  einzelnen  Stellen  sind  die  durchtrennten  Theile  so  eng  an- 
einandergefügt, dass  von  Zwischensubstanz  nicht  viel  zu  sehen  ist 
(Fig.  32).  Die  ge(|Uollenen,  grünlich  gefärbten  Gewebstheile  liegen  fast 


70 


IJI.  ('ai)itcl. 


ViTlct/.nii^rcn. 


unmittelbar  aneinander.  Nur  spärliche  rothe  und  noch  weniger  weisse 
Blutkörperchen  liegen  zwischen  ihnen  und  sind  seitlich  etwas  noch  in 
die  Gewebsspalten  eingesprengt.  Wir  haben  hier  den  Vorgang  der 
immediata  reunio  (Verklebung  ohne  Zwischensubstanz)  vor  uns.  An 
einzelnen  Stellen  von  Wunden  kann  man  diesen  Process  wohl  beob- 
achten, entlang  grösserer  Wnndspalten  ist  er  noch  nicht  beobachtet 
(vergl.  Graser  1.  c). 

Fig.  30.  Fig.  31. 


V 


i 


Fig.  30.  Injectioii  einer  5  Stunden 
alten  Wunde  der  Zunge  des  Meerschwein- 
ohens  (nach  TJiiersclt)  zeigt  bei  a  und  a' 
ein  Gefäss ,  in  welchem  ein  in  Alkohol 
geschrumpfter  Carminleimpfropf  enthalten 
ist.  Die  stachlichen  Fortsätze  dieser  Masse, 
ebenso  wie  der  Inhalt  des  Gefässes  h  standen 
in  unmittelbarer  Verbindung  mit  den 
feinsten  Streifen  c,  c  von  Injectionsmasse, 
Avelche  zwischen  den  Zellen  d,  d  der  Wund- 
spalte liegen.  Bei  e  Muskelfasern  mit  nor- 
malen Capillaren. 

Auffallend  contrastiren  mit 
solchen  Stellen ,  wo  schon  nach 
2J:  Stunden  die  Trennungsstelle 
kaum  zu  finden  ist,  andere,  wo 
die  Wundränder  auseinandergewichen  oder  vielmehr  nicht  vereinigt  worden 
sind.  Hier  liegt  eine  Lache  von  rothen  Blutkörperchen  dazwischen,  von 
feinsten  Fibrinfäden  durchzogen  und  zusammengehalten ,  dazwischen 
spärliche  weisse  Blutzellen.  Das  ergossene  Blut  drängt  sich  hier  und  dort 
zwischen  die  Weichtheile  hinein. 

Interessant  ist  es,  das  Verhalten  der  Gefässe  an  iuji- 
cirten  Präparaten  zu  studiren.  In  einiger  Entfernung  von  der  Wund- 
spalte hören  die  Gefässe  auf,  d.  h.  die  Injectionsmasse  macht  Halt,  in 
grösseren  Gefässen  endigt  dieselbe  oft  mit  kolbiger  Anschwellung,  der  Stelle 
entsprechend,  wo  das  Gefäss  sich  verschlossen  hat  (Fig.  30  a).    Durch 


Primäre  Wundverklebiing. 


71 


die  Gefässwand  hindurch  setzen  sich  jedoch,  namentlich  von  Capillaren 
aus,  feinste  Strömchen  von  Injectionsmasse  fort,  welche  sich  anscheinend 
in  den  Räumen  zwischen  den  Gewebsbestandtheilen ,  den  Intercellular- 
lücken   verbreiten ,    die   Wundspalte   durchsetzen   und    so    ein   System 

"lefnster  communicirender  Röhren  darstellen.  Vermuthlich  circulirt  in 
diesen  feinsten  Räumchen  zumeist  nur  Plasma  und  wenige  Leukocyten, 
wodurch  die  Ernährung  der  in  der  Wundspalte  liegenden  Theile  be- 
sorgt wird.    Thiersch  hat  dieses  System  „plasmatische  Circulation" 

_^'enannt.  Er"  glaubt ,  dass  aus  diesen  Saftcanälen  durch  Aneinander- 
fügung der  sie  begrenzenden  Zellen  bleibende  Gefässe  werden  können 
(Gefässneubildung,  siehe  pag.  72). 

Fig.  32. 


Dies  sind  die  ersten  Anfänge  der  Wundverklebung,  die  erste 
unvollkommene  Circulation  von  Ernährungsflüssigkeit  in  der  Wunde. 

Die  weiteren  Veränderungen  zeigen  Fig.  31  und  32  (von  einer 
26  Stunden  alten  Wunde). 

An  Stellen,  wo  die  Aneinanderfügung  der  getrennten  Theile  eine 
sehr  genaue  gewesen  (Fig.  31«),  bat  man  ]\Iühe,  die  Trennungslinie 
überhan])t  zu  erkennen.  Nur  eine  leichte  Trübung  der  Gewebe  durch 
Blutfarbstoff,  wenig  rothe  Blutkörperchen  und  eine  unbedeutende  Ein- 
lagerung von  Leukocyten  weisen  auf  die  Verletzung  hin.  An  anderen 
Stellen  (b^hj  dagegen  zeigt  sich  die  Wundspaitc  als  deutlich  sichtbarer 
Streifen.  Man  sieht  darin  weisse  Bhitkürperchen  und  rothe;  letztere 
zum  Theil  noch  wohlerlialten,  zum  Tiieil  in  verschiedenen  Stadien  des 
Zerfalles.  Dazwischen  lassen  sich  stärker  lichtbrechende  Streifen  und 
Fasern  (Fig.  32  c,  Fig.  31/>  erkennen.  Diese  sind  vermuthlich  nicht 
Fil)rinfäden,  sondern  gequollene  Bindegevvel)sfasern.    Dass  es  sich  nicht 


72  in.  f-'upitel.  —  Verletzungen. 


um  Ein-  und  Auflagerungen  auf  die  Wundspalten  handelt,  lässt  sich 
an  den  Stellen  (Fig.  31  c,  c)  erkennen ,  wo  die  Wundränder  während 
des  Schneidens  auseinandergewichen  sind.  Der  Riss  geht  mitten  durch 
die  Massen  durch  und  die  Veränderung  der  Gewebe  ist  auf  l)eiden 
Seiten  der  Wundspalte  gleichmässig  zu  sehen.  Im  oberen  Theil  der 
Wunde  in  Fig.  31  ist  die  Vereinigung  keine  ganz  genaue  gewesen. 
Links  ist  das  Epithel  eingestülpt  und  ein  halbabgelöster  Zellgeweljs- 
kegel  d^  an  welchem  die  Veränderungen  des  verwundeten  Gewebes 
schön  zu  sehen  sind,  ist  dazwischen  geklemmt.  Zur  Seite  der  Wund- 
spalte ist  das  Unterhautbindegewebe  verquollen  und  blutig  durchtränkt; 
bei  e  sind  mit  ßlut  strotzend  gefüllte  Gefässe.  Ebenso  ist  das  Fett- 
gewebe mit  Blut  und  Leukocyten  durchsetzt  (Fig.  31  <^/  Bei  (/  sind 
durchschnittene  Muskelfasern  mit  ausgetretenen,  zum  Theil  eolloid  ent- 
arteten und  schollig  zerfallenden  Stücken  abgebildet  (Fig.  31,  Hartnach, 
Obj.  4,  Oc.  II). 

Die  Fig.  32  gibt  bei  stärkerer  Vergrösserung  (Hartn.,  Obj.  8, 
Oc.  IV)  einen  Theil  der  Wundspalte  von  derselben  Wunde.  Die  Wund- 
spalte, welche  fast  quer  durch  das  Bild  zieht,  zeigt  ein  eigenartiges, 
in  Zeichnung  und  Holzschnitt  nur  schwer  wiederzugebendes  Gefüge. 
Eine  glasig-glänzende ,  anscheinend  streifige  Masse  c  wird  durchsetzt 
von  meist  zerfallenden  rothen  Blutkörperchen.  Ausserdem  finden  sich 
schon  in  Menge  andere,  in  Anilinfarben  sich  stark  färbende  Zellen. 
Ein  Theil  derselben  sind  zweifellos  Leukoeyten,  andere  sind  proto- 
plasmareicher, theilweise  mehrkernig.  Wieder  andere  zeigen  mehr 
Spindelzellentypus.  Eine  deutliche  scharfe  Abgrenzung  der  Wundspalte 
gegen  die  angrenzenden  Gewebe  findet  sich  nicht,  so  dass  auch  dieses 
Bild  gegen  die  Annahme  einer  Einlagerung  zwischen  die  Wuudränder 
spricht.  Auch  das  benachbarte ,  weniger  veränderte  Gewebe  ist  mit 
Blut  durchsetzt,  das  zum  Theil  innerhalb  der  Gefässe  geblieben  (d). 
zum  Theil  in  eigenthümlich  streifen  artiger  Anordnung  (h)  (Lympbspalten 
und  Lymphgefässe?)  im  Gewebe  enthalten  ist.  Auch  hier  sind  im  Gewebe 
Veränderungen  der  zelligen  Elemente  zu  bemerken.  Vergrösserung, 
Unregelmässigkeit  der  Form,  Andeutung  von  Kerntheilungsfiguren  (a), 
bei /Fettgewebe. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Wundheilung  verschwinden  die  rothen 
Blutkörperchen  immer  mehr  aus  der  Wunde,  und  in  dem  Masse,  als 
sie  sich  mindern,  werden  junge  spindelförmige  Bindegewebszellen  in 
den  Geweben  an  den  verletzten  Stellen  häufiger.  Aehnlich  den  in 
Fig.  35  gezeichneten  Gebilden,  schicken  sie  zarte,  faserige  Fortsätze 
zwischen  den  übrigen  zelligen  Elementen  hindurch  und  bilden  so  ein 
äusserst  feines,  die  Wundränder  verbindendes  Flechtwerk,  dem  ähnlich, 
das  bei  der  Organisation  des  Thrombus  (Fig.  2)  geschildert  wurde. 
Auch  mehrkernige  „epithelioide"  und  wirkliche  Riesenzellen  werden 
gefunden  (vergl.  Fig.  35). 

Die  Herkunft  der  spindelförmigen  Elemente,  die  man  in  frischen  Wunden 
findet,  ist  nocli  nicht  mit  Sicherheit  festgestellt.  Die  überwiegende  Mehrzahl  der  Autoren 
lässt  sie  durch  eine  Wucherung  der  präexistenten  G-ewebe  entstehen ,  man  findet  Kern- 
theilungen  in  den  Bindegewebszellen  (Fig.  32  a),  in  den  Endothelien  der  Blut-  und 
Lymphcapillaren ,  in  den  Zellen  der  Adventitia  der  Gefässe.  Sie  sieht  man  als  die 
Mutterstätten  der  Spindelzellen  (vergl.  Fig.  35)  in  den  Wunden  an.  Mitosen  finden  sich 
nicht  vor  dem  zweiten  Tag.  —  Busse  (1.  c.)  lässt  auch  das  kleinzellige  Infiltrat  der 
Wunden  nicht  durch  auswandernde  Leukoeyten  zu  Stande  kommen,  sondern  im  Anschluss 
an  Graivitz  durch  Umbildung   der  Bindegewebszellen,  Rückbildung   der  Grundsubstanz 


Gefässneubildtins 


73 


Tind   aus   fi-eien  Kernen   entstehen.     Sie    sollen    auch   an    der  Bildung    der  Xarbe    sich 
betheiligen. 

G-i-aser  (Lang.  Ai'chiv,  Bd.  37)  lässt  ebenfalls  bei  der  Besprechung  der  Ver- 
klebung seröser  Flächen  die  Xarbe  —  nachdem  die  Endothelien  der  Serosa  zu  G-mnde 
gegangen  sind  —  entstehen  durch  Proliferation  der  präexistenten  zelligen  Elemente, 
des  perivasculären  Gewebes,  der  Gefässendothelien  etc.  Wanderzellen  und  Fibrin  tragen 
nichts  zur  Terklebung  bei. 

Cohnheim  und  seine  Schüler  (Senfüeben,  Tillmanns)  Hessen  die  Elemente  der 
jungen  Xarbe  aus  den  ausgewanderten  Leukocyten  hervorgehen.  Doch  hat  Niemand  die 
direete  Umwandlung  von  Leukocyten  in  spindelförmige  Elemente  gesehen.  Auch  nimmt 
man  an,  dass  das  Torhandensein  mehrerer  Kerne  in  den  Leukocv"ten,  Avie  man  sie  meist 
in  "Wundspalten  und  ihrer  Umgebung  findet,  nicht  progressiver  Natur  ist,  sondern  im 
Gegentheil  Zerfall  (Karj-olyse)  bedeutet.  Die  Leukoc^-ten  dürften  auch  in  den  Wund- 
spalten nur  secundäre  Bedeutung  haben,  zur  Beschleunigung  der  Eesorption  der  Fibrin- 
massen ,  als  Ernährungsmaterial  für  den  AutT)au  neuer  Zellen  von  den  obigen  Mutter- 
zellen aus  u.  dergl.  In  rein  aseptischen,  durch  unmittelbare  Vereinigung  verklebenden 
"Wundspalten  finden  sich  Leukocj-ten  nicht  oder  nur  ganz  vereinzelt  (Graser). 

Die    Bilduns    von    Saftröhi-en    aus 


Fig. 


Zellen  der  Adventitia  kleiner  Venen,  die 
nachher  auch  zu  Blutcapillaren  werden, 
hat  Gräser  gezeigt  (endocellulare  Gefäss- 
bildung). 

Um  diese  Zeit,  zu  Ende  des 
er.?teu  Tages,  sind  die  Wimdräuder 
aucli  durch  ein  anderes  ueuge- 
bildetes  Gewebe  vereinigt,  dies  sind 
neue  Gefässe.  Diese  entwickeln 
sich  von  den  vorhandenen  Ge- 
fässen  aus.  Es  entsteht  von  den 
Zellen  der  Capillarwand  aus  durch 
Mitose  zunächst  ein  solider  proto- 
plasmatiseher ,  kegel-  oder  zelt- 
tormiger  Fortsatz ,  welcher  einen 
langen  Faden  in  die  Wundspalte 
hereinsendet.  Gefässhildung  durch 
Sprossenbilduug  (Fig.  33  a  nach 
ZiegJer).  Dieser  Zapfen  wird  von 
hinten  oder  vom  Centrum  her  hohl  fh)  und  es  treten  zuerst  Plasma 
und  weisse  Blutkörperchen .  später  rothe  Blutkörpereben  in  den 
Canal  ein.  Die  protoplasmatischen  Fortsätze  tiiesseu  von  beiden  Wund- 
räudern  her  zusammen  (c,  c),  nehmen  an  Masse  zu.  werden  hohl  und 
öffnen  sich  eines  ins  andere,  und  damit  ist  die  Gefässverbiudung  her- 
gestellt. Mau  sieht  also  hier  eine  endocellulare  Gefässneubildung 
durch  Hohlwerden  einer  fadenförmigen,  kernhaltigen  Zelle  (h.  cj.  Schon 
5 — 10  Stunden  nach  der  Verletzung  lassen  sich  Gefässcheu  neuer 
Bildung  injiciren  und  nach  in  Stunden  ist  die  Verbindung  (Inoscu- 
lation)  derselben  durch  die  Wundspalte  hindurch  eingetreten.  Die 
Möglichkeit  einer  Gefässhildung  aus  der  plasmatischen  Circulation  ist 
oben  und  pag.  70  angedeutet. 

Das  die  Wundspalte  bedeckende  Epithel  Itildet  sich  von  den 
tiefsten  weichen  Schichten  des  Rete  MalpTpii  aus  und  schiebt  sich 
gewöhnlich  etwas  auf  das  verletzte  Bindegewebe  herein.  Das  juuge 
Epithel  bildet  sich  durch  Karynkinese  und  Theilung  der  vorhandenen 
Epithelzellen.  Meist  ent.steht  eine  bleibende  Kerbe,  an  der  Stelle  der 
Verletzung,  etwas  tiefer  als  eine  Cutis])apille  (Fig.  31j. 


74  III-  (Kapitel.  —  Vin'Iciziinj^eii. 

Selbst  Drüsen  können  sich  in  atypischer  Weise  nenbilden.  Manchmal  tritt  bei 
der  Wundheilnng  an  Stelle  von  Cylinderepithel  Pflasterepithel  fz.  B.  in  der  Luftröhre). 
Statt  Flimmerepitliel  scheint  sich  Cylinderepithel  zu  entwickeln. 

Ist  es  nicht  gelungen,  die  Wunde  vollständig  als  Linie  („linear") 
zu  vereinigen ,  weil  die  Wunde  zu  stark  klafft ,  oder  zu  viel  Gewebe 
durch  die  Verletzung  verloren  gegangen  ist  und  der  „Substanzverlust" 
zu  gross  ist,  um  die  Wundränder  glatt  aneinanderlegen  zu  können,  so 
hat  man  statt  einer  schmalen  Rinne  einen  Graben  oder  eine  flache 
Grube,  die  durch  Heilung  per  secundam  intentionem  oder  — 
diese  Ausdrücke  sind  keineswegs  gleichbedeutend,  obwohl  sie  von 
Vielen  promiscue  gebraucht  werden  —  per  granulationem  oder  auf 
dem  Wege  der  Eiterung  zur  Heilung  kommen  soll.  Die  Vorgänge, 
welche  unter  diesen  Bedingungen  die  Ausfüllung  des  Defectes  und  den 
Abschluss  nach  aussen  vermitteln,  erscheinen  für  das  unbewaffnete  Auge 
von  denen  der  prima  reunio  sehr  verschieden;  in  Wahrheit  jedoch 
sind  es  ganz  dieselben  gewebsbildenden  Processe ,  wie  bei  der  prima 
reunio. 

Die  Blutung  kommt  in  derselben  Weise  zum  Stehen,  wie  bei  der 
prima  intentio.  —  Auch  die  verletzten  Gewebe  zeigen  dieselben  Ver- 
änderungen ,  sie  sind  aufgequollen ,  mit  Blutfarbstoff  durchtränkt ,  von 
rothen  Blutkörperchen  in  grosser  Menge  durchsetzt.  Man  braucht  sich 
nur  die  in  Fig.  31  aneinandergefügten  Wundränder  auseinandergelegt 
zu  denken  und  man  hat  das  Bild  einer  frischen  Wunde  mit  Substanz- 
verlust. Natürlich  liegt  auf  den  Geweben,  zum  Theil  sich  in  sie  hinein 
fortsetzend ,  ein  Filz  geronnenen  Blutes ,  rothe  Blutkörperchen ,  durch 
zarte  Faserstofffäden  zusammengehalten,  nur  hin  und  wieder  eine  weisse 
Blutzelle.  Binnen  wenigen  Stunden  nehmen  auch  hier  die  rothen  Blut- 
körperchen rasch  ab  und  die  weissen  zu.  Schon  nach  24  Stunden  ist 
die  Wunde  austapeziert  mit  einer  Schichte  Fibrin  mit  weissen  Blut- 
zellen ,  neben  welchen  die  rothen  zurücktreten. 

Zu  dieser  die  Wundgrube  ausfüllenden  Masse  von  Wanderzellen 
gesellen  sich  nun  auch  neugebildete  Gefässe,  die  sich  gleichfalls  schon 
nach  16—20  Stunden  injiciren  lassen.  Ihre  Bildung  erfolgt  in  der- 
selben Weise,  wie  bei  der  Heilung  per  primam  intentionem:  durch 
Sprossenbildung.  Auch  hier  finden  sich  schon  frühe  spindelförmige 
Elemente,  epithelioide  Zellen  (siehe  Fig.  35).  So  baut  sich  aus 
jungen  Spindelzellen,  jungen  (befassen  und  Leukocyten  eine  neue 
Bildung  auf,  die  die  Wunde  auszufüllen  bestimmt  ist.  Jede  neue 
Capillare  bildet  die  Grundlage  und  den  Stamm  einer  solchen  Bildung, 
welche  besteht  aus  einem  Gefässe  in  der  Mitte  und  in  concentrisch 
darum  gruppirten  Spindelzellen  und  weissen  Blutzellen.  Verbunden 
wird  das  ganze  durch  eine  schleimige  halbflüssige  Intercellularsubstanz. 
Dieses  neue  Gebilde,  denkbar  einfachsten  BaueS;  heisst  Granulation 
(von  granulum ,  das  Körnchen).  Seine  Oberfläche  ist  eine  gekörnte, 
jeder  Stelle  eines  grösseren  Gefässcheus  entspricht  eine  kleine  Er- 
hebung des  Niveaus.  Zwischen  den  Bezirken  zweier  Gefässe  ist  eine 
leichte  Einsenkung.  So  bekommt  das  Ganze  eine  warzige  Oberfläche. 
Diese  einzelnen  Erhebungen  werden  .,Granulationspapillen"  genannt 
(vergl.  Fig.  38  a). 

In  Fig.  34  ist  eine  noch  junge  Granulation  dargestellt.  In  der 
Mitte  verläuft  eine  weite  blutgefüllte  Capillare  (aj  im  Längsschnitt  ge- 


Heilung  per  secundam  iutentionem. 


75 


troffen.  Längs  des  Endothels  zeigen  sich  schon  geringe  Mengen 
spindelförmiger  Bindegewebszellen  als  erste  Anlage  einer  Adventitia 
capillaris.  Im  unteren  Theil  des  Präparats  finden  sich  reichliche  Leuko- 
cyten,  daneben  bei  h  reichliche  Spindelzellen.  —  Bei  c  sind  schon  derbere 
Bindegewebszüge ,    die  an  manchen  Stellen,  e,  Gefässe  in  leerem,    zu- 


\f 


\   °    ^ 


\\~ 


Fig.  35. 


sammengefallenem  Zustande  enthalten.  Bei  /  beginnt  ein  weiter,  mit 
rothen  Blutkörperchen  erfüllter  Raum,  ohne  deutliche  Wandungen. 
Diese  sinusartigeu  blutgefüllten,  wandungslosen  Hohlräume  finden  sich 
so  constant  in  Granulationen  und  gleichen  einander  so  sehr,   dass  ich 

sie   nicht   für  Artefacte  oder  Blut- 
ergüsse    iu's     Granulationsgewebe 

halten    möchte.     Tkiersch ^ist    es 

gelungen,    solche Tläüme~ von  den 
Gefässen  aus  zu  injieiren. 

Die  in  Granulationen,  ebenso 
wie  in  Wunden  sich  findenden  eigen- 
artigen zelligen  Bildungen  sind  in 
Fig.  35  (nach  Ziec/Ier)  dargestellt. 
Protoplasmareiche  Spindelzellen  (a), 
dann  grosse  Zellen  mit  viel 
Protoplasma  und  pseiidopodienähn- 
lichen  Ausläufern  (Fig.  35  h). 
Daneben  mehrkernige  Zellen ,  epithelienartig  und  daher  epithelioide 
Zellen  genannt  fc).  schhesslich  Zellen  mit  einer  iMassc  von  Kernen  — 
Riesenzellen  (dj.  Diese  Zellen  gehen  vermutlilich,  wie  schon  bemerkt, 
aus  den  verschiedenartigen  präexistenten  Gewel)szellcn  hervor.  Das 
Material  zur  Bildung  gewinnen  sie  anscheinend  durch  Aufnahme  von 
Leukocyten  (Phagocytose)  (Zicf/Icr). 


76  in.  Capitul.  —  Verletzungen. 

Die  mit  blossem  Aug-e  zu  verfolgenden  Veränderungen 
einer  frischen  durch  Granulation  heilenden  Wunde  sind  folgende. 
Unmittelbar  nach  der  Verletzung  lassen  sich  durch  die  dünne  Schichte 
geronnenen  Blutes  noch  die  durchschnittenen  oder  blossliegenden  Ge- 
webe, Muskeln,  Fettgewebe,  Fascien  einzeln  erkennen.  Nach  24  Stunden 
ist  die  Wunde  bedeckt  mit  einem  undurchsichtigen,  trüben  Schleier 
von  gelbbrauner  schmutziger  Farbe.  Es  ist  nun  nicht  mehr  zu  er- 
kennen, was  für  Gewebe  die  Wunde  bilden.  Die  Wunde  ist  in  eine 
missfarbige  Fläche  verwandelt.  Am  ausgesprochensten  ist  dieses  Stadium 
etwa  in  der  Mitte  des  zweiten  Tages,  nach  circa  36  Stunden.  „Die 
Wunde  ist  unrein,"  lautet  der  technische  Ausdruck.  Diese  unreine 
Schichte  besteht  aus  Fibrin,  abgestorbenen  Bindegewebsfasern,  Detritus- 
häufchen,  Fettzellen,  Körnchenkugeln,  weissen  und  rothen  Blutkörperchen, 
Muskelfetzen,  Mikroorganismen,  Blutfarbstoffkrystallen  u.  dergl.  m.  Sie 
ist  um  so  dünner,  je  weniger  misshandelt  die  Wunde  ist  und  je  asep- 
tischer, je  entzündungsloser  die  Wunde  heilt. 

Am  Ende  des  dritten  oder  im  Verlaufe  des  vierten  Tages  er- 
scheinen, die  unreine  Schichte  durchbrechend ,  kleine  rothe  Pünktchen 
in  der  Wunde;  es  sind  die  Fleisch wärzchen,  die  Granulationen.  Rasch 
mehren  sich  diese  rothen  Knöpfchen,  sie  fliesseu  mit  einander  zu- 
sammen, und  die  ganze  Wundfläche  ist  schliesslich  ausgefüllt  von  einer 
prachtvoll  rothen  ^  leicht  körnigen  Bildung,  die  Wunde  hat  sich 
gereinigt;  die  frische  Wunde  ist  zur  Granulationsfläche 
geworden. 

Die  Zeit ,  welche  bis  zur  fertigen  Bildung  der  Granulation  vergeht ,  schwankt 
nach  der  Energie  des  Kreislaufes ,  dem  Kräftezustand  des  Körpers  im  Ganzen  und  der 
Eigenart  der  verletzten  Stelle.  Bei  sehr  geschwächten  Individuen  (Magenoperationen 
bei  Magenkrebs)  ist  es  selbst  nach  Ablauf  von  8 — 10  Tagen  noch  nicht  zu  einer 
richtigen  Granulationsbildung  gekommen :  bei  kräftigen  jungen  Individuen  kann  sie 
schon  nach  drei  Tagen  fertig  sein.  Blutreiche  Gewebe  mit  gut  entwickeltem,  engmaschigem 
Capillarsystem ,  Muskeln,  Unterhautzellgewebe,  Lippen,  Zunge,  weisen  nach  2 — 3  Tagen 
Granulation  auf.  Auf  Fascien  dauert  es  mindestens  eine  Woche,  an  Sehnen  10^14  Tage. 
In  spongiöser  Substanz  der  Knochen  sind  ungefähr  14  Tage  nöthig  und  bis  aus  der 
Compacta  eines  Eöhrenknochens,  z.  B.  der  Einde  des  durchsägten  Femur  oder  Humerus^ 
Granulationen  hervorsprossen,  3 — 4  Wochen. 

Das  von  offenen  Wunden  unmittelbar  nach  der  Verletzung  abfliessende  primäre 
Wundsecret  ist  eine  stark  roth  gefärbte,  dünne,  fleiscliAvasserähnliche  Flüssigkeit,  die 
reichlichen  Blutfarbstoff,  daneben  rothe,  zum  Theil  noch  wohl  erhaltene  Blutkörperchen, 
weisse  Blutkörperchen  dagegen  nur  spärlich  enthält.  Nach  36  bis  48  Stunden  sind 
Blutfarbstoff  und  rothe  Blutkörpercheu  fast  ganz  verschwunden ;  das  Wundsecret  ist 
jetzt  eine  graugelbliche ,  schleimige  Flüssigkeit.  Neben  ziemlich  viel  weissen  Blut- 
körperchen enthält  sie  massenhaft  Elemente ,  welche  vom  Zerfall  von  Zellen  und  Ge- 
websfasern  herstammen  ,  Körnchenzellen ,  Fetttröpfchen ,  zerfallende  Bindegewebsfasern, 
Muskeliibrillen  u.  s.  w.  Mehr  und  mehr  nähert  sich  das  Wundsecret  der  Beschaffenheit 
des  Eiters,  und  wenn  die  Granulation  fertig  und  die  Wunde  rein  ist ,  ist  es  zu  dick- 
lichem, gelbem,  rahmigem  Eiter  geworden  (pus  bonum  et  laudabile)  (vergl.  pag.  33).  Bei 
aseptischen  Wunden  hat  man  eine  spärliche ,  graue,  vorwiegend  schleimige,  zellenarme 
Flüssigkeit. 

Anfangs  sind  die  Granulationen  überaus  weiche,  leicht  zerreiss- 
liche  und  hinfällige  Gewebe. 

Die  Granulationen  resorbiren  in  Lösung  befindliche  Stoffe  sehr  schnell ;  aus  Farb- 
stoffaufschwemmungen nehmen  sie  körperliche  Elemente  in  geringer  Menge  auf.  Für 
Bacterien  sind  sie  gleichfalls  nicht  oder  nur  schwer  durchgängig  (Schvnnielbitsch).  — 
Lymphgefässe  fehlen  in  den  Granulationen,  ebenso  Nerven. 

Aus  der  Granulation  soll  nun  die  Karbe  werden. 


Einsäumende  und  inselförmige  Ueberliäutung. 


77 


Das  Gefüge  der  Granulation  wird  bei  längerem  Bestehen  ein 
derberes,  festeres.  Die  einzelnen  Granulationspapillen  heben  sich 
schärfer  von  einander  ab. 

Untersucht  man  eine  schon  längere  Zeit,  d.  h.  mindestens  eine  Woche  bestehende, 
Granulation  (Fig.  36),  so  findet  man  um  die  Gefässlücken  herum  in  concentrischen  Ringen 
Zelllagen,  welche  bereits  zweifellose  Spindelform  zeigen,  und  zwischen  den  zelligen  Bestand- 
theilen  ausgesprochene  verschieden  breite  Bindegewebszüge  (Fig.  36  a).  Gefässe  sind 
viel  spärlicher  als  in  Fig.  34.  Neben  zwei  weiten  Gefässen  finden  sich  Stelleu,  die  wie 
eng  zusammengezogene  Gefässe  ohne  Lumen  sich  ausnehmen  (h)  und  wieder  andere  (c), 
wo  die  concentrisch  gelagerten  Zellen  anzudeuten  scheinen ,  dass  hier  ein  Gefäss  vor- 
handen gewesen  ist.    li  und  c  sind  vermuthlich  Gefässe  in  Rückbildung. 

Auch  die  Zellen,  aus  welchen  die  Granulation  besteht,  werden  andere ;  sie  sind, 
wie  Fig.  37  (nach  Ziegler)  zeigt,    im  Vergleich  mit  Fig.  35    protoplasmaärmer,   indem 


Fig.  36. 

c  a 


Fig.  37. 


.^v\^^M#Yi^^^^^^^^^^ 


A'^^'ÄS 


'  H. 


I    V 


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i\^N 


sich  dieses  zu  Fasern  umwandelt.  Schliess- 
lich kann  das  Protoplasma  fast  ganz 
zurücktreten  und  es  bleibt  nur  eine  dünne 
protoplasmaarme  Platte  mit  Kern  und  um 
sie  herum  Bindegewebsfasern  (Fig.  37  a 
bis  c).  Das  Ganze  gewinnt  so  das  Aus- 
sehen gewöhnlichen  jungen  Bindegewebes 
Cd).  Diese  in  Fig.  35  und  37  abgebildeten 
(i  zelligen     Elemente     nennt     man     Fibro- 

blasten. 

Die  weiteren  Veränderungen  einer  Granulation  sind  in  Fig.  38 
(halbsehematisch)  dargestellt.  Bei  a  ist  ein  schön  entwickeltes  Gefäss- 
bäumchen  mit  zahlreichen  Seitenästen;  das  Gefiige  der  Granulation 
ist  noch  ein  weiches.  Die  Rundzellen  überwiegen ,  nur  ganz  wenig 
Spindelzellen  sind  vorhanden  und  so  gut  wie  keine  Fasern.  Je  mehr 
man  nach  h  und  gar  nach  c  kommt ,  um  so  mehr  ändert  sich  der  Bau 
der  Granulation.  Die  Gefässe  w^erden  dünner  und  zusehends  spärlicher. 
Die  Rundzellen  machen  Spindelzellen  Platz  und  diese  w-ieder  w^eichen 
faserigem,  zellenarmem  Bindegewebe  (c).  Zugleich  werden  die  Ein- 
senkungen  zwischen  den  Granulationen  tiefer  und  tiefer  und  der  Bau 
des  Ganzen  nähert  sich  dem  pa])illären  Bau  der  Haut.  Die  „Granu- 
lationspapillen"'  werden  zu   ..Narbenpapilleir'. 

Auf  diesen  derljen  geschrumpften  Granulationen  vermag  nun  auch 
das  Epithel  (ej  zu  haften.  Das  junge  Epithel  entsteht  durch  Theilung 
aus  den  tiefen  weichen  Schichten  des  Rete  Malpighi  und  schiebt  sich 
vom  Rande  der  Wunde  auf  die  Granulation  herein  („einsäumende 
Ueberliäutung"). 


78 


III.  (Japitel.  —  V(;rl<;i'/inij;cii. 


Zwischen    die   Granulationspapillen    senkt    sich    das   Epithel     tief 
ein    und    lässt    diese    hiediirch    noch    schärfer    hervortreten  CFig.  yj^d). 
Erst  die  älteren  Schichten  fangen  an  nach   der  Oberfläche  liin    zu  ver- 
hornen und  damit  der  0  »,0       3      "•"' 
jungen    Narbe    eine 

solidere    Decke     zu        ^  ^^ 

geben  (e'J.  Makro- 
skopisch erscheint 
dieses  junge  Epithel 
als  ein  matter  grauer 
Saum,  durch  welchen 
die  Granulation  röth- 
lich  durchschimmert. 
An  Wunden,  wo 
die  tiefere  drüsen- 
fiihrende         Schicht 

des Unterhautzell- 

gewebes  noch  er- 
halten geblieben,  wie 
bei  oberflächlicheren 

Brandwunden, 
kommt  zur^epithel- 
bildenden  Leistung 
des  ßete  Malpighi 
am  Rande  der  Wunde  '^ 
noch  die  Epithelpro- 
duction  von  den  Aus- 
führungsgängen  der 

Schweiss-,  Talg- 
drüsen und  Haar- 
bälge hinzu.  Bei  / 
liegt  ein  seitlich  an- 
geschnittener Haar- 
balg ,  aus  dessen 
Mündung  sich  junge 
Epithelien  (g)  auf  die 
Oberfläche  der  Gra- 
nulation ergiessen 
JDiese  Stellen  ,glan: 
duläl-ef  Epithelprp::^ 
cTuctiön  erscheinen 
als  mattgraue  Inseln 
inmitten  der  glänzend 
Töflien  Granulation. 
Der  Vorgang  wird 
deshalb  als  inselförmige  Ueberhäutung  bezeichnet. 

Die  Irrthümlichkeit  der  früheren  Annalime,  dass  Epitlielien  ans  Grannlations- 
zellen  anf  nietaplastiscliem  Wege  hervorgehen  können ,  ist  durch  Tlderscli  erwiesen. 
Auf  alten  Granulationen  (grossen  Brandwunden)  bilden  sich  gelegentlich  flache  epithel- 
ähnliche Bildungen,  die  aber  nicht  dauernd  und  eher  den  Endothelien  zuzuzählen,  jeden- 
falls keine  echten  Epithelien  sind. 


Heilung  unter  dem  Schorf.  79 

,Thierscli  nimmt   auf  Grund  der  Arbeiten   Schrön's  an  ,  dass  die  Hornzellen  des 
^Stratum  corneum  überhaupt   nur   von    den  Drüsen    der  Haut ,  Schweiss-  und  Haarbalg- 
drüsen gebildet  werden ,    nicht  vom  Stratum  Malpighi  aus.     Wo  also  diese  fehlen ,    auf      j 
Narben  sowohl,  wie  an  gewissen  normalen  Körperstellen  (Lippenroth,  Fingernägel,  Eichel-    \ 
Oberfläche),  fehle  auch  die  Hornschicht ,    welche  der  Haut  und    der  Narbe   ihren    eigen-    / 
thümlich   matten    Glanz    verleiht.     An    diesen    Stellen    liegt    das    spiegelnd    glänzende.     - 
glatte  Stratum  pellucidum  bloss,  das  wohl  trocknen  kann,  aber  nie  jenes  matte  Ansehen     , 
erlangt.    In  der  That  trifft  diese  Beobachtung  für  grosse,  rein  durch  einsäumende  Ueber-    ) 
häutung  geheilte  Wunden  zu.    Diese  Narben  bleiben  immer  spiegelnd  glatt  und  werden  ] 
leicht  wieder  wund. 

Zum  Vevsclilusse  einer  granulirenden  Fläche  ist  somit  das 
Zusammenwirken  zweier  Processe  absolut  notbig  —  einer  Verände- 
rung der  Granulation  ,  die  wir  im  Wesentlichen  als  eine  Schrumpfung, 
einen  Uebergang  in  Spindelzellengewebe  und  Verödung  der  Gefässe  be- 
zeichnen können,  und  der  Bildung  neuen  Epithels.  Bleibt  einer  dieser 
beiden  Factoren  aus  oder  kommt  nicht  zur  genügenden  Wirkung ,  so 
kommt  es  auch  nicht  zur  Bildung  einer  gesunden  Narbe.  Beide  Vor- 
gänge sind  an  gewisse  Grenzen  gebunden.  Die  Schrumpfung  der 
Granulation  ist  oft  eine  ungenügende,  wenn  sie  auf  unnachgiebigem 
Grunde  ruht,  z.B.  dem  Knochen  direct  aufsitzt;  ebenso  ist  die  ein- 
säumende Ueberhäutung  nicht  im  Stande,  einen  Epithelsaum  breiter  als 
5—6  Cm.  zu  liefern.  Erst  in  neuerer  Zeit  sind  wir  durch  Thkrsch 
gelehrt  worden ,  auch  solche .  früher  unheilbare  Wunden  durch  künst- 
liche Aufpflanzung  von  Haut  zum  dauernden  Verschluss  zu  bringen. 

Neben  der  Heilung  durch  Granulationsbildung  werden  noch  einige 
andere  Arten  der  Heilung  per  secundara  reunionem  unterschieden.  Die 
histologischen  Vorgänge  sind  auch  hier  dieselben  und  es  ist  mehr  das 
makroskopische  Verhalten,  welches  sie  eigenartig  erscheinen  lässt. 

Bei  der  „Organisation  des  Blutgerinnsels"  ist  die  Wunde 
(ein  Substanzverlust  oder  eine  nicht  vereinigte  Schnittlinie)  zunächst 
ausgefüllt  mit  einer  festhaftenden,  nicht  ohne  erneutes  Bluten  abzieh- 
baren Schicht  geronnenen  Blutes.  Im  Laufe  von  Tagen  verblasst  das 
anfangs  blutiothe  Gerinnsel ,  nimmt  eine  gelblichgraue  oder  orange- 
rothe  Farbe  an  und  wird  zugleich  trockener,  krümlich  oder  streifig. 
Dabei  wird  die  Wunde  zusehends  kleiner,  theils  zieht  sie  sich  zusammen, 
theils  schiebt  sich  der  grauweissliehe  Saum  neugebildeten  Epithels  auf 
dieselbe  herein.  Wenn  die  Epithelränder  sich  erreicht  haben,  sind  von 
dem  Gerinnsel  nur  noch  einige  gelbe  Faserstoffgerinnsel  auf  der  jungen 
Narbe  oder  an  den  Verbandstoffen  übrig.  Ausser  spärlichem  gelblichem 
Schleime  bildet  sich  kein  Secret. 

Die  mikroskopischen  Vorgänge  sind  ganz  dieselben,  wie  bei  der 
„Organisation"  des  Thrombus  (pag.  15).  Das  Gerinnsel  wird  von 
jungem  Bindegewebe  und  neugebildeten  Gefässen  durchwachsen  ,  und 
während  rothe  Blutkörperchen  und  Faserstoff  verschwinden,  nimmt  ihre 
Stelle  diese  bindegewebige  neue  Bildung  ein.  Es  ist  ein  reiner  Sub- 
stitutionsvorgang. Nur  geht  bei  der  „Organisation  des  Blut- 
gerinnsels" die  Bildung  neuen  Gewebes  statt  vom  Endothel  der 
Intinia ,  wie  dort ,  von  den  Bindegewebszellen ,  den  Endothelien  der 
Lymph-  und  Bhitgefässe,  den  Zellen  der  Adventitia  aus.  Auch  hier 
kehren  die  in  Fig.  oö  und  ;)7  geschilderten  Zellenformen  wieder 
(epithelioide.  Riesenzellen,  grosse  Spindelzcllen  u.  s.  f.). 

Die  Organisation  des  Blutgerinnsels  kommt  nur  bei  ganz  keim- 
freien ,    vor  Vertrocknung    und  Misshandlung   geschützten  Wunden  vor 


// 


gQ  ni.  Capitel.  —  Vcrieteuiig«;)). 

(Lister).  Neuerdings  hat  Schede  seine  „Wundbehandlung  untei-  dem 
feuchten  Blutschorf"  auf  diesen  Vorgang  gegründet. 

Wunden  innerer  Organe,  Risse  der  Leber,  der  Niere  u.  dergl. 
heilen,  wenn  Mikroorganismen  ausgeschlossen  sind,  in  einer  der  .Substi- 
tution des  Blutgerinnsels  durchaus  entsprechenden  Weise.  Die  Blutge- 
rinnsel werden  durchwachsen  von  denselben  spindelförmigen  Elementen 
bindegewebiger  Natur,  die  besonders  von  den  Endothelien  der  Capillaren 
imd  den  Zellen  der  Adventitia  capillaris  ausgehen.  Auch  die  Gefässneu- 
bildung  erfolgt  in  der  pag.  72  geschilderten  Weise;  und  ebenso  der  Ueber- 
gang  dieses  jungen  (Graniüations-)Gewebes    in  Narbe  (vergl.  pag.  77). 

Hohle  Räume  scheinen  in  den  ersten  Stunden  von  einem  Fibrin- 
netz und  Wanderzellen  erfüllt  zu  werden  (Tillmanns) ;  auch  dieses  Ge- 
webe wird  später  substituirt,  wie  der  weisse  (und  der  rothej  Thrombus 
(siehe  pag.  15). 

Die  Einlieilung  von   Fremdkörpern  macht    sich    etwas    verschieden,    je 

nach   der '  chemischen   Beschaflenheit   des  Körpers.     Ist    derselbe    in    den   Körpersäften 

""^aiiz  unlöslich,  wie  Glas  z.  B.,  so  bildet  sich  eine  schmale  Hülle  concentrisch  geschich- 

"teten  Bindegewebes  darum.    Handelt  es  sich  um  chemisch  differente  Körper  • —  Kriochen- 

^Zijucke,'  unreine   Holzsplitter ,  Tüchfetzen ,    Tuberkelknoten  u.  s.  w.  — ,  so   kann,    wenn 

die  Zälil    und  Virulenz   der  Eiterkokken   nur   eine    massige  ist,    eine   Abkapselung 

stattfinden.     Man  hat  nach  aussen  eine  concentrisch  geschichtete  Kapsel  aus  zellarmen 

"Bindegewebsfibrillen ,   die   nach   innen   übergeht    in    richtiges   Granulationsgewebe^.     Die 

""Granulationen  können   geeignete  Fremdkörper   (Knochensplitter)   durch   Eesorption   vom 

"TElande  her  allmählich  verkleinern  (vQrgl.  Osteomyelitis  infectiosa),  selbst  ganz  aufzehren. 

Tter  Fremdkörper    kann    auch   in    einer  kleinen  Menge  seröser  bis    eiteriger  Flüssigkeit 

schwimmen.  —  Sehr  alte  Kapseln  zeigen  Verkalkung. 

Bei  kleinei'en  Wunden,  Kratz-,  Riss-  oder  kleinen  Quetschwunden, 
vertrocknet  das  auf  der  Wunde  liegende  Blutgerinnsel  zu  einer  braunen 
trockenen  Kruste  oder  Schorf,  der  fest  aufsitzt.  In  den  nächsten 
Tagen  wird  er  schwärzlicher  und  trockener.  Nach  einigen  Tagen  oder 
Wochen  fällt  der  Schorf  ab  und  darunter  liegt  eine  napfförmig  vertiefte, 
junge  Narbe.  Diese  zieht  sich  rasch  zusammen,  erreicht  das  Niveau 
der  Haut  und  ist  schliesslich  von  einer  gewöhnlichen  Narbe  in  nichts 
verschieden.  Die  mikroskopischen  Vorgänge  sind  bei  dieser  Heilung 
unter  dem  trockenen  Schorf  einfach.  Eine  sparsame  Bindegewebs- 
und Gefässneubildung  mit  geringer  Einlagerung  von  Rundzellen  schliesst 
die  verletzten  Gewebe  ab ,  junges  Epithel  streckt   sich    darauf  herein. 

Durch  Granulationsverklebung  heilen  andere  Wunden  — 
Abscesshöhlen,  deren  Wände  sich  aneinander  legen,  granulirende  Haut- 
lappen, die  an  andere  Stellen  verpflanzt  werden,  rinnenförmige  Wunden 
Dammrisse)  u.  dergl.  Die  einander  gegenüber  liegenden  Granulationen 
^drängen  sich  gegen  einander  an,  die  Gefässe  derselben  stossen  zusammen, 
^erschmelzen  und  damit  ist  die  Verbindung  vollzogen.  Dieser  Vorgang 
ist  nur  bei  minimaler  Secretion  der  Wundflächen  möglich.  Stagnirt 
Wundflüssigkeit  zwischen  denselben ,  so  ist  es  für  die  Granulationen 
unmöglich,  zu  verkleben. 

'  Die  Granulationen  zeigen  verschiedene  beachtens werthe  Ano- 

malien. 

Sie  können  ödematös  sein,  blass,  wasserreich  und  blutarm,  wenn  der  ganze 
Körpertheil  ödematös  ist.  Schwammige  (fungöse)  Granulationen  erscheinen  gleichfalls 
wie  ödematös  —  ohne  Oedem  der  Umgebung.  Statt  frischen  Roths  zeigen  sie  ein 
graues  Weiss,  oft  körnige  Flecken  dazwischen.  Diese  Art  der  Granulation  ist  namentlich 
tuberculösen  Processen  eigen.  Die  fungösen  Granulationen  sind  häufig  auch  „croupös" 
belegt.     Das  "Wundsecret  ist  zu  einem  fest  anhaftenden,  nur  unter  Blutung  abziehbaren 


^//V^     ^■'^%y'ifr-ru^.   ^' 


Wuudeu  sefässloser  Theile. 


Tl>% 


( 


Fibriubelag  geronnen.  Auch  nicht  tuberculöse  Granulationen  zeigen  gelegentlich  diese 
Veränderung.  Stark  wuchernde,  leicht  blutende  und  schmerzhafte  er  ethische  Granu- 
lationen linden  sich  an  schlecht  gehaltenen,  namentlich  mechanisch  misshandelten  Wund- 
tlächen.  Knopfförmig  einen  iiid^  Ti^  füluvuilrn  l-;itrrgaug  (Fist_el)_  überragende 
Granulationen  lassen  auf  einen  m  'aer^Tiefe  zurürkgi'luiltrnen  Fremdkörper  (todte 
Knochenstücke,  Kugeln,  Tuclifetzen^  verlorene  Drainröhren,  Unterbindungsfaden  u.  dcrgl.) 
schliessen^_  Spiegelnde ,  zurückgesunkene  Granulationen  t'nffT^man  liei  selir  herunter- 
gekommenen Personen  an,  kurz  vor  dem  Tode  und  an  der  Leiche. 

Schmutzige  Beläge,  brandige  Fetzen,  schmieriger  Zerfall  weisen  auf  weitergehende, 
zerstörend  wirkende  Momente  hin  —  die  GranulationsHäche  ist  zum  ., Geschwür"'  geworden 
(siehe  Geschwüre).  Am  besten  }verdeu  solche  schlechte  Granulationen  durch  Aetemittel 
(Höllenstein,  Argentum  nitricum)  zerstört  oderTlurch  Abkratzen  mit  dem  sq^arfen  „^Löffel 
eivETerut.  Üeberhaupt  sind  bei  grossen  granuürencTCTTTTacTiÄl  die  (jranulalionen^esonders^ 
ancTen^Eändern  durch  wiederholte  Aetzungen  mit  Höllenstein  kurz  zuhalten;  sie  werden 
ladurch    zum  Schrumpfen  gebracht 

,  und  das  Epithel  haftet  leichter,  die  Fig-  30- 

[Heilung   wird  beschleunigt. 

Die  Wunden  gefäss- 
loser  Theile  sind  besonders 
an    der    Hornhaut    studirt. 

Ein  glatter,  scharfer  Schnitt 
in  der  Hornhaut ,  der  nicht  bis  in 
die  vordere  Kammer  dringt,  erzeugt 
an  dem  Hornhautgewebe  nur  wenig 
Veränderung  ausser  etwas  Auf- 
faserung  ,  Lockerung  und  Quellung 
der  Fasern.  _Binnen__weni^  .Tagen 
Avird    der  ganze  Spalt   von   jungem_ 

"  Epithel  ausgefüllt,  welches  von  dem 

"rylindrischen    Epithel     der    tiefsten 

_Sc]ücht  jles  Corneaepithels  geliefert 
wird  (Fig.  39  a — a'  nach  r.  Wijss.l^ 
ist  dit' Wunde  eine  penetiirrnilc  ge- 
wesen ,  so  klatft  der  Schnitt  au 
dem  hintern,  der  vordem  Kammer 
zugekehrten  Theil,  und  das  hintere 
Drittel  der  Wunde  wird  ausgefüllt 
von  einer  glasig  verquollenen  Masse, 
von  der  sich  nicht  mit  Bestimmtheit 
sagen  lässt ,  ob  es  .sich  um  ein- 
gelagertes Fibrin  oder  verändertes 
Hornhautgewebe  handelt  (Fig.  39  b 
bis  a').  Das  Epithel  der  Membrana 
Descemeti  geräth  gleichfalls  in 
Wucherung  (Fig.  39  c).  Die  vordere  Hälfte  der  Wunde  wird,  wie  bei  nicht  perforirenden 
Wunden ,  von  neugebildetem  Epithel  eingenommen.  Die  Ansammlung  von  wandernden 
Hornliautkörperchen  und  weissen  Blutzellen  in  der  Nähe  des  AVundspalts  ist  bei  asep- 
tischen AVundeji    eine  sehr  geringe. 

Erst  gegen  Ende  der  ersten  Woche  fängt  das  Hornhautgewebe  selbst  an,  sich  zu 
regen  und  eT  wachsen  nun  von  den  fixen  Hornhautzellen  lange ,    spiessartige  Ausläufer 

_^egen  die  Wundspalte  herein  und  gewinnen,  zu  Fasern  auswachsend ,    nach  der  andern 

^eite  hin  Fühlung.  In  dem  Masse,  als  sie  zahlreicher  Averden,  di'äugeu  .sie  das  Epithel, 
jvelches  zapfeuaitig   in   das  Hornhautgewebe   hereinragte,   gegen  die    Oberfläche    zurück 

juid  es  bleibt  schliesslich  nur  eine  flache  Einkerbung  zurück.  Gefässneubildung  vom 
Rande  her  findet  sich  bei  einer  nicht  entzündeten ,  einfachen  Schnittwunde  nicht.  Bei 
grösseren  Substanzverlusten,  besonders  wenn  viel  Epithel  verloren  ging,  geht  der  Ersatz 
sehr  viel  langsamer. 

In  Fig.  40  (nach  Soiftlchcn)  sind  die  Hornhautzellen  in  Pioliferation.  Bei  a 
sind  alte  protoplasmareiche,  theilweise  mehrkernige  Hornhautzellen,  welche  junge  Fasern 
ih)  aussenden,  zum  Theil  sich  faserig  auflösen  (c).  Die  jüngsten  Bildungen  .sind  ganz 
dünne  Fasern  mit  langgezogenem  Kern  und  äusserst  sjjärlichem  Froto|dasmahof  darum 
(^H<irnhautsijiesse~).  draivHz  und  Sfrirker  lassen  Hornhautzidlen  an<]i  aus  Inter- 
cellularsubstanz  liervorgehen. 


I 


Landf^rer,  Allu-  chir.  Pathologie  u. 'riiiTapie.  2.  AuH. 


6 


82 


JJI.  (Jajjitcl.  —   V'(;rlf;iziitigo)i. 


Noch  träger  verliiilt  sich  bei  Verletzimgen  der  Knorpel.  Sclinitt- 
wunden  in  Gelenkknorpeln  zeigen  sich  nach  Wochen  mit  einem  Fibrin- 
gerinnsel erfüllt.  Dieses  Gerinnsel  wird  durch  Bindegewebe  ersetzt, 
dabei  fasert  der  Knorpel  sich  auf,  die  Knorpelkapseln  werden  undeut- 
lich, die  Knorpelzellen  werden  mehrkernig ;  aber  selbst  nach  einer  Reihe 
von  Monaten  zeigt  der  Schnitt  sich  nur  durch  eine  bindegewebige  Narl^e 
erfüllt.     An  anderen  Stellen,  z.  B.  den  Rippenknorpeln,   füllt    sich  die 


Schnittrinne  gleich  von  Anfang  mit  jungem  Bindegewebe  aus.  Eine 
wirkliche  Regeneration  des  Knorpels  scheint  höchstens  bei  Kindern 
vorzukommen. 

Bei   der    bisherigen    Darstellung    der  Wundheilung   sprachen    wir 
eigentlich  ausschliesslich  von  der  Heilung  von  Wunden  im  Bindegewebe 

und  Epithel.  Bei  Ver- 
letzung anderer  Gewebe 
handelt   es   sich    neben 

der  bindegewebigen 
Narbe  auch  um  Wioder- 
ersatz  und  Neubildung, 
um  Regeneration  der 
verletzten  specitischen 
Gewebe  (Muskeln,  Ner- 
ven, Sehnen  etc.).  Colm- 
heini  hielt  die  weissen 
Blutkörperchen  für  das 

Muttergewebe  auch 
dieser  specitischen  Ge- 
webe. Heute  weiss  man, 
dass  diese  bei  der  Rege- 
neration nicht  direct  be- 
theiligt sind,  höchstens 
liefern  sie  durch  Phagocytose  seitens  der  specifischeu  Gewebselemente 
etwas  Baumaterial  für  die  Regeneration.  Die  neugebildeteu  Gewebe 
entstehen  ausnahmslos  durch  Proliferation  von  den  präexistenten  speciti- 
schen Gewebszellen. 

Die  Regeneration  der  quergestreiften  Muskeln  zeigt  Fig.  41. 
Zunächst  sieht  man  —  als  Folgen  der  Verletzung  —  degenerative  Vor- 


Eegeneration  der  Muskelfasern.  g3 

gänge ;  bei  a  ist  eine  durch  die  Verletzung  zu  einem  Wulst  zusammen- 
gedrehte Faser,  darüber  eine  spitz  ausgedrehte,  bei  h  eine  alte  Muskel- 
faser, die  sich  in  ihrem  Sarkolemmaschlauch  zurückgezogen  hat,  bei  c 
ist  die  Faser  in  eine  colloide  Scholle  verwandelt.  Die  ersten  regene- 
rativen Erscheinungen  zeigen  sich  in  einer  auf  dem  Wege  der  Kern- 
theilung  sich  entwickelnden  Wucherung  der  Muskelkerne.  Mitosen  sind 
schon  vom  zweiten  Tage  an  zu  erkennen.  Diese  Wucherung  und  Ver- 
mehrung der  Muskelkerne  sieht  man  sowohl  an  solchen  Kernen ,  die 
lebenden  Fasern  aufliegen  (in  der  linken  Hälfte  des  Präparates).  Hier 
sieht  man  auch  die  contractile  Substanz  sich  in  die  Länge  strecken 
und  zu  neuen  Fasern  (Muskelknospen)  auswachsen  ((i,/,  g).  Daneben  sieht 
man  aber  auch  ausser  Verbindung  mit  den  Fasern  (dem  Sarkoplasma) 
stehende  Muskelkerne  sich  vergrössern ;  ein  Theil  dieser  Kerne  scheint 
sich  gleichfalls  mit  Protoplasma  umgeben  und  zur  Bildung  von  neuen 
Muskelfasern  (e,  /,  g)  Anlass  geben  zu  können  (Volkmann) . 

Dazwischen  findet  auch  eine  Neubildung  von  Bindegewebe  statt, 
das  zu  neuen  Sarkolemmschläuchen  führt  (zwischen  ch  und  g).  Beider 
Regeneration  der  quergestreiften  Muskeln  geht  die  Neubildung  also 
nur  von  den  specifischen  Gewebszellen  aus. 

Die  Regeneration  der  glatten  Muskelfasern  erfolgt  durch 
eine  Wucherung  der  Muskelkerne.  Daneben  hat  man  eine  Wucherung 
des  Muskelbindegewebes,  das  zur  Bildung  neuer  Sarkolemmaschläuche 
führt. 

Beträgt  der  Zwischenraum  zwischen  den  Muskelstücken  über  2  Cm., 
so  vermag  die  Muskelneubildung  diese  Lücke  nicht  zu  überbrücken ; 
es  bleibt  eine  Narbe  aus  Bindegewebe  eingeschoben,  in  diese  gehen  die 
Muskelfasern  beiderseits  über,  wie  in  eine  Sehne.  Der  Muskel  erscheint 
mit  einer  Inscriptio  tendinea  (wie  der  M.  rectus  abdominis)  versehen. 
Die  Function  wird  —  wenn  die  Zwischensubstanz  kurz  und  derb  ist  — 
hiedurch  nicht  erheblich  gestört. 

Wird  ein  Nerv  durchschnitten,  so  ziehen  sich  die  beiden  Enden 
zunächst  etwas  zurück ;  centrales  und  peripheres  Ende  zeigen  Zertrüm- 
merung der  Markscheide  und  der  Achsencylinder  (traumatische  Degene- 
ration), in  die  Lücke  ergiesst  sich  Mark  aus  den  eröffneten  Markscheiden 
und  etwas  Blut  aus  den  verletzten  Gefässen.  An  ihrer  Stelle  findet 
man  nach  einigen  Tagen  eine  grauröthliche  sulzige  Masse,  welche  den 
Substanzverlust  überbrückt.  Eine  leicht  spindelförmige  Anschwellung 
zeigt  die  Stelle  der  Durchschneidung  an.  Diese  junge  Bildung,  obwohl 
nicht  deutlich  nervöser  Natur,  soll  schon  50  —  70  Stunden  nach  der 
Verletzung  nervöse  Erregungen  leiten  können  und  es  kann  so  in  sehr 
seltenen  Fällen  nach  so  kurzer  Frist  die  Function  des  Nerven  in  dieser 
Weise  wieder  hergestellt  sein. 

Die  V  e  r  ä  n  d  e  r  n  n  g  e  n  an  d  u  r  c  li  s  c  li  n  i  1 1  e  n  e  n  N  e  r  v  e  n  f  a  s  e  r  n  sind  in  Fig.  42 
bis  47  (nach  Eiclihorst)  zu  verfolgen.  Fig.  42  ist  eine  normale  Nervenfaser  (Frosch-Iscliiadi- 
cus).  fs  die  (äussere)  Fibrillenscheide,  mit  sjiärliclien  Kernen,  zwischen  ilir  und  dem  (grauen) 
Achsencylinder  die  (schwarz  gehaltene)  ScJurann'i^che  Scheide ,  bei  <  /'Z  ein  Kern  der 
Sehn- ann' sehen  .Scheide  und  ebenda  eine  licinvi er' sehe  Einschnürung. 

Fig.  43  ist  das  centrale  Ende,  8U  Stunden  nach  der  Durchschneidung.  Bis  zur 
nächstobern  lianvier'sehen  Einsclinürung  ist  die  Ditt'erenzirung  zwischen  Marksclieide 
nnd  Achsencylinder  verschwunden,  man  hat  eine  feinkörnige  Masse ,  das  untere  Ende 
ist  spitz  zugedreht. 

Fig.  44  stellt  das  periphere  Ende  vier  Tage  nach  der  Dunlisclmeidung  im 
Stadium  der  sogenannten  Markgerinnung  dar. 


84 


III.  Caijitel.  —   ViTl(!tziiiigi;ii. 


Fig.  45  am  siebenten  Tag  nach  der  Dui'clisclmeidung- ,  mit,  heKimiendei-  Maik- 
degeneration,  das  Mark  zerfällt  in  einen  fettigen  Theil,  der  re.sorbii-t  wird,  und  einen 
eiweisshaltigen,  der  zurückbleibt. 

In  Fig.  46  (spät.  Stadium)  ist  das  Mark  fast  ganz  zerfallen  und  resorbirt, 
dafür  findet  sich  jetzt  eine  starke  Vermehrung  der  Kerne  der  Schwann' fiche})  Scheide. 
Der  Achsencylinder  verschmilzt  mit  dem  eiweisshaltigen  Rest  der  MsÄkscheide  zu  einer 
nicht  mehr  dift'erenzirbaren  Masse. 

Die  Regeneration  geht  von  dem  Achsencylinder  des  centralen  Stumpfes  aus 
(continuirliche  Regeneration,  Notthoft,  Ströbe).  Fig.  47  zeigt  das  Auswachsen  einer  neuen 
Nervenfaser   aus    dem   alten  Achsencylinder   (70.  Tag).    Doch  können  aus  dem  centralen 


Fig.  42. 


Fig.  43. 


Fig.  44. 


Isolirte   Nervenfaser   aus 
dem    N.    ischiadicus    des 
Frosclies  in  der  Pibrillen- 
scheide.  Vergrösserung 
eoofach.  Osmiumprä- 
parat,   seil  Scliwann'sche 
Scheide,  fs  Fibrillen- 
scheide. 


Aus  dem  Suralaste  des  Kaninchens. 

30  Stunden  nach  der  Durchschneidung. 

Osmiumpräparat.  Vergrösserung  600fach. 

Immersionssystem. 


Stadium  der  Markge- 
rinnung am  4.  Tage    der 
Durchschneidung.   Aus 
dem  Suralaste  eines 
Kaninchens.  Osmiurnjirä- 
parat.  Vergrösserung 
GOOfach.  Immersions- 
system. 


Achsencylinder  auch  (durch  Spaltung)  mehrere  neue  Fasern  hervorgehen.  Die  neuen  Fasern 
sind  zunächst  marklos,  später  umgeben  sie  sich  mit  einer  vom  Centrum  nach  der  Peripherie 
fortschreitenden  Markscheide  (von  den  gewucherten  Nenrilemmkerneu  gebildet).  —  Beim 
Säugethier  sieht  man  schon  am  Anfang  der  dritten  Woche  neue  Nervenfasern,  v.  Bnngner 
nimmt  „discontiuuir liehe  Regeneration"  der  Markscheide  und  der  Achsencylinder  aus 
den  wuchernden  Zellen  der  Schwann' ?,c\\&xy  Scheide  (den  Neuroblasten)  an,  die  von 
Notthoft  und  Ströhe  für  bindegewebiger  Natur  angesehen  werden  und  nach  diesen 
nichts  zur  Regeneration  der  nervösen  Elemente  beitragen. 

Fig.  48  zeigt  die  Nervenregeneration  beim  Warmblüter  (nach  Gluck).  Von  den 
alten  Achsen cy lindern  (a)  wachsen  zarte  Fortsätze  aus ,  die  an  einzelnen  Stellen  zu 
kernhaltigen  langgestreckten  Spindeln  anschwellen ;  diese  Spindelzellen  wachsen  sich  von 
beiden  Seiten   entgegen,    vereinigen  sich  und  bilden   so   die  erste  Verbindung   zwischen 


Nervenregeneration. 


50 


den  beiden  Nervenstümpfen  (Elemente  nervöser  Natiir  oder  Granulationszellen'?).  Sie 
sollen  in  Achsencylinder  übergehen  können  (b).  Daneben  junge  marklose  Nervenfasern 
(c),  aus  den  Achsencylindern  hervorgehend.  Zwischen  diesen  Elementen  Leukocyten  (d) 
und  junge  gewucherte  Neurilemmkerne.  Diese  Fig.  48  stellt  die  sogenannte  prima 
reunio  nervosum  vor,  die,  von  Gluck  angenommen,  von  fast  sämmtlichen  anderen  Autoren 
bestritten  wird. 

Kommt  keine  Eegeneration  zu  Stande,  so  degenei'iren  allmählich,  in  5 — 10  Jahren, 
auch  die  centralen  Fasern,  sowie  die  betreffende  Ganglienzelle,  also  das  ganze  betreifende 
Neurom  (Amputationsstümpfe). 

Xissle  will  14 — 10  Tage  nach  Läsion  des  Nerven  auch  Veränderungen  in  der 
Ganglienzelle  gefunden  haben  (regenerativer  oder  degenerativer  Natur'?). 


Fig.  45. 


Fig.  46. 


Fig.  47. 


Beginnende   Mark- 
degeneration. Aus  dem  Sural- 

aste  eines  Kaninchens.  Os- 
miiuiipriliiarat.  Vergrösserung 

eOOfach.  Immersionssystem. 


Spindelförmige  Anscliwellung 
ii\it  Markresten  und  Kernnestern 

aus  dem  Suralaste  eines 

Kaninchens.  4.   Woche.  Osmium- 

carminprüparat.   Vergrösserung 

400fach.    Immersionssystem. 


Directes  Auswachsen  einer 
regenerirten  endogenen  Nerven- 
faser aus  dem  Achsencylinder 
des  centralen  Nervenstumpfes. 
Aus  dem  Ischiadicus  des  Frosches. 
70.    Tag.     Osmiumpräiiarat.    Ver- 
grösserung öOOfach.     Immersions- 
svstem. 


Im  c  e  n  t  r  a  1  e  n  Nervensystem  werden  wohl  Fasern  regenerirt,  aber  sehr  träge  ; 
aueli  au  Ganglienzellen  werden  spärliche  Mitosen  beobachtet.  Die  Neuroglia  (nervöser 
Natnr)  zeigt  spärliche  Mitosen ;  Bindegewebe  und  Gefässe  bilden  im  Centrahiervensystem 
die  Narbe,  bei  grossen  Defecten  die  AVand  der  Cyste. 

In  Fig.  49  ist  ein  mit  Ueberosmiumsäure  gefärbter  Längsschnitt 
durch  die  Trennungsstelle  eines  Nerven  21  Tage  nach  der  Verletzung 
bei  schwacher  Vergrösserung.  Nach  oben  und  unten  fällt  die  durch 
die  Uelterosniiumsäure  grau  gefärbte  alte  Nervensul)stanz  auf;  in  den» 
spindelig  aufgetriel)enen  Mittelstück  (dem  Nervencallus)  sind  bereits 
niarkhaltige  (graugefärbte j  junge  Nervenfasern  neben  noch  nicht  mark- 
haltiiren  zu  erkennen,  dazwischen  Rundzcllen  und  Neurileniinkerne.   — 


86 


Ur.  Capitel.  —   Vorli-Izunj^eii. 


Fig.  50  zeigt  einen  durchschnittenen  Nerven  bei  Lupenvergrösserung, 
19  Tage  nach  der  Verletzung.  Zwischen  den  alten  Nervenstücken  ist 
ein  verschmächtigtes,  noch  nicht  völlig  markhaltiges  .Schaltstück  neuer 
Bildung.  —  lieber  2 — 3  Cm.  grosse  Lücken  vermag  die  nervöse  Neu- 
bildung nicht  zu  überbrücken  (s.  Nervenplastik).  Kommt  eine  Vereinigung 
nicht  zu  Stande ,  so  schliessen  sich  die  Nerven  mit  kolbigen  Ver- 
dickungen ab.  Das  Mark  in  dem  peripheren  Theil  zerfällt:  aucli  der 
Axencylinder  wird  allmählich  undeutlich.  Dasselbe  ist  der  Fall  bei 
Amputationen;  auch  hier  endigt  der  durchschnittene  Nerv  mit  einer 
kolbigen  oder  spindelförmigen  Anschwellung ,  deren  Hauptbestandtheil 
Bindegewebe  ist.     Die  sensibeln  Fasern  atrophiren  centripetal. 


Fig.  iS. 


Fig.  49. 


Fig.  50. 


.wi\llli|  / 


Neue  Nerven  wachsen  auch  in  gänzlich  abge- 
trennte und  wieder  angeheilte  Stücke  ein ,  ebenso 
in  Theile,  die  von  anderen  Stellen  und  anderen 
Personen  transplantirt  sind.  Die  Regenerations- 
fähigkeit von  Ganglien,  Gehirn  und  Rückenmark  ist  äusserst  beschränkt. 

Die  durchschnittene  Sehne  zieht  sich  zunächst  stark  zurück.  Der 
Raum  zwischen  beiden  Enden  wird  ausgefüllt  durch  das  Zusammenfallen 
der  Sehnenscheide  und  durch  Blut. 

Bei  der  Regeneration  der  Sehnen  wird  stets  ein  Zwischen- 
stück zwischen  den  beiden  Stümpfen  gebildet.  Je  kürzer  der  Zwischen- 
raum ist  (Sehnennaht!),  je  weniger  Blutgerinnsel  dazwischen  liegen, 
umso  rascher  und  vollkommener  ist  die  Regeneration.  Den  grrssten 
Theil  des  neuen  Gewebes  bilden  die  Zellen  des  umgebenden  Binde- 
gewebes (Peritendineums),  des  zwischen  den  Sehnenbündeln  liegenden 
Bindegewebes,  die  Endothelien  der  Gefässe  (vergl.  Organisation  des 
Blutgerinnsels).      Erst    spät    proliferiren    die    Sehnenkörperchen.      Die 


Wuudeu  inuerer  Organe.  Narbe. 


87 


Fig.  51. 


Zwischensubstauz  ist  noch  lange  Zeit  durch  ihre  Unregelmässigkeit 
mikro-  und  makroskopisch  von  der  alten  Sehnensubstanz  zu  unter- 
scheiden (Busse,  Deutsehe  Zeitsehr.  f.  Chir.,  Bd.  33). 

Die  Heilung  und  Regeneration  bei  Wunden  innerer  Or- 
gane ist  von  Barth  {Langenheck'' s  Archiv,  45)  für  die  Niere  studirt 
worden.  Längs  des  Schnittes  finden  sich  stets  ausgedehnte  degenerative 
Veränderungen  ,  vorwiegend  Verfettungen ,  namentlich  der  Epithelien. 
Stets  findet  sich  Fibrineinlagerung  zwischen  den  Wundrändern.  Nekro- 
tische Partien  und  Fibrin  werden  von  Leukocyten  durchsetzt  und  von 
Granulationsgewebe,  das  vom  präexistenten  Bindegewebe  ausgeht,  durch- 
wachsen und  resorbirt.  Die  Regeneration  zeigt  sich  in  reichlichen 
Mitosen  seitens  der  Epithelien,  noch  reichlicher  seitens  der  die  binde- 
gewebige Narbe  aufbauenden  Endothelien  der  Capillaren ,  der  Zellen 
der  Gef ässadventitia ,  der  fixen  Bindegewebszellen ,  der  Zellen  der 
fibrösen  Kapsel  u.  s.  w.,  die  gross,  rundlich  oder  polygonal  werden 
(Fibroblasten ,  Fig.  35).  Auch  das  umgebende  Gewebe  ist  durchsetzt 
mit  Leukocyten ,  hyperämisch  und  zeigt 
reichliche  Karyokinesen.  Neugebildet  werden 
gerade  und  gewundene  Harnkanälchen, 
Glomeruli  so  gut  wie  nicht.  Schliesslich  er- 
reicht der  Process  mit  Schrumpfung  des 
Granulationsgewebes  zur  Narbe  sein  Ende. 


KünuneU  nahm  eine  ausgedehntere  Nieren- 
regeneratioü  bei  successiver  Abtragung  wahr. 

An  der  Leber  stellte  Ponfick  eine 
grosse  Regenerationsfähigkeit  fest,  solange 
die  grossen  Gefässe  der  Porta  erhalten 
waren.  Die  regenerativen  Processe  sind 
denen  bei  der  Niere  analog. 

Den  Verschluss  der  Blutgefässe  be- 
sprechen wir  bei  der  Blutung  (s.  dort). 

Das  Endresultat  der  meisten  Ver- 
letzungen ,    vieler    Entzündungen ,    der  Ab- 

schluss  fast  aller  unserer  operativen  chirurgischen  Eingriffe  ist  die 
Narbe.  Sie  besteht  aus  einem  überaus  derben,  zellen-  und  gef äss- 
armen  Gewebe,  hauptsächlich  aus  Bindegewebsfasern  mit  wenig  spindel- 
förmigen platten  Zellen  (Fig.  51).  Der  Unterschied  gegenüber 
der  Fig.  37,  einer  der  Vernarbung  nahen  Granulation,  ist  nur  ein 
gradweiser,  das  junge  unfertige  Gewebe,  die  Rundzellen  und  jungen 
Gefässe  .sind  verschwunden,  verdrängt  durch  die  starren  Bindegewebs- 
fasern a.  Die  Stellen ,  w^o  die  Fasern  und  Spindelzellen  concentrische 
Anordnung  zeigen,  sind  verödete  Gefässe. 

Entgegen  anderen  Autoren  {Ehertlt  u.  A.)  behauptet  Grawitz  die  Entstehung  der 
Granulation  und  der  Karbe  aus  den  Sehlummerzellen  und  der  Intercellularsubstanz,  in 
der  Molecüle  (GrannhiV)  von  Kernen  und  Zellsubstanz  übrig  geblieben  seien,  ilie  nun 
erwachen  und  wuchern.  Die  Intercellularsubstanz  ist  ihm  nicht  ein  Product  der  Zell- 
abscheidung,  sondern  Metamorj^hose  der  Zellen.  Es  wäre  eine  gewisse  Rückkehr  zur 
i'reien  Zellbildung  (^.Intercellularpathologie"). 

Die  A'iirgänge  der  Schrumpfung  und  Verödung,  welche  die  Granulation  in  die 
junge  Narbe  üljerführen,  bleiben  der  Narbe  auch  für  ihr  späteres  Leben  zu  eigen.  Die 
Narbe ,  wie  sie  eben  ans  der  Granulation  hervorgeht ,  ist  kein  fertiges  Gewebe.  Sie 
ändert  sich  noch  jahrelang,  sie  zieht  sich  immer  mehr  zusammen  und  wird  immer 
gefässärmer.     Anfangs  ein    lireiter,    hlutigi'other    derber  Striemen,    wird    sie   im   Laufe 


gg  '    in.  Capitel.  —  Verletziiiigeii. 

dtsr  Jalirc  und  .lalirzeliiite  zur  R-liinzeud  weissen,  kaum  niehi-  siclit-  und  fiildbareu 
Linie.  So  erwünscht  diese  Narbe  nsc  lirump  fung-  an  jnanclieii  Stellen  ist,  z.B.  im 
Gesieht,  wo  hässlich  entstellende  Narben  von  Jahr  zu  Jahr  weniger  störend  werden: 
so  furchtbar  können  ihre  Wirkungen  auf  der  anderen  Seite  sein.  Grosse  Narben 
von  Verbrennungen  am  Halse  können  den  Kopf  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  auf  die 
Brust  niedergezogen  festhalten  (siehe  Verbrennung).  Narben  von  ringiormigen  Geschwüren 
an  den  Extremitäten  führen  zu  schweren  Circulationsstörungen  in  den  Theilen  jenseits, 
ja  sie  schnüren  den  peripheren  Theil  förmlich  ab  und  führen  geradezu  zum  Brand 
derselben  („Selbstamputationen").  Gelenke  können  in  spitzem  Winkel  festgestellt 
werden  u.  dergl.  Und  zwar  sind  es  nicht  blos  die  Narben  der  Haut,  auch  Fascien- 
schrnmpfungen,  entzündliche  und  vernarbende  Processe  in  Muskeln  können  zu  solchen 
oft  entsetzlichen  Verziehungen  (Contracturen)  führen.  In  Canälen  (Harnröhre ,  Speise- 
röhre, Darm,  Scheide)  führen  Entzündungen  oder  Verletzungen  zu  ringförmigen  Narben, 
welche  im  Laufe  von  Jahren ,  oft  erst  Jahrzehnten  sich  concentrisch  zusammenziehen 
und  die  Lichtung  des  Canales  aufs  Aeusserste  verengern  können  (Stenosen,  Stricturen). 
Lippen ,  Augenlider  werden  durch  Vernarbungen  nach  aussen  oder  innen  umgestülpt 
(En-  und  Ectropium)  und  es  entstehen  hässliche  Entstellungen.  Die  Schnitte  so  zu 
führen,  die  Narbenbildung  so  zu  leiten ,  dass  die  spätere  Schrumpfung  keinen  Schaden 
bringt,  ist  eine  Hauptkunst  des  Chirurgen. 

Die  Narbe  ist  trotz  ihrer  Derbheit  ein  hinfälliges,  wenig  widerstandsfähiges  Ge- 
webe, namentlich  das  Narbenepithel.  —  Grosse  Narben  werden  sehr  leicht  wund ,  sie 
zerreissen  oder  zerspringen  förmlich ,  z.  B.  an  Gelenken  ,  welche  durch  schrumpfende 
Narben  in  Winkelstellung  festgestellt  sind  (Ankj'loseu  oder  Contracturen)  und  die  so 
entstandenen  wunden  Stellen  heilen  überaus  schwer. 

Granulationsflächen ,  die  während  der  Heilung  schlecht  gehalten ,  namentlich 
mechanisch  misshandelt ,  gescheuert  wurden,  heilen  oft  mit  übermässiger  Bindegeweb.?- 
neubildung,  sie  geben  Anlass  zur  Narbenwu  eher  ung.  Die  Narbe  bildet  dann  einen 
rothen,  bis  1  Cm.  sich  über  die  Haut  erhebenden  hässlichen  Wulst ,  mit  dünnem,  spie- 
gelndem Epithel  bedeckt.  Anatomisch  ist  nur  eine  unvollständige  Schrumpfung  und 
Rückbildung  nachzuweisen.  Das  Ueberstreichen  mit  CoUodium  oder  Jodtinctur  oder 
Einpinseln  mit  Ichthj'olum  purum  hat  mir  einige  Male  gute  Dienste  gethan.  Sonst 
bleibt  nur  die  Ausschneidung  übrig.  —  Der  üebergang  der  wuchernden  Nai'be  in  die 
Narbengescliwulst ,  das  Keloid  (siehe  Neubildungen),  ist  ein  unmerklicher  und  werde 
ich  dort  auf  die  oft  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  erfolgreicher  Behandlung  hiuAveisen. 
Nach  Jahren  schrumpfen  solche  hypertrophische  Narben  manchmal  ohne  sichtbaren 
Anlass  plötzlich  von  selbst. 

Auf  grossen,  häufig  wieder  aufbrechenden  Narben,  von  Unterschenkelgeschwüren, 
Brandwunden,  entwickeln  sich  gelegentlich  Narbenkrebse.     (Siehe  Neubildungen.) 


Schnittwunden  entstehen  durch  successive  Trennung-  der  Gewebe. 
Schneidende  Instrumente  (Messer ,  Scheere  u.  dergl.)  wirken  wie  eine 
Säge,  durch  Zug  Schichte  um  Schichte  trennend  (die  Schneide  selbst 
des  bestgeschliflfenen  Messers  sieht  unter  dem  Mikroskope  wie  eine 
Säge  aus).  Auch  die  Hiebwunden  werden  durch  scharfe  Instrumente 
hervorgerufen.  Hier  macht  sich  ausserdem  noch  eine  Druckwirkung- 
geltend,  weil  das  Werkzeug,  Säbel  u.  dergl.,  mit  einer  gewissen  Kraft 
geführt  wird.  Die  Beschädigung  der  Gewebe  längs  der  Wundspalte 
ist  hier  nicht  so  minimal  wie  bei  den  Schnittwunden;  doch  ist  sie  nuV 
selten  eine  so  starke,  dass  nicht  die  Prima  reunio  möglich  Aväre  und 
in  fast  allen  Fällen  erreicht  würde.  Je  stumpfer  das  Instrument  und 
mit  je  geringerer  Geschwindigkeit  es  eindringt,  um  so  eher  stirbt  ein 
Theil  der  Gewebe  an  den  Wundrändern  ab  und  es  kommt  zur  Granu- 
lationsbildung und  Heilung  auf  langsamem  Wege.  —  Dringen  Hiebwunden 
schräg  zur  Körperoberfläche  ein ,  so  kann  der  eine  Wundrand  unter- 
minirt,  selbst  lappenförmig  fast  oder  ganz  abgelöst  werden — Lappen- 
wunde. Die  Stelle,  an  welcher  der  Lappen  noch  hängt,  welche  die 
Verbindung  mit  dem  übrigen  Körper  noch  vermittelt,  heisst  die  Brücke 
des  Lappens;  ist  dieselbe  sehr  schmal,  so  reden  wir  von  Stiel.    Bei 


Schnitt-,  Hieb-  und  Sticlnvunden.  39 

der  HeiluDg'  solcher  Wunden  mnss  der  Lappen  gut  auf  der  Unterlage 
angedrückt  sein,  doch  kommt  es  oft  genug  vor,  dass  er  wegen  ungenügender 
Ernährung  ganz  oder  wenigstens  an  den  Rändern  abstirbt  (Lappen- 
und  Randg-angrän). 

Ist  der  Theil  ganz  aus  seinem  Zusammenhang  mit  dem  übrigen 
Körper  gelöst,  so  liegt  eine  Ab  hieb  wunde  vor  (am  Schädel  ,,Apo- 
skeparnismus"  genannt).  Wenn  der  abgetrennte  Theil  —  eine  Nasen- 
spitze, ein  Stück  Ohr,  ein  Stück  Schädelhaut  —  nicht  zu  massig  und 
dick  ist,  so  heilt  er  gut  angedrückt  mitunter  wieder  an.  Die  plasmatische 
Circulation  scheint  zur  Ernährung  zu  genügen,  bis  Gefässe  hereinwachsen. 
Wir  kommen  bei  der  chiruroisehen  Plastik  hierauf  wieder  zurück. 


Bei  Stichwunden  handelt  es  sich  weniger  um  eine  Trennung 
der  Gewebe,  als  ein  Auseinanderdrängen  derselben.  Das  spitze  Instru- 
ment schiebt  die  Weichtheile  auseinander  und  diese  scliliessen  sich, 
wenn  es  durchgetreten,  hinter  ihm  wieder;  an  grösseren  Gefässen  gleitet 
es  meist  vorbei,  ohne  sie  zu  verletzen. 

Nadeln  können  fast  den  ganzen  Körper  durchwandern,  ohne  ii'gend  welche 
Spuren  ihres  Weges  zu  hinterlassen.  Selbst  in's  Herz  kann  man  sie  stechen  —  zur 
Wiederbelebung  Chloroformirter  hat  man  dies  mitunter  gethan  (!)  ohne  schwere  Folgen. 
—  Grössere  Instrumente ,  Troicarts ,  Bajonette  u.  dergl.  hinterlassen  natürlich  deutliche 
Stichcanäle ,  die  aber  nur  wenig  bluten ,  da  die  Gewebe  rings  gequetscht  sind  und 
grössere  Gefässe  nur  selten  verletzt  sind. 

Bei  Stichen  mit  scharfen  Instrumenten,  Messer-,  Degenstichen,  wirkt  das  scharfe 
Instrument  auch  schneidend  und  verletzt ,  was  ihm  in  den  Weg  kommt.  Hier  können 
Gefässe  in  der  Tiefe  angeschnitten  werden  und  beträchtliche  Blutungen  erfolgen.  Seltener 
ergiesst  sich  das  Blut  durch  den  Stichcanal  nach  aussen ,  meist  kommt  es  zu  tiefen 
inneren  Blutungen  in  Körperhöhlen  oder  das  Blut  wühlt  sich  in  die  Gewebe  hinein  und  bildet 
hier  Blutgeschwülste  (Hämatome)  oder  traumatische  Aneurysmen  (siehe  Blutung).  Oder 
es  werden  Nerven  in  der  Tiefe  verletzt.  Dann  hat  man  heftigen  Schmerz,  und  in  einem 
Theil  der  Fälle  Lähmung  des  Nerven. 

Soll  man  beurtheilen ,  was  ein  Stich  in  der  Tiefe  Alles  verletzt 
haben  mag,  so  hat  man  vor  Allem  die  Richtung  zu  beachten,  in  der 
der  Stich  mutlimasslich  erfolgt  ist. 

Hat  der  Verletzte  im  Momente ,  wo  er  den  Stich  empfing ,  eine  ungewöhnliche 
Stellung  eingenommen ,  so  können  Stichcanäle  zu  Stande  kommen ,  die  man  zunächst 
für  unmöglich  halten  möchte.  So  erinnere  ich  mich  eines  Knaben,  der  mit  stark  ge- 
beug-tem  Hüftgelenk  von  einem  Baume  herab  auf  einen  Pfahl  fiel.  Dieser  drang  unter 
der  Gesässfalte  in  die  Hinterfläche  des  Oberschenkels  ein,  ging  durch  diesen  hindurch 
und  gelangte  unter  dem  Lig.  Poupartii ,  ohne  dort  eine  äussere  Wunde  zu  machen, 
in  die  Fossa  iliaca.  Nach  2'/'.,jäliriger  Eiterung  an  der  Hintei^fläche  des  Oberschenkels 
wurde  durch  einen  Schnitt  über  dem  Lig.  Poupartii  ein  halbfingerlanger  Holzsplitter  aus 
der  Darmbfingrube  entfernt.  Es  trat  sofort  Heilung  ein.  In  horizontaler  Bettlage,  wie 
man  die  Kranken  zu  untersuchen  pflegt ,  bildete  der  Stichcanal  eine  melirfach  winklig 
geknickte  Linie. 

Ebenso  bat  man  das  verletzende  Instrument  darauf  anzu.sehen, 
ob  nicht  ein  Stück  davon  in  der  Wunde  zurückgeblieben  sein  kann, 
z.  B.  Ijei  eineiii  jMesser  die  Spitze  abgeljrochen  ist.  Kleine  Fremdköriier 
kimnen,  wenn  sie  frei  von  Mikroorganismen  sind,  durch  eine  bindege- 
webige Neubildung  abgekapselt  werden  (vergl.  ])ag.  <S()).  Äleist  kommt 
es  aber  zur  Eiterung. 

Der  Verlauf  einer  Stichwunde  wird  lediglich  dadurch  be- 
stimmt, ob  das  Instrument  keimfrei  (aseptisch)  oder  unrein  gewesen  ist. 
Mit  asei)tischer  Hohlnadel    oder  Troicart  kann    man    ung-estraft    in    die 


9()  JII.  Capitel.  —  V<;rlet,zungeii. 

Tiefe  dringen,  um  mit  angesetzter  Spritze  durch  eine  „rrobepunotion" 
Eiter,  Blut  oder  Serum  in  der  Tiefe  nachzuweisen  und  anzusaugen, 
Ist  das  Instrument  unrein,  d.  h.  sind  Mikroorganismen  daran,  so  werden 
diese  oft  in  beträchtliche  Tiefe  eingeimpft  und  es  entstehen  dann  scliwere 
tiefe  Eiterungen  oder  Jauchungen,  die  nur  schwer  ihren  Weg  nach  aussen 
linden  und  das  Leben  durch  Uebertreten  giftiger  .Stoffe  in  das  Blut 
ernstlich  gefährden  können. 

Bei  den  Stichwunden,  wie  sie  durch  zufällige  Verletzungen,  Holzsplitter  u.  dergl., 
bei  Eaufliändeln  erfolgen ,  ist  deshalb  stets  peinliche  Aufmerksamkeit  in  der  Beob- 
achtung des  Falles  geboten.  Neben  strenger  antiseptischer  Behandlung  der  Wunde  und 
Einlegung  eines  Drainrohres ,  wenn  der  Stichcanal  weit  genug  ist ,  ist  zweimal  täglich 
die  Temperatur  zu  bestimmen  und  beim  Verbandwechsel  die  Umgebung  der  Wunde  zu 
betasten.  So  lange  die  Temperatur  normal  bleibt,  ist  meist  Alles  in  Ordnung.  Kommt 
Fieber  und  bilden  sich  gar  teigige  Anschwellungen,  so  ist  sicher  Eiterbildung  im  Gange. 
Um  Weiterverbreitungen  der  Eiterung  („Eitersenkungen")  vorzubeugen ,  ist  sofort  aus- 
giebig zu  incidiren  und  zu  drainiren  (vergl.  pag.  32). 

Die  meisten  Stichwunden  heilen  schnell  und  leicht.  Bleibt  eine 
Sticliwunde  längere  Zeit  offen  und  eitert,  so  ist  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit anzunehmen  ,    dass  noch  ein  fremder  Körper  darin  sitzt. 

Pfeil  schlisse  und  Lanzenstiche  bluten  wenig  und  verlangen 
dieselbe  Behandlung,  wie  Stichwunden. 

Pfeil-  oder  Lanzenspitzen,  die  in  der  Wunde  stecken,  werden  am  besten  entfernt, 
wenn  nötliig,  mit  Hilfe  seitlicher  Einschnitte  (Widerhaken).  Ist  die  Spitze  der  Haut 
nahe,  so  kann  sie  durchgestossen  werden,  oder  darauf  eingeschnitten  werden.  Sitzt  der 
Fremdkörper  in  der  Nähe  eines  grossen  G-efässes,  so  ist  unter  Esmarch' scher  Blutleere 
einzuschneiden  und  das  Gefäss  zu  unterbinden.  Nur  selten  dürfte  es  zweckmässig  sein, 
ihn  sitzen  zu  lassen ,  bis  eine  demarldrende  Entzündung  die  Umgebung  abschliesst. 
Von  vergifteten  Pfeil-  etc.  Wunden  sprechen  wir  bei  den  Wundinfectionen. 

Eingestochene  Nadeln  führen  nur  selten  zur  Eiterung.  Unter 
geringen  Schmerzen  wandern  sie  weit  hin  durch  den  Körper,  oft  von 
der  Hand  bis  zum  Oberarm,  dem  Fusse  bis  zum  Oberschenkel.  Sind 
sie  der  Haut  nahe,  so  lassen  sie  sich  als  kleines ,  auf  Druck  empfind- 
liches Knötchen  fühlen.  Wenn  man  darauf  einschneidet,  so  werden 
sie  am  besten  durch  Druck  von  der  Seite  oder  von  hinten  her  nach  der 
Wunde  hin  herausgedrückt.  An  geeigneten  Stellen  können  sie  mit  Hilfe 
der  Böntgen-^itrahlen  nachgewiesen  werden. 


Verletzungen  durch  stumpfe  Gewalt. 

Erschütterung.  —  Dehnung.  Zerrung  und  Zerreissung.  —  Quetschung.  —  Blut- 
erguss.  —  Hämatom.  —  Resorption  der  Blutergüsse.  —  Behandlung  der  Quetschung. 
—  Massage.  —  Quetschwunden.  —  Eigenthümlichkeiten  derselben.  —  Neigung 
zu  Eiterung  und  Jauchung.  —  Behandlung  der  Quetschwunden.  —  Riss-  und  Riss- 
quetschwunden.  —  Bisswunden. 

Bei  den  Verletzungen  durch  stumpfe  Gewalt  kommt  es 
nicht  zur  Trennung  der  äusseren  Decken. 

Bei  der  Erschütterung  (Commotio,  Concussio)  scheint  durch 
eine  mit  breiter  Fläche  und  nicht  zu  grosser  Geschwindigkeit  ein- 
wirkende Gewalt  (Sturz,  Stoss  bei  einem  Eisenbahnunglück  u.  dergl.), 
eine  Art  Dnrchrüttelung  des  Körpers,  eine  „Vibration"  zu  Stande  zu 
kommen.  Erschütterungserscheinungen  kennen  wir  eigentlich  nur  von 
den    nervösen    Geweben    (Centralnervensystem ,    Rückenmark,    Nerven- 


Erschütterung.  Zerrung.  91 

plexus,  Sinnesorganen  und  peripheren  Nerven).  Die  wesentlichen  Er- 
scheinungen sind  schwere  Functionsstörungen,  erst  aufgehobene,  später 
oft  krankhaft  gesteigerte  Thätigkeit.  Bekannt  sind  die  Erscheinungen 
der  Hirnerschütteriing  —  völlige  Bewusstlosigkeit ,  schwere  Störungen 
der  Herzthätigkeit  und  Athmung,  die  unmittelbar  in  den  Tod  übergehen 
k(  innen. 

Mikroskopisch  linden  wir  nichts ,  Avenigstens  nicht  mit  unseren  jetzigen  Hilfs- 
mitteln. Namentlich  sind  Blutergüsse  keineswegs  für  Erschütterung  charakteristisch. 
Dass  wirkliche  dii'ecte  Beschädigungen  der  Zellen  vorhanden  sein  müssen,  geht  aus  der 
oft  Wochen-,  selbst  nionate-  und  jahrelangen  Dauer  der  Functionsstöruug  bei  der  Er- 
schütterung hervor.  Solche  langdauernde  Störungen  sind  ganz  besonders  nach  der 
Erschütterung  des  Rückenmarks  bei  Eisenbahnunfällen  beobachtet  (Eailway-spine). 
In  Folge  von  Gehirnerschütterungen  lindet  man  nach  Jahren  und  Jahrzehnten,  wenn 
die  Verletzten  im  „traumatischen  Irresein"  zu  Grunde  gehen ,  fettige  Degenerationen, 
bindegewebige  Atrophien  und  Verkalkungen  der  Ganglien  der  Grosshirnrinde.  —  Bei 
der  Commotio  thoracis,  die  man  bei  Sturz  auf  weichen  Grund  sieht,  haben  die  Ver- 
letzten bei  völlig  erhaltenem  Bewusstsein  mit  hochgradiger  Athemnoth  zu  kämpfen, 
sind  sprachlos ;  der  Puls  ist  nicht  zu  fühlen  u.  s.  f.  (Erschütterung  der  gangliösen 
Apparate  des  Herzeus,  auch  der  Lunge?)  —  Bekannt  ist  auch  das  Gefühl  der  Ver- 
nichtung, das  man  bei  einein  Stoss  gegen  die  Magengrube  empfindet  (Aenderungen  in 
der  GefässfüUuug ,  wie  beim  Goliz'schen  Klopfversuch  oder  Erschütterung  des  Plexus 
coeliacus?). 

Auf  E  r  s  c  h  ü  1 1  e  r  u  n  g  p  e  r  i  p  h  e  r  e  r  N  e  r  V  e  n  bezieht  man  den  eigenthümlichen 
Zustand  der  Empfindungslosigkeit,  der  in  der  Umgebung  von  Schusswunden  stunden- 
bis  tagelang  nach  der  Verletzung  zu  beobachten  ist.  Auch  eine  Erschütterung 
von  Knochen  scheint  vorzukommen  (Gefässzerreissungen  im  Mark?).  Die  übrigen 
Gewebe  des  Köi'pers  sind  gegen  Erschütterung  wenig  empfindlich. 

Die  Behandlung  der  Erschütterung  ist  Ruhe;  unter  Um- 
ständen Anregung  der  darniederliegenden  Functionen ,  z.  B.  der  Herz- 
thätigkeit, durch  Excitantien  (Kampher,  Aether,  Wein).  Oertlich  kann 
später  Massage  nützlich  sein. 

Durch  Einwirkung  von  Zugkräften  entstehen  Dehnung,  Zer- 
rung, Zerreissung  —  die  eine  der  höhere  Grad  der  anderen.  — 
Die  Gewebe  werden   über  die  Grenze  ihrer  Dehnbarkeit  „ausgedehnt''. 

Eine  mit  blossem  Auge  zu  sehende  Zusammenhangstrennung  ist  bei  der  Deh- 
nung und  Zerrung  nicht  vorhanden  —  wohl  aber  mikroskopische  Veränderungen.  An 
gedehnten  Muskeln  sind  die  Muskelfasern  hier  und  dort  schmächtiger,  die  Fibrillen 
zum  Theil  zerrissen  ;  dabei  können  die  Sarcolemmaschläuche  erhalten  sein  und  in  ihnen 
Schollen  von  Muskelsubstanz  liegen  oder  auch  diese  sind  zerrissen  und  zusammengefaltet. 
Kleine  Blutungen  fehlen  nicht.  An  Gefässen  lassen  sich  Eisse  in  der  Intima  und  Media 
erkennen.  An  gedehnten  Nerven  finden  sich  Aenderungen  der  Blutfülle,  Injectionen, 
kleine  Blutungen,  Unregelmässigkeiten  der  Markscheiden.  Auch  in  bindegewebigen 
Theilen  greifen  ähnliche  Veränderangeu  Platz  —  Zusammenhangstrennungen  an  einzelnen 
Stellen,  Blutungen  in  Sehnen,  Fascien,  Gelenkhändeni. 

Die  Zerrung  —  ein  plötzlich  oder  ruckweise  erfolgender  Zug  — 
setzt  nur  dem  Grade  nach  stärkere  Veränderungen  als  die  Dehnung. 
Bei  beiden  ist  die  Wirkung  —  bei  Muskeln,  Gelenkbändern  u.  dergl. 
—  oft  auf  kleinere  Bezirke,  wo  die  Gewebe  weniger  widerstandsfähig 
sind,  beschränkt  und  kann  es  hier  zu  wirklichen  kleinen  Zerreissungen 
kommen.     Kleine  Blutergüsse  fehlen  an  diesen  Stellen  nicht. 

Die  Erscheinungen  der  Dehnung  und  Zerrung  sind  Schmerz 
und  Functionsstörung.  Der  Schmerz  ist  häufig  auf  die  Stelle  der 
Dehnung  loealisirt  (ähnlich  dem  loealisirten  Schmerz  bei  Knochen- 
brüchen).  Ebenso  ist  die  Schwellung,  die  übrigens  nicht  inmier  vor- 
handen zu  sein  braucht,  oft  eine  örtlich  beschränkte. 


92  J^I-  Oa]jitel.  —  Verletzungen. 

Bei  der  Behandlung-  steht  obenan  die  Massage,  daneben  tragen 
Friessnitz' sähe  Umschläge,  Einreibungen  mit  »Salben  u.  dergl.  einiges 
zur  Beschleunigung  der  Heilung  bei.  Meist  gelingt  es  in  wenig  Tagen, 
die  Folgen  der  Dehnung  und  Zerrung  zu  beseitigen.  Doch  können  ge- 
zerrte Muskeln  dauernd  eine  gewisse  functionelle  Schwäche  behalten 
und  überdehnte  Gelenkbänder  schlaff  bleiben.  Auch  hier  ist  Massage, 
energisch  und  consequent  durchgeführt,  besser  als  Schonung  (durch 
umgelegte  Binden,  "Wasserglas-  und  Gypsverbändej. 

Besonders  leicht  werden  Narben  gedehnt  (Bauchbrüche  nach  Bauchschnitten). 

Bei  der  Zerreissung  kommt  es  zu  makroskopischen  Zusammen- 
hangstrennungen.  —  Bald  ist  es  eine  äussere  Gewalt,  welche  die  Ge- 
webe zerreisst ,  wenn  ein  Arm ,  die  Hand  von  einer  Maschine  erfasst 
wird,  oder  es  ist  eine  energische  Muskelzusammenziehung,  welche  die 
Zerreissung  bewirkt.  Die  Trennung  erfolgt  an  der  Stelle  geringsten 
Widerstandes. 

Bei  annähernd  gleicher  Zugvvirkung  erfolgt  die  Trennung  nicht  immer  an  derselben 
Stelle.  So  kann  eine  sehr  energische  Zusammenziehung  des  M.  quadriceps  femoris  erzeugen  : 
eine  Ablösung  der  Tuberositas  tibiae  in  der  Knorpelfuge  bei  jugendlichen  Individuen : 
eine  Zerreissung  des  Lig.  patellae  oder  einen  queren  Bruch  der  Kniescheibe,  schliesslich 
kann  auch  der  Quadriceps  selbst  an  der  Stelle ,  wo  er  über  dem  Knie  anfängt  sehnig 
zu  werden,  zerreissen.  Besonders  leicht  reissen  schon  vorher  kranke  und  weniger  ■wider- 
standsfähige Partien  —  entzündete  Muskeln  oder  Sehnen    (siehe  Trommlerlähmung). 

Die  Gewebe  sind  äusserem  Zug  gegenüber  sehr  verschieden  wider- 
standsfähig. An  einem  abgerissenen  Arm  bleiben  oft  noch  Brücken 
von  Haut,  dann  Nervenstränge  und  Gefässe  erhalten,  Muskeln,  Bänder, 
Fa seien  dagegen  sind  glatt  durchrissen.  Nicht  selten  wird  ein  Theil, 
z.  B.  ein  Finger,  ganz  ausgerissen.  Die  Beugesehne  bleibt  dann  fast  aus- 
nahmslos mit  dem  abgelösten  Finger  in  Verbindung ;  sie  reisst  am  Ueber- 
gang  in  die  Muskelsubstanz  ab.  An  der  Stelle  einer  Zerreissung  zeigt 
sich  meist  eine  unregelmässige,  zackige  Trennungslinie,  in  welche  ein 
grösserer  oder  kleinerer  Bluterguss  eng  eingefilzt  ist.  In  denselben  ein- 
geschlossen sind  halb  abgerissene  Gewebsfetzen.  Auch  jenseits  der 
Trennungsstelle  sind  die  Gewebe  nicht  normal,  sondern  zeigen  die  bei 
der  Dehnung  beschriebenen  Veränderungen.  Die  Heilungsvorgänge  bei 
Zerreissungen  sind  ganz  dieselben,  wie  bei  der  Heilung  von  Schnitt- 
wunden oder  Substanzverlusten  (siehe  Organisation  des  Bkitgerinnsels 
und  Regeneration). 

Die  Stelle  des  Risses  ist  z.  B.  an  Muskeln  und  Sehnen  zu  fühlen 
und  zu  sehen;  anfangs  als  weiche  Vorwölbung,  die  durch  den  Blut- 
erguss bedingt  ist,  später,  wenn  dieser  geschwunden  ist,  fühlt  man  die 
Lücke.  Dazu  kommt  noch  als  zweites  Hilfsmittel  der  Diagnose  der 
Ausfall  der  Function  bei  Muskeln ,  Sehnen ,  Nerven  (motorische  und 
sensible  Lähmung);  das  Schlottern  von  Gelenken  in  bestimmter  Rich- 
tung, wenn  das  fixirende  Band  zerrissen;  die  Circulationsstörungen  bei 
Gefässzerreissung  (siehe  Blutung). 

Der  Bluterguss  ist  durch  Massiren  zu  entfernen  und  die  Auf- 
saugung desselben  durch  feuchtwarme  Umschläge  zu  beschleunigen. 
Dann  sind  die  Stümpfe  möglichst  anzunähern.  Gelingt  dies  nicht  durch 
Verbände,  so  sind  die  Theile  durch  die  Naht  zu  vereinigen,  am  besten 
wenn  die  schwerste  Störung  in  den  Geweben  abgelaufen  ist,  d.  h.  nach 
1  —  2  Wochen.  Die  Gefahren  einer  Störung  der  Wundheilung  sind 
dann  nicht  mehr  so  gross. 


Zerreissuag.  Quetscliung.  93 

Bei  der  Besiirechiing  der  Quetschwunden  gehen  wir  auf  die  fast 
ganz  gleiche  Behandhing  der  Risswunden  ein. 


Quetschung  (Contusio)  entsteht  durch  Druckkräfte.  Eine 
stumpfe ,  durch  ihre  flache  Oberfläche  zum  Eindringen  in  den  Körper 
wenig  geeignete  Gewalt  drückt  die  Gewebe  zwischen  zwei  unnach- 
giebigen Flächen  zusammen,  bis  sie  seitlich  ausweichen  und  so  zer- 
sprengt und  zerrissen  werden.  Gussenbauer  definirt  die  Quetschung 
als  „Zerreissung  durch  Druck".  Doch  handelt  es  sich  auch  um  un- 
mittelbare Zerdrückung  der  Gewebe, 

Höhere  Grade  der  Quetschung  sind  die  Zerquetschung,  Zer- 
trümmerung und  Zermalrauug. 

Wo  eine  Qiietschung  erfolgt  ist,  finden  sich,  die  Gewebe  in  den  verscliiedensten 
Arten  und  Graden  mechanischer  Beschädigung.  Zerrissenes,  gequollenes,  blutig  infil- 
trirtes  Bindegewebe ;  auseinandergerissene ,  in  Schollen  zerfallene  Muskelfasern ,  zum 
Theil  in-,  zum  Theil  ausserhalb  ihrer  Sarcolemmaschläuche ;  zerdrücktes ,  zu  Tropfen 
zusammengeflossenes  Fett  und  all  dies  durchtränkt  und  gefärbt  mit  Blut ,  das  theils 
noch  intacte  rothe  Blutkörperchen  enthält,  zum  Theil  sind  auch  diese  aufgelöst  und 
der  Blutfarbstoft'  imbibirt  sich  ditfus  in  die  Gewebe.  Natürlich  sind  diese  Veränderungen 
in  verschiedenem  Grade  ausgesprochen ,  von  einer  einfachen  Durchsetzung  eines  sonst 
fast  normal  scheinenden  Gewebes  mit  rothen  Blutkörperchen  und  ödematöser  Durcli- 
tränknng  (Quetschung  leichtester  Art)  oder  Beule  (Sugillation)  ,  bis  zu  völliger  Zer- 
mnlmung,  wo  die  Gewebe  aufgegangen  sind  in  einem  blutigen  schmierigen  Brei. 

Neben  der  Quetschung  der  unmittelbar  getroffenen  Stelle  können 
Zerreissungen,  Abreissungen,  Abwälzungen,  Abdrehungen  benachbarter 
Theile  vorhanden  sein. 

Schwellung,  Schmerz  und  Verfärbung  der  Haut  durch  aus- 
getretenes Blut  bezeichnen  die  Stelle  der  Quetschung.  Dazu  kommt 
noch  die  Functionsstörung  durch  den  Schmerz  und  durch  die  Zer- 
trümmerung der  Gewebe.  So  lange  das  Blut  in  den  tiefen  Schichten 
sitzt,  verfärbt  sich  die  Haut  nicht.  Man  hat  dann  nur  die  Schwellung. 
Für  die  Schwellung  durch  Blutung  ist  die  rasche  Entstehung ,  binnen 
einiger  Stunden ,  charakteristisch  gegenüber  der  im  Laufe  von  Tagen 
sich  entwickelnden  entzündlichen  Schwellung.  Die  Schwellung  fühlt  sich 
teigig  ödematös  an,  und  nicht  selten  hat  man  bei  dem  Zerdrücken  oder 
Verschieben  von  Blutgerinnseln  das  Gefühl  eines  weichen  Knisterns, 
eines  leichten  Crepitirens  (Schneeballknirschen).  Der  Schmerz  ist  bei 
Quetschungen  meist  das  Gefühl  dumpfer  Spannung  gegenüber  den  leb- 
haft klopfenden  und  bohrenden  Entzündungsschmerzen. 

Erst  wenn  das  Blut  —  bei  tief  liegenden  Blutergüssen ,  z.  B.  Verrenkungen  oft 
erst  nach  Tagen  —  bis  auf  eine  Strecke  von  IVa— 1  Mm.  an  die  Oberfläche  heran- 
gekommen ist,  entwickelt  sich  jenes  bekannte  Farbenspiel,  jenes  Durcheinander 
von  Braun  und  Blau,  Gelb  und  Grün.  Die  Farbennüance  beruht  nicht,  wie  man  bis- 
her annahm,  auf  Umwandlung  des  Blutfarbstoffes  zu  den  Pigmenten  Bilirubin ,  -verdin 
u.  dergl.,  sondern  hängt  ab  von  der  Lage  der  färbenden  Schicht.  Je  tiefer  das  Blut 
und  je  massiger  der  Erguss,  um  so  mehr  erscheint  die  Färbung  blau ;  je  oberflächlicher, 
um  so  mehr  tritt  Gelb  und  Eoth  hervor.  Ob  arterielles  Blut  oder  venöses,  ist  ziemlich 
gleichgiltig;  doch  sollen  arterielle  Blutungen  mehr  roth  färben.  Die  in's  Gewebe  aus- 
getretenen rotlien  Blutkörjjercheii  können  lange  ziemlich  wohl  erhalten  bleiben;  später 
geben  sie  bei  erhaltener  Form  den  Farbstofl'  durch  Auslaugung  ab  (Schatten),  oder 
zerfallen  bröcklig  unter  Bildung  von  Pigmentschollen.  Der  anfangs  diflus  in  den 
Geweben  vi'rtheiltc  Farbstoff"  kann  nachher  in  Gestalt  von  l'igmentkörnchen  ausfallen. 
Bei  der  Färbung  der  Haut  sind  vorwiegend  Farbstoff'  und  Pigment,  viel  weniger  noch 
t'rhaltene  rothe  Blutkörperchen  liethfiligt.  Aneh  für  die  Blutergüsse  in  der  Conjnnctiva 
gilt  dasselbe  (Eschtveilety. 


94  lli.  (!u|)itel.   —    VerlctzuiiKfjri. 

Die  Jicsorption  des  in  die  Gewebe  ergossenen  Blutes  erfolgt 
hauptsächlich  durch  die  Lyniphgefässe.  Die  rothen  Blutkörperchen  werden 
zum  Theil  mit  erhaltener  Form  von  weissen  Blutkörperchen  aufgenommen, 
zum  Theil  zerfallen  sie  und  ihre  Trümmer  werden  weggespült.  Die 
Lymphdrüsen  zeigen  sich  bald  stark  mit  Pigment  durchsetzt.  Während 
der  Resorption  grösserer  Blutergüsse  kommt  es  oft  zu  leichten  Fieber- 
steigerungen —  39*^  (Aufnahme  von  Fibrinferment  in  die  Circulation ?j. 

Früher  war  die  Behandlung  der  Quetschungen  eine  zu- 
wartende. Bei  starken  Schmerzen  Eis,  sonst  Umschläge  mit  Aqua 
plumbi  oder  Priessnifz'sche  Umschläge ,  auch  Ueberschläge  mit  Franz- 
branntwein (Spirit.  vin.  Gallici)  oder  eine  Einreibung  mit  flüchtigem 
Liniment  (Ol.  olivarum  4,  Liquor  Ammonii  caustici  1),  Spiritus  campho- 
ratus  oder  saponatus  oder  beide  zusammen.  Eine  kunstgerechte  Ein- 
wicklung  von  der  Peripherie  nach  dem  Centrum,  mit  Flanellbinden. 
Leinenbinden  oder  gewobenen  elastischen  Binden  kommt  hinzu.  Bei 
unbedeutenden  Quetschungen  mag  dies  genügen.  —  Ist  der  Bluterguss 
gross,  so  kommt  es  zur  Bildung  von  grossen  Gerinnseln.  Unter  Aus- 
laugung des  Blutfarbstoffes  verwandelt  sich  das  Gerinnsel  in  eine 
krümliche  Masse  von  der  Farbe  dünner  Choeolade  und  der  Consistenz 
eines  trockenen  bröckligen  Käses.  In  dasselbe  w^achsen  nun  Binde- 
gewebe und  junge  Gefässe  in  der  pag.  15  geschilderten  Weise  hinein 
und  schliesslich  hat  man  dann  eine  massige  Neubildung  und  derbe 
Schwiele ,  die  sich  im  Laufe  der  Jahre  vielleicht  wieder  zurückbilden 
kann.  Während  dieser  ganzen  Zeit  sind  aber  die  Patienten  von  Be- 
schwerden nicht  frei,  sie  leiden  an  Steifigkeit  von  Muskeln  und  Gelenken, 
Muskelschwäche  u.  s.  w.  Knochenquetschungen,  wie  das  Kephalhämatom 
der  Neugeborenen,  können  sogar  zu  Knochenauswüchsen  Anlass  geben. 
Dass  die  regenerativen  Vorgänge  in  Muskeln  u.  dergl.  durch  das  Zwischeu- 
schieben  eines  solchen  derben  Gerinnsels  gestört,  selbst  ganz  aufge- 
halten werden  können,  ist  ohne  Weiteres  klar  (siehe  pag.  83).  —  Ist 
der  Bluterguss  sehr  gross  und  das  Gewebe  ganz  zertrümmert,  so  kommt  es 
überhaupt  nicht  zu  einer  völligen  Durchwachsung  des  Ergusses  mit  Binde- 
gewebe und  Gefässen.  Dann  wird  der  Erguss  durch  eine  bindegewebige 
schwielige  Kapsel  abgekapselt,  es  entsteht  eine  Blutgeschwulst, 
ein  Hämatom,  eine  rundliche,  derbschwielige  Geschwulst,  welche 
über  gänseeigross  sein  kann  (siehe  bei  Blutung).  Diese  Geschwulst 
bleibt  ganz  stationär  oder  verkleinert  sich  nur  sehr  langsam  im 
Laufe  der  Jahre.  Natürlich  stört  ein  solches  Hämatom  den  Träger 
erheblich. 

Zu  diesen  lästigen  Veränderungen,  welche  im  Gefolge  schwerer 
Quetschungen  sich  einstellen  können ,  darf  es  der  Arzt  nicht  kommen 
lassen.  Das  Blut  muss  weg,  ehe  es  zur  Organisation,  zur  Bildung  von 
Schwielen  und  Hämatomen  kommt;  das  beste  Mittel  hiezu  ist  die  Massage 
(vergl.  unten).  Das  Massiren  muss  gerade  bei  Quetschungen  zart  und 
auf  Grund  exacter  Diagnose  ausgeführt  werden.  So  soll  z.  B.  bei  Zer- 
reissung  eines  Streifens  des  Seitenbandes  am  Fussgelenk  (Lig.  deltoides) 
die  Massage  genau  auf  diesen  Punkt  concentrirt  werden.  Die  Heilung 
dauert  dann  oft  nur  eben  so  viel  Tage,  als  früher  Wochen,  und  der  endliche 
Erfolg  ist  ein  viel  vollkommener  als  bei  der  zuwartenden  Behandlung. 

Nur  sehr  selten  kann  es  sich  empfehlen,  Blutergüsse  in  gequetschten 
Weichtheilen  auf  operativem  Wege  zu  entfernen.     Function   mit  einem 


(-iuetscliwundeii.  95 

Troicavt  oder  Einschneiden  und  Ausräumen  der  Coag-ula  kann  höchstens 
mitunter  bei  Blutergüssen  in  Gelenke  angezeigt  sein. 

Sind  bei  einer  Quetschung  auch  die  äusseren  Decken  getrennt, 
so  hat  man  eine  Quetschwunde.  Bei  den  Quetschwunden  fehlen  die 
glatten  reinen  Ränder  der  Schnittwunden;  die  Wunde  zeigt  in  Grund 
und  Räudern  zertrümmerte,  blutig  durchtränkte  Gewebsfetzen  Quetsch- 
wunden bluten  wenig,  auch  wenn  grosse  Gefässe  vom  Caliber  einer 
Radialis ,  selbst  einer  Axillaris  verletzt  sind.  Die  Arterie  wird  durch 
die  Quetschung  zusammengedrückt  und  oft  förmlich  zugedreht.  Auch 
der  Schmerz  ist  gewöhnlich  ein  massiger,  dumpfer.  Quetschwunden 
eignen  sich  wegen  ihrer  necrotischen  Ränder  sehr  schlecht  zur  Prima 
ilitentio.  Ist  nur  wenig  zerquetscht,  so  ist  eine  Heilung  unter  dem 
Blutschorf  oder  unter  dem  trockenen  Schorf  möglich  und  die  necro- 
tischen Partien  werden  resorbirt.  Meist  aber  konnnt  es  zur  Gi'anu- 
lationsbildnng  und  diese  löst  dann  den  mechanischen  Zusammenhang 
zwischen  den  todten  Fetzen  und  dem  lebenden  Gewebe  —  demar- 
kirende  Granulation.  Dies  dauert  natürlich  lange  Zeit.  Bei  zer- 
quetschten Fascien ,  Sehnen  kann  es  oft  mehrere  Wochen  dauern  ,  bis 
sie  sich  abstossen. 

Auch  sonst  bieten  die  Quetschwunden  der  Heilung  keine  günstigen 
Chancen.  Die  mit  Blut  durchsetzten,  halb  oder  ganz  ertödteten  Ge- 
webe sind  ein  äusserst  günstiger  Boden  für  die  EntAvicklung  von  Mikro- 
organismen. Zudem  sind  die  Quetschwunden  meist  schon  bei  der  Ent- 
stehung verunreinigt  (Maschinenschmutz,  Erde,  Strassenstaub  u.  s.  w.). 
So  sind  denn  gequetschte  Wunden  von  Alters  her  übelberüchtigt  wegen  ihrer 
häutigen ,  schweren  Complicationen.  Und  es  sind  nicht  blos  die  un- 
mittelbaren Wirkungen  schwerer  Quetschungen  auf  den  Gesaninit- 
organismus,  Gehirnerschütterung,  Shock  u.  dergl.,  namentlich  sind  es  die 
furchtbaren  Eiterungen  und  Jauchungen  oder  die '  schweren ,  stürmisch 
verlaufenden  fäulnissartigen  Processe,  welche  sich  in  solchen  Wunden 
abspielen  (Verletzungen  durch  grobes  Geschütz). 

Es  gilt  daher  als  erster  Grundsatz  für  die  Behandlung  der 
QuetschM'unden:     Ausschluss  der  Infection. 

Nach  gründlichster  Reinigung  der  Wunde  und  ihrer  lJmgc1)ung 
(Rasiren .  Reinigen  mit  Seife ,  Schwefeläther ,  antiseptischer  Lösung) 
wird  die  Wunde  selbst  mit  antiseptischer  Lösung  ausgewaschen .  alle 
Fremdkörper .  Blutgerinnsel  auf"s  Sorgfältigste  entfernt.  Ist  der  Sub- 
stanzverlust nicht  gross,  so  schneidet  man  alles  Ge(iuetsclite.  das 
meist  durch  Blut  blau  oder  schwarz  verfärbt ,  sugillirt  erscheint .  mit 
Scheere  und  Pincette  fort,  die  gequetschten  Wundränder  werden  ab- 
getragen ,  die  Blutung  gestillt  und  die  Wunde  durch  Nähte  vereinigt, 
in  die  Fk-ken  kommen  Drainröhren ,  Avelche  das  Wundsecret  ableiten. 
Ist  die  völlige  Aneinanderfügung  der  Wundränder  nicht  möglich .  so 
kann  man  sie  wenigstens  durch  Nähte  annähern  („Situationsnähte'') 
und  die  Heilung-  etwas  abkürzen,  üeber  das  Ganze  konnnt  ein 
antiseptischer  Deckverband.  Ist  eine  Excision  des  Gequetschten  und 
Vereinigung  der  Wunde  nicht  viJllig  möglich ,  so  behandelt  man  die 
Wunde  nach  ebenso  gründlicher  Reinigung  offen  (siehe  Wuiulbehand- 
lung).    Die  Heilung  dauert  natürlich  dann  länger. 

Bei  schweren  Quetschungen  ist  namentlich  die  eine  Frage 
oft  sehr  schwer  zu  l)eantworten:  Wie  weit  sind  die  Gewebe  durch  die 


9f5  IJi-  Capitel.  —  Verletzungen. 

Verletzung'  ertüdtet,  wie  weit  kiiiinen  sie  sich  noch  erliolen  oder  nicht? 
Sorgfältige  Prüfung  der  Circulation  mit  dem  Fingerdrnck ,  Einstiche 
oder  kleine  Schnitte,  um  die  Sensibilität  und  die  Intensität  der  Blutung 
festzustellen  (vergl.  pag.  8  und  pag.  5j,  sind  für  die  Diagnose  wichtig. 
Wo  keine  wirkliche  Blutung  aus  kleinen  Einschnitten  erfolgt ,  ist  der 
Tlieil  verloren.  Eine  Amputation  darf  nur  in  wirklich  lebenden. 
d.  h.  blutenden  Theilen  gemacht  werden.  Die  Farbe  gequetschter 
Theile  ist  keineswegs  charakteristisch;  selbst  bei  schwersten  Quet- 
schungen ist  die  Haut  unmittelbar  nach  der  Verletzung  zunächst  nur 
wenig  verändert. 

Gelingt  es  nicht,  die  Infection  mit  Mikroorganismen  bei  au.s- 
gedehnten  Quetschungen,  z.  B.  Ueberfahrungen .  auszuschliessen,  so 
gehen  Eiterung  und  Zersetzung  in  den  halbtodten  Geweben  rapid  vor 
sich.  Der  Grund  der  Wunde  verwandelt  sich  in  grünliche,  schmierige, 
stinkende  Massen.  In  Muskelinterstitien .  in  Sehnenscheiden  geht  die 
Jaucliung  rasch  vorwärts ,  es  kommt  zu  Eiterverhaltungen  und  Eiter- 
senkungen. Dazu  kommt  noch  die  Gefahr  der  Nachblutungen  bei  ver- 
eiterten Quetschungen  (Arrosion  der  Gefässwände).  Dabei  wird  das 
Befinden  des  Kranken  rasch  ein  sehr  schlechtes;  er  bekommt  hohes 
Fieber  (39— 40^);  der  Puls  wird  frequent;  Appetit  und  Schlaf  sind 
schlecht;  von  Tag  zu  Tag  wird  der  Kranke  elender  und  kraftloser. 
Hier  kann  nur  noch  ein  rasches  Eingreifen  Piettung  bringen.  Tiefe, 
lauge  Incisiouen  legen  die  Jaucheherde  und  Eiterreteutiouen  frei;  das 
Secret  ist  durch  lange,  fingerdicke,  gefensterte  Gummiröhreu  abzuleiten. 
Mau  darf  mit  dem  Forschen  nach  Eiterverhaltungen  oder  Eitersenkungen 
nicht  nachlassen,  bis  die  Temperatur  normal  geworden  ist  und  nirgends 
mehr  Schwellung,  Röthung  und  Sehmerzhaftigkeit  nachzuweisen  ist. 
Feuchte  antiseptische  Umschläge  (Solutio  Hydrarg.  bichlor.  1:2—5000, 
Sohlt.  Ac.  salicyl.  borici  l'0 :  6"0 :  300"0u.  dergl.)  sind  zweckmässig,  ebenso 
kann  es  mitunter  vortheilhaft  sein,  die  Wunden  beständig  mit  kräftig 
wirkenden  antiseptischen  Lösungen  berieseln  oder  durchspülen  zu  lassen 
(Irrigation).  LiJsimgeu  von  essigsaurer  Thonerde  2''  ,;,  und  besonders 
Chlorwasser  eignen  sich  hiezu  (siehe  Wundbehandlung). 

In  seltenen  Fällen  können  auch  permanente  Bäder  angezeigt  sein, 
worin  man  bald  den  ganzen  Körper  oder  nur  einzelne  Theile  (Arm, 
Fuss)  eintaucht  (permanentes  Voll-  und  Halbbadj.  Der  Zusatz  von 
Antisepticis  (Salicylsäure .  Borsäure  u.  dergl.)  ist  weniger  wesentlich, 
als  häufiger  Wechsel  des  Badewassers  und  richtige  Temperatur  des- 
selben (36—380  c.). 

Kommt  bei  ausgedehnten  schweren  Zerquetschungen ,  Ueberfah- 
rungen u.  dergl.  die  Amputation  in  Frage,  so  handelt  es  sich  nicht 
nur  darum,  wo  amputirt  werden  soll,  d.  h.  wie  weit  die  Gewebe  noch 
lebensfähig  sind  (siehe  oben),  sondern  auch  wann.  Ist  nicht  dringende 
Anzeige  zur  sofortigen  Vornahme  der  Operation  gegeben  (Blutung!),  so 
wartet  man  oft  besser,  bis  die  schwere  Allgemeinwirkung  der  Verletzung, 
der  Shock  (siehe  dieses)  vorüber,  der  Puls  wieder  annähernd  normal  ist 
u.  s.  w.  Ein  guter  Antiseptiker.  der  die  Infection  sicher  vermeiden  kann, 
mag  auch  örtlich  noch  Manches  erhalten .  wo  man  unter  ungünstigen 
äusseren  Verhältnissen  (Schlachtfeld.  Landpraxis)  amputiren  muss. 

Besondere  Sorgfalt  erheischt  die  Beurtheilung  von  Quetschungen 
innerer  Organe,  Darm.  Blase,  Lunge,  Gehirn. 


Decollement.  —  Eisswunden.  97 

Diese  Verletzungen  erscheinen  oft  auf  den  ersten  Blick  ganz  harmlos.  Erst  nach 
1 — 2  Tagen  zeigt  sich  die  Gangrän  des  Darmes  und  eine  tödtliche  Perforationsperitonitis, 
eine  schwere  traumatische  Lungenentzündung  u.  s.  w. 

Besonders  schwierig  ist  die  Beurtbeilimg  von  Zermalmung-en, 
Ueberfahrung-en ,  Verletzungen,  welche  durch  eine  mit  breiter  Fläche 
einwirkende  stumpfe  Gewalt  entstanden  sind. 

So  erinnere  ich  mich  eines  Falles ,  wo  durch  einen  vor  üb  er  streif  enden  Wagen 
die  ganze  Haut  eines  Beines  von  der  Fascie  förmlich  abgewalzt  war  ,  ohne  erheb- 
liche Hautwunde.  Die  Haut  erschien  nur  wenig  verändert,  etwas  bläulich  verfärbt, 
kühl,  schlaff  und  auffallend  verschieblich.  Die  Prüfung  der  Empfindlichkeit  ergab 
wegen  der  Apathie  des  Verletzten  kein  sicheres  Eesultat ,  kleine  Einschnitte  lieferten 
nur  wenig  dunkles  Blut;  Puls  nirgends  zu  fühlen.  Der  Versuch,  im  Unterschenkel,  im 
unteren  Drittel  des  Oberschenkels  zu  amputiren ,  musste  aufgegeben  werden,  weil  die 
Haut  ganz  von  ihrer  Unterlage  gelöst  war.  Auch  bei  der  schliesslich  vorgenommenen 
Amputation  im  oberen  Drittel  des  Oberschenkels  zeigte  sich  die  Haut  nur  wenig  besser. 
In  dem  abgenommenen  Glied  waren  Muskeln,  Knochen,  Nerven,  von  unbedeutenden 
Blutergüssen  abgesehen,  normal;  die  Haut  jedoch  überall  total  von  der  Unterlage  abge- 
löst und  ein  Bluterguss  zwischen  Haut  und  Fascie.  Die  Haut  war  durchwegs  nekrotisch. 
Die  Gefässe  waren  ganz  leer.  Der  Unglückliche  erholte  sich  nicht  wieder,  sondern  starb 
am  folgenden  Tage;  auch  über  dem  Stumpf  war  die  Haut  mittlerweile  brandig  geworden. 

Trifft  eine  Gewalt  annähernd  tangential  den  Körper ,  so  wird  die  Haut  von  der 
Fascie^oberflächliches  D.)  öder  Haut  und  Fascie  von  (icm  unterliegenden  Theil  abge- 
hoben, abgewalzt  (tiefes  D.),  D  e c  ollem  e  n_t,^raunuitii|Ui'  ( MoreI-LavaUee)( 
Köhler,  Deutsche  Zeitschr.  f.  CÜiir..  Bd.  3^.'^Ma]ihat  dann  (oft  erst  nach  emipT- 
bem erkbaij^'nen  schlotternden  Sack,  dessen  Decke  kaum  oder  nicht  blutig  sutfundirt, 
nicht  geröthet,  höchstens  etwas  ödematös  und  kaum  schmerzhaft  ist.  Crepitiren,  Schneeball- 
knirschen ,  wie  bei  Blutergüssen ,  fehlt ,  man  hat  rings  einen  etwas  härteren  Wall ,  in 
dessen  Innerem  weiche,  schwappende  Fluctuation.  Die  Flüssigkeit  zeigt  Lagewechsel. 
Beim  Anhauchen  der  Haut  bildet  sich  eine  centrale  Delle.  Vom  Abscess  unterscheidet 
sich  die  AnschAvelluug  durch  den  Mangel  aller  entzündlichen  Erscheinungen.  Diese 
schwappende  Beule  hält  kein  Blut ,  sondern  gelbe  oder  etwas  röthliche ,  schlecht  ge- 
rinnende Lymphe  (Piincfion !).  Es  ist  ein  Lymphextr  avasat  (fälschlich  Lymph- 
abscess  genannt,  Beincll).  —  Bei  Compressionsverband,  .lodanstrich  ,  verschwindet  das 
Decollement  im  Laufe  von  Wochen.  In  hartnäckigen  Fällen  kann  Entleerung  durch 
Function  mit  folgender  Injection  von  einigen  Cubikeentimetern  Jodtiuctur,  die  man  nach 
einigen  Minuten  durch  die  Canüle  wieder  austreten  lässt,  angezeigt  sein.  Auch  Incision 
und  Auswaschung  mit  3— 57oigei'  CarboUösung  sind  empfohlen.  Kommt  es  zur  Gangrän 
der  Haut,  so  ist  Hauttransplantation  zu  machen. 

Bei  den  Risswunden  werden  durch  eine  stumpf  einwirkende 
Gewalt  die  Gewebe  gedehnt  und  unter  Ueberwindung  ihrer  Festigkeit 
und  Elasticität  der  Zusammenhang  derselben  aufgehoben.  Es  sind 
Continuitätstrennungen  mit  unregelmässigen  Trennungslinien.  —  Die 
Quetschung  und  dementsi)rechend  die  Nekrose  kann  dabei  eine  gering- 
fügige sein.  Reine  Risswunden  eignen  sich  deshalb  oft  ganz  wohl  zur 
ersten  Vereinigung,  namentlich  wenn  man  die  Wundränder  noch  glatt 
schneidet.  So  kann  man  bei  ausgerissenen  Fingern  meist  ohne  Mühe 
die  Wundränder  zur  Naht  zusammenfügen  und  eine  prima  reunio  er- 
zielen. Ist  bedeutendere  Quetschung  mit  dabei,  so  hat  man  eine  Riss- 
quetschwunde. Beurtheilung  und  Behandlung  sind  genau  wie  bei 
Quetschwunden. 

Di'-  Eigenschaft  gequetschter  Wunden,  wenig  oder  gar  nicht  zu  bluten,  gab  An- 
lass  zur  Erfindung  eigener  Instrumente,  mit  denen  Theile ,  besonders  sehr  blutreiche 
gestielte  Gesehwülste ,  abgequetscht  wurden.  Der  P'craseur  von  Cliassaignar  besteht 
aus  einer  Kette  von  Gliedern  ,  weiche  in  eine  Zahnstange  eingreifen  und  so  allmählich 
zum  Anziehen  und  Dureliquetschen  gebracht  werden.  Der  Constricteur  von  Mriis-so/ieurc 
wirkt  durch  alhnäliliches  .\nzii'hen  einer  Schlinge  aus  Eisendraht  (s.  Instrumentenh.'hre). 
Der  Schutz  gegen  Blutung,  namentlich  gegen  Spätbliitungeii  ,  ist  unsicher,  ebi-iisowi'nig 
schützt  das  Ecrasemeiit  gegen  Infection ,  wie  beluinptet  wurde,  und  so  werden  die.se 
Instrumente  zur  Zeit  wenig  benützt. 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  «.Therapie.  2.  Aull.  7 


98  I^^-  Cajiitel.  —  Verletzungen. 

Biss wunden  sind  Rissquetschwunden.  Meist  sind  sie  durch  die  den  Zähnen 
entsprechende  Stellung  der  Wunden  ausgezeichnet.  Sie  bluten  Avenig.  Nur  ein  kleiner 
Theil  heilt  jjer  primam  intentionem ,  denn  gewöhnlich  sind  die  Zähne  der  Beissenden 
mit  Infectionskeimen  so  beladen ,  dass  die  Wunde  damit  förmlich  geimpft  wird.  Am 
ehesten  heilen  noch  Bisse  von  Hunden  u.  dergl.,  wenn  die  Bisse  an  von  Kleidern  ge- 
deckten Stellen  sitzen  und  die  Zähne  vorher  gewissemiassen  abgeputzt  sind.  Bisse  von 
Menschen  an  Händen,  im  G-esicht,  heilen  fast  nie  per  primam  intentionem.  Weitaus 
am  schlimmsten  sind  Pferdebisse.  Ein  Pferd  kann  die  Knochen  des  Vorderarmes  quer 
durchbeissen ;  dann  sind  stets  so  abscheuliche  Quetschungen  dabei,  dass  Weichtheile  und 
Kuoclien  auf  weite  Strecken  absterben  und  langdauernde  lüterungen  fast  unvermeidlich  sind. 

Bisswunden  sind  als  verunreinigte  Wunden  zu  behandeln.  Neben  energischer 
Reinigung  ist  in  erster  Linie  der  freie  Abfluss  der  Wundflüssigkeiten,  erst  in  zweiter 
Linie  die  Vereinigung  der  Wundränder  anzustreben.  Feuclite  antiseptische  Umschläge 
sind  die  zweckmässigste  Behandlung. 

Bei  Schlangenbissen ,  Bissen  durcli  toUwüthige  Thiere  ist  die  Uebertragung  des 
Giftes  die  Hauptsache  und  werden  wir  diese  daher  gesondert  besprechen. 


Blutung  und  Blutstillung. 

Arterielle,  venöse  und  capilläre  Blutungen.  —  Ursachen  der  Blutungen:  Blutungen 
bei  Verletzungen,  aus  Abscessen,  Neubildungen.  Nachblutungen;  spontane  Blu- 
tungen. —  Hämophilie  und  hämorrhagische  Diathese.  —  Blutstillung.  —  Unter- 
bindung. —  Der  definitive  Verschluss  des  Blutgefässes  und  die  Bildung  der 
Gefässnarbe.  —  Andere  Blutstillungsmittel:  Compression,  Styptica,  Kälte,  heisses 
Wasser.  —  Venöse  Blutungen.  —  Lufteintritt  in  die  Venen.  —  Blutersparung. 

—  Esmarch'sche  Blutleere. 
Die  Verblutung.    —    Klinisches   und   Experimentelles.   —   Behandlung    der    Ver- 
blutung.   —    Analeptica.    —    Transfusion    und    Infusion.    —    Aderlass    und    örtliche 

Blutentziehung. 

Lymphorrhagie  und  Lymphabscess. 

Wir  unterscheiden  arterielle,  venöse  und  capilläre  (paren- 
cliymatöse)  Blutungen  (vergl.  pag.  66). 

Die  arteriellen  Blutungen  erkennt  man  an  dem  im  Bogen  aus  der 
Wunde  hervorschiessendeu  hellrothen  Blutstrahl,  dem  „Spritzen".  Bei 
unregelmässigen  buchtigen  Wunden  oder  Stichwunden  kann  jedoch  ein 
Gerinnsel  auch  bei  Arterienverletzungen  die  Gefässwunde  vorübergehend 
schliessen.  In  dem  Augenblick ,  wo  man  den  Kranken  sieht ,  steht 
vielleicht  die  Blutung;  kaum  hat  man  den  Rücken  gewendet,  so  kann 
eine  ungeschickte  Bewegung  das  Gerinnsel  lösen  und  der  Kranke  ver- 
blutet, ehe  wieder  Hilfe  zur  Hand  ist.  Das  einzig  correcte  Verfahren 
ist,  blutende  Wunden  —  von  Stichwunden  abgesehen  —  so  zu  reinigen, 
nöthigenfalls  zu  erweitern,  dass  keine  Gerinnsel  zurückbleiben.  Man 
muss  die  Wunde  völlig  übersehen  und  die  Quelle  der  Blutung  erkennen 
können. 

Innere  Blutungen,  wo  das  Blut  in  eine  seröse  Höhle,  Pleura, 
Peritoneum  oder  in  den  Darmcanal,  die  Harnwege  fliesst,  lassen  sich 
nur  aus  den  später  mitgetheilten  Symptomen  der  Verblutung  erkennen. 
Ebenso  kann  es  Schwierigkeiten  machen;  die  Zerreissung  oder  die 
Verletzung  eines  grösseren  Gefässes ,  z.  B.  der  Arteria  poplitea.  zu 
erkennen,  wenn  keine  Wunde  da  ist  oder  durch  die  enge  Stichöffnung 
Blut  nicht  austritt.  Es  ist  dann  der  Puls  unterhalb  der  verletzten 
Stelle  schwächer,  zugleich  hört  man,  so  lange  die  Stichöffuung  in  der 
Arterie  nicht  durch  ein  Gerinnsel  verstopft  ist,  ein  systolisches  Blasen 
oder  Rauschen  längs  der  Arterie.  Ist  die  Arterie  völlig  durchtrennt, 
die  Continuität  des  Blutstromes  überhaupt  aufgehoben,  so  fehlt  jedes 
Geräusch  und  natürlich  auch  der  Puls  (v.Wahl). 


Blutung.  —  Hämorrhagische  Diathese.  99 

Am  häufigsten  sind  die  Blutungen  traumatische  (Verletzungen 
durch  scharfe  Instrumente,  Messer,  Säbel  und  dergleichen).  Bei  Ver- 
letzungen durch  stumpfe  Gewalt,  Quetschungen ,  Bisswunden ,  ebenso 
bei  Schussverletzungeu  kommt  es  seltener  zu  schweren  Blutungen. 

In  Abscessen  kann  die  Gefässwand  durch  Mikroorganismen,  Fremd- 
körper (Projectile,  Knochensplitter)  erweicht,  „usurirt"  und  schliesslich 
durchlöchert  werden  —  Abscessblutungen.  Dies  kommt  besonders  in 
chronischen  (tuberculösen),  nicht  aseptisch  gehaltenen  und  in  pyämischen 
Abscessen  vor.  Hieher  gehören  auch  die  berüchtigten  Nachblutungen 
bei  der  Eiter-  und  Blutvergiftung  (Pyämie  und  Septicämie).  Sonst  bleiben 
Arterien  und  Venen  in  grossen  Abscessen  meist  intact ,  weil  sich 
ihre  Wand  durch  entzündliche  Wucherung  verdickt.  Die  Ursache  der 
hartnäckigen  und  oft  wiederkehrenden  Blutungen  aus  Neubildungen 
scheint  ungenügende  Festigkeit  der  Gefässwände.  der  „embryonale" 
Charakter  derselben  zu  sein.  Sie  sind  bald  mehr  parenchymatös,  doch 
kommen  auch  schwere  arterielle  Blutungen  aus  Krebsen  vor ,  die  das 
plötzliche  Ende  dieser  furchtbaren  Leiden  herbeiführen. 

Bei  Gefässerweiterungen  —  allgemeinen  und  örtlichen  —  ist 
der  Ausdehnung  des  Gefässes  entsprechend ,  die  Wand  verdünnt  und 
weniger  widerstandsfähig  gegen  den  Blutdruck  — •  bei  Arterienatherom, 
örtlichen  Arterienerweiterungen  (Aneurysmen),  Venenerweiterungeu  (Phle- 
bectasien). 

Bei  den  spontanen  Blutungen  scheint  ein  genügender  äusserer 
Anlass  zur  Verletzung  des  Gefässes  zunächst  zu  fehlen.  Ihre  Ursache 
ist  in  abnormer  Brüchigkeit  der  Gefässe  zu  suchen.  Diese  Vermin- 
derung in  der  Festigkeit  der  Gefässwand  kann  in  örtlicher  oder  all- 
gemeiner Erkrankung  begründet  sein. 

Bezeichnend  für  die  hämorrhagische  Diathese  ist  die  erhöhte 
Disposition  zu  Blutungen  und  die  mangelnde  Neigung  zum  Verschluss 
der  Blutgefässe.  Angeboren  ist  die  Hämophilie  oder  Bluter- 
krankheit. 

lu  gewissen  Bluterfamilien  erblich,  wird  sie  hauptsächlich  durch  die  Mutter  auf 
die  Söhne  übertragen,  ein  Theil  der  Familienmitglieder,  besonders  weiblichen  Geschlechtes, 
bleibt  frei,  kann  aber  die  Krankheit  vererben.  Auf  die  geringfügigste  Veranlassung  hin 
erfolgen  andauernde  Blutungen  nach  aussen  und  in  die  Gewebe.  Jede  Entzündung 
zeigt  hämorrhagischen  Charakter.  —  Zahnfleischblutungen,  Darmblutungen,  wochenlange 
Blutungen  aus  kleinen  Schnitt-,  Eiss-  und  Quetschwunden  bringen  die  Kranken  auf's 
Aeusserste  herunter;  doch  steht  dann  die  Blutung  manchmal  von  selbst  und  auffallend 
schnell  sind  die  Kranken  wieder  gesund  und  blühend.  Eigentliümlich  ist  das  häufige 
Vorkommen  von  Gelenkaft'ectionen ,  die  in  Blutungen  in's  Gelenk  bestehen  und  meist 
zur  Verödung  desselben  führen,  ebenso  habe  ich  umfangreiche  Blutungen  in  die  Muskeln 
mit  folgendem  Schwund  derselben  gesehen.  Hämophilen  gelangen  selten  ül)er  die  Pubertäts- 
jahre hinaus;  dann  kann  die  hämorrhagische  Diathese  allmählich  zurücktreten.  Operationen 
bei  Hämojihilen  verlaufen  fast  ausnahmslos  tödtlich.  —  Das  Blut  gerinnt  bei  Blutern 
in  ganz  regelmässiger  Weise;  die  Ursache  ist  wohl  in  den  Gefässendotlielien  zu  suchen. 
Bei  Unterbindung  stellt  die  Blutung  für  i-inige  Tage ,  ebenso  bei  der  Anwendung  der 
Styptica,  des  Glüheisens,  um  dann  immer  aufs  Neue  wieder  loszubrechen,  denn  zum 
definitiven  Verschluss  der  Gefässe  kommt  es  eben  nicht  oder  nur  schwer.  Elevation 
scheint  nocli  am  wirksamsten  zu  sein. 

Erworbener  hämorrhagischer  Diathese  begegnen  wir  bei 
der  Leukämie .  dem  Scorbut ,  dem  Morb.  maeulosus .  schwerem  lang- 
dauerndem Icterus,  dann  bei  schweren  Infectionskrankheiten.  .septischer 
BlutvcrgiCtung.  Flecktyphus.  Bocken,  Test  u.  dergl.  Auch  bei  Morbus 
Addisoiiii  halie  ich  äiinlichc  Zufälle  ii'esehen. 


100 


III.  Capitel.  —  Verletzungen. 


Die  Blutung-en  durch  Diapedesc  haben  wir  bei  der  Entzün- 
dung schon  erwähnt,  die  rothen  Bhitkörperchen  treten  durcli  die  unver- 
letzten Gefässe  hindurch  (Fig.  7,  d).  Manche  eigenthiimliclie  Jilutungen, 
das  Bhitschwitzen ,  Blutweinen  u.  dergl.,  mögen  hierher  gehören.  Die 
Veränderungen,  welche  die  Gefässwände  für  rothe  Blutkörperchen  durch- 
gängig werden  lassen,  sind  unbekannt.  (Vergl.  pag.  27. j 

Ergiesst   sich  das  Blut   nicht   nach  aussen    oder  in    eine  Körper- 
höhle, so  verbreitet  es  sich,  wie  bei  der  Quetschung,  im  benachbarten 
Fig.  52.  Gewebe.  Ist  es  nicht  zu  massen- 

haft ,  so  wird  es  resorbirt  oder 
organisirt.  Bei  Verletzungen 
grosser  Gefässe  kommt  es  zur 
Bildung  grosser  Blutgeschwülste, 
Hämatome. 

Der  oft  über  kindskopfgrosse 
Blutklumpen  ist  zu  gross ,  um  ganz 
von  jungem  Bindegewebe  durchwachsen 
zu  wei-den.  Die  bindegewebige  Neu- 
bildung bleibt  auf  die  Randpartien 
beschränkt,,  höchstens  einige  binde- 
gewebige Septa  ziehen  nach  dem  Innern 
herein.  Die  flüssigen  Bestandtheile 
werden  resorbirt;  ebenso  wird  das 
Pigment  bald  grösstentheils  ausgezogen. 
Das  Fibrin  bleibt,  als  der  am  schwersten 
lösliche  Tlieil,  zurück ,  als  eine  bröek- 
liche  ,  chocoladenfarbene ,  später  gelb- 
liche trockene  Masse. 

In  Fig.  52  ist  eine  alte  Blut- 
geschwulst, 27,i  Jahre,  aus  der  Darm- 
beingmbe  eines  Bluters  dargestellt  (nach 
Virchoiv).  Die  bindegewebige  Kapsel 
enthält  den  in  einzelne  Bröckel  zer- 
fallenen Blutkucheu.  Diese  Massen 
werden  mit  der  Zeit  immer  trockener 
und  können  schliesslich  verkreiden  und 
verkalken.  Im  Innern  von  Geschwülsten, 
z.  B.  Muskelgeschwülsten  des  Uterus, 
Geschwülsten  der  Schilddrüse ,  finden 
sich  oft  solche  Reste  alter  Blutergüsse, 
doch  fehlt  hier  meist  eine  deutliche 
Kapsel. 

Der  neugebildete  Sack  kann,  bei  seitlich  verletzten  Arterien,  mit 
dem  Gefäss  in  offener  Verbindung  bleiben  und  es  ist  dann  ein  „trau- 
matisches falsches  Aneurysma"  entstanden,  in  dem  das  Blut  ganz 
oder  theilweise  flüssig  bleiben  kann.  Es  bildet  sich  unmittelbar,  d.  h. 
in  Stunden  nach  der  Verletzung  eine  rasch  wachsende  Geschwulst  aus, 
die  meist  pulsirt  und  häufig  dem  Puls  synchronische  blasende  Geräusche 
vernehmen  lässt.  Das  traumatische  Aneurysma  bildet  sich  am  häufigsten 
nach  Stich  Verletzungen,  wenn  das  Blut  durch  die  enge  äussere  Wunde 
nicht  nach  aussen  sich  entleeren  kann. 

Bei  der  Behandlung  der  Blutungen  ist  stets  in  erster  Linie 
zu  erstreben  die  Verschliessung  des  Gefässes  am  Orte  der  Ver- 
letzung, am  besten  durch  Unterbindung.  Ist  das  Gefäss  ganz 
durchschnitten,  z.  B.  bei  einer  Amputation,  so  fasst  man  die  spritzende 
Stelle    mit    einer    ^ö&er/e"schen    Pince    hemostatique    (vergl.  Fig.  53). 


Unterbinduns 


101 


Schliesst  man  das  Instrument  durch  die  ineinander  g-reifenden  Haken 
an  den  Griffen,  so  klemmt  es  die  Arterie  zu  und  die  Blutung  liört  auf. 
Man  lässt  die  Pincette  herabhängen  oder  von  einem  Assistenten 
sanft  \orziehen,  dadurch  tritt  die  Arterie,  mit  etwas  adventitiellem  Ge- 
webe daran,  etwas  hervor  und  man  legt  um  diesen  kleinen  Kegel  einen 
desinficirten  Catgut-  (Darmsaite)  oder  Seidenfaden  (s.  Wundbehandlung), 
schlingt  denselben  einmal  durch  (Fig.  53),  zieht  ihn  langsam,  aber  fest, 
am  besten  mit  auf  den  Faden  festgesetzten  Zeigefingern  an  und  setzt 
einen  zweiten  Knoten  in  gleicher  Weise  fest  darauf.  Dies  ist  der 
„Schifferknoten".  Schlingt  man  den  Faden  doppelt  durch  („chirur- 

Fig.  53.  Fig.  54. 


gischer  Knoten".  Fig.  54),  so  würde  dieser  doppelte  Knoten  zur  Noth 
genügen ,  da  er  sich  nicht  leicht  von  selbst  löst,  doch  ist  es  besser, 
noch  einen  einfachen  darauf  zu  setzen. 

Ausser  den  mit  einem  Griffe  zu  schliessenden  KöberU'schen  Pin- 
cetten  sind  nocli  andere  l'nterbindungsinstrumente  im  Gebrauch ,  zu- 
nächst die  Schieljcrpincetten,  deren  gebräiiclilichste ,  von  Fricke 
angegeben .  von  Langenbeck  zweckmässig  modificirt  ist  (Fig.  54).  Sie 
fassen  breiter  und  erfordern  mehr  Uebung ,  weil  zum  Anlegen  und 
Schliessen  zwei  Ilandgrilfe  iiötliig  sind.  Aehnlich  gebaut,  aber  mit 
sebr  breitem  Maul  und  daher  namentlich  für  grosse  Oetfnungen  ,  z.  B. 
seitliche  Kinri.^se  in  Arterien  ddcr  Wmich  .  passend,  ist  die  />/V>r'sche 
Artcriciipincctte  (Fig.  5^).     (lan/.  spitz,  mit  zwei  scharfen  Zähnen,  in 


102 


JJI.  Capitel.  —  Verlctzungon. 


welche  ein  gegenüberliegender  Zahn  der  anderen  Branche  einspringt, 
ist  die  Liston'aahG  Artericnpincette.  Sie  fasst  nur  ganz  kleine  Gewebs- 
theile  und  ist  daher  für  kleine,  schwer  zu  fassende  Gefässe ,  z.  li.  die 
Arterien  der  Kopfschwarte,  geeignet.  Eine  Anzahl  anderer  gebräuch- 
licher Arterienpincetten  ist  in  Fig.  55  dargestellt  (nach  LöhJcer),  a  nach 
Fricke,  b  nach  Amussat ,  c  nach  v.  Gräfe ,  d  nach  Charrüre.  Fig.  56 
gibt  eine  Arterienklemme  nach  Spencer  WeUs\  Fig.  57  die  von  v.  Berg- 
mann gebrauchte  Pincette. 

Sind  die  Knoten  geschürzt,  so  öffnet  man  die  Pincette,  zieht  den 
Faden  leicht  an ,  um  zu  prüfen ,  ob  er  fest  sitzt  und  schneidet  dann 
die  Fäden,  1-2  Mm.  über  dem  Knoten,  mit  der  Scheere  kurz  ab. 
Soll  die  Unterbindung  sicher  wirken ,  so  muss  die  Intima  zerreissen 
und  sich  nach  dem  Lumen  hin  zusammenkräuseln. 


Fig.  55. 


'«Bg' 


Um  nicht  den  Faden  in  der  Wunde  lassen  zu  müssen,  dreht  man 
die  gefasste  Arterie  mehrmals  um  ihre  Längsachse,  bis  die  Pincette  ab- 
reisst  —  Torsion  —  (Fig.  58,  „freie"  Torsion)  und  rollt  so  die  Arterien- 
wände zusammen,  namentlich  die  Intima  soll  zusammengedreht  werden. 
Diese  Art  der  Torsion  eignet  sich  für  kleine  Haut-  und  Muskelarterien 
ganz  gut.  Bei  diesen  genügt  es  meist  schon,  wenn  man  —  im  Beginn 
der  Operation  —  sie  durch  eine  Arterienklemme  schliesst.  Nimmt  man 
diese  nach  5—10  Minuten  oder  später  ab,  so  steht  auch  die  Blutung. 

Bei  der  „begrenzten"  Torsion  (Ämussat)  (Fig.  61)  nach  Löhker 
fasst  eine  Pincette  die  vorgezogene  Arterie  quer  und  eine  zweite  Pin- 
cette dreht  das  vorstehende  Stück  der  Arterie  so  lange,  bis  sie  ab- 
reisst.  Wenn  auch  if^rc^ocÄ  (Chir.  Centralbl.,  1894,  27)  die  A.  femoralis 
160mal  ohne  Nachblutung  torquirt  hat,  so  halte  ich  doch  für  Arterien 
von  etwa  der  Stärke  einer  A.  labialis  aufwärts  die  Unterbindung  für 
das  Normalverfahren. 

Das  Vorziehen  der  spritzenden  Arterie  mit  dem  Arterienhaken 
(Fig.  59),  um  die  Ligatur  machen  zu  können,  ist  veraltet. 


Unterbinduiigsinstrumente.  —  Torsion. 


103 


Nun  bleiben    aber,  z.  B.  die  Gescbwulstoperationen,  Fälle  genug, 
wo  die  Arterie  sich  nicht  genau  isoliren  und  einzeln  unterbinden  lässt. 


Fig.  56. 


\^ 


Fig.  61. 


liier    lasst    iiuiu    zuuäcli.st    mehr  Gewebe    mit   und    kann 
(1,11111    \  icllcirlit  iiocli  mit  breiten  Schiebern  {Liier,  Fig.  58)  beikonimen; 


104 


III.  Capitel.  —  Verletzunj^en. 


aber  das  Umlegen  und  Knoten  des  Fadens  ist  dann  oft  scliwer  oder 
unmöglich;  man  bindet  die  Pincette  leicht  mit  ein,  und  wenn  man  diese 
abnehmen  will,  gleitet  auch  der  Faden  ab. 

Hier  hilft  oft  die  Umstechung  der  blutenden  Stelle,  indem 
man  mit  gekrümmter  scharfer  Nadel  die  Gewebspartie  umgeht ,  oder 
wenn  das  Gewebe  nicht  zu  straff  ist,  mit  stumpfer  Nadel  (iJechanips'Hcher 

Fig.  Ö2. 


Nadel,  Aneurysmanadel),  in  deren  Oehr  ein  Faden  eingehängt  ist,  Fig.  60). 
Man  führt  die  Nadel  in  der  Entfernung  von  Yo  —  1  Centimeter  um  das 
blutende  Gefäss  herum.  Sehr  zweckmässig  macht  man  solche  Um- 
stechungen vor  der  Durchschneidung  an  schwer  zugänglichen  Stellen, 
z.  B.  in  der  Tiefe  des  kleinen  Beckens  bei  Operationen  an  der  Gebär- 
mutter, und  zwar  nach  beiden  Seiten  hin.  Man  schneidet  erst  nachher 
zwischen  den  Durchstichligaturen  durch  (Fig.  62). 

Gelingt  es  wohl,    die  blutende  Stelle  mit  der  Arterienpincette  zu 
fassen ,    aber   nicht  einen  Faden  umzulegen ,    ist  auch  die  Umstechung 
Fig,  es.  nicht  möglich ,  so  lässt   man    die  (vernickelten  und 

aseptischen!)  Pincetten  liegen.  Besonders  geeignet 
sind  hiezu  ausser  den  Köberle  sehen  und  Langenheck- 
schen  Pincetten  die  von  Pean  angegebenen  Pinces 
für  Uterusexstirpation  (vergrössertes  Modell  von 
Fig.  56)  oder  die  Zangen  nach  Pean-KöherU 
(Fig.  63),  wenn  es  sich  um  grössere  Flächen  handelt. 
Kleine  blutende  Stellen  werden  mit  der  Charrüre- 
schen  Pincette  (Fig.  bbd)  abgeklemmt.  Nach  48 
bis  72  Stunden  können  diese  Pincetten  ohne  Gefahr 
der  Nachblutung  —  bei  aseptischem  Verlauf  —  ab- 
genommen werden. 

Die  Acupressur  (Fig.  64  nach  Wolzendorff)  und 
die  Acufilopressur  (Fig.  65)  sind  veraltet,  ebenso  die  per- 
cutane  Umstechnng  nach  Midäeldorpf,  wobei  die  blutende  Stelle 
gegen  eine  auf  der  Haut  liegende  Heftpflasterrolle  mit  einem 
von  aussen  her  um  die  blutende  Stelle  herumgeführten  Faden 
angedrückt  -wird. 

Besonders  schwer  sind  oft  seitliche  Wunden  in  Arterien  und  Venen 
(durch  Stichwunden,  Ausreissung  von  Aesten  aus  dem  Stamm)  zu  stillen.  Wo  es  nicht 
darauf  ankommt,  die  Durchgängigkeit  des  Gefässes  zu  erhalten,  wie  dies  bei  den  Scheukel- 
und  Acliselgefässen  nöthig  ist,  durchschneidet  man  das  Gefäss  ganz  und  unterbindet  in 
gewöhnlicher  Weise  doppelt.  Will  oder  kann  man  das  nicht,  so  kann  man  bei  seitlichen 
Venenwunden  die  Wunde  mit  einer  Arterienpincette  fassen  und  diese  müidestens  24 
Stunden  liegen  lassen  (seitliche  Abklemmung).     Oder   man  versucht,   hinter   der 


Umstechuug.  —  Seitliche  Gefässwundeii. 


105 


Pincette  vorsiclitig  eine  Abbinduiig  zu  maclien  —  seitliche  Ligatur,  die  aber  nur 
bei  kleinen  Löchern  möglich  ist  {Braun,  Langenbeck's  Archiv,  28).  Bei  grossen  Längs- 
rissen kami  mau  au  die  Venennaht  denken.  Unter  dem  zuklemmendeu  Finger  oder 
der  Klemmpincette  Avird  mit  Hagedorn' scheu  oder  drehrunden  Nadeln  und  feinem  Catgut 
(oder  Seide)  eine  fortlaufende  Naht  gelegt.  Schede  (LangenhecTc's  Archiv,  43.  Bd.)  hat 
so  eiue  Vena  cava  inf.  mit  Erhaltung  des  Lumens  genäht.  Sollte  keines  dieser  Verfahren 
möglich  sein,  so  bliebe  antiseptisehe  Tamponade,  eventuell  mit  Compression 
{Küster,  Niehergall,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  33,  Lit.). 


P';l*ifP|i|| 


s,iiMiiilii5Wlfi 


Jassinoivskg  hat  experimentell  die  Heilung  seitlicher  Arterienverletzungen  dar- 
gethan  durch  Arteriennaht,  durch  fortlaufende  Naht  von  Adveutitia  und  Media 
(lutima  blieb  frei)  mit  iVinsten.  (CoujuuctivaJ-Nadehi  xind  Seide.  Heidenhain  hat  eine 
Art.  axillaris  mit  iibfrwendliclfer  fortlaufender  Catgutnaht  mit  drehrunden  Nadeln 
Endothel  gegen  Endothel  genäht.    Nach  der  Naht  ist  5 — 10  Minuten  Compression  uöthig. 

Einfach  und  sicher  ist  das  Liegeulasseu  von  Pinces  (bei  Venen  24,  bei  Arterien 
48—72  Stunden). 

In  einzelnen  Fällen  greift  man  schliesslich,  z.  B.  bei  acteriellen 
Blutungen  aus  tiefen,  buchtigen  Höhlen  zur  Unterbindung  der  zu- 
führenden Hauptarterie  fern  von  der  blutenden  Stelle,  am  „Orte  der 
Wahl",  z.  B.  die  A.  femoralis  in  der  Weiche  bei  Blutungen  am  Ober- 
schenkel.    Die  Raschheit,  mit  der  sich  der  Collateralkreislauf  herstellt, 


Fig.  G6. 


rückt    die    Möglichkeit    einer  Wiederkehr    der    Blutung,    einer  „Nach- 
blutung" in  bedenkliche  Nähe. 

irnterbindet  man  so  ..in  der  Coutinuität",  d.  h.  an  einer  Stelle, 
wo  das  Gefäss  nicht  verletzt  ist,  so  ist  das  Gefäss  an  den  bekannten 
Ligaturstcllcn  aufzusuchen.  Die  Adventitia  wird  vorsichtig  in  einem 
Kegel  aufgchol)en  .  dieser  in  der  Fig.  60  angegebenen  Weise  eröffnet, 
die  Arterie  mit  stuni])for  Ilohlsonde  vorsichtig   isolirt,    die  Aneurysma- 


106  ^J^I-  Capitel.  —  Voictzuiigori. 

nadel  schonend  lierumgeführt,  die  Arterie  in  einem  Aljstand  von   ^2  ^>^^ 
2  Cm.  zweimal  mit  ruhig  und  fest  angezogenem  Faden  abgebunden  und 
I  ^^,  ,  _  in  der  Mitte  durchschnitten  (Fig.  67,  nach  Löh/cer). 

Zur  Ausführung  der  Ligatur   bedient   man  sich  da, 
A  wo  es  möglich  ist,  der  Es  mar  cIi' nchen  elastischen 

I  Abschnürung.  (.Siehe  unten.)  Zweckmässig  ist  es, 

'  ehe  man  die  Unterbindung  am  Orte  der  Wahl  macht, 

erst  nochmals  unter  Esmarcli'naher  Einwicklung  den 
Versuch  zu  machen ,  die  blutende  Stelle  direct  zu 
unterbinden.  Man  darf  sich  vor  grösseren  Ein- 
schnitten zur  Freilegung  nicht  scheuen.  Auch  der 
manuellen  Compression  und  des  Tourniquets 
(siehe  unten)  kann  man  sich  hiebei  bedienen. 
Wo  die  Blutung  aus  einem  physiologisch  werthlosen  oder  aus 
einem  zu  entfernenden  Theil,  z.  B.  aus  einer  Geschwulst,  erfolgt,  ist  oft 
die  elastische  Ligatur  sehr  zweckmässig.  Man  umgeht  mit  einem 
wohldesinficirten  Gummischlauch  die  Basis  des  Theils  (am  besten  mehr- 
mals), zieht  den  Schlauch  lang  aus,  so  dass  er  sich  stark  spannt,  presst 
die  Enden  vorläufig  mit  einer  Arterienzange  zusammen ,  schlingt  über 
dieser  zwei  Knoten  und  entfernt  die  Zange  wieder  oder  bindet  die 
Schlauchenden  mit  einem  Seidenfaden  fest  zusammen.  Elastische  Liga- 
turen können  versenkt  werden ,  namentlich  in  die  Bauchhöhle.  Oder 
man  nimmt  den  Schlauch  wieder  ab ,  nachdem  man  die  blutenden 
Flächen  durch  tiefgreifende,  fest  angezogene  Nähte  vereinigt  hat,  z.  B. 
bei  der  Exstirpation  von  Gebärmuttermyomen. 

Eine  exacte  Vernähung  der  Wunde  stillt  gleichfalls  Blutungen, 
namentlich  parenchymatöse  und  venöse.  Besonders  die  versenkte  Naht 
(siehe  Naht)  ist  hiezugeeignet.  In  Verbindung  mit  der  Umstechung  lässt  sich 
so  eine  gute  Blutstillung  erzielen.  Für  arterielle  Blutungen  genügt  sie  nicht. 
Hat  man  im  Augenblicke  gar  nichts  zur  Hand ,  so  lassen  sich 
selbst  schwere  Blutungen  durch  forcirte  Beugung  im  nächst  oberen 
Gelenke  zum  Stehen  bringen,  bei  Blutungen  am  Bein,  z.  B.  im  Hüft- 
gelenke (siehe  Fig.  68).  Bei  Blutungen  an  der  oberen  Extremität 
bindet  man  die  Ellbogen  auf  dem  Rücken  zusammen  (siehe  Fig.  69) 
und  comprimirt  so  die  A,  subclavia  zwischen  Schlüsselbein  und  erster 
Rippe.  Bei  Blutungen  unterhalb  des  Knies  sind  Verbände  nach  Art 
von  Fig.  68  (wobei  jedoch  das  Knie  durch  weitere  Bindentouren  spitz- 
winklig gebeugt  gegen  den  Oberschenkel  anzubinden  ist),  und  unterhalb 
des  Ellbogens  nach  Fig.  70  anzulegen.  Diese  Verbände  sollen  auch  zur 
definitiven  Blutstillung  verwendet  werden  können  (v.  Adelmann).  Die 
Stellung  müsste  aber  hiezu  8 — 10  Tage  lang  (!)  eingehalten  werden. 
Ausser  den  qualvollen  Beschwerden  sind  Oedeme,  Gelenksteifigkeiten, 
selbst  Brand  peripherer  Theile  zu  fürchten.  Bis  man  Rath  zu  andern 
Verfahren  geschafft,  ist  die  forcirte  Beugung  zur  provisorischen  Blut- 
stillung zu  empfehlen.  —  Ein  sehr  wirksames  Blutstillungsmittel,  be- 
sonders für  capilläre  und  venöse  Blutungen  (Krampfaderblutungen)  ist 
die  vertieale  Suspension,  die  auch  eine  Reihe  von  Tagen  gut  er- 
tragen wird. 

Ein  wichtiges  Blutstillungsmittel  ist  auch  die  Compression. 
J.  Wolff  hat  empfohlen ,  minutenlange  Compression  mit  festen  Gaze- 
bauschen zur  Stillung  der  Blutung  auch  bei  grossen  Operationen ,  wie 
Mammaamputationen  u.  s.  w.,  zu    verwenden.      Hier    kommt   zwar    die 


Forcirte  Beug-ung.  —  Compression. 


107 


Blutung-  aus  kleineren  Gef ässen  zum  Stehen ,  bei  grösseren  Arterien 
(A.  thoracica  longa,  Aa.  perforantes,  A.  subscapularis ! !)  ist  die  tempo- 
räre Compression  höchst  unsicher,  dagegen  ist  sie  bei  anderen 
Operationen  —  Gaumennaht ,  Amputation  des  Penis ,  Exstirpation 
blutreicher  Tumoren  u.  s.  w.  —  sehr  werthvoll. 

Nützlich  ist  oft  auch  der  antiseptische  Compressionsver- 
band  zur  Stillung  von  Blutungen  aus  Geschwüren,  Neubildungen  u.  dergl. 
Auf  die  Wunde  kommt  zunächst  ein  anti-  oder  aseptischer  Verband, 
darauf  werden  Watte ,  Moos ,  Holzwatte ,  oder  antiseptisch  präparirte 
Schwämme  gepackt  und  mit  einer  ruhig  und  fest  angezogenen  elastischen 
Binde  befestigt.  (In  den  peripheren  Theilen  darf  keine  Stauung  sich 
zeigen  I) 

Fig.  68. 


Wo  weder  Unterbindung,  noch  antiseptische  Tamponade  mit  Com- 
pressionsverband  etc.  möglich  sind,  kann  die  dauernde  Digitalcom- 
pression noch  helfen.  So  liess  einst  mein  Lehrer  V.  v.  ßrims  eine 
blutende  Carotis,  deren  Loch  zu  tief  sass,  um  unterbunden  werden  zu 
können,  3  Wochen  lang  durch  seine  Klinicisten  gegen  den  6.  Hals- 
wirbel digital  com])riniiren  und  die  Blutung-  stand. 

Die  blutstillende  Wirkung  der  Kälte  (Eisblase  ist  besser,  als  die 
oft  gewechselten  Eiscompressen)  ist  unsicher.  Wirksamer  als  kalte 
Ausspülungen  und  Eiswassereinspritzungen  sind  bei  Blutungen  aus 
Körperhöhlen  ,  den  weiblichen  Genitalien ,  dem  Mastdarm  u.  s.  w.,  avo 
man  die  l)lutende  Stelle  nicht  zu  Gesicht  bekommen  und  mit  Tampo- 
nade auch  nicht  zukonnnon  kann.  Einspritzungen  heissen  Wassers  von 
40  — 4.')'^  C.  (nicht  /.u  inx-rsi-hrcitondes  Max.  öO").  Auch  hcisser  Wasser- 
(laiiipr  i^t   rill   gutes   lläiiiostaticuni .    das    die    prima    rciinin   nicht  stört. 


108 


III.  Oupite).  —  Vorlotzungen. 


Wo  man  zukommen  kann,  leistet  auch  die  Glühhitze  (Cauterium 
actuale)  oft  gute  Dienste.  Man  überfährt  die  blutende  Fläche  mit 
Glüheisen,  Glühkupfer  oder  der  Piatina  candens  ( Pacf/urdin' acher 
Brenner).  Die  schwächeren  Hitzegrade  der  Rothglühhitze  wirken 
besser  blutstillend  als  die  Weissglühhitze.  Dasselbe  gilt  von  der  Gal- 
vanokaustik. Die  Araber  kannten  die  Unterbindung  nicht  und 
stillten  selbst  Blutungen  aus  (nicht  zu  starken!)  Arterien  mit  dem 
Glüheisen. 

Nur  in  vereinzelten  Fällen,  Blutungen  aus  der  Nasenhöhle,  tiefen 
buchtigen  Abscessen,  aus  bösartigen  Neubildungen  bieten  die  Styptika 
(blutstillende  chemische  Stoffe)  Nutzen.  Sie  wirken  gerinnungserregend. 


Fig.  69. 


Fig.  70. 


Die  Blutgerinnung  hat  aber  für  den  Gefässverschluss  nur  untergeordnete 
Bedeutung  (siehe  unten). 

Am  häufigsten  gebraucht  ist  die  Eisenchloridwatte,  Watte  in 
Liquor  ferri  sesquichlorati  getaucht.  Dieselbe  verätzt  die  Weiehtheile 
sehr  und  der  nicht  aseptisch  bleibende  Schorf  stösst  sieh  nachher  unter 
oft  stinkender  Eiterung  ab.  Die  Fasern  des  Penghawar  Djambi 
(Haare  eines  indischen  Farns),  durch  Jodoformbeimischung  aseptisch 
gemacht,  verfilzen  sich  sehr  fest  mit  dem  Gewebe ,  das  von  ihnen  gar 
nicht  angegriffen  wird.  Sie  können  sogar  einheilen.  —  Weitere  ver- 
altete und  selten  gebrauchte  Blutstillungsmittel  sind  eine  Reihe  stark 
ätzender  Mittel,  Terpentinöl  [Bülroth]  (sehr  schmerzhaft),  Liquor  Bellostii 
(salpetersaures  Quecksilberoxydul),  Aqua  Binelli  u.  dergi.  Gut  blut- 
stillend und  dabei  stark  antiseptiscb  sind  Bäusche,  getaucht  in  lOpro- 
centige  wässerige  Lösung  von  essigsaurer  Thonerde. 


Styptica.  —  Blutungen  aus  Venen. 


109 


Ausserdem  streut  man  pulvensirtes  Colophonium  auf  oder  Antipyrin- 
pulver ;  darüber  kommt  ein  Druekverband.  Antipyrin  wird  auch  in  5pro- 
centiger  Lösung  in  die  Nasen-,  Gebärrautterhöhle  eingespritzt  (Henoque). 
Ebenso  soll  Citronensaft ,  Wasserstoffsuperoxyd  (Neudörffer)  gut  blut- 
stillend wirken. 

Von  inneren  Mitteln  ist  noch  weniger  zu  erwarten.  Man  ver- 
wendet sie  bei  inneren  Blutungen ,  wo  man  nicht  beikommen  kann, 
aber  fast  mehr,  ut  aliquid  factum  esse  videatur.  Seeale  cornutum 
(Mutterkorn)  in  Pulvern  zu  05  Grm.  2 — 4stündlich,  als  Fluidextract  zu 
20  Tropfen  2 — 3mal  täglich,  oder  subcutan  (1:4  Aq.  dest.  frisch  bereitet) 
1  Ccm.  Imal  täglich.  Das  Seeale  regt  die  Vasoconstrictoren  zur  Con- 
traction  an  (siehe  pag.  6).  Ausserdem  scheinen  wirksam  Hydrastis 
canadensis  (30 — 40  Tropfen  des  Fluidextractes  3 — 4 mal),  Hamamelis 
virginica  (20  Tropfen  des  Fluidextractes  alle  2  Stunden),  Extract.  Gossypii 
3— 4mal  täglich,  20 — 30  Tropfen.  Auch  Bryonia  alba  (Petrescu),  Gera- 


Fig.  71. 


nium  maculatum  fShoemaker) ,  Lamium  albura  (Florcdn) ,  Salipyrin 
(Kmjser)  (1"0  p.  D.,  3'0  p.  d.)  werden  empfohlen. 

Die  Blutungen  aus  Venen  stehen  meist  von  selbst,  docli  können  sie  auch 
gelegentlich ,  wenn  grosse  Venen  angerissen,  z.  B.  ein  Ast  aus  einem  grösseren  Stamm 
ausgerissen  wird,  zu  furchtbaren  Blutungen,  welche  das  Operationsfeld  im  Nu  zu  einem 
schwarzen  brodelnden  See  umwandeln,  Anlass  geben.  Geht  es,  so  fasst  man  die  Eänder 
des  Loches  mit  breitem  Schieber  oder  flach  angesetztem  Köberle  und  verfährt  nach 
den  pag.  104  gegebenen  Regeln.  Die  seitliche  Venenligatur  heilt  —  bei  Asepsis  — 
ganz  glatt  durcli  Verklebung  der  Tntima  mit  Erhaltung  des  Lumens.  Sonst  ist  hier  der 
Platz  für  antiseptische  Tamponade. 

Ein  höchst  fatales  Ereigniss  bei  Verletzung  gewisser  Venen  ist  der  Luftein- 
tritt  in  die  Venen.  Unter  unheimlich  schlürfendem  Geräusch  wird  in  die  Venen 
des  Halses,  der  oberen  Thoraxpartie  und  der  Achselgegend,  in  welchen  während  der 
Einatlimung  negativer  Druck  herrseht.  Luft  eingesaugt.  Der  einzige  Fall,  wo  Luft  in  die 
Schenkelvene  eingetreten  sein  soll  (Diqmiiiren),  ist  nicht  sicher.  Lufteintritt  in  die 
Venen  des  frisch  entbundenen  Uterus  ist  dagegen  ziemlich  häufig  vorgekommen,  beson- 
ders in  flacher  Lage  oder  wenn  der  Steiss  erhöht  lag.  Ein  paar  Blasen  schaden  nicht 
'viel  (Jürgensen):     tritt  aber  eine   bedeutendere  Mengi;  Luft   auf   einmal  ein,    so    steht 


110  in.  Capitol.  —  V<;rlot'/uii-<'ii. 

das  Herz  monKuitan  still.  Bei  der  Autopsie  fiiidct  mau  das  reelite  Herz  mit  stark 
schaumigem  Blut  gefüllt;  doch  ist  die  eigentliche  Todesursache  Luftembolie  —  Ver- 
schluss der  Lungencapillareu  durch  eingekeilte  Luftblasen.  —  iJie  ]iehaiidlmig  kann  nur 
eine  vorbeugende  sein;  man  comprimirt  die  grossen  Venen  des  Halses  central  mit  dem 
Finger,  oder  besser,  man  unterbindet  sie  doppelt  vor  der  Durehschneidung.  J^ei  Uterus- 
ausspülungen niuss  die  Spülflüssigkeit  frei  von  Luftblasen  sein. 

Für  den  endgiltigen  Verschluss  verletzter  Blutgefässe  ist 
die  Blutgerinnung  ohne  P^edeutung.  Allerdings  kann  ein  Blutgerinnsel, 
z.  B.  bei  Stichwunden,  die  Oeffhung  im  Gefäss  vorübergehend  verlegen 
und  der  Thrombus  kann  dann  in  der  pag.  15  angegebenen  Weise  or- 
ganisirt  werden  und  so  eine  dauernde  Gefässnarbe  entstehen.  Die 
Verwachsung  der  Gefässwunde  erfolgt  durch  verlöthende 
Wucherung  des  Gefässendothels.  Die  Intima  ward  (siehe  pag.  67) 
Fig.  72.  bei   kleineren    Gef  ässen  durch  die 

Contraction  der  Ringmuskeln  zur 
Berührung  gebracht,  bei  der  Unter- 
bindung durch  den  schnürenden 
Faden ,  wobei  die  Intima  meist, 
aber  nicht  immer  f Schimmelhiisch)  ^ 
zerspringt.  In  Fig.  71  sind  Ad- 
ventitia  (c)  und  Media  (a)  in  Falten 
eingestülpt,  ebenso  die  Intima  fe). 
Die  Gefässendothelien  wuchern, 
sie  schicken  Fortsätze  aus,  welche 
nach  dem  Lumen  des  Gefässes  hin- 
wachsen und  dort  mit  gleichartigen 
von  der  anderen  Seite  her  ver- 
schmelzen. So  werden  binnen 
wenigen  Tagen  die  zwischen  den 
Falten  der  Intima  bleibenden  Räume 
ausgefüllt  mit  gewuchertem  Ge- 
fässendothel ,  zwischen  dem  sich 
— .  y   ,  .  ^  ((r7W(1i'i  auch  feinste,  von  den  Vasa  vasorum 

"  (i  v<^  x^  \  ,   -1.     s^  f]{||V.  gelieferte,  neugebildete  Gef ässchen 

^       ■<\'\\  U^A  ^    7^==^"^  ''^feTi  entwio.kpjn. 


1  ,9',\\\'\S(!'W   \    ^  ^5S  ^^ö-  '^l    ist    eine  unterbundene 


\^     ?m  \\^  y^^^^^J^^         entwickeln 

Fig.  71 
Carotis  nach  5  Tagen  bei  schwacher 
Vergrösserung  nach  B.aah.  Die  Falte  e  der  Fig.  71  ist  in  Fig.  72  bei 
starker  Vergrösserung  dargestellt.  Die  Wucherung  der  Spindelzellen  c 
der  Intima  ist  sehr  schön  zu  sehen,  ebenso  die  Bildung  von  Ausläufern 
derselben.  Dazwischen  zeigen  sich  Massen  von  Detritus  (d)^  Reste  von 
Blut,  welches  zwischen  die  Intima  eingeschlossen  war;  h  Media. 

Nicht  weniger  instructiv  sind  Fig.  73  und  74  nach  Zahn.  In 
Fig.  73  ist  ein  Querriss  der  Arterienwand  dargestellt,  herbeigeführt  durch 
eine  einmalige  Umschnürung  der  Arterie;  der  Faden  wurde  jedoch  so- 
fort wieder  abgenommen  und  die  Lichtung  des  Gefässes  wieder  frei- 
gegeben. Auch  hier  erfolgte  eine  Gerinnung  des  Blutes  nicht,  der 
Blutstrom  schoss  ungestört  an  der  Wunde  vorüber.  Die  Zerreissung 
der  Intima  und  eines  Theiles  der  Media  ist  aber  ohne  Weiteres  zu  er- 
kennen. Von  der  Intima  haben  sich  bereits  junge  Endothelien  (a)  auf 
den  Riss  herübergeschoben ;  bei  h  sind  einige  farblose  Blutkörperchen 
zu  sehen.  —  Fig.  74  zeigt  einen  ebensolchen  Querriss  von   der  Innen- 


Gefässnarbe. 


111 


fläche  des  Gefässes  her  gesehen.  Der  Defect  in  der  Intima  wird  ledig- 
lich durch  einsäumende  Endothelbildung-  von  dem  erhaltenen  Endothel 
her  ausgefüllt.  Die  dunklen  Stellen  sind  Lücken,  wo  sich  diese  Epithel- 
neubildungen noch  nicht  erreicht  haben  und  noch  die  Media  blossliegt. 


Media        _ 


•)      Stelle  des 
Eisses 


^   a 


^^ 


Von  weissen  Blutzellen,  die  etwa  auf  der  Media  festkleben  und  zu 
Endothelien  umwandeln,  ist  nirgends  etwas  zu  sehen,  a  a  sind  die 
Grenzen  des  alten  Endothels ,  das  Endothel  zwischen  diesen  Linien 
ist  neu. 

Cohnheim  und  seine  Schüler  Hessen  den  Gefässverschluss  durch  auswandernde 
weisse  Blutzellen  zu  Stande  kommen.  Sie  stützten  sich  auf  das  Experiment ,  dass  bei 
mit  Zinnoberemulsion  eingespritzten  Thieren  auch  in  den  die  Gefässe  verschliessenden 
Massen  zinnoberhaltige  Zellen  gefunden  wurden.  Dass  solche  zinnoberhaltige  Leukocyten 
auch  hier  einwandern  und  ihren  Zinnober 
an  andere  Zellen  abgeben  können,  ist 
zweifellos ;  der  Uebergang  eines  weissen 
Blutkörperchens  in  eine  Gofässendothelie 
oder  eine  Bindegewebszelle  der  jungen 
Gefässnarbe  ist  damit  aber  nicht  erwiesen. 

Ein  Thrombus  bildet  sich  in 
dem  konischen  Ende  des  Gefässes 
nicht.  Das  Blut  ist,  auch  wenn  es 
gerinnt ,  der  Entwicklung  der  Ge- 
fässnarbe höchstens  hinderlich,  weil 
die  Wucherung  der  Endothelien,  statt 
unmittelbar  zu  verschmelzen ,  erst 
den   Thrombus    durchsetzen    muss. 

Auch  in  den  äusseren  Schich- 
ten des  Gefässes,  namentlich  der 
Adventitia,  findet  eine  IMndegewebs- 
neubildung  statt,  welche  besonders 
die  durch  den  Faden  bedingte  Ein- 
schnürung überbrückt  und  ausfüllt, 
so  dass  dieselbe  oft  ganz  verdeckt 
wird.  Die  Unterbindungsstelle  er- 
scheint so  äusserlich  nur  als  eine 
des  Gefässes.  Diese  Entwicklung 
bindungsstelle  herum  trägt  natürlich  wesentlich  zur  Sicherung  des  Ge- 
fässverschlusses bei,  und  man  hat  sie  deshall)  auch  äussere  Gefäss- 
narbe genannt  (Fig.  75  Z*),  gegenüber  der  durch  Endothelwuclierung 
ent.stehendeii  inneren  Gefässnarbe  (Fig.  75a).  Die  Gefässnarbe 
schrumi)ft  mit  der  Zeit  wie  jede  Xarbc  zu  einem  dünnen  bindegewebigen 
Faden,  welcher   die    sich  konisch   zuspitzenden    verschlossenen  Gefäss- 


kaum    sichtbare  Verschmächtigung 
von    Bindciiewcbe   um    die    Unter- 


112 


III.  C'apitel.  —  Voilet/.inigi;)). 


enden  verknüpft.  Haben  die  Gefässenden  sich  weit  zurückgezogen,  so 
kann  sich  auch  anderes  Gewebe  zwischen  sie  legen  (Fig.  75  c)  und 
eine  unmittelbare  Verbindung  beider  Gefässe  erfolgt  dann  nur  durch 
die  den  Collateralkreislauf  vermittelnden  Gefässe  (Fig.  7ßj.  Der  in 
der  Fadenschlinge  abgeschnürte,  allerdings  sehr  kleine  Theil  des  Ge- 
fässes  zerfällt  nekrobiotisch,  wird  resorbirt  und  an  seine  .Stelle  tritt 
neugebildetes  Bindegewebe. 


Pig.  75. 


Fig.  76. 


DerUnterbindungsfadeii  musste  frülier 
das  Gefäss  „durchscliueiden",  d.  h.  wenn  das  in  der 
Schlinge  gefässte  Gefässstück  durch,  deniarkirende 
Eiterung  aus  seinem  Zusammenhang  gelöst  war, 
ging  der  Faden  durch  eine  Oeffnung  in  der  Wunde 
ab.  Dies  dauerte  selbst  bei  kleinen  Arterien  nicht 
leicht  unter  6  Tagen,  bei  Arterien,  wie  die  A.  fe- 
moraüs,  nahm  dieser  Vorgang  3,  4,  selbst  5  "Wochen 
in  Anspruch.  Heute  lassen  wir  den  desinficirten, 
bacterienfreien  Faden  liegen  und  überlassen  ihn 
der  Eesorption.  Dies  geht  bei  Catgut  (Darmsaiten) 
ziemlich  rasch ,  der  Faden  trübt  sich  körnig, 
quillt,  fängt  an  sich  aufzufasern,  in  seine 
Lücken     drängen     sich     weisse    Blutzellen     und 

junges  Bindegewebe  herein,  immer  mehr  schwindet  der  körnige  Detritus  und  an 
seine  Stelle  tritt  Bindegewebe,  das  mit  dem  jungen  Gewebe  in  der  Fadeuschliuge 
continuirlich  verwächst.  Bei  Catgut  dauert  dieser  Vorgang  durchschnittKch  2  bis 
4  Wochen.  Viel  langsamer  und  unvollkommener  gehen  diese  Substitutionsprocesse  bei 
desinficirter  Seide  vor  sich.  Hier  kann  man  noch  nach  Monaten  die  Schünge  oft  nur 
wenig  verändert  und  aufgefasert  finden.  Im  Uebrigen  ist  der  Process  der  gleiche. 
Sind  die  Unterbindungsfäden  nicht  tadellos  keimfrei  („aseptisch"),  so  kommt  es  oft  nach 
Monaten,  wenn  die  Wunde  längst  geheilt  ist,  zur  Bildung  kleiner  Abscesse  in  der  Narbe 
und  zur  Ausstossung  der  Fadenschlinge. 

Zur  Herstellung  des  CoUateralkreislaufes  erweitern  sich 
nur  diejenigen  Gefässe,  welche  Blut  in  die  bisher  von  der  unterbun- 
denen Arterie  gespeisten  Bezirke  leiten,  namentlich  Seitenäste,  welche 
zu  arteriellen  Anastomosen  führen.    Doch  kann  sich  auch  eine  unmittel- 


Blutersparung. 


113 


bare  Circulation  aus  dem  centralen  in  das  periphere  Ende  wiederher- 
stellen ,  indem  sich  die  Vasa  vasorum  erweitern  und  über  die  Unter- 
bindimg-sstellen  weggehen.  Eine  Reihe  kleiner  Gefässe  entspringt  aus 
dem  einen  Ende  und  geht  brückenförmig  nach  dem  anderen  hinüber 
(Fig.  76).  Der  Process  erinnert  in  Manchem  an  die  Canalisation  des 
Thrombus  (Fig.  3). 

Fig.  76  stellt  die  Bildung  des  CoUateralkreislanfes  in  der  Carotis  eines  Schafes 
nach  Ebel  dar.  Ausser  einigen  grösseren  Seitenästen,  welche  etwas  rückwärts  von  der 
Unterbindungsstelle  abgehen  und  sich  zu  stärkeren  arteriellen  Verbindungsbahnen  er- 
weitert haben,  geht  auch  ein  Geflecht  feinerer  Gefässchen  —  aus  den  Vasa  vasorum 
hervorgegangen  —  unmittelbar  von  einer  Ligaturstelle  zur  anderen. 

Fig.  77. 


Fig.  78. 


Schlauchklemme. 

Reichlich  ebenso  wichtig  wie  die  Blutstillung;  ist  die  Bluterspar- 
niss  bei  Operationen.  Die  grössten  Erfolge  auf  diesem  Gebiete  gibt 
die  von  Esmarch  eingeführte  künstliche  Blutleere. 

Esmarch  Hess  die  Extremität,  von  unten  anfangend,  bis  l'/a  Handbreit  über  die 
r)l)erationsstelle  hinauf  mit  Gummibinde  einwickeln ;  dann  wird  eine  zweite  elastische 
Binde  umgeschnürt  und  die  erste  abgenonimen  (vergl.  Fig.  77-79).  Sie  muss  so  fest  liegen,  dass 
auch  die  Arterie  comprimirt  wird,  sonst  bck(jmmtman  nur  eine  unangenelime  venöse  Stauung. 
Sitzt  die  Binde  gut.  so  kann  man  ganz  im  Blutleeren  opcriren  und  ausser  dem  Vortheil, 
kein  Blut  zu  verlieren ,  lassen  sich  die  Theile  —  nicht  mit  Blut  überschAvemmt  und 
durchtränkt  —  viel  klarer  übersehen ;  es  lässt  sich  präpariren ,  wie  an  der  Leiche.  — 
Doch  hat  dieses  Verfahren  auch  seine  Schattenseiten.  Naeli  Lösung  des  Schlauches 
tritt  eine  enorme  Hyperämie  i'iii     und    es    ist    eine    grosse    Anzalil    Gefässe    zu    unter- 

Landcrer,  Allg.  chir.  Pathologii;  u.  ThiTapie.  2.  Anfl.  8 


114 


JH.  Capitel.   —  Vorletzungcii. 


binden,  viel  mehr,  als  wenn  man  oliint  IJliitli-i'i'c.  uin^riil  hat.  Ausserdem  ist,  da 
die  Resorption  seitens  der  Tlieile  eine  erhöhte  ist,  ein  Theil  der  \'er}riftun(:;en  mit 
Antisepticis,  namentlich  Carbolsäure,  mit  dieser  künstlichen  Hyperämie  in  A'erbindung 
zu  bringen.  Diese  Hyperämie  wird  als  paralytische,  d.  h.  auf  Gefässerschlaffunjr  lieruliend, 
aufgefasst.  Tempo läre  Anämie  wird  allgemein  als  entzündungseiTegend  anerkannt  und 
auch  diese  Hyperämie  ist  als  eine  entzündliche  geringen  Grades  aufzufassen.  Die  Er- 
höhung der  Resorption,  Lymphbildung  u.  s.  f.  spricht  auch  dafür  (vergl.  pag.  28). 

Auch  wenn  man  alle  sichtbaren  Gefässe  vor  Abnahme  des  Schlauehs 
unterbindet,  ist  der  endliche  Blutverhist  durch  das  ewige  Sickern  ans 
kleinen  und  kleinsten  Gelassen  oft  nicht  viel  kleiner,  als  wenn  man 
ohne  Blutleere  operirt  hätte.  Zur  Vermeidung-  dieser  störenden  und  auf- 
haltenden Nachblutung  sind  nun  einzelne  Chirurgen  wieder  zur  Digital- 
compression der  zuführenden 
Hauptarterie  zurückgekehrt  (vergl. 
Fig.  80).  Es  lässt  sich  damit  nahezu 
so  blutleer  operiren,  wie  mit  dem 
Schlauch.  Doch  setzt  es  einen 
absolut  verlässigen,  speciell  darauf 
eingeübten ,  nngewöhnlich  aus- 
dauernden Assistenten  voraus,  wie 
er  dem  praktischen  Arzt  nicht  zur 
Verfügung  steht. 

Ein  wesentlicher  Fortschritt 
wurde  erreicht  durch  die  von 
J.  W^o//' eingeführte  Combination 
von  Elevation  und  Abschnü- 
rung. Das  durch  3 — 5  Minuten 
senkrecht  erhobene  Glied  wird  — 
nachdem  das  Blut  vollends  mit  der 
Hand  ausgestrichen  ist  —  elastisch 
abgeschnürt  ohne  Einwicklung.  Das 
Bein  wird  so  nicht  völlig  blutleer, 
doch  stört  das  Bischeu  Blut,  was 
noch  darin  ist,  nicht.  Die  Hyperämie 
nach  Abnahme  des  Schlaucbs  ist 
viel  geringer  und  w4rd  noch  be- 
schränkt, wenn  man  bei  Lösung  des  Schlaucbs  die  zuführende  Arterie 
5  Minuten  comprimirt  und  das  Bein  eine  viertel  bis  halbe  Stunde  hoch- 
halten lässt  oder  hochlegt. 

Ein  weiteres  Verfahren  ist,  die  abschnürende  Binde  erst  abzunehmen, 
nachdem  alle  irgendwie  auffindbaren  Gefässe  unterbunden  sind  und 
die  Wunde  völlig  vereinigt  und  verbunden  ist.  In  Verbindung  mit  der 
Etagennaht  durch  verlorene  Nähte  (s.  Naht)  ist  dies  Verfahren  allerdings 
geeignet,  eine  Operation,  eine  Amputation  z.  B.,  ohne  einen  Tropfen  Blut- 
verlust auszuführen ,  doch  setzt  das  Verfahren  Erfahrung  imd  sorgfäl- 
tige spätere  Ueberwachung  des  Kranken  voraus. 

Bei  einer  infectiösen  Entzündung  ist  die  centripetale  Einwicklung,  die  überhaupt 
jetzt  ausser  Gebrauch  ist,  verboten  wegen  der  Möglichkeit,  infectiöse  Stofte  in  die  Cir- 
culation  hereinzupressen.     Man  schnürt  in  Elevation  entfernt  vom  Operationsfeld  ab. 

Durch  den  Druck  der  elastischen  Abschnürung  sind  Nervenlähmungen  (mit 
günstiger  Prognose)  beobachtet  worden  (3  Fälle,  v.Freij,  ref.  Chir.  Centralbl.,  1894,  pag.  38). 
Senn  beschuldigt  den  scharf  einschnürenden  Schlauch ;  der  eine  Fall,  den  ich  (N.  radialis 
am  Oberarm)  erlebt  habe,  entstand  durch  die  elastische  Binde. 


Blutersparung-  Tourniquets. 


115 


Neuher  nimmt  statt  der  elastischen  Binde  sterile  nasse  Leinenbinden  zur  Ab- 
sclinürung. 

In  früherer  Zeit  waren  zur  Abschnürung  bei  Blutungen  und 
vor  Operationen  die  Aderpressen  oder  Tourniquets  üblich.  Eine 
mit  Leder  überzogene  feste  Polster -Pelotte,  etwa  hühnereigross, 
wird  auf  einer  Stelle,  wo  die  Arterie  gegen  einen  Knochen  leicht 
comprimirt  werden  kann,  z.  B.  die  A.  brachialis  in  der  inneren  Biceps- 
furche,  durch  einen  Riemen  mit  Schnalle  festgeschnallt-  Die  Pelotte 
kann  durch  eine  Schraube  noch  fester  gegen  das  Gefäss  und  gegen 
den  unterliegenden  Knochen  angedrückt  werden  (Schraubentourniquet 
von  Petit .  Fig.  81).  Solche  Aderpressen  lassen  sich  leicht  improvisiren. 
In  ein  Taschentuch  schlingt  man  einen  derben ,  eventuell  doppelten 
Knoten,  legt  diesen  auf  die  Arterie  und  knüpft  das  Taschentuch  auf 
der  anderen  Seite  des  Gliedes.  Statt  des  Knotens  kann  man  irgend 
einen  festen  rundlichen  Gegenstand,  einen  Stein,  einen  zusammenge- 
drehten   Handschuh    in    das 

Taschentuch    einhüllen ,     die  '^'  ^^' 

Zipfel  desselben  an  ihren 
Enden  knoten  (Fig.  83).  Oder 
man  steckt  einen  Knebel  (einen 
Holzstab,  einen  Schlüssel,  ein 
Messer)  durch  die  Schlinge  und 
zieht  durch  Drehen  desselben 
die  Schlinge  fest  („Knebel- 
tourniquet",  Fig.  82). 

Die  Tourniquets  sind 
heute  im  Operationssaal  ver- 
lassen, höchstens  als  Irnjiro- 
visation  für  die  erste  Hilfe 
bei  Unglücksfällen  und  auf 
dem  Schlachtfeld  werden  sie 
gebraucht  und  gezeigt.  Auch 
hier  werden  sie  besser  durch 
die  Esjiiarch'schc  elastische 
Binde,  elastische  Hosenträger 
etc.  ersetzt. 

In  einzelnen  Fällen  kann  die  Compression  der  Aorta  abdominalis 
durch  ein  Tourniquet  angezeigt  sein.  Fig.  84  gibt  das  Tourniquet  für 
Aortencompression  von  Brandts.  Leider  sind  alle  Aortencompressorien 
unsicher. 

Risse  (Deutsche  med.  Wochenschr.,  18i)6,  5)  empfiehlt  zur  Blutersparung  die  tempo- 
räre Unterl)indung  grosser  Arterien  (Carotis,  Iliaca  u.  s.  w.)  wie  im  physiologi- 
schen Experiment,  mit  einem  elastischen  Band,  das  durch  eine  Arterienklemme  befestigt 
wird,  oder  mit  einer  Arterienklemme,  deren  Branchen  mit  Gummischhäuchen  armirt 
sind.  Die  Blutersparniss  sei  bedeutend,  Thrombose  selten.  Das  Verfahren  ist  jeden- 
falls bei  Atherom  und  im  Alter  nicht  zulässig. 

Durch  beständige  kalte  oder  heisse  Ueberrieselungen  lässt  sich 
eine  gewisse  Blutleere  auch  erreichen,  ebenso  hat  J.  Wolf  durch  me- 
thodische Compression  den  Blutverlust  z.  B.  bei  Gaumenoperationen 
wesentlich   herabgesetzt. 

Al)er  auch  wo  eine  Abspeninig  nicht  niiiglich  ist,  an  Koiif  und 
Rumpf,    lässt   sich    viel  lUut    ersparen    durch    sofortiges  Anlegen    von 


116 


III.  Capitel.  —  Verletzungen. 


Pincetten  auch  an  kleinste  Gelasse  (die  später  nicht  unterbunden  zu 
werden  brauchen),  ebenso  durcli  Compression  mit  Gazebäuschen  da,  wo 
eben    das    Messer    nicht    arbeitet.     Arn    allerwiehtigsten    aber    ist    die 


Fig.  82. 


Fig.  83. 


doppelte    Unterbindung    grösserer    Gefässe    vor   der   Durchschneidung. 
Hier  zeigt  sich  Erfahrung  und  gute  topographisch-anatomische  Schulung. 

Der  Versucli,  vor  Operationen  Blut  in  gewissen  Bezirken,  z.  B.  den  Beinen,  dnrcli 
elastische  Absclinürung  abzusperren  und  dies  nachher  wieder  der  Circulation  zurück- 
zugeben, hat  bis  jetzt  keine  brauchbaren  Ergebnisse  gehabt. 


Blutverlust.  CoUaps.  ]^]^7 

Trotz  dieser  Fülle  von  Mitteln  zur  Behandlung  der  Blutung- 
bleiben doch  noch  Fälle  genug-  übrig,  wo  der  Verlust  an  Blut  bei  einer 
Operation  oder  Verletzung-  eine  bedenkliche  Höhe  erreicht  und  schwere 
Folgen  für  Gesundheit  und  Leben  hei-beiführt. 

Massiger  Blutverlust  wird  von  Gesunden  ohne  viel  Unan- 
nehmlichkeiten und  Nachwehen  ertragen,  Müdigkeit  und  Abspannung, 
nervöse  Gereiztheit,  Durst,  später  Hungergefühl  sind  Alles.  Die  bleiche 
Gesichtsfarbe,  das  Gefühl  verminderter  Leistungsfähigkeit  sind  schon 
nach  wenigen  Tagen  wieder  verschwunden. 

Bei  schwerem  Blutverlust  sind  die  Er£:cheinungen  ernster.  Der 
Kranke  wird  bleich,  der  Puls  kleiner  und  häufiger.  Es  stellen  sich  Un- 
ruhe ,  Angstgefühl ,  Beklemmung  auf  der  Brust ,  Beschleunigung  der 
Athmung  und  Lufthunger  ein.  Bald  wird  es  dem  Kranken  schwarz 
vor  den  Augen,  die  Ohren  klingen  ihm,  er  bricht  zusammen,  das  Be- 
wusstsein  umflort  sich,  der  Puls  verschwindet.  Im  Liegen  tritt  vielleicht 
eine  kurze  Besserung  ein,  doch  kehrt  die  Unruhe  in  verstärktem  Masse 
wieder;  der  Kranke  greift  in  die  Luft,  die  Gesichtszüge  verfallen,  die 
dunkelgeränderten  Augen  werden  starr,  die  Pupillen  weit;  es  stellt 
sich  Aufstossen  (Singultus)  und  Erbrechen  ein.  Unter  schnappenden 
oder  schluchzenden,  immer  seltener  werdenden  Athemzügen  und  einigen 
Zuckungen  tritt  der  Tod  ein.  Wirkliche  Verblutungskrämpfe  —  beim 
verblutenden  Thier  die  Regel  —  finden  sich  selten  beim  Menschen. 

Ein  anderes  Mal  —  und  dies  ist  gerade  nach  Operationen  der 
häufiger  beobachtete  Fall  —  spielt  sich  die  Scene  der  Verblutung  nicht 
so.  stürmisch  ab.  Die  Kranken  sind  nach  der  Operation  sehr  schwach, 
elend  und  apathisch,  der  Puls  ist  fadenförmig  oder  nicht  zu  fühlen, 
Extremitäten  und  Nase  kühl,  die  Lippen  und  Schleimhäute  bleich,  die 
Gesichtsfarbe  fahl,  wachsgelb.  Trotz  warmer  Einpackungen,  horizon- 
taler Lage  etc.  erholen  sich  die  Kranken  nicht ,  alle  stärkenden  Ge- 
tränke werden  weggebrochen.  Hin  und  wieder  scheint  sich  der  Zustand 
zu  bessern,  doch  bald  kommt  wieder  eine  Ohnmacht,  aus  der  man 
den  Kranken  nur  mit  grösster  Mühe  erwecken  kann.  Binnen  Kurzem 
kommt  wieder  ein  erneuter  Anfall  von  Schwäche,  wo  Puls  und  Bewusst- 
sein  schwinden  —  ein  Collaps  —  und  in  diesem  geht  der  Kranke 
schliesslich,  12 — 24  Stunden  nach  der  Operation,  zu  Grunde. 

Unsere  Kenntnisse  über  Blutung  und  Verbhitungstod  und  damit 
auch  unsere  therapeutischen  Auffassungen  sind  ganz  besonders  durch 
die  experimentellen  Arbeiten  C.  iMdivifJs  und  seiner  Schüler  gefördert 
worden.  Sie  haben  uns  exacten  Aufschluss  gegeben  über  die  Verände- 
rungen des  Blutdrucks,  der  Stromgeschwindigkeit  des  Blutes,  der  Blut- 
mischung  bei  schweren  P>lutungen;  sie  haben  uns  auch  über  die  wirk- 
liche, letzte  Ursache  des  Todes  bei  der  Verblutung  Klarheit  gebracht 
und  damit  unserem  therapeutischen  Vorgehen  feste  Normen  vorgezeichnet. 

Das  Verhalten  des  Blutdrucks  bei  der  Verblutung  zeigt  beifolgende 
Curve  (Fig.  85). 

I»ii-.scll)ii  —  zusammciigcdrängt  —  ist  von  einem  G  K<iT.  seliwiTcn  kräfti};-('ii  Hund 
cntiionimen ,  der  aus  der  A.  carotis  verblutet  wurde,  das  Kymoj^raphion  ist  mit  der 
A.  femoralis  verbunden.  Die  Abnahme  von  60  Com.  Blut  =  f/o  ^es  Köri)ergewichts, 
ändert  den  Druck  niclit.  Darauf  werden  90  Ccm.  =  l'/j^/o  abgenommen.  Erst  jenseits 
2''/(,,  zwisclien  120 — 150  Ccm.  sinkt  der  Druck  um  ein  Beträclitliches  und  dabei  werden 
die  Pulse  kli'iner.  Im  Laufe  von  h  Jlinuten  hebt  sich  aber  der  Druck  wieder  fast  zur 
ursprüngliciien   Hillie.     Nun  wcnlen    wieder  60  Ccm.  abgenommen.     Der  Blutverlust  be- 


118 


111.  Capitel.  —  Verletzungen. 


Verblutung.  119 

trägt  damit  S'/aVo  ^^^  KörpergewicMs,  ungefähr  die  Hälfte  der  Blutmenge  des  Thieres. 
Jetzt  sinkt  der  Druck  beträchtlich,  die  Pulse  werden  sehr  viel  kleiner,  sind  kaum  ein 
Viertel  so  hoch  wie  anfangs;  das  Thier  wird  sehr  unruhig,  die  Athmuug  stürmisch, 
rasche  tiefe  Eiuathmungen  wechseln  mit  ebensolchen  energischen  Ausathmungen.  Man 
erkennt  dies  an  den  enorm  steilen  Senkungen  und  Hebungen  der  Curve.  (Die  einzelnen 
Erhebungen  entsprechen  jedesmal  einem  Pulse.  Die  Hebung  und  Senkung  der  ganzen 
Curve  je  einem  Athemzug.)  Doch  auch  jetzt  tritt  noch  einmal  eine  gewisse  Beruhigung 
ein ;  die  Pulse  werden  grösser ,  die  Athmung  ruhig ;  auf  erneute  Blutung  von  60  Ccm. 
=  47.//o  Körpergewicht,  dasselbe  Schauspiel  wieder  mit  enormem  Tiefstand  des  Drucks 
(anfangs  180 — 190  Mm.  Hg,  jetzt  50 — 60  Hg)  und  steiler  Athemcurve.  Nochmals  Be- 
ruhigung und  ein  leichtes  Wiederaufsteigen  des  Drucks.  Auf  eine  letzte  Blutung  von 
circa  40  Ccm.  =  (5'27u)  Abfall  der  Curve  zur  Abscisse.  Tod.  Dauer  des  Versuchs 
25  Minuten. 

Diese  Curve  führt  uns  ohne  Zwang  zur  Unterscheidung  von  drei  Graden 
der  Blutung.  Bei  Blutungen  ersten  Grades  bis  etwa  2%  des  Körpergewichts, 
einem  Viertel  der  Blutmenge  beim  (Menschen  circa  1000—1200  Ccm. 
entsprechend)  ändert  sich  der  Blutdruck  gar  nicht.  Blutungen  zweiten 
Grades,  bis  circa  4^0,  ist  dagegen  eine  beträchtliche  Blutdrucksenkung 
eigen thümlich,  die  Pulse  werden  sehr  klein  und  zahlreich.  Wenn  man 
jene  Blutungen  als  leichte  bezeichnen  will,  so  müssen  diese  als  schwere 
angesehen  werden.  Jenseits  4%  bis  4,5 — 5%  fängt  dann  die  Periode 
des  raschen  Verfalls  des  Blutdrucks  an,  wo  es  fraglich  bleibt,  ob  der 
Druck  sich  wieder  hebt  oder  zur  Abscisse  sinkt.  Es  sind  diese 
Blutungen  als  äusserst  gefährliche,  meist  tödtliche  anzusehen. 

Den  Schwankungen  des  Blutdrucks  gehen  parallel  Veränderungen 
der  Stromgeschwindigkeit  und  der  Concentration  des  Blutes.  Beide 
nehmen,  dem  Blutdruck  entsprechend,  ab.  Natürlich  leidet,  wenn  ein 
dünneres  Blut  langsamer  durch  die  Adern  fliesst,  die  Ernährung  em- 
pfindlicher Organe,  namentlich  des  Gehirns  und  der  nervösen  Centren; 
daher  die  Unruhe,  die  stürmische  Athmung  u.  s.  f. 

Die  letzte  Todesursache  bei  der  Verblutung  wurde  früher 
in  dem  Verluste  an  den  dem  Blute  specifischen  Stoffen ,  den  rothen 
Blutkörperchen,  in  dem  Hämoglobinmangel  und  damit  der  ungenügenden 
Sauerstoft'zufuhr  gesucht.  Heute  wissen  wir,  dass  der  Mangel  an 
Hämoglobin  bei  dem  Verblutungstod  nicht  in  erster  Linie  in  Frage 
kommt,  er  sinkt  hier  nie  unter  40%,  während  er  bei  anderen  Krank- 
heiten und  experimentell  auf  lO^/o  und  weniger  herabgedrückt  werden 
kann  (r.  Ott  bis  3%,  olm^  das  Leben  unmittelbar  zu  gefährden).  Die  Ge- 
fahr ist  das  Sinken  des  Blutdrucks  auf  eine  Stufe,  dass  derselbe 
zur  Ueberwindung  der  Widerstände  im  Gefässsystem  und  damit  zur 
Bewegung  des  Blutes  nicht  mehr  hinreicht.  Derselbe  genügt  eben 
noch ,  das  Blut  in  die  Capillaren  und  in  die  Venen  zu  treiben ,  nicht 
aber  hindurch  und  in's  Herz  zurück.  Dasselbe  bleibt  in  den  Venen, 
namentlich  des  Unterleibs  (vergl.  pag.  7)  liegen.  Das  rechte  Herz 
wird  nicht  mehr  genügend  gefüllt,  damit  erlahmt  das  Herz  und  die 
Circulation  hiirt  auf.  Es  kommt  also  ein  Missverhältniss  zwischen  Ge- 
fässraum  und  Gefässinhalt  zu  Stande,  der  Gefässraum  ist  für  seinen 
Inhalt  zu  weit  geworden  („Leergehen  der  Herzpumpe"). 

Das  Verhilltniss  von  Gefässraum  und  (lefässinhalt  ist  für  alle  Aende- 
riingen  der  Circulation  äusserst  wichtig.  Beide  sind  keineswegs  constant.  Die  Blntmenge 
unterliegt  sehr  beträchtlichen  täglichen  physiologischen  Sclnvankungen.  lleichliclies  Trinken 
vermehrt  die  Blutmenge  —  natürlich  nur  die  Flüssigkeitsmenge ,  nicht  den  Gehalt  an 
Blutkörperchen  um  1 — 2"/.,;  die  Absonderung  der  Vei'dauungssäfte  vermindert  sie  um 
1 — 2"  (,  des  Körpergewiclits.  Die  Blutmenge  schwankt  also  täglich  innerhalb  weiter 
Grenzen,    ungefähr   um    die  Hälfte.      H'orni-M/illcr   injiciite  Thieren  noch  das  Ändert- 


]^20  -^^I-  *^'apitßl-  —  Veiietzuiigfiii. 

halbfache  ihrer  Bhatmenge  und  dei'  Üluldruck  stiej^  trotz  dieser  Yeiiiiehiuri;^  des  Blut- 
gehalts auf  das  Zweieinhalbfache  nicht  wesentlich.  Von  Kochsalzlösung  können  noch 
viel  grössere  Mengen  eingespritzt  werden  (Cohnheim  und  Lichtheim).  Was  ist  es  nun, 
was  den  Gefässraum  diesen  grossen  Schwankungen  seines  Inhalts  stets  angepasst  er- 
hält? Dies  ist  die  Arterienmusculatur,  hauptsächlich  die  lÜngmuseulatur  der  mittleren 
Arterien.  Dieselbe  steht  unter  der  Herrschaft  der  Gefässnerven  und  der  vasomotorischen 
Centren  in  Medulla  oblongata  und  oberem  Halsmark.  Je  nachdem  ihr  Tonus  zu-  oder 
abnimmt,  wird  die  Gefässbahn  enger  oder  weiter.  Die  Arterienmusculatur  ist  es  auch, 
welche  durch  die  Verengerung  der  Gefässe  bei  leichten  Blutungen  (27o  Körpergewicht) 
den  Druck  hochhält,  und  erst  Avenn  der  Inhalt  so  gering  wird,  dass  alle  Verengerung 
der  Gefässe  nicht  mehr  genügt,  verfällt  der  Druck.  Lähmt  man  die  Gefässmuskeln, 
z.  B.  durch  Durchschneidung  des  Halsraarks,  so  sinkt  zunächst  der  Druck  sehr  stark, 
und  Avenn  man  jetzt  eine  Blutentziehung  macht ,  ist  von  Constantbleiben  des  Druckes 
keine  Rede  mehr.  Nimmt  man  jetzt  auch  nur  1%  weg,  sinkt  der  Blutdruck  sofort 
und  die  Thiere  gehen  durch  einen  Verlust  von  1— 27o.  der  sie  sonst  nicht  berührt 
hätte,  zu  Grunde.  Ebenso  Avirkt  die  „Ueberfüllung"  des  Gefässsystems  in  den  ange- 
führten Worm-Müller's,ch(ii\  Versuchen  lähmend  auf  die  Gefässmuskeln.  Spritzt  man 
einem  Hund  150%  seiner  Blutmenge  zu  seiner  normalen  Blutmasse  ein  und  lässt  ihn 
dann  verbluten ,  so  kann  es  vorkommen ,  dass  man  nicht  einmal  so  viel  Blut  aus  den 
erweiterten  und  überdehnten  Gefässen  Avieder  herausbekömmt,  als  man  eingespritzt  hat. 
Das  Thier  ist  an  Verblutung  gestorben ,  obgleich  es  noch  mehr  Blut  hält,  als  vor  dem 
Beginn  des  Versuchs;  allein  an  der  Blutdrucksenkung.  Diese  Beobachtungen  sind  von 
grosser  praktischer  Tragweite. 

Die  Beobachtungen  am  Thier  haben  nns  aber  noch  weitere  prak- 
tisch verwerthbare  Aufschlüsse  gebracht. 

Die  Curve  (Fig.  85)  zeigt,  dass  auch  bei  schweren  Blutverlusten 
nach  einiger  Zeit  der  tief  gesunkene  Blutdruck  doch  wieder  anfängt 
zu  steigen.  Dies  ist  nicht  die  Wirkung  einer  Contraction  der  Gefäss- 
musculatur,  sondern  bedingt  durch  Uebertritt  von  Flüssigkeit  aus  den 
Geweben  in's  Blut.  Sinkt  der  Blutdruck  unter  den  Werth  der  Span- 
nung der  Gewebe,  so  kehrt  sich  der  Strom  um,  und  statt  dass  wie 
sonst,  Plasma  aus  dem  Blut  in's  Gewebe  übertritt,  ergiesst  sich  jetzt 
Gewebsflüssigkeit  in  das  Gefässsystem  und  füllt  dieses  wieder  auf. 
Damit  vermag  sich  auch  wieder  eine  gewisse  Spannung  herzustellen, 
der  Druck  steigt  und  die  Circulation  kommt  aufs  Neue  in  Gang  mit 
vermindertem  und  vor  Allem  verdünntem  Blut. 

Die  Frage,  Avelche  man  oft  in  Laienkreisen  besprochen  hört ,  Avie  viel  ein  Mensch 
Blut  verlieren  kann,  ehe  er  stirbt,  beantAvortet  sich  nach  dem  oben  Gesagten 
von  selbst.  So  viel,  wie  seine  Gefässe  entbehren  können  und  das  ist  total  verschieden, 
je  nach  dem  Zustand  seiner  Gefässe.  Ein  gesundes  Gefässsystem  vermag  sich  auch 
einer  enorm  verminderten  Blutmenge  noch  anzupassen;  bei  kranken,  unelastisch  ge- 
A\'ordenen  Gefässen  mit  entarteter  functionsunfähiger  Musculatur  kommt  es  sofort  zu 
jenem  fatalen  Missverhältniss  zAvischen  Gefässraum  und  Gefässinhalt ,  das  zum  Verfall 
des  Blutdrucks  und  damit  zum  Aufhören  der  Blutbew^egung  führt.  Gerade  wie  bei 
Thieren  mit  durchschnittenem  Halsmark  und  gelähmten  Gefässen.  Fast  in  keiner  Be- 
ziehung finden  sich  so  grosse  individuelle  Verschiedenheiten ,  Avie  in  der  Widerstands- 
fähigkeit gegen  Blutverlust.  Junge  Leute,  Frauen  ertragen  meist  Adel;  Greise,  Trinker, 
Raucher,  Leute  mit  atheromatösen,  verkalkten  Gefässen  gehen  durch  einen  Blutverlust 
von  V2  Liter  zu  Grunde.  Jedenfalls  lässt  sich  aus  der  Menge  des  verlorenen  Blutes, 
selbst  wenn  man  dieselbe  annähernd  genau  abschätzen  könnte,  durchaus  keinen  Schluss 
ziehen,  ob  der  Kranke  in  Gefahr  ist  oder  nicht.  Bierfreiind  {Langenheck's  ArchiA',  41) 
nimmt  einen  Blutverlust  von  3200  Ccm.  als  tödtlich  an. 

Selbstverständlich  wirken  bei  Operationen  noch  Hilfsursacheu  mit,  um  ein  un- 
glückliches Ende  herbeizuführen;  besonders  das  Chloroform,  Avelches  an  sich  schon  den 
Blutdruck  erheblich  herabsetzt  und  den  Hämoglobingehalt  vermindert. 

Nicht  sorgfältig  genug  kann  man  die  Kranken  vor  der  Operation  untersuchen 
auf  Veränderungen  der  Gefässe  (Atherom),  Herzfehler,  Zeichen  von  Alkoholmiss- 
brauch, u.  dergl.  Nicht  dringend  genug  kann  man  warnen  A'or  zu  tiefer  und  zu  langer 
Chloroformirung. 


Behandlung  der  Verblutung.  121 

Zwei  Hauptaufgaben  ergeben  sich  hieraus  für  die  Behandlung 
der  Verblutung:  Einwirkung  auf  Herz  und  Gefässe,  um  den  Blut- 
druck hoch  zu  halten  und  Wiederanfüllung  der  Gefässe. 

Man  geht  etwa  in  folgender  Weise  vor:  Wird  der  Puls  schlecht 
und  zeigen  sich  die  auf  pag.  117  geschilderten  Symptome,  so  greift 
man  zunächst  zu  den  Analepticis.  Es  sind  dies  Reizmittel  für  das 
Herz  —  Aether  subcutan,  mehrere  Pravaz'sche  Spritzen  (zu  1  Gem.), 
Solutio  Camphorae  oleosa  (Camphorae  tritae  10,  Ol.  amygdalarum  4"0) 
ebenfalls  subcutan.  Bei  Kranken,  die  noch  schlucken  und  das  Ge- 
trunkene nicht  wieder  wegbrechen ,  hat  es  meist  nicht  viel  Noth. 
Heisser  Kaffee,  Fleischextract  in  heissem  Wasser,  Gewürzwein,  Sect 
u.  dergl.  sind  hier  wirksam.  Anderenfalls  kann  ein  Clysma  (1  Theil 
Spiritus  auf  5 — 6  Theile  Wasser,  lau,  60  Grm.  alle  15—20  Minuten) 
wirksam  sein.  Dazu  legt  man  den  Kranken  mit  dem  Kopf  zu  tiefst, 
packt  ihn  in  heisse  Decken ,  gibt  Wärmflaschen  an  die  Füsse,  lässt 
ihn  unter  der  Decke  reiben,  besonders  den  Unterleib  vorsichtig  kneten. 
Hat  man  nicht  in  15 — 20  Minuten  Erfolg,  so  gilt  es,  rascher  und 
ohne  den  Umweg  des  Darms,  den  Gefässen  den  nöthigen  Inhalt 
wieder  zu  geben. 

Von  der  Autotr  ansfu  sion  ist  nicht  viel  zu  erwarten.  Die  vier  Extremitäten 
sollen  centripetal  eingewickelt  werden  und  so  das  in  ihnen  enthaltene  Blut  der  Circu- 
lation  der  inneren  Organe  zur  Verfügung  gestellt  werden.  In  den  Extremitäten  ist 
aber  beim  Verbluteten,  wie  ich  gezeigt  habe,  so  gut  wie  kein  Blut,  und  so  wiixl  damit 
nichts  gewonnen.  Nach  Autotransfusion  ist  Thrombose  der  Vv.  femorales  beobachtet 
worden. 

Die  subcutane  In jection  von  0,77oPti-ysiologischer  Kochsalzlösung  benütze 
ich  regelmässig  nach  langdauernden  schweren  Operationen  zur  rascheren  Erholung  und 
Beseitigung  der  Nachwehen  der  Narkose ;  auch  in  der  Nachbehandlung  verwende  ich 
sie  oft.  Ich  injicire  durchschnittlich  300  Ccm.  auf  einmal,  gehe  aber  auch  bis  800  Ccm. 
Ich  injicire  mit  einer  50  Ccm.  haltigen  Spritze  mit  starker  Hohlnadel  oder  mit  dem 
Infusor  (siehe  unten)  und  wähle  meist  den  Oberschenkel   zur  Einspritzung. 

Bei  sehr  schweren  Blutungen  ist  die  subcutane  Injection  nutzlos, 
denn  es  wird  vom  Unterhautzellgewebe  hier  nichts  mehr  aufgesaugt. 
Es  muss  Flüssigkeit  direct  in's  Gefässsystem  eingebracht  werden  durch 
die  Transfusion  oder  Infusion. 

Unter  Transfusion  verstehen  wir  die  Ueberführung  von  Blut  von  einem  Menschen 
auf  den  andern.  Keine  Operation  hat  eine  so  wechselvolle  Geschichte ,  ist  bald  als 
Panacee  gepriesen  und  für  alle  Leiden  empfohlen  worden,  bald  in  der  Achtung  der  Aerzte  so 
tief  gesunken.  Heutzutage  verwerfen  wir  sie  fast  allgemein.  Blut  zuzuführen  ist  in 
der  Behandlung  der  Blutung  unnöthig,  weil  es  nicht  der  Blutmangel  ist,  an  dem  die 
Kranken  zu  Grunde  gehen.  In  einen  anderen  Körper  überführtes  Blut  ist  aber  ge- 
fälirlich,  weil  es  äusserst  schädliche  Stoffe  enthalten,  ein  tödtliches  Gift  für  den  Körper 
sein  kann.  Schon  lange  wissen  die  Aerzte,  dass  die  Transfusion  nicht  immer  glatt  ab- 
läuft. Sehr  häufig  folgen  unmittelbar  im  Anschluss  an  die  Einführung  von  Blut  in 
den  Kreislauf  Kreuzschmerzen,  später  ein  Schüttelfrost  mit  folgendem  Fieber,  dann 
Hautausschläge  verschiedener  Art,  namentlich  Quaddeln  Avie  bei  Nesselsucht,  Blutharneu; 
schmerzhafte,  selbst  blutige  Diarrhöen  u.  dergl.  In  noch  anderen  Fällen  bleiben  die 
Kranken  dem  Arzt  während  der  Operation  unter  den  Händen.  Die  Operation,  welche 
lebensrettend  wirken  sollte ,  hat  das  Leben  direct  vernichtet.  Ich  habe  solche  Fälle 
zweimal  erlebt  und  muss  gestehen,  dass  mich  selten  ein  Misserfolg  so  niedergedrückt 
hat.  Bei  der  Section  finden  sich  frische  Gerinnsel  im  Herzen,  in  den  Lungenarterien, 
welche  embolisch  verschlossen  sind,  auch  in  anderen  Gefässbezirken,  in  den  Cai)illaren 
des  Darms.  Es  handelt  sich  um  eine  Vergiftung  mit  Fibrinferment.  Tritt  das 
Blnt  aus  der  Ader,  so  bildet  sich  bekanntlich  Fibrinferment  etc.  (vergl.  pag.  12)  und 
es  tritt  Gerinnung  ein.  Gelassenes  Blut  entliält  immer  Fibrinferment,  auch  wenn  es 
geschlagen,  defibrinirt  ist;  viel  mehr,  wenn  das  Schlagen  nicht  .sofort  vorgenommen, 
sondern  Avenn  man  das  Blut  erst  hat  .stehen  und  gerinnen  lassen  und  dann  durch  ein 
Tuch  gepresst  und  so  die  Gerinnsel  entfernt  hat. 


122  III-  Capitel.  —  Verletzungen. 

Bringt  man  fermenthaltiges  ßlut  in  den  Kreislauf  ein,  so  entstehen  Gerinnungen, 
die  entweder  sofort  tödten,  oder  ein  Krankbeitsbild  erzeugen,  das  den  bei  Transfusion 
beobachteten  Erscheinungen  durchaus  gleicht;  capilläre  Embolien,  im  Darm  namentlich, 
mit  folgenden  blutigen  Diarrhöen,  hohes  Fieber,  Blutharnen  u.  dergl.  Zwar  kann  die 
lebende  Gefässwand  Fibrinferment  bis  zu  gewissen  Mengen  neutralisiren.  Da  man  aber 
nie  weiss,  wie  viel  Ferment  das  injicirte  Blut  enthält ,  kann  man  auch  nie  wissen,  ob 
der  Kranke  die  Sache  überstehen  wird  oder  nicht.  Zudem  haben  zahlreiche  Unter- 
suchungen (v.  Ott)  gezeigt,  dass  das  übergepflanzte  Blut  vom  Organismus  gar  nicht  weiter 
verwendet  wird.  Es  ist  abgestorben.  Das  Blut,  welches  man  überträgt,  ist  also  gefährlich 
und  unnütz,  weil  unbrauchbar. 

Dieser  Vorwurf  trifft  auch  die  „directe  Ueberleitung  ganzen,  nicht 
d  efibrinirten  Blutes"  durch  directe  Verbindung  einer  Arterie  des  Blutspenders 
mit  der  Vene  des  Blutempfängers,  indem  man  in  die  Radialis  des  Spenders  und  die 
V.  mediana  des  Empfängers  Canülen  einbindet  und  dieselben  durch  einen  Schlauch 
oder  besondere  Apparate  verbindet.  Auch  hier  bilden  sich  in  dem  Schaltstück 
Gerinnungen  und  es  kann  Fibrinferment  entstehen. 

Gerade  wie  bei  den  normalen  Ausgleichsvorgängen  der  Verlust 
an  Blut  zunächst  durch  Plasma  und  nicht  durch  Blut  ersetzt  wird,  so  ist 
es  auch  unsere  erste  Pflicht,  die  Gefässe  wieder  zu  füllen  und  damit 
den  nöthigen  Blutdruck  wieder  herzustellen.  Hiezu  wurde  zunächst 
eine  einfache  alkalische  Kochsalzlösung  (1000  Aq.  dest.,  7'0  Natr.  chlorat.) 
verwandt  und  dieselbe  in  genügenden  Mengen  (circa  800 — 1000  Ccm.) 
eingespritzt.  Eine  sofortige  Hebung  des  Blutdrucks  ist  in  den  Experi- 
menten nie  zu  verkennen ,  ebenso  vermisst  man  in  der  Praxis  eine 
unmittelbar  belebende  Wirkung  der  Infusion  von  Kochsalzlösung  fast 
nie.  Leider  hält  dieselbe  nicht  immer  an,  sondern  sehr  häufig  erliegen 
die  Kranken  nach  Stunden  einem  zweiten  Anfall  von  Schwäche.  Ich 
fügte  deshalb  einen  Zusatz  von  3<'/o  Zucker  hinzu  und  die  Erfolge 
sind  mit  dieser  Lösung  sowohl  bei  Thierversuchen,  als  beim  Menschen 
ganz  wesentlich  bessere  geworden.  (Sacch.  alb.  80'0,  Aq.  dest.  1000  0, 
Natr.  chlor.  7'0.)  Der  Blutdruck  steigt  dabei  noch  rascher  wieder  an, 
der  Uebertritt  von  Gewebsflüssigkeit  und  Blut  erfolgt  schneller.  Ueble 
Folgen  sind  bislang  weder  von  der  Kochsalzlösung,  noch  von  der 
Zuckerkochsalzlösung  beobachtet.  Die  Reconvalescenz  ist  bei  letzterer 
Lösung  eine  sehr  kurze  und  glatte. 

Für  manche  Fälle  —  Vergiftungen  mit  Kohlenoxyd,  Chloral, 
Morphium,  Chloroform,  Aether  u.  dergl.  —  wird  auch  heute  noch  von 
einer  Anzahl  Chirurgen  an  der  Verwendung  von  Blut  zur  Transfusion 
festgehalten.  Man  wird  —  bei  sehr  schweren  Verblutungen  —  auch 
dann  zur  Bluttransfusion  greifen ,  wenn  die  Kochsalzinfusion  zu  ver- 
sagen droht.     Immerhin  hat  man  mit  dieser  Zeit  gewonnen. 

Ich  rathe  hier,  das  defibrinirte  Blut  mit  4  Theilen  gewöhnlicher 
Kochsalzlösung  zu  mischen  (z.  B.  200  Ccm.  defibrinirtes  Blut  mit  800  Ccm. 
Kochsalzlösung).  Man  bekommt  so  die  nöthige  Menge  Flüssigkeit  und 
die  Gefahr  ist  geringer  ^  weil  in  derselben  Zeit  weniger  Ferment  ein- 
geführt wird ,  dasselbe  also  leichter  vom  Gefässsystem  unschädlich  ge- 
macht werden  kann.  Meine  Erfolge  mit  der  gemischten  Transfusion 
sind  sehr  schöne. 

Zur  Ausführung  der  Infusion  legt  man  durch  einen  2'/.j  Cm.  langen  Haut- 
schnitt die  Vena  mediana  basilica  bloss ,  isolirt  dieselbe  2  Cm.  weit  aus  ihrer  Scheide 
mit  Pincette  und  einigen  flachen  Messerzügen.  Mit  einer  Aneurysmanadel  führt  man 
drei  desinficirte  Seidenfäden  um  die  Vene.  Der  untere  wird  sofort  geknotet  und  kurz 
abgesclinitten,  er  soll  die  Vene  nach  unten  verschliessen ;  der  Faden  im  oberen  Winkel 
wird  nur  lose  geknotet,  ein  Schifferknoten,  und  darauf  gesetzt  eine  einfache  Schleife. 
Jetzt  schneidet  man  in  die  Vene  mit  scharfer  kleiner  Scheere  eine  dreizipfelige  AVunde, 


Transfusion.  Infusion. 


123 


schiebt  die  mit  Infusionsflüssigkeit  gefüllte  Glascauüle  ein  (Fig.  86)  und  bindet  dieselbe 
mit  dem  mittleren  Faden,  der  in  die  verjüngte  Stelle  der  Canüle  zu  liegen  kommt,  fest. 
Nun  verbindet  man  die  Canüle  durch,  einen  Kautschukschlauch  mit  dem  Infusionsapparat. 
Dieser  besteht  aus  einer  langen,  etwa  100  Cm.  fassenden  graduirten  Bürette,  in 
Avelche  die  vorher  durch  steriMsirte  Leinwand  filtrirte,  auf  40"  erwärmte  Infusions- 
flüssigkeit eingebracht  wird.  Zweckmässig  ist  noch  ein  T-Stück  einzuschalten,  als  Luft- 
fänger und  zum  Ablassen  von  Flüssigkeit.  Ist  alle  Luft  aus  dem  Apparat  heraus,  so 
löst  man  die  Schleife  und  lässt  die  Flüssigkeit  eintreten,  langsam,  nicht  über  30  Ccm. 
in  der  Minute.  Der  Druck  übersteigt  50  Ccm.  Flüssigkeit  nicht  (gemessen  von  der 
Wunde  bis  zum  Niveau  der  Flüssigkeit).  Durch  Heben  und  Senken  des  Infusors  lässt 
sich  der  Druck  sehr  leicht  abändern. 

In  der  Eile  muss  man  oft  mit  der  Spritze  injiciren.  Man  setzt  dieselbe  in  den 
kurzen,  an  die  Canüle  angefügten  Schlauch  ein  \mä  spritzt  langsam,  mit  weicher  Hand, 
nicht    stossweise    ein.     In     den 

Zwischenpausen  verschliesst  '^' 

man  den  Schlauch  mit  einer 
Schlauchklemme  oder  einer 
Arterienpincette. 

Ist  die  Infusion  zu  Ende, 
so  knotet  man  den  oberen  Faden 
und  schneidet  die  Fäden  kurz 
ab ,  schneidet  das  Stück  Vene 
zwischen  den  Ligaturen  heraus. 
Drei  Nähte  schliessen  die  AVunde, 
auf  die  ein  antiseptischer  Ver- 
band kommt. 

Die  Menge  des  zu 
Injicirendeu  darf  nicht  zu 
klein  sein,  Blut  nicht  über 
300  Ccm.  wegen  der  Ge- 
fahr der  Fermentintoxica- 
tion ;  Kochsalz-  oder  Koch- 
salzzuckerlösung ,  Blut- 
mischung bis  800  bis 
1000  Ccm.  Einige  schwär- 
merische Verehrer  der  Blut- 
transfusion glauben ,  ihre 
Verletzten  mit  einer  Unze 
(30  Ccm.  Blut  =  2  Ess- 
lötfel)  vom  Verblutungstod 
gerettet  zu  haben. 

Die  Technik  der  Blut- 
transfusion ist  dieselbe,  wie  die 
der  Kochsalzinfusion.  ■' 

Der  Aderlass,  welcher  das  Blut  liefert,  ist  pag.  125  beschrieben.  Während  das 
Blut  in  das  Gefäss  springt,  wird  es  sofort  energisch,  8  Minuten  lang,  mit  einem  aus- 
gekochten Quirl  oder  Holzstab  geschlagen,  dann  2nial  durch  sterile  Leinwand  in  ein 
Gefäss,  das  in  Wasser  von  38°  steht,  filtrirt;  jetzt  ist  es  zur  Injection  geeignet.  Sie 
wird  mit  Infusor  oder  Spritze  gemacht. 

Die  arterielle  Transfusion  ^ifi<e/er^  defibrinirten  Blutes  mit  der  Spritze  in 
das  periphere  Ende  der  Arteria  radialis  hat  gegenüber  der  venösen  Transfusion  nur 
Nachtheile.  Bei  arterieller  Infusion  von  Kochsalzlösung  (in  das  jx'riphcre  Ende  der 
Radialis)  hat  Kümmell  Gangrän  der  Hand  gesehen. 

Die  peritoneale  Transfusion  (Ponfick),  wo  defibrinirtcs  Blut  in  die  Bauch- 
höhle i-ingespritzt  wird,  wirkt  viel  zu  langsam,  weil  in  schweren  Fällen  nicht  mehr 
rascli  genug  resorbirt  wird,  und  ist  de.shalb  unsiclier.  Ein  Theil  der  Patienten  ist  an  der 
folgenden  Bauchfellentzündung  gestorben.  Kochsalzlösung  (3H")  kann  olinc  Schaden  in 
grossen  Mi-ngen  ()iis  1500  Ccm.)  in  die  Peritonealliölile  gdiraclit  wrrdi'ii.  Die  Rcsorjjtion 
der  Kochsalzlösung  erfolgt  sc1iim-11. 


X24  III-  C'apitc'l.  —  Vurlctzuiigcii. 

Ziemssen  hat  wiedeiiiolt  die  subcutane  Jnjectioii  von  iJefibiinirteii]  Jllut  (je  .'30  Ccm.) 
mit  gutem  Erfolg  bei  Anämien  gemacht.  Die  intravenöse  Koehsalzinfusion  liat  bei 
schwersten  Ohohjrafällen  in  der  Hamburger  Epidemie  1892  noch  'A'd^'j,,  Genesungen 
ergeben.  Sie  ist  auch  bei  Anämie  versucht  worden  (Sahli,  v.  Ziemssenj.  Die  erste 
Infusion  von  Kochsalzlösung  am  Menschen  habe  ich  —  nach  zahlreichen  experimentellen 
Vorarbeiten  —  am  24.  Mai  1881  gemacht.  Die  Injektionen  von  künstlichem  Blutserum 
nach  Hayem  sind  wegen  mancher  übler  Nebenwirkungen  zur  Zeit  noch  nicht  zu 
empfehlen.  Die  Injection  von  entkalktem,  nicht  gerinnungsfähigem  Blut  (Wrifjhtj,  von 
peptonisirtem  Blut  ( Schmidt-MüJilheim)  sind  vorerst  noch  als  gefährlich  zu  verwerfen, 
ebenso  die  Infusion  von  Milch  (Landois). 

Die  Enclerfolge  der  Transfusion  und  Infusion  sind  schwer 
abzuschätzen,  weil  man  nie  mit  absoluter  Sicherheit  sagen  kann,  dass 
der  Kranke  nicht  auch  ohne  Transfusion  durchgekommen  wäre.  Die 
Kochsalzinfusion  gibt  bei  gesunden,  an  Blutmangel  leidenden  Personen 
(Wöchnerinnen)  die  besten  Resultate.  Die  intravenöse  Zuckerkoch- 
salzinfusion gibt  wesentlich  bessere  und  nachhaltigere  Ergebnisse. 
Die  sicherste  Indication  der  Infusion  bleibt  immer  die  Wahr- 
nehmung, dass  man  mit  allen  anderen  Mitteln  nicht  vom  Flecke  kommt. 
Man  hat  in  dem  Verhalten  der  Athmung  einen  Anhaltspunkt  gewinnen 
wollen  \  diese  soll  bei  Blutungen  erst  tief  sein  und  selten ;  beginnt  die 
Gefahr,  so  soll  sie  flach  und  hastig  werden;  es  droht  dann  der  Ueber- 
gang  in  das  letzte  Stadium,  wo  nichts  mehr  zu  machen  ist,  mit  seltenen, 
wenn  auch  wieder  tieferen  Athemzügen  (vergl.  die  Curve  Fig.  85j.  Die 
Indication  zur  Transfusion  ist  gegeben,  wenn  die  Wirkung  der 
Infusion  nachzulassen  droht. 

Von  Nachwehen  des  Blutverlustes  findet  sich  häufig  Fieber 
bei  Anämischen ;  der  Zerfall  der  Körpergewebe  ist  ein  erhöhter ,  die 
Harnstoffausscheidung  vermehrt.  Ein  hoher  Grad  von  Körperscliw^äche, 
Neigung  zu  Ohnmacht,  Schwindel  bleiben  noch  einige  Zeit  zurück. 

Der  Ersatz  des  Verlorenen  dauert  nach  dem  Kräftezustand  ver- 
schieden. Das  Minimum  des  Hämogiobingehaltes  findet  sich  erst  am 
4.  bis  5.  Tage  nach  der  Blutung,  ebenso  das  Minimum  der  Blutkörperchen- 
zahl. Die  Regeneration  der  normalen  Blutkörperchenzahl  dauert  im 
Mittel  17  Tage,  .bei  kräftigen  Männern  oft  nur  11 — 12  Tage,  bei  Frauen 
länger;  am  längsten  bei  Greisen  und  Kindern  {Bierfreimd  1.  c).  Kinder 
unter  einem  Jahr  können  durch  einen  Blutegelstich  auf  Jahre  hinaus 
blutarm  werden. 

Die  Kranken  sind  möglichst  kräftig  zu  ernähren ,  häufige  kleine 
Mahlzeiten,  hauptsächlich  aus  Milch,  Fleischspeisen  und  Eiern  bestehend, 
dazu  Rothwein ,  kräftiges  Bier  in  kleinen ,  oft  wiederholten  Gaben. 
Vor  Allem  ist  Ruhe  nöthig,  geistige  und  körperliche,  und  frische  Luft. 
Dabei  wird  oft  das  Verlorene  übercompensirt ;  wenigstens  für  einige 
Zeit  kann  man  mehr  Blutkörperchen  pro  Cubikmillimeter  finden ,  als 
vorher.  Dies  ist  auch  die  Erklärung,  warum  unsere  aderlasslustigen 
Vorfahren  diese  so  gut  ertrugen  —  so  lange  sie  gesund  waren. 

Was  ich  bisher  über  Blutung  gesagt,  wird  auch  leicht  ein  Urtheil 
über  den  Werth  und  die  Berechtigung  des  Aderlasses  ermöglichen. 
Durch  die  gewöhnliche  Menge  abgelassenen  Blutes  (500 — 1000  Ccm.  = 
IVo  Körpergewicht  des  Menschen)  wird  der  Druck  nicht  wesentlich 
herabgesetzt  (siehe  Curve  Fig.  85).  Sicher  ist  nur  die  später  ein- 
tretende Verdünnung  und  Verschlechterung  des  Blutes,  die  einem  ge- 
sunden Menschen  nichts,  einem  kranken  sehr  viel  schaden  kann.  Dass 
ein  energischer  Aderlass    bei    drohendem  Lungenödem  u.  dergl.  lebens- 


Aderlass.  Blutegel. 


125 


Fig.  87  a. 


Fig.  87  ö. 


rettend  wirken  kann ,  habe  ich  mehrmals  erlebt ,  ebenso  bin  ich  von 
der  Nützlichkeit  des  Aderlasses  bei  Vergiftungen,  eventuell  mit  folgender 
Infusion  (siehe  oben)  überzeugt.  Nur 
die  kritiklose  Anwendung  des  Ader- 
lasses, wie  sie  in  früheren  Jahrzehnten 
geübt  wurde  und  jetzt  auch  z.  B.  bei 
Chlorose  wieder  empfohlen  wird,  halte 
ich  für  unberechtigt. 

Man  umschnürt  den  linken  Oberarm 
mit  einer  festen  Binde ,  so  dass  der  Radial- 
puls nicht  verschwindet ,  aber  die  Venen 
schwellen.  Nach  gründlicher  Reinigung  der 
Ellbeuge  und  der  Lancette  —  ein  kleines 
Messerchen ,  beweglich  zwischen  zwei  Schild- 
krotplatten  angebracht ,  zweischneidig ,  mit 
gerstenkornartiger  Klinge  (Fig.  87  a)  —  sticht 
man  diese  oder  besser  ein  gewöhnliches  spitzes 
Messer  in  die  Vena  mediana  cubiti  basilica 
(Fig.  87,  ni)  circa  Vg — '/j  Cm.  ein,  so  dass  man 
sicher  ist,  die  vordere  Wand  der  Vene  getrennt, 
nicht  aber  das  ganze  Gefäss  durchstossen  zu  haben.  Im  Herausziehen  schlitzt  man  das 
Gefäss,  seiner  Richtung  parallel,  etwa  1  Cm.  weit  auf.  Aus  der  Vene  bricht  nun  ein 
Strahl  schwarzen  Blutes  hervor.  Läuft  das  Blut  nicht  gut,  so  lässt  mau  Bewegungen 
mit  den  Fingern  machen  oder  zieht  die  Binde  etwas  fester  an.  Nachher  kommt  ein 
antiseptischer  Verband  auf  die  Wunde;  die  Blutung  steht  von  selbst.  Eine  Naht  ist 
nicht  nöthig.  Nach  vier  Tagen  ist  die  Wunde  geheilt.  Der  Aderlassschnäpper ,  ein 
aus  einem  Kästchen  durch  Federkraft  vorgeschnelltes  Messerchen  zur  Oeff'nung  der 
Vene,  sollte  wegen  seiner  Schmutzigkeit  verboten  werden. 

Auf  die  Nützlichkeit  örtlicher  Blutentziehungen  habe  ich 
pa^".  32  hingewiesen. 

Der  Blutegel,  Hirudo  officinalis,  beisst  sich  auf  rein  gewaschener, 
von'^TTäareh  befreiter  Haut,  die  ihi  "Nothfalle  mit  etwas  Milch  oder  Blut 
bestrichen  werden  kann,  mit  seinem  dreizahnigen  Gebiss  unter  geringem 
Schmerz  fest  und  entzieht  10 — lÖCcm.  BUit;  lässt  man  tüchtig  nach- 
bluten ,  indem  man  die  sich  bildenden  Gerinnsel  durch  feucht-warme 
antiseptische  Wattebäuschchen  immer  wieder  abwischt ,  so  kann  man 
bis  20 — 30  Ccm.  bekommen.  Die  Blutung  wird  gestillt  durch  Andrücken 
von  steriler  Watte  oder  .Jodoform  -  Penghawar  Djambi;  wenig  zweck- 
mässig sind  Zunder  (Schwamm)  und  Eisenchlorid watte. 

Der  künstliche  Blutegel  (von  Heurteloup)  ist  in  seiner  jetzigen 
Gestalt  so  gut  wie  unbrauchbar. 

"'....Schröpfen,  ein  beliebtes  Volksmittel,  ist  für  manche  schmerzhafte  Afi'ectionen 
—  leichte  Rippenfellentzündungen,  rheumatische  Beschwerden  —  nicht  ohne  Erfolg.  — 
Aus  einer  Metallkapsel,  dem  Schröpfschnäpper,  der  vorher  abgekocht  sein  muss,  werden 
durch  den  Druck  einer  gespannten  Feder  eine  Anzahl  (20,  25)  kleiner  Messerchen, 
Vi — 1  Cm.  tief,  je  nachdem  sie  gestellt  werden,  in  die  Haut,  auf  die  man  den  Kasten 
aufsetzt,  eingetrieben.  Um  die  Blutung  zu  vermehren,  wird  ein  gläserner  Schröpfkopf 
auf  die  blutende  Stelle  aufgesetzt,  den  man  vorher  über  einer  Spiritusflamme  erwärmt 
hat.  Die  Luft  im  Schröpfkopf  wird  so  verdünnt  und  das  Blut  in  den  luftverdünnten 
Raum  eingezogen.  Der  „trockene  Schröpfkopf  —  ohne  Wunden  —  macht  durch  die 
Luftverdünnung  eine  örtliche  Hyperämie  und  ist  bei  Neuralgien  u.  dergl.  nicht  ohne 
jeden  Nutzen.  Als  Concession  an  die  Wünsche  der  Patienten  kann  man  das  Schröpfen 
wohl  gestatten,  nur  müssen  Schröpfschnäjjper  und  Haut  rein  sein. 

Verletzungen  von  Lymphgcfässen  ohne  äussere  Wunde  sind 
jedenfalls  —  bei  Quetschungen  —  häutig  genug.  Nur  in  ganz  seltenen 
Fällen  kommt  es    zu  Ansammlungen  von  Lymphe,  ähnlich  den  Häma- 


126  III.  Caintel.  —  Verletzungrjn. 

tomen,  LyiTi])lig-escliwulst,  Lympliabscess.  Nach  einer  Verletzung 
durch  stumpfe  Gewalt  entsteht  eine  nicht  geröthete  und  so  ziemlich 
schmerzlose,  schwappende,  schlaffe  Anschwellung,  mit  wenig  Neigung 
sich  zu  vergrössern,  aber  auch  ohne  Tendenz  zur  spontanen  Rückbildung. 
Die  Probepunction  liefert  bernsteinfarbene,  klare  Flüssigkeit,  die  nach 
einiger  Zeit  si)ontan  gerinnt  zu  weichem  flockigen  Gerinnsel  und  im 
Uebrigen  allen  Eigenschaften  der  Lymphe  entspricht.  Weder  einfache 
Function  noch  Compression  führen  sicher  zum  Ziele;  Injection  von  Jod- 
tinctur,  noch  besser  breite  Spaltung,  Auswaschung  mit  einer  starken 
antiseptischen  Flüssigkeit  (Carbollösung  5 — 8%)  mit  folgendem  compri- 
mirenden  autiseptischen  Verband  sind  angezeigt.  Der  Lymphabscess 
ist  identisch  mit  dem  pag.  97  beschriebenem  Decollement. 

Die  Eröffnung  grösserer  Lymphgefässe  mit  Erguss  der  Lymphe 
nach  aussen,  Lymphorrhagie,  gehört  gleichfalls  zu  den  sehr  seltenen 
Ereignissen.  Meist  heilen  Lymphgefässe,  die  ja  bei  jeder  Operation 
in  Menge  verletzt  werden,  ohne  Weiteres  wieder  zu.  Wenn  es  gelegent- 
lich zu  länger  dauerndem  Lympherguss  —  Lympborrhoe  —  kommt, 
so  mag  es  sich  vielleicht  um  Verletzungen  eines  schon  vorher  erweiterten 
Lymphgefässes.  eines  Lymphvarix ,  handeln.  Meist  wird  das  Aus- 
sickern der  gelblichen,  wasserklaren,  schliesslich  spontan  gerinnenden 
Flüssigkeit  ohne  grosse  Beschwerden  ertragen ,  selbst  w^enn  der  Aus- 
fluss  lange  Zeit  dauert;  die  übrige  Wunde  heilt  und  nur  noch  ein 
feiner  Gang  —  eine  Lymphfistel,  aus  welcher  die  Flüssigkeit  aus- 
sickert —  führt  von  der  Haut  zum  Gefässe.  Doppelte  Umstechung 
und  Ausbrennen  der  Fistel  sind  vielleicht  noch  das  beste  Mittel  gegen 
das  hartnäckige  Leiden.  Bei  frischen  Wunden  genügt  meist  eine 
tiefe  Naht  oder  die  Tamponade.  Früher  galten  Lymphverluste  für  sehr 
gefährlich. 


ö 


Allgemeinwirkungen  von  Verletzungen  und  Operationen. 

Ohnmacht.   —  Collaps.   —  Shock.   —  Fett-  und  Luftembolie.  —  Traumatisches  Em- 
physem.  —  „Gemischte"  Todesfälle.  —   Delirium  tremens    und    nervosum.    —    Die 
„Diathesen"   in   ihrem   Einfluss   auf  Verletzungen. 

Nicht  blos  durch  den  Blutverlust,  auch  in  anderer  Weise  wirken 
Verletzungen  und  Operationen  oft  in  empfindlichster  Weise  auf  das  All- 
gemeinbefinden der  Verletzten  zurück. 

Rein  nervös  bedingt  und  verhältnissmässig  unschuldig  ist  die  ge- 
wöhnliche Ohnmacht,  welche  jede  starke  Gemüthsbewegung  erregbarer 
Personen  begleitet.  Der  Gesichtsausdruck  wird  ein  ängstlicher,  suchender ; 
abnorme  Gefühle  im  Leib  treten  auf,  Ekel,  Brechneigung  —  ,,es  wird 
mir  schlecht,"  lautet  die  übliche  Klage.  Das  Gesicht  wird  leichenblass, 
einige  tiefe  seufzende  Athemzüge,  die  Hände  machen  unsichere,  krampf- 
hafte Griffe,  die  Pupillen  werden  weit,  der  Blick  wird  starr  und  gläsern 
und  langsam  sinkt  der  Kranke  zusammen.  Der  Puls  ist  klein  und 
frequent,  noch  häufiger  gar  nicht  zu  fühlen ;  die  Athmuug  selten  und 
oberflächlich.  Wir  suchen  die  Ursache  der  Ohnmacht  in  Anomalien 
der  Blutvertheilung  (Ansammlung  von  Blut  in  den  reflectorisch  gelähmten 
Unterleibsgefässen  und  dadurch  bedingter  Gehirnanämie)  und  bringen 
dieselbe  in  Analogie  mit  dem  6ro/fe'schen  Klopfversuch. 


Ohnmacht.  Collaps.  Shock.  \21 

Die  einzig  richtige  Behandlung  ist,  den  Kranken  flach,  horizontal 
liegen  zu  lassen.  Dadurch  kommt  das  Blut  am  leichtesten  wieder  zum 
Gehirn  geströmt.  Lüftung  der  Kleidung,  kaltes  Waschen  des  Gesichtes, 
Riechen  starker  Substanzen  sind  auch  ganz  zweckmässig,  aber  meist 
mehr ,  ut  aliquid  fieri  videatur.  Absolut  verkehrt  ist  es ,  solche 
Kranke  wieder  aufrichten  zu  wollen.  Man  lässt  sie  eine  halbe  Stunde 
in  einer  stillen  Ecke  liegen,  dann  ist  Alles  wieder  gut.  —  Eine  freund- 
liche Ermuthigung  vor  der  Operation,  ein  Trunk  kalten  Wassers ,  die 
Aufforderung,  wiederholt  tief  zu  athmen,  lenken  die  Aufmerksamkeit 
des  Kranken  ab  und  beugen  oft  der  Ohnmacht  vor. 

Die  vou  hysterischen  Weibern  oder  betrügerischen  Personen  erheuchelte  Ohnmacht 
wii'd  an  dem  wenig  veränderten,  höchstens  gewaltsam  verzogenen  Gesichtsausdruck,  dem 
ruhigen  kräftigen  Puls,  den  normalen  und  erregbaren  Pupillen,  der  erhaltenen  Schmerz- 
und  Refiexerregbarkeit  leicht  erkannt. 

Dass  Leute  aus  Schreck  oder  Furcht  vor  einer  Operation  plötzlich 
—  vielleicht  an  durch  Vaguserregung  bedingtem  Herzstillstand  —  ge- 
storben sind,  solche  Fälle  sind  sicher  festgestellt. 

So  wenig  eine  gewöhnliche  Ohnmacht  den  erfahrenen  Arzt  auf- 
regt, so  ernst  ist  die  Bedeutung  anderer  nervöser  Erscheinungen,  welche 
durch  Verletzungen  hervorgerufen  Averden,  des  Collapses  und  des  Shocks. 

Der  Collaps  ist  eine  unter  allen  Erscheinungen  der  Ohnmacht 
eintretende  Herzschwäche.  Er  ist  —  im  Anschluss  an  Operationen, 
innere  und  äussere  Blutungen,  schwere  Verletzungen  auftretend  —  ein 
sehr  bedenkliches  Symptom  des  Erlahmens  der  Herzkraft.  Er  geht 
oft  unmittelbar  in  den  Tod  über.  Für  die  Behandlung  sind  so  ziemlich 
alle  die  pag.  121  bei  der  Blutung  besprochenen  Massnahmen  heranzu- 
ziehen —  in  erster  Linie  die  Analeptica  und  subcutane  Kochsalzinjection, 
ferner  wenn  diese  nicht  helfen,  intravenöse  Infusion  von  Zuckerkoch- 
salzlösung oder  Transfusion  von  Blut  und  Kochsalzlösung. 

Der  Shock  tritt  als  Folge  einer  schweren  Verletzung  —  Sturz, 
Ueberfahrung^  Verletzung  durch  schweres  Geschütz  u.  dergl.  —  auf  in 
Form  einer  schweren  Erschütterung  und  Erschöpfung  des  ganzen  Nerven- 
systems. 

Bei  der  torpiden  Form  des  Shocks  liegen  die  Verletzten  matt  und  gänzlich 
erschöpft  auf  der  Trage,  das  bleiche ,  graue  Gesicht  ist  schlaff  und  ausdruckslos ;  die 
Pupillen  weit,  die  Augen  gläsern.  Der  Puls  ist  klein,  frequent,  meist  nicht  zu  zählen, 
die  Haut  kalt  und  welk,  die  Athmung  flach  und  wenig  häuflg,  die  Temperatur  oft  um 
mehrere  Grade  herabgesetzt.  Die  Kranken  liegen,  wie  sie  gelegt  werden  und  sind  total 
apathisch.  Urin  und  Stuhl  gehen  Ijald  spontan  ab,  l»ald  sammeln  sich  Massen  Urin  an, 
ohne  dass  in  der  gelähmten  IJlase  Drang  zur  Entleerung  einträte.  Meist  wendet  sich 
binnen  Stunden  die  Sache  entweder  zur  Besserung,  indem  der  Puls  sich  hebt,  die  Haut 
wärmer  wird,  die  Muskel-  und  Geistesschwäche  abnimmt,  oder  unter  Zunahme  der  Herz- 
schwäche und  der  Theilnahmslosigkeit  geht  der  Kranke  im  Laufe  der  nächsten  Stunden 
zu  Grunde.  Doch  können  sich  Zustände  von  Shock  über  ein  bis  zwei  Tage  hinziehen 
und  schliesslich  doch  noch  zum  Tode  führen. 

Bei  der  erethischen  oder  irritativen  Form  des  Shocks,  die  ich  nament- 
lich nach  Verbrennungen,  aber  auch  nach  schwereren  Maschineuverletzungeu  gesellen 
habe,  .sind  das  Ausseiien.  das  Verhalten  der  Haut,  die  Muskelscliwäche  ganz  die  gleichen. 
Der  Puls  ist  gerade  so  elend,  wie  bei  der  torpiden  Form  und  unterscheidet  dieses  \er- 
halten  der  Circulation  diese  Art  Shock  ganz  streng  von  hysterischen  Zufällen  und  vor- 
übergehenden Geistesstörungen  (Delirium).  Im  Uel)rigen  bieten  die  Kranken  das  Bild 
äusserster  ängstlicher  Aufregung;  die  Kranken  sdireien  laut,  oft  immer  denseil)en  Satz, 
werfen  sicli  hin  und  iier.  sind  jedoch  viel  zu  sciiwach,  um  auch  nur  ein  Bein  rühren 
zu  können.  Die  Progr.osi;  dieser  Form  ist  günstijrer.  als  die  der  torpiden  Form,  wenn 
sie  auch  nicht  al).soiut  günstig  ist.  Maiiclunal  irclit  dii^  tnrjiidc  durch  die  eretbisihe 
Form   in  Genesung  über. 


J28  III.  Capitel.  —  Vi;)'l(!t/,ii)iK<;ii. 

In  der  Leiche  an  Öhouk  Verstorbener  findet  sieh  nielits  Charakteristisches  und 
wird  dieser  negative  Befund  von  manchen  Autoren  als  uneriässlieh  bezeichnet,  um 
Shock  diagnosticiren  zu  dürfen.  Die  Ursache  des  Shock  sucht  man  zur  Zeit  in  einer 
plötzlichen  Uebermiidung  und  Erschöpfung  der  nervösen  Functionen ,  wäiirend  man 
früher  —  in  Analogie  mit  dem  6^0^/0'schen  Klopfversuch  —  an  eine  Hlutüljei-Jüllung 
der   Bauchorgane    und    hiedurch  bedingte  Gehirn anämie  dachte. 

Die  Unterschiede  in  den  klinischen  p]rscheinungen  zwischen  Shock  und  Gehirn- 
erschütterung und  Ohnmacht,  mit  welch  letzteren  Shock  vielfach  zusammengeworfen 
wurde,  sind  deutlich  genug;  vor  Allem  ist  es  das  psychische  Verhalten  —  bei  Gehirn- 
erschütterung und  Ohnmacht  Bewusstlosigkeit,  beim  Shock  die  psychischen  Functionen 
erhalten,  aber  in  eigenartiger  Weise  verändert. 

Die  Behandlung  des  Shocks  ist  Euhe  und  Stimulantien.  Warme 
Einpackungen,  Injectionen  von  Aether  oder  Campheröl  (1  Theil  in  4Theilen 
Ol.  amygd.),  Klystiere  mit  Alkohol  und  Wasser  (1:6 — 1:10),  Koch- 
salzinfusion sind  angezeigt.  Ehe  man  heissen  Wein  oder  Kaffee  gibt, 
versucht  man  erst  mit  einem  Esslöff'el  Wasser,  ob  der  Kranke  überhaupt 
noch  schluckt.  Im  schweren  Shock  zu  operiren,  ist  durchaus  zu  ver- 
werfen ;  die  Kranken  gehen  ausnahmslos  während  oder  unmittelbar  nach 
der  Operation  zu  Grunde,  ob  man  nun  narkotisirt  hat  oder  nicht.  Es 
genügt,  den  verletzten  Theil  in  einen  anliseptischen  Verband  zu  hüllen 
und  abzuwarten,  bis  wieder  guter  Puls  und  annähernd  normale  Tempe- 
ratur und  psychisches  Verhalten  da  sind. 

Im  Anschluss  an  chirurgische  Operationen  sollte  es  nicht  zum 
Shock  kommen.  Je  weniger  Angst  der  Kranke  vor  der  Operation  hat, 
je  besser  er  körperlich  und  geistig  vorbereitet  ist ,  je  weniger  er  Blut 
verliert,  je  weniger  er  sich  abkühlt,  je  kürzer  Operation  und  Narkose 
dauern,  je  weniger  concentrirte  Antiseptica  zur  Anwendung  kommen, 
kurz  je  besser  Alles  bei  der  Operation  „klappt",  um  so  geringer  ist 
die  Gefahr,  dass  es  nachher  zum  Shock  kommt. 

Der  Fettembolie,  als  seltener  Begleiterscheinung  schwerer 
Knochenverletzungen ,  haben  wir  pag.  18  gedacht.  Einen  klaren  Sym- 
ptomencomplex  macht  sie  nicht,  man  denkt  an  sie,  wenn  nach  schweren 
Knochenbrüchen,  Brisemeut  force  von  Ankylosen  u.  dergl.  (Campheröl- 
injectionen!)  Dyspnoe  und  Pulsstörungen  sich  einstellen.  Manche  Chirur- 
gen schieben  jeden  ungünstigen  Ausgang  auf  Fettembolie,  andere  sehen 
sie  so  gut  wie  nie. 

Auch  die  Luftembolie  ist  pag.  18  erwähnt. 

Eine  im  Ganzen  seltene  Complicatioh  der  Verletzungen  ist  die 
Anhäufung  von  Luft  in  den  Maschenräumen  des  Bindegewebes,  das 
traumatische  Emphysem.  Es  schliesst  sich  an  Verletzungen  der 
Athemwege  von  der  Stirnhöhle  herunter  bis  zur  Lunge,  besonders  an 
Verletzungen  der  Lungen  durch  Rippenbrüche  an.  Bei  Thieren  (Wild) 
kommt  es  nicht  so  selten  durch  Ansaugung  von  Luft  in  äussere  Wunden 
zu  Stande;  Gräfe  hat  so  entstandenes  Emphysem  bei  Operationen  in 
Beckenhochlage  gesehen.  Oertliches  Emphysem  an  der  Stelle  der  Ver- 
letzung ist  bei  Brustverletzungen  eine  ziemlich  gewöhnliche  Erschei- 
nung, allgemeines  traumatisches  Emphysem  dagegen  ist  eine  entschiedene 
Seltenheit. 

Die  Diagnose  macht  man  aus  der  blassen  Schwellung,  welche  dem  Finger  deut- 
liches Knistern  bietet  und  tympani tischen  Percussionsschall  gibt.  Fieber  und  Schmerzen 
fehlen  meist  gänzlich.  So  lange  das  Emphysem  nur  im  Unterhautzellgewebe  bleibt,  wo 
die  Luft,  besonders  entlang  der  Gefässe  sich  ausbreitet,  macht  die  Sache  dem  Kranken 
meist  wenig  Beschwerde.  Geht  es  aber  längs  der  grossen  Halsgefässe  nach  dem  Media- 
stinum,     so    kommen    schwere    Erstickungserscheinungan    und    die    Kranken     können, 


Hautemphysem.  —  Delirium  tremens.  129 

trotzdem  der  Luftrölirenscliiiitt  zur  rechten  Zeit  gemacht  ist,  au  Erstickung  zu  Grunde 
gehen.  Doch  kommen  Fälle,  die  ein  sehr  übles  Aussehen  bieten,  bisweilen  noch  durch. 
Die  Luft  verschwindet  oft  erst  nach  Monaten :  während  Sauerstoff  und  Kohlensäure 
leicht  resorbirt  werden,  scheint  der  Stickstoff  äusserst  langsam  zu  verschwinden. 

Leichte  Fälle  verlangen  keine  Behandlung,  höchstens  Eis  und 
elastische  Wattedriickverbände.  In  schwereren  Fällen  sind  Function  und 
Incisionen  nützlich.  Eine  Freilegung  der  Lungenwunde  mit  Bildung 
eines  offenen  Pneumothorax,  so  dass  die  Luft  frei  auszischen  kann, 
statt  in's  Unterhautzellgewebe  mit  jedem  Athemzug  hereingepumpt  zu 
werden,  hat  mir  in  mehreren  Fällen  gute  Dienste  gethan.  Schliesslich 
kommt,  wie  gesagt,  die  Tracheotomie  an  die  Reihe. 

Die    differentielle    Diagnose    gegenüber    den    jauchigen    Gasansammluugen  bei 

Gangrene    foudroyante  u.  dergl.    wird    durch  das  wenig   gestörte  Allgemeinbefinden,  die 

Fieberlosigkeit,  den  ruhigen  Puls ,  den  Mangel  jeglicher  Entzündungserscheinungen  am 
Orte  der  Gasansammlung  gestellt. 

Nach  all  dem ,  was  ich  über  die  verschiedenen  Gefahren  Ver- 
letzter und  Operirter  gesagt  habe,  wird  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn 
wir  auch  Todesfälle  beobachten,  wo  wir  eine  genaue  Diagnose  nicht  zu 
macheu  vermögen,  und  wo  wir  schliesslich  die  Summirung  einer  An- 
zahl von  Momenten  beschuldigen  müssen ,  die  an  sich  vielleicht  nicht 
zur  Vernichtung  des  Lebens  genügt  hätten.  Blutverlust,  Narkose,  Shock, 
Abkühlung,  Resorption  antiseptischer  Mittel,  lauge  Dauer  der  Operation, 
beginnende  Blutvergiftung,  früheres  Siechthum,  Potatorium,  Gefäss-  und 
Herzerkrankuugen,  Fettembolie  u.  dergl.  mehr  wirken  zusammen.  Man 
hat  solche  Todesfälle  gar  nicht  übel  „gemischte  Todesfälle"  genannt. 
Diese  nicht  ganz  aufzuklärenden  üblen  Ausgänge  von  Operationen 
haben  sorgfältige  Operateure ,  welche  jeden  kleinen  Umstand  genau 
berücksichtigen  und  bedenken,  selten  zu  beklagen.  Sie  sind  bei  wohl 
vorbereiteten  Operationen  entschieden  weniger  häufig,  als  bei  rasch  in 
Scene  gesetzten  Operationen  aus  dem  Stegreif. 

Unter  den  üblen  Ereignissen ,  welche  nicht  unmittelbar  an  Ver- 
letzung oder  Operation  sich  anschliessen,  und  nicht  auf  Wundinfection 
beruhen,  die  dem  Chirurgen  aber  doch  mitunter  viel  zu  schaffen  macheu, 
nimmt  das  Delirium  tremens  eine  wichtige  Stelle  ein. 

Das  Delirium  tremens  s.  alcoholicum  oder  der  Säufer- 
wahnsinn ist  eine  unter  dem  Einfluss  der  Verletzung  oder  Operation 
plötzlich  hervortretende  acute  Geistesstörung  (Manie)  bei  chronischer 
Alkoholvergiftung.  Sie  ist  vorwiegend  eine  Krankheit  der  hart  arbei- 
tenden männlichen  Bevölkerung,  doch  habe  ich  sie  auch  bei  Weibern 
der  unteren  Stände  und  Puellae  publicae  gesehen.  In  Wein-  und  Bier- 
ländern ist  das  Delirium  tremens  selten,  in  Schnapsgegenden  ist  jeder 
Arbeiter  jenseits  des  35.  Jahres  verdächtig. 

Das  Delirium  fängt  allmählich  an.  Die  Kranken,  durch  die  Ver- 
letzung aus  ihren  Gewohnheiten  herausgerissen,  vielleicht  auch  in  eine 
ganz  neue  Umgebung  —  ein  Hospital  —  plötzlich  versetzt,  fühlen  sich 
unbehaglich  und  benehmen  sich  eigenthündich  und  sonderbar.  Das 
erste  Sym])tom  ist  unruhiger,  durch  Träume,  oft  auch  lautes  Reden 
gestörter  Schlaf.  Bald  entwickelt  sich  eine  enorme  Unruhe  bei 
den  Kranken;  erlaubt  es  ihr  Zustand,  so  gehen  sie  planlos  umher, 
schwatzen  hier  und  dort  das  confuseste  Zeug.  Dabei  wird  eine  grosse 
Miiskelunruhe  und  beständiges  Zittern  aulfällig,  welches  durch  den 
ganzen  Körper  geht  und  ja  bei  Gewohnheitssäufern,  auch  ohne  Delirium, 

Land^rer,  Allp.  cliir.  Pathologie  u.  TIk  rapie.  2.  Aufl.  9 


130  III-  Cai>itel.  —  Verletzuiif^i;n. 

stets  vorbanden  ist.  Von  ihm  f'ülirt  die  Krankheit  den  Namen  De- 
lirium tremens,  üas  Zittern  demonstrirt  sich  am  besten ,  wenn  man 
den  Kranken  beide  Arme  mit  ges])reizten  Fingern  wagrecht  hinaus- 
halten und  zugleich  die  Zunge  herausstrecken  lässt.  Die  Kranken 
zupfen  an  der  Bettdecke,  ziehen  und  ändern  an  den  Verbänden  u.  dcrgl. 
mehr.  Der  Gesichtsausdruck  ist  bald  ängstlich ,  bald  übertrieben 
heiter. 

Bald  stellen  sich  bei  dem  Kranken  auch  wirkliche  Sinnes- 
täuschungen ein  —  Hallucinationen  und  Illusionen  — ,  welche 
ihn  gerade  wie  einen  gewöhnlichen  Geisteskranken,  Tag  und  Xacht 
nicht  zur  Ruhe  kommen  lassen. 

Illusionen  sind  falsclie  Deutungen  wirklich  vorhandener  Sinneseindrücke,  wenn 
ein  Kranker  den  Arzt  für  seinen  Oberst  hält  oder  einen  chirurgischen  Operationssaal 
für  eine  ,,Fleischerhalle"  erklärt.  Hallucinationen  sind  Wahnvorstellungen ,  ohne  dass 
Sinneseindrücke  überhaupt  stattgefunden  haben.  So  sieht  der  Kranke  mit  Delirium 
tremens  Millionen  von  Mäusen  oder  Käfern  auf  seinem  Bette,  nach  welchen  er  vergeljlich 
hascht,  oder  endlose  Heereszüge,  Millionen  von  Stiefeln ,  welche  an  ihm  vorüberziehen 
und  dergl.  mehr. 

Die  Delirien  sind  sehr  verschiedener  Natur  und  verschiedenen 
Grades,  bald  nur  eine  unschuldige  Geschwätzigkeit  und  Aufdringlich- 
keit ,  bald  werden  die  Kranken ,  besonders  wenn  sie  gereizt  werden, 
gefährlich  und  in  hohem  Grade  aggressiv.  Weiber  sind  meist  verliebt 
(„nymphomanisch")  und  oft  sehr  spasshaft.  So  geht  es  Tage  und 
Nächte  fort  und  neben  der  Schwächung  der  Kranken  durch  diese  be- 
ständige Aufregung  ist  es  die  völlige  Schlaflosigkeit,  welche  die 
Kranken  mehr   und  mehr  erschöpft. 

Für  die  Heilung  von  Wunden  und  Verletzungen  ist  eine  beträcht- 
liche Herabsetzung  oder  völlige  Aufhebung  des  Schmerzgefühles 
äusserst  wichtig.  Die  Kranken  hantiren  mit  gebrochenen  Armen  wie 
mit  gesunden ;  laufen  auf  Beinen  mit  grossen  Wunden ,  selbst  Ampu- 
tationsstümpfen umher.  Wie  dann  diese  Glieder  nach  Kurzem  aussehen, 
kann  man  sich  denken. 

Eine  fernere  ungünstige  Erscheinung  des  Delirium  tremens  ist  die 
fast  constante  Verweigerung  des  Genusses  von  Spirituosen. 
Der  Kranke  zeigt  meist  einen  unbesieglichen  Widerwillen  gegen  alle  spiri- 
tushaltigen  Getränke,  selbst  Arzneien.  Dem  Herzmuskel  fehlt  so  der 
durch  die  Gewohnheit  zur  Nothwendigkeit  gewordene  Reiz  und  ebenso 
hängt  die  gänzliche  Appetitlosigkeit  der  Kranken  mit  dieser  plötzlichen 
Entziehung  zusammen. 

Der  weitere  Verlauf,  die  Ausgänge  des  Delirium  tremens 
sind  äusserst  verschieden. 

In  günstigen  Fällen  schlafen  die  Kranken  nach  1 — Stägiger  Ex- 
citation  ein ,  oft  ziemlich  plötzlich ,  und  erwachen  aus  einem  langen 
Schlaf  müde  und  angegriifen,  aber  klar  und  ruhig  und  fast  immer  ohne 
Erinnerung  an  das  unmittelbar  Vorhergegangene.  Ein  anderes  Mal 
kommt  es  nur  schwer  und  spät  zu  dem  wirklich  kritischen  tiefen  Schlaf; 
die  Kranken  ruhen  wohl  einige  Stunden,  fangen  dann  aber  wieder  an 
zu  toben.  Diese  protrahirteren  Fälle  werden  ebenso  wie  die  furibunden 
Delirien  mitunter  durch  einen  plötzlichen  Tod  complicirt.  Das  Herz, 
den  enormen  Anforderungen  nicht  gewachsen ,  des  gewohnten  Reizes 
und  genügender  Ernährung  entbehrend,  erlahmt  plötzlich  und  die  Kranken 
brechen  —  inmitten  ihrer  Tobanfälle  —  zusammen.    Oder  es  entwickelt 


Delirium  tremens.  131 

sich  eine  Lung-enentzüiidiuig-,  der  die  Kranken,  wie  alle  Trinker, 
widerstandslos  schnell  erliegen.  Eine  weitere  Gefahr  droht  von  Seiten 
der  Operationswunde  oder  der  Verletzung.  Die  misshandelten  Wunden 
werden  sehr  leicht  inficirt,  es  kommt  zur  Eiterung,  selbst  zur  Jauch ung 
und  die  Kranken  gehen  durch  Blutvergiftung  zu  Grunde.  Ebenso  kann 
ein  einfacher  Knochenbruch  unter  Durchbohrung  der  Haut  von  innen  nach 
aussen  sich  mit  einer  Wunde  und  folgender  Blutvergiftung  compliciren. 

Von  der  Behandlung  ist  zunächst  die  Prophylaxe  wichtig. 
Die  Aufgabe  ist,  durch  zeitige  Darreichung  der  nöthigen  Mengen  Spiri- 
tuosen den  Ausbruch  zu  verhindern.  Man  gibt  bei  verdächtigen  Pa- 
tienten sofort  nach  der  Verletzung  soviel  Schnaps,  Wein  oder  Bier,  als 
der  Kranke  nimmt.  Bei  verschämten  Trinkern  —  und  Trinkerinnen  — 
kann  man  den  Spiritus  in  Arzneiform  geben :  Tinct.  amar.  100,  Tinct. 
aromat.  10—20-0,  Spir.  vin.  30— 500,  Aqu.  dest.  150  0,  Syr.spl.  10— SO'O, 
halbstündlich  ein  Esslöffel.  Nehmen  die  Kranken  willig  ihr  gewohntes 
Quantum,  so  pflegt  auch  das  Delirium  auszubleiben  oder  milder  zu 
verlaufen.  Verweigern  sie  den  Alkohol,  so  gelingt  es  meist  nicht,  den- 
selben verdeckt,  in  Arzneiform  oder  Klysmen  beizubringen.  Hier  ver- 
sucht man  mit  Morphium,  am  besten  mit  etwas  Atropin  (Rp.  Morph, 
mur.  ro,  Atrop.  sulfur.  001,  Aq.  dest.  30"0.  MDS.  Zur  subcutanen 
Injection,  mehrmals  täglich  Ys — 1  Spritze)  Beruhigung  zu  erzielen.  Die 
Erfolge  sind  selbst  bei  grossen  Gaben,  welche  die  Maximaldose  über- 
schreiten, ziemlich  unsicher ;  der  Morphiumschlaf  ist  oft  nur  eine  kurze, 
immerhin  erwünschte  Unterbrechung.  Auch  Chloralhydrat  (in  Clysmen) 
kann  versucht  werden.  Strychnin  (0'003  p.  D.,  O'Ol  p.  d.)  wird  vielfach 
empfohlen.  Auch  Magenausspülungen  sind  oft  nützlich ,  die  Kranken 
nehmen  darnach  wneder  Speise  und  Trank.  Protrahirte  warme  Bäder 
leiten  manchmal  den  Schlaf  ein. 

In  der  Behandlung  der  Delirien  gilt  als  oberster  Grundsatz 
das  ,,no  restraint".  kein  Zwang,  denkbar  grösste  Freiheit  und  Nach- 
giebigkeit seitens  der  Umgebung.  Wird  der  Kranke  in  eine  Tobzelle 
oder  eine  Zwangsjacke  gezwängt,  so  tobt  er  sich  darin  —  gequält 
von  ängstlichen  Wahnvorstellungen  —  zu  Tode.  Lässt  man  ihn  in 
Begleitung  eines  handfesten  Wärters  oder  Freundes  frei  umhergehen, 
so  kommt  es  wohl  zu  kleinen  Ptaufereien ,  aber  meist  nimmt  das  De- 
lirium einen  ruhigen  Verlauf. 

Der  Schutz  der  verletzten  Stelle  macht  meist  grosse  Mühe,  beson- 
ders an  der  unteren  Extremität;  selbst  mit  den  festesten  Gypsverbänden 
und  schwersten  Gypsumgüssen  werden  die  Kranken  in  wenigen  Stunden 
fertig. 

Die  Diagnose  des  Delirium  tremens  ist  für  denjenigen,  der  es 
einmal  gesehen ,  nicht  schwer.  Früher  hielt  man ,  bis  zu  den  Unter- 
suchungen Suffon's,  das  Delirium  für  eine  Gehirnentzündung.  Die 
Fieberlosigkeit ,  der  Mangel  von  Krämpfen  und  Contracturen  bilden 
wichtige  Unterschiede.  Von  anämischen  und  Fieberdelirien  lässt  sich 
der  Säuferwahnsinn  durch  die  niedrige  Temperatur  und  das  Verhalten 
des  Pulses,  das  Allgenicinl)efinden  abtrennen.  Auf  die  l'nterschiede 
gegenüber  der  Jodoformvergiftung ,  den  Delirien  bei  Blutvcrgittungen 
wird  l)ci  Bcsi^rechung  dieser  Krankheiten  hingewiesen  werden. 

Die  Prognose  des  Delirium  tremens  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu 
stellen.     Die  gemiithlichen  Formen  geben  im  Ganzen  eine  bessere  Aus- 

9* 


1)32  ^I^-  Capitel.  —  Verlctzungfin. 

sieht,  als  fiiribiincle  Delirien.  So  lang-c  der  Puls  voll  und  kräfti;^-  und 
nicht  zu  fref|uent  (80 — 90)  ist,  droht  keine  unrnitteibai-e  OefaJjr.  Geht 
er  in  die  Höhe  oder  wird  er  gar  unregelniässig,  so  leisten  meist  auch 
die  Excitantien  —  Aether,  Carnpher  subcutan  —  nicht  mehr  viel.  Geht 
die  Temperatur  in  die  Höhe,  so  ist  dies  als  sehr  ungünstiges  Zeichen 
aufzufassen.  Es  muss  sorgfältig  nach  Complicationen  —  Lungenent- 
zündung, Vv^undstörungen  —  geforscht  w^erden. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Delirium  tremens  ist  die 
des  chronischen  Alkoholismus  —  Degenerationen  und  folgende  binde- 
gewebige Atrophien,  namentlich  Verfettung  des  Herzfleisches,  Arterien- 
atherom,  Schrumpfung  der  Leber ;  bindegewebige  Verdickung  der  harten 
Hirnhaut,  chronischer  Magen-  und  Darmkatarrh. 

Das  Vorkommen  des  Delirium  träum  ati  cum  s.  nervös  um,  einer  plötz- 
lichen Geistesstörung  nach  Operation  oder  Verletzung  wird  zur  Zeit  ebenso  bestritten,  wie 
die  Irrenärzte  das  Vorkommen  der  damit  analogen  Mania  transitoria  anzweifeln.  Nach 
Rose  sind  die  bisher  als  Delirium  nervosum  beschriebenen  Fälle  in  Wahrheit  Säufer- 
wahnsinn. 

In  älteren  Schriften  und  auch  jetzt  noch  namentlich  in  der 
französischen  Literatur,  begegnet  man  oft  langen  Auseinandersetzungen 
über  den  Einfluss  der  Diathesen  oder  Constitutionsanomalien  — 
angeborner  oder  erworbener  Anlagen  und  Dispositionen  zu  allen  mög- 
lichen Krankheiten  —  auf  den  Verlauf  von  Wunden ,  Verletzungen 
und  Entzündungen.  Wir  sind  heute  viel  mehr  geneigt,  einen  unbefrie- 
digenden Wundverlauf  auf  einen  technischen  Fehler  des  Arztes  zurück- 
zuführen ,  doch  bleiben  immerhin  noch  Fälle,  wo  eine  abnorme  Körper- 
beschaffenheit des  Kranken  ihre  Wirkung  äussert. 

Dass  es  Leute  gibt,  bei  denen  jede  Wunde  oder  Entzündung  viel 
langsamer  und  mit  allen  möglichen  unerwarteten  und  unerwünschten 
Zwischenfällen  heilt,  die  eine  „schlechte  Heilhaut"  haben,  ist  altbekannt 
und  nicht  zu  bestreiten.  Meist  sind  dies  schwächliche  Constitutionen 
oder  die  Betreffenden  leiden  an  irgend  einer  chronischen  Krankheit, 
welche  nur  noch  nicht  so  weit  vorgeschritten  ist,  dass  w^ir  sie  mit 
Sicherheit  zu  erkennen  vermögen,  Tuberculose,  Herz-  oder  Nierenleiden. 
Oder  sie  haben  früher  Krankheiten  durchgemacht,  deren  äussere  Spuren 
vielleicht  getilgt  sind,  welche  aber  in  inneren  Organen  wichtige  Ver- 
änderungen zurückgelassen  haben. 

Die  Syphilis  beeinflusst  den  Wundverlauf  nur  selten  unmittelbar. 
Bei  zahlreichen  Syphilitischen,  die  ich  operirt,  habe  ich  nur  zweimal 
Störungen  der  Wundheilung  gesehen,  welche  auf  sie  zu  beziehen  waren. 
Bei  einem  Studenten,  der  sich  einige  Wochen  vorher  angesteckt  hatte, 
verwandelte  sich  eine  Stirnwunde  in  ein  richtiges  syphilitisches  Geschwür, 
das  erst  unter  Quecksilberbehandlung  heilte.  Ebenso  sah  ich  die  Ex- 
stirpationswunde  einer  Fettgeschwulst  bei  einer  jungen  Dame  sich  in 
ein  Geschwür  umwandeln ,  das  nach  längerer  erfolgloser  anderer  Be- 
handlung schliesslich  auf  Jodkaliuragebrauch  rasch  heilte.  Dass  aber 
Syphilis  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  Operationen  nicht  immer,  aber 
häufig  herabsetzt,  ist  für  mich  kein  Zweifel.  Es  sind  in  erster  Linie 
die  syphilitischen  Veränderungen  an  Herz  und  Gefässen  zu  beschuldigen. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  Tuberculose  und  Scrophulose. 
Meist  heilen  bei  Tuberculosen  die  Wunden  so  glatt,  wie  bei  Gesunden. 
Doch  gibt  es  oft  langwierige  Heilungen ,  vielleicht  weil  die  Kranken 
überhaupt  geschwächt  sind ;  gerade  wie  auch  sonst  bei  heruntergekom- 


Constitutionsanomalien.  133 

raenen  Kranken,  im  letzten  Stadium  des  Krebses,  von  Nierenkrank- 
heiten  u.  s.  f.  die  Wunden  schlechter,  besonders  viel  langsamer  heilen. 
Manchmal  aber  schliesst  sich  an  eine  Verletzung-  oder  eine  andersartige 
Entzündung  unmittelbar  eine  tuberculöse  Entzündung  an.  So  erinnere 
ich  mich  einer  Anzahl  Fälle,  wo  bei  Tuberculosen  an  gonorrhoische 
Blfsenentzündungen  sich  tuberculöse  Blasenleiden  anschlössen,  die  sich 
auf  dem  schon  vorher  kranken  Boden  entwickelten. 

Vernetiü  unterscheidet  eine  Reihe  von  Diathesen  als  sehr  wichtig:  eine  rheu- 
matische, auf  welche  wir  weiter  unten  zurückkoimnen  werden,  bei  der  es  sich  — 
meiner  Meinung  nach  —  meist  um  alte  Sjqjhilis  oder  die  Folgen  eingreifender  Queck- 
silbercuren  oder  um  beides  zusammen  handelt.  Dann  soll  die  arthritische  Dia- 
these —  die  Anlage  zur  Gicht  —  die  Aussichten  der  Verletzungen  trüben;  ebenso 
der  sogenannte  „Paludisme",  die  schwere  Durchseuchung  des  Körpers  mit  dem  Gifte 
des  Wechselflebers.  Dass  diese  Ea-ankheiten  Einfluss  haben  können,  will  ich  nicht 
lengneu,  doch  habe  ich  hier  in  Deutschland  nicht  viel  davon  gesehen.  Dass  in  anderen 
Ländern,  in  anderen  Klimaten,  anderen  Lebensgewohnheiten  das  Verhalten  der  Bevöl- 
kerung vielfach  ein  anderes  ist .  ist  keine  Frage.  Namentlich  ist  das  Wechselfieber 
anderwärts  viel  folgenschwerer.  Bei  Leuten,  die  längere  Zeit  in  den  Tropen  gelebt, 
habe  ich  auch  auffallend  schlechten  Wundverlauf  gesehen. 

Die  Zuckerharnruhr,  Diabetes  mellitus,  vermag  in  ungünstigster 
Weise  auf  den  Wundverlauf  einzuwirken,  da  bei  "solchen  Kranken  die 
Gewebe  sehr  leicht  der  Gangrän  verfallen  (s.  pag.  45).  Jedenfalls  ist 
sofort  eine  antidiabetische  Behandlung  einzuleiten  (Ausschhessung  aller 
der  Nahrungsmittel,  welche  sich  im  Organismus  in  Zucker  umwandeln 
können,  also  in  erster  Linie  der  stärkemehlhaltigen  Stoffe).  Mitunter 
verschwindet  allerdings  der  Zuckergehalt  im  Urin  erst,  nachdem  der 
Brandherd  (ein  gangränöses  Bein)  durch  Amputation  entfernt  ist.  Absolute 
Gegeuanzeige  zum  Operiren  ist  Diabetes  nicht. 

Herzfehler  stören  die  Wundheilung  erst,  wenn  sie  nicht  mehr 
conipensirt  sind,  Oedeme,  Cyanose  sich  entwickeln;  auch  bei  Nieren- 
krankheiten sind  es  mehr  die  vorgeschritteneren  Stadien. 

Einige  Constitutionsanomalien,  welche  die  Neigung  zu  Blutungen 
befördern,  habe  ich  pag.  99  namhaft  gemacht. 

Wichtig  ist  es,  das  Alter  der  Patienten  mit  ihrem  Aussehen  zu  vergleichen. 
Entspricht  das  Avirkliche  Alter  der  Schätzung  nicht,  sind  die  Leute  zu  früh  gealtert, 
so  ist  dies  ein  schlechtes  Zeichen.  ..Präsenile"  Leute  brechen  oft  nach  einer  schweren 
Verletzung  oder  Operation  unmittelbar  zusammen.  Andererseits  ertragen  Leute,  die 
sich  „gut  conservirt"  haben,  selbst  in  hohem  Alter  noch  bedeutende  Eingriffe  über  Er- 
warten gut.  Hohes  Alter  als  solches  ist  keine  Gegenanzeige  gegen  Operationen  (Kraskej. 

Geschlecht,  Beruf,  Lebensgewohnheiten  und  Bace  sind  nicht  ohne 
Einfluss.  Frauen  zeigen  —  selbst  bei  zartem  Körperbau  —  oft  über- 
raschende Zähigkeit.  Nervös  und  geistig  übermässig  in  Ansprucli  ge- 
nommene Menschen  halten  viel  weniger  aus,  als  geistig  stumpfe  Ar- 
beiter, der  Fabrikarbeiter  weniger,  als  der  Bauer  u.  dergl.  m. 

Der  Alkohol  missbrauch  bereitet  dem  Chirurgen  oft  unange- 
nehme Ueberraschungcn.  Der  Alkoholist  ist  äusserst  empfindlich  gegen 
Blutverlust,  er  chloroformirt  sich  schlecht;  auch  wenn  er  vom  Delirium 
tremens  verschont  bleibt,  ist  seine  ganze  Constitution  so  unterwühlt, 
Verdauung.  Ernährung,  Kreislauf  so  gestört,  dass  er  selbst  unbedeu- 
tenden Stiirungcn  zum  Ojjfer  fällt.  Oft  ist  eine  von  Anfang  an  mit 
gänzlicher  Prostration  einhergehende  (,. asthenische")  Lungenentzündung 
die  unmittelbare  Todesursache.  Fette  Trinker  sind  besonders  gefährdet. 
Fette  Leute  ertragen  wegen  der  schlechteren  Bcschattenheit  vun  Herz 
und  Gcfässen  überhaupt  viel  weniger,  als  magere. 


134  ni.  Capitol.  —  Verletzungen. 

Inwieweit  andere  üble  Gewohnheiten,  starkes  Rauchen,  .Morpliium- 
missbrauch  mitwirken,  ist  noch  nicht  ausgemacht.  Sicher  sind  sie  nicht 
ohne  Bedeutung. 


Störungen  der  Wundheilung. 

Mechanische    Störungen.    —    Randgangrän.    —   Verhaltung    von  Blut    und  Wund- 
secret.  —  Aseptisches  Fieber.   —  Fremdkörper  in  der  Wunde. 

Bacterielle    oder    accidentelle    Wundkrankheiten.    —    Die    gewöhnliche 
Wundentzündung.     —     Wundfieber.     —     Allgemeines     über    Fieber    und    Fieber- 
behandlung.   —     Die     Behandlung    entzündeter     W^unden.    —    Lymphgefäss-    und 
Lymphdrüsenentzündung.   —  Phlegmone. 

Der  ideale  Wundverlauf,  wie  er  pag.  67  und  ff.  geschildert  ist, 
wird  leider  nicht  immer  erzielt.  Seit  Einführung  der  antiseptischen 
Methode  ist  er  die  Regel  geworden,  doch  sind  Ausnahmen  immer  noch 
nicht  selten.  Der  Verlauf  einer  Wunde  kann  infolge  von  Störungen, 
die  man  als  solche  mechanischer  Art  bezeichnen  kann,  und  durch 
andere,  die  auf  Bacterienübertragung  beruhen,  ein  anormaler  werden. 
Die  letzteren  sind  viel  häufiger  und  praktisch  ungleich  bedeutungsvoller. 

Als  Störungen  mechanischer  Art  sind  Fälle  zu  nennen,  wo 
es  wegen  zu  grosser  Entfernung  und  Spannung  der  Wundränder  nicht 
möglich  ist,  eine  genaue  Vereinigung  derselben  und  damit  eine  prima 
reunio  zu  erzielen ,  ferner  solche ,  wo  die  erste  Verlöthung  durch  das 
Absterben  der  der  Wunde  benachbarten  Theile,  die  „Randgangrän", 
vereitelt  wird,  vergl.  pag.  89.  Die  Randgangrän  tritt  besonders  da  auf, 
wo  man  z.  B.  nach  Entfernung  grosser  Geschwülste  die  Haut  unter  grosser 
Spannung  gew^altsam  durch  die  Naht  zu  vereinigen  sucht.  Die  durch 
die  übermässige  Ausdehnung  blutarm  gewordenen  Theile  verfallen  dem 
Brand  und  der  Defect  ist  schliesslich  grösser,  als  vorher.  Seitdem  man 
durch  die  Thiersch'sche  Hautaufpflanzung  solche  Defecte  decken  kann, 
verzichtet  man  auf  solch  gewaltsames  Zusammenziehen  der  Wundränder. 

Wichtiger  ist  die  Ansammlung  übermässiger  Mengen  von 
Wundsecret  im  Innern  der  Wunde.  Etwas  Secret  ergiesst  sich 
immer  zwischen  die  Wundränder.  Wenn  es  nicht  zu  viel  ist,  wird  es 
leicht  aufgesaugt.  Ist  aber  die  Naht  zu  dicht  und  functioniren  die 
Drainröhren  nicht  genügend ,  ist  auch  vielleicht  die  Blutstillung  nicht 
sorgfältig  gewesen,  so  wird  das  Secret  in  die  Gewebe  hineingcpresst 
und  zum  Theil  resorbirt.  Wie  ich  schon  bei  der  Besprechung  der 
Quetschung,  der  Blutung  und  Transfusion  mitgetheilt  habe,  stirbt 
Blut ,  das  aus  den  Gef ässen  ausgetreten  ist ,  ab ,  und  wirkt  —  in  die 
Circulation  zurückgebracht  —  giftig-  Man  bezeichnet  die  Erschei- 
nungen,  die  dadurch  entstehen,  als  Fermentintoxication.  Das  so 
entstehende  Fieber  hat  man,  weil  es  ohne  Mitwirkung  von  Mikroorganis- 
men entsteht,  nach  Volkmann  als  aseptisches  Fieber  bezeichnet.  Ausser 
der  massigen  Temperatursteigerung  (meist  nur  — SS'ö«,  selten  über  39") 
führt  das  aseptische  Fieber  —  zum  Unterschied  von  den  infectiösen 
Fiebern  —  nur  zu  geringer  Störung  des  Allgemeinbefindens.  Der  Puls 
ist  nur  wenig  beschleunigt,  circa  80,  Appetit  normal,  keine  Kopf- 
schmerzen, nicht  das  sonstige  für  Fieber  charakteristische  Krankheits- 
gefühl.    Eigentlich    zeigt  nur  das  Thermometer  die  Störung  an.     Eine 


Veihaltung  von  Wiindsecret.  —  Aseptisches  Fieber.  l?>b 

Behandlung  ist  nicht  nöthig-,  man  lernt  es  bald  durch  exacte  Blutstillung 
und  genügende  Ableitung  der  Secrete  —  durch  Drainröhren  —  zu  ver- 
meiden. 

Das  aseptische  Fieber  findet  sich  überall ,  wo  die  Producte  des 
Gewebszerfalls  in  die  Circulation  aufgenommen  werden  —  bei  grösseren 
Quetschungen ,  Knochenbrüchen  u.  dergl.  (s.  bei  Theorie  des  Fiebers). 
In  der  Diagnose  des  „aseptischen"  Fiebers  ist  Reserve  geboten. 
Mancher  sucht  damit  eine  ganz  gewöhnliche  Wundinfection  vor  sich 
und  Andern  zu  beschönigen. 

Für  die  Unterscheidung  von  infectiösem  Fieber  ist  ausser  der 
mangelnden  Allgemeinstörung  wichtig ,  dass  an  der  Wunde  selbst 
Schwellung  und  Röthung  fehlen,  doch  fühlt  sich  die  Haut  gespannt  an 
und  ist  oft  eher  etwas  blässer.  Manchmal  ist  Fluctuation  zu  fühlen 
und  damit  die  Anwesenheit  freier  Flüssigkeit  nachzuweisen. 

Verhaltung  von  Wundsecreten  führt  häufig  zur  Vereite- 
lung der  Prima  inten tio.  Oft  kann  das  Lösen  einiger  Nähte  und 
Einschieben  einiger  Gummidrainröhren  die  Prima  intentio  noch  retten: 
meist  aber  geht  die  Wunde  in  ihrer  ganzen  Länge  auseinander  und 
heilt  nun  durch  Granulationsbildung,  aber  statt  in  6  Tagen ,  vielleicht 
erst  in  ebenso  viel  Wochen. 

Fremdkörper,  die  in  der  Wunde  zurückbleiben,  können  gleichfalls  die 
Heilung  stören  —  Gewehrkugeln,  Messe) spitzen ,  in  die  Wunde  hineingeglittene  Drain- 
röhren, Seidenfäden,  Knochenstückchen  u.  dergl.  Meist  verursachen  sie  eine  ziemlich 
lebhafte  Entzündung  Sind  sie  ganz  frei  von  Mikroorganismen,  so  bleibt  ein  Wundwinkel 
offen  und  ans  ihm  entleert  sich  dünnes  aseptisches  Secret.  Vielleicht  heilt  die  kleine 
Wunde  (Fistel)  für  einige  Tage  zu,  dann  bricht  sie  wieder  —  unter  Schmerzen  — 
auf  u.  s.  w.,  bis  der  Fremdkörper  mit  dem  biegsamen  scharfen  Löifel,  der  Curette,  heraus- 
geholt wird  oder  durch  die  hinter  ihm  sich  zusammenziehenden  Granulationen  allmählich 
herausgeschoben  wird.  Der  Verdacht,  dass  ein  Fremdkörper  in  einer  Wunde  steckt, 
wird  bestärkt ,  wenn  die  Granulationen  an  der  äusseren  Oeflfnung  des  Canals  einen 
üppig  wuchernden,  leicht  blutenden,  nach  aussen  umgeschlagenen  wulstigen  Eing  bilden. 

Nur  selten  heilt  der  —  ganz  aseptische  —  Fremdkörper  ein  und  wird  abge- 
kapselt (s.  pag.  80). 


In  ihrer  klinischen  Bedeutung  verschwinden  diese  Vorfälle  neben 
den  durch  Mikroorganismenentvvicklung  bedingten  Wundstörungen,  den 
bacteriellen  oder  accidentellen  Wundkrankheiten. 

Die  Ueberzeugung ,  dass  es  sich  bei  den  Störungen  der  Wundheiluug  nicht  um 
chemisclu;  Umsetzungen  der  Säfte  oder  Gewebe  unter  dem  Einflüsse  des  Luftzutritts, 
des  Sauerstotfs  oder  um  chemische  Luftverderbniss  u.  dei'gl.  handle,  brach  sich  schon  in 
den  ersten  Decennien  dieses  Jahrhunderts  allmählich  Bahn.  Henle  sprach  es  aus,  dass 
sowohl  bei  diesen  als  bei  anderen  ansteckenden  Kiankheiten:  Pocken,  Cholera  U.A., 
die  Ursaclie  nur  in  belebten ,  vermehrungsfähigen  kleinsten  Organismen  gesucht  werden 
könne.  Diese  Ansicht  fand  um  so  beifälligere  Aufnahme ,  nachdem  die  von  Liebig 
vertretene  chemische  Theorie  der  Fäulniss  durch  Pasteiir's  epochemachende  Entdeckungen 
als  unhaltbar  erwiesen  war.  Pasleur  wies  nach,  dass  ohne  Mikroben  (Mikroorganismen) 
keine  Fäulniss,  keine  Gährung  möglich  ist,  auch  bei  ungoliindertem  Luftzutritt. 

Grossartig  in  ihrer  Einfachheit  sind  die  grundleg^Miden  Pasteur'^idhQw  Versuche. 
Fäulnissfähige  Flüssigkeit  wurde  in  Glaskolben,  in  deren  Stopfen  eine  offene  Glasröhre 
angebraciit  war,  melirere  Stunden  lang  gekocht,  so  dass  anzunehmen  war,  dass  alle 
entwicklungsfähigen  Keime  in  der  Flüssigkeit  zerstört  seien,  dass  sie  „sterilisiit"  sei. 
Wurde  nun  die  Glasröhre  umgebogen,  dass  die  Spitze  nach  unten  sah,  so  blieb  jede 
Zersetzung  aus,  weil  die  Mikroorganismen  nicht,  der  Schwere  entgegen ,  in  die  Flüssig- 
keit eindringen  konnten,  ül)gh.'ich  Luft  natürlich  frei  zutreten  konnte.  Li  der  anderen 
dagegen,  deren  ofl'ene  Spitze  frei  nach  oben  sah,  wo  also  auch  ]\Iikrol)ien  liereinfallen 
konnten,  trat  Fäulniss  in  gewöhnlicher  Weise  ein.    Ebenso  Hess  sich  Fäulniss  verliüten, 


13(3  JII.  Capitel.  —  Verletzungen. 

wenn  die  Glasröhre  wolil  nach  ol)en  gerielitet  blieb,  die  OetlnmiK  aber  durch  einen 
vorher  erhitzten  Wattepfroj)!'  verschlossen  wurde.  Au(;h  hier  konnte  Luft  zutreten,  nicht 
aber  Fäulnissbacterien ,  welche  in  dem  engen  Maschenwerk  der  Watte  zurückgehalten, 
abfiltriit  werden. 

Die  Anwendung  der  Pasteur'sch&n  Sätze  über  Fäulniss  und  Gähiung  auf  die 
Wundentzündung  und  das  Wandfieber  wurde  namentlich  von  Billroth  gemacht  und 
näher  ausgefühlt.  Den  nicht  mehr  zu  widerlegenden  ))raktischen  Beweis  der  Wahrheit 
erbrachte  dann  die  auf  den  Fasteur'schen  Arbeiten  fassende  Lisier'scbfi  anti.septische 
Methode.  Sie  zeigte,  dass,  wo  es  gelingt,  die  Mikroorganismen  auszuschiiessen  oder  un- 
Kchädlich  zu  machen,  auch  Wandentzündung  und  Wundfieber  au.sbleibt.  JJie  nähere 
Bekanntschaft  mit  den  Mikroorganismen  der  AVundinfection ,  die  Kenntniss  einzelner 
Arten  verdanken  wir  den  grundlegenden  Arbeiten  liobert  Kocli'f;.  Wichtige  weitere 
Detailarbeiteu  sind  von  liosenhach,  Garre,  v.  Eiselsherg,  Passet,  Brunner,  lieicliel  u.  A. 
ausgeführt  worden. 

Bei  den  acuten  accideutellen  Wundkrankheiteu  kommen  im 
Wesentlichen  dieselben  Mikroorganismen  in  Betracht,  die  schon  als 
die  Erreger  der  Eiterung  beschrieben  sind  (pag.  30). 

Die  wichtigsten  und  weitaus  häufigsten  Erreger  sind  der  Staphylo- 
coccus  und  der  Streptococcus. 

Der  Staphylococcus  ist  ein  typischer  Coccus  (Fig.  88)  (vergl.  auch 
Fig.  12),  der  sich  ganz  besonders  in  Krankenzimmern,  Operationssälen 
(v.  Eiselsherg),  aber  auch  sonst  fast  überall,  in  der  Luft,  am  Boden  u.  s.  w. 
findet.    Er    ist    überdies    ein    fast    regelmässiger  Bewohner   der  Mund- 
höhle und  wird  auch  auf  der  äusseren 
^ig-  SS-  Haut  (siehe  Furunkel)  fast  nie  vermisst. 

„s=^   1^  ;°^g  DerStaphylococcus  wächst  schon 

^J-^    >o°l/ ,  °''°  ^r°°"o  bei  Zimmertemperatur,    noch  rascher 

'&fßi^  im  Brütofen    auf  Gelatine,   Agar,    in 

'•^ptÄ^^^  Bouillon,  auf  Kartoffeln,  kurz  so  ziem- 

lich auf  allen  Nährböden.  Fig.  89  gibt 
"'^*|sfc'°°-5='v^' """^  "».°I  Gelatineculturen    von    Staphvlococcus 

■"     '  aureus   m  verschiedenen  btadien    der 

Staphylococcus  pyogenes  aureus.  Eutwicklnug.  Dcr  Staphylococcus  vcr- 

flüssigt  die  Gelatine  lebhaft  (Fig.  89), 
er  bildet  Pepton  aus  Eiweiss,  fällt  Casein  aus  Milch  u.  s.  w.  In  dünnen 
Schichten  zeigen  die  Kokken  Eigenbewegung. 

Er  kommt  in  verschiedenen  Varietäten  vor;  die  häufigste  und 
infectionskräftigste  Form  ist  der  Staphylococcus  aureus,  dann  folgt  der 
albus,  schliesslich  der  citreus.  Sie  gehen  ineinander  über.  Passet  hat  im 
Eiter  noch  weitere  Varietäten  gefunden,  den  Staphylococcus  cereus  albus 
und  Staphylococcus  cereus  flavus.  Dieser  bildet  auf  der  Gelatine,  die  er 
nicht  verflüssigt,  wachs-  oder  stearintropfenähnliehe  Beläge  (vergl. 
Fig.  90  nach  Sehende).  Die  Staphylokokken  sind  die  häufigsten  Eiter- 
erreger (vergl.  pag.  30).  Ihre  eiter-  und  entzündungserregende  Wirkung 
ist  durch  zahllose  Experimente  (A.bscesse,  Osteomyelitis,  eiterige  Ge- 
lenksentzüudungen,  Endokarditis  ulcerosa  u.  s.  w.)  und  durch  reichliche 
klinische  Beobachtung  festgestellt.  Die  Toxine  der  Staphylokokken  und 
die  abgetödteten  Culturen  erzeugen  ebenfalls  Entzündung,  Eiterung, 
Fieber,  Schüttelfrost. 

Nächstdem  ist  der  wichtigste  Coccus  der  Wundinfection  der 
Streptococcus  pyogenes,  als  Eitererreger  gleichfalls  pag.  30  er- 
wähnt. Die  klinischen  Unterschiede  der  Staphylokokken-  und  Strepto- 
kokkeneiterung sind  pag.  31  besprochen. 


"^sas 


Erreger  der  Wundinfection. 


137 


Der  Streptococcus  pyogeues  ist  identisch  mit  dem  Streptococcus 
erysipelatis  (Fehlehen,  Benimgarten).  Er  verflüssigt  die  Gelatine  nicht, 
er  bildet  auf  der  Platte  feine ,  tropfenförmige  Colonien  und  (Fig.  9  L) 
wächst  wohl  auf  den  meisten  Nährböden  (Gelatine,  Agar,  Kartoffel, 
Bouillon),  artet  aber  sehr  rasch  aus,  indem  er  seine  Virulenz  schon 
in  wenigen  Generationen  fast  völlig   verliert,    so    dass    er   kaum    noch 


Verflüssigter  Theil 


Ansesammelte 
Bakterienraasse 


Impfstich  im 
niclitverflüssigten  Theile 1| 


Verflüssigter  Tbeil  der 
Gelatine 


Am  Grunde  des 

Verttüssigungstrichters 

angesammelte 

Bakterienmasse 


Gelatinestichcultur  des  Staiiliylococeus  pyogenes  aureus  in  zwei  verschiedenen  Formen. 


Ent/iiiKlnii-  erregt,  wenn  er  nicht  täglicli  neu  auf  Bouillon  oder 
menscliliclies  Blutserum  übertragen  und  im  l'.i'iitofcn  weiter  gezüchtet 
wird.  Ik'sondcrs  rasch  degenerirt  er  lici  Zimmertemperatur.  Er  variirt 
dann  auch  in  der  Grösse  und  die  Anordnung  zu  Ketten  verwischt 
sich.  —  Iki  Thieren  finden  sich  zahlreiche  Streptokokkenkrankheiten, 
deren  Beziehungen  zum  Streptococcus  hominis  noch  iiidit  khu-  sind  — 


188 


III.  Capitel.  —  Verletzungen. 


der   Drusenstreptococcus    beim    Pferd,    der    .Stre|)tococeu.s     der    Wild- 
seuclie,  der  Streptococcus  septicus  der  Maus  u.  a.  rn. 

Bei  Wundrose  und  Puerperalfieber  wird  er  fast  regelmässig 
gefunden ;  auch  bei  anderen  Processen  wird  er  häufig  gesehen ,  doch 
meist  neben  anderen  Pilzen,  besonders  neben  dem  Staphylococcus. 


Pig.  90. 


Fig.  91. 


Oberflächenbelas 


Impfstich 


Belag  an  der 

Einstichstelle 

Impfstich  . 


Gelatinestichcultur  des  Staphylococcus 
cereus  flavus. 


Gelatinestichcultur  des   Streptococcus 
pyogenes 


Als  seltene  Erreger  von  Wundstörungen  können  ferner  alle  die 
auf  pag.  30  genannten  eitererregenden  Mikroorganismen  in  Frage 
kommen  —  Bacterium  coli ,  Proteus  vulgaris ,  Mikrococcus  tetragenus, 
Bacillus  pyogenes  foetidus,  Friedländer'' scher  Bacillus,  der  bei  Pneumonie, 
Empyem  u.  dergl.  gefundene  kapselhaltigeDiplococcus  pneumoniae  (vergl. 
Fig.  92)  u.  A. ,  soweit  nicht  noch  bei  specifischen  Störungen  (Anthrax, 
Tetanus,  Rotz  u.  A.)  auch  die  specifischen  Erreger  zu  nennen  sind. 


Wundentzündung.  ]^39 

Ein  meist  harmloser  Parasit  eiternder  Wunden  ist  der  Bacillus  des  blauen 
Eiters,  Bacillus  pj'ocyaneus.  Er  ist  ein  schlanker  Bacillus  (Fig.  92) ,  der  äusserst 
hartnäckig  den  von  ihm  einmal  befallenen  Wunden  anhaftet.  Er  findet  sich  besonders 
in  Holzwatteverbänden.  Am  ehesten  wird  er  durch  feuchte  Sublimatverbände  vertrieben. 
Erst  bei  Sauerstoffzutritt  entwickelt  der  Bacillus,  dessen  Varietäten  pyocyaneus  und 
pyofluorescens  sind,  Farbstoffe,  ausser  dem  gewöhnlichen  blauen  und  grünen,  auch  braunes 
Pigment  (Schimmelbusch,   Volkmann's  kl.  Vortr.,  1893,  Nr.  62). 

Nach  Ledderhose  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.  Bd.  XXVIII)  vermag  der  B.  pyocj'aneus 
Entzündung  und  Eiterung  zu  erregen  und  Kr  annhals  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.  Bd.  XXXVII) 
beschreibt  8  klinische  Fälle  von  Pyocyaneusinfection ,  wo  er  allein ,  unter  zum  Theil 
typhösen  Erscheinungen  multiple  Eiterungen  mit  bluthaltigem  Eiter,  Blutungen,  Petechien, 
pustulöse  Eruptionen  erzeugt  hat.  Im  Gegensatz  hiezu  nahm  Sclmnmelbusch  an ,  dass 
er  giftige,  locale  und  allgemeine  Wirkungen  besitze,  aber  die  Eigenschaften  eines  in- 
vasiven, pathogenen  Organismus  ihm  abgehen.    Sein  Toxin  wirkt  temperaturherabsetzend. 

Der  rothe  Eiter  beruht  gleichfalls  auf  einem  specifischen  Bacillus  mit  abge- 
rundeten Enden. 

Die  klinischen  Formen  der  accicientellen  Wundkrank- 
heiten zeigen  meist  einen  ausgesprochenen  typischen  Charakter,  doch 
fehlen  auch  Mischformen   zwischen  den  einzelnen  nicht.     Bei    manchen 

Fis,'    02  Fig.  93. 


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l'nuumoniedii-iltk  kk  n  (iiul     /f//sr/j  Der  Bacillus  des  blauen  Eiters.    Keincultur. 

Zeiss'  Immers.  1/12.    Oc.  5. 

fallen  mehr  die  örtlichen  Veränderungen  an  der  Wunde  in's  Auge,  bei 
anderen  mehr  die  Störungen  des  Allgemeinbefindens. 

Eine  der  häufigsten  Wundstörungen  ist  die  gewöhnliche  Wund- 
entzündung. 

Die  älteren  Aerzte  waren  der  Ansicht,  dass  überhaupt  jede  Wunde 
mit  Entzündung  und  eigentlich  durch  Entzündung  heile.  Sie  sahen 
nur  selten  als  unerklärte  Ausnahme  eine  aseptisch,  d.  h.  ohne  Entzündung 
heilende  Wunde  und  so  nahmen  sie  an,  die  Wundränder  müssten  sich 
röthen ,  anschwellen ,  schmerzhaft  werden ,  die  Nähte  müssten  in  die 
schwellende  und  sich  hebende  Umgebung  einschneiden;  es  müsste  eine 
missfarbige  eiterähnliche  Flüssigkeit  von  der  Wunde  abgesondert 
werden.  Derartige  Veränderungen  zeigen  sich  gewöhnlich  18  bis 
30  Stunden  nach  der  Verletzung,  um  sich  je  nach  ihrer  Intensität  in  3  bis 
6  Tagen  allmälig  wieder  zurückzubilden.  Bei  Entzündung  massigen 
Grades  wird  die  prima  reunio  nicht  gestört;  die  Wuiulheilung  erfolgt 
eher  rascher,  als  l)ei  eiitzündnngslosem  Verlauf. 

Bei  der  Wundcntziinduiig  fehlt  auch  meist  das  (septische)  Wund- 
fieber nicht.  Das  Wundfieber  zeigt  einen  wesentlich  anderen  Charakter, 
als  das  aseptische  Fieber.  Es  beginnt  selten  am  ersten ,  meist  am 
2. — 3.  Tag   nach   der   Verletzung    und    erreicht   seinen    Höhepunkt   am 


140  ^^i-  f^iipitol.  —  V(irlotzuiif,'(;n. 

3.  — 5.  Tag'.  Die  Temperatur  steigt  auf  l-iO",  selbst  40".  Labei  ist 
stets  ein  ausgespi'oehciies  Krankheitsgefülil  vorliaTiden.  Der  Kranke 
fühlt  sich  unwohl;  bald  fröstelt  er,  bald  fühlt  er  sich  heiss,  er  ist  an- 
gegriffen, klagt  über  Kopfschmerzen,  der  Appetit  ist  schlecht,  die  Zunge 
belegt,  der  Schlaf  kurz,  durch  schlechte  Träume  unterbrochen;  der 
Puls  erhöht,  90 — 100;  der  Urin  ist  dunkel,  oft  vermindert,  durch 
rasch  ausfallende  Harnsalze  roth  getrübt.  Die  Wunde  selbst  schmerzt 
oft  nicht  besonders.  Dieses  Fieber  ist  als  ein  Resorptionsfieber 
aufzufassen,  gerade  wie  das  aseptische  auch.  Doch  handelt  es  sich 
hier  um  die  Producte  der  Mikroorganismen,  welche  sich  in  der  Wunde 
angesiedelt  haben  und  vermehren ,  hauptsächlich  des  Staphjloeoccus 
pyogenes.  Ausser  Peptonen  und  Amidoderivaten ,  welche  für  die  Cir- 
culation  nicht  gleichgiltig  sind,  bildet  er  auch  Toxine,  welche  ver- 
giftend auf  den  Organismus  zurückwirken  (s.  pag.  55).  Dass  eine 
rege  Resorption  aus  Wunden  stattfindet,  geht  aus  den  Befunden 
V.  Eiselsberc/s  hervor.  Derselbe  konnte  im  Blut  fiebernder  Verletzter 
fast  ausnahmslos  Mikroorganismen ,  vorwiegend  Staphylokokken  nach- 
weisen. Damit  stimmen  die  Beobachtungen  EschericK's,  welcher  in  der 
Milch  fiebernder  Puerperae  Mikroorganismen  fand. 

Schon  seit  Jahren  ist  es  bekannt,  dass  in  dem  Wnndsecret  selbst  tadellos  asep- 
tisch geheilter  Wunden  Mikroorganismen ,  namentlich  Kokken  gefunden  werden ,  sogar 
in  beträchtlicher  Anzahl  (Ogston).  Schimmelbusch  hat  an  Stückchen 'Wundrand,  welche  un- 
mittelbar vor  der  Naht  abgetragen  Avurden ,  die  verschiedenartigsten  Mikroorganismen, 
selbst  Staphylococcus  gefunden  und  sogar  auf  Nährböden  zur  Auskeimung  gebracht. 
Und  dabei  heilten  die  Wunden  aseptisch  und  tadellos.  Zum  Zustandekommen  von  In- 
fectiou  und  Fieber  gehören  also  ausser  den  Mikroorganismen  noch  weitere  begünstigende 
Momente ,  besonders  Verhaltung  von  Wundsecret. 


Trotz  zahlreicher,  sorgfältiger  und  geistreicher  Untersuchungen  sind  wir  noch  weit 
davon  entfernt,  uns  eine  zufriedenstellende  Vorstellung  von  dem  Wesen  und  der  Ent- 
stehungsweise des  Fiebers  und  der  EoUe,  die  es  im  Haushalte  der  Natur  spielt,  machen 
zu  können.  —  Fieber-  und  Temperatursteigerung  (Hyperthermie)  dürfen  nicht  als 
identisch  angesehen  werden  und  es  ist  ungerechtfertigt,  wenn  das  Thermometer  im 
Mastdarm  mehr  als  38"  zeigt,  von  Fieber  zu  sprechen.  Es  gehören  zum  Begriffe 
„Fieber"  noch  eine  Eeihe  anderer  Erscheinungen  —  Veränderungen  der  Circulation,  des 
Pulses,  des  Stoffwechsels,  der  Verdauung,  des  AUgemeinbeiindens,  des  psychischen  Ver- 
haltens.    Die  Erhöhung  der  Eigenwärme  ist  allerdings  das  wichtigste  Symptom. 

Vor  Allem  ist  auch  Fieber  und  Fieber  nicht  Dasselbe.  Die  verschiedenen  Fieber 
differiren  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin. 

Bekanntlich  zeigen  die  Fieber  die  verschiedensten  Typen.  Bald  ist  der  Gang 
der  Temperatur  in  ihren  Morgen-  und  Abendschwankungen  sonst  genau  dem  physio- 
logischen Verhalten  parallel,  nur  um  1 ,  2,  3  Grad  höher,  wir  nennen  ein  solches  Fieber 
eine  Febris  continua.  Ein  anderes  Mal  liegen  zwischen  den  Temperaturerheb uugen, 
den  Spitzen  der  Curve  grössere  Senkungen,  als  sie  einer  Tagesschwankung  entsprechen, 
die  bekanntlich  O'ö" — 1°  beträgt,  ein  Fieber  mit  solchen  ,.Relapsen"  z.  B.  von  40"  bis  38° 
nennen  wir  Febris  remittens.  Fällt  zwischen  hohen  Spitzen  die  Temperatur  zur 
Norm  ,  oder  unter  die  Norm  (subnormale  Temperatur)  und  besteht  so  für  einige  Zeit 
keine  Temperatursteigeruug,  so  hat  man  eine  Febris  intermittens.  Das  Ansteigen 
der  Temperatur  erfolgt  entweder  im  Lauf  eines  halben  bis  2  Tage  oder  noch  langsamer 
bis  zur  Höhe  (Akme)  oder  innerhalb  weniger  Stunden ;  in  letzterem  Falle  wird  ein 
Schüttelfrost  —  grosses  Frostgefühl,  mit  Zittern  und  Zähneklappern  —  selten  ver- 
misst.  Aehnlich  erfolgt  der  Abfall  des  Fiebers  langsam,  „lytisch",  oder  rasch,  „kritisch'", 
dann  häufig  unter  Ausbruch  eines  reichlichen  (kritischen)  Schweisses. 

Puls,  Blutdruck,  Stromgeschwindigkeit  sind  bei  verschiedenen  Fiebern  ganz  ver- 
schieden, bald  beschleunigt  und  erhöht,  bald  findet  das  Umgekehrte  statt,  je  nach  dem 
Wesen  der  fiebererregenden  Ursache.  —  Die  Ansicht  Hueter's,  dass  es  sich  beim  Fieber 
um  capilläre  Stasen  und  ausnahmslos  um  starke  Stromverlangsamung  handle,  ist  keines- 


Fieb  ertlieorien .  141 

wegs  für  alle  Fieber  giltig,  höcbstens  für  die  auf  Blutvergiftung  beruhenden  septischen 
und  die  .,adj'namischen"  Fieber. 

Die  interessanteste  Erscheinung  des  Fiebers  bleibt  immer  die  Erhöhung  der 
Eigenwärme.  Diese  kann  entstehen  durch  Steigerung  der  AVärmebildung  oder  durch 
Verminderung  der  Wärmeabgabe.  Die  letztere  Ansicht ,  die  alte  Traube'sche  Theorie, 
dass  Fieber  durch  Vermin  derung  der  Wärmeabgabe  bei  unveränderter  Production, 
durch  Wärmestauung  entstünde,  ist  heute  unhaltbar.  Zahlreiche  Experimente  {Lieber- 
meister, Se)iator  u.  A..)  haben  gezeigt,  dass  der  Fiebernde  viel  mehr  Wärme  abgibt 
als  der  Gesunde.  Mit  Recht  weist  jedoch  Fick  darauf-  hin,  dass  die  Organe  der  Wärme- 
abgabe im  Fieber  nicht  normal  functioniren  können;  denn  beim  Gesunden  sind  sie  im 
Stande,  selbst  ganz  kolossale  Wärmemassen,  z.B.  bei  starker  Muskelarbeit,  spielend 
wegzuschaffen ,  ohne  Erhöhung  der  Eigenwärme ,  besonders  durch  die  Schweissbildung. 
Für  das  Froststadium  gewisser  Fieber ,  des  Wschselfiebers ,  wo  die  Haut  blass ,  die  Ge- 
fässe  contrahirt  sind  und  durch  die  Zusammenziehung  der  glatten  Hautmuskeln  die 
sogenannte  Gänsehaut  entsteht,  hat  die  Annahme  einer  Wärmeverhaltung  keine  Schwierig- 
keit. Anders  steht  es  bei  solchen  Fiebern ,  wo  die  Röthung  der  Haut  glauben  lassen 
sollte,  dass  eher  mehr  Wärme  abgegeben  würde.  Dass  jedoch  das  Fieber  auch  gefäss- 
contrahirend  wirkt ,  selbst  in  inneren  Organen ,  wo  man  es  am  wenigsten  vermuthen 
sollte ,  geht  aus  den  Versuchen ,  welche  Colinheim  mit  Mendelsohn  angestellt  hat, 
hervor.  Das  Volum  der  Niere  nahm  im  Fieber  constant  um  bis  20  Vol. -Procent  ab, 
und  zwar  zweifellos  nur  durch  Gefässcontraction.  So  gut  Avie  in  der  Niere ,  kann  es 
schliesslich  auch  in  der  Haut  der  Fall  sein  und  es  muss  trotz  der  scheinbaren  Hyperämie 
der  Haut  die  Wärmeabgabe  eine  ungenügende  sein ,  wenigstens  im  Verhältniss  zu  der 
zweifellos  enorm  gesteigerten  Wärm  ep  r  oduction.  —  Dass  diese  wesentlich  er- 
höht ist.  geht  nicht  allein  aus  directen  Messungen  hervor,  auch  die  Vermehrung  der 
Kohlensäureausscheidung,  die  Zunahme  der  Sauerstoffaufnahme  und  die  Steigerung  der 
Harnstoffbildung  weisen  darauf  hin. 

AVie  nun  diese  Alteration  der  Wärmeökonomie ,  die  Vermehrung  der  Production 
und  die  Aenderungeu  der  Abgabe,  wie  diese  Abweichungen  in  Stoffwechsel  und  Blut- 
circulation  zustande  kommen  ,  darüber  können  wir  uns  höchstens  hypothetische  Vor- 
stellungen gestatten.  Ohne  die  Annahme  von  Wärme-  und  Stoff  w  echselcentren 
kann  man  nicht  wohl  auskommen.  Solche  scheinen  in  der  Gegend  der  Grosshirn- 
ganglieu,  an  der  Aussenfläche  des  Corp.  striat.  und  des  Thalam.  opt.  zu  liegen  (Äron- 
solin,  Sachs).  Nach  ihrer  Zerstörung  gelingt  es  nicht  mehr,  Fieber  zu  erzeugen; 
ebenso  ist  dies  bei  curarisirten  und  tief  narkotisirten  Thieren  nicht  mehr  möglich 
(Mendelsohn,  Zuniz). 

Wie  nun  das  Fieber  eigentlich  entsteht,  darüber  sind  wir  noch  nicht  zur  Klarheit 
gelangt.  —  Der  ^f^%,  Fieber  auf  künstlichem  Wege  durch  Einspritzung  fiebererregender 
(pyrogener)  Mittel  zu  erzeugen ,  ist  oft  genug  betreten  worden.  Die  Zahl  dieser  Stoffe 
ist  eine  sehr  grosse;  ausser  Jauche  u.  dergl.  sind  namentlich  Fibrinferment  (Alexander 
Schmidt,  Edelberg ,  Kramer),  Histozym  (Sclimiedeberg),  Hämoglobin,  Magen-  und 
Pankreassaft,  Pepsin  (Bergmann)  verwandt  worden.  Es  sind  dies  meist  fermentartig 
wirkende  oder  fermenthaltige  Stoffe.  Aber  auch  nicht  fermenthaltige  Stoffe  vermögen, 
in  die  Circulation  eingebracht,  Fieber  zu  erzeugen;  so  kann  man  durch  Einspritzung 
von  Brunnen-  und  destillirtem  (sterilem)  Wasser  Fieber  erzeugen.  Gemeinsam  scheint 
allen  diesen  Stoffen  die  Fähigkeit  zu  sein,  weisse  und  rothe  Blutzellen  aufzulösen. 
Für  viele  Fälle  von  Fieber  würde  die  Annahme  genügen ,  dass  Zerfallsproducte  von 
Zellen,  in  die  Circulation  eingebracht ,  die  Temperatursteigerung .  die  gesteigerte  0- Auf- 
nahme, und  CO.j -Abgabe,  die  gesteigerte  Harnstoffausscheidung  bedingen.  Ein  wesent- 
licher T'nterschied  zwischen  den  aseptischen  Fiebern  (s.  oben)  bei  Knochenbrüchen, 
subcutanen  Blutungen,  Quetschungen,  nach  Blutverlusten,  bei  Anämie,  nach  Transfusion 
u.  s.  w.  und  den  septischen  Fiebern  {Wundfieber ,  Wundrose ,  Pyämie ,  Sepsis  u.  dergl.) 
würde  dann  nicht  zu  machen  sein. 

Mau  muss  annehmen,  dass  diese  —  von  aussen  eingebrachten  oder  im  Organis- 
mus entstehenden  —  Stoffe  die  betreuenden  Centren  erregen  und  so  die  Aenderungeu 
in  Circulation,  Wärmeabgabe,  Stoffverbraucli  u.  s.  w.  herbeiführen,  welche  wir  als  Fieber 
bezeichnen.  Das  Fieber  wäre  somit  als  eine  Vergiftung  aufzufassen,  vielleicht  eine  Art 
Fermentintoxication.  Die  Temperatursteigerung  wäre  die  Folge  einer  Reizung  des 
Temperaturcentrums  durch  das  vergiftete  Blut;  ähnlich  wie  die  Grosshirnrinde  und  die 
grossen  C'.'utren  unmittelbar  beeintlusst  werden  durch  das  mit  Chloroform  oder  Allcohol 
geschwäiigert(!  Blut.  —  Dass  die  Erregung  dieser  Centren  nicht  durch  die  periiiheren 
Ners'en  erfolgt,  ist  zweifellos.  Wird  Jauche  in  ein  Bein  ges))ritzt,  dessen  sämmüiche 
Nerven  durchschnitti-n  sind,  so  wird  das  Entstehen  des  Fiebers  in  keiner  Weise  ge- 
hindert. —  Das   experimentell    erzeugte    Fieber    entsteht ,    wenigstens    bei   Ein-spritzung 


142  I^I-  C^'ajjitel.  —  Verlotzungfiii. 

von  Bacterienaufscliwemiiiungen ,  nicht  unmittelluir  nach  dci-  luji.-ction ,  mc-ist  erst 
eine  lialbe  Stunde,  eine  Stunde  nachher.  Vielleicht  Inlden  sich  die  pyrogenen  Stoffe 
eben  erst  in  dieser  Zeit  durch  die  Einwirkung  der  Mikroorganismen  auf  die  Blut- 
körperchen. 

Für  andere  seltene  Fieberformen,  besonders  die  „nervösen"  Fiebei'  (bei  Hysterischen, 
das  TJrethralfieber  beim  Einführen  von  Kathetern  in  die  Harnröhre  u.  A.  m.j  müsste 
man  eine  Entstehung  durch  directe  Eeizung  der  Temperaturcentren  annehmen. 

Herz  hält  das  Fieljer  für  eine  Zellerkrankung,  wobei  durch  AVassei-bindung 
(Quellung)  Wärme  frei  werde. 

Dass  die  verschiedenen  Fieber  so  sehr  verschiedenen  Charakter  zeigen,  kann  auf 
die  Verschiedenheit  der  erregenden  Ursachen  zurückgeführt  werden.  Es  ist  anzunehmen, 
dass  jeder  der  angeführten  Stoffe,  Fibrinferment,  Histozym,  Pepsin  u.  s,  w.  auch  besondeie 
Eigenthümlichkeit  ihrer  Wirkung  zeigen,  dass  das  eine  mehr  das  Centrum  der  Wärme- 
bildung, ein  anderes  vielleicht  mehr  das  der  Circulation,  die  vasomotorischen  Centren 
angreift  und  daher  die  Verschiedenheit  der  klinischen  Bilder. 

Die  Ansichten  über  die  Rolle,  welche  das  Fieber  im  Haushalte  des 
Organismus  spielt,  sind  heute  noch  getheilt;  doch  greift  diese  Frage  zu  tief  in  die 
tägliche  Praxis  ein,  als  dass  sie  nicht  eine  kurze  Besprechung  verlangte. 

Die  Einen,  in  erster  Linie  Liehermeister  und  Jürgensen ,  sehen  im  Fieber  den 
schlimmsten  Feind  des  Organismus.  Die  Temperaturerhöhung  allein  schon  soll  das 
Leben  des  Ganzen  und  seiner  Theile  gefährden,  indem  dadurch  die  parenchymatöse 
Degeneration  (s.  pag.  46)  innerer  Organe  entstünde.  Die  praktische  Folge  dieser 
Ansichten  war  energische  Bekämpfung  des  Fiebers  durch  kaite  Bäder  und  iieberwidrige 
Mittel.  —  Temperatursteigerung  als  solche  macht  aber  keine  parenchymatösen  Degene- 
rationen. Islaimyn  hat  Kaninchen  wochenlang  im  Wärmekasten  bei  einer  Bluttemperatur 
von  41'5"  mit  Steigerungen  bis  43''  gehalten,  ohne  dass  die  Thiere  daran  zu  Grunde 
gingen.  —  Andererseits  hat  man  versucht,  mit  Hilfe  der  neueren  Fiebermittel  und  der 
Bäderbehandlung  bei  Infektionskrankheiten,  z.  B.  Unterleibstyphus,  das  Fieber  ganz  aus- 
zuschalte.i  und  die  Patienten  während  der  ganzen  Dauer  der  Krankheit  auf  normaler 
Temperatur  zu  halten.  Die  Gefahr  war  damit  keineswegs  beseitigt,  wie  man  gehofft 
hatte  ;  im  Gegentheil,  die  Kranken  fühlten  sich  gerade  so  elend,  die  Sterblichkeit  war 
sogar  eher  eine  erhöhte  (Riess  hatte  eine  Mortalität  bei  Typhus  abd.  von  24'2  Procent), 
die  Zahl  der  Recidiven  eine  vermehrte. 

Diese  Beobachtungen  mussten  dazu  führen,  die  entgegengesetzte  Ansicht  zu  stützen. 
Es  ist  dies  die  von  Pflüger,  Nothnagel,  Naunyn  vertretene  Auffassung  des  Fiebers  — 
die  übrigens  ihre  Verfechter  schon  in  grauer  Vorzeit  gefunden  —  dass  das  Fieber  ein 
zweckmässiger  Vorgang  sei,  vermöge  dessen  der  Organismus  sich  der  ihm  einverleibten 
Schädlichkeiten  rascher,  gründlicher  und  energischer  entledige;  eine  Steigerung  des 
Stoffwechsels  und  der  Vorgänge  des  Lebens,  Avelche  dem  Organismus  im  Kampfe  mit 
Schädlichkeiten  zu  Hilfe  kommt,  dass  der  alte  Satz  gelte:  „Das  Fieber  heilt  durch 
Feuer  reinigend." 

Manches  spricht  zu  Gunsten  dieser  Hypothese.  Es  ist  bekannt ,  dass  Mikro- 
organismen, z.B.  die  Recurrensspirille ,  schon  durch  Temperaturen  von  40"  geschädigt 
Averden,  ebenso  dass  anderen  Mikroorganismen  Temperaturen  um  36°  bis  37"  zuträglicher 
sind,  als  über  40°.  Behring  hält  das  bei  der  Immunisirung  eintretende  Fieber  für 
wesentlich  zum  Znstandekommen  der  Immunität,  Es  ist  also  nicht  ausgeschlossen,  dass 
die  mit  dem  Fieber  verbundene  Temperaturerhöhung,  sowie  die  übrigen  Aenderungen  in 
Circulation  und  Stoffwechsel,  dem  Organismus  im  Kampfe  mit  den  Mikroorganismen  zu 
Hilfe  kommen.  Dann  ist  es  wohl  kaum  fraglich,  dass  erhöhte  Temperatur  des  Körpers, 
Avie  wir  sie  oft  in  Schwitzcuren ,  heissen  und  Dampfbädern  u.  s.  f.  künstlich  herbei- 
führen ,  uns  bei  der  Ueberwindung  kleinerer  Schädlichkeiten ,  leichter  Erkältungen  und 
Katarrhe  entschieden  behilflich  ist;  und  diese  Behandlung  lässt  uns  bei  dauernder  con- 
sequenter  Durchführung  auch  für  schwere  chronische  Infectionskrankheiteu,  wie  Sj-phiUs, 
nicht  im  Stiche. 

Schliesslich  ist  es  eine  alte  Erfahrung,  dass  gerade  diejenigen  Infectionsprocesse, 
wo  es  zur  Entwicklung  richtigen  Fiebers  nicht  mehr  kommt ,  prognostisch  schlechte 
Aussicht  geben.  Die  schwersten  Blutvergiftungen  verlaufen  oft  mit  Temperaturen  bis  38°, 
selbst  mit  subnormaler  Temperatur.  Wenn  es  bei  alten  Leuten  mit  Lungenentzündung 
nicht  mehr  zur  Temperatursteigerung  kommt,  ist  der  Fall  meist  verloren.  Es  fehlt  die 
„Reaction"  des  Organismus ,  sagten  die  alten  Aerzte.  Wie  leicht  überwinden  Kinder, 
bei  denen  sich  rasch  hohe  Temperaturen  einstellen,  alle  Arten  von  Krankheiten.  Ebenso 
steht  es  mit  Personen ,  welche  zu  Fieber  geneigt  sind.  Auch  sie  zeigen  allerlei  Er- 
krankungen gegenüber  hohe  Elasticität. 


Lj'mphangitis  und  Lymphadenitis.  ]^43 

Die  Chirurgen  haben  schon  seit  Jahren  dem  Fieber  gegenüber  diesen  Standpunkt 
eingenommen.  Schon  vor  Einführung  der  Antisepsis  war  die  Ueberzeugung  allgemein 
verbreitet,  dass  bei  den  Fiebern,  mit  denen  wir  es  zu  thun  haben,  die  Antipyrese  zwecklos 
sei.  Bei  den  gutartigen  Wundfiebern  ist  sie  unnöthig.  bei  den  bösartigen  —  Septikämie 
und  Pyämie  —  machtlos.  —  Heute  wissen  wir ,  dass  es  unsere  vornehmste  Pflicht  ist, 
ihrer  Entwicklung  zuvorzukommen.  Wenn  sie  aber  einmal  da  sind,  so  müssen  wir  uns 
auf  Erhaltung  der  Kräfte  des  Kranken  beschränken.  Wir  verwenden  laue  Bäder ,  um 
Hautthätigkeit  und  Circulation  anzuregen;  Chinin,  Salicylsäure,  Antipyrin  verordnen  wir 
gelegentlich,  aber  ohne  grosses  Vertrauen  auf  ihre  Wirksamkeit. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  wieder  zur  Besprechung 
der  Wundentzündung-  zurück.  In  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  wird 
die  prima  intentio  nicht  gestört.  Nach  2  bis  3  Tagen  fangen  die  Wund- 
ränder an  abzuschwellen,  die  Haut  faltet  sich,  wird  blass  und  blättert 
sich  ab.  Aus  den  Nahtcanälen  sickert  etwas  eiterige  Flüssigkeit.  Die 
junge  Narbe  selbst  ist  oft  verschwindend  spärlich.  Auch  das  Wund- 
fieber  verschwindet,  wie  die  Entzündung,  nach  2 — 3  Tagen  wieder. 

Eine  besondere  Behandlung  ist  kaum  nöthig.  Zweckmässig  sind 
Umschläge  mit  dünnen  Sublimatlösungen  1  :  5000  —  1  :  2000,  zur  Des- 
infectiou  der  Oberfläche  und  der  austretenden  Secrete.  Anch  Aqua 
plumbi,  Chamillendecocte  (ein  altes  Hausmittel)  u.  A.  ni.  sind,  weil 
fäulnisswidrig,  zulässig. 

Das  Wundfieber  erheischt  ausser  Bettruhe  keine  Behandlung.  — 
Knappe  Diät,  ein  leichtes  Laxans,  kühlende  Getränke  (Selters- ,  Soda- 
wasser, Limonaden),  Verbot  der  Spirituosen,  bei  nervösen  Personen  oder 
starkem  Kopfschmerz  ein  kalter  Umschlag  oder  eine  Eisblase  auf  den 
Kopf  werden  genügen. 

Ist  die  Röthung ,  Schmerzhaftigkeit  und  Schwellung  der  Wunde 
sehr  heftig,  die  Temperatur  hoch,  so  handelt  es  sich  um  Verhaltung 
von  Eiter  in  der  Wunde. 

Lässt  sich  Fluctuation  nachweisen,  oder  tritt  bei  sanftem  Druck  aus  einem  Wund- 
winkel oder  aus  einem  Nahtstich  Eiter,  so  Avird  diese  Annahme  zur  Gewissheit.  Dann 
ist  dem  Eiter  Abfluss  zu  schaffen.  Man.  löst  an  mehreren  Stellen  die  Naht  und  lässt 
den  Eiter  hervortreten.  Gummiröhren,  in  die  Wundwinkel  eingeschoben,  sorgen  für 
dauernden  Abfluss  des  Eiters.  Alle  3 — 4  Stunden  gewechselte  feuchte  antiseptische 
Umschläge  (Sublimat  1  :  3000),  mit  Guttaperchapapier  gedeckt,  kommen  auf  die  AVnnde.  — 
Selten  gelingt  es  noch  eine  Heilung  p.  p.  i.  zu  erreichen.  Häufig  geht  die  Wunde  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  auseinander.  Das  Fieber  hört  auf,  sobald  die  Secrete  sich 
ungehindert  nach  aussen  entleeren  können.  Die  AVunde  heilt  per  granulationem ; 
in  ebenso  viel  Wochen,  als  sie  bei  normalem  Verlauf  Tage  in  Anspruch  genommen  hätte.  — 
Ueber  die  Beziehungen  dieser  Wundentzündung  zu  den  schwereren  Formen  der  acciden- 
tellen  Wundkrankheiten,  zur  Blut-  und  Eitervergiftung  reden  wir  später. 

Eine  Spätform  der  Wundentzündung  ist  charakteristisch  für  unge- 
nügende Sterilisation  der  Seiden-  und  Catgutfäden  (besonders  bei  Ligaturen,  ver- 
senkten Nähten  etc.).  Der  AVundverlauf  ist  bis  zum  3.  bis  5.  Tag  ganz  normal .  die 
Temperatur  im  AVesentlichen  afebril.  Dann  steigt  die  Temperatur  auf  38"  bis  388", 
aas  der  wenig  oder  gar  nicht,  oder  nur  an  einzelnen  Stellen  gerötheten  Wunde  tritt 
etwas  Eiter  aus,  die  Temperatur  fällt  in  den  nächsten  Tagen,  es  bihh'u  sich  von  hervor- 
quellenden Granulationen  umgebene  Fisteln,  aus  denen  in  den  nächsten  Wochen,  oft 
erst  nach  Monaten  Seidenschlingen  treten,  wenn  man  sie  nicht,  was  praktischer  ist, 
vorher  mit  dem  scharfen  Löflel  holt.  Soliald  keine  Fremdkörijer  mehr  darin  sind, 
schliesst  sich  die  Fistel. 

Nur  selten  sind  bei  dieser  Form  der  Wundentzündung  Lymph- 
gefässe  und  Lymphdrüsen  in  sichtbarer  Weise  bctlieiligt.  Die  Ent- 
zündung der  Lyni))ligefässe  und  Lymphdrüsen,  Lymphangitis 
und  Lympliaden  itis  schlichst  sich  häufiger  an  kleinste  ol)erflächliche 
Verlet/.ungen  der  Haut  an,  wie  sie  l)esonders  an  Fingern  und  Zehen  so 


144  III-  Capitel.  —  Verletzungen. 

oft  vorkommen.  ■ —  Die  Lymphgcfässe  und  Lymphdrüsen  de.s  be- 
treffenden Körperbezirkes  schwellen  an  und  werden  schmerzhaft.  Wer 
es  einmal  gesehen  hat ,  wird  die  charakteristischen  langgestreckten 
schmalen  rothen  Streifen  an  der  Innenfläche  des  Vorderarmes  bei 
inficirten  Wunden  der  Hand,  die  Streifen  längs  der  Vena  saphena  bei 
Attectionen  des  Fusses  stets  wiedererkennen.  Auch  am  Oberarm  folgen 
diese  Streifen  dem  Verlauf  der  Gefässe,  und  so  könnte  es  mitunter 
scheinen,  als  läge  eine  Entzündung  dieser,  eine  Venenentzündung 
vor  (Phlebitis).  In  der  That  aber  ist  es  nur  eine  Entzündung  der  die 
Venen  umspinnenden  Lymphgcfässe  (Periphlebitis).  (S.  Krankheiten  der 
Venen.)  In  anderen  Fällen  tritt  die  Lymphgefässentzündung  mehr  als 
ein  verschlungenes  Netz  gerötheter  Streifen  auf  —  Lymphangitis 
reticularis. 

Die  Entzündung  der  Lymphdrüsen  macht  sich  zunächst  durch 
schmerzhafte  Empfindungen,  hauptsächlich  bei  Bewegungen  bemerklich. 
Bei  Entzündung  der  Leistendrüsen  wird  das  Gehen ,  bei  Achsel-  und 
Ellbogendrüsen  Bewegung  des  Armes  schmerzhaft.  Die  Drüsen  lassen 
sich  als  verschiebliche,  druckempfindliche  Knollen  durchtasten.  Die 
Haut  ist  anfangs  noch  nicht  geröthet.  Der  weitere  Verlauf  ist  wesentlich 
von  der  Behandlung  abhängig.  Energische  Reinigung  der  die  Ent- 
zündung veranlassenden  Wunde  (entzündeter  Finger  oder  Zehen),  Sorge 
für  freien  Abfluss  der  Secrete  durch  Einschnitte  und  Drainage,  anti- 
septische Umschläge ,  dann  völlige  Ruhe  des  betreffenden  Gliedes ,  an 
der  oberen  Extremität  Anlegen  einer  Schiene  und  eines  Armtragetuches ; 
bei  Affectionen  der  Beine  Bettruhe.  Hochlagerung  ist  besonders  bei  schweren 
Fällen  nöthig.  Auf  die  entzündeten  Lymphgcfässe  und  Drüsen  kommen 
nasse  Compressen  in  Gestalt  Priessnitz'sahev  Umschläge,  mit  Zusatz  von 
antiseptischen  Flüssigkeiten,  z.  B.  Sublimat  1 :  2000  bis  1 :  5000.  Die  Ein- 
reibung resorbirender  oder  resolvirender  Mittel  ist  bei  Lymphgefäss-  und 
Drüsenentzündung  sehr  gebräuchlich,  aber  wenig  wirksam.  Graue  Queck- 
silbersalbe (Ung.  ein.),  Jodsalben  (Kai.  jod.  l'O  :  Ad.  suill.  lO'O),  Bepin- 
selungen mit  Jodtinctur  oder  Jodglycerin  (Jod.  pur.  1-0,  Kai.  jod.  20, 
Aq.  dest.  und  Glyc.  je  10"0),  Ichthyolsalben  (1  :  4)  werden  verwendet. 
Das  Fieber  ist  bei  Lymphangiten  meist  nicht  sehr  hoch ,  selten  über 
39°;  das  Allgemeinbefinden  weniger  gestört  als  bei  der  Wundentzündung. 

Salzwedel  empiielilt  bei  Lymphangiten  und  beginnenden  Plilegmonen  alle  4  bis 
6  Stunden  gewechselte  Umschläge  mit  60 — 90%  Alkohol,  wobei  das  bedeckende 
Guttaperchapapier  perforirt  werden  muss.  Die  Entzündung  soll  sich  darunter  rasch 
zurückbilden. 

Häufig  verschwinden  bei  dieser  Behandlung  die  Erscheinungen 
binnen  wenigen  Tagen  wieder.  Nehmen  dieselben  trotzdem  zu ,  so 
wird  es  meist  zur  Eiterung  kommen,  selten  entlang  eines  Lymph- 
gefässes ;  fast  ausnahmslos  sind  die  Lymphdrüsen  der  Sitz  der  Eiterung. 
Zunächst  verlöthen  die  einzelnen  Drüsen  untereinander  zu  einem 
knolligen,  schmerzhaften,  auf  der  Unterlage  (der  Fascie)  und  gegen  die 
Haut  nicht  mehr  verschiebbaren  Packet.  Verwächst  dieses  Packet 
mit  der  Haut  und  fängt  diese  an  sich  zu  röthen ,  so  ist  Eiterung 
kaum  mehr  zu  vermeiden.  Zweckmässiger,  als  Auflegen  einer  Eisblase 
sind  dicke  feuchtwarme  antiseptische  Umschläge.  Kataplasmen  oder 
Breiumschläge  —  mit  Leinsamen ,  gekochten  Semmeln ,  Hafergrütze 
u.  dergl.  gefüllte  erhitzte  Leinwandbeutel  —  passen  kaum  mehr  zu  den 


Ljaupliadenitis.  —  Phlegmone.  ]^45 

antiseptischen  Anschauungen  unserer  Zeit.  Die  harte  Geschwulst  fängt 
an ,  auf  der  Spitze  weich  zu  werden ,  man  kann  Fluctuation  nach- 
weisen, und  wenn  man  einschneidet,  spritzt  dicker  Eiter,  oft  mit  Fetzen 
nekrotischen  Drüsengewebes  vermischt ,  heraus.  Man  geht  mit  dem 
Finger  ein  und  findet  vielleicht  noch  nicht  ganz  zerfallene  haselnuss- 
bis  walnussgrosse  Drüsen  auf  morschem  Stiel  sitzend;  man  kann  sie 
mit  dem  Finger  oder  dem  scharfen  Löffel  mühelos  herausheben,  und 
wenn  man  sie  nachher  durchschneidet,  sieht  man  die  blassröthliche  oder 
graue  Drüsensubstanz  von  zahllosen  kleinen  Eiterherden  durchsetzt. 
Nachdem  alle  Buchten  und  Winkel  nachgesehen  und  Drainröhren  ein- 
gelegt sind ,  kommt  über  das  Ganze  ein  durch  eine  elastische  Binde 
angedrückter  antiseptischer  Compressionsverband.  Zweckmässig  ist 
es  oft,  die  Abscessbildung  nicht  abzuwarten,  sondern  wenn  eine 
Rückbildung  nicht  eintritt,  das  ganze  Drüsenpacket  wie  eine  Geschwulst 
zeitig  zu  exstirpiren. 

Bei  der  Lymphangitis  scheinen  nach  Bosenhach's  Angaben  häufiger 
Streptokokken  sich  zu  finden,  doch  sind  auch  Staphylokokken  und  beide 
zusammen  gefunden  worden. 

In  anderen  Fällen  schliesst  sich  an  Verletzungen  eine  Phleg- 
mone an,  ein  mehr  örtlicher  Process.  Von  der  Wunde  ausgehend, 
entwickelt  sich  eine  schmerzhafte  Entzündung,  starke  Röthung  mit  aus- 
gedehntem entzündlichen  Oedem  ringsuui.  Mitunter  gelingt  es  noch,  durch 
feuchte  Umschläge  (Sublimatlösung  1  :  3000 — 1  :  1000  oder  Alkohol)  oder 
zahlreiche  kleine  Einschnitte  (Debrideraent)  die  Eiterung  zu  vermeiden. 
Meist  lässt  sich  diese  nicht  verhindern ,  es  kommt  zur  Abscessbildung 
und  diese  ist  in  der  mitgetheilten  Weise  (pag.  32)  zu  behandeln.  Bei 
der  Phlegmone  scheinen  besonders  Staphylokokken  die  Erreger  zu  sein. 
Phlegmonenbildung  schliesst  sich  an  Wunden  aller  Art,  kleinste  Risse 
ebensogut,  wie  grosse  Operationen  an;  ganz  besonders  complicirt  sie 
Quetschwunden ,  von  welchen  die  Infection  nicht  ferngehalten  wird. 
Fieber  und  die  übrigen  Resorptionserscheiuungen  fehlen  nicht ,  bleiben 
aber  meist  innerhalb  massiger  Grenzen. 

Kocher  empfiehlt  gegen  Staphylomykosen  Debridement  mit  dem  PcKfuel in' sehen 
Thermokauter,  und  alle  3  Stunden  frische  Tampons  mit  Jodtinctur  in  die  Incisiouen  ein- 
zulegen. Abscesse  sollen  mit  milden  antiseptischen  Lösungen  (abwechselnd  um  Ver- 
giftung zu  vermeiden)  ausgespült  Averden,  wie  4:procentige  Borsäure-,  Iprocentige  Thymol-, 
Iprocentige  Lysollösungen  u.  dergl.  So  sollen  septische  Processe  allmählich  aseptisch  werden. 


Die  Wundrose  (Erysipelas)  und  ihre  Behandlung.   —   Pyämie  (Eitervergiftung).  — 
Septikämie  (BlutvergiftungJ.  —  Weitere  septische  Processe. 

Ernster  und  häufig  das  Leben  direct  bedrohend  ist  die  Wund- 
rose, Rothlauf,  Erysipelas  traumaticum.  Neben  örtlichen 
Veränderungen  an  der  Wunde  sind  hier  schwere  Allgemeinerscheinungen 
stets  vorhanden. 

Den  Erreger  des  Erysipels  hat  zuerst  FeJde/sen  in  dem  Streptococcus  erysipelatis 
erkannt,  rein  gezüchtet  und  durch  Uebertragung  auf  Menschen  (zum  Zweck  der  Heilung 
inoperablen  Krebses)  wieder  Erysipel  erzeugt.  Der  Feld  eise  n'mili^  Eryslpelcoccus  ist 
nach  BauvKjarten ,  C.  Fraenlcel ,  R.  Pfeiffer  identisch  mit  dem  gewöhnlichen  Strepto- 
coccus pyogenes  (s.  pag.  30).  Der  Eryslpelcoccus  ist  auch  ein  Eitererreger.  Die  Diffe- 
renz der  klinischen  Bilder  der  Streptokokkenkrankheiten  sollen  nur  von  der  Verschieden- 
heit der  befallenen  Gewebe  herrühren  —  er  macht  in  der  Haut  Wundrose,  im  ünter- 
Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Therapie.  -2.  AuH.  JQ 


X46  ^11-  f Kapitel.  —  V(irl(;tziiii{^<;ii. 

hautzellguwebc  Eiterung  und  Abscoss.  Jordan  {Lang'.s  Aniliiv  42j,  ebenso  Bonoine, 
wollen  aucli  tj'pische  Erysipele  durch  Stapliylococcus  beobachtet  haljen  (V).  Neben 
Streptococcus  findet  sich  namentlich  in  späteren  Stadien  oft  Staphylococcus  rFelsenthalj. 
Der  Erysipelcoccus  ist  während  des  Bestehens  der  Wundrose  auch  iui  l<lute  nach- 
gewiesen worden. 

In  Fig.  94    sind  Erysipelkokken    (in    der  Al)bildung  etwas   zu    gross  au.sgefallen) 
in   den   Gewebslücken   des    Unterhautbindegewebes   (Zeiss  Immers.  Yi? »   Oc.  5).     In  den 

Erysipelblasen  finden  sich  die  Erysipelkokken  nicht 
oder  nur  sehr  spärlich ;  sie  scheinen  hier  bereits 
abgestorben  zu  sein.  Dagegen  sind  dieselben  in 
Ergüssen  entzündeter  Kniegelenke ,  übei'  welche 
ein  Erysipel  weggegangen  war,  nachgewiesen 
worden  (Hoffa). 

Das  Erysipel  kann  sich  zu  Wunden 
in    jedem    Stadium    hinzugeselien ,     un- 
mittelbar   an     die  Verletzung    sich    an- 
schliessen    und    auch  auf  granulireuden 
''■)l       Flächen ,    die    der    Heilung    schon    ganz 
\y\\\\\\\!l:\]''y\^i)f;\%-C^\\/'[^       nahe   sind,   zur    Entwicklung   gelangen. 
\\-'-''-'=li  i'i') :"-//1 /•'//( ''^'^vV^■V'//        Mitunter     häufen     sich    die    Fälle    von 


Wundrose  zu  kleinen  Epidemien  und 
Endemien. 

Beginn  und  Verlauf  des  Erysipels  sind  ungemein  charakte- 
ristisch ,  die  Diagnose  ist  deshalb  meist  nicht  zu  verfehlen.  —  Fast 
ausnahmslos  beginnt  die  Krankheit  mit  einem  ausgesprochenen  Schüttel- 
frost und  Erbrechen,  die  Temperatur  steigt  rasch  bis  400  ^^^^  höher; 
dabei  sind  starkes  Krankheitsgefühl  vorhanden,  Kopfschmerzen,  Appetit- 
losigkeit u.  s.  f.  Der  Puls  entspricht  der  Temperatur,  circa  90 — 100, 
ist  jedoch  meist  nicht  allzu  frequent.  An  der  Wunde  selbst  ist  zur 
Zeit  des  Schüttelfrostes  oft  noch  nichts  zu  sehen  oder  nur  eine  kleine 
fleckige  Röthe.  Von  dieser  kleinen  Stelle  an  der  Wunde  aus  „wandert" 
nun  das  Erysipel  weiter.  Von  Stunde  zu  Stunde  sieht  man  das  Erysipel 
weiter  vorrücken  ,  in  der  unregelmässigsten  Weise.  Es  verbreitet  sich 
hauptsächlich  in  den  Lymphspalten  meist  mit,  doch  auch  entgegen  dem 
Lymphstrom  nach  der  Peripherie  hin,  in  dieser  Richtung  aber  ent- 
schieden langsamer.  An  den  vom  Erysipel  befallenen  Hautpartien 
fühlt  sich  die  Haut  infiltrirt  an ,  mit  deutlich  fühlbarem ,  scharf  ab- 
fallendem Rand.  Die  Farbe  ist  ein  frisches  Roth,  die  Grenzen  sind 
scharf,  jedoch  nicht  geradlinig,  sondern  man  hat  strahlige,  oft  fächer- 
artig sich  ausbreitende  Ausläufer  (Erysipelfackeln).  Diese  eigenartige 
scharfe  Begrenzung  lässt  das  Erysipel  von  jeder  anderen  entzündlichen 
Röthe  unterscheiden. 

Die  mildeste  Form  der  Wundrose  ist  das  Erysipelas  erythe- 
matosum,  wo  es  nur  zur  entzündlichen  Hyperämie  kommt.  Oft 
schiessen  auf  den  erkrankten  Stellen  Blasen  mit  anfangs  serösem, 
später  eiterigem  Inhalt  an ,  von  Stecknadelkopf-  bis  Walnussgrösse. 
die  dann  wieder  zusammenfliessen  können.  Sie  sind  schlaff  und  platzen 
leicht  —  Erysipelas  bullosum.  Die  Oberhaut  stösst  sich  später  ab 
und  das  Rete  Malpighi  liegt  nackt  da.  Beim  brandigen  Erysipel  — 
E.  gangraenosum  —  ist  der  Inhalt  der  Blasen  blutig,  schmutzig- 
braun,  die  Haut  darunter  braun  bis  schwarz  und  circulalionslos.  Bald 
wird  die  Haut  einer  Körperstelle  siebartig  durchbrochen ,  häufiger  ist 
es,  dass  die  Haut  grösserer  Strecken,    der  ganzen  Wade,  der  Aussen- 


Wundrose.  147 

fläche  des  Oberschenkels ,  gleich  im  Ganzen  verloren  geht.  Als 
schmierige ,  schwarzgrüne  Masse  wird  sie  losgestossen  und  es  tritt 
darunter  die  Fascie  zu  Tage;  wird  auch  diese  brandig,  so  liegen  die 
Muskeln  wie  präparirt  im  Grunde  der  Wunde  bloss. 

Bei  diesen  schweren  Formen  vermisst  man  fast  nie  die  Bildung 
von  Abscessen  —  Erysipelas  abscedens.  Doch  können  Abscess- 
bildungen  auch  neben  den  leichteren  Formen  des  Erysipels  vorkommen. 
In  den  tieferen  Lymphbahnen  sich  verbreitend ,  bringen  die  Mikro- 
organismen hier  das  Unterhaut-  und  Zwischenmuskelgewebe  zur  Nekrose 
und  eiterigen  Einschmelzung. 

Die  Erysipelabscesse  stehen  meist  unter  sehr  geringer  Spannung;  deutliche 
Vorwölbung  mit  ausgesprochener  Schmerzhaftigkeit  fehlt  häufig;  so  kann  man  sie 
manchmal  zu  Anfang  übersehen,  umsomehr ,  als  ein  beschäftigter  Chirurg  nicht  ohne 
dringende  Indication  eine  erysipelatöse  Hautstelle  betastet.  —  Ein  Vorderarm  mit 
Erysipelabscessen  erscheint  wie  ein  schlaff  gefüllter  Sack,  der  tastende  Finger  fühlt 
eine  weitverbreitete  schlaffe  Fluctuation.  Incidirt  man,  so  entleeren  sich  unerwartet 
grosse  Massen  dicken ,  mit  brandigen  Fetzen  gemischten  Eiters.  Dabei  stösst  man 
auf  kolossale  Uutermiuirungen,  wenn  man  mit  langen  Sonden  oder  Drainführern  eingeht, 
um  Gegenöffnungen  anzulegen  und  oft  fusslange  Drainröhren  einzulegen.  Die  Eiterung 
geht  auch  zwischen  die  Muskeln  hinein  und  senkt  sich  längs  der  Muskelbäuche 
und  Sehnen  oft  nach  entfernten  Stellen  hin.  Die  Aehnlichkeit  mit  den  pag.  31  be- 
schriebenen Streptokokkenabscesseu  liegt  auf  der  Hand.  Das  Fieber  kann  bei  diesen 
Folgezuständen  der  Eose  ganz  fehlen. 

Nicht  selten  hat  man  auch  Gelenkeiterungen,  theils  in  solchen 
Gelenken,  über  die  die  Rose  wegzieht,  zum  Theil  sind  sie  auch  meta- 
statiscli  und  pyäraischer  Natur. 

So  lange  das  Erysipel  noch  im  Fortschreiten  ist,  bleibt  auch  die 
Betheiligung  des  Allgemeinbefindens  eine  ausgesprochene.  Das  Fieber 
hat  im  Ganzen  den  Charakter  einer  Continua,  Morgens  38 — 39°, 
Abends  39— 40-5o  (s.  Fig.  95);  der  Puls  90—100  Schläge.  Ein  Theil 
der  Kranken  fühlt  sich  sehr  krank,  andere  bleiben  trotz  hoher  Tempe- 
ratur merkwürdig  munter.  Die  Dauer  der  Erkrankung  ist  durchaus 
unberechenbar.  ..Das  Volk  lässt  die  Wundrose  an  dem  bekannten 
„neunten"  Tage  von  selbst  verschwinden.  Ich  habe  zweifellose  Erysipele 
von  nur  1 — 2tägigem  Bestand  gesehen ,  aber  auch  eines  mit  einer 
Dauer  von  32  Tagen. 

Während  seines  Bestehens  „wandert"  das  Erysipel  von  der  Hand 
über  den  Arm  nach  dem  Rücken,  nach  einem  Bein  u.  s.  w.  in  durchaus 
unregelmässiger  Weise.  Berüchtigt  ist  das  Erysipelas  capitis  der 
behaarten  Kopfhaut  und  des  Gesichts.  Vom  Unterhautzellgewebe  kann 
es  leicht  längs  der  Vasa  emissaria  nach  dem  Innern  des  Schädels  ge- 
langen und  tödtliche  Hirnhautentzündung,  Hirnabscesse,  Sinusthrombosen, 
Entzündung  und  Vereiterung  der  Diploevenen  und  schliesslich  Pyämie 
veranlassen.  Aber  auch  ohne  diese  bedenklichen  Complicationen  machen 
Kranke  mit  Erysipelas  capitis  einen  schwereren  Eindruck,  und  es 
sind  die  cerebralen  Erscheinungen  —  Kopfschmerz,  Benonnnenheit, 
Delirien  —  stets  viel  ausgesprochener  als  bei  einer  Rose  an  anderen 
Kürperstellen. 

Kommt  das  Erysipel  zum  Stehen  ,  d.  h.  hört  es  auf,  weiter  sich 
zu  verbreiten ,  so  sinkt  die  Temperatur  zur  Norm.  Seltener  ist  der 
-Abfall  ein  plötzlicher  („kritischer"),  meist  ist  das  Absinken  der 
Temperatur  ein  lytii^clies.  d.  h.  sie  geht  im  Lauf  von  24—28  Stunden 
in  Absätzen  herunter    (vergl.  die  Curve  Fig.  95).    Die  Erholung   ist  — 

10* 


148 


III.  Capitel.  —  Verletzungen. 


bei  jüngeren  Leuten  —  oft  eine  sehr  rasche ,  namentiich  nach 
E.  erytheraatosum. 

Das  Erysipelas  erytheniatosum  blasst  ab ,  indem  es  einen  gelb- 
lichen Farbenton  annimmt,  dann  blättert  die  Oberhaut  ab  und  die 
Haut  gewinnt  ihr  normales  Verhalten  wieder.  Beim  E.  bullosum  bildet 
sich  oft,  während  die  Blasen  noch  stehen,  darunter  schon  junges  Epithel 
und  es  bleibt  nur  noch  eine  leichte,  bräunliche  Pigmentirung  für  einige 
Zeit  zurück. 

Die  abscedirenden  und  gangränösen  Erysipele  sind  stets  sehr 
ernst  zu  nehmen.  Die  schwere  Infection  bringt  die  Kranken ,  na- 
mentlich wenn  sie  schon  älter  oder  Potatoren  sind ,  sehr  herunter. 
Auch  wenn  das  Fieber  längst  verschwunden  ist ,  können  die  ausge- 
dehnten Hautdefecte ,  die  profuse  Eiterung ,  die  tiefen  Eitersenkungen 
die  Kräfte  der  Kranken  erschöpfen.  Auch  Complicationen  verschiedener 
Arten  führen  das  Ende  herbei  —  metastatische  Lungenentzündungen 
mit  eitrigen  Pleuraergüssen,  dann  metastatische  Eiterungen  in  Gelenken, 

Fig.  95. 


■KI^^^M^^Wg^MiB^W^^^»:M*gM| 

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raaiiQHaBBioaaEiiiQDQDQiaB 

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Temi>eraturcurve  des  Erysipels. 

Unterhautzellgewebe  u.  s.  f.  Solche  Fälle  nähern  sich  dann  sehr  dem 
Bilde  der  Pyämie  (s.  unten).  Ich  habe  eine  Anzahl  Fälle  gesehen,  die 
als  typische  Erysipele  begannen,  um  als  ebenso  zweifellose  Pyämien 
zu  enden.  Das  Fieber,  welches  man  bei  diesen  Kranken,  auch  nach- 
dem das  Erysipel  längst  abgelaufen  ist ,  sieht ,  ist  ein  gewöhnliches 
Eiterungsfieber,  Morgens  normal,  Abends  bis  39'5o.  Oder  es  ist  ganz 
unregelmässig,  gewöhnlich  Fieberlosigkeit  und  dazwischen  hohe  Spitzen, 
die  dann  meist  Zeichen  einer  Eiterverhaltung  sind.  Die  monate- 
lange Eiterung  bleibt  natürhch  nicht  ohne  Folgen,  die  Kranken  werden 
elender  und  elender;  es  stellen  sich  Amyloidentartung  innerer  Organe, 
marantische  Oedeme  u.  s.  f.  ein  und  das  Leben  erlischt  schliesslich. 

Die  Behandlung  der  Wundrose  ist  eine  örtliche  und  all- 
gemeine. Da  die  meisten  Erysipele  von  selbst  und  oft  ganz  plötzlich 
zur  Heilung  gelangen,  so  täuscht  man  sich  leicht  über  die  Wirksamkeit 
der  angewandten  Mittel.  Die  Bemühungen  sind  stets  darauf  gerichtet 
gewesen ,    die  Weiterverbreituug    des  Processes  zu  hindern.     Das  Volk 


Behandlang  der  Wundrose.  149 

hat  sie  zu  diesem  Zweck  von  Alters  her  „besprochen";  Hie  Mass- 
nahmen der  Chirurgen  sind  mitunter  nicht  viel  über  diesen  Standpunkt 
erhaben  gewesen.  Wenn  Chirurgen  allen  Ernstes  das  Bestreichen 
solcher  Flächen  mit  weisser  Oelfarbe  geübt  haben,  so  wurde  von  Anderen 
mit  dem  liöllensteinstift  ein  schwarzer  Strich  um  die  erkrankte  Stelle 
gezogen  —  „bis  hieher  und  nicht  weiter".  —  Theoretisch  wohl  durch- 
dacht, wenngleich  praktisch  unwirksam,  war  der  Vorschlag  von  Hueter, 
tingerbreit  vom  sichtbaren  Rand,  in  Abständen  von  circa  5 — 6  Cm. 
37oige  CarboUösuug ,  je  1  Pmm2;'sche  Spritze  voll,  zu  injiciren. 
Etwas  wirksamer  ist  die  Injection  von  Sublimatlösung  (1  :  2000 
bis  10  Spritzen). 

Fessler  hält  das  Ichth3^ol  für  ein  Specificnm  gegen  Streptococcus. 
Die  erj^sipelatöse  Stelle  wird  zweimal  täglich  bis  5  Cm.  über  den  sicht- 
baren Rand  hinaus  mit  Wattebäuschen ,  in  Ichthyol  und  Lanolin  zu 
gleichen  Theilen  getränkt,  durch  5  Minuten  fest  eingerieben,  darüber 
kommt  ichthyolgetränkte,  nicht  entfettete  Watte  in  dicken  Lagen.  Das 
Verfahren  ist  nicht  unwirksam. 

Krashe  macht  oberflächliche  und  tiefe  Incisionen,  drückt  die 
Oedemflüssigkeit  aus,  streut  Jodoform  in  die  Incisionen,  schiebt  in  die 
tieferen  Schnitte  Wieken  von  Jodoformgaze  ein.  Felsenthal  wendet 
in  gleicher  Weise  60Vo  Ichthyolsalbe  oder  -Lösung  an  (Combination 
von  Fessler  s  und  Kraske\s  Verfahren).  Langsdorß'  empfiehlt  alle 
20  Minuten  dicke  Leinwandcompressen  mit  absolutem  Alkohol,  darüber 
Guttaperchapapier.  Die  Temperatur  soll  danach  in  24  Stunden  ab- 
fallen. Sonst  sind  zweckmässig  feuchte  Umschläge  mit  Sublimatlösung 
1  :  2000 — 1  :  5000  (mit  Guttaperchapapier  gedeckt).  Die  spannenden 
Schmerzen  werden  auch  gelindert  durch  Salbenverbände  (z.  B.  Ac. 
boric.  l'O  Lanolin,  pur.  29"Ö  u.  dergl.),  Watteeinpackungen,  Eisblasen 
(bei  Kopferysipel)  u.  dergl. 

Im  Uebrigcn  wurden  Terpentineinreibungen  (Lücke),  Bepinselungeu 
mit  Jodtinctur.  lO'^/oiger  alkoholischer  Carbollösung,  mit  Theer  (Wini- 
ivarter),  Jodoforra-Creolin-Lauolin  (4  :  1  :  10)  empfohlen. 

Die  alle  Regel,  Erysipelkranke  zu  isoliren ,  hat  durch  den  Nach- 
weis von  Erysipelkokken  in  der  Luft  von  Krankenzimmern  durch 
V.  Eiseisberg  {Langenheck's  Arch.  35)  eine  theoretische  Stütze  gefunden. 

Sehr  schwere  Erysipele  mit  hohem  Fieber,  sehr  frequentera  kleinen 
Puls  und  A'erfall  der  Kräfte,  wo  Gefahr  im  Verzug  ist,  hat  man  auch 
durch  innerliche  Mittel  anzufassen  gesucht.  Am  wirksamsten  ist  noch 
die  Caniphercur  von  Flrogojf.  Grosse  Dosen  Campher  —  halbstündlich 
bis  stündlich  1  Pulver  zu  0"1  oder  subcutane  Injectionen,  etwa  in  den- 
selben Pausen  von  einer  Lösung  (Camph.  tritae  1  in  Ol.  amygd.  4) 
werden  gegeben,  bis  Vergiftungserscheinungen  eintreten  —  Campher- 
delirien und  Langsamerwerden  des  Pulses  auf  55  und  50,  Absinken  der 
Tenii)eratur.  —  Ohne  dringende  Noth  soll  man  nicht  zu  dieser  keines- 
wegs inditlerenten  Behandlung  greifen. 

Marmorek  will  durch  sein  Antistreptokokkenserum  eine  Immunisirung  gegen 
Streptokokkeninfection  erzielt  hal)en.  Die  Mortalität  der  Streptomykosen  sank  von 
5-12%  auf  3-14%  (Wien.  med.  Wochonsehr.  1895,  Nr.  31).  Er  erzielt  zunächst  Virnleiiz- 
steigerung,  indem  er  Streptokokken  durch  junge  Kaninclien  durchschickt ,  erzeugt  dann 
durch  allmählich  gesteigerte  Mengen  von  Streptokokken  Immunität  l)eim  l'terde  und  injicirt 
das  Pt'erdesenim  in  Mengen  von  .")  Com.  1-  Ijis  mehrmal  .subcutan. 


■[50  ^I^-  tJapitel.  —    V(:)'li;tzuiij?t;ii. 

Die  absccdirenden  und  gangränescirenden  Fälle  sind  nacFi  den 
allgemeinen  Regeln  zu  behandeln;  ausgedehnte  Incisionen ,  Drainage, 
antiseptische  Ueberschläge ,  im  IJebrigen  gute  Ernährung,  protrahirte 
Bäder;  bei  ausgebreiteten  Abscedirungen  hat  das  permanente  Bad  mir 
oft  gute  Dienste  gethan. 

Bei  ausgedehnten  Hautdefecten  kommt  Transplantation ,  bei  sehr 
heruntergekommenen  Patienten  auch  die  Amputation  in  Frage. 

Erysipel  neigt  sehr  zu  Recidiven;  es  haftet  an  manchen  Kranken, 
Betten,  Krankensälen,  selbst  einzelnen  Ecken  eines  Krankenraumes 
mit  unangenehmer  Hartnäckigkeit. 

Carbolantisepsis  schützt  nicht  sicher  gegen  Erysipel,  wohl  aber 
Sublimatantisepsis  und  tadellose  Asepsis.  —  Bei  der  Section  Erysipelatöser 
findet  man  im  Wesentlichen  nur  parenchymatöse  Degeneration  der  inneren 
Organe. 

Die  heilende  Wirkung  des  Erysipels  wird  bei  „Neubildungen" 
besprochen. 

Eine  dem  Erysipel  seinem  äusseren  Ansehen  nach  sehr  ähnliche  Äffection  ist  das 
„Erysipeloid".  Bei  Leuten,  die  viel  mit  rohem  Fleisch  zu  thun  haben,  Köchinnen, 
Fleischern  u.  dergl.,  beobachtet  man  eine  wenig  schmerzhafte  Röthung,  von  einem  Finger 
oder  einem  Fingerinterstitium  ausgehend,  ganz  von  der  Art  der  "Wundrose ;  langsam,  in 
Tagen  bis  einer  Woche,  schreitet  es  weiter  nach  den  übrigen  Fingern,  dem  Handrücken; 
die  Umgrenzungslinie  ist  genau  dieselbe,  wie  beim  echten  Erysipel  —  strahlige  scharf- 
ausgezackte Ränder.  Die  Sache  ist  rein  örtlich,  Fieber  fehlt  stets.  Zu  Eiterung  und 
Blasenbildung  kommt  es  nicht.  —  Sublimatumschläge  beseitigen  die  Affection  meist 
rasch ;  Injectionen  Sprocentiger  Carbolsäure  in  die  Randpartien  werden  empfohlen.  — 
Rosenhacli  fand  hier  eigenartige,  zu  langen  Fäden  auswachsende  Bacillen. 


Wenn  man  im  Ganzen  nur  einen  kleinen  Procentsatz  der  an  Wund- 
rose Erkrankten  verliert,  verhält  sich  dies  ganz  anders  mit  der  Eiter- 
und  Blutvergiftung.  Die  örtlichen  Erscheinungen  treten  hier  zurück 
gegenüber    der  enorm    schweren  Erkrankung   des    Gesammtorgauismus. 

Die  Pyämie,  Eitervergiftung,  ist  eine  Spätkrankheit  der  Ver- 
letzten, sie  entwickelt  sich  nie  im  unmittelbaren  Anschluss  an  die  Ver- 
letzung, selten  vor  dem  7.,  nieist  um  den  9.  bis  11.  Tag.  Die  erste 
Erscheinung  ist  ein  Schüttelfrost. 

Rasch  steigt  die  bisher  normale  oder  wenig  erhöhte  To'mperatur  auf  40"  und 
mehr:  nachdem  das  Frieren  74!^!^  V-j  Stunde  gedauert,  stellt  sich  ein  Gefühl  brennender 
Hitze  ein  und  dann  sinkt  nach  einigen  Stunden  unter  dem  Ausbruch  heftigen  Schweisses 
die  Temperatur  zur  Norm  oder  unter  dieselbe.  Der  Kranke  ist  sehr  matt  und  elend.  — 
Ein  Schüttelfrost  bei  einem  Verletzten  oder  Operirten  hat  für  den  Arzt  stets  etwas  in 
hohem  Grade  Alarmirendes.  Entweder  ist  ein  Erysipel  in  Entwicklung,  oder  es  lässt 
sich  eine  Eiterverhaltung  nachweisen  oder  man  hat  es  mit  Pyämie  zu  thun.  —  Der 
Zustand  der  Wunde  gibt  keinen  sicheren  Aufschluss ;  manche  Wunden  —  namentlich 
jauchende  Knochenwanden ,  z.  B.  bei  Schuss Verletzungen,  mit  Verletzungen  der  Mark- 
höhle oder  Schädelverletzungen  mit  folgender  Diploevereiterung  legen  wohl  von  vorne- 
herein die  Möglichkeit  der  Pyämie  nahe  —  besondei's  wenn  die  Wunde  unrein,  schmutzig, 
mit  grünen  oder  braunen  nekrotischen  Fetzen  belegt  bleibt.  Andere  Male  ist  aber,  trotz 
des  Bestehens  der  Pyämie  an  den  Wunden  nur  wenig  oder  nichts  zu  erkennen ;  etwas 
croupöser  Belag ,  einige  kleine  Blutungen  in  die  Granulationen ,  einige  oberflächliche 
Nekrosen  derselben  sind  Alles.  Auch  die  Umgebung  der  Wunde  zeigt  keineswegs  immer 
starke  Entzündung,  Eiterverhaltungen  und  Senkungen,  ebensowenig  Lymphangitis  oder 
entzündete  und  thrombosirte  Venen.  —  Die  Entstehung  des  Schüttelfrostes  scheint  mit 
der  Verschleppung  von  infectiösen  Thromben  in  den  Venen  zusammenzuhängen. 

Zum  Zustandekommen  der  Pyämie  ist  unerlässlich  eine  auf  der 
Einwanderung  und  Vermehrung    von  Mikroorganismen    beruhende  Ent- 


Pyämie.  151 

Zündung  und  Thrombosirung  von  Venen ;  bei  der  chirurgischen  Pyämie 
also  meist  einer  Vene  in  der  Nachbarschaft  einer  Wunde.  Von  dem  mit 
Mikroorganismen  durchsetzten  Thrombus  werden  grössere  oder  kleinere 
Stücke  losgelöst ,  vom  Blutstrom  mitgerissen  und  auf  dem  Wege  der 
Embolie  an  anderen  Stellen  abgelagert,  wo  die  Mikroorganismencolonien 
aufs  Neue  Entzündung  und  Eiterung  erregen  (vergl.  pag.  17).  —  Von 
diesen  embolischen  Verschleppungen  der  Mikroorganismen  führt  die 
Pyämie  den  Namen  embolische  oder  metastatische  Pyämie. 

Der  Nachweis  dieser  Metastasen  sichert  die  Diagnose  sofort. 
Doch  geben  dieselben  keineswegs  immer  klinisch  leicht  erkennbare 
Symptome.  Die  bevorzugten  Stellen  sind  Lungen,  Leber,  Schilddrüse, 
Muskeln,  Gelenke,  Milz,  Nieren,  seltener  Gehirn.  —  Die  Lungen-' 
emb.olien  geben  zunächst  das  Bild  des  hämorrhagischen  Lungeninfarcts,  — 
pleuritische  Schmerzen ,  begrenztes  pleuritisches  Reiben ,  blutigen  Aus- 
wurf; Dämpfung  und  Bronchialathmen  sind  nicht  immer  nachweisbar. 
Aus  dem  hämorrhagischen  Infarct  wird  eine  begrenzte  Lungenentzündung, 
später  ein  Lungenabscess,  häufig  mit  eiterigem  Erguss  in  die  Pleura- 
höhle verknüpft.  —  Die  Leberabscesse,  erbsen-  bis  apfelgross,  geben 
nur  Symptome,  wenn  sie  bis  zum  serösen  Ueberzug  reichen,  dann  ver- 
ursachen sie  örtliche  Schmerzen,  Der  stets  bei  Pyämie  vorhandene 
Icterus  beruht  wohl  nicht  allein  anf  diesen  Leberabscessen ,  sondern 
mag  mit  den  Störungen  der  Verdauung  zusammenhängen,  somit  als 
katarrhalischer  aufzufassen  sein.  Andere  glauben  ihn  duich  Blut- 
zersetzung bedingt,  rechnen  ihn  also  zu  den  „hämatogenen".  —  Die 
selteneren  Metastasen  in  den  Nieren  machen  sich  als  Eiterzumischung 
zum  Urin  bemerklich.  Die  constant  vorhandene  Albuminurie  (vorwiegend 
Peptonurie)  braucht  nicht  darauf  bezogen  zu  werden.  —  Die  Ver- 
grösserung  der  Milz  theilt  die  Pyämie  mit  allen  Infectionskrankheiten  ; 
nur  wenn  Schmerzen  in  der  Milzgegend  da  sind  (Perisplenitis)  darf 
man  an  die  oft  massenhaften  Milzabscesse  denken.  Der  Bildung  von 
Abscessen  in  Musculatur  und  Unter hautbindegewebe  gehen 
unbestimmte  Schmerzen  in  dem  betreffenden  Gliede  voraus,  dieselben 
localisiren  sich  dann  an  einer  Stelle,  diese  röthet  sich,  zeigt  Fluctuation 
bei  meist  ziemlich  geringer  Spannung.  Die  pyämischen  Gelenk- 
ergüsse entwickeln  sich  unter  geringen  Schmerzen;  die  Spannung  des 
anfangs  schleimigen,  bald  rein  eitrigen  grünlichen  Inhaltes  ist  gleich- 
falls eine  gerii^ge.  Entzündliche  Gelenkstellungen  (s.  Gelenkentzündungen) 
bilden  sich  nur  in  geringem  Grade  aus. 

Währenddem  geht  das  Fieber  seinen  Gang  (Fig.  96).  Nach  dem 
ersten  Schüttelfrost  und  dem  Abfall  der  Temperatur  erscheint  das 
Befinden  des  Kranken  zunächst  nur  wenig  gestört.  Doch  lässt  sich 
eine  gewisse  Mattigkeit  und  Angegritfenheit  nicht  verkennen;  die  Augen 
zeigen  oft  schon  nach  dem  ersten  Schüttelfrost  einen  seltsamen  Glanz 
und  die  Hautfarbe  nimmt  einen  Stich  in's  Gelbe  an.  Nach  einer  Pause 
von  unbestimmter  Dauer  (12  Stunden  bis  circa  eine  Wochej  kommt  der 
zweite  Schüttelfrost  und  damit  sind,  selbst  wenn  Metastasen  nicht  nach- 
zuweisen sind,  meist  die  Zweifel  an  der  Diagnose  beseitigt. 

Der  Aveitere  Verlauf  ist  nun  verschieden,  je  nach  dem  mehr 
oder  weniger  acuten  Charakter,  den  die  Krankheit  zeigt.  In  den 
acuten  Fällen  folgt  fast  täglich  ein  Frost,  aus  welchem  der  Kranke 
jedesmal  wesentlich  geschwächter  hervorgeht ;  doch  können  auch  Fröste 


152 


iir.  (>d],\u-A. 


Vcrluiziiiiü,-!:)!. 


ausbleiben  und  die  Temperataicurve  zeigt  dann  einen  unregelmässig 
i-eniittirenden  Typus.  Die  Kräfte  nehmen  rasch  ab,  die  Kranken  werden 
fast  ausnahmslos  ikterisch  ;  dies  verleiht  ihnen,  besonders  während  des 
Fiebers,  ein  sehr  charakteristisches  Aussehen  durch  die  Mischung  der 
Fieberröthe  in  den  gelbsüchtigen  Farbenton,  die  rothen  Wangen  in  dem 
gelben,  abgemagerten  Gesicht,  die  fieberglänzenden,  gelben,  tiefliegenden 
Augen.  Der  Puls,  welcher  anfangs  nur  während  des  Fiebers  auf 
100 — 120  stieg,  bleibt  dauernd  hoch,  120— 150  Schläge  per  Minute. 
Der  Appetit  ist  ganz  weg,  Zunge  und  Lippen  trocken  und  rissig; 
Decubitus,  Diarrhöen,  selbst  blutige  Stühle  stellen  sich  ein.  Zu  äusserster 
Muskelschwäehe  kommen  bald  auch  geistige  Störungen,  Delirien,  Schlaf- 
sucht, völlige  Theilnahmslosigkeit.  Schliesslich  sterben  die  Kranken  bei 
einem  fast  unzählbaren  Puls  an  Herzschwäche.  Die  Gesammtdauer  be- 
trägt selten  unter  einer  Woche,  meist  3 — 5. 

An    der    Wunde   findet   man    in    den    vorgeschritteneren    Stadien 
eitrige  Einschmelzung  der  Granulationen,    brandigen  Zerfall  derselben. 


Fig.  96. 

hmimmmtaK^H^Mtm^BtnH^^^mt 

i^MHi  im  111  iiHi  iii  imi  iia  iii  nn  um  im  il 

iraBBBBaBBBHaHBBniBBaBan 

Bs:m:sra:BiiBns 

BiiB;nasaan:m^^[ 

■aüBgMBtfgBMWIBBBBWBM»B^K 

im 

m 

Temperaturcurve  der  Pyämie. 

selbst  Wunddiphtheritis  (s.  diese).  Diese  Vorgänge  führen  zu  äusserst 
üblen  Complicationen  der  Pyämie,  den  gefürchteten  pyämischen 
Nach-  oder  Spätblutungen.  Die  Gefässwand  —  Venen  und  Arterien  — 
wird  durch  die  in  ihr  wuchernden  Mikroorganismen  allmählich  von  aussen 
nach  innen  zerstört  —  arrodirt,  corrodirt  —  und  der  Blutdruck  sprengt 
schliesslich  die  Intima.  Die  pyämischen  Blutungen  können  sehr  profus 
werden,  und  wenn  eine  grosse  Arterie,  eine  Femoralis  u.  dergl.  in  einer 
Amputationswunde  blutet,  ist  der  Kranke  meist  verloren,  ehe  Hilfe  zur 
Hand  ist.  Die  Unterbindung  in  der  inficirten ,  infiltrirten  Wunde  ist 
schwer,  die  Gefahr,  dass  auch  an  der  neuen  Unterbindungsstelle  wieder 
eine  Arrosion  eintrete,  stets  gegeben.  Selbst  bei  Unterbindung  entfernt 
von  der  Wunde ,  am  Orte  der  Wahl  ist  die  Gefahr  einer  pyämischen 
Infection  auch  dieser  Wunde  naheliegend. 

In  den  chronischen  Fällen  ziebt  sich  die  Krankheit  über  Monate, 
ein  halbes  Jahr  und  länger  hin.  Die  Schüttelfröste  erfolgen  in  längeren 
Pausen,  in  welchen  der  Kranke  sich  wieder  zu  einem  gewissen  Wohl- 


Pyämie.  153 

befinden  erholen  kann.  Das  Fieber  wird  dann  auch  meist  ein  remittirendes, 
mit  weniger  hohen,  langsameren  Steigerungen,  ohne  Fröste.  Solche  Fälle 
können  ,  leider  ist  dies  nicht  häufig ,  ein  günstiges  Ende  nehmen ;  die 
Metastasen  heilen  unter  entsprechender  Behandlung  aus  und  die  Kranken 
erlangen  ihre  volle  Gesundheit  wieder ;  doch  kommt  dies  nur  bei 
sonst  ganz  gesunden,  jungen  und  ausnahmsweise  widerstandsfähigen 
Menschen  vor. 

Ein  anderes  Mal  entwickelt  sich  ein  Zustand  chronischen  Siech- 
thums.  mit  amyloider  Degeneration  der  innern  Organe,  Decubitus- 
bildung  etc.,  und  die  Kranken  erlöschen  schliesslich,  nachdem  sie  noch 
da  und  dort  durch  langsam  sich  entwickelnde  „kalte"  Abscesse  gequält 
sind.  Der  Fiebertypus  bleibt  nicht  mehr  der  charakteristische  pyämische; 
die  Schüttelfröste" fallen  weg,  an  ihre  Stelle  tritt  ein  intermittirendes 
Fieber  mit  weniger  hohen  Spitzen  oder  selbst  eine  unregelmässige 
Febris  continua.  Es  sind  dies  Fälle,  wo  die  monatelange  Mühe  des 
Arztes,  die  sorgfältigste  Pflege  doch  schliesslich  einen  Misserfolg  zu 
verzeichnen  haben.  Man  hat  diese  Zustände  auch  Febris  hectica  trau- 
matica genannt. 

Zwischen  diesen  chronischen  und  den  ganz  acuten  Fällen  stehen 
solche  mit  subacutem  Verlauf,  einer  Dauer  von  einigen  Monaten.  Die 
Aussichten  sind  fast  so  schlecht  wie  bei  den  acuten. 

Die  Prognose  der  Pyämie  ist,  wie  gesagt,  eine  äusserst  trübe. 
Fälle,  wo  die  Fröste  sich  rasch  folgen,  enden  schnell  tödtlich  und 
eine  geheilte  Pyämie  ist  ein  aussergewöhnlicher ,  ganz  unverhofl'ter 
Glücksfall. 

Seit  der Einfülirung  der  Antisepsis  beobachtet  man  g-elegentlicli  Fälle,  die  unzweifel- 
haft zur  Pyämie  zu  rechnen  sind,  jedoch  von  Anfang  an  einen  anderen  leichten  klinischen 
Verlauf  zeigten.  Es  handelte  sich  um  Fälle,  welche  bereits  inficirt,  zum  Theil  mit 
Abscessen  zugingen,  deren  Wunden  dann  antiseptisch  behandelt  wurden.  Die  Schüttel- 
fröste blieben  aus,  das  Fieber  war  gering  oder  fehlte  ganz;  aber  es  bildeten  sich  zahl- 
reiche metastatische  Abscesse  von  langsamem,  schleichendem  Verlauf,  einer  nach  dem 
anderen,  vorwiegend  im  Unterhautzellgewebe  und  der  Musculatur.  Dieselben  heilten, 
incidirt,  rasch  aus.  Auch  leichte  ikterische  Hautfärbung  fehlte  nicht.  Die  Fälle  kamen 
nach  mehrmonatlicher  Dauer  durch. 

Bei  der  Pyämie  hat  man  bisher  in  überwiegender  Häufigkeit  den 
Streptococcus   gefunden ,    dessen   Abbildung   ich   in  Fig.  97  wiederhole 
(Zds.s' Imm.  Vi2,  Oc.  5.).  Fig.  98    stellt   eine   ganz  junge        Fig.  97. 
Streptokokkencolonie  (m^  m)  in  der  Niere  dar,  vermuthlich 
aus    einer    capillären  Embolie   hervorgegangen;    die  P^pi-       /"'    ;;•••••*.•' 
thelien    der    Niere    fangen    an   zu    zerfallen  (d) ,    weisse    y  ^     ,^  •_> 
Bliitzellen    auszuwandern ,    die  Entzündung  ist   im  Gang,    y 


J- 


^y 


In    Fig.  99    ist    pyämischer   Eiter    abgebildet.    Bei   Ver- 
gleich   mit  Fig.  14  Ä  und  B   fällt   der  Zerfall    der  Blut- 
kör])erchen,  ihre  Kernlosigkcit  und  daneben  die  Massen-     "'.  ••••*"..•••"•. 
haftigkeit  der  überaus  feinen  Mikrokokken  auf.  •..   "■* 

An  der  Identität  des  gewithnlichen  Streptococcus  pyogenes,  Strepto- 
coccus des  Erysipels,  des  Puerperalfiebers,  der  Pyämie  ist  nicht  zu 
zweifeln.  In  seltenen  Fällen  hat  man  auch  Sta|)liyh)kokken  gefunden. 
liKs.se  sah  eine  Saccharomycosis  unter  dem  IJikl  einer  chronischen 
Pyämie   verlaufen  (vergl.  pag.  63). 

Die  Sectionsbcfunde  der  Pyämie  lassen  sich  aus  dem 
Bisherigen    construircn.     Multiple    Abscesse    in    den    angegebenen  Ge- 


154 


III.  Capitel.  —  Vcrletzuii^i;)]. 


weben ,  Darmcnt/iindungcn ,  Icterus ,  Welkheit  des  Herzens ,  Milz- 
vergrösserung ,  parenchymatöse  Degenerationen  sind  die  wichtigsten 
Befunde. 

Zu  einer  vollständigen  Section  bei  Pyämie  gehört  auch  der  Nachweis  d(T  Ein- 
gangspforte der  Mikroorganismen.  Manchmal  ist  die  Wunde,  ein  kleiner  Riss  am 
Finger,  einer  Zehe  u.  dergl.  längst  geheilt,  auch  Phlebitis  und  Thrombosen  lassen  sich 
selbst  bei  grossen  Wunden  nicht  immer  mehr  nachweisen.  Auch  von  den  Lungen  und 
dem  Darm,  besonders  dem  Processus  vermiformis,  kann  die  Pyämie  ausgehen,  „krypto- 
genetische" Pyämie.  Pyämische  Infectionen  können  (in  abgekapselten  Abscessen  ,  z.  B. 
Hirnabscessen)  auch  für  Jahre  latent  werden,  um  dann  plötzlich  wieder  hervorzubrechen. 
Einige  unserer  hervorragenden  Chirurgen  sind  an  solchen  verschleppten  Infectionen 
schliesslich  zu  Grunde  gegangen. 

Die  Behandlung  der  Pyämie  ist  eine  ziemlich  aussichtslose. 
Selbst  energische  antiseptische  Behandlung  der  Wunde,  z.  B.  Ausräumen 
einer  inficirten  Diaphysen-Markhöhle  mit  dem  scharfen  Löffel ,  hilft 
meist  nichts ,  rührt  oft  die  Sache  erst  recht  auf.  Der  Versuch ,  die 
abführende  Hauptvene  des  betreffenden  Theiles,  z.  B.  die  Vena  cruralis, 


Fig.  98. 


Fig.  99. 


l'^Sjo) 


zu  unterbinden  und  so  die  embo- 
lischen Einbrüche  in  die  Circulation 
unmöglich  zu  machen,  hat  bis  jetzt 
wenig  Erfolge  gehabt.  Der  venöse 
Strom  kann  vielleicht  gerade,  wenn 
er  seine  Richtung  ändert,  um  so 
leichter  Thromben  losreissen.  Doch  ist  es  in  einigen  Fällen  gelungen, 
durch  Unterbindung,  Incision  und  Entleerung  der  Vena  jugularis  int.  die 
pyämischen  Erscheinungen  bei  Thrombose  der  Hirnsinus  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen  und  Heilung  zu  erzielen.  Selbst  die  Amputation 
hat ,  neben  wenigen  Erfolgen ,  zahlreiche  Misserfolge  zu  verzeichnen. 
Bei  der  trostlosen  Prognose  der  Pyämie  sind  diese  Versuche  jedenfalls 
erlaubt ,  wenn  nicht  geboten.  Nur  in  den  frühesten  Stadien  lässt  sich 
Erfolg  erhoffen.  Die  metastatischen  Abscesse  sind  zu  spalten  und  zu 
drainiren  und  heilen  dann  oft  rasch,  ebenso  die  Gelenkeiterungen,  Pleuri- 
tiden,  Perikarditiden  u.  s.  f. 

Innerliche  Mittel  sind  machtlos.  Eine  Zeitlang  war  das  Natron 
benzoicum  empfohlen.  Auch  Salicylpräparate  sind  verwandt.  Zur  Nieder- 
haltung des  Fiebers  können  (ob  mit  Einfluss  auf  die  Krankheit,  ist 
eine  andere  Frage)  die  modernen  Antipyretica ,  Antipyrin ,  Phenacetin 
versucht  werden.  Ein  fortgesetzter  massiger  Chiningebrauch  (l'O — 1'5, 
höchstens  2'0  alle  2  Tage)    hält   noch    am    besten  die  Kräfte  und  den 


Septikämie.  155 

Appetit  zusammen  imd  die  Temperatur  in  niedrigeren  Grenzen.  Bei 
der  chronischen  Pyämie  sind  protrahirte  Bäder  nützlich.  Sorge  für 
kräftige  Ernährung  ist  selbstverständlich.  Ein  Versuch  mit  Antistrepto- 
kokkenserum  könnte  immerhin  gemacht  werden. 

Die  einzig  wirksame  Behandlung  der  Pyämie  ist  die  Prophylaxe. 
Eine  strenge  Asepsis  und  Antisepsis  ist  ein  absolut  verlässlicher  Schutz 
gegen  Pyämie ,  und  man  darf  daher  mit  Recht  sagen  :  Einem  fermen 
Antiseptiker  darf  keine  frische  Wunde  pyämisch  werden.  Im  Kriege 
werden  wir  noch  eher  mit  diesem  Feind  zu  kämpfen  haben. 

Der  Pyämie  steht  klinisch  und  ätiologisch  nahe  die  Blutver- 
giftung (Septikämie,  Septhämie,  Faulfieber  u.  s.  w.).  In  reinen 
Fällen  gibt  sie  wohl  ein  ganz  verschiedenes  Krankheitsbild  wie  die 
Pyämie,  zahlreiche  Uebergänge  und  Mischformen,  ebenso  wie  die  Er- 
gebnisse der  bacteriologischen  Forschung  rücken  beide  Krankheiten 
einander  wieder  nahe. 

Die  Blutvergiftung  tritt  selten  später  als  am  fünften  Tage  nach  der 
Operation  auf.  Im  Gegensatz  zur  Pyämie  handelt  es  sich  also  um 
eine  ausgesprochene  Früherkrankung  der  Verwundeten. 

Die  Septikämie  tritt  in  verschiedenen  khnischen  Formen  auf;  die 
häufigste  und  typischeste  ist  die  nach  (inficirten)  Bauchoperationen, 
Perforationen  des  Darms  durch  Verletzungen,  Einklemmungen  von  Ein- 
geweidebrüchen u.  s.  w.  Die  peritoneale  Sepsis  schliesst  sich  un- 
mittelbar an  die  Operation  an,  so  dass  man  zunächst  nicht  weiss,  ob 
man  es  mit  Chloroformnaehwirkung,  Shock  oder  Blutvergiftung  zu 
thun  hat.  Die  Kranken  befinden  sich  in  einem  Zustande  völligen  subjectiven 
Wohlbefindens,  aber  zugleich  grosser  Apathie  und  Gleichgiltigkeit.  — 
Die  objectiven  Zeichen,  nach  welchen  der  Arzt,  um  Gewissheit  zu 
haben,  forscht,  sind  überaus  gering  und  wenig  charakteristisch;  der 
Puls  ist  frequent,  aber  klein,  90—100 ;  die  Temperatur  normal,  selbst 
subnormal,  oder  wenig  erhöht,  38-5—390;  ^\[q  Zunge  ist  belegt,  Appetit 
fehlt  völlig,  häufig  ist  viel  Durst;  alles  Zeichen,  welche  man  ebenso 
gut  anders  deuten  kann.  Am  wichtigsten  ist  der  allgemeine  Eindruck, 
den  der  Kranke  macht  und  welchen  der  Arzt,  der  ihn  einmal  gesehen, 
nie  wieder  vergisst;  es  ist  der  tiefer  Prostration. 

Der  weitere  Verlauf  der  Blutvergiftung  ist  nun  der  eines  ganz 
rapiden  Kräfteverfalles.  —  Die  Veränderungen  der  Temperatur  sind 
wenig  charakteristisch;  einige  Fälle  verlaufen  mit  subnormaler  Tempe- 
ratur, andere  bei  fast  normaler;  dazwischen  finden  sich  unregelmässige 
Steigerungen  bis  38  und  SS-ö".  Wieder  andere  zeigen  von  Anfang 
an  Temperaturen    um    39 — 40"  und   mehr   (vergl.  die  Curve  Fig.  100). 

Mehr  Aufschluss  gewährt  das  Verhalten  des  Pulses.  Derselbe 
zeigt  eine  stetig  zunehmende  Frequenz.  Im  Beginn  um  90  schwankend, 
so  dass  man  sich  noch  an  den  Gedanken  klammert,  es  sei  psychische 
Erregung  oder  Anämie,  steigt  er  auf  100,  1 10  und  erreicht  bald  120  und 
mehr.  Diese  hohe  Frequenz  ist  um  so  auffallender,  weil  ihr  der  Gang 
der  Temperatur,  welche  zur  selben  Zeit  vielleicht  völlig  normal  sein 
kann,  gar  nicht  entspricht.  Puls-  und  Teniperaturcurve  laufen  nicht, 
wie  sonst,  annähernd  ])arallel.  sondern  es  kommt  zu  der  ..Kreuzung" 
der  Curven,  d.  li.  die  l'ulscurve  steigt  höher  als  die  Teniperaturcurve 
(vergl.  Fig.  loO). 


156 


III.  Capitel.  —   Verlclziiiij^^cii. 


Das  Allgerncinljcfinden  verschlechtert  sich  rasch.  Die  Züge  ver- 
fallen zusehends,  die  schwarzg-cränderten  Augen  liegen  tief  und  zeigen 
einen  unheimlichen  Glanz,  die  Gesichtsfarbe  wird  gclbgrau,  der  Ge- 
sichtsausdruck  ist  der  völliger  Geistesabwesenheit.  Die  übiige  Haut  zeigt 
gleichfalls  eine  schmutziggelbe  Farbe;  in  Haut  und  Schleimhäuten  stellen 
sich  häufig  kleine,  Stecknadelkopf-  bis  20-pfennigstückgrosse  Blutungen 
ein  (Petechien).  Die  Kranken  liegen  zusammengesunken  im  Bett,  lassen 
Koth  und  Urin  unter  sich  gehen ,  gleichgiltig  gegen  Alles.  Auffällig 
contrastirt  mit  diesem  schlechten  Allgemeinbefinden  die  grosse  Euphorie ; 
w^enn  man  sie  fragt,  geht  es  ihnen  immer  gut.  Nur  Durst  ist  die 
immerwährende  Klage ;  häufig  ist  Aufstossen  und  Erbrechen ,  beson- 
ders bei  Laparotomirten.  Die  Zunge  ist  trocken ,  mit  braunem 
russigem  („fuliginöscm")  Belag,  ebenso  die  Lippen.  Meist  sind  Durch- 
fälle, mitunter  bluthaltend,  vorhanden,  welche  jedem  therapeutischen 
Versuch  spotten.     Die  Krankheit  eilt  rasch  ihrem  Ende  zu.    Der  Puls 

Fig.  100. 


Curve  der  Septikämie. 
Temperatur.  -_  — 


geht  höher  und  höher,  wird  ungleichmässig  und  aussetzend ,  bald  un- 
zählbar. Hände,  Füsse  und  Nase  werden  kalt;  ohne  Sehmerzen,  ohne 
Klage  und  oft  ohne  Bewusstsein  des  Todes  erlischt  das  Leben  —  Herz- 
schwäche ist  die  unmittelbar  den  Tod  veranlassende  Ursache.  Die  ganze 
Scene  kann  sich  innerhalb  8 — 12  Stunden  abspielen;  und  länger  als 
4 — 6  Tage  dauert  es  nicht  leicht. 

Die  anatomischen  Veränderungen  sind  gering  und  ist  diese  Geringfügigkeit 
der  pathologisch-anatomischen  Ausbeute  geradezu  charakteristisch  für  die  Septikämie. 
Trübe  Schwellungen  der  inneren  Organe ,  kleine  Blutungen  in  der  Darmschleimhaut, 
unter  der  Serosa  des  Darms,  in  der  Haut,  dann  auch  in  den  drüsigen  Organen,  ein 
matsches,  mitunter  etwas  fleckiges  oder  gestreiftes  Herzfleisch,  dünnflüssiges,  schwarzes, 
theerartiges,  wenig  zur  Gerinnung  geneigtes  Blut,  hier  und  dort  Oedeme,  bei  Laparotomien 
namentlich  retroperitoneal,  rasches  Fortschreiten  der  Fäulniss  nach  dem  Tode  —  dies 
sind  die  wichtigsten  Zeichen.  An  der  Wunde  selbst  findet  sich  so  gut  wie  nichts ; 
selbst  bei  Laparotomien  oft  nur  ein  ganz  geringfügiger  blutig-seröser,  nicht  übelriechender 
Erguss  in   der  Bauchhöhle. 

Auch  gegen  die  Septikämie  gewährt  eine  sichere  Antisepsis  und 
Asepsis  (s.  Wundbehandlung)  verlässlichen  Schutz. 


ö 


Verschiedene  Formen  der  Septikämie.  157 

Erfolgt  die  Infection  an  anderer  Stelle,  so  sind  auch  die  Erschei- 
nungen etwas  anders.  Am  Finger  z.  B.  inficiren  sich  oft  Chirurgen 
und  besonders  pathologische  Anatomen  bei  Seetionen  mit  „Leichen- 
gift". —  Die  iniicirenden  Leichen  sind  ausnahmslos  solche  von  Per- 
sonen, die  an  infectiösen,  d.  h.  septischen  Processen  zu  Grunde  gegangen 
sind.  An  der  Wunde  selbst  fehlen  bald  alle  Veränderungen ,  oder  es 
stellen  sich  leichte  lymphangitische  Erscheinungen  ein ;  aber  oft  schon 
im  Laufe  eines  halben  Tages  treten  die  Zeichen  einer  schweren  All- 
gemeinvergiftung hervor:  das  Gefühl  überwältigender  Mattigkeit,  tödt- 
lichen  Krankseins,  Kopfschmerz,  Angst  und  Unruhe.  Puls  und  Tem- 
peratur gehen  in  die  Höhe;  der  Kranke  verfällt  ungemein  rasch,  die 
Züge  verändern  sich,  die  Haut  wird  gelblich  und  fahl,  Diarrhoen  kön- 
nen auftreten,  kleine  Hautblutungen  sich  zeigen  und  so  kann  der  Kranke 
schon  im  Laufe  des  zweiten  Tages  zu  Grunde  gehen. 

So  ganz  schlecht  ist  bei  diesen  Formen  der  Infection  die  Pro- 
gnose nicht ;  frühzeitige  Einschnitte  am  Orte  der  Infection  mit  antisep- 
tischer Behandlung  können  der  Weiterentwicklung  Einhalt  thun  und 
eine  Anzahl  von  zweifellosen  Infectionen  mit  „Leichengift"  wird  über- 
wunden. 

Wieder  anders  ist  der  Verlauf  der  Urinsepsis,  wenn  katarrhalischer  Urin 
durch  eine  Verletzung  der  Harnwege  in  die  Gewebe  eingepresst  wird.  Sie  entsteht  von 
der  Stelle  aus,  wo  der  Urin  in  die  Gewebe  eindringt ;  es  verbreitet  sich  rasch  Gangrän  der 
Gewebe.  Die  Haut  wird  blauschwarz,  Unterhautzellgewebe  und  Musculatur  zerfallen  in 
eine  schmierige  braune,  jauchedurchtränkte  Masse;  die  sich  entwickelnden  Gasblasen 
lassen  sich  deutlich  fühlen  und  veranlassen  bei  der  Berührung  der  Haut  ein  knisterndes 
Geräusch  (subcutanes  sejitisches  Emphysem).  —  Damm,  Gesäss,  Bauch,  Ober- 
schenkel und  Eücken  können  in  24  Stunden  in  dieser  Weise  gangränös  zerfallen.  — 
Der  Allgemeinzustand  ist  ein  äusserst  schwerer ,  gänzlicher  Verfall  der  Kräfte,  Apathie, 
hoher,  kaum  zählbarer  Puls :  die  Temperatur  ist  wenig  erhöht,  kann  sogar  während  der 
ganzen  Dauer  des  Zustandes  normal,  selbst  subnormal  sein.  —  Der  Tod  erfolgt  in 
1 — 2  Tagen  an  Herzschwäche.  Weite  und  tiefe  Incisionen,  welche  dem  Urin  und  der 
Jauche  freien  Abfluss  schaffen ,  mit  folgenden  antiseptischen  (namentlich  Chlorwasser-) 
Umschlägen  können  kräftige  Naturen  noch  retten. 

Aehnlich  sind  die  Erscheinungen  der  von  Maissonneuve  zuerst  beschriebenen 
Gangrene  foudroyante.  An  schwere  Verletzungen  —  Zermalmungen,  Verletzungen 
durch  grobes  Geschütz  u.  dergl.  —  schliesst  sich  ein  ganz  rapider  brandiger  Zerfall 
der  Gewebe  —  mit  Gasentwicklung,  jauchiger  Veränderung  der  Gewebe  an.  Die  Gangrän 
schreitet  rasch  vorwärts;  um  die  zweifellos  gangränösen  Partien,  welche  sich  braun- 
oder  blauschwarz  verfärben,  bildet  sich  ein  röthlicher  Hof;  ebenso  schimmern  die  Venen 
und  Lymphgefässe  —  ähnlich  wie  man  es  mitunter  an  faulenden  Cadavern  sieht ,  als 
röthlichbraune  oder  grüne  Streifen  durch  die  Haut  durch.  Dabei  sind  die  noch  nicht 
abgestorbenen  Theile  durch  entzündliches  Oedem  und  Gasentwicklung  enorm  aufgetrieben. 
Der  Allgemeinzustand  ist  der  schwerster  septischer  Apathie ;  Temperatur,  Puls  verhalten 
sich  genau  ebenso.  Nur  selten  sind  die  Kranken  aufgeregt.  Der  Tod  erfolgt  nach 
einem  liis  zwei  Tagen. 

M\  Koch  identificirt  die  Gangrene  foudroyante  mit  dem  Rausclibrand  der  Thiere. 
Bei  Rindern  namentlich  entwickelt  sich  von  einer  kleinen  Wunde  aus  Gangrän  mit 
Gas-  und  .lauchebildung ;  der  Process  schreitet  rasch  fort  und  die  Thiere  gehen  nach 
einigen  Tagen  zu  Grunde.  In  den  Brandherden  ündet  sich  ein  beweglicher  Bacillus, 
der  Geiseln  trägt  —  Bacillus  tremulus  (wegen  seiner  zitternden  Bewegung)  (Fig.  101 
nach  Srlienk).  liosenhuch  fand  in  einem  Falle  von  „progressivem  gangränösem  Emphysem" 
einen  Bacillus. 

Chiari  fand  Bacterium  coli  conunuue.  Vielleicht  kommt  auch  der  Bacillus  foeti- 
dus  (Passet),  Bacillus  neapolitanus  (Emmeridi)  und  der  Proteus  in  seinen  verschiedenen 
Varietäten  (Hauser)  in  Frage. 

Die  vorliegenden  Untersuchungen  genügen  noch  nicht  zur  Entscheidung  der  Frage. 

Beim  Hospitalbrand  (Gangraena  nosocomialis)  kennen  wir  die 
der    Krankheit    zu    Grunde    liegenden    Organismen    noch    nicht.     Der 


158  IIJ-  ^'a^l>it<;l-   —   V<;rli;t/,iiiiK':n. 

Hospitalbrand  ze'v^t  im  Anfang-  melir  localen  Charakter  in  Form  fort- 
schreitenden lirandes  der  Weichtheile.  Die  Granulationen  zeigen  zu- 
nächst   kleine    Blutungen,    belegen    sich    mit    einem    gclbgrauen    faser- 

stoftigen    croupösen  Belag,    der   fest- 

i'^iK-ioi-  haftet   lind  nicht  ohne  Blutung  abzu- 

Haarzopfähniiohe  ziclicn    ist :    dann    zerfallen  Granula- 

Geissel        Geisselmasse  .  i    t>    i  i       t       /-<  i 

tionen   und  Belag    und    die  (jranula- 
tionsfläche  wird  zum  Geschwür,    das 
von  Tag  zu  Tag  durch  Einschmelzung 
\^l  ä  \      J^  \.  *^^^'    Grranulationen    und    später    der 

^    Z^;^  1   I    ^         umgebenden    Gewebe     grösser     wird 
^  ^  {\    '^         (ulceröse     Form     des     Hospital- 

'  brandes).  Bei  der  pulpösen  Form 

EaiTschbrandbaciiien  aus  der  Biutserumcuitur.  verfallen  GranulationcH    Und    Gcwcbc 

llOOmal  vergrössert  (nach  Loffler).  .  ,        .       . 

rasch  zu  einem  schmierigen  grauen, 
oft  etwas  blutig  verfärbten  Brei,  der  sich  schwer  und  nicht  ganz  ab- 
wischen lässt.  Hier  geht  der  Zerfall  viel  rascher.  Mit  dem  Vordringen 
der  Gangrän  in  gesunde  Gewebe  stellen  sich  auch  Allgemeinerscheinungen. 
Fieber  u.  dergl.  ein ,  die  bald  mehr  einen  septikämischen  ,  bald  mehr 
einen  pyämischen  Charakter  tragen.  An  diesen  kann  der  Kranke  zu 
Grunde  gehen.  Andere  Male  bleibt  der  Process  längere  Zeit  local  und 
die  Allgemeinerscheinungen  sind  geringfügig,  Fieber  Abends  —  38"5^ 
und  39 ^  Aber  auch  hier  können  durch  die  fortschreitende  Gangrän 
schliesslich  die  Knochen  freigelegt  und  nekrotisch  werden  oder  es  werden 
grosse  Arterien  angefressen  und  die  Kranken  erliegen  schweren  Blu- 
tungen. —  Doch  kann  auch  die  Gangrän  sich  begrenzen  und  die  oft 
grossen  Defecte  kommen  sehr  langsam  zur  Verheilung,  wenn  nicht  die 
Kranken  einstweilen  an  Entkräftung  zu  Grunde  gegangen  sind. 

Die  Behandlung  ist  nicht  ganz  ohnmächtig  gegen  diese  Form  des 
Brandes,  wenn  sie  gleich  auch  nicht  immer  Erfolge  aufzuweisen  hat. 
Energische  antiseptische  Behandlung,  Umschläge  mit  Sublimatlösungen 
1  :  1000  —  wenn  nöthig  Aetzungen  mit  starken  Lösungen ,  Sublimat 
1:20,  Chlorzink  (1  :  10) ,  in  leichteren  Fällen  Jodtinctur;  oder  der 
Thermokauter  energisch  gehandhabt,  bringen  die  Gangrän  oft  zum  Still- 
stand. In  schweren  Fällen  kann  auch  die  Amputation  —  weit  vom 
kranken  Ort  entfernt  —  in  Frage  kommen. 

Eine  strenge  Antisepsis  ist  ein  absolut  sicherer  Schutz  gegen  den 
Hospitalbrand;  er  ist  —  seitdem  überall  mehr  oder  weniger  anti- 
septisch gearbeitet  wird  —  aus  der  Friedenspraxis  verschwunden. 

Die  Wunddiphtheritis  i.  e.  S.  entsteht  durch  Fortsetzung  oder 
Uebertraguug  der  SchleimhautdiphtheritiS;  d.  h.  des  Lö/Zer^schen  Diph- 
theriebacillus ,  auf  frische  Wunden.  Wunden  von  Luftröhrenschnitten 
werden  von  der  diphtheritischen  Luftröhre  aus  inficirt.  Die  Wunde  be- 
deckt sich  mit  einem  grauen  schmierigen  fibrinösen  Belag.  —  Von 
Tag  zu  Tag  vergrössert  sich  —  durch  schichtweise  Einschmelzung  der 
Gewebe  —  die  Wunde,  und  es  kann  endlich  über  die  Sternocleido- 
mastoidei  hinaus,  vom  Unterkiefer  bis  zum  Schlüsselbein,  eine  tiefe 
buchtige  diphtheri tisch  belegte  Brandfläche  sich  bilden,  in  deren  Grund 
die  Luftröhre  —  oft  mit  einem  grossen  Defect  in  der  vorderen  Wand  — 
frei  liegt,  so  dass  eine  Canüle  nicht  mehr  nöthig  ist.  In  seltenen  Fällen 
begrenzt  sich  die  Gangrän  und  kann  schliesslich  zur  Heilung  kommen. 


Hospitalbrand.  —  Sepsis  bei  Tliieren. 


159 


Auch  auf  anderen  Schleinibäuten,  besonders  der  weiblichen  Genitalien, 
kommt  Diphtherie  vor,  seltener  auf  äusseren  Wunden  (Fingerwunden, 
Heuhner). 

Die  Behandlung  der  Wunddiphtherie  besteht  in  häufig  gewechselten 
antiseptischen  Umschlägen  (Sublimat  1:3000 — 1:1000),  Bepinselung 
mit  Jodtinctur,  Bepudern  mit  Jodoformpulver.  Auch  die  subcutane 
Injection  von  Diphtherieheilserum  ist  zu  versuchen. 

Man  hat  Wunddiplitherie  und-  Hospitalbrand  zu  identificiren  gesucht  und  jene 
als  croupöse  Form  des  letzteren  angesprochen.  Die  klinische  Erfahi'ung,  dass  aus  der 
auch  heute  noch  gelegentlich  vorkommenden  Wunddiphtherie  nie  infectiöser  typischer 
Hospitalbrand  entsteht,  spricht  dagegen. 

An  den  Genitalien  kommt  in  seltenen  Fällen,  besonders  bei  Syphilitischen,  von 
einem  Chancregeschwür  ausgehend,  eine  äusserst  langsam  fortschreitende  Gangrän 
zur  Entwicklung,  deren  Erreger  ganz  unbekannt  ist.  Der  brandige  Zerfall  geht  hauptsäch- 
lich im  Unterhautzellgewebe  weiter,  die  unterminirte  Haut  stirbt  erst  secundär  ab.  Im 
Laufe  der  Monate  kann  der  Process  die  Haut  des  Bauches,  Dammes,  Gesässes  erreichen. 


In  seinen  classischen  Untersuchungen  über  die  Aetiologie  der  Wundinfections- 
krankheiten  hat  uns  Koch  mit  einigen  wichtigen  septischen  Erkrankungen  der  Thiere 
bekannt  gemacht. 

Werden  einer  Hausmaus  einige  Tropfen  faulenden  Blutes  —  ungefähr  2 — 3  Tage 
alt  —  unter  die  Eückenhaut  gespritzt ,    so  entwickeln    sich    rasch    schwere  Krankheits- 


Fig.  102. 


Fig.  103. 


Fig.  104. 


Bacillus  der  Mäuseseptikäraie 

Blut. 

Zeiss'  Immers.  '/121  Oc.  5. 


[    ^ 


Kaninchenseptikämie. 

Blut. 

Zeiss'  Immers.  Vi2>  Oc.  5. 


Bacillus  des  malignen  Oedems. 

Oedemflüssigkeit. 
Zeiss'  Immers.  '/121  Oc.  5. 


erscheinuugen,  enorme  Schwäche,  die  Athmung  wird  unregelmässig,  und  nach  4 — 8  Stun- 
den tritt  der  Tod  ein.  Im  Blute ,  namentlich  innerhalb  der  weissen  Blutkörperchen 
finden  sich  äusserst  feine  Stäbchen ,  die  oft  zu  zweien  zusammenhängen  oder  auch 
längere  Ketten  bilden  (Fig.  102).  Von  der  Injectiousfliissigkeit  ist  nur  der  geringste 
Theil  resorbirt,  es  müssen  also  Tod  und  Krankheit  durch  die  Aufnahme  eines  von  der 
Impfstelle  aufgesaugten  löslichen  Giftes  entstanden  sein.  Auf  Feldmäuse  lässt  sich  die 
M  ä  u  s  e  s  e  p  t  i  k  ä  m  i  e  nicht  übertragen . 

Bei  Kaninchen  erzeugte  Koch  durch  Injection  von  Faulflüssigkeit  oder  stagni- 
rendem  Flusswasser  die  Krankheit  der  sogenannten  Kaninchenseptikämie.  Hier 
entsteht  starke  örtliche  Entzündung,  sehr  hohes  Fieber  und  unter  zunehmender  Schwäche 
erfolgt  der  Tod.  —  Als  Träger  der  Krankheit  wurde  ein  überaus  feiner  und  zierlicher, 
in  der  Mitte  etwas  verjüngter,  hanteiförmiger  Bacillus  erkannt,  durch  dessen  Züchtung 
auf  Gelatine  und  Impfung  die  Krankheit  weiter  übertragen  werden  kann  (Fig.  103). 
Der  Bacillus  lindet  sicli  vorwiegend  im  Blut,  besonders  reichlich  in  den  Capillaren 
drüsiger  Organe.  Grobe  "Veränderungen  in  den  Organen  fehlen ,  wie  bei  der  mensch- 
lichen Septikämie. 

Indem  wir  die  übrigen  von  Koch  künstlich  erzeugten  entzündlichen  und  septischen 
Processe  bei  Thieren  —  als  die  vorliegende  Frage  nicht  uniiiitt(dl)ar  berührend  —  bei 
Seile  lassen,  sei  nur  noch  —  als  Analogon  der  Gangrene  foudroyante  —  des  „malignen 
Oedems"  gedacht.  Die  ersten  Infectionen  erfolgten  mit  Aufgüssen  aus  Gartenerde. 
Erreger  der  Krankheit  ist  ein  grosser,  plumper,  kurzer  und  dicker,  bewegliclier  Bacillus, 
der  sich  gerne  zu  langen  Fäden  aneinanderlegt  und  meist  intensive  Sporenbildung  zeigt 
(Fig.  104).  Der  Bacillus  keimt  nur  im  Ki-rn  der  Gelatine,  ist  also  anaerobisch  (Hesse),  und 
verflüssigt  dieselbe  unter  Entwicklung  stinkenden  Gases  (Fig.  105).    —   An  der  Impfstelle 


160 


III.  Cajjitel.  —  Verletzungen. 


Fig.  105. 


Gasblasen  in  den 
Colonien 


Flüssige  Kugeln 
(Colonien) 


erzeugt  er  ein  fortschreitendea  Ijlutig-scröses  (Jedem  ;    unter    sehweren  Allgemeinerschei- 
nungen erfolgt  der  Tod. 

Bei  der  „progressiven  Gangrän"  der  Mäuse  und  der  ^progressiven  Abscessbildung" 
der  Kaninchen  fanden  sich  Mikrokokken. 

Die  septischen  Processe  sind  bacteriologiscli  noch  nicht  klar- 
gestellt, umsoweniger,  als  Mischformen  nicht  selten  sind,  z.  B.  zwischen 

Pyämie  und  Septikämie  fSeptico- 
pyämie).  Manche  Infection ,  nament- 
lich puerperale  Infection,  beginnt  als 
zweifellose  Septikäraie ,  um  schliess- 
lich, nachdem  Schüttelfröste  und  Me- 
tastasen eingetreten  sind,  als  Pyämie 
zu  enden.  Am  klarsten  sehen  wir 
noch  bei  der  typischen  metastatischen 
Pyämie.  Hier  finden  sich  stets  Mikro- 
organismen ,  allerdings  nicht  blos 
Streptokokken,  sondern  auch  häufig 
Staphylokokken.  Anders  bei  der  Septi- 
kämie,  hier  sind  wohl  meist  Staphylo- 
kokken gefunden  worden,  Monad  und 
Macaigne  haben  aber  auch  Strepto- 
kokkenseptikämien  gesehen.  In  einem 
nicht  kleinen  Theil  der  Fälle  sind 
aber  auch  von  ganz  exaeten  Forschern, 
die  Bacterien  wohl  zu  finden  wissen, 
wenn  sie  da  sind ,  keine  Mikroorga- 
nismen in  Blut  und  Geweben  gefunden 
worden ;  so  u.  A.  von  Hahn  und  Brieger 
(Virchoiv's  Arch.,  133  Bd.). 

Man  hat  deshalb  eine  reine  In- 
toxicationssepsis  angenommen ,  eine 
Vergiftung  nur  durch  die  (vielleicht 
in  einem  kleinen  Herde  gebildeten) 
Toxine  —  etwa  analog  dem  Tod  durch 
Tetanustoxin. 

Eine  eigenartige,  nur  zum  Theil  ge- 
nügend gestützte  Ansicht  vertritt  Canon 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  37  und  a.  a. 
0.).  —  Die  Unterschiede  zwischen  Pyämie  und. 
Septikämie  sind  nicht  in  der  Verschieden- 
artigkeit der  Bacterien  begründet.  Bei  der 
P^'ämie  findet  sich  keine  Infection  des  Bluts, 
hei  der  Septikämie  ist  die  Vermehrung  der  Eiter- 
kokken im  Blute  die  Hauptsache  (?)  (vgl.  oben). 
AVo  man  in  der  mit  der  Pra«;a^'schen  Spritze 
aus  den  Armvenen  entnommenen  Blutprobe 
durch  Züchtung  Kokken  nachweisen  kann,  be- 
steht Sepsis  ('?).  Bei  Phlegmone  und  Wundfieber 
fand  er  nie  Kokken  im  Blut  (?)  (vergl.  v.  Eisels- 
hcrg,  pag.  140 ,  Brieger).  Bei  der  Pj'ämie 
werden  die  Kokken  nur  durch  das  Blut  hindurchgeschleppt  in  grösseren  Embolis ,  die 
dann  —  festgefahren  —  Metastasen  machen.  Bei  Sepsis  sollen  die  Emboli  nur  kleiner 
sein.  Bei  Sepsis  soll  die  Virulenz  der  Kokken  eine  so  grosse  oder  die  Infection  eine 
so  massenhafte  sein  (?),  dass  die  bactericide  Kraft  des  Blutes  versagt  und  die  Kokken 
im  Blute   weiterwachsen.  Doch  gibt  e.s  auch  Fälle  von  reiner  Intoxicationssepsis. 


Anaerobe  Ciiltur  des  Bacillus  oedematis 
maligni  in  Glycerin-Agar 
(nach  Fraenkel  und  Pfeiffer). 


Aetiologie  der  septischen  Processe.  161 

Die  Toxine  machen  das  Eiterfieber,  die  Entkräftung,  schwächen  die  Widerstands- 
fähigkeit des  Organismus  und  des  Blutes  und  bereiten  so  den  Kokken  den  Boden,  dass 
sie  im  Blute  wachsen  können. 

Die  Incongruenz  der  klinischen  Krankheitsbilder  und  der  bacteriologischen  For- 
schungen haben  Kocher  und  Tavel  veranlasst,  ganz  auf  der  Bacteriologie  fussend,  die 
alten  klinischen  Begriffe  fallen  zu  lassen  und  bacteriologische  Einheiten  —  Staphylo- 
mykosen,  Streptomykosen  etc.  —  aufzustellen.  Es  bleibt  abzuwarten,  ob  der  —  an 
sich  gerechtfertigte  —  Versuch  gelingt. 

Die  wesentlichen  Erreger  septischer  und  pyämischer  Processe  sind 
die  Staphylokokken  und  Streptokokken,  wie  sie  auch  einem  grossen 
Theil  der  Fleischvergiftungen  zu  Grunde  zu  liegen  scheinen. 

Pyämieähnliche  Zustände  sind  auch  durch  Bacillus  pyocyaneus  (vergl.  pag.  139) 
und  Saccharomyces  {Busse,  Chir.  Centrbl.  95,  Nr.  42)  verursacht  worden. 

Der  gewöhnliche  Fäulnisserreger  (Proteus  vulgaris  Hauser)  in 
seinen  3  Varietäten  scheint  bei  dem  Zustandekommen  der  septischen 
und  pyämisehen  nur  eine  untergeordnete  oder  genauer  gesagt  keine 
Rolle  zu  spielen,  wenn  auch  er  sowohl  (Brunner),  wie  das  Bacterium 
coli  und  der  Bacillus  enteritidis  (Luharsch)  gelegentlich  Fälle  von  Sepsis 
hervorzurufen  im  Stande  sind.  Auch  die  gasbildenden  Kapselkokken  sind 
von  Ernst ,  E.  Eränliel ,  v.  Düngen  bei  septischen  Processen  gefunden 
worden. 

Sehen  wir  von  den  seltenen  Fällen  ab ,  wo  septische  Zustände 
durch  andere  Mikroorganismen  —  Bacterium  coli ,  Proteus ,  Bacillus 
tremulus  etc.  (vergl.  pag.  157)  hervorgerufen  werden,  so  begegnen  uns 
bei  all  den  bisher  besprochenen  klinischen  Krankheitsformen  immer 
nur  :<f  Mikroorganismen-Gattungen  —  Staphylokokken  und  Streptokokken. 
Die  von  BiUroth  schon  vor  Jahrzehnten  aufgestellte  Ansicht,  dass  die 
einfache  Wundeutzündung  und  die  schwerste  Blutvergiftung  dem  Wesen 
nach  verwandte,  nur  dem  Grade  nach  verschiedene  und  durch  Neben- 
umstände anders  gestaltete  Processe  seien,  hat  also  durch  die  neueren 
Untersuchungen  volle  Bestätigung  gefunden. 

Ueber  die  Frage,  weshalb  wir  nun  —  bei  Anwesenheit  derselben 
Gattung  von  Mikroorganismen  —  das  eine  Mal  schwerste  Sepsis,  das 
zweite  Mal  eine  leichte  Wundentzündung,  das  dritte  Mal  gar  keine 
Veränderung  haben  ,  darüber  ist  völlige  Klarheit  noch  nicht  erreicht. 
Zu  beachten  sind  verschiedene  Punkte.  —  Bei  der  Eiterung,  pag.  29, 
haben  wir  gesehen,  dass  auch  zum  Zustandekommen  der  Eiterung  ver- 
schiedene begünstigende  Umstände  zusammenwirken  müssen  und  dass 
die  einfache  Uebertragung  von  Staphylo-  oder  Streptokokken  auf  eine 
Wunde  nicht  zum  Zustandekommen  der  Eiterung  genügt  (vgl.  auch 
l)ag.  140,   ScJrh)n))eIbi(scli}. 

Ein  wichtiger  Punkt  ist  ferner  das  Schwanken  der  Virulenz.  Durch 
Anti-  und  Asepsis  wird  die  Virulenz  der  Staphylo-  und  Streptokokken 
so  herabgesetzt,  dass  sie  leicht  von  den  Schutzkräften  des  Organismus 
überwunden  werden .  während  bei  manchen  Infectionen  besonders 
virulente  Kokken  in  Wirksamkeit  treten,  vergl.  die  erhöhte  Virulenz  der 
Streptokokken  der  ])uerperalen  Sepsis  (Goldscheider).  —  Auch  die  Menge 
der  zugleich  übertragenen  Infectionskeime  ist  sicher  von  Wichtigkeit  5 
dann  ob  gleichzeitig  Toxine  mit  übertragen  werden  (vergl.  pag.  29,  Rinne). 
Dann  kommt  die  Stelle  der  Infection  in  Betracht,  ob  auf  der  breiten 
Resorptionsfläche  des  Peritoneum,  wo  in  Wasser  lösliche  Stoffe  rasch 
und  massenhaft  aufgesaugt  und  unschädlich  gemacht  werden ,    oder  an 

J^andoror,  Allg.  chir.  l'atholngif  u.  Theraiii«.-.  2.  Aufl.  11 


162  I^i-  Capitel.  —   Verletzungen. 

der  Pulpa  des  Fingers,  wo  die  Resorptionsbedingungen  viel  ungünstiger 
sind ;  ob  in  einem  weithin ,  von  stagnirendem  Urin  durchtränkten 
Gewebe,  ob  in  gesunden  Geweben  oder  in  solchen,  welche  durch  eine 
schwere  Verletzung  schon  halb  abgestorben  sind,  ob  die  Infection  in 
einen  „todten  Winkel" ,  wo  die  Schutzkräfte  des  Organismus  nicht 
wirken  können  (vergl.  pag.  29) ,  erfolgt,  ob  in  eine  Vene  oder  Arterie 
(vergl.  pag,  151  Pyämie  und  pag.  37),  ob  in  Weichtheile  oder  die  Mark- 
höhle des  Knochens ,  ob  an  Stellen  mit  langsamer  oder  lebhafter  Cir- 
culation  und  Resorption  (pag.  30). 

Auch  der  Zustand  des  Gesammtorganismus  ist  von  grosser  Wichtig- 
keit (vergl.  pag.  29  und  133),  ob  die  natürlichen  Schutzkräfte  des 
Organismus  durch  Krankheit,  Blutverlust,  Narkose  u.  s.  w,  herabgesetzt 
sind.  Hier  harren  noch  viele  Punkte  der  Erledigung. 


Wundstarrkrampf    (Tetanus).    —    Thierkrankheiten,    welche    auch    auf   den 

Menschen  übertragen  werden  können.  —  Rotz,    Milzbrand,    Actinomykosis,    Lyssa 

(Hundswuth).  —   Schlangen-  und  Insektenbisse. 

Der  Wundstarrkrampf,  Tetanus,  Trismus  befällt  die 
Krauken  mitten  in  vollem  Wohlbefinden,  in  jedem  Stadium  der  Wund- 
heilung, selbst  nach  vollendeter  Heilung.  Erfrierungen  und  mit  Erde, 
Stallschmutz  etc.  verschmierte  W^unden  sind  besonders  zum  Tetanus 
disponirt.  Auch  von  der  Nabelwunde  Neugeborener  geht  er  häufig  aus. 
Die  Fälle  von  Tetanus  häufen  sich  bisweilen  zu  kleinen  Epidemien, 
um  dann  wieder  für  Monate  oder  Jahre  zu  verschwinden. 

Die  erste  Klage  des  Kranken  sind  Schwierigkeiten  beim  Oeffnen 
des  Mundes,  Kieferklemme,  Trismus.  Natürlich  müssen  entzündliche 
Zustände  im  Munde  und  Rachen  als  Ursache  der  Schwerbeweglich- 
keit der  Kiefer  ausgeschlossen  werden  können.  Charakteristisch  für 
Trismus  ist  die  brettharte  Contraction  der  Kaumuskeln,  besonders  der 
Masseteren. 

Die  Weiterentwicklung  der  Krankheit  ist  zeitlich  ungemein  ver- 
schieden ,  bald  eine  überaus  stürmische  —  so  dass  jede  Stunde  eine 
neue  Verschlimmerung  bringt  —  bald  eine  sehr  langsame,  wo  in  Tagen 
und  Wochen  nur  wenig  sich  ändert.  Praktisch  ist  die  Trennung  des 
Tetanus  in  eine  acute  und  chronische  Form  nicht  nur  erlaubt, 
sondern  geradezu  geboten. 

Beim  acuten  Tetanus  ist  die  Kieferklemme  schon  nach  wenigen 
Stunden  stärker,  dabei  klagt  der  Kranke  auch  über  Schwierigkeiten 
beim  Schlucken,  der  Hinterkopf  bohrt  sich  in  die  Kissen,  so  dass  das 
Gesicht  nach  oben  gewendet  ist.  Auch  im  Nacken  fühlt  sich  die 
Musculatur  hart  und  gespannt  an.  Die  Gesichtsmuskeln  fangen  an 
sich  zu  betheiligen;  indem  sie  sich  dauernd  tetanisch  zusammen- 
ziehen, verleihen  sie  dem  Gesichtsausdruck  etwas  eigenthümlich  Starres, 
Maskenhaftes.  Der  obere  Theil  des  Gesichts  bis  zu  den  Augen  erlangt 
durch  die  Contraction  der  Mm.  frontales  u.  s.  w.  oft  etwas  Schmerzliches 
im  Ausdruck,  der  untere  dagegen  gibt  durch  die  Zusammenziehung 
der  um  Mund  und  Nase  liegenden  mimischen  Muskeln  den  Schein  des 
Lächelns.  So  gewinnt  das  Gesicht  oft  ein  grauenhaftes,  fast  medusen- 
artiges Ansehen. 


Tetanus.  Iß3 

Die  übrigen  Miiskelgruppen  des  Körpers  werden  meist  —  doch 
nicht  ganz  regelmässig  —  in  einer  gewissen  Reihenfolge  ergriffen. 
Zunächst  kommen  die  ßückenmuskeln ,  namentlich  die  Rückenstrecker 
daran.  Die  Kranken  liegen  in  Folge  dessen  mit  dem  Rücken  fast  ganz 
hohl  und  nur  der  Hinterkopf  und  das  Becken  liegen  auf  der  Matratze 
auf  (Opisthotonus).  Doch  ist  die  tetanische  Contraction  der  Muskeln 
keine  ganz  gleichmässige ;  es  kommen  Anfälle  von  Starre  von  einigen 
Minuten  Dauer  —  oft  auf  eine  geringfügige  äussere  Erschütterung  hin, 
einen  Stoss  an's  Bett,  einen  harten  Tritt  —  und  dann  wieder  Pausen, 
in  welchen  die  Contraction  anfangs  ganz  schwindet,  im  späteren  Verlauf 
wenigstens  nachlässt.  —  Einstweilen  hat  sich  auch  der  übrige  Zustand 
des  Kranken  wesentlich  geändert.  Vor  Allem  geht  die  Temperatur 
rasch  in  die  Höhe  bis  40°,  41°;  der  Puls  steigt  ihr  entsprechend;  ein 
reichlicher  Schweiss  bedeckt  den  Kranken,  der  von  den  beständigen 
Krampfanfällen  schnell  erschöpft  wird.  Von  genügender  Ernährung  und 
Schlaf  ist  keine  Rede  mehr.  —  Nun  kommen  die  Bauchmuskeln  au 
die  Reihe.  Wenn  sie  sich  brettartig  spannen  und  den  Leib  einziehen, 
so  fängt  die  Respiration  an  mühsam  zu  werden.  Das  Ende  wird  ein- 
geleitet durch  die  Mitbetheiligung  der  Respirationsmuskeln.  Wenn  die 
Starre  der  Intercostalmuskeln  noch  einige  Zeit  ertragen  werden  kann, 
so  treten  bei  Tetanus  des  Zwerchfells  sofort  die  schwersten  Erstickungs- 
anfälle ein ,  der  Kranke  wird  dunkelblau ,  der  Puls  verschwindet. 
Beim  ersten ,  auch  nach  dem  zweiten  schweren  Anfall  stellt  sich  viel- 
leicht die  Athmung  wieder  ein ,  der  nächste  Anfall  nimmt  dann  den 
Kranken  um  so  sicherer.  Die  Extremitätenmuskeln  bleiben  meist  frei; 
jedenfalls  erreicht  die  Starre  derselben  nie  einen  beträchtlichen  Grad. 
In  den  letzten  Perioden  erhebt  sich  die  Temperatur  zu  excessiven 
Höhen,  42—43".  Sie  steigt  auch  nach  dem  Tode  noch  und  ist  bei 
postmortaler  Temperatursteigerung  im  Tetanus  als  höchste  überhaupt 
bekannte  Temperatur  von  Wunderlich  44"7°  gemessen  worden. 

Die  ganze  Scene  spielt  sich  in  den  schwersten  Fällen  binnen 
24 — 36  Stunden  ab;  länger  als  3 — 4  Tage  dauern  die  acuten  Fälle 
selten. 

Bei  den  chronischen  Fällen  kommt  es  nicht  zur  Entwicklung 
des  vollen  Bildes.  In  einigen  Tagen  nimmt  der  Trismus  langsam  zu,  es 
schliessen  sich  Schlingbeschwerden  und  etwas  Nackenstarre  an,  eine  Mit- 
betheiligung der  Rückenstrecker  ist  selten  und  die  Bauch-  und  Athmungs- 
musculatur  wird  nicht  ergriffen.  Die  Temperatur  bleibt  normal,  das  All- 
gemeinbefinden ist  nur  durch  die  Schwierigkeiten  der  Ernährung  und 
des  Aushustens  gestört.  Langsam,  wie  die  Erscheinungen  gekommen, 
schwinden  sie  wieder  und  nach  6 — 10  Wochen  ist  der  Kranke  gesund; 
einen  ungünstigen  Ausgang  habe  ich  —  von  Complicationen  natürlich 
abgesehen  —  in  diesen  langsam  sich  entwickelnden  Fällen  von  Tetanus 
(oder  eigentlich  „Trismus"  i.  e.  S.)  nicht  gesehen. 

AlsTetanus  hy  drophobicus  oder  Kopf  tetanu  s  ist  von  Hose  eine  eigene 
Form  des  Tetanus  besclirieben,  welclie  sich  nach  Verletzungen  des  Kopfes  im  Gebiete 
der  12  Hirnnerven  einstellt.  Ausser  Trismus  ist  eine  Lähmung  des  der  Wunde  gleich- 
seitigen Facialis  zu  constatiren,  ferner  Schlundkrämpfe,  welche  sich  besonders  bei  jedem 
Versuche  zu  schlucken  einstellen  und  dem  Zustand  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  der 
Wasserscheu  (Hundswuth)  verleihen.  Die  verletzte  Seite  ist  stärker  befallen.  Der 
gi-össere  Theil  der  Fälle  wurde  geheilt.  Die  übrigen  starben  unter  AVeiterentwickelung 
der  tetanischen  Erscheinungen  (Brunner,  Beiträge  zur  klinischen  Chir.,  Bd.  IX — XI.) 
{Klemm,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  XXlXj. 

1  ]  * 


164 


IIL  Capitel.  —  Verletzungen. 


An  den  Wunden  Tetanischer  zeigen  sich  wesentliche  Veränderungen 
nicht.  Die  Sectionsergebnisse  bei  Tetanus  sind  bisher  makroskopisch 
so    ziemlich    negativ    gewesen    (Röthungen    längs    den    zu    der  Wunde 


Fig.  lOG. 


Fig.  107. 


f     i? 


Tetanusbacillen  mit  endständigen  Sporen. 


gehenden  Nerven ,  aufsteigende  Neu- 
ritiden ;  Hyperämien ,  Kernvermeh- 
rungen im  Sympathicus,  im  Rücken- 
mark?). 

Die  Aetiologie  des  Tetanus  ist 
durch  Nicolaier ,  Rosenbach  ^  Kitasato 
u.  A.  festgestellt  worden.  Die  Tetanus- 
bacillen sind  schlanke  borstenförmige 
Stäbchen  mit  endständigen  Sporen 
(Köpfcheusporen)  Fig.  106.  Die  Tetanus- 
bacillen sind  streng  anaerob,  wachsen 
unter  Luftausschluss  auf  den  gewöhn- 
lichen Nährböden,  Fig.  107  anaerobe 
Tetanuscultur  in  Gelatine  mit  2Vo 
Traubenzucker  (nach  Fraenkel). 

Sie  halten  eine  Temperatur  von 
80^  aus  und  sind  überhaupt  sehr 
widerstandsfähig  gegen  äussere  Ein- 
flüsse, werden  jedoch  durch  Wasser- 
dampf von  100°  in  5  Minuten  getödtet, 
gehen  also  bei  aseptischer  Behandlung 
(nicht  aber  bei  der  üblichen  Antisepsis) 
zu  Grunde. 

Die  Tetanusbacillen  sind  sehr 
verbreitet  in  der  Aussenwelt,  in  Garten- 
erde, Ställen  (Häufigkeit  bei  Pferden) 
u.  s.  w.  Symbiose  mit  Eiterkokken 
scheint  ihre  Entwicklung  zu  begün- 
stigen. Die  Bacillen  finden  sich  meist 
nur  in  der  Wunde  und  ihrer  nächsten 

Umgebung.  Der  Tetanus  bietet  also  das  Beispiel  einer  Intoxication 
von  einem  kleinen  Herd  aus  —  im  Gegensatz  zu  den  Infectionen  des 
Gesammtorganismus.  (Vergl.  pag.  160,  Pyämie  und  Sepsis.) 

Die  Tetanusbacillen  erzeugen  ein  äusserst  heftiges ,  in  seinen 
Wirkungen  dem  Strychnin  sehr  ähnliches  Gift ,  das  Tetanustoxin ,  das 
von  Buchner  u.  A.  als  weisses  Pulver  rein  dargestellt  ist.  Das  Gift 
befällt     nicht     die    Muskeln    direct,     sondern    die    nervösen    Centren 


Anaerobe  Gelatinecultur   des  Tetanusbacillus 
(nach  Fraenkel  und  Pfeiffer). 


BehandluDg  des  Tetanus.  X55 

'(Brunner,  1.  c).  Die  Erregbarkeit  der  sensiblen  Nerven  ist  gesteigert, 
die  der  motorischen  nicht  (Counnont  et  Doijon,  ref.  Ch.  C.  Bl.  94,  29). 
Das  Tetanustoxin    scheint   überaus   langsam  ausgeschieden  zu  werden. 

Die  Asepsis  scheint  eine  sicherere  Prophylaxe  des  Tetanus  zu 
geben  als  die  Antisepsis. 

Die  Behandlung  des  acuten  Tetanus  ist  auch  jetzt  noch 
ziemlich  aussichtslos ,  die  des  chronischen  unnöthig.  Entwickeln  sich 
die  Erscheinungen  rasch,  so  ist  die  Prognose  eine  sehr  trübe ;  versucht 
ist  viel  worden,  hauptsächlich  die  Narcotica  und  die  lähmenden  Mittel, 
Morphium,  Chloralhydrat  (von  vielen,  z.  B.  Berger,  sehr  gelobt),  Sulfonal, 
Trional,  Bromkali,  Atropin,  Chloroform,  Curare  selbst  bis  zur  Athem- 
lähmung  mit  Einleitung  künstlicher  Athmung.  Morphium  in  grossen 
Dosen  oder  häufig  wiederholtes  leichtes  Chloroformiren  mildern 
wenigstens  die  Beschwerden. 

Man  hat  beim  acuten  Tetanus  eine  örtliche  (causale)  Therapie 
(Th.  der  Infection)  zu  befolgen  — ■  bestehend  in  Freilegung  der 
Wunde  mit  Auskratzen,  Ausbrennen  mit  dem  Thermokauter,  Ausätzen 
mit  Jodtinctur,  1 — 2%iger  (frisch  bereiteter)  Lösung  von  Jodtrichlorid 
u.  dergl.  Es  kann  auch  Amputation  in  Frage  kommen.  Die  Therapie 
der  Intoxicatiou  strebt  eine  möglichst  rasche  Ausscheidung  des  Giftes  an 
durch  reichliches  Trinken,  eventuell  subcutane  und  intravenöse  Infusion 
von  Kochsalzlösung  (pag.  121  ff.),  schweisstreibende  Mittel,  und  ferner  die 
oben  genannten  Narcotica  (Sahli).  Die  Behandlung  mit  Tetanusantitoxin 
nach  Tizzoni  und  Cattani  (Berl.  Klin.  Wochenschr.  93.  49—52  und 
94.  2)  soll  angeblich  die  Mortalität  von  80— 90%  auf  20Vo  herab- 
drücken ,  während  Älbertoni  (Ther.  Monatsh.  92.  9)  bei  ganz  ver- 
schiedener Behandlung  von  176  Tetanuskrankeu  136  =  7(S*9%  heilen 
sah  (I).  Tizzoni  und  Cattani  geben  pro  Fall  0*7 — 2*10  Ccm.  stärksten 
antitoxischen  Serums  oder  0'05 — 10 — 12  Grm.  des  alkoholischen  Nieder- 
schlags und  desinficireu  dabei  die  Wunde  mit  saurer  Sublimatlösung, 
Arg.  nitr.  oder  kauterisiren.  Büchner  hat  das  Tetanusantitoxin  als  weisses 
amorphes  Pulver  dargestellt.  —  Die  Verfechter  des  Tetanusantitoxins 
vernachlässigen  völlig  die  totale  prognostische  Verschiedenheit  des  acuten 
und  chronischen  Tetanus.  Schon  der  subacute  Tetanus  bietet  ohne  jede 
Tlierapie  wesentlich  bessere  Prognose. 

Der  chronische  Tetanus  braucht  vom  Arzte  nur  sorgfältig  über- 
wacht zu  werden.  Geht  die  Ernährung  nicht  mehr  durch  den  Mund, 
so  ist  die  Schlundsonde  durch  die  Nase  einzuführen.  Häuft  sich 
bronchitisches  Secret  an,  welches  nicht  ausgeworfen  werden  kann,  und 
droht  dadurch  Lungenentzündung  zu  entstehen ,  so  ist  der  Luftröhren- 
schnitt  zu  machen. 

Wir  fügen  noch  die  Besprechung  einiger  baoterieller  Krankheiten 
an,  die  man  allerdings  nicht  zu  den  accidentellen  Wundkrankheiten  im 
engeren  Sinn  reclmcn  kann ,  da  sie  sich  nie  an  grössere  Operationen 
anschliesscn.  Sie  verdanken  jedocli  ausnahmslos  ihre  Entstehung  der 
Uebertragung  durch  eine  Wunde.  Meist  sind  dieselben  auf  Thieren 
heimisch,  infcctiösc  Tliicrkrankheiten  (Kpizootien)  und  kTinnen 
gelegentHcli  auf  den  Menschen  übertragen  werden. 


]^g6  I^I-  <^'apitel.  —  Voilctzung<;ii. 

Bei    Pferden,    Eseln  u.  dergl.  endemisch    ist   der   Rotz  (Malleus, 

Influenza).  In  seltenen  Fällen  wird,  namentlich  durch  die  Ausflüsse  der 

Nase  und  des  Mauls,  die  Krankheit  auf  Pferdewärter  u.  dergl.  übertragen. 

Der    Träger    der    Krankheit    ist    der    Rotzbacillus   (vergl.  Fig.  108),    ein    knrzer, 

schlanker,  nach  den  gewöhnlichen  Methoden  ohne  besondere  Mühe  zu  züchtender  Bacillus. 

Er   ist   an   den  Ecken   abgerundet  und  ähnelt 
Fig.  108.  dadurch    einem     langgestreckten    Coccus.     Er 

#  nimmt    die    Anilinfarbstoffe    leicht    an,    gibt 

@  sie  aber  bei  Gram'scher  Färbung  wieder   ab. 

®  m®-     ^ '  V      ©                  ^^^     klinische     Bild     des 

0     X  (^            Rotzes  gleicht  am  ehesten  dem  einer 

{'                 ©  /^                  ganz  rapid    und  schwer  verlaufenden 

^      %  "^         @        Syphilis.  Als  Eingangspforten  dienen 

^fe         ^        Q  kleine  Verletzungen  an  Händen  oder  im 

^  ®        @  ^  ^           Gesicht.  Hier  bildet  sich  nach  wenigen 

Tagen   der  erste  Rotzknoten,   eine 

Kotzbacillen  im  Menschenblute  (nach  v.  Jaksch).     länglichc,  zicmllch  WCichc,  CntzÜndHche 

Anschwellung,  deren  Decke  rasch  zer- 
fällt, und  nun  wandelt  sich  das  Ganze  um  in  ein  buchtiges,  blutige 
Jauche  absonderndes  Geschwür  mit  überhängenden ,  stellenweise  aus- 
gefressenen Rändern  und  infiltrirtem  umgebenden  Wall.  Die  Krankheit 
kann  local  bleiben  oder  vielleicht  in  den  nächsten  Lymphdrüsen,  die 
gleichfalls  zu  grossen  Knoten  anschwellen ,  Halt  machen  und  schliess- 
lich zur  langsamen  Ausheilung  kommen.  Oder  sie  verallgemeinert  sich, 
indem  die  Infection  durch  die  Lymphbahnen  in  die  Blutcirculation  ein- 
bricht 5  häufiger  greift  der  Rotz  auf  Venen  über ,  erzeugt  hier  Throm- 
bosen und  metastasirt,  wie  die  Pyämie,  durch  Embolie.  Es  entstehen 
dann  massenhafte ,  zur  Eiterung  neigende  Rotzknoten ,  vorwiegend  in 
den  Lungen  und  den  Respirationswegen,  begleitet  von  eiterigem  Aus- 
wurf; häufig  sind  Muskelabscesse  und  Periostsch wellungen ,  ebenso 
Gelenkergüsse,  die  dann  auch  vereitern;  seltener  finden  sich  Knoten 
in  Hoden,  Nieren,  dann  furunkelartige  Hautknoten  mit  Neigung  zu 
raschem  Zerfall  und  Geschwürsbildung.  Bei  diesen  acuten  Fällen  fehlt 
auch  ein  schweres  fieberhaftes  Allgemeinleiden  nicht  und  so  kann  die 
Rotzkrankheit  Aehnlichkeit  mit  Pyämie,  Abdomiaaltyphus^  Osteomyelitis, 
selbst  rapid  verlaufender  Tuberculose  gewinnen.  - —  Der  Kranke  geht 
nach  Wochen,  in  Fällen  chronischen  Rotzes,  wo  die  Einbrüche  in  die 
Circulation  nur  langsam  und  schubweise  erfolgen ,  nach  Monaten  oder 
einem  Jahre  zu  Grunde. 

Beim  chronischen  Rotz  oder  Wurm  bleibt  die  Aeusserung 
der  Krankheit  mitunter  lange  Zeit  auf  einzelne,  nicht  heilende  Geschwüre 
beschränkt,  wo  eines  sich  oft  in  Rosenkranzform  an's  andere  reiht. 
Diese  Geschwüre  werden  bisweilen  lange  als  tuberculose  oder  syphili- 
tische behandelt. 

Für  die  Diagnose  ist  der  Nachweis  der  Ansteckung  wichtig. 
Auch  der  Nachweis  der  Bacillen  im  Eiter  durch  Züchtung  ist  gelungen. 

Wichtig  ist  die  Straus'sche  Probe.  Eine  Aufschwemmung  des  zu  prüfenden 
Materials  wird  einem  männlichen  Meerschweinchen  in  der  Linea  alba  in  die  Bauchhöhle 
eingespritzt.     Ist  es  Eotz,  so  schwellen  in  2 — 3  Tagen  die  Hoden  an. 

Die  Behandlung  ist  wenig  aussichtsvoll.  Ausätzen  und  Aus- 
brennen der  Knoten  kann  vielleicht,  wie  die  Ausschneidung  der 
syphilitischen  Initialaffection,  der  Verallgemeinerung  vorbeugen.    Sonst 


Eotz.  —  Maul-  uud  Klauenseuche.  j^57 

bleibt  nur  Sorge  für  Erhaltnug"  der  Kräfte;  vielleicht  könnte  Arsenik 
versucht  werden.  Da  auch  das  einfache  Rotzgeschwür  sich  jederzeit 
mit  Allgemeinerscheinungen  compliciren  kann  ,  ist  die  Prognose  stets 
mit  äusserster  Vorsicht  zu  stellen.  Chronischen  Rotz  habe  ich  mehrfach 
ausheilen  gesehen.  Mallem  (Babes),  nach  Art  des  Tuberculins  hergestellt, 
soll  Immunisirung,    aber  nicht  Heilung  des  übertragenen  Rotzes  ergeben. 


Auch  die  Maul-  und  Klauenseuche  des  Rindviehs  wird  durch 
Milch,  Butter,  Käse  auf  Mensehen  in  einzelnen  Fällen  übertragen. 
Nach  3 — 4tägiger  Incubation  entstehen  Entzündungen  in  Mund-  und 
Rachenhöhle,  Dermatiten.  (Ebstein^  D.  Med.  Wochenschr.  96.  10.) 


Eine  gleichfalls  vom  Thier  auf  den  Menschen  übertragene 
Infectionskrankheit  ist  der  Milzbrand. 

Er  findet  sich  vorwiegend  bei  Rind  und  Schaf,  ist  jedoch  auf  alle  Hausthiere, 
schwieriger  auf  Vögel  und  Kaltblüter  zu  übertragen.  In  gewissen  Bezirken  ist  er 
endemisch  und  es  fallen  ihm  dort  jährlich  nicht  unbeträchtliche  Zahlen  Rindvieh  und 
Schafe  zum  Opfer.  Er  haftet  am  Boden  gewisser  Bezirke  und  scheint  hier  auch  ausser- 
halb des  thierischen  Organismus  existiren  zu  können. 

Die  Ursache  des  Milzbrandes  ist  der  bekannte  Milzbrandba- 
cillus,  der  am  längsten  als  Krankheitserreger  bekannte  Mikroorganis- 
mus {Pollender  1849,  Brauell  1851,  Davaine  1857).  Er  ist  ein  langer 
schlanker  grosser  Bacillus.  In  Nährlösungen  wächst  er  zu  langen  Fäden 
heran,  ebenso  im  Gewebe,  wo  er  wenig  Widerstand  findet,  z.  B.  in 
der  Milz.     Er  bildet  endogene  Sporen. 

Fig.  109«  Milzbraudbacillen  von  einem  Milzausstrich.  109  J  ist  eine  Reincultur 
im  Stadium  üppiger  Sporenbildung.  Fig.  109c  (Reincultur,  Deckglas  überhitzt)  sind 
nur  die  Sporen  gefärbt ,  die  Substanz  der  Stäbchen  ist  ungefärbt  geblieben.  Zeiss 
Immers.  Vi-j,  Oc-  5.     Fig.  110  zeigt  eine  Gelatinestichcultur  am  4.  Tage. 

Der  Milzbrand  bleibt  innerhalb  weiter  Temperaturgrenzen  (18<^ 
bis  40° C.)  entwicklungsfähig,  ebenso  ist  er  auch  nicht  an  den  Thier- 
kürper  gebunden,  sondern  findet  im  Boden,  vielleicht  auch  im  Wasser 
von  Tümpeln,  Teichen,  Sümpfen  die  nöthigen  Existenzbedingungen, 

Die  Ueb  er  tragung  des  Milzbrandes  auf  den  Menschen  erfolgt 
nicht  immer  in  derselben  Weise  und  der  Verschiedenheit  der  Infection 
und  Localisation  entsprechen  auch  verschiedene  klinische  Bilder.  —  Am 
häufigsten  —  und  diese  Form  interessirt  uns  Chirurgen  auch  am 
meisten  —  handelt  es  sich  um  Einbringen  von  milzbrandigem  Material 
in  kleine  Hautwunden.  Bei  Leuten,  welche  mit  krankem  oder  gefallenem 
Vieh  zu  thun  haben,  Abdeckern  u.  s.  w.  wird  direct  frisches  Material 
übertragen.  Der  Milzbrand  —  besonders  die  Sporen  —  ist  aber  so 
widerstandsfähig,  dass  auch  durch  Jahre  altes  ]\Iaterial  (verarbeitetes 
Leder,  russische  Haare  und  Felle)  noch  eine  (meist  milder  verlaufende) 
Infection  erfolgen  kann  (Kürschner,  Tapezierer,  Haarsortirer,  Fellfärber 
u.  s.  w.j.  Auch  die  „Hadernkrankheit"  der  Lumpensammler,  ist  nach 
PüJtmij  und  r.  Eise/sbcr^/  eine  durch  Einathmung  von  Milzbrandsporen 
entstehende  Anthraxinfection  der  Lunge.  Eine  dritte  Infcctionsart  ist 
der  Crenu>;8  niilzbrandiucii  Fleisches,  welche  zum  Darniniilzbrand,  einer 
mit  der  Mvcosis  intestinalis   identischen  Krankheit  führt. 


168 


111.  Capitel.  —  Verletzungen. 


Für  uns  Chirargen  ist  in  erster  Linie  wichtig  der  Hautmilz- 
brand,  auch  Anthrax  oder  Pustula  maligna  genannt.  Er  sitzt 
viel  häufiger  an  den  unbedeckten  Körperstcllen  —  Händen,  Vorderarmen, 
Gesicht  und  Hals  und  tritt  klinisch  in  zwei  Hauptformen  auf  —  der 
Milzbrandpustel  und  dem  Milzbrandödem;  jene  vorwiegend  auf 
Stellen  mit  derber  Cutis  (Händen,  Nacken) ;  dieses  auf  dünner  schlaffer 


Fig.  109  a. 


Fig.  110. 


M 


Fig.  lOöc. 


Ig^^'? 


.Verflüssigung 
.Luftblase 


-imijfcanal  mit 
fädigen 
Ausläufern 


Gelatinest  ichcultur  des  Anthraxbacillus  am  4.  Tage. 


Haut  (Lidern,  Lippen).  —  Die  Milzbrandpustel  beginnt  als  ein  kleines 
geröthetes,  einem  Flohstich  ähnliches  Pünktchen ,  auf  dessen  Mitte  ein 
erst  mit  Serum,  allmälig  mit  blutiger  Flüssigkeit  sich  füllendes  Bläschen 
anschiesst.  Die  Umgebung  schwillt  und  tritt  etwas  hervor.  Das  Centrum 
der  so  entstehenden  flachen  Beule  verfärbt  sieh  braunroth,  schliesslich 
schwarzgrau,  die  Oberhaut  geht  ab,  die  Stelle  vertrocknet  zu  einer  bran- 
digen Masse,  dem  Milzbrandschorf,  der  hart  und  derb  sich  anfühlt  und 
fest  mit  der  gleichfalls  bretthart  infiltrirten,  kaum  gerötheten  Umgebung 


Milzbrand.  '  169 

ziisammeubängt.  Mit  der  Bildung  dieses  Schorfes  hat  der  Process  die 
Neigung-  zu  ih-tlicher  Weiterverbreitung  verloren.  Die  Losstossung  des 
Schorfes  erfolgt  aussergewöhnlich  langsam ,  meist  erst  im  Laufe  von 
Wochen.  Es  können  gleichzeitig  mehrere  Milzbrandpusteln  bestehen. 
Das  Milzbrandödem  entwickelt  sich  bei  Localisation  des  Giftes 
an  Lidern,  Lippen  und  ähnlichen  Stellen,  als  ein  flaches,  nur  wenig 
geröthetes,  ziemlich  derbes  ödematöses  Infiltrat  in  Haut  und  Unterhaut- 
zellgewebe, selbst  Musculatur,  welches  ohne  scharfe  Grenzen  in  die 
Umgebung  übeigeht.  Auch  auf  ihm  schiessen  Blasen  auf,  schliesslich 
geht  auch  hier  die  Oberhaut  ab  und  es  entstehen  blaurothe,  schliesslich 
sehwarzgraue  oder  blassgraue  gangränöse  Stellen,  die  zu  ziemlich  um- 
fangreichen Substanzverlusten  führen  können  und  unter  Abstossung 
der  Schorfe  durch  demarkirende  Eiterung  heilen. 

Für  die  dif f ere  ntielle  Diagnose  des  Milzbrandes  ist  zunächst  eine  genaue 
Anamnese,  welche  die  Möglichkeit  und  Quelle  einer  specifischen  Infection  ergibt,  wichtig. 
Verwechslungen  wären  möglich  im  Anfang  mit  gewöhnlichem  Furunkel.  Dieser  ist 
jedoch  gleich  von  Anfang  an  konischer,  prominenter;  die  Spitze  desselben  verwandelt 
sich  in  einen  grünlichen  Pfropf  aus  gangränösem  Zellgewebe,  Avelcher  sich  nach  wenig 
Tagen  abstösst,  nicht  den  lange  haftenden,  flachen,  trockenen,  grauschwarzen  Milzbrand- 
schorf.  Die  mikroskopische  Diagnose  des  Milzbrandbacillus  gelingt  selten ,  vielleicht 
die  Impfung  (Jlaus  an  der  Schwanzwurzel).  Beim  Rotz  hat  man  nicht  den  harten, 
schwarzen  Schorf.  Erysipel  as  unterscheidet  sich  vom  Milzbrandödem  durch  seinen 
scharfen,  gezackten  Rand.  Progrediente  Phlegmonen  zeigen  raschere  und  deutlichere 
Tendenz  zur  Eiterung. 

Allgemeinerscheinungen  können  völlig  fehlen  im  Gegensatz  zu 
den  experimentellen  Er gehmssen  SchimmelJni seh' s  (psig.  61).  Es  kann  aber 
jederzeit,  selbst  bei  scheinbar  ganz  leichten  Fällen  eine  in  wenig  Tagen 
tödtliche  Milzbrand-Allgemeininfection  sich  (durch  embolische  Verbreitung 
der  Milzbrandbacillen)  einstellen.  Unter  hohem  Fieber,  rasch  zuneh- 
mender Pulsfrequenz,  Delirien,  welche  bald  in  völlige  Bewusstlosigkeit 
übergehen,  gesteigerter  mühsamer  Respiration,  Diarrhöen  oft  blutiger 
Massen,  Milzschwellung  gehen  die  Kranken  rasch  zu  Grunde.  Die  Er- 
scheinungen wechseln,  je  nachdem  das  Gehirn  und  seine  Häute,  oder 
der  Darm,  oder  der  Respirationstractus  betheiligt  sind,  indem  das  kli- 
nische Bild  dann  vorwiegend  Züge  einer  Meningitis ,  Intestinalmykose 
oder  stürmischen  Lungenentzündung  aufweist.  Bei  der  Autopsie 
finden  sich  in  dem  betreffenden  Theile  Blutüberfüllungen ,  Oedeme, 
selten  Eiterbildung  oder  gar  Gangrän  (z.  B.  der  Fei/er  sehen  Plaques 
im  Darm);  mikroskopisch  sind  stets  die  Capillaren  massenhaft  erfüllt, 
oft  geradezu  ausgestopft  mit  ]\Iilzbrandbacillen. 

Die  Prognose  des  Milzbrandes,  wenigstens  des  Hautmilzbrandes, 
ist  keine  so  ungünstige,  aber  stets  eine  unsichere,  da  man  nie  vor 
Allgcmeininfection  sicher  ist  (selljst  nach  der  Heilung  der  Wunde). 
Infectionen  durch  altes  Material  verlaufen  meist  als  rein  locale  Pro- 
cesse,  während  die  unmittelbare  Uebertragung  vom  lebenden  oder 
todten  Tliicre    eine  viel  schlechtere  Progno.se  gibt. 

Bei  der  Behandlung  ist  von  der  Abortivbehandlung  wenig  zu 
erwarten. 

In  den  Milzhranddistricten  pHegen  sich  die  Hirten  die  ganz  frische  Pustel,  auf 
der  eben  ein  Bläsclieu  aufschiesst,  mit  einer  glülicnden  Nadel  auszubrennen  und  sollen 
fast  nie  ernstlich  erkranken. 

liie  Ausbreiuiung  mit  dem  /'ocyMe/m'schen  Theimokaiiter  oder  die  Ausätzung  mit 
dem    tief   wirkenden  Kali   causticuiu    könnte   vielleicht    die  Bacillen   in    loco    noch    zer- 


170  III-  Capitel.  —  Verletzungen. 

stören.  Die  Excision  könnte  die  Bacillen  eher  weiter  verimpfen.  Gälten  die  Ergebnisse 
Sdämmelhusch' s  —  an  hochvirulenten  Culturen  gewonnen,  dass  eine  halbe  Stunde  nach 
der  Impfung  einer  Maus  an  der  Schwanzwurzel  die  Bacillen  sich  schon  in  der  Leber 
finden,  gälte  dieser  Satz  auch  für  den  —  für  Milzbrand  wenig  empfänglichen  Menschen, 
so  wäre  damit  der  Stab  über  jede  abortive  Behandlung  gebrochen. 

In  der  Behandlung  der  Pustula  maligna  kann  vor  unüberlegter 
Vielgeschäftigkeit  nicht  dringend  genug  gewarnt  werden.  Die  Excision 
der  Pustel  ist  ebenso  zwecklos,  wie  Kreuzschnitte.  Alle  neueren  Autoren 
(v.  Bramann)  stimmen  darin  überein,  dass  eine  conservative  Behandlung 
die  besten  Aussichten  gibt.  Ich  habe  unter  Sublimatumschlägen  (1 :  lOOOj 
selbst  Fälle  mit  Fieber  über  39°  noch  heilen  sehen.  Injectionen  von 
Subliraatlösung  (1 :  1000,  Max.  10  Spritzen)  in  die  Umgebung  der  Pustel 
(fingerbreit  vom  fühlbaren  harten  Rande)  könnten,  so  lange  Schorfbil- 
dung und  Infiltrationen  im  Zunehmen  sind ,  gemacht  werden.  Im 
Uebrigen  ist  für  Erhaltung  der  Kräfte  und  möglichst  lange  Bettruhe 
zu  sorgen. 

Jod  innerlich  (2stündlich  ein  Tropfen  Jodtinctur  in  Wasser,  Vi- 
talli)  wird  empfohlen. 

Der  Milzbrand  ist  der  Lieblingsgegenstand  der  modernen  Bacterienforscher, 
namentlich  von  R.  Koch  und  Pasteur  geworden ,  und  es  sind  an  ihm ,  als  einen  be- 
sonders bequemen  Beobachtungsmaterial  eine  grosse  Anzahl  von  Studien  über  Leben  und 
Wesen  der  Bacterien  überhaupt  gemacht  worden.  Theoretisch  hochinteressant  sind  die 
Versuche  und  Beobachtungen  von  Pasteur  und  Toussaint  über  die  Abschwächung  der 
Virulenz  des  Milzbrandes  und  die  darauf  gegründete  Schutz-  oder  Präventivimpfung 
gegen  den  Milzbrand.  Toussaint  fand,  dass  milzbrandiges  Blut,  10  Minuten  auf  .05" 
erhitzt,  Thieren  subcutan  injicirt,  nicht  mehr  tödtet,  sie  im  Gegentheil  gegen  eine  zweite 
Lifection  mit  völlig  virulentem  Milzbrandmaterial  widerstandsfähig,  „immun"  macht. 
Pasteur's  Verfahren  beriiht  darauf,  dass  Milzbrandbacillen,  in  neutraler  Hühnei'bouillon 
bei  42 — 43**  gehalten,  am  Ende  eines  Monates  abgestorben  sind ;  schon  am  achten  Tage 
ist  ihre  Virulenz  sehr  herabgesetzt.  Pasteur  impfte  nun  grosse  Massen  von  Eindern 
und  Schafen  zunächst  mit  24  Tage  alter  Bouilloncultur  (Premier  vaccin),  dann  mit 
12  Tage  alter  (Deuxieme  vaccin).  Diese  Thiere  zeigten  nur  ein  kurz  dauerndes  leichtes 
Kranksein  nach  der  Impfung  und  waren  gegen  spätere  Impfung  mit  starkem  Milzbrand 
grösstentheils  immun.  Die  Sterblichkeit  unter  den  geimpften  Thieren  in  den  gefürchteten 
Milzbranddistricten  Frankreichs  war  eine  geringere  als  unter  den  nichtgeimpften.  Die 
ürtheile  der  Thierärzte  über  den  praktischen  Werth  der  Schutzimpfung  sind,  auch  heute 
noch  getheilt.  —  Es  gelang  Pasteur,  diesen  abgeschwächten  Milzbrand  Avieder  in  viru- 
lenten zurückzuzüchten. 


Die  Actinomykosis,  Strahlenpilzkrankheit  ist  eine  vorwiegend 
bei  Wiederkäuern,  ganz  besonders  beim  Rindvieh  vorkommende  Pilz- 
krankheit, welche  in  recht  seltenen  Fällen  auch  beim  Menschen  sich 
findet.  Ausserdem  findet  sich  der  Actinomyces  auch  auf  dem  Getreide, 
besonders  an  Gerstengrannen.  Hiedurch,  sowie  durch  rohes  Rindfleisch 
mag  die  Uebertragung  erfolgen.  Als  Eingangspforte  dienen  die  so 
häufigen  kleinen  Schleimhautdefecte  des  oberen  Theiles  des  Verdaunngs- 
und  Athmungsapparates ,  namentlich  am  Zahnfleisch.  In  diesem  Fall 
localisiren  sich  die  Pilze  vorwiegend  in  der  Umgebung  des  Mundes  und 
seiner  Nachbarschaft.  In  anderen  Fällen  scheint  eine  Ansaugung  von 
Actinomycesstoffen  (cariöse  Zahnstücke,  Israel)  in  die  Lunge  zu  erfolgen, 
und  es  erfolgt  dann  die  Localisation  in  Lungen,  Pleura,  Rippen.  Auch 
von  den  tieferen  Theilen  des  Verdauungscanales  ist  eine  Infection  mög- 
lich (Actinomykose  des  Proc.  vermiformis,  Czerny,  Spondylitis  anterior 
actinomycotica.)     Doch   kommt    auch    eine  Verschleppung   des   Actino- 


Aktinomykose. 


171 


^^  w^^i^^;^^^ 


Fig.  112. 


myces  auf  embolischem  Wege  vor.  Leser  u.  A.  beschreiben  auch  pri- 
märe Actinomykose  der  Haut. 

Es  entwickeln  sich  zunächst  wenig  geröthete  harte,  häufig  läng- 
liche Knoten,  welche  sich  durch  Uebergreifen  auf  die  Nachbarschaft 
nach  allen  Richtungen  hin  vergrössern  und  gegen  diese ,  z.  B.  Unter- 
kiefer, Rippen ,  gewöhnlich  nicht  verschieblich  sind.  Die  Schmerzen 
sind  jetzt  recht  bedeutend,  oft  anfallsweise  sich  steigernd,  so  dass  man 
schon  früh  zu  Morphium  greifen  muss.  Schliesslich  brechen  die  Knoten 
langsam  und  unter  geringen  entzündlichen  Erscheinungen  auf.  Der  Eiter, 
dessen  grünliches  Serum  meist  dünnflüssig*  ist ,  enthält  kleinste  linsen- 
artige Körnchen  —  die  Acti- 

nomvccskörnchen    mit    den  ^'^-  ^^^• 

charakteristischen     Bildern 
des  Actinomyces. 

Fig.  111  zeigt  ein  Actino- 
myceskorn  aus  der  Riudslunge 
(nach  Marchand  (Vergr.  350).  In 
der  Mitte  finden  sich  die  rosetten- 
förmig  angeordneten  Keulen  des 
Actinomyces ,  die  Kolben  nach 
aussen ,  die  Spitzen  nach  innen. 
Bei  a  ist  das  noch  wohlerhaltene 
Epithel  des  Bronchus ,  auf  der 
bindegewebigen  Wand  des  Bronchus 
aufsitzend.  Bei  b  grosse  epithe- 
lioide  Zellen,  bei  c  Leukocyten  — 
die  Zeichen  chronischer  Entzün- 
dung. Auch  Riesenzellen  finden 
sich.  Fig.  112  (nach  J'aÄ;sc//)  zeigt 
Actinomyceskörnchen  zerdrückt. 

Die  Auf  bruch  stelle  ver- 
wandelt sich  in  ein  buchtiges 
Geschwür  mit  unterhöhlten 
Rändern  und  Fistelgängen. 
Durch  Zerfall  der  Decken 
dieser  Hohlgänge  werden 
die  Defecte  von  Verband- 
wechsel zu  Verbandwechsel 
rasch  grösser  und  es  kommen 
nun  graugrünliche,  mit  ne- 
krotischem Gewebe  bedeckte 
Geschwüre  zu  Tage,  in 
welchen    hin     und     wieder 

weisslieligraue  Punkte  (Actinomyceskörner)  erscheinen.  Von  Granu- 
lationen ist  nicht  viel  zu  sehen;  was  vorhanden,  ist  blass  und  kümmerlich. 
Schliesslich  wird  auch  der  Knochen  ergriffen. 

Das  Aussehen  erinnert  am  meisten  an  carcinoniatöse  Geschwüre,  doch  fühlen  sich 
diese  härter  und  warziger  an ,  wenngleich  die  infiltrirte  Umgebung  beiden  gemeinsam 
ist.  Tuberculöse  Herde  zeigen  doch  meist  überall  Granulationsauskleidung ,  allerdings 
auch  blass  und  kümmerlich  und  mit  grauen  Knötchen;  sie  sind  weicher.  Bei  aufge- 
broclienen  Sai-komen  überwiegt  dii-  Bildung  ü]>pig  wuchernder,  leicht  blutender  und  zer- 
lallender Granulationen.  Syphilitisclie  Geschwüre  zeigen  nie  eine  so  massenhafte  In- 
filtration der  Umgebung. 

Infection  der  Lymphdrüsen  und  des  Allgemeinorganismus  (durch 
Kiiiholiej  tritt  nur  bei  schweren  Fällen  ein. 


Aktinomycesküi-Echen,  zerdrückt  (nach  v.  Jahscli). 


■[72  ^^^-  Capitel.  —  Verletzungen. 

Am  Munde,  Unterkiefer  und  Hal.s  kommen  die  Infiltrate  und 
Fisteln  dureli  Ausschneiden  und  Ausbrennen  meist  zur  Heilung.  Der 
Oberkiefer  bietet  ungünstigere  Aussichten.  In  Lungen,  Rippen,  Wirbelsäule 
u.  dergl.  heilt  Aetinoraykosis  nur  in  einzelnen  Fällen.  Pyäniieähnliche 
Erscheinungen  geben  eine  gesonders  ungünstige  Prognose  fSdilange, 
Langenheck'' s  Arch  ,  44).  Durch  den  Iiliterverlust,  die  beständigen  Schmerzen 
entwickelt  sich  ein  rasch  fortschreitendes  Siechthum  mit  unregclmässigen 
geringen  abendlichen  Temperatursteigerungen  f38"5^' — 395'').  Der  Tod 
erfolgt  an  Erschöpfung,  Herzlähmung.  Bei  Lungenactinomykose  ist  der 
Verlauf  oft  rascher,  und  dem  Bilde  einer  floriden  Lungenphtliise  ähnelnd; 
manchmal  erfolgt  er  auch  durch  unmittelbares  Uebergreifen  auf  Herz- 
beutel und  Herz. 

Auf  innere  medicamentöse  Behandlung  darf  man  nicht  zu  sehr  ver- 
trauen. Jodkali  innerlieh  (von  1—5  Grm.)  wird  empfohlen  ;  doch  hat  es 
mich  in  schweren  Fällen  öfters  im  Stiche  gelassen.  Die  örtliche  Be- 
handlung muss  eine  möglichst  energische  sein.  Auslöffelung  des 
Erkrankten  und  Abtragung  der  Ränder  bis  in's  Gesunde  hinein,  Spal- 
tung nnd  Ausschneiden  aller  Gänge  und  Infiltrate,  nachheriges  Aus- 
waschen mit  einem  wirksamen  Antisepticum  (Sublimat  1 :  100  oder 
Chlorzinklösung  1 :  8)  und  antiseptischer  Verband  sind  unerlässlich.  Wo 
die  Erkrankung  günstig  liegt,  macht  man  am  besten  die  Exstir- 
pation  im  Gesunden ,  wie  bei  Krebs,  mindestens  1  Cm.  vom  fühlbaren 
Rand  entfernt.  Leider  sind  auch  damit  Recidive  keineswegs  sicher 
auszuschliessen  und  eine  sorgfältige  Ueberwachuug  der  ganzen  Wunde 
mit  sofortiger  Zerstörung  verdächtiger  Stelleu  ist  unerlässlich.  —  Man 
hat  versucht  durch  parenchymatöse  Injectionen  in  Umgebung  und  Grund 
der  Weiterverbreitung  vorzubeugen.  Hierzu  ist  Borsäure  empfohlen 
(1  —  2  Procent),  ich  würde  jedoch  Sublimat  (1:2000  bis  1:1000)  oder 
Arg.  nitr.  (1 :  2000,  1500,  1000.  Thiersch)  vorziehen.  Auch  Iprocentige 
Jodkaliumlösung  (Vä — V2  Spritze  an  mehreren  Stellen,  schmerzhaft,  alle 
8 — 14  Tage,  Bychjgier)  hat  mir  gute  Dienste  gethan. 


Von  der  Hundswuth  (Wasserscheu,  Rabies,  Lyssa,  Hydrophobie) 
ist  in  den  letzten  Jahren  in  Deutschland  kein  einziger  sicherer  Fall 
vorgekommen ;  in  Frankreich,  Oesterreich  und  Russland  ist  die  Krank- 
heit jedoch  keineswegs  selten. 

Endemiscli  bei  den  wilden  oder  verwilderten  Tliieren  der  Gattung  Canis  (Wolf, 
Hund,  Fuchs)  wird  die  Krankheit  von  ihnen  durch  Biss  auf  Hausthiere  derselben 
Gattung,  jedoch  auch  anderer  Art  —  Katze,  selbst  Pferde,  Schafe,  Rinder,  sogar  Tögel 
und  gelegentlich  auch  auf  den  Menschen  übertragen.  Nach  einem  Prodromalstadium 
von  wenigen  Tagen,  in  welchem  die  Thiere  unruhig  sind  und  verändertes  Wesen  zeigen, 
kommt  die  Wuth  zum  Ausbruch  in  dem  „Irritationsstadium".  Von  innerer  Angst 
und  Krankheitsgefühl  getrieben,  schweifen  sie  unstät  umher,  zeigen  eine  auffallende 
Neigung  zum  Beissen  und  dabei  eine  eigenthümliche  Veränderung  der  Stimme,  ein 
heiseres,  langgezogenes  Bellen.  Wirkliche  AVasserscheu  besteht  nicht,  wohl  aber  Schling- 
beschwerden, besonders  für  Flüssigkeiten.  Scheinbar  normale  Pausen  kommen  zwischen 
den  Anfällen  vor.  Nach  3—4  Tagen  treten  Lähmungen,  namentlich  des  Hintertheils 
und  der  Unterkiefermuskeln  hervor  (Stadium  paralyticum)  ;  die  Thiere  liegen  matt 
in  einer  Ecke  und  gehen  unter  zunehmender  Schwäche  zu  Grunde.  Bei  der  „stillen" 
Wuth  schliesst  sich  das  dritte  Stadium  fast  unmittelbar  an  das  Prodromalstadium  an 
und  die  Erregungserscheinungen,  das  Charakteristicum  der  „rasenden"  Wuth,  sind  kaum 
angedeutet.  Die  Gesammtdauer  ist  5—6  Tage  —  Pathognomonische  Leichenbefunde 
finden  sich  nicht,  abnormer  Mageninhalt  (Stroh ,  Ivoth  u.  dergl.)  und  Erytheme  in  den 
Centralorganen  sind  noch  das  Wichtigste  (Bollinger). 

Beim  Menschen  beträgt  die  Dauer  bis  zum  Ausbruch  der 
Krankheit,    die  Incubation  selten  unter  einem  Monat ,   selten   über   drei 


Huudswutli  (Lyssa).  173 

uud  mu"  ganz  ausnahmsweise  6 — 12  Monate;  im  Mittel  42  Tage  (Bauer). 
Der  Mensch  ist  —  im  Vergleich  zu  Hunden  —  sehr  wenig  empfäng- 
lich für  Wuthgift  und  nur  ein  ganz  kleiner  Procentsatz  der  von  an- 
geblich wuth kranken  Thieren  Gebissenen  erkrankt  wirklich.  Gefähr- 
licher sind  Bisse  in  unbedeckte  Körperstellen,  besonders  Kopf  und 
Gesicht ;  Bisse  durch  Kleidungsstücke  hindurch ,  wo  das  im  Speichel 
enthaltene  Wuthgift  vom  Zahne  erst  weggewischt  wird,  haben  fast  nie 
Wuth  zur  Folge.  Die  Zerfleischungen  durch  wütheude  Wölfe  sind  be- 
sonders gefürchtet. 

Nach  einer  Zeit  völligen  Wohlbefindens  stellen  sich  in  der  Narbe 
oder  der  noch  eiternden  Wunde  eigenartige  ausstrahlende  Empfindungen 
ein  (eine  Art  „Aura")  und  häufig  allgemeine  Angst  und  Missbehagen. 
Bald  folgt  der  erste  Anfall  von  Schlundkrämpfen,  die  meist  beim  Ver- 
suche zu  trinken  sieh  einstellen ;  die  Schlundkrämpfe  wiederholen  sich 
bei  jedem  erneuten  Versuch  zu  trinken  und  führen  zu  allgemeinen 
Krämpfen ;  die  Reflexerregbarkeit  ist  sehr  gesteigert,  die  Kranken  sind 
äusserst  empfindlich,  selbst  gegen  leise  Sinneseindrücke  und  schliesslich 
kommt  es  zu  einem  richtigen  Tob-  oder  Wuthanfall,  in  dem  die  Kran- 
ken jedoch  für  ihre  Umgebung  nicht  gefährlich  und  nicht  bewusstlos 
werden.  Oefters  wird  geschlechtliche  Erregung  beobachtet.  Lyssakranke 
Menschen  zeigen  keine  Neigung  zum  Beissen ,  wie  so  oft  behauptet 
wird.  Auch  beim  Menschen  folgt  diesem  Stadium  der  Erregung  das 
der  Paralyse  —  die  Kranken  werden  matt,  der  Puls  klein  und  frequent, 
die  Krampfanfälle  sind  häufiger,  aber  kraftloser  und  können  vor  dem 
Tode  schliesslich  ganz  aufhören.  Das  Bewusstsein  bleibt  bis  zum  Tode 
ungetrübt.  Die  Dauer  vom  ersten  Anfall  bis  zum  Ende  ist  2 — 4  Tage. 
Auch  beim  Menschen  hat  man  an  der  Leiche  bisher  keine  eigenartigen 
Befunde  finden  können.  Die  Diagnose  ist  nur  aus  dem  klinischen 
Verlauf  zu  stellen,  wo  eine  Verwechslung  mit  Tetanus  hydrophobicus 
möglich  ist.  Fälle,  wo  lyssaähnliche  Zustände  durch  Autosuggestion 
bei  Gebissenen  entstehen,  sind  vorgekommen.  Die  beschriebenen  Fälle, 
wo  echte  Wuth  geheilt  sein  soll,  sind  mit  grösster  Vorsicht  aufzunehmen. 

Die  Behandlung  ist  zunächst  eine  prophylaktische.  In 
Oesterreich  ist  es  gesetzlich  vorgeschrieben,  solche  Wunden  mit  dem 
leicht  zerfliesslichen ,  tief  eindringenden  Kali  causticum  auszuätzen. 
Schon  zur  Beruhigung  des  Kranken  soll  man  das  nicht  unterlassen, 
selbst  wenn  schon  einige  Zeit  seit  dem  Bisse  verflossen  ist.  Weiter 
wird  empfohlen,  die  Eiterung  zu  unterhalten.  Zur  Verhütung  der  Wuth 
wurden  eine  Masse  von  Geheinimitteln  empfohlen,  Maiwurm,  Fol.  Datur. 
Stramonii  u.  s.  w. :  ihre  scheinbare  Wirksamkeit  erklärt  sich,  da  nur 
der  geringste  Theil  der  Gebissenen  überhaupt  wuthkrank  wird.  Der 
vielfach  geübten  Behandlung  mit  Quecksilber  in  Form  einer  Schmiercur 
mit  grauer  Salbe  kann  ein  gewisser  Sinn  nicht  abgesprochen  werden ; 
auch  Calomel  (Quccksilberchlorür)  in  innerlichen  Dosen  von  0"06  täg- 
lich wird  gegeben.  Lu/iouid-//  hat  den  Canthariden  (0'03  täglich,  bis 
Blasenbeschwerden  kommen,  dann  1 — 2  Tage  ausgesetzt)  Erfolge  nach- 
gerühmt. 

Bei  ausgebrochener  Wuth  hat  man  grosse  Dosen  Chinin  (3  Grm.) 
mehrmals  oder  Quecksilber  gegel)en .  meist  sich  auf  Narcotica  (Mor- 
phium. Chloroform,  Chloralhydrat.  Bromkali.  Curare)  beschränkt.  Das 
Atropin  ist  besonders   warm    empfohlen    und    wird   in  Verbindung   mit 


;[74  ^^^-  <^^pitel.  —  Verlotzungon. 

Morphium  selbst  in  grösseren  Dosen  (0"002 — O'OOöj  ansciiciiieiKl  ;:iit 
vertragen.  Gegen  den  quälenden  Durst  kijnnen  Klysmen  und  siilj- 
cutane  oder  intravenöse  Kochsalzwasserinfusionen   versucht  werden. 

Bei  der  Pasteur'sc\ien  Schutzimpfung  gegen  Wuth  werden  getrocknetes 
Hirn  und  Eückenmark  von  Kaninchen ,  auf  die  die  Wuthkrankheit  übertragen  ist,  ver- 
rieben und  in  sterilisirter  Bouillon  aufgeschwemmt,  dem  gebissenen  Menschen  im  Hypo- 
chondrium  subcutan  injicirt.  ^m  I.Tag  14  Tag  lang  getrocknetes  Material,  am  2.  Tag 
IStägiges  u.  s.  w.  bis  zu  ötägigem ;  mitunter  sogar  2 — 3mal  täglich,  jedesmal  stärkeres, 
das  heisst  kürzer  getrocknetes  Material.  Die  Mortatität  sank  so  anf  r8'/,j  ('Bordone- 
Uffreduzzi).  —  Die  Möglichkeit ,  dass  durch  die  Impfungen  auch  Wuth  erst  erzeugt 
wurde,  ist  nicht  zu  leugnen.  —  Tizzoni  glaubt  die  immunisirende  Substanz  im  Blut- 
serum der  geimpften  Thiere  enthalten  und  will  dasselbe  als  pulverförmige  Substanz  rein 
dargestellt  haben. 

Schlangenbisse  sind  bei  uns  in  Centraleuropa  selten  und  im  Ganzen  wenig 
gefährlich.  In  Frage  kommt  hauptsächlich  die  Kreuzotter,  welche  sich  an  sonnigen 
G-eländen,  im  Eiesengebirge,  Schwarzwald,  Schweiz,  Karpathen  gelegentlich  findet  und 
die  weniger  gefährliche  Viper.  In  tropischen  Gegenden  —  namentlich  in  Indien  —  ist 
die  Zahl  der  an  Schlangenbissen  zu  Grunde  gehenden  immer  noch  eine  recht  hohe  und 
handelt  es  sich  um  eine  Reihe  verschiedener  Arten ,  unter  denen  die  Klapperschlange 
und  die  Brillenschlange  die  bekanntesten  sind.  Das  Gift  wird  in  den  Speicheldrüsen 
erzeugt  und  durch  hohle  oder  gerinnte  Giftzähne  in  die  Wunde  übertragen.  Kleider, 
Stiefel  u.  dergl.  durchdringt  der  Zahn  meist  nicht,  jedenfalls  sind  Verletzungen  nackter 
Theile  gefährlicher,  am  gefürchtetsten  die  des  Gesichts,  besonders  der  Lippen  oder  des  Mundes. 

Die  Schlangenbisse  sind  häufig  durch  die  zwei  der  Entfernung  der  Giftzähne 
entsprechenden  punktförmigen  Wunden  unmittelbar  als  solche  zu  erkennen.  Wenige 
Minuten  nach  dem  Bisse  entsteht  eine  bläulich-rothe  Anschwellung  der  Bissstelle,  welche 
rasch  central  fortschreitet.  Zugleich  machen  sich  Allgemeinerscheinungen  geltend,  die 
am  meisten  Aehnlichkeit  mit  einer  schweren  und  ganz  acuten  Blutvergiftung  haben, 
beschleunigter  kleiner  Puls,  mühsames  Athmen ,  Cyanose ,  schweres  Krankheitsgefühl, 
Mattigkeit,  Schweisse,  Sphinkterenlähmuug,  Erbrechen,  schliesslich  Ohnmacht,  Convul- 
sionen  und  Herzlähmung.  In  den  schwersten  Fällen  kann  dieser  ungünstige  Ausgang 
schon  nach  Verlauf  einer  halben  Stunde  eintreten ;  in  leichteren  Fällen  steigern  sich 
die  Erscheinungen  langsamer,  um  nach  einem  schweren  Krankheitszustand  von  1 — 2 
Tagen  in  zögernde  Genesung  überzugehen. 

Zur  örtlichen  Behau d  lung  ist  als  altes  Mittel  das  Aussaugen  —  bei  unver- 
sehrten Lippen  —  empfohlen ;  sonst  Abbinden ,  um  den  Uebertritt  des  Giftes  in  die 
Circulation  zu  verlangsamen,  kleine  entleerende  Einschnitte  (Scarificiren),  Ausschneiden 
und  Ausätzen  (Kali  caust.).  Die  Allgemeinerscheinungen  sind  mit  Stimulantien,  Aether- 
einspritzungen ,  grossen  Dosen  Alkohol ,  Senfteigen  auf  das  Herz  zu  bekämpfen.  Alt 
(Münch.  Med.  Wochenschr.  1892,  Oct.)  empfiehlt  Magenausspülungen,  da  das  Gift  ähnlich 
dem  Morphium  durch  den  Magen  ausgeschieden  wird.  Die  subcutane  locale  Injection 
einer  Lösung  von  Kali  hypermanganicum  (1 — 57o)  2 — 12  Ccm.)  nach  Lacerda  wurde 
als  eine  Art  Specificum  gegen  Schlangenbiss  dringend  empfohlen ;  nur  muss  sie  selu'  früh 
gemacht  werden.  Auch  immuuisirendes  Pferdeserum  soll  wirksam  sein  {Cahneffe,  Münch. 
Med.  Wochenschr.,  1896,  Aug.).  Karlinski  empfiehlt  l^'uige  Chromsäurelösung,  Lenz 
Chlorwasser  zur  localen  Injection.  Auch  Liquor  Ammonii  caustici  innerlich  10  Tropfen 
mehrmals  und  local  in  25°/Qiger(?)  Lösung  1  Ccm.  subcutan  soll  nützlich  sein. 

Die  Bisse  von  Scorpionen  oder  giftigen  Spinnen  (Tarantel)  rufen  meist  nur 
eine  heftige  örtliche  Entzündung  hervor;  ebenso  der  Sandüoh ,  der  seine  Eier  unter  den 
Nagel  der  unbeschuhteu  Zehe  ablegt  und  der  Medinawurm,  welcher  sich  in's  Unterhaut- 
zeligewebe  eingräbt.     Die  letzteren  beiden  sind  vorsichtig  herauszuheben. 

Gegen  die  Stiche  von  Bienen,  Hornissen,  Wespen,  Fliegen  dient  Betupfen  mit 
sogenanntem  „Salmiakgeist"  als  altes  Volksmittel,  die  Schmerzen  werden,  wenn  nöthig, 
mit  Eis  bekämpft. 

Von  den  Pfeilgiften  kommt  das  Curare,  welches  bekanntlich  Lähmung  der 
willkürlichen  Muskeln  hervorruft,  für  den  Menschen  weniger  in  Betracht.  —  Schlimmer 
ist  der  Brauch  gewisser  wilder  Völker ,  ihre  Waffen  mit  Faulflüssigkeiten ,  zersetztem 
Blut  u.  s.  w.  zu  bestreichen.  Diese  Verletzungen  sollen  sich  dann  mit  schweren  ört- 
lichen Entzündungen  und  allgemeiner  Blutvergiftung  conipliciren.  Die  Behandlung  hätte . 
die  Zerstörung  des  Giftes  am  Orte  der  Verletzung  durch  Aetzmittel  zu  versuchen  und 
ist  im  Uebrigen  die  inficirter  Wunden. 


Tuberculose.  175 

Chronische  chirurgisch  wichtige  infectionsi(ranl(heiten. 

Tuberculose.  Lepra.  Syphilis.  Rhinosklerom  etc. 

Eine  Anzahl  chronischer  Infectionskrankheiten  sind  für  den  Chi- 
rurgen wichtig,  wenn  sie  auch  meist  nicht  bei  Operationen  übertragen 
werden. 

Eine  der  wichtigsten  ist  die  Tuberculose.  Welche  Bedeutung 
die  Tuberculose  für  die  Menschheit  hat ,  kann  man  daraus  ersehen, 
dass  circa  18  Procent  aller  Todesfälle  durch  Tuberculose  erfolgen  Und 
dabei  sind  eigentlich  nur  die  inneren  Tuberculosen  (der  Lungen,  des 
Darms  u.  s.  f.)  gerechnet,  die  Todesfälle  an  anderen  Aeusserungen  der 
Tuberculose,  z.  B.  der  Knochen  und  Gelenke ,  sind  nicht  mitgezählt. 
Dass  auch  diese  den  Chirurgen  besonders  interessirenden  Formen  keine 
kleine  Summe  ausmachen,  lässt  sich  aus  der  Statistik  von  Demme  über 
die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Tuberculose  im  Kindesalter  ent- 
nehmen. Hiernach  kamen  auf  Knochen  und  Gelenke  42'5  Procent, 
periphere  Lymphdrüsen  o5'8  Procent,  Lungen  10"6  Procent,  Darm 
3 '5  Procent,  Haut  2'6  Procent,  Nervencentren  05  Procent,  Geschlechts- 
organe 0*5  Procent,  Nieren  0'4  Procent. 

Aetiologie  und  Pathogenese  der  Tuberculose  sind  Dank  der  Un- 
tersuchungen Robert  Koch's  heutzutage  vollständig  klar  und  auf  kaum 
einem  Gebiet  sind  die  Erfolge  der  modernen  experimentellen  Forschungen 
so  grossartig ,  wie  auf  dem  Gebiete  der  Pathologie  der  Tuberculose. 
Der  Erreger    der  Tuberculose    ist  der    Tuberkelbacillus. 

Der  Tuberkelbacillus  ist  ein  langer,  schlanker,  zierlicher  Bacillus ,  gerade  oder 
leicht  geschwungen,  in  seiner  Länge  etwa  dem  Durchmesser  eines  rothen  Blutkörperchens 
entsprechend ;  häufig  findet  man  ihn  in  lebhafter  Sporenbildung  begrifl'en.  Die  Tuberkel- 
bacillen,  besonders  ihre  Sporen,  sind  gegen  Kälte  und  Hitze,  gegen  Austrocknung  und 
chemische  Agentien  (Magensaft)  sehr  widerstandsfähig.  Fig.  113  Tuberkelbacillen  aus 
einer  ßeincnltiir  (Zeiss  Imm.  7i2i  Oc.  2).  Die  Tuberkel- 
bacillen zeigen  gewisse,  für  die  differentielle  Diagnose  (z.B.  „.  ,,„ 
gegenüber  den  Leprabacillen,  welchen  sie  äusserlich  ähnlich 

sind)  wichtige  Färbungseigenthümlichkeiten.  In  Anilinfarben      ^  ^^^       ^^-^    "** 
(Methylviolett,    Geutianaviolett,  Fuchsin  u.  s.  f.),  welche    in         ^  ^*^       xXV""^"^ 
Anilinwasser  gelöst  sind,    gefärbt,    geben   sie  den  Farbstott'  vV^   v  \ 


nicht  wieder  ab,  auch  wenn  sie  mit  Salpetersäure  (337.i7o)  '  X    V  '^"^  ^* 


^t^\r, 

behandelt  werden.  —  Auf  die  Oberfläche  von  erstarrtem  Blut-  "^  > 

serum    (Glycerinagar)    ausgesät ,    wachsen    sie    bei    Körper- 
temperatur zu  Colonien  von  der  Form    grauer   oberflächlicher  Schüppchen    heran,    ohne 
den  Nährboden  zu  verflüssigen.     (Vergl.  Fig.  11.5.) 

Ihre  "Wirkung  auf  die  Gewebe  des  Körpers  ist  namentlich  von  Robert  Koch  und 
Baumyarten  studirt.  —  Etwa  .5—6  Tage  nach  der  Verimpfung,  z.  B.  durch  Einspritzung 
einer  in  0'7%  Kochsalzlösung  aufgeschwemmten  Reincultur  in  die  Ohrvene  des  Kanin- 
chens zeigen  sicli  an  der  Stelle  der  Localisation  Kerntheilungsfiguren  und  Wucherungen 
seitens  der  Geweliszellen.  Hiezu  kommt  eine  Einlagerung  weisser  Blutzellen,  übrigens 
in  massigen  Grenzen.  Bald  treten  die  charakteristischen  Erscheinungen  der  tuberculösen 
Herde  auf,  das  ist  erstens  die  Ver käsung,  ein  nekrobiotischer  Vorgang,  der  bereits 
pag.  45  urwälint  wurde.  Unter  dem  Einfluss  eines  von  den  Bacillen  ausgeschiedenen 
Giftes  gerinnen  Theile  der  Gewebe  zu  einer  faserig  krümeligen  Masse,  welche  Farb- 
stoil'e  nicht  oder  nur  wenig  mehr  aufnimmt  —  Coagulationsnekrose  (pag.  45).  In 
Fig.  114,  einer  tuberculösen  Granulation  aus  einem  fungösen  Hüftgelenk,  sind  rechts 
oben  und  rechts  unten  solche  Herde  von  Coagulationsnekrose.  Einige  weisse  Blutzellen 
sind  in  die  Massen  eingesprengt.  Im  Holzschnitt  sind  diese  in  ihrem  Gefüge  gewiss  en 
Käsearten  in  der  That  ähnlichen  Massen  kaum  genau  wiederzugeben.  In  dem  Präparate 
sind  aucli  Riesenzellen  verschiedener  Art  vorhanden ;  gegen  die  Mitte  eine  kleine  in 
Entwicklung  begriffene,  mit  fünf  grossen  Kernen,  am  unteren  Rande  des  Präparates 
eine  grössere  mit  ca.  20  Kernen    und    iiadi   links  nbcn  eine  grössere  mit  einer  l)eträcht- 


176 


III.  Capitel.  —  Vei'lotzungen. 


liehen  Anzahl  von  Kernen.  In  dieser  finden  sich  auch  nalie  di-ni  rechten  Üande  der 
Zelle  drei  —  im  Holzschnitt  nicht  ganz  deutlich  hervortretende  —  l'uherkelljacillen 
bei  a.  Das  Protoplasma  der  Riesenzellen,  wenigstens  der  älteren,  ist  gleichfalls  nicht 
mehr  normal,  i-ondern  im  Begriff,  der  Coagulationsnekrose  zu  verfallen ,  besonders  im 
Centrum.     Die  Kerne    stehen   daher   meist   in  der   Peripherie  —  im  Gegensatz    zu    den 


Fig.  115 


Riesenzellen  bei  Neubildungen,  wo  die  Kerne  durch  die  ganze  Zelle  III  li^^t^f  ;:-'lii 

gleichmässig  vertheilt  sind.  Die  tuberculöse  Riesenzelle  ist  voraus- 
sichtlich so  entstanden ,  dass  schon  während  der  durch  die  Bacillen 
angeregten  Wucherungsprocesse  Degeneration,  d.  h.  Nekrobiose  ein- 
tritt. Man  kann  sie  also  als  eine  nicht  fertig  gewordene  entzünd- 
liche Neubildung  auffassen.  —  Der  Tuberkel  ist  äusserst  gefässarm. 
So  ist  auch  in  der  Abbildung  nur  eine  Capillare  (links  unten  am 
Rande)  während  in  anderen  Granulationen  (vergl.  Fig.  34)  sich 
auf  gleicher  Fläche  mindestens  ein  Dutzend  finden  Avürde. 

Das  spätere  Schicksal  der  tuberculösen  Herde  ist  ein  ver- 
schiedenes. —  Entweder  schreitet  der  Zerfall  vorwärts,  wobei  es  an 
Knochen  und  Gelenken  oft  zur  Verflüssigung  und  einer  Art 
Eiterung  kommt.  Der  Inhalt  dieser  tuberculösen  Abscesse  ist  kein 
echter  Eiter  (siehe  unten),  wie  sich  in  ihm  auch  meist  keine 
Eiterpilze  finden.  Die  Eiterkokken  (Staphylokokken),  die  man  in 
einem  Theil  der  tuberculösen  Abscesse  findet,  scheinen  secundär 
zuzutreten.  Oder  die  an  sich  schon  gefässarmen  Käseherde  ver- 
trocknen, verkreiden  und  verkalken,  eine  Art  der  Aus- 
schaltung aus  dem  Stoffwechsel,  welche  für  den  Organismus  als 
ein  günstiges  Ereigniss  angesehen  werden  muss  (s.  pag.  48).  Denn 
die  in  ihnen  enthaltenen  Tuberkelsporen  —  Bacillen  finden  sich  in 
den  Käseherden  nicht  mehr  —  werden  dadurch  mit  abgekapselt.  — 
Der  günstigste  Ausgang  des  tuberculösen  Herdes  ist  der  in  Narben-  Biutsernmcultur  des 
bildung.  Es  bildet  sich  ein  massiges  Bindegewebe,  welches  die  ,jj'^"^''^''^/^|',f^''„'"",^^^ 
gewöhnliche  Narbenschrumpfung  durchmacht  und  so  die  zwischen  ^^^  aumga) 
ihnen  liegenden  tuberculösen  Ablagerungen  erdrückt.  In  Fig.  114  zieht 

ein  solcher  Bindegewebsstrang  schräg  von  links  oben  nach  rechts  unten  durch  das  Prä- 
parat. —  Leider  ist  der  Ausgang  in  Narbe  der  weniger  häufige;  in  Knochen  und  Ge- 
lenken noch  häufiger  als  in  inneren  Organen,  wie  den  Lungen.  Diesen  günstigsten 
Ausgang  herbeizuführen,  ist  die  Aufgabe  der  Behandlung. 

Die  Art  und  Weise  der  Uebertragung- dieser  Infectionskrank- 
heit  ist  in  den  wenigsten  Fällen  mit  Sicherheit  festzustellen.  Man  unter- 
scheidet eine  ererbte  und  eine  acquirirte. 


Tubei-culose.  ;[77 

Die  Möglichkeit  einer  directeu  Uebertragung  der  Tuberculose  von  den  Eltern  auf 
die  Kinder  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Weigert  und  Jani,  ebenso  Foä  haben  im  Sperma 
Tuberculöser  Bacillen  gefunden ,  selbst  wo  die  Hoden  scheinbar  normal  waren.  Die 
grosse  Zahl  der  anscheinend  hereditär  belasteten  Kinder  (ca.  60 — 707o  aller  Tuber- 
culosen des  Kindesalters  nach  einzelnen  Autoren)  dürfte  sich  auch  noch  anders  erklären. 
Vererbt  wird  die  elende  Constitution  seitens  der  kranken  Eltern  (z.  B.  der  enggebaute 
Brustkorb)  und  die  widerstandsunfähigen,  kärglichen  Kinder  werden  nach  der  G-ebuii; 
von  ihren  Eltern  oder  durch  die  inflcirte  Wohnung  ii.  s.  f.  in  den  ersten  Jahren  inficirt. 
Kommen  selbst  von  Vater  und  Mutter  her  belastete  Kinder  bald  nach  der  Geburt  in 
andere,  reine  Verhältnisse,  z.  B.  ein  gutes  Waisenhaus,  so  erkrankt  nur  ein  verschwindend 
kleiner  Procentsatz. 

Für  die  erworbene  Tu  bereu  lose  sind  die  Eingangspforten  in 
erster  Linie  die  Luftwege,  besonders  die  Lungen.  Doch  scheinen  bei 
Kindern  auch  Mund  und  Nase  gelegentlich  die  Stätten  der  ersten  Ent- 
wicklung der  Bacillen  zu  sein.  Starck  (Münch.  med.  Wochensehr., 
1896,  7)  hat  bei  41  Procent  von  scrophulösen  Lymphdrüsenschwellungen 
am  Halse  Caries  der  Zähne  und  in  diesen  cariösen  Zähnen  zahlreiche 
Tuberkelbacillen  gefunden.  Die  Verdauungswege  kommen  ebenfalls  in 
Betracht  (Infection  durch  verschlucktes  tuberculöses  Bronchialsecret, 
dann  durch  die  Milch,  weniger  das  Fleisch  perlsüchtiger  Kühe),  noch 
seltener  sind  es  die  Genitalien  (Weiber).  Die  Uebertragung  durch 
äussere  Wunden  ist  extrem  selten  (siehe  Leichentuberkel) ;  beim  scrophu- 
lösen Ekzem  der  Kinder  soll  gleichfalls  eine  Inoculation  von  Tuberkel- 
bacillen möglich  sein  (Demme). 

Der  Weg  der  weiteren  Verbreitung  ist  der  der  Embolie. 
Theils  mögen  die  Bacillen  oder  Sporen  mit  dem  Lymphstrom  in  den 
Blutstrom  gelangen  (z.  B.  von  den  Halsdrüsen  aus),  wie  Weigert  Ba- 
cillen im  Ductus  thoracicus  gefunden  hat.  Derselbe  Forscher  fand  auch 
in  fast  allen  Fällen  von  allgemeiner  Miliartuberculose  bacillenhaltige 
Venenthromben.  An  dem  Orte  ihrer  neuen  Heimat,  ihrer  neuen  Locali- 
sation  entwickeln  sich  nun  die  Bacillen  in  der  geschilderten  Weise  weiter 
(s.  pag.lT). 

Die  Tuberculose  der  inneren  Organe  können  wir,  als  den  Chirurgen 
weniger  direct  beschäftigend,  ausser  Acht  lassen.  —  Bei  der  Tuberculose 
der  Knochen  und  Gelenke  ist  noch  manches  Ergänzende  über  Tuber- 
culose mitgetheilt  (s.  dort). 

Das  Verhältniss  der  Scrophulose  zur  Tuberculose  ist  noch  nicht  ganz  klar 
gestellt.  Der  Name  Scrophulose  kommt  von  sus  scrofa,  das  Schwein,  weil  diese 
Kinder  mit  den  dicken  rüsselartig  aufgeworfenen  Lippen,  den  plumpen  Zügen,  dem  ge- 
dunsenen bleichen  Gesicht  und  dem  durch  Lymphdrüsenschwellungen  verdickten  Halse 
in  der  That  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  einem  Schweinskopf  zeigen. 

Man  unterscheidet  eine  torpide  und  eine  erethische  Form  der  Scrophulose. 

Die  torpide  Form  ist  die  typischere;  sie  ist  jedem  Laien  bekannt  und  geläufig. 
Es  sind  jene  blassblonden  oder  rothhaarigen,  pigmentarmen,  meist  trägen,  indolenten 
und  oft  wenig  intelligenten  Kinder  mit  plnnipen  dicken  Körperfornien ,  stumpfem  Ge- 
sichtsausdruck, wässerigen,  matten,  blaugrauen  Augen;  das  Gesicht  gedunsen,  blass, 
wie  teigig  (w(jfür  häufig  der  Ausdruck  „pastös"  von  Pasta,  der  Teig,  gebraucht  wird), 
die  Nase  plump  und  aufgeworfen,  die  Lippen  dick,  gewnistet,  blass.  Die  Augen  sind 
häufig  Sitz  chronischer  Entzündung  sowohl  an  den  Lidern  (Blepharitis  ciliaris),  als  in 
der  Conjuiictiva  und  der  Hornhaut  (Conjunctivitis  und  Keratitis  scrophulosa),  bald  durch 
eiterige  Kiiisten  verklebt,  bald  stark  träufelnd,  häufig  ist  Blinzeln  und  Zwinkern  (durch 
Lichtscheu,  Blepharospasmus).  Die  Nase  ist  der  Sitz  chronischen  Schnupfens,  sie 
ist  oft  geschwollen,  an  d(Mi  Nasenlöchern  finden  sich  kleine  Schrundengeschwüre,  (ebenso 
an  den  Lippen.  Auch  die  Ohren  sind  Sitz  chronischer  Entzündung,  welche  schliesslich 
selbst  zur  Eitening  im  Mittelohr  und  dauerndem  citrigen  Ausfluss  aus  dem  Ohr  mit 
Schwerhörigkeit  oder  Taubheit  führt.  Chronische  Rachen katan-hc  mit  Entzündung 
oder  Hypertrophie  der  Tonsillen  fehlen  nicht.  Häufig  sind  Gesicht  und  behaarte  Kopf- 
Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Theraine.  2.  Aufi.  12 


X78  m-  f-'apitel.  —  V(;rl<,tziinfrt;n. 

haut  Sitz  chronischer  Hautausschläge  (namentlich  Ekzeme).  Sämmtliche  Drüsen  des 
Halses,  des  Nackens  u.  s.  f.  sind  geschwollen,  oft  zu  faustgrossen  Packeten.  Dazu 
kommen  —  ausser  Ausschlägen  am  übrigen  Körx)er  —  namentlich  noch  Neigung  zu 
Erkältungen,  zu  Bronchialkatarrhen  und  Lungenentzündungen.  TJeberhauj)t  zeigt  jede 
andere  Krankheit,  jede  Verletzung  die  Neigung,  sich  zu  verschleppen;  die  Kinder  zeigen 
liäufig  eine  „schlechte  Heilhaut"  und  machen  Eltern  und  Arzt  in  gesundheitlicher  Be- 
ziehung stets  Angst  und  Sorge. 

In  scharfem  Contrast  hiemit  steht  die  erethische  Form. 

Diese  Kinder  sind  meist  mager,  oft  schwarz  oder  brünett;  sie  sind  sehr  lebendig, 
oft  geradezu  erregt  (daher  erethisch),  unruhig  wie  Quecksilber.  Kurzum,  das  Verhalten 
solcher  Kinder  ist  gerade  das  Gegentheil  der  torpiden  Scrophulose.  —  Was  ihnen  aber 
gemeinsam  ist  mit  jenen ,  ist  die  gesteigerte  Empfindlichkeit  gegen  jede  geringfügige 
Schädlichkeit,  die  ein  gesundes  Kind  nur  vorübergehend  beeinflussen  Avürde ,  und  der 
schleppende ,  überaus  langsame ,  vielfach  durch  Rückfälle  gestörte  Verlauf  der  acqui- 
rirten  Leiden.  —  Die  Drüsenschwellung  tritt  hier  weniger  in  den  Vordei'grund,  wenigstens 
sieht  man  nicht  oft  so  grosse  Lymphdrüsengeschwülste.  Die  Neigung  zu  chronischen 
Katarrhen  der  Respirationswege,  zu  Ohr-  und  Augenaffectionen  ist  dieselbe.  Diese  Kinder 
werden  häufig  vom  Arzt  als  „nervöse"  Kinder  geführt  und  behandelt,  während  ein 
antiscrophulöses  Regime  sofort  Besserung  erzielt  (s.  unten). 

Die  Behandlung  der  Scrophulose  ist  unten  besprochen. 

Die  Prognose  ist  verschieden.  Ein  Theil  der  Kinder  erliegt  der  Krankheit.  Ein 
anderer ,  und  zwar  der  grössere ,  überwindet  dieselbe  mit  der  vollendeten  Körper- 
entwicklung, er  „verwächst  die  Scropheln".  Doch  ist  auch  bei  diesen  stets  die 
Möglichkeit  gegeben,  dass  in  späteren  Jahren  Avieder  tuberculöse  Erscheinungen  (Gehim- 
oder  Lungenafi'ectionen)  hervortreten. 

Die  pathologischen  Anatomen  möchten  Scrophulose  und  Tuber- 
culöse identificiren,  denn  in  den  scrophulösen  Producten  findet  sich  der 
Tuberkelbacillus  ebenso,  wie  in  echt  tuberculösen,  und  scrophulose  Massen 
z.  B.  aus  Lymphdrüsen  erzeugen,  auf  Kaninchen  verimpft,  echte  Tuber- 
culöse. Der  Kliniker  kann  die  beiden  Krankheiten  nicht  in  eine  ver- 
schmelzen, weil  ihr  ganzer  Verlauf,  ihre  Bedeutung  für  den  befallenen  Or- 
ganismus doch  eine  andere  ist,  als  die  echter  Tuberculöse.  Das  Alter  allein 
vermag  auch  nicht  den  Ausschlag  zu  geben,  man  kann  die  Scrophulose 
nicht  einfach  als  Tuberculöse  des  Kiudesalters  bezeichnen.  Höchstens 
könnte  man  annehmen,  dass  die  Scrophulose  eine  durch  die  Vererbung 
abgeschwächte  Tuberculöse  wäre ,  sei's  nun ,  dass  die  Virulenz  eine 
verminderte,   oder  die  Widerstandsfähigkeit  eine  erhöhte  wäre. 

Eine  allgemeine  Therapie  der  Tuberculöse  wird  von  einer 
Anzahl  von  Chirurgen ,  die  sich  ausschliesslich  an  die  Bekämpfung, 
resp.  Entfernung  der  örtlichen  tuberculösen  Herde,  der  Localtuberculosen, 
gewöhnt  haben,  für  unnöthig  oder  aussichtslos  gehalten.  Entgegen  dieser 
Ansicht  kann  auf  Allgemeinbehandlung  Tuberculöser  nicht  Werth  genug 
gelegt  werden. 

Für  die  chirurgischen  Tuberculosen  ist  zunächst  eine  Auf- 
besserung des  oft  sehr  darniederliegenden  Ernährungsstandes  zu  er- 
streben. 

Klimatisch  sind  Aufenthalt  in  Höhen-  und  Waldluft,  noch  besser 
an  der  See  oder  in  Soolbädern,  in  Verbindung  mit  warmen  Seebädern 
und  Soolbädern  (3 — 10  Procent ,  natürliche  und  künstliche  mit  Soole, 
Seesalz,  Stassfurter  Salz  etc.)  zu  empfehlen.  Auch  Schwefelbäder  (na- 
türliche oder  künstliche)  mit  Kalium  siüfur.  pro  balneo  (20 — 100  Grm. 
pro  Bad)  haben  sich  mir   besonders   bei    fistulösen  Processen   bewährt. 

In  der  Ernährung  sind  die  Fettbildner  zu  bevorzugen.  Die  rein 
vegetarische  Diät,  die  namentlich  von  einigen  englischen  Aerzten  als 
Panacee  gepriesen  wird,  kann  ich  nicht  besonders  empfehlen,  wenn  auch 


Tuberculose.  Syphilis.  179 

scrophiüöse  Kinder  wenig  Fleisch  bedürfen.  Hauptsächlich  sind  Fette 
zuzuführen,  besonders  gute  Butter ,  dann  Leberthran ,  Eier  u.  dergl. ; 
auch  dunkle  malzreiche  Biere.  Wein  ist  unnöthig.  Von  Medicamenten 
sind  die  Tonica  zweckmässig,  in  erster  Linie  die  Chinapräparate, 
wie  Tinct.  Chinae  compos.  (dreimal  täglich  20 — 40  Tropfen)  oder  China- 
weine; sie  sind  bei  schwachem  Magen  geeignet,  wo  auch  Acid.  muriat. 
dilut.  (4 — 9  Tropfen  in  Wasser  zum  Essen)  angezeigt  sein  kann,  ferner, 
wo  die  Verdauung  gut  ist,  Eisenpräparate  —  die  verschiedenen  or- 
ganischen Eiweissverbindungen ,  Hämatogen ,  Ferratin  u,  dergl.  Dann 
die  natürlichen  Eisenwässer.  Billig  sind  Ferr.  hydrogenio  reductum 
(messerspitzenweise) ,  dann  Liquor  ferri  albuminati  u.  dergl.  m.  Auch 
Eisen  mit  Mangan  zusammen  wird  empfohlen. 

Auch  die  Jodpräparate  sind  mitunter  von  Nutzen,  weniger  das 
Jodkali  (0'5— 10  pro  die)  und  die  Tinctura  ferri  jodati  (dreimal  täg- 
lich 30 — 50  Tropfen) ,  als  die  natürlichen  Jodwässer  (Adelheidquelle, 
Haller  Jodwasser  u.  dergl),  die  in  kleineren  Mengen  (Vs — Ys  Liter 
täglich)  monatelang  gegeben,  namentlich  bei  Drüsenschwellungen,  scro- 
phulösem  Schnupfen  etc.  oft  gute  Erfolge  geben.  Bei  Drüsenschwel- 
lungen thut  oft  auch  Arsenik  gute  Dienste  (Solut.  Fowleri  5*0,  Tinct. 
Chin.  compos.  45*0,  2 — 3mal  täglich  15 — 50  Tropfen;  Pilulae  arseni- 
cales  —  Acid.  arsenicosi  0"1 — 0'4,  Extr.  et  Pulv.  Liquir. ,  Mucilag. 
gumm.  arab.  aa.  q.  s.  u.  f.  pil.  100,  dreimal  täglich  1  Pille,  je  nach 
dem  Essen). 

Ein  Specificum  gegen  Tuberculose  besitzen  wir  nicht.  Insbeson- 
dere hat  das  Tuberculin  wesentlich  höhere  Sterblichkeitszitfern  bei 
chirurgischer  Tuberculose  gegeben,  als  alle  anderen  Behandlungsmethoden. 
Guajacol  wird  von  SchüUer  warm  empfohlen. 

Ich  habe  mit  Zimmtsäurepräparaten  (s.  Tuberculose  der  Knochen 
und  Gelenke)   glänzende  Erfolge   erzielt   (circa   90  Procent  Heilungen). 


Die  Syphilis,  heutzutage  eine  Volkskrankheit  von  ausgedehn- 
tester Verbreitung  und  eingreifendster  socialer  Bedeutung,  ist  längst 
zum  Gegenstand  eingehender  specialistischer  Bearbeitung  geworden  und 
es  ist  daher  auf  die  betreffenden  Lehrbücher  zu  verweisen. 

Die  Syphilis  ist  jedenfalls  eine  bacilläre  Krankheit,  wenn  es 
auch  noch  nicht  feststeht,  ob  der  von  Lustgarten  entdeckte,  den 
Tuberkel-  und  Leprabacillen  ähnliche  Bacillus  der  Träger  der  Krank- 
heit ist.  —  Histologisch  charakterisiren  sich  die  Producte  der  Syphilis 
(Syphilome)  als  kleinzellige  gefässarme  Infiltrate,  mit  starren  Binde- 
gewebszügen  durchsetzt.  Sie  neigen  sehr  zu  secundären  Veränderungen. 
Bald  kommt  es  zur  völligen  Resorption,  bald  zur  Narbenbildung;  die 
grösseren  Infiltrate  dagegen  tendiren  zur  centralen  schleimigen  Erwei- 
chung und  bilden  dann  bis  hühnereigrosse,  wenig  geröthete,  meist 
kugelige  fluctuirende  Geschwülste,  die  eingeschnitten  eine  gummiähnliche 
Schleimmasse  entleeren  —  Gummigeschwülste,  Gumm  ata.  Wir  wissen 
jetzt,  dass  diese  Gummata,  die  früher  zu  den  echten  Geschwülsten  ge- 
rechnet wurden,  wie  alle  syphilitischen  Productioncn  lediglich  auf  ent- 
zündlichem Wege  entstehen,  wie  iil)crliaupt  die  Erscheinungen  der  Syphilis 
unter  allen  bekannten  Formen  der  Kiitzündnng  zu  Tage  treten  kiinnen. 

Lebertragen  kann  die  Syphilis  werden  durch  jede  otlene  Wunde 
(Chirurgen,  Hebammen),    am  häufigsten    durch    den    Coitus.  —  Ob  die 

12* 


180  III-  Capitol.  —  Verli;tziingf;ii. 

hereditäre  Syphilis ,  welcher  der  grösste  Theil  der  Kinder  manifest 
syphilitischer  Eltern  in  der  Fötal/eit  oder  in  den  ersten  Lebensjahren 
erliegen,  noch  in  den  späteren  Jahren  wirksam  bleibt,  ist  eine  offene 
Frage  (Lues  hereditaria  tarda  V).  Oft  erweist  sich  bei  genauer  Nach- 
forschung die  Syphilis  denn  doch  während  des  extrauterinen  Lebens, 
allerdings  auf  ungewöhnlichem  Wege,  übertragen. 

Die  erste  Erscheinung  der  Syphilis  ist  einige  Tage  nach  der 
Infection  die  Bildung  eines  syphilitischen  Infiltrats  an  der  Impfsteile, 
also  meist  an  den  Genitalien.  Dieser  „Primäraffect",  „Initialsklerose", 
ein  hartes  Knötchen  kann  sich  wieder  resorbiren ;  meist  wird  die  Epi- 
dermis abgescheuert  und  es  entsteht  ein  Geschwür  auf  harter  infiltrirter 
Basis  (dem  luetischen  Infiltrat)  mit  dünner  schleimiger  Secretion,  blassen 
kümmerlichen  Granulationen,  ein  Ulcus  durum  atonicum,  „der  harte 
Schanker"  (Pergamentschanker).  Während  er  allmälig,  im  Laufe  von 
Wochen  bis  Monaten  heilt,  vergrössern  sich  die  zugehörigen  Lymph- 
drüsen, sie  sind  nicht  schmerzhaft,  verschieblich,  hart;  verlöthen  nicht 
untereinander.  Von  hier  aus  scheint  die  syphilitische  Infection  in  die 
Circulation  einzubrechen;  die  Syphilis  wird  „Constitutionen",  d.h.  über 
den  ganzen  Körper  hin  erscheinen  die  syphilitischen  Productionen, 
ungefähr  4—6  Wochen  nach  der  Ansteckung.  Die  Producte  der  sy- 
philitischen Infection  sind  äusserst  vielgestaltig  („multiform");  denn 
es  giebt  keine  Form  der  Entzündung  von  der  einfachen  entzündlichen 
Hyperämie  bis  zur  hämorrhagischen  Form  und  bis  zum  Geschwür  und 
Brand,  welche  die  Syphilis  nicht  hervorrufen  könnte  und  es  giebt  auch 
kein  Organ  des  Körpers,  welches  diese  Krankheit  verschont  Hesse. 
Während  in  den  ersten  Zeiten,  in  der  Secundärperiode,  wenn  man 
Infectionsgeschwür  und  örtliche  Lymphdrüsenschwellung  als  Primär- 
periode bezeichnet,  die  Zahl  der  Localisationen  eine  ungeheuer  grosse 
ist,  namentlich  auf  Haut  und  Schleimhäuten,  die  Form  derselben  aber 
meist  eine  weniger  schwere  ist,  Erytheme,  seröse  Exsudationen  u.  dergl., 
sind  dieselben  in  der  späteren  Periode,  der  Tertiärperiode,  meist 
weniger  zahlreich,  aber  um  so  schwerer,  langdauernde  geschwürige 
Processe,  Bildung  von  Gummata  u.  s.  w.,  Nekrosen  und  betreffen  mehr 
innere,  edlere  Organe,    Knochen ,  Gefässe ,  Nervensystem ,  Eingeweide. 

Klinisch  macht  sich  der  Ausbruch  der  constitutionellen  Syphilis 
meist  durch  eine  Periode  allgemeinen  Krankheitsgefühls  geltend,  leichtes 
Fieber,  Gelenk-  und  rheumatische  Schmerzen.  Dann  kommt  das 
Exanthem,  nicht  juckend  und  kupferroth,  an  symmetrischen  Körper- 
stellen auftretend,  vom  einfachen  hyperämischen  Fleck  bis  zur  eiterigen 
Pustel  (maculöses,  papulöses,  bullöses  Syphilid,  Erythema  syphiliticum 
u.  s.  w.).  Diesen  Hautefflorescenzen  schliesst  sich  dann  bald  Schleim- 
hautaffection  an,  zunächst  gewöhnlich  im  Rachen,  Röthung,  Epithel- 
verdickung (Plaques  muqueuses)  bis  zur  Geschwürsbildung.  An  stark 
schwitzenden  Stellen  kommen  nässende  Papeln  mit  oberflächlicher 
Epithelabstossung  (breite  Condylome),  am  Anus,  Scrotum,  Labien, 
Achselhöhle  u.  s.  w.  An  den  Ostien  des  Körpers  (Mund,  Anus,  Nasen- 
winkeln) entwickeln  sich  kleine  Schrundengeschwüre  (Rhagaden).  Zu 
gleicher  Zeit  bildet  sich  auch  eine  nicht  schmerzhafte  harte  Schwel- 
lung aller  Lymphdrüsen  des  Körpers  aus. 

Der  weitere  Verlauf  ist  nun  sehr  verschieden,  je  nach  der 
Schwere   des   Falles   und   der   Behandlung.     Die   alten   Erscheinungen 


SypMlis.  181 

heilen  aus  und  neue  treten  an  ihre  Stelle ;  die  Erkrankungen  der  Haut 
sind  weniger  zahlreich,  aber  schwerer,  mit  Krusten  bedeckte  Gleschwüre 
(Rupia),  schuppende  Infiltrate  in  Handteller  und  Fusssohlen  (Psoriasis 
palraaris  und  plantaris)  u.  s.  w.  —  Dazu  kommen  die  Erkrankungen 
innerer  Organe,  Entzündungen  und  Verdickungen  der  Knochenhaut  mit 
heftigen,  namentlich  nächtlichen  Schmerzen  („Dolores  nocturni  osteocopi"), 
Neuralgien,  Erkrankungen  der  parenchymatösen  Organe  (Leber  u.  dergl), 
der  nervösen  Centralorgane ,  der  Schleimhäute ,  der  Gef ässe  u.  s.  w. 
Diese  „viscerale"  Lues  kann  als  solche  zum  Exitus  führen,  oder  die 
Kranken  verfallen  in  Siechthum  und  enden  an  amyloider  Entartung 
der  inneren  Organe. 

In  der  Behandlung  spielen  Quecksilber  und  Jod  die  erste  Rolle. 
Frische  Fälle  werden  am  besten  mit  Quecksilber  behandelt  und  ist 
nach  meinen  Erfahrungen  die  alte  Schmiercur  (Ung.  cinereum  1 : 2, 
2 — 3  Grm.  täglich,  so  dass  in  sechs  Tagen  der  ganze  Körper  einge- 
rieben wird,  im  Ganzen  24 — 30  Dosen  —  4 — 5mal  „durch")  noch  die 
verlässlichste  und  am  wenigsten  angreifende  Cur.  Oft  lasse  ich  da- 
neben noch  ]  Grm.  Jodkali  (in  Dosen  zu  0"3  3mal  täglich  nach  der 
Mahlzeit  in  Wasser,  Selterswasser  oder  Milch)  nehmen.  Für  spätere 
Stadien  genügt  oft  eine  6— 8 wöchentliche  Behandlung  mit  Jodkali  (in 
etwas  stärkerer  Dosis  [l'ö — 2  Grm.  täglich]),  um  die  vorhandenen  Er- 
scheinungen zum  Schwinden  zu  bringen.  Doch  ist  die  Wirkung  des 
Jod  eine  rascher  vorübergehende  und  wird  man  auch  für  die  Spät- 
formen oft  zu  einer  combinirten  Jodkalischmiercur  mit  Nutzen  zurück- 
greifen. Die  Injectionsverfahren  (Sublimat,  Calomel  u.  s.  w.)  liefern 
meist  doch  nicht  das,  was  die  Schmiercur  leistet.  Immerhin  gibt  es 
einige  gute  (unlösliche  d.  h.  schwerlösliche)  Präparate:  Hydrarg. 
salicylic.  (1 : 9  Ol.  araygdalarum)  zweimal  wöchentlich  0"5  Ccm.  in  die 
Glutäalmuskeln  tief  inj icirt,  12 — 16  Injectionen;  Ol  cinereum  0'3  einmal 
wöchentlich,  6  Injectionen,  schmerzhaft,  aber  dauernder  in  der  Wirkung, 
als  H.  salicyl.,  Hydr.  sozojodolicum  u.  s.  w.  Quecksilber  innerlich  greift 
Magen  und  Darm  sehr  an. 

Nichts  wäre  jedoch  verkehrter,  als  zu  glauben,  mit  einer  solchen 
einmaligen  Behandking  sei  die  Syphilis  getilgt.  Der  Kranke  muss 
jahrelang  unter  Aufsicht  bleiben.  Ein  geregeltes  Leben  und  energische 
Balneotherapie  (Dampfbäder,  Schwefelbäder,  später  Kaltwassercuren, 
Seebäder  u.  s.  w.),  viel  Körperbewegung,  strengste  Beachtung  jeder 
neuen  Aeusserung  der  Krankheit  sind  unerlässlich.  Bei  hartnäckigen 
Spätformen  (Geschwüren,  Gummatabildung  u.  s.  w.)  sind  oft  auch  andere 
Curen,  besonders  die  Entziehungscuren  mit  Holztränken  zu  empfehlen. 
Fälle,  die  vorher  auf  Jod  und  Quecksilber  gar  nicht  mehr  reagirt  haben, 
heilen  ohne  diese  oder  werden  jetzt  wieder  durch  sie  günstig  beein- 
flusst.  Einen  Syphiliticus  heiraten  zu  lassen,  der  nicht  mindestens  zwei 
Jahre  frei  von  jedem  Symptom  war,  ist  sehr  unrecht.  Von  den  Kindern 
florid  Syphilitischer  gehen  mindestens  80  Procent  durch  Fehlgeburt 
oder  nachher  an  Lebensschwäche  zu  Grunde. 

Für  uns  Chirurgen  fängt  die  Sy|)liilis  meist  erst  in  den  Spät- 
stadien an,  interessant  zu  werden,  und  hier  feiern  diagnostischer  Scharf- 
blick und  Schulung  l'riuniphe.  In  den  ersten  Stadien  macht  jeder 
Laie  die  Diagnose ;  später  nach  Jahrzehnten ,  wenn  der  Kranke  den 
„kleinen  Schanker"    längst    vergessen    hat,    gilt    es.   den    ursächlichen 


182 


III.  Oapitel.  —  Verletzungen. 


Fig.  IIG. 


Zusammenhang  festzustellen,  wenn  die  Kranken  mit  Leber-  oder  Iloden- 
geschwülsten  ankommen ,  die  für  Krebse  oder  Sarkome  gehalten  sind 
und  auf  Jodkali  zurückgehen;  wenn  Rheumatismen,  Neuralgien  und 
Lähmungen  als  auf  veralteter  Syphilis  beruliend  erkannt  werden ;  wenn 
Knochenhautentzündungen,  Eiterungen,  Knochennekrosen,  Gelenkent- 
zündungen. Hautgeschwüre  u.  dergl.  antisyphilitischer  Behandlung  wei- 
chen u.  dergl.  mehr.  Kaum  je  wird  man  in  der  Praxis  von  einem 
Satze  so  viel  Nutzen  ziehen,  als  wenn  man  sich  zur  rechten  Zeit  er- 
innert an  den  alten  Spruch:  „In  dubiis  respice  luem"  (s.  Knochen-, 
Gelenk-,  Haut-  etc.  Syphilis). 

Die  Lepra  (Aussatz,  Spedalskhed,  Radesyge  u.  s.  w.),  im  Mittel- 
alter über  die  ganze  gebildete  Welt  verbreitet,  ist  heute  nur  noch  ver- 
einzelt in  Norwegen,  Spanien,  auf  der  Balkanhalbinsel,  an  den  Küsten 
des  Mittelmeers,  in  Indien,  auf  den  Inseln  des  grossen  Oceans  (Samoa) 
anzutreffen,  doch  sind  neuerdings  auch  in  Deutschland  —  Ostpreussen  — 
Herde  aufgedeckt. 

Die  Ursache  der  Lepra  ist  der  Leprabacillus  (Armaiier  Hansen). 
Durch  die    Einwirkung    des    Leprabacillus    auf  die  Gewebe   und    ihre 

Rückwirkungen  gegen  den  Bacillus  ent- 
stehen die  für  Lepra  charakteristischen 
anatomischen  Veränderungen.  Fig.  116 
nach  Schwimmer  zeigt  Leprabacillen  in 
grosser  Menge,  a  ist  eine  grosse  „Lepra- 
zelle" mit  zahlreichen  Bacillen,  h  kleinere 
mit  bacillenerfüllten  Kernen,  c  eine  Ca- 
pillare  mit  gequollenen  Endothelien,  /ein 
Gewebsbündel  (Vergrösserung  86ü).  Diese 
Zellen  häufen  sich  an  den  erkrankten 
Stellen  zu  knotigen  Anschwellungen  zu- 
sammen ,  welche  aus  Gef ässen,  weissen 
Blutzellen,  Bindegewebe,  Leprazellen  be- 
stehen und  so  Gebilde  vom  Bau  des 
Granulationsgewebes  bilden  (Granulationsgeschwülste,  Virchow).  Diese 
in  Millionen  durch  den  Körper  verbreiteten  Lepraknoten  und  Knötchen- 
infiltrate  verursachen  die  klinischen  Erscheinungen  der  Krankheit.  Nach 
Unna  liegen  die  Leprazellen  extracellulär  in  den  Lymphgängen. 

Die  üebertragungs weise  der  Lepra  ist  unbekannt;  doch  spielen 
Heredität  und  naher  persönlicher  Verkehr  wohl  eine  Rolle.  Nach  einem 
der  Syphilis  ähnlichen  Prodromalstadium  unklarer  Krankheitssymptome 
tritt  ein  grossfleckiger,  wenig  erhabener,  meist  blutrother  Ausschlag  auf 
(Lepra  maculosa  nigra);  durch  Resorption  des  Pigments  können  die 
Flecken  im  Laufe  der  Zeit  weisser  werden  als  die  Umgebung  (Lepra 
maculosa  alba).  Meist  aber  entwickeln  sich  aus  den  Flecken  unregel- 
mässige knollige  Knoten  (L.  tuberosa),  welche  häufig  zu  Geschwüren 
zerfallen  (L.  ulcerosa). 

Einstweilen  sind  auch  die  Schleimhäute  befallen,  zeigen  Infiltra- 
tionen und  Geschwüre  (Conjunctiva ,  Kehlkopf).  Besonders  wichtig 
aber  sind  die  Veränderungen  der  Nerven,  in  deren  Scheiden  die  Ba- 
cillen haufenweise  sich  finden.  Nach  einer  kürzeren  Periode  der  Hyper- 
ästhesie kommt  es  aieist  zur  völligen  Anästhesie  (Lepra  anaesthetica) 
und  vermuthlich  durch  die  damit  zusammenhängenden  trophischen  Stö- 


Lepra.  Rliinosclerom. 


183 


riiügen  zur  (neurotischen)  Gangrän  einzelner  Körpertheile ,  namentlich 
Finger,  Zehen  u.  s.  f.  (Lepra  mutilans).  —  Allem  nach  bleiben  auch 
die  Gefässe  und  die  inneren  drüsigen  Organe  von  den  charakteristischen 
leprösen  Infiltrationen  nicht  frei. 

Die  Krankheit  führt  nach  mehrjährigem,  oft  auch  jahrzehntelangem 
Bestand  durch  Siechthum  zum  Tode.  Stillstände  sind  häufig,  Genesun- 
gen sehr  selten.  Wechsel  des  Aufenthaltes,  energische  warme  Bäder, 
Chinin.  Eisen,  Arsen  sind  zweckmässig ;  auf  die  Geschwüre  legt  man 
Emplastr.  Hydrargyri,  Jodsalben  u.  s.  f.  In  den  Tropen  wird  der  Gur- 
junbalsam  (5  — 8  Grm.  täglich)  und  das  Chaulnioorgraöl  (0"5 — 1"0  täg- 
lich) empfohlen.    Lepröse  sind  zeitlebens  in  Leproserien  zu  isoliren. 


Fig.  117. 


Auf  der  Anwesenheit  des  Rhinosclerombacillus  beruht  das  Rhino- 
sclerom.  Der  Rhinosclerombacillus  ist  ein  kurzer,  plumper  Kapsel- 
bacillus,  der  die  Gelatine  nicht  verflüssigt  und  mit  Anilinfarben,  z.  B. 
Löff'lcr' scher  Methylenblaulösung,  zu  färben  ist  (Fig.  117). 

Das  Rhinosclerom  kommt  fast  nur  im  Osten  Europas  und  in 
einigen  tropischen  Ländern  vor.  Derselbe  Erreger  scheint  auch  den 
als  Cliorditis  vocalis  hyi)erplastica  inferior  beschriebenen  Wucherungen 
im  Keblkr)])f  zu  Grunde  zu  liegen.  Anatoniiscli  bat  man  es  mit  schmerz- 
losen derben  Bindcgewebswuclierungen  (Granulationsgeschwülsten  mit 
grossen  Zellen  und  Hyalinbildung)  zu  thun,  die  die  Nase,  die  Nasen-, 
Gaumen-  und  Kachensclilcindiaut ,  ebenso  die  Schleimhaut  des  Kehl- 
kopfs   zu  dicken  (die   Resjjiration    oft   störenden)    Wülsten    auftreiben. 


184  in.  Capitel.  —  Vorlotzuiigcn. 

Der  Process  beginnt  im  submuc()sen  Gewebe,  geht  aber  später  auch 
auf  den  Knorpel  über.  Ein  Theil  der  Wucherungen  schrumpft  später 
narbig,  während  der  Process  an  der  Peripherie  fortschreitet. 

Die  Therapie  steht  dem  Rhinosclerom  bis  jetzt  ziemlich  ohnmächtig 
gegenüber.  Die  Excision  gibt  nur  vorübergehende  Erfolge.  Indicirt 
sind  Injectionen  mit  Carbolsäure  IV2 — 2  Procent,  Sublimatlösungen 
1/2 — 1  Procent,  ferner  Bepinselungen  mit  Jodtinctur,  Pyrogallussäure 
(1 : 9),  Milchsäure,  Kali  causticum,  Argent.  nitricum  u.  s.  w.  Doutrelepont 
empfiehlt  Iprocent.  Sublimatlanolin.  (Vergl.  Wolkowitsch,  Lanffenheck's 
Archiv,  38.) 


Wundbehandlung. 

Geschichtliches,   —  Offene  Wundbehandlung  und    Occlusion.   —   Die  offene  Wund- 
behandlung s.  Str.  —  Irrigation  und  Immersion.  —  Tamponade.  —  Natürliche  und 
künstliche  Verschorfung.  —  Partielle  Occlusionsmethoden. 

Die    antiseptischen  Wundbehandlungsmethoden.    —    Das    ursprüngliche    Verfahren 

Lister's, 

Wenn  wir  das  Heer  von  Krankheiten ,  zum  Theil  fast  absolut 
tödtlicher  Art,  überblicken,  welche  sich  an  Wunden  und  Verletzungen 
anschliessen  können ,  so  muss  es  selbstverständlich  erscheinen ,  dass 
das  Bestreben  der  Chirurgen  stets  auf  den  einen  Punkt  gerichtet 
war ,  sie  zu  vermeiden  und  zu  bekämpfen.  Wie  furchtbar  die  Ver- 
heerungen waren  ,  welche  in  chirurgischen  Krankenabtheilungen  durch 
die  accidentellen  Wundkrankheiten  angerichtet  wurden ,  davon  kann 
man  sich  heutzutage  kaum  mehr  eine  richtige  Vorstellung  machen. 
Gab  es  doch  grosse  Hospitäler,  in  welchen  in  Monaten  und  länger 
auch  nicht  ein  Amputirter  mit  dem  Leben  davon  kam,  wo  selbst  Ver- 
letzungen leichtester  Art,  wie  Fingerquetschungen  u.  dergl.,  an  Pyämie 
zu  Grunde  gingen.  Die  Sterblichkeit  der  Amputationen  betrug  407o 
und  darüber. 

Schon  früh  hatte  sich  die  praktische  Erfahrung  Bahn  gebrochen, 
dass  Wunden,  wenn  sie  ohne  jeden  Versuch,  sie  zu  schliessen  ,  offen 
bleiben  und  das  Secrct  stets  frei  abfliessen  kann,  seltener  von  acciden- 
tellen Wundkrankheiten  betallen  werden  als  solche,  wo  die  Wunde 
sofort  ganz  geschlossen  und  etwaige  Wundsecrete  im  Innern  der  Wunde 
zurückgehalten,  dort  der  Zersetzung  anheimfallen,  in  die  Circulation 
eingepresst  werden  und  so  den  Körper  vergiften  können.  In  diesen 
beiden  sich  gegenüljer  stehenden  Verfahren  sind  die  beiden  Extreme 
der  Wundbehandlung  bezeiclniet,  die  offene  Wundbehandlung, 
welche  auf  jeden  \'erschluss  einer  auch  an  sich  /Air  Naht  geeigneten 
Wunde  verzichtet  und  einen  langsamen,  aber  sichereren  Heilungsverlauf 
erstrebt,  und  die  Verschluss-  oder  Occlusionsmethode,  welche, 
gewissermassen  va  banque  spielend,  die  Wunde  schliesst  und  heute 
eine  rasche  AVundheilung  in  wenig  Tagen  erzielt,  morgen  einen  anderen 
Kranken  an  Pyämie  u.  dergl.  verliert.  Zwischen  diesen  beiden  Me- 
thoden schwankte  man  hin  und  her  und  suchte  die  Vortheile  beider 
zu  combiniren.  ohne  ihre  Xachtheilc  mit  in  den  Kauf  nehmen  zu  müssen. 
Gute  Erfolge    ermuthigten  oft,    die  Wunden  zu  verschliessen.    bis  eine 


186 


IJT.  Ca])it(;l.  —  Verletzungen. 


Reiht 


von    MisseiTolgcn    der    Occlusionsniethode    wieder    zur    ofR-neii 


Wundbehandlung-  /urückg-reifen  liess.    Eine  Methode  drängte  die  andere. 

Die  verschiedenen  so  entstandenen  Wundbehandlungsmetlioden  sind  auch  heute 
noch  für  einzelne  Fälle  mitunter  zu  verwenden.  Die  einen  sind  modificirre  offene,  die 
anderen  abgeänderte  Occlusionsmethoden ;  fast  jeder  Modification  wohnt  ein  gewisser 
sinnvoller,  auch  heute  noch  gelegentlich  verwerthbarer  Gedanke  inne. 

Das  einfachste  Verfahren  ist  die  offene  Wundbehandlung  i.  e.  S.  Die 
"Wunde  wird  frei  liegen  gelassen,  die  Secrete  fliessen  in  ein  Näjjfchen  oder  eine  öfters 
gewechselte  Unterlage  von  Jute,  Moos  u.  dergl.  (vergl.  Fig.  118).  Das  sich  verdickende  Secret  ist 
ein  schlechterer  Nährboden  als  dünnflüssiges,  so  ist  die  Bacterienentwicklung  gering.  Solche 
Wunden  können  mit  schmalem  Entzündungshof  heilen.  Nur  in  den  ersten  4 — 5  Tagen 
ist  massiges  Fieber  vorhanden.  Bei  der  Wundbehandlung  unter  dem  einfachen 
Deck  verband  wird  die  nicht  vereinigte  Wunde  mit  einem  reinen,  in  reines  Was.ser 
getauchten,  oft  gewechselten  Läppchen  bedeckt.  Die  Wunde  bleibt  feucht,  die  Secretion 
ist  reichlicher  (Water  dressing  der  Engländer). 

Der  Gedanke,  die  Secrete  stets  sofort  in  dem  Moment  ihrer  Bildung  zu  entfernen, 
liegt  den  Irrigations-  und  Immersionsmethoden  zu  Grunde.  Bei  der  Irrigations- 
methode wird  über  der  Wunde  ein  Behälter  angebracht,  aus  welchem  Flüssigkeit  durch 
eine  oder  mehrere  Oeffnungen  in  schwachem  Strahl  oder  in  Tropfen  auf  die  Wunde 
fällt   und   die  Wunde   berieselt.     In  Verbindung    mit   antiseptischen  Flüssigkeiten  (z.  B. 


Fig. 118. 


2"/^  Lösung  von  essigsaurer  Thonerde)  wird  sie  auch  heute  noch  von  einzelnen  Chirurgen 
bei  Quetschungen  und  ansgedelinten  Eiterungen,  Z.B.Phlegmone  des  Vorderarmes,  in 
Anwendung  gezogen  (Fig.  119). 

Ebensowenig  ist  die  Immersion  als  völlig  überwundener  Standpunkt  zu  be- 
zeichnen. Das  betreffende  Glied  wird  in  eine  geeignete  Wanne  mit  Abflusshahu  am 
Boden  gebracht  und  dort  auf  quergespannten  Leinenstreifen  gelagert.  Dann  wh'd  die 
Wanne  mit  Wasser  von  38 — 40"  C.  mit  oder  (besser)  ohne  Zusatz  eines  wenig  giftigen  Anti- 
septicums  (SaKcylsäure,  Borsäure  u.  dergl.)  gefüllt.  Die  Flüssigkeit  wird  täglich  mindestens 
einmal  abgelassen  und  durch  neue  ersetzt.  Für  ausgedehnte  septische  Processe  mit 
Senkungen  u.  dergl.  ist  diese  Methode  auch  heute  noch  brauchbar.  Auf  die  Immersion 
des  ganzen  Körpers,  das  permanente  Vollbad,  wii'd  man  bei  ausgedehnten  Ver- 
brennungen und  schweren  Erysipeln  gelegentlich  mit  Nutzen  zurückgreifen. 

Einem  ganz  anderen  Princip  huldigen  die  Tampon  ade  verfahren.  Die  Wunde 
wird  mit  einem  absorbirenden  Stoff' ,  Watte ,  Mull ,  Leinwand ,  Charpie  ausgestopft, 
welcher  alles  Wundsecret  im  Augenblick  der  Bildung  sofort  ansaugen  soll.  Zur  Blut- 
stillung und  bei  der  Behandlung  von  Höhlenwunden  ,  welche  langsam  vom  Gnmde  aus 
heilen  sollen ,  z.  B.  tuberculösen  Processen ,  wird  die  Tamponade  mit  antiseptisch  prä- 
parirten  aufsaugenden  Stoffen  (besonders  Jodoformgaze)  auch  heute  noch  vielfach 
gebraucht. 

Die  Verse  hör  fungs  verfahren  streben  als  Ideal  die  Heilung  unter  dem  trockenen 
Schorf  an  (s.  pag.  80).  Nur  bei  kleinen  Wunden  erreicht  dies  die  Natur  durch  Ver- 
trocknung,  bei  grösseren  glückt  der  Versuch,  selbst  bei  reichlicher  Anwendung  aus- 
trocknender und  ätzender  Mittel  so  gut  wie  nie.    Fast  immer  sammelt  sich  zersetzungs- 


Verschiedene  Wundbehandlunffsmetlioden. 


187 


fälliges  Secret  unter  dem  Schorf  an ,  durchbricht  ihn ,  hebt  ihn  ab  und  verhindert  so 
die  Heilung  unter  dem  Schorf.  Die  zur  Verschorfung  nöthige  Verätzung  opfert  bei 
frischen  Wunden  natürlich  auch  viel  vom  Gesunden  und  eine  irgend  feinere,  z.  B.  eine 
plastische  Operation  ist  damit  ganz  unverträglich.  —  Man  bediente  sich  bald  stark 
ätzender  Mineralsäui'en,  wie  Schwefelsäure,  Salpetersäure  u.  s.  f.,  bald  ätzender  Alkalien. 
Im  Alterthum  und  Mittelalter  gab  es  geheimnissvolle  Mixturen,  meist  Balsame  ent- 
haltend, welche  in  die  Wunden  gegossen  wurden.  Bekannt  ist  ferner,  dass  bis  Ambroise 
Pare  die  Schusswunden,  welche  man  für  an  sich  schon  vergiftet  hielt,  mit  siedendem  Oel 
ausgegossen  und  so  vei'schorft  wurden.  —  Die  Araber  handhabten  in  ausgiebigster 
Weise  das  Glüheisen,  das  auch  später  noch  vielfach  verwandt  wurde. 

In  strictestem  Gegensatz  hiezu  stehen  die  Occlusions verfahren.     Die  totale 
Occlusion,    der   völlige  Verschluss   der  Wunde  in   allen   ihren  Theilen,    unbekümmert 

Fig.  119. 


um  alles  Folgende,  ist  der  extremste  Standpunkt.  Bei  manchen  Wundon  wenden  wir 
sie  auch  heute  an  und  erstreben  sie  sogar  unter  Beihilfe  der  Asepsis  in  neuester  Zeit 
wieder  für  eine  grosse  Anzahl.  Die  AVunde  wird  in  ihrer  ganzen  Länge  und  Tiefe  durch 
die  Naht  vereinigt  und  geschlossen.  Die  sich  etwa  bildende  AVundtlüssigkeit  wird  der 
Resorption  durch  die  Wundflächen  überlassen.  Die  totale  Occlusion  ist  das  Normal- 
verfahren  für  die  Unterleiljsoperationen.  Das  überaus  grosse  Resorptionsvermögen  des 
Peritoneums  vermag  grosse  Giengen  i'lüssigkcit  aufzusaugen ,  was  bei  gewöhnlichen 
Weichtheilwunden  nicht  der  Fall  ist. 

Für  gros.se  Iiuclitige  Wunden  verbietet  sidi  ilunh  ilie  regelmässig  eintretende 
Secretstauung  in  der  Tiefe  die  totale  Oeclu.sion  von  selbst.  Ks  ist  daher  selbstverständ- 
lich, dass  schon  lange  Versuche  gemacht  wurden,  diese  Anhäufungen  von  Wundflüssigkeit 
in  der  Wunde  zu  vernieiib-n  durch  die  Ableitung  der  Wnndsecrcte  nach  aussen. 
Sie    führten    dazu,    die   Wunde    nur  theihveise  zu  schlies.sen  und   durch  Oeflnungen   der 


188  ni.  (Japitel.  —  Vo'lotzuiigßn. 

"Wunde  die  Secrete  nach  aussen  treten  zu  lassen,  —  partielle  Occlusion.  Das 
älteste  Verfahren  war,  ein  llaarseil  (einen  »Streifen  ausgefranster  Leinwand)  (juer  durch 
die  Wunde  zu  ziehen,  z.B.  an  Amputationswunden  hinten  durch  die  Wundwinkel.  — 
Bald  kamen  die  Drain  röhren  auf  (Drainage  tubes)  und  namentlich  Bell  hat  sie, 
aus  Blei,  Silber,  Zinn,  viel  angewandt.  Eine  wesentliche  Verbesserung  war  in  der  Ein- 
führung der  Gummiröhren  als  Drains  durch  Chassaignac  gegeben.  Manche  neuere 
Aenderungen  der  Drainage,  wie  Glasdrains,  Streifen  Glaswolle,  Hautdurchlocherungen 
u.  s.  f.,  sind  ohne  besondere  Bedeutung.  Jn  der  partiellen  Occlusion  mit  rationeller 
Drainage  sind  wir  bei  derjenigen  Wundbehandlung  angekommen,  welche  die  Neuzeit 
beherrscht.     Die  Lister's.ch&  antiseptische  Methode  gehört  zu  diesem  Verfahren. 

Die  gTundlegenden  Ideen,  worauf  die  Lis-^er'sche  Antisepsis 
ruht,  partielle  Occlusion,  sind  schon  pag.  135  kurz  mitgetheilt.  —  Anti- 
septische, die  Fäulniss  der  Wunden  bekämpfende  Verfahren  gab  es 
schon  lange.  Die  Verschorfungsmethoden  sind  hieher  zu  rechnen; 
dann  wurden  die  Wunden  mit  Kampher,  Essig  und  anderen  fäulniss- 
widrigen Stoffen  verbunden,  schon  im  grauen  Alter thum.  Neu  ist  die 
Art  und  Weise  der  Anwendung  der  antiseptischen  Mittel  durch  Lister. 
Grundlegend  ist  der  Gedanke  Lister's^  nicht  die  vorhandene 
Fäulniss  zu  bekämpfen,  sondern  ihrem  Eintreten  zuvorzu- 
kommen. Er  erkannte  die  Aussichtslosigkeit  eines  Kampfes  gegen 
die  bereits  ausgebrochene  Wundinfection ,  denn  es  hätte  hiezu  Con- 
centrationen  von  antiseptischen  Lösungen  bedurft ,  mit  welchen  das 
Leben  der  Gewebe  nicht  mehr  verträglich  ist.  —  Um  dem  Eintreten 
der  Infection  entgegenzuwirken ,  musste  nicht  wie  bisher  nach  der 
Operation ,  wo  eine  Ansteckung  längst  erfolgt  sein  konnte ,  es  musste 
schon  vor  und  während  der  Operation  Alles ,  was  mit  der  Wunde  in 
Berührung  kommen  konnte,  desinficirt  werden,  d.h.  frei  von  Mikro- 
organismen sein. 


Die  Grundlage  der  ursprünglichen  List  er'schen  Antisepsis  war  die 
Carbolsäure.  Lister  desinficirte  vor  der  Operation  und  wälirend  der  Operation  alle  In- 
strumente mit  öprocentiger  CarboUösung,  ebenso  die  Hände  des  Operateurs  und  der 
Assistenten.  Auch  das  ganze  Operationsfeld  wurde,  nachdem  es  mit  Seife  oder  Schwefel- 
äther gut  gereinigt  war,  mit  dieser  Lösung  abgescheuert. 

Um  die  (vergl.  die  Pasteur' sehen  Experimente,  pag.  136)  während  der  Operation 
aus  der  Luft  auf  die  Wunde  fallenden  Keime  zu  zerstören  und  die  Luft  zu  desinficiren, 
liess  Lister  während  der  ganzen  Dauer  der  Operation  2Vi;Pi'ocentige  CarboUösung 
durch  einen  Zerstäuber  über  der  Wunde  zerstäuben  (Carbolspray). 

Bei  der  Unterbindung  der  blutenden  Gefässe  zeigte  sich  eine  neue  Schwierigkeit. 
Auch  hier  zeigte  sich  wieder  Lister's  Genialität.  Er  erfand  nicht  nur  ein  keimfreies 
aseptisches  Unter bindungsmaterial,  sondern  auch  ein  solches,  welches  in  der 
Wunde  ohne  Schaden  zurückgelassen  werden  kann,  er  erfand  das  Catgut,  mit  Carbol- 
säure desinficirte  Darmsaiten  aus  Schafdarm,  die  in  der  Wunde  resorbirt  werden  (s.  unten). 

Zum  Aufwischen  des  Blutes  bediente  sich  Lister  entweder  Ballen  antiseptischen 
Mulls  oder  Watte  oder  eigens  zubereiteter  Schwämme.  Die  antiseptische  Zuberei- 
tung der  Schwämme  ist  eine  ziemlich  mühsame.  Geklopft  und  in  concentrirter  Soda- 
lösung oder  in  Kaliseife  gekocht,  werden  sie  für  24  Stunden  in  eine  Lösung  von  Kali 
hypermanganicum  (1  :  500)  gebracht;  diese  bräunt  die  Schwämme.  Mehrmals  in  Wasser 
ausgewaschen,  kommen  sie  in  eine  Iprocentige  Lösung  von  unterschwefligsaurem  Natron 
(mit  Zusatz  von  8  Procent  concentrirter  Salzsäure)  15 — 20  Minuten  lang.  Dann  werden 
sie  Avieder  in  Wasser  ausgewaschen  und  in  5 — lUprocentiger  CarboUösung  aufbewahrt. 
Gebraucht  machen  sie  denselben  Reinigungsprocess  nochmals  durch. 

Die  Wundvereinigung  besorgte  Lister  mit  Catgut  oder,  wo  stärkere  Span- 
nung zu  überwinden  war ,  mit  geglühten  Silberdrähten.  Zur  Ableitung  der  Secrete 
wurden  Gummiröhren  verwendet,  welche  monatelang  vorher  in  5procentiger  CarboUösung 
gelegen  hatten.  Auf  die  so  geschlossene  AVunde  wurde  —  immer  noch  unter  Spray  — 
der  Verband  gelegt.  Auch  die  Verbandstoffe  waren  mit  Carbolsäure  imprägnirt.  Vor  der 
ätzenden  Wirkung  der  Carbolsäure  suchte  List  er  die  Wunde  zu  schützen  durch  Zwischen- 


Lister' s  Antisepsis.  139 

schieben  eines  undurchlässigen  Stoffes,  des  „Protective  silk",  eines  mit  Copallack 
getränkten  feinen  Seidengewebes.  Der  Verband  bestand  aus  Carbolgaze  (Mull ,  welcher 
mit  einer  alkoholischen  CarboUösung  mit  Colophonium  und  Glycerinzusatz  getränkt  ist). 
Um  das  Abdunsten  der  sehr  flüchtigen  Carbolsäure  aus  den  Verbandstoffen  zu  verhüten, 
schob  List  er  z\vischen  die  7.  und  8.  Lage  seiner  Gaze  einen  weiteren  durch  eine  Gummi- 
lackschicht impermeabeln  Stoff,  den  Makintosh,  ein.  Die  Ränder  der  Gaze  wurden 
mit  Wattestreifen  überdeckt,  um  auch  hier  einen  hermetischen  Abschluss  zu  sichern 
(analog  dem  PßÄfewr'schen  Wattepfropf).  Das  Ganze  wurde  mit  Gazebinden  befestigt 
und  durch  eine  darübergelegte  elastische  Binde  eine  massige  Compression  des  Ganzen 
erzielt.  Der  Verbandwechsel  geschah  gleichfalls  unter  Spray.  Sobald  ein  Secretfleck  auf 
der  Aussenfläche  des  Verbandes  erschien  und  sobald  die  Temperatur  über  SS'ö"  C.  stieg, 
wurde  der  Verband  erneuert. 

Ausser  in  den  antiseptischen  Massnahmen  liegen  in  der  L^'sfer'schen  Wundbe- 
handlung noch  weitere  grosse  Fortschritte  —  in  der  äusserst  sorgfältigen  Blut- 
stillung, welche  durch  ein  resorbirbares  Unterbindungsmaterial  ermöglicht  ist.  Damit 
bildet  sich  auch  weniger  Wundsecret  und  dieses  wieder  wird  abgeleitet  durch  eine 
ausgiebige  Drainage  mit  desinficirten  Gummidrains.  Schliesslich  werden  die  Wund- 
flächen in  allen  Tbeilen  durch  eine  exacte  Compression  eng  aneinandergeschmiegt 
gehalten.  Lister  hat  es  verstanden ,  den  Wunden  alle  Geheimnisse  der  Heilung  abzu- 
lauschen und  allen  Bedingungen  derselben  in  seinem  Verfahren  praktisch  Rechnung 
zu  tragen. 

Ueber  die  wunderbaren  Resultate  des  Lister'ic\\.&n  Verfahrens  sind  nicht  viele 
Worte  zu  machen.  Durch  seine  Entdeckung  waren  Wundeutzündung ,  Wundfieber, 
Pyämie  und  Septikämie,  Hospitalbrand  mit  einem  Male  aus  der  Wundheilung  gestrichen 
und  selbst  die  grössten  Wunden  heilten  ohne  irgendwelches  Krankheitsgefühl  des  Ver- 
letzten, „reactionslos".  AVie  schnell  das  Lister'sche.  Verfahren  seinen  Siegeszug,  nament- 
lich durch  Deutschland,  gehalten  hat,  ist  bekannt;  ebenso  dass  die  Chirurgie  binnen 
Kurzem  eine  ganz  andere  geworden  ist  und  die  grossartigsteu  Fortschritte  in  allen  Zweigen 
der  Chirurgie  und  auch  späterhin  der  übrigen  medicinischen  Fächer  durch  die  Lister- 
schen  Ideen  angebahnt  Avurden. 


Die  späteren  Wandlungen  der  Lister'schen  Antisepsis  —  Carbolsäure  und  Carbol- 
intoxication.  —  Thiersch's  Salicylverband.  —  Thymol.  —  Borsäure.  —  Eucalyptol.  — 

Essigsaure  Thonerde. 

Die  antiseptischen  Pulververbände.  —  Jodoform   und  Jodoformvergiftung.  —  Salicyl- 
pulver.   —  Wismuth.  —  Naphthalin  u.  a.  m. 

Die    verschiedenen    absorbirenden  Stoffe.   —   Mull,  Watte,  Jute,  Torf,   Moos,    Holz- 
wolle und  Holzwatte. 

Als  sich  später  die  Ueberzeugung  Bahn  brach ,  dass  mit  dem  L/.s/er'schen  Ver- 
fahren manche  zu  vermeidenden  Uebelstände  verknüpft  waren ,  fing  eine  mächtige  Be- 
wegung an,  das  Verfahren  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  zu  modificiren  — 
in  Betreff  des  desinficirenden  Mittels  sowohl,  wie  der  aufsaugenden  Stoffe.  —  So  ist 
schliesslich  von  dem  i/is'/er'schen  Verfahren  nichts  mehr  übrig  geblieben,  als  das 
Wichtigste,  die  grundlegenden  Ideen. 

Die  Carbolsäure  wurde  aufgegeben  wegen  ihrer  Flüchtigkeit.  Trotz  aller  un- 
durchlässigen Stoffe  lialten  die  Verbände  nach  wenigen  Stunden  fast  keine  Carbolsäure 
mehr.  Frische  käufliche  Carbolgaze  hält  nur  noch  Bruchtheile  eines  Procent  Carbol- 
sä.ure,  ältere  niclits  mehr.  Ferner  ist  die  Carbolsäure  nur  ein  schwaches  Antisepticum, 
im  Vergleich  mit  Sublimat,  Thymol  und    anderen  Antisepticis  (R.  Koch). 

Ein  weiterer  Vorwurf,  der  der  Carbolsäure  mit  Recht  gemacht  wurde,  ist 
der  ihrer  grossen  Giftigkeit.  Sie  wirkt  nicht  nur  örtlich  stark  ätzend  (von  37o  ^^i). 
sie  ist  auch  —  vom  Darmcanal  oder  (;iner  Wunde  aus  in  den  Kreislauf  aufgenommen  — 
ein  sehr  heftiges  Gift  (Maximaldosis  der  Pharm,  germ.  O'l  pro  dosij,  0'5  pro  die).  Dabei 
spülte  man  3-  und  öVoige  CarboUösung  litenveise  durch  die  Wunden ! 

Die  Erscheinungen  der  Carbolsäurevergiftung  sind  rascher  Verfall  der 
Kräfte,  kleiner  unzählbarer  Puls,  .schlafsüchtige  Zustände  (Somnolenz),  Sinken  der 
Temperatur,  mitunter  Erbrechen  und  allgemeine  Krämpfe,  Tod  durch  Herzschwäche. 
Kinder  sind  besonders  empfindlich  gegen  Carbolsäure.  Die  Carbolinto.xication  scliliesst 
sich  meist  unmittelbar  an  Operation  und  Chloroformnarkose  an,  und  es  ist  dann  schwer, 
sie  sofort  als  solche  zu  erkennen.  Die  Behandlung  bestellt  in  energischen  Herzreizen  — 


190  JI^-  '^ypitel.  —  Verletzungen.- 

subcutanen  Einspritzungen  von  Aether,  Campher,  Spiritusklystieren,  Glühwein,  heissem 
Kaffee,  warmen  Einhüllungen,  wannen  Bädern  u.dergl.  Auch  Kochsalzin  fusion  ist  zweckmässig. 

Neben  dieser  acuten,  meist  rasch  zum  Toile  führenden  Vergiftung  finden  sich 
bisweilen,  gerade  bei  Chirurgen,  subacute  und  chronische  Zustände  —  allgemeines  Uebel- 
befinden,  Appetitlosigkeit,  Abgeschlagenheit,  Kopfschmerz,  schlechtes,  wüstes  Aussehen; 
hiebei  ist  mitunter  der  Urin  —  einige  Zeit  nach  dem  Stehen  —  graugrün  bis  grün- 
schwarz verfärbt.  —  Die  Behandlung  ist  hier  natürlich  sofortige  Entfernung  von  AUeni, 
was  Carbolsäure  hält.  Sonnenburg  hat  Natr.  sulfur.  empfohlen  (lO'Ü  :  200'0,  ^stündlich 
1  Esslötfel).  —  Oertlich  können  selbst  schwache,  lange  angewandte  Carbollösungen  (1 — 37o) 
tiefe  Gangrän    machen,    z.B.  einer  ganzen  Fingerkuppe  (Carb  olgangrän). 

Dazu  kommt   noch   der  hohe  Preis   des  izs^er's  chen  Carbolverbandes. 

Was  zuerst  von  der  ursprling-lichen  Lis^er'schen  Methode  fiel,  war 
der  Spray.  Die  verwendete  Lösung  ist  zu  schwach,  die  Mikroorganismen 
der  Luft  zu  tödten,  schlägt  sie  im  Gregentheil  in  lebensfähigem  Zustande 
gerade  auf  der  Wunde  nieder  (Mikulicz,  Rydygier).  Selbst  die  Angabe 
Rydygier's^  dass  er  —  vor  der  Operation  gehend  —  die  Luft  durch 
Niederschlagen    der    Mikroorganismen    reinige,    ist   nicht    sichergestellt. 

An  die  Stelle  des  Sprays  trat  die  temporäre  Irrigation,  die 
antiseptische  Ausspülung  der  Wunde  in  Pausen  von  5 — 10  Minuten. 
Die  Arbeiten  von  Kümmell,  Garre  u.  A.  hatten  mittlerweile  gezeigt,  dass 
die  Gefahr  der  „Luftinfection",  wobei  die  Wunden  durch  die  aus  der 
Luft  in  dieselben  fallenden  Keime  inficirt  werden,  eine  sehr  geringe  ist, 
und  gegenüber  der  „Contactinfection",  der  überwiegend  häufigeren  und 
gefährlicheren  Uebertragung  von  Mikroorganismen  durch  Hände,  In- 
strumente u.  dergl.  verschwindet.  So  wurde  der  von  mir  1889  gemachte 
Vorschlag,  „trocken"  zu  operiren,  d.h.  mit  der  Wunde  gar  keine 
Flüssigkeiten  mehr  in  Berührung  zu  bringen,  allseitig  rasch  angenommen. 

Die  zahllosen  Modificationen  des  Z/is^^er'schen  Verfahrens 
betrafen  bald  das  Antisepticum ,  bald  den  Verbandstoff.  Man  suchte 
ungefährliche  Antiseptica  —  was  kaum  möglich  ist,  denn  je  ungiftiger 
ein  Stoff,  um  so  weniger  greift  er  durchschnittlich  die  Bacterien  an. 
Dann  suchte  man  nach  billigen  Antisepticis  und  billigen  aufsaugenden 
Stoffen.  Ein  Theil  der  gemachten  Vorschläge  hat  heute  kaum  noch 
historisches  Interesse. 

Der  ^A^■ersc/^'sche  S  a  1  i  c y  1  s ä  u  r  e  verband  (Lösung  1  :  300,  47o-  und  lOVoige  Sali- 
cylwatte)  wurde  verlassen  wegen  der  iinsicheren  Wirkung,  aus  demselben  Grunde  auch 
der  Thymol verband  {Volkmann-Ranke,  IThymol,  10  Alkohol,  20  Glycerin,  1000  Wasser). 
Die  Borsäure  ist  in  47oigei"  Lösung  (oder  mit  Salicylsäure  zusammen,  10  Saücyls., 
6-0  Borsäure,  Wasser  SOO'O  Thierscli)  als  schwache,  wenig  giftige  antiseptische  Flüssig- 
keit zu  Umschlägen,  Blasenausspülungen  u.  dergl.  im  Gebrauch  geblieben.  Ganz  ausser 
Gebrauch  ist  das  von  Lister  empfohlene  Eucalyptusöl,  dagegen  wii'd  die  von  Maas 
empfohlene  27pige  Lösung  von  essigsaurer  Thonerde  auch  heute  noch  zu  Um- 
schlägen bei  Quetschwunden,  stark  eiternden  Wunden,  BeingeschAvüren  verwandt,  aber 
nicht  mehr  bei  frischen  Operationswunden. 

In  eine  etwas  andere  Richtung  wurden  die  Bestrebungen  der 
Chirurgen  mit  der  Einführung  der  antiseptischen  Pulververbände 
gelenkt.  Während  man  zu  Anfang  nur  Antiseptica  in  flüssiger  Form ,  in 
Auflösungen  verwandt,  die  Wunden  mit  so  getränkten  Verbandstoffen 
bedeckt  hatte,  suchte  man  jetzt  durch  Ein-  und  Aufstreuen  antiseptischer 
Pulver  unmittelbar  auf  den  verletzten  Geweben  Depots  von  pulver- 
förmigen  Antisepticis  anzulegen  und  so  die  Wunde  vollständig  trocken 
und  damit  vor  weiterer  Infection  geschützt  zu  halten.  Der  leitende, 
auch  späterhin  in  unserer  Wundbehandlung  immer  wieder  zu  Tage 
tretende   Grundgedanke    dieser    Trockenbehandlung    der  Wunden 


Jodoform.  191 

ist,  dass,  je  trockener  die  Wunde  ist,  um  so  ungünstiger  die  Bedin- 
gungen für  die  Entwicklung  der  einer  gewissen  Feuchtigkeit  bedürfenden 
Mikroorganismen  sind  (s.  pag.  53).  Diese  Heilung  unter  dem  aseptischen 
Schorf,  ohne  Secretion,  stellt  die  idealste  Heilungsform,  sowohl  für  die 
prima,  als  die  secunda  reunio  dar.  Ein  hiefür  geeignetes  Antisepticum 
durfte,  neben  seinen  antiseptischen  Eigenschaften,  keine  Aetzwirkung 
besitzen,  wenn  man  dasselbe  in  dauernder  Berührung  mit  der  Wunde 
lassen  wollte. 

In  dem  von  Mosetig  eingeführten  Jodoform  schien  nun  ein  in 
dieser  Beziehung  ideales  Antisepticum  gegeben  zu  sein.  In  die  aseptische, 
oder  durch  Benutzung  eines  anderen  Antisepticums  aseptisch  gemachte 
Wunde  wurde  Jodoform  eingestreut,  auf  die  Nahtlinie  solches  aufge- 
pudert und  die  Wunde  mit  Jodoformgaze,  Watte  u.  dergl.  gedeckt. 

Auf  eine  Wunde ,  auf  der  Jodoform  lagerte ,  konnten  alle  mög- 
lichen Unreinigkeiten  gebracht  werden,  Urin,  Fäces;  die  Asepsis  wurde 
nicht  gestört.  Dieser  Vorzug  des  Jodoforms ,  dass  es  auch  beständig 
mit  bacterienhaltigen  Flüssigkeiten  bespülte  Wunden  (Darm-,  Mund- 
und  Rachenhöhle,  Vagina  etc.)  aseptisch  hält,  ist  ihm  auch  heute  nicht 
streitig  gemacht  worden.  Dabei  i3esitzt  das  Jodoform  durchaus  keine 
ätzenden  Eigenschaften,  nur  hat  es  einen  abscheulichen  Geruch. 

Das  Jodoform  hat  eine  interessante  Gescliiclite.  NacMem  es  1880  von 
Mosetig  empfohlen  war,  begann  1881  unter  Könic/'s  Führung  der  Kampf  dagegen  wegen 
seiner  Giftigkeit. 

Die  Erscheinungen  der  Jodoformvergiftung  sind:  Prequenterwerden  des 
Pulses,  bei  normaler  oder  erhöhter  Temperatur,  schlechter  Geschmack  im  Munde,  Appetit- 
losigkeit, Dui'st,  llissbehagen,  das  sich  bald  zu  Unbesinnlichkeit,  schliesslich  förmlichen 
Delirien  (Verfolgungswahn  mit  Nahrungsverweigerung)  steigert.  Der  Tod  erfolgt  durch 
Herzschwäche.  Bei  der  Autopsie  linden  sich  parenchymatöse  Degenerationen  und  Ver- 
fettungen drüsiger  Organe,  der  Leber,  Nieren,  Entartung  des  Herzmuskels,  Veränderungen 
im  Centralnerveusystem.  Diese  Intoxication  ist  keine  Jodvergiftung,  sondern  scheint 
mit  der  chemischen  Constitution  des  Jodoforms,  das  dem  Chloroform  analog  gebaut  ist 
(CHJ3),  zusammenzuhängen.  Die  Schwere  der  Jodoformvergiftung  steht  keineswegs 
immer  im  Verhältniss  zur  Menge  des  verbrauchten  Jodoforms.  Wohl  ist  die  Zahl  der  Ver- 
giftungen häufiger  gewesen  bei  Verwendung  grosser  Mengen  (20 — 200  Grm.),  doch  sind 
auch  bei  Mengen  von  l'^j., — 2  Grm.  tödtliche  Vergiftungen  vorgekommen.  Besonders 
gefährdet  sind  schwächliche  alte  Leute  mit  ungenügender  Herzaction.  Ausserdem  scheint 
das  Jodofonn,  da  es  in  Fett  löslich  ist,  von  fetthaltigem  Gewebe  massenhafter  resorbirt  zu 
werden,  als  von  fettlosen  Flächen.  Gegen  die  Vergiftung  ist  nur  wenig  zu  thun;  selbst 
durch  sorgfältiges  Auswaschen  der  Wunde  ist  das  fest  in  die  Gewebe  verfilzte  Jodoform 
nicht  mehr  zu  entfernen ,  und  da  dasselbe  sehr  langsam  ausgeschieden  wird,  bleibt  die 
Gefahr  noch  Wochen  bestehen.  Erhaltung  der  Kräfte  ist  die  einzig  erfüllbare  Indication 
der  Therapie.  Subcutane  Kochsalzinfusionen  sind  nützlich.  —  Die  Jodoformpanik  ist  wieder 
verschwunden.  Bei  AVunden  am  Eespirations-,  Digestions-  und  Urogenitaltractus  ist  das 
Jodoform  durch  andere  Mittel  kaum  zu  ersetzen.  Doch  genügen  minimale  Mengen,  um 
die  Wunde  aseptisch  zu  halten.  Bei  Nieren- und  Herzkranken  wird  Jodoform  am  besten  ganz 
vermieden.  —  Zum  Nachweis  von  Jod  im  Harn  wird  er  mit  verdünnter  Schwefel- 
.säure  und  einem  Tropfen  rauchender  Salpetersäure  vermischt.  Schüttelt  man  nun  mit 
Chloroform  oder  Schwefelkohlenstoü',  so  färben  sich  diese  violettroth. 

1887  wurde  von  lltijn  und  Rovsing  ein  anderer  Angrifi'  gemacht  —  das  Jodo- 
form sei  wertlüos ,  weil  es  so  wenig  antibacterielle  Kräfte  besitzt ,  dass  man  im  Jodo- 
form|>ulver  lebende  pathogene  Keime  findet.  Behring  und  de  liuijter  haben  das 
Jodoform  gerettet,  indem  sie  nachwiesen,  dass  die  Eeagensglasversuche  —  schon 
von  Volkniann  mit  dem  bekannten  Worte  zurückgewiesen:  „Der  menschliche  Körper 
ist  kein  Keagensglas"  —  nicht  für  Wunden  zutreffen.  Das  Jodoform  wird  im  Thier- 
körper  durch  dessen  Säfte  zersetzt  und  dadurch  wirksam  (de  Ruijter),  besonders  Blut 
und  übelriechender  Eiter  und  septische  Processe  scheiden  Jod  daraus  ab,  es  wirkt  nur, 
wenn  es  zersetzt  wird  (Bcliring),  es  bindet  die  Ptomai'ne,  ist  aber  gegen  Kokken  macht- 
los (de  RuyterJ.  1887  stellten  Bruns  und  Kauwerck  die  antituberculöse  Wirkung  fest, 


192  Jii.  <'ii|)iti^l.  —  Yi-A-U-t/Aingitn. 

indem  die  Tulierkelbacillen  aus  mit  Jodoform  in  Contact  hofindlicfii;)!  tuberculöson  Granu- 
lationen verschwinden.  In  neuerer  Zeit  hat  Htuhenrauch  (D.Zeitschr.  f.  Chir.,  Jld.  XXXVII) 
die  antituberculöse  Wirkung  angezweifelt,  er  fasst  die  Jodoformwirkung  als  protrahirte 
Jodwirkung  auf.  Die  Geschichte  des  Jodoforms  ist  von  Wayner  {Lanf/enhack's  Archiv, 
Bd.  XXXVII)  dargestellt  worden. 

Das  Bekanntwerden  von  Jodoformunglücksfällen  rief  das  Bestreben  wach ,  un- 
schädliche Ersatzmittel  für  Jodoform  zu  finden.  Die  Salicylsäure,  rein  in 
Pulverform  (von  H.  Schmid  empfohlen)  ätzt ,  wenn  auch  nicht  stark,  bildet  mit  dem 
Blut  harte  Bröckel,  die  schwer  zu  entfernen  sind  und  unter  welchen  sich  Secret  staut. 
Dabei  ist  die  Salicylsäure  in  solchen  Massen  angewandt  nicht  unschädlich  (T'nregel- 
mässigkeiten  des  Pulses,  coUapsartige  Zustände,  Apathie,  Schlafsucht  u.  s.  w.). 

Kocher  in  Bern  und  Riedel  suchten  das  Bismuthum  subnitricum  einzu- 
führen. Die  Wunde  wird  mit  Ya — Iprocentigen  Schüttelmixturen  ausgewaschen  und 
wird  dann  eigenthümlicli  trocken.  Kocher  glaubte  so  die  Bildung  von  Wundsecret  ganz 
vermeiden  zu  können  und  nähte  die  Wunde  erst  18 — 24  Stunden  nach  der  Operation 
zu  („Secundärnaht").  Weder  dieses  —  an  sich  ganz  interessante  —  Verfahren  der 
Spätnaht,  noch  das  salpetersaure  Wismuth  haben  sich  in  der  Praxis  gehalten.  Das 
Wismuth  ätzt  die  "Wunden ,  wird  resorbirt  und  macht  Vergiftungserscheinungen ,  welche 
denen  der  anderen  schwereren  Metalle ,  vornehmlich  des  Quecksilbers,  ähnlich  sind  — 
schwere  entkräftende  Diarrhoen,  einen  schwarzen  AVismuthsaum  an  den  Zähnen,  Zahn- 
fleischentzündung u.  A.  m. 

Naphthalin,  Jodol  (als  Streupulver)  haben  nur  vorübergehende  Prüfung  gefunden. 

In  den  letzten  Jahren  hat  die  chemische  Industrie  mit  grossem ,  aber  bis  jetzt 
nur  von  geringem  Erfolg  gekröntem  Eifer  Ersatzmittel  des  Jodoforms  herzustellen  gesucht. 

Jodoformal  und  Jodoform  in  sind  weniger  übelriechende,  angeblich  ungiftige 
und  zugleich  kräftig  wirkende  Verbindungen  des  Jodoforms.  {Reuter,  D.  Med.  Wochen- 
schrift, 1896,  30;  Kölliker,  Chir.  Congr.  1896.)  Die  Anwendungsweise  —  als  Gaze,  Streu- 
pulver, Salbe   —   ist   ganz  analog   dem  Jodoform.    —    Aehnlich  das  Jodjodof  ormin. 

Derma  toi,  eine  Wismuthverbindung,  ist  ein  gut  austi'ocknendes  Streupulver  für 
Beingeschwüre  u.  dergl.  Seine  antiseptische  Kraft  ist  nicht  gross.  Aehnlich  wirkt  das 
Thioform,  gleichfalls  eine  Wismuthverbindung,  als  antiseptisches  Streupulver  in  der 
Thierheilkunde  viel  gebraucht. 

Das  Loretin  (Jodoxychinolinsulfosäure)  ist  wenig  giftig,  reizlos,  ziemlich  stark 
antiseptisch,  wird  in  27ooioß^  Lösung,  als  Salbe,  Streupulver  angewandt.  Es  ist  sterüisirbar. 

In  neuester  Zeit  werden  Nosophen  (Tetrajodphenolphtalein)  und  sein  Natronsalz 
(Antinosin)  als  wenig  giftig  und  dem  Jodoform  gleichwerthig  und  namentlich  als  geeignet 
zur  Erzielung  eines  aseptischen  Schorfes  mit  geringer  entzündlicher  Infiltration  u.  A. 
empfohlen  (Binz  und  Zuntz ,  hieven).  Nosophen  ist  sterüisirbar,  es  wird  haupt- 
sächlich als  SVoigö  Nosophengaze  angewandt.  Ein  angeblich  ungiftiger  Ersatz  ist  ferner 
Sanoform  (Dijodsalicylsäuremethyläther),    empfohlen   von   Langgaard    und  Arnheim. 

Weitere  Jodoformersatzmittel  von  massigem  Werth  sind  Airol  (Wismuthoxyjodid- 
gallat) ,  Sozojodol,  Salol  (eine  Verbindung  von  Carbol-  und  Salicjdsäure) ,  Aristol 
(eine  Verbindung  von  Jod  mit  Thymol),  Europhen  (eine  Jodverbindung),  Alumnol, 
Tumenol.  Sie  werden  am  besten  als  Streupulver  oder  wie  das  Jodoform  als  1 — W^/^ige 
Emulsionen  mit  Gtycerin  verwandt. 


Bei  der  Modification  der  Verbandstoffe,  der  absorbirenden 
Stoffe  traten  an  Stelle  der  theuern  Lister^ sahen  Gaze  verschiedene 
Stoffe.  Da  man  immer  mehr  die  Vortheile  völlig  trockener  Behandlung 
der  Wunde  erkannte,  so  stellte  man  als  erstes  Erforderniss  eines  guten 
Verbandstoffes  eine  starke,  rasche  und  dauernde  Anziehung  für 
Feuchtigkeit  auf,  eine  hohe  Absorptionskraft  und  die  Fähigkeit,  die 
aufgesaugte  Flüssigkeit  schnell  und  in  grosser  Menge  wieder  zur  Ver- 
dunstung zu  bringen.  Die  Wattepräparate  sind  theuer;  so  gut  sie 
Wasser  aufsaugen,  so  schlecht  absorbiren  sie  Blut  und  dickeren  Eiter. 
Watte  durchzieht  sich  nie  gleichmässig  mit  Wundsecreten.  —  Viel 
billiger  als  Watte ,  aber  ebenfalls  schlecht  resorbirend  und  starr  ist 
Jute  (araucanischer  Hanf).  Als  ein  stark  austrocknender  Stoff  wurde 
von   Esmarch  -  Neuher    der   Torf  eingeführt.    Die    austrocknenden  und 


Verbandstoife.  Sublimatantisepsis.  193 

dadurch  conservirfenden  und  Fäulniss  beschränkenden  Eigenschaften 
desselben  sind  bedeutend,  aber  der  Torf  ist  im  Uebrigen  wenig  handlich 
und  unappetitlich. 

Reinlicher  sind  die  Moosverbände,  welche  besonders  von  Hage- 
dorn und  Leisrink  empfohlen  wurden.  —  Bei  100^  sterilisirt  und  ge- 
trocknet, wird  das  Moos  auf  die  durch  eine  Mulllage  gedeckte  Wunde 
aufgelegt,  lose,  in  Säcke  eingenäht  oder  als  comprirairte  Moosfilz- 
platten, die  vorher  etwas  anzufeuchten  sind;  die  letzteren  saugen  lang- 
samer auf;  in  losen  Massen  verwandt ,  gibt  das  Moos  unförmlich  dicke 
Verbände.  Die  Saugfähigkeit  ist  eine  gute. 

Recht  brauchbare  Verbandstoffe  sind  die  aus  weichem  Holz  ge- 
schliffenen und  geraspelten  Präparate  —  Holzfaser,  Holz watte  u.  dergl. 
(Bnms- Wal  eher).  —  Sie  sind  billig  und  resorbiren  gut. 

Einen  interessanten,  aber  wieder  ganz  verlassenen  Versuch  stellte  der  anor- 
ganische Wundverband  ÄMwme^r,?  dar,  welcher  alle  seine  Stoffe  aus  anorganischem 
Material  wählte  und  dieselben  durch  Glühhitze  steriüsirte.  Als  absorbirende  Stoife 
dienten  Sand,  Asche,  als  Drainröhren  Glaswollwieken  u.  s.  f. 

Das  Oacum,  Werg  (gezupfte  Scliiffstaue),  absorbirt  gut,  bietet  aber  keine  beson- 
deren Vortheile. 

Die  Zellstoff  watte  —  aus  Watte  und  Papier  —  ist  ein  schönes, 
elegantes  Verbandmaterial,  saugt  aber  ebenfalls  nicht  genügend  Wund- 
secrete  auf,  Avie  die  Watte.  Dasselbe  gilt  von  den  Verbandstoffen  aus 
Papierstoffen. 

Die  Aufsaugefähigkeit  für  Wasser  —  wie  man  gewöhnlich  Ver- 
bandstoffe prüft  —  ist  für  die  praktische  Brauchbarkeit  nicht  ent- 
scheidend, weil  die  Aufsaugefähigkeit  für  die  dicken,  zähen  Wund- 
secrete  eine  ganz  andere  ist.  Nach  Rönnberg  wiegen  je  10  Grm. 
entfettete  Watte  mit  Wasser  vollgesogen  250  Glrm.,  Zellstoffwatte 
23U  Grm.,  Holzstoffwatte  150  Grm.,  Holzwolle  106  Grm.,  Gaze  96  Grm., 
Moostorf  82  Grm.,  Pappelsägespähne  73  Grm.,  Jute  70  Grm.,  Fichten- 
holzsägespähne  53  Grm.,  Steinkohlenasche  21  Grm.  Wundsecrete  saugt 
Gaze  am  besten  auf,  dann  kommen  Holzwolle,  Moos  und  Holzfaser. 


Inzwischen  wurde  das  Sublimat,  Quecksilberchlorid  (Hg CI2)  als 
allgemeines  Antisepticum  eingeführt.  Schon  seit  Jahren  von  Bergmann 
als  Grundlage  seines  antiseptischen  Verbandes  verwandt,  hat  es  seine 
allgemeine  Einfülirung  hauptsächlich  Schede  und  Kümmell  zu  danken. 

Das  Sublimat  ist  weitaus  das  stärkste  Antisepticum.  Wenn  es 
stark  ätzende  und  äusserst  giftige  Eigenschaften  hat,  so  werden  die 
Nachtheile  grosser  Giftigkeit  und  starker  Aetzwirkung  (nur  auf  offenen 
Wunden)  durch  die  grosse  Verdünnung  reichlich  aufgewogen,  in  der  es 
noch  zuverlässig  antiseptisch  wirksam  ist  und  angewandt  werden  kann. 
Wenn  z.  B.  Sublimat  3 — 4mal  giftiger  ist  als  Carbolsäure  (Maximaldosen 
0-03  und  0-1),  so  ist  dafür  das  Sublimat  noch  in  250mal  grösserer 
Verdünnung  (1:5000)  ebenso  stark  antiseptisch  wie  Carbolsäure  (1:20). 
Die  Concentration ,  in  welchen  Sublimat  zum  Dcsinficiren  der  Haut 
u.  s.  f.  angewandt  wird,  ist  1:3000—1:1000;  jedoch  sind  auch 
Lösungen  von   1  :  5000  noch  völlig  wirksam. 

Sublimatantisepsis  lässt  sich  mit  völlig  unvorbereiteten  Verband- 
stoffen treiben.  Es  genügt,  die  Wunde  mit  einer  1 — 2fachen  Mullschicht 
zu  bedecken ,   welche  in  eine  Lösung  1  :  1000 — 1  :  5000  Sul)limat  ge- 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Therapie.  2.  Anfl.  13 


194  ^^^-  '-■'"■P^t''!-   ~  Verletzungen. 

taucht  ist.    Ein  sehr  schöner  Verbandstoff  ist   die'  von  Kümmell  ange- 
gebene Sublimatgaze. 

Käuflicher  Mull  wird  in  eine  Sublimatlösung  (Ilydrarg.  bichlor.  50,  Glyceriii 
200'ü,  Alkohol  795)  für  '/4  Stunde  eingelegt,  leieht  ausgerungen  ,  dann  über  Schnüren 
aufgehängt,  15  Minuten  getrocknet,  zusammengefaltet  nnd  in  gut  verschlossenen  Gläsern 
(Präparatengläsern)  aufbewahrt.  Der  Mull  wird  vorher  durch  Kochen  mit  Sodalö.sung 
entfettet  und  entsäuert.  Zusatz  von  Chlornatrium  (.50  Grm.  auf  obige  Lösungj  zweckmässig. 

Im  Uebrigen  kann  man  alle  Verbandstoffe  mit  Sublimat  impräg- 
niren,  Holzstoff*,  Werg,  Moos  u.  dergl.  Die  vorher  imprägnirten  und 
nachher  wieder  getrockneten  haben  den  Vorzug,  trocken  auf  die  \\'iinde 
gelegt  werden  zu  können. 

Sublimat  ist  nicht  eigentlich  flüchtig,  aber  er  verschwindet  doch 
allmählich  aus  den  Verbandstoffen.  Subliraatverbandstoffe  sollen  deshalb 
nie  länger  als  vier  Wochen  liegen. 

Sublimat  ist  sehr  giftig. 

Sublimat  zersetzt  sich  am  Licht,  an  der  Luft  und  mit  den  organischen  und  un- 
organischen Bestandtheilen  des  gewöhnlichen  Brunnenwassers  im  Laufe  von  Stunden 
bis  Tagen-  zu  unlöslichen  und  damit  unwirksamen  Quecksilberverbindungen.  Haltbarer 
sind  die  Verbindungen  von  Sublimat  und  Kochsalz.  Eine  sehr  zweckmässige  und 
handliche  Drogue  für  die  Sublimatantisepsis  sind  die  mit  Eosin  gefärbten  An  g  er  er' sehen 
Sublimatkochsalzpastillen  zu  05  und  1  Grm.  Sublimat,  mit  denen  sich  sofort 
Sublimatlösungen  in  jeder  gewünschten  Concentration  mit  "Wasser  oder  Alkohol  herstellen 
lassen.  Haltbarer  und  wirksamer,  aber  weniger  bequem  sind  auch  die  sauren  Subli- 
matlösungen (1  Sublimat  zu  5  AVeinsäure,  oder  Salicylsäure ,  Salzsäure  u.  s.  w. 
0"5— 10  Grm.    auf  1  Liter  Sublimatlösung). 

In  Verbindung  mit  dem  Eiweiss  der  Gewebe  (Wunden)  oder  zu  desinficirender 
organischer  Stoffe  (Catgut,  Seide,  Knochendrains  u.  s.  f.)  bildet  das  Sublimat  unlösliches 
Quecksilberalbuminat  und  wird  damit  unwirksam.  Dieser  Umstand  schränkt  die  desin- 
ficirende  Kraft  des  Sublimats  für  die  Praxis  in  den  genannten  Eiclitnngen  sehr  ein, 
ebenso  seine  Wirksamkeit  bei  parenchymatösen  Injectionen,  zugleich  aber  auch  seine 
vergiftende  Wirkung.  Durch  die  Bildung  einer  unlöslichen  Hülle  von  Quecksilberalbuminat 
vermag  das  Sublimat  weder  in  das  Innere  von  Catgutfäden  oder  Seidenfäden  zu  dringen, 
noch  vermag  es  compacte  organische  Stoffe  (gangränöse  Gewebe  bei  Frostgangrän,  Aus- 
wurf, Fäces  u.  dergl.)  zu  desinficireu. 

Die  Erscheinungen  der  Sublimatvergiftung  sind  die  der  acuten  Quecksilber- 
vergiftung. Appetitlosigkeit,  quälende  Diarrhoen  —  erst  schleimig,  schliesslich  bluthaltig 
und  grosse  Epithelfetzen  enthaltend  —  mit  starken  kolikartigen  Leibschmerzen ,  Mast- 
darmtenesmen ,  Mund-,  namentlich  Zahnfleischentzündung,  allgemeine  Mattigkeit,  ohne 
Fieber ,,  mit  etwas  erhöhter  Pulsfrequenz ,  dies  sind  die  Erscheinungen  der  Sublimat- 
intoxiCation.  Sublimatintoxicationen  sind  bei  Scheidenausspülung  Schwangerer  öfter, 
bei  chirurgischen  Operationen  fast  nie  vorgekommen.  Die  Behandlung  besteht, 
nachdem  der  Darm  durch  Oleum  Ricini  gereinigt  ist ,  in  Opiaten  und  Mundwässern 
(Tinct.  Ratanhae,  Myrrhae  u.  dergl.,  Solutio  Kali  chloi'ici  IO'O/300'O,  nicht  schlucken!), 
Stimulantien,  warmen  Schwefelbädern  (öO'O  Kalium  sulfuratum). 

Ein  weiterer  fruchtbringender  Gedanke  lag  den  Moditicationen  des 
antiseptischen  Verbandes  zu  „Dauer verbänden"  zu  Grunde.  Sicher  ist 
es  das  höchste  Ziel  des  Chirurgen,  die  Wunde  von  dem  Augenblicke  an, 
wo  sie  vereinigt  wird,  bis  zum  Zeitpunkt  ihrer  gänzlichen  Heilung  völlig 
in  Ruhe  zu  lassen  und  jeden  Verbandwechsel,  wo  doch  die  Wunde 
durch  Ablösen  von  Verbandstoffen  u.  s.  f.  immer  gestört  wird  und  wo 
die  Möglichkeit  einer  Spätinfection  gegeben  bleibt,  stets  auszuschliessen. 
Schon  Lister  hat  dieses  Princip  aufgestellt  in  dem  Satze  —  es  sei  das 
Beste  für  die  Wunde,  to  be  let  alone  (allein  gelassen  zu  werden).  Die 
Gefahr  der  „Spätinfection"  (bei  den  Verbandwechseln)  ist  allerdings  sehr 
und  mit  Unrecht  übertrieben  worden.  Nur  durch  grobe  Fehler  (ünrein- 
lichkeit,  Verletzung  der  schützenden  Granulationen  u.  dergl.)  ist  eine 
Infection  beim  Verbandwechsel  möglich. 


Dauerverband.  Asepsis.  ]^95 

Die  Technik  des  Dauerverbandes  ist  namentlich  von  Neuher  ausgebildet. 
Für  Unterbindung  und  Naht  bot  sich  im  Catgut  ein  Material ,  um  das  man  sich  nicht 
weiter  zu  kümmern  braucht.  Zur  Ableitung  der  AVundsecrete  bediente  man  sich  der 
resorbirbaren  Knochendrains,  Röhren  aus  in  Salzsäure  decalcinirter  Knochensub- 
stanz. Die  Knochendrains  sind  nicht  zuverlässig;  in  eiternden  Wunden  werden  sie  oft 
zu  früh  resorbirt ,  in  nicht  eiternden,  p.  p.  i.  heilenden  zu  langsam  und  unvollständig. 
Neuber  suchte  sie  zu  vermeiden  und  durch  Hautdurchlöcherung  (mit  einer  Art  Kuopfloch- 
zange).  Offenlassen  der  Wundecken ,  Einstülpen  von  Hautzipfeln  in  die  Wundecken  die 
Haut  zu  canalisiren  und  so  den  Wundilüssigkeiten  den  Weg  nach  aussen  frei  zu  halten. 

Dann  ging  man  noch  einen  Schritt  weiter ,  liess  jede  Drainage  weg  und  ver- 
einigte die  Wunde  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  durch  verlorene  Nähte  von  dem  Grund 
der  Wunde  aus.  Diese  Art  der  Wundbehandlung  ist  wohl  das  Ideal  dessen,  was  wir 
anstreben.  Sie  ist  jedoch  nicht  für  alle  Fälle  verwerthbar  und  nur  in  Hospitälern 
auszuführen,  wo  auch  die  kleinste  Unregelmässigkeit  des  antiseptischen  Apparats  mit 
völliger  Sicherheit  anszuschliessen  ist.  Sonst  bekommt  man  leicht  Verhaltungen  in  der 
Tiefe  und  muss  die  Wunde  wieder  aufreissen ,  wenn  nicht  noch  Schlimmei'es  passirt. 
Eines  schickt  sich  nicht  für  Alle.  Für  den  praktischen  Arzt  ist  die  partielle  Occlusion, 
d.  h.  Festhalten  an  der  Drainage  und  ein ,  wenn  auch  seltener  Verbandwechsel  das 
Beste.  —  Dasä  sich  zu  Dauerverbänden  die  Jodoformverbände  und  die  stark  austrocknenden 
Verbandstoffe  (Holzstoff  u.  dergl.)  besonders  gut  eignen,  sei  nur  nebenbei  bemerkt.  Mit 
Kocher  komme  ich  immer  mehr  auf  den  Standpunkt,  nicht  den  ersten  mit  Blut  durch- 
tränkten Verband,  sondern  den  am  2.  oder  3.  Tag  angelegten  zweiten  Verband  als  Dauer- 
verband liegen  zu  lassen. 

Einen  Vorläufer  hatte  der  Dauerverband  in  dem  Watteverband  von  Guerin. 
Guerin  legte  auf  die  vereinigte  Wunde  ungeleimte  Watte  und  sobald  ein  Secretfleck 
durchkam,  wurde  neue  aufgepackt  u.  s.  w.  Die  Ergebnisse  waren  —  in  der  voranti- 
septischen  Zeit  —  sehr  ungleiche  und  unsichere.  Das  Verfahren  lehnt  sich  an  den 
Pasteur'&ck&n.  Versuch,  die  Miki'oorganismen  durch  Wattefilter  zurückzuhalten,  an. 


Mittlerweile  hatte  sich  der  Uebergang  von  der  Antisepsis  zur  Asepsis 
vollzogen.  In  England  war  die  Opposition  gegen  die  Verwendung  von 
Antisepticis ,  besonders  bei  Bauchoperationeu.  nie  verstummt  (no  car- 
bolism,  no  Listerism  —  Lawson-Tait,  GranviUe -Bantock).  In  Deutsdi- 
land  wurde  die  Wendung  zur  Asepsis  vorbereitet  durch  die  1880  be- 
gonnenen Versuche  F.  Koch's  über  Desinfection.  Ihr  Ergebniss  war 
kurz  das,  dass  durch  Desinfection  auf  chemischem  Wege  Keinifreiheit 
nur  schwer  und  unsicher  erreicht  wird ,  während  die  trockene  Hitze 
(140 — 150'')  bessere  Ergebnisse  erzielt,  der  strömende  Wasserdampf 
von  100°  alle  anderen  Verfahren  an  Schnelligkeit  und  Sicherheit  der 
Sterilisation,  d.  h.  der  Abtödtung  von  Mikroorganismen  und  der  wider- 
standsfähigsten Sporen  weit  hinter  sich  lässt. 

Dazu  kam  die  immer  mehr  sich  befestigende  Ueberzeugung  von 
der    Giftigkeit    selbst  kleinster  Mengen  von  Antisepticis. 

Unter  Anderen  hat  Senger  {Langenbeck\s  Archiv,  Bd.  XXXVIII)  gezeigt ,  dass 
Sublimat  Glomerulo-nephritis  mit  Kalkablagerungen,  Leberverfettung  und  starke 
Colitis  erzeugt;  Jodoform  Nephritis  (trübe  Schwellung),  hämorrhagische  Enteritis,  Ver- 
fettung des  Herzmuskels.  Bei  Carbolsäure  hat  man  Degeneration  in  der  Niereurinde, 
starke  Schwellang  der  Niere,  diffuse  Degeneration  und  Verfettung  der  Leberzellen.  Die 
Vergiftung  mit  Borsäure  hat  viel  Aehnlichkeit  mit  Jodoformvergiftung,  ausserdem  noch 
Darmblutungen,  Milz- und  Herzdegeneration.  Die  Salicylsäureintoxication  ist  ähnlich 
der  Carbol-  und  Sublimatintoxication,  nur  kommt  noch  hämorrhagische  Nephritis  hinzu. 

Der  Erkenntniss  der  Unsicherheit  und  der  Gefährlichkeit 
der  Antiseptica  schloss  sich  der  durch  die  Einführung  der  trockenen 
Operationsmethode  (Landercr  \%^^)  gegebene  praktische  Beweis  der 
Entbehrlichkeit  antiseptischer  Flüssigkeiten  an.  So  wurde  es 
der  aseptischen  Methode ,    um  deren  praktische  Einführung  und  theore- 

13* 


196  III-  (^^pitel.  —  Verlotzungon. 

tisclic  BegTÜncluii»'  sich  v.  Bergiiumn  und  SchimimdhuHch    besonders  ver- 
dient gemacht  haben,  leicht,  sicli  in  Deuiscliland  einzubürgern. 

Die  Fragen,  ob  eine  Desinf'oction  frischer  oder  älterer  Wunden  überhaupt  möglicli 
sei,  ob  deshalb  jeder  Desinfectionsversuch  zu  unterlassen  sei,  sind  auch  lieute  noch  nicht 
zur  völligen  Entscheidung  geführt.  Dass  in  tadellos  aseptischen  "Wunden  in  den  ersten 
Stunden  Staphylokokken  sich  finden  können  ,  hat  Wülfler  (Chir.  Centralbl.,  1895.  3ß) 
gezeigt ;  in  späteren  Stunden  finden  sich  keine  mehr ,  weil  sie  durch  die  bactericideii 
Eigenschaften  des  Wundsecrets  und  der  Gewebe  vernichtet  werden. 

Schimmelbusch  kommt  (Chirurg.  Congr.  1893)  zu  dem  Schluss,  dass  jede  De.s- 
infection  einer  Wunde  unnütz,  weil  unmöglich  sei.  Wird  eine  Maus  mit  hochvirulenten 
Milzbrandbacillen  oder  Streptokokken  am  Schwänze  geimpft,  so  muss  der  Schwanz 
mindestens  binnen  10  Minuten  amputirt  werden,  um  Allgemeininfection  zu  verhüten. 
Alle  Desinfectionsversuche  sind  nutzlos,  auch  Ausbrennen  mit  Pacquelin'fichem  Brenner. 
Schon  in  weniger  als  einer  Viertelstunde  sind  die  Mikroorganismen  in  Leber,  Milz  etc. 
nachzuweisen.  Im  Gegensatz  hiezu  fand  Henle  ( Langenheck' s  Archiv,  49),  der  nicht 
mit  hochvirulenten  Culturen,  sondern  mit  Eiter  arbeitete,  dass  man  mit  Sublimatlösungen 
(1 :  1000)  3  Stunden  nach  der  Infection.  in  einzelnen  Fällen  noch  8  Stunden  p.  inf.  die 
Wunde  wieder  aseptisch  machen  könne. 

Ebenso  hat  Messner  (Chir.  Congr.  1894)  angegeben,  dass  bei  aseptischer  Behand- 
lung von  Eiterungen  Gangrän  und  tödtliche  Sepsis  eintrete,  während  bei  antiseptischer 
Behandlung  (S^/^ige  Carbolsäure)  (selbst  nach  18  Stunden)  der  Process  local  bleibe.  Seine 
Versuche  konnte  Reichel  (Langenheck' s  Archiv,  49)  nicht  bestätigen,  er  hält  nichts 
von  den  Antisepticis ,  höchstens  von  lockerer  Tamponade  mit  Jodoformgaze ,  nachdem 
Alles  breit  gespalten  ist.  Vergl.  S.  206. 

In  der  Praxis  verzichtet  die  aseptische  Wundbehandlung 
auf  jeden  Versuch  einer  Desinfection  der  Wunde  und  ist 
allein  auf  Verhütung  der  Infection  gerichtet,  und  zwar  durch 
physikalische  (thermische)  Sterilisation,  nicht  durch  chemi- 
sche Desinfection. 

Die  Vorschriften  der  Asepsis  sind  heute  etwa  folgende: 

Der  Operationsraum  sei  so  leer  als  möglich,  ohne  todte  Staub- 
winkel, mit  abwaschbaren,  fugenlosen  oder  eng  gefugten  Wänden  und 
Fussboden  (Boden  ans  Terrazzo  oder  Linoleum,  weniger  gut  Plättchen, 
die  Wände  aus  Porzellankacheln,  Mettlacher  Plättchen  oder  Email-  oder 
Oelfarbenanstrich).  W"o  es  möglich  ist,  sollen  septii-che  und  aseptische 
Processe  in  verschiedenen  Räumen  operirt  und  verbunden  werden. 

Operirt  man  in  einem  leeren,  gewöhnlichen  Zimmer,  so  ist  es 
zwei  Tage  vorher  zu  scheuern ,  die  Wände  sind  mit  Brot  abzureiben. 
Das  Zimmer  ist  dann  abzuschliessen  (bei  offenen  Fenstern),  damit  die 
Keime  sich  auf  den  Zimmerboden  senken  können.  Reinigen ,  Aus- 
fegen etc.  unmittelbar  vor  der  Operation  vermehrt  den  Bacillengehalt 
sehr,  schadet  also,  statt  zu  nützen.  Einen  (allerdings  nicht  ganz  einwand- 
freien) Operationsraum  gibt  Fig.  120  nach  Wolzendorff. 

Der  Operationstisch  soll  möglichst  einfach  gebaut  sein,  mit 
wenig  Fugen  und  Winkeln,  überall  leicht  zu  reinigen  und  womöglich  zu 
poliren.  Ich  benütze  einen  Tisch  ganz  aus  Metall,  mit  einem  verschieb- 
baren Rücken-  und  Kopftheil,  der  zugleich  zur  Beckenhochlagerung  nach 
Trendelenburg  verwendet  werden  kann.  Abnehmbare  Beinhalter  sind 
anzubringen.  Als  Unterlage  für  die  Kranken  dienen  3  fingerdicke  Kaut- 
schukplatten, die  sehr  leicht  zu  reinigen  sind. 

Tische  mit  Glasplatten  sind  sauber  nnd  einfach.  Rinnen  zu  Spül- 
vorricbtungen  sind  unnöthig,  da  heutzutage  Niemand  mehr  —  ausser  bei 
einzelnen  gynäkologischen  Operationen  —  spült.  Sie  sind  unnöthige 
Schmutzfänger.  Ebenso  compliciren  Heizvorrichtungen  (Doppelboden  des 


Technik  der  aseptischen  Wundbehandlung. 


197 


Lagers,  wo  der  Kranke  liegt)  den  Operationstisch  in  unnöthiger  Weise. 
Räder  unter  den  Füssen ,  wenigstens  am  Fassende  sind  gleichfalls 
zweckmässig. 

Gekleidet  ist  der  Kranke  in  ein  reines  (vorher  gebrühtes  oder 
sterilisirtes)  Operationshemd,  sterilisirte  Operationshosen  (aus  Hemden- 
tuch), eine  sterilisirte  Mütze,  oder  der  Kopf  wird  mit  einer  in  Sublimat- 
lösung getauchten  Binde  eingewickelt. 

Die  Reinigung  des  Operationsfeldes  ist  ein  schwieriger 
Punkt.  Hat  doch  Mittmmm  {Virchow's  Arch.,  123)  auf  der  Haut  84  Arten 

Fig.  120. 


von  Mikroorganismen ,  darunter  3r>  verschiedene  Mikrokokkenarten  ge- 
funden. Häutig  findet  sich  der  Staphylococcus  albus,  viel  seltener  der 
Staphylococcus  aureus  {Lauenstein,  Chir.  Congr.  1 896).  Lauenstein  kommt 
auf  Grund  seiner  Untersuchungen  zu  ziemlich  pessimistischen  Anschau- 
ungen über  die  Möglichkeit,  die  Haut  des  Kranken  zu  desinticiren. 
Unter  124  Fällen  gelang  es  49mal,  die  Haut  keimfrei  zu  machen. 
Keimgelialt  der  Haut  störte  die  Prima  intentio  jedoch  nicht  innner. 
Die  Dcsinfcction  wurde  zum  Tlieil  nur  Imal.  zum  Tlieil  bis  zu  ;)mal 
gemacht,"  daneben  wurden  Umschläge  mit  Sublimat.  Chlorwasser  und 
.öO'VnigerCreolinvasogene  gemacht.  Sainter  will  nie  pathogene  Organismen 
auf  der  Haut  gefunden  haben,  was  ich  nach  meinen  eigenen  Versuchen 
nicht  bestätiiicn  kann. 


]^98  11^-  f-'apitel.  —  Vcrlctzuiif^en. 

Wo  es  möglich  ist,  sind  melirfaclic  warme  Bäder  mit  Seifenab- 
reibunji;'  (eventuell  Schmierseife)  zu  machen.  Auf  heissem  Wcj^e  herge- 
stellte Seife  ist  keimfrei  (v.  Eisehbenjj^  anf  kaltem  Wege  dargestellte 
nicht  sicher.  Auch  die  Schleich'mhe  Marmorseife  wird  empfohlen.  Anti- 
septische Umschläge    (Sublimat  1  :  5000 — 1  :  3000j    sind    zweckmässig. 

Die  eigentliche  Desinfeclion  beginnt  zunächst  mit  einer  gründ- 
lichen Seifenabreibung  des  ganzen  Operationsgebietes  und  seiner 
Umgebung.  Seit  langen  .Jahren  bediene  ich  mich  hiezu  nur  der  (vorher 
sterilisirten)  groben  Holzfasern  in  Bündeln,  womit  der  Körper  abge- 
scheuert wird,  und  die  nachher  weggeworfen  werden.  Bürsten  werden 
inticirt  und  können  weiter  inficiren ,  wenn  man  sie  hiezu  braucht.  Es 
folgt  dann  ein  sorgfältiges  Rasiren,  das  ausser  den  Haaren  die  obersten 
bacterienreichsten  Epidermisschichten  wegnimmt ,  dann  folgt  Abreiben 
mit  sterilem  Handtuch.  Darauf  lasse  ich  mit  sterilen  Wattebäuschchen,  die  in 
Aether  (oder  Sublimatalkohol  1 :  1000)  getaucht  sind,  abreiben.  Schliess- 
lich kommt  eine  Abreibung  mit  in  Sublimatlösung  (1  :  3000  —  1  :  1000) 
getauchter  Watte. 

Das  Operationsfeld  wird  mit  sterilisirten  Handtüchern,  die  mit 
Handtuchklemmen  oder  Charriere'schen  Pincetten  verbunden  werden, 
reichlich  umlegt.  Wo  sie  nicht  zur  Verfügung  stehen,  umlegt  mau  mit 
sterilisirten  oder  in  Sublimatlösung  (1  :  3000)  getauchten  Mullcompressen 
oder  legt  ein  grosses,  in  der  Mitte  gelochtes  sterilisirtes  Mullstück  darüber. 

Operateur  und  Assistenten  nehmen  am  besten  täglich  ein  Bad; 
ein  längeres  warmes  Bad  mit  Seifenabreibung  gehe  längerdauernden 
Operationen  voraus  oder  folge  inticirenden  Eingriffen.  Mir  haben  sich 
zur  Vermeidung  der  Infection  nach  der  Behandlung  septischer  Processe 
Vollbäder  oder  Armbäder  mit  Schwefelleber  (Kalium  sulfuratum  50  Grm  ), 
dessen  antiseptische  Kraft  nach  meinen  Versuchen  nicht  gering  ist,  sehr 
l)ewährt.  Sie  kleiden  sich,  nachdem  die  (nicht  wollenen  I)  Hemdärmel  bis 
zur  Schulter  aufgekrempelt  sind  und  die  erste  Desinfection  der  Arme 
und  Hände  vollzogen  ist,  in  sterilisirte  Operationsmäntel,  die  vom  Hals 
bis  zu  den  Knöcheln  reichen. 

Der  Desinfection  der  Hände  ist  die  allergrösste  Sorgfalt  zu 
widmen.  Wer  die  Instrumente  sterilisirt  und  keine  Schwämme  braucht, 
l;ann  seine  Wunden  nur  durch  die  Hände  (und  asteriles  Ligaturmaterial) 
inficiren.  Ein  nicht  genug  zu  beachtender  Punkt  ist  die  Prophylaxe 
der  Infection.  Einfettung  oder  Anziehen  eines  Gumraitingers  schützt  den 
ringer  bei  der  Untersuchung  schmutziger  Processe  in  Scheide  und 
i\[astdarm ;  eiternde  oder  gar  erysipelatöse  Wunden  berührt  man  nicht 
oder  palpirt  mit  einem  Wattebäuschchen.  Nach  jeder  septischen  Operation 
(lesinticirt  man  sich  sofort  so  gründlich,  wie  vor  einer  aseptischen. 
Die  Fingernägel  sollen  nur  1  Mm.,  höchstens  15  Mm.  lang  und  gut 
abgefeilt  sein.  Vor  der  Operation  werden  die  Hände  und  Arme  3  Minuten 
lang  in  möglichst  warmem  Wasser  mit  Bürste  und  Seife  abgebürstet, 
wobei  jeder  Finger,  jeder  Nagelfalz  einzeln  zu  berücksichtigen  ist.  Nach- 
dem schon  vor  dem  Waschen  der  (wenn  überhaupt  vorhandene)  Nagel- 
schmutz  mit  dem  Nagelräumer  entfernt  wurde,  werden  während  des 
^Vaschens  nochmals  sämmtliche  Unternagelräume,  die  nach  Fürbr'mger, 
Mittmann  und  Prevndelsherger  die  bacterienreichsten  Stellen  der  Hände 
«ind,  mit  dem  metallenen  ausgekochten  Nagelräumer  ausgereinigt.  Dann 
werden  die  Hände  und  Finger  mit  sterilisirtem  Handtuch  oder  Gazetupfer 


Teclinik  der  aseptischen  Wiindbehandlung.  199 

pünktlich  abgeriebeu  (hiebei  gehen  grosse  Mengen  Epithel  ab).  Jetzt 
wird  der  Operationsmantel  angezogen. 

Nun  folgt  auf's  Neue  eine  Seifen  abbürstung  von  3  Minuten ,  ein 
Abreiben  mit  dem  sterilen  Handtuch  und  dauii  durch  2  Minuten  Ab- 
bürsten mit  Bürste  und  80%igem  Alkohol.  KünnueU  und  Fürhringer 
fügen  dann  noch  eine  Abwaschung  in  Sublimatlösung  (1:  1000),  Kocher 
und  Tavel  in  saurer  Sublimatlösung  (2  :  1000)  hinzu.  Diese  ist  nach  meiner 
Erfahrung  unnöthig.  Kocher  bürstet  zuletzt  die  Hände  mit  steriler 
0'7%iger  Kochsalzlösung  oder  Taverscher  Lösung.  Auch  während  der 
Operation  haben  stets  Becken  mit  heissem  Wasser  und  .Alkohol,  oder 
mit  l'^/ooiger  Sublimatlösung  bereit  zu  stehen,  um  eine  —  kurze  —  Rei- 
nigung der  Hände  zu  ermöglichen  (von  Blut,  Eiter,  oder  nach  Berüh- 
rung nicht  steriler  Gegenstände). 

Die  Gesammtdesinfection  der  Hände  dauert  bei  mir  nie  unter 
6  Minuten,  im  Durchschnitt  10  Minuten. 

Die  durch  die  Praxis  erwiesene  Desinfectionskraft  des  Alkohols  ist  sehr  ver- 
schieden gedeutet  worden.  Koch  hat  gezeigt,  dass  absoluter  Alkohol  Milzbrandsporen  über- 
haupt nicht  zu  vernichten  vermag.  Alkohol  ist  also  nicht  als  Desinficiens  anzusehen.  Filr- 
hringer  betont  die  fettlösende,  Beinicl-e  die  keimtödtende  (?)  Wirkung,  Krönig  glaubt, 
dass  durch  die  adstringirende  Wirkung  die  Bacterien  in  der  Haut  zurückgehalten  werden. 
Aldfeld  glaubt,  dass  der  Alkohol  nur  bactericid  wirkt,  wenn  die  Bacterien  wasserhaltig 
sind,  d.  h.  nach  gründlicher  Waschung.  Jedenfalls  wird  zum  Schluss  der  Desinfection  die 
Hand  durch  die  Verwendung  des  Alkohols  in  einer  keimfreien  Flüssigkeit  abgespült. 
Allerdings  hält  auch  das  gewöhnliche  Waschwasser  keine  pathogenen  Keime. 

Auch  bei  der  Fürbrinijfer  -  Kämm  eil' sehen  Methode  ist  ein  guter 
Theil  der  Wirkung  der  längerdauernden  mechanischen  Abscheue- 
rung zuzuschreiben.  Die  mechanische  Reinigung  stellen  Sänger  u.  A. 
in  den  Vordergrund,  der  Abreibung  mit  weissem  Silbersand  emptiehlt. 
Allerdings  desinficirt  er  die  Hände  erst  mit  Kali  hypermanganicum 
(1  :  1000)  und  entfärbt  dann  mit  Oxalsäure. 

Die  Hände  werden  bei  Alkoholgebrauch  nur  wenig  rissig,  man 
erhält  sie  weich  durch  Lanolineinreibung  oder  durch  Einreibung  mit 
Lanolinspiritus  (5 — löVo  Lanolin).  Glycerineinreibungen  sind  nicht 
zweckmässig.  Auch  Abreibung  mit  verdünntem  Seifenspiritus  nach 
Schluss  der  Operation  conservirt  die  Hände. 

Die  Handbürsten  (aus  vegetabilischen  Fasern)  sollen  nie  zur 
Abscheuerung  des  Operationsfeldes  benutzt  werden  (hiczu  Holzfaser), 
sondern  nur  zur  Reinigung  der  Hände.  Neu  werden  sie  eine  halbe 
Stunde  in  strömendem  Dampf  sterilisirt,  doch  vertragen  sie  auch  ein 
kurzes  Kochen  von  einigen  Minuten.  Sie  liegen  dann  dauernd  in  Glas- 
gef  ässen  oder  Emailkästchen  (nach  Schimmelbusch)  mit  Deckel  in  l"/ooiger 
Sublimatlösung.  Nach  der  Operation  werden  sie  in  heissem  Wasser 
ausgewaschen  oder  kurz  gekocht  und  kommen  sofort  wieder  in  Subli- 
matlösung. Sie  sind  so  gehalten  nach  meinen  Untersuchungen  frei  von 
pathogenen  Mikroorganismen. 

Die  Instrumente  werden  am  besten  nach  Schimmcllmscli  in 
1  —  l',2Voic^er  Sodalösung  (krystallisirte  Soda)  10  Minuten  gekocht. 
Doch  genügt  bei  kleinen  Instrumenten  schon  '  ^  IMinute  (Vj.  In  gewöhn- 
lichem Wasser  rosten  die  Instrumente  rase!).  Man  l)e(lient  sich  hiezu  des 
ScJii)i)i))elljif.srJi'Bchen  Sterilisators  (von  Ld/ffensrhlügrr  in  lierlin)  mit  ein- 
gesetzten Drahtkörben,  die  an  Holzgriffen  herausgehoben  werden  und 
sofortiges  Trocknen  der  Instrumente  erni()glichcn  (Fig.  121).  Ein  Fisch- 


200 


III.  Caintel.  —  Verletzungen. 


kocher  aus  Email,  scliliesslicli  ein  gewöhnlicher  Kochtopf  mit  ausheb- 
barem Einsatz  genügen  auch. 

Braatz  hat  einen  Sterilisator  angegeben  (Schmucker,  Heidelberg), 
in  dem  zugleich  auch  in  einem  zweiten  oberen  Einsatz  Verbandstoffe 
sterilisirt  werden  können.  Billige  Apparate  zum  Intrumenteabkochen 
haben  Körte,  Kronacher  u.  A.  angegeben. 

Nach  der  Operation  werden  die  Instrumente  in  heisses  .Seifen- 
wasser eingelegt,  damit  abgebürstet,  mit  sterilen  Tüchern  abgetrocknet 
und  an  einem  warmen  Ort  rasch  getrocknet.  —  Nur  gut  vernickelte 
Instrumente  halten  die  aseptischen  Proceduren  auf  die  Dauer  aus. 

Die  Instrumentenschale  (aus  Glas,  Porzellan,  Metall)  wird  am 
besten  ausgekocht;   ist  dies  nicht  möglich,  so  wird  sie  ausgeseift,  steht 


Fig. 121. 


Instrumenten- 
schale 


2  Stunden  mit  l°/noiger  Sublimatlösung  gefüllt,  wird  mit  sterilen  Tupfern 
ausgetrocknet  und  zum  Schluss  mit  Aether  ausgerieben.  Ich  nehme  die 
Instrumente  trocken  aus  trockener  Schale  und  lasse  sie,  wenn  nöthig, 
während  der  Operation  in  sterilisirtem  Wasser  oder  Kochsalzlösung 
abspülen  und  mit  sterilen  Tupfern  abreiben  oder  nur  letzteres. 

Sodalösung  macht  die  Instrumente  schlüpfrig,  Kochsalzlösung  ist 
angenehmer.  Aber  es  ist  alle  Flüssigkeit  überflüssig,  ganz  besonders 
VaVoige  Lysol-  und  IV2— ^Voige  Carbollösung.  Bis  zum  Beginn  der 
Operation  deckt  man  ein  steriles  Handtuch  über  die  Instrumentenschale. 

Als  Material  zum  Abtupfen  der  Wunde  sind  Schwämme 
gänzlich  zu  verwerfen  (Desinfection  s.  pag.  188),  auch  für  Laparo- 
tomien. Die  meisten  Chirurgen  bedienen  sich  der  Tupfer,  kleiner  vier- 
eckiger Stückchen  von  1  Stunde  lang  im  strömenden  Dampf  sterili- 
sirtem Mull  (die  käuflichen  sterilisirten  Verbandstoffe  sind  nicht  absolut 


Technik  der  aseptischen  Wundbehandlung. 


201 


zuverlässig)  oder  aus  frischem  selbst  zubereitetem  Sublimatmull  (s, 
pag.  194).  Der  käufliche  Sublimatmull  ist  nicht  verlässlich.  (Nach 
Schlange,  Langenhech's  Archiv,  36,  ist  kein  Verbandstoff  steril,  Schimmel- 
pilze finden  sich  immer,  oft  auch  verflüssigende  Bacterien.)  Im  Noth- 
falle  kann  man  auch  gut  ausgedrückte  Mulltupfer  nehmen,  die  (womög- 
lich 2  Stunden)  in  wässeriger  Sublimatlösung  1 :  1000  gelegen  haben. 
Kocher  kocht  die  Tupfer  Ya  Stunde  in  Ttwerseher  Lösung  (T^ö^/oo  Koch- 
salz, 2'5%o  calc.  Soda).  Die  ganz  reizlose  Flüssigkeit  tödtet  kochend 
Mikroorganismen  in  wenigen  Minuten.  Man  kann  auch  Holzfaser,  Holz- 
watte in  Mull  einbinden  und  sterilisiren  (Fig.  122). 

Wcdthard  empfiehlt  für  die  Bauchhöhle  feuchte  Asepsis  (Eintauchen  der  Com- 
pressen  in  TaveVsch.^  Lösung),  weil  die  obersten  Zellschichten  der  Seiosa  bei  trockenen 
Compressen  durch  Trockennekrose  zu  Grunde  gehen,  so  dass  Adhäsionen,  Ileus  etc.  durch 
die'  Verklebung  entstehen  können.     Demhroivshi   [Langenheck' s  Archiv,  37)  fand   nach 


Fig.  122. 


längerem  Eeiben  mit  der  Zahn- 
bürste die  Peritonealserosa  glatt. 
Die  Peritonealserosa  ist  also 
nicht  so  sehr  empfindlich.  Ich 
treibe  seit  10  Jahren  trockene 
Asepsis  in  der  Bauchhöhle  und 
habe  bis  jetzt  nie  eine  operative 
Peritonitis  gehabt.  Zu  meiner  ,;i 
grossen  Freude  hat  sich  der  Gy-  li 
näkologencongress  von  1895  in 
seiner  Mehrheit  für  die  trockene 
gegen  die  feuchte  Asepsis  in  der 
Bauchhölile  ausgesprochen. 

Zur  Herstellung  steriler  Flüssigkeiten  (0"7"/oi8"e''  Kochsalzlösung, 
TaceV%Q\\tx  Lösung)  bedient  man  sich  des  eine  Kühlschlange  enthaltenden 
Wassersterilisators  nach  Fritscli-Lautenschläger  (Fig.  12;3). 

Ueber  das  Ligatur-  und  Nahtmaterial  ist  noch  keine  Ueber- 
einstimnuing  erzielt.  Dem  Geeiste  der  Asepsis  ents])riclit  eigentlich  nur 
die  Seide,  die  allein  eine  energische  Sterilisation  aushält. 

Die  chinesische  („Turnerseide"  ist  theiirer)  Seide  wird  in  lYa-^Vuig'Gi" 
Sodalösung  oder  YVnvi'scher  Lösung  8  — 10  Minuten  lang  gekocht,  wobei 
bei  starker  Verunreinigung  die  Sodalösung  zu  wechseln  ist ,  dann 
3 — 5  ^Minuten  in  geufjhnlicliem  kochendem  Wasser.  Sie  ist  dann  steril. 

Die  rein  aseptische  Hohandlung  dci-  Seide  hat  mich  nicht  t»efri(;digt. 
Dem    l'i'iiici|i   /.iilichc   Imhc    ich    sie   iiacli    dem    .\iiskoclieii   in   '.lO'Voioem 


202  in.  Capitel.  —  Verlctzuii>,'i;n. 

Alkoliol  (der  nach  R.  Koch  Milzbraridsporen  iiborlianpt  niclit  /n  tödten 
vermag)  aufbewahrt,  ha])e  aber  öfters  (allerdings  ungefälirlicbcj  Fuden- 
eiterungen  gehabt.  Jetzt  bewahre  ich  sie  in  V2'*/oige''"  »Subliniataltcoliol  auf 
und  verwende  sie  direct  daraus.  Man  schützt  sich  so  auch  gegen  zufällige 
Infection  der  Fäden  während  des  Zureichcns.  Seitdem  habe  ich  fast  nie 
wieder  eine  Ligaturausstossung  oder  die  Eiterung  einer  Naht  gehabt.  Auch 
Kocher  ist  durch  die  rein  aseptische  Behandlung  der  Fäden  nicht  befriedigt 
worden.  Diese  Behandlung  der  Seide  entspricht  allen  Anforderungen, 
die  man  an  ein  aseptisches  Unterbindungsmaterial  stellen  kann. 

Die  Fäden  bleiben  am  besten  auf  Glasspulen  gewickelt  in  mit 
0"5°/oigem  Sublimatalkohol  gefüllten  Fadengläsern  (von  Lautenschläger), 
aus  denen  sie  durch  kleine  Löcher  vorgezogen  werden. 

Weniger  befriedigt  hat  mich  die  von  Lautenschläger  gelieferte 
Fadensterilisationsbüchse  aus  Nickelblech  nach  Schimmelhusch. 

Das  Kochen  der  Seide  in  ö^/oiger  Carbollösung  durch  10  Minuten 
(Czerny)  genügt  nicht,    weil    die  Seide   nicht  genügend   entfettet  wird. 

Die  alleinige  Behandlung  mit  Sublimatlösung  (selbst  1  :  lOOj  ge- 
nügt nicht,  weil  die  oberflächliche  Schmutzschicht  —  mit  Sublimat  ein 
unlösliches  Quecksüberalbuminat  bildend  —  die  in  den  tiefen  Schichten 
des  Fadens  sitzenden  Mikroorganismen  vor  Einwirkung  des  Sublimats 
schützt  (Geppert).  Diese  keimen ,  wenn  das  Sublimat  in  der  Wunde 
resorbirt  ist.  nach  Tagen  aus  und  geben  Anlass  zu  Spätinfectionen 
(vergl.  pag.  143). 

Für  das  Catgut  als  Unterbindungsmaterial  stehen  uns  die  ver- 
schiedensten Methoden  zur  Desinfection  zur  Verfügung.  Ich  habe  in 
Uebereinstimmung  mit  zahlreichen  Chirurgen  seit  13  Jahren  keinen 
Catgutfaden  mehr  verwendet. 

Wie  schwierig  Catgut  zu  sterilisiren  ist,  geht  aus  der  grossen 
Zahl  von  Bacterien  hervor,  die  darin  gefunden  sind.  Nach  Lauenstein 
(Chirurg.  Congr.  189."))  waren  von  149  Proben  sogenannten  sterilisirten 
Catguts  35  nicht  steril.  Er  fand  37  Arten  von  Bacterien  im  Catgut; 
meist  fand  sich  Bacillus  subtilis,  doch  auch  Mikrococcus  tetragenus  und 
Staphylococcus  albus.  Zazaczkowski  (Chirurg.  Centralbl.,  1896,  Nr.  1) 
fand  ausser  dem  von  Brunner  (Langenbeck's  Archiv,  42)  gefundenen 
Catgutbacillus  a  noch  einen  specifischen  Catgutbacillus  ß.  (Zazaczkowski 
legt  Catgut  24  Stunden  in  Ol.  juniperi,  12  Stunden  in  Aether,  60  Stunden 
in  2Yooige  Salzsäurelösung  oder  sterilisirt  2V2  Stunden  trocken  bei  150° 
nach  Reverdin-Braatz.)  —  Kocher  (Chirurg.  Congr.  1895)  hatte,  solange, 
er  Catgut  brauchte,  nur  in  35%  tadellose  prima  reunio,  mit  Seide  in 
8570/0.  In  den  übrigen  157o  beschuldigt  er  Luft  und  Hände  des 
Operateurs.  —  Popjjert  (Chirurg.  Centralbl.,  1896,  Nr.  26)  glaubt  an 
eine  Catguteiterung  ohne  Mikroorganismen  auf  chemotaktischem  Wege. 
Volkmann  glaubt  2mal  durch  Catgut  Milzbrandübertragung  gesehen 
zu  haben. 

Die  gebräuchlichste  Art,  Catgut  zu  desinficiren,  ist  z.  Z.  die  nach 
V.  Bergmann  und  Schimmelbusch.  I)as  Catgut  wird  auf  sterilisirte  Glas- 
platten oder  Glasrollen  aufgewickelt,  dann  in  Aether  24  Stunden  lang 
entfettet,  hierauf  wird  es  in  Sublimatalkohol  (10  Sublimat,  800  Alkohol 
absolutus,  ^00  Aq.  dest.)  gelegt  und  dieser  (mindestens  2mal)  so  lange 
nach  je  24  Stunden  gewechselt,  bis  keine  Trübung  mehr  entsteht. 
Schliesslich  kommt  das  Catgut  in  gewöhnlichen  Alkohol  absolutus  (mit 


Sterilisation  von  Seide  und  Catgut.  203 

Glycerinzusatz  bis  20%,    um  ein  geschmeidigeres  Catgut  zu   erhalten). 
Aufbewahrung  in  Sublimatalkohol  ist  sicherer. 

Eine  einfache  Zubereitungsweise  ist  die  von  Kocher.  Das  Catgut 
kommt  24  Stunden  in  Oleum  Juuiperi  (Wacholderöl)  und  wird  dann 
in  95Voigem  Alkohol  (eventuell  mit  Glycerinzusatz)  aufbewahrt  (s.  oben). 

DieTrockensterilisationdesCatgut  {Kümmell,  Döderlein,  Tscherning  u .  A .) 
befriedigt  nicht  besonders.  Das  in  Alkohol  durch  24—48  Stunden  entfettete  Rohcatgut 
wird  in  Glasschalen,  zugeklebten  Briefcouverts,  Fliesspapier  im  Heissluftofen  innerhalb 
3  Stunden  allmählich  auf  130"  erhitzt  und  diese  Temperatur  durch  3  Stunden  festgehalten. 
Aufbewahrung  in  Sublimatalkohol  (eventuell  mit  Nachbehandlung  in  Ol.  Juniperi)  oder 
trocken  (Mikulicz).  Oder  Abreiben  mit  Tupfern  mit  grüner  Seife,  Entfetten  in  Aether, 
dann  Alkohol  absolut.,  dann  2— 3  Stunden  Heissluftsterilisation ,  1—2  Tage  in  17ooiger 
wässeriger  Sublimatlösung,  Aufbewahren  in  17o,jigem  Sublimatalkohol  (+  57o  Glycerin). 
Brunner  sterilisirte  das  Catgut  in  Xylol  bei  100"  (3  Stunden)  oder  in  kochendem  Xylol 
(130 — 140'')  (1'/.,— 2  Stunden),  Auswaschen  in  Alkohol,  Aufbewahren  in  Sublimatalkohol. 

In  neuester  Zeit  wird  (Kossmann)  das  Formalin  zur  Sterilisation 
des  Catgut  benützt.  —  Halbem  und  Hlaicacek  (Wiener  klin.  Wochen- 
schrift, 1896,  Nr.  18):  Catgut  auf  Glasspulen  12  Stunden  in  5— lOVoiger 
Formalinlösung.  Vi  Stunde  kochen  in  Wasser,  Aufbewahren  in  P/ooigem 
Sublimatalkohol.  —  Hofmeister  {ßnxm^.  Q,o\izv.  1896):  auf  Glasplatten 
in  einfacher  Schicht  gewickelt,  12—48  Stunden  in  2— 4o/oiger  Formalin- 
lösung, Auswässern  in  fliessendem  Wasser  mindestens  12  Stunden, 
5 — 20  Minuten  in  Wasser  kochen ,  nachhärten  und  aufbewahren  in 
Alcohol  absolutus  (-f  4Vo  Acid.  carbol.  oder  I7oo  Sublimat  +  5% 
Glycerin). 

Hofmeister  gibt  in  den  Beiträgen  zur  klinischen  Chirurgie,  Bd.  XVI, 
Heft  3  eine  genaue  Uebersicht  der  Catgutsterilisation  und  weist  die 
Unzulänglichkeit  der  SauVmh^n  Sterilisationsmethode  nach  (das  auf 
Glasplatten  befestigte  Catgut  wird  15  Minuten  lang  in  einem  besonderen 
Apparat  einem  siedenden  Gemisch  von  Alcohol  absolut.  850  0,  Acid. 
carbol.  liquef.  50"0,  Aqu.  dest.  1000  ausgesetzt). 

Das  heute  sehr  selten  verwandte,  derbere  und  schwerer  resorbir- 
bare  Chromcatgut  stellt  Mac  Eioen  in  folgender  Weise  her:  Rohes 
Catgut  wird  48  Stunden  in  eine  Mischung  von  5  Theilen  Glycerin  und 
1  Theil  20'',oigei'  wässeriger  Chromsäurelösung  eingelegt,  ausgewässert 
und  dann  in  10 — 20^'oigem  Carbolglycerin  aufbewahrt.  Oder  trocken 
sterilisirtcs  Catgut  kommt  48  Stunden  in  lOVoig'cs  Carbolglycerin,  dann 
5  Stunden  in  ^/^^/o^g^  Chromsäurelösung,  Aufbewahrung  in  l^oigem 
Suhl  imatalko  hol. 

Die  Kesorptionsdauer  des  Catgut  ist  eine  verschiedene  {Tillmanns, 
Halhvachs,  v.  Lcsscr ;  vergl.  pag.  112).  Vor  dem  22.  Tage  findet  man 
nur  wenig  Yeiänderung,  Reste  liat  man  noch  nach  IY2  und  2  Jahren 
gefunden.  Es  hält  sich  also  viel  länger,  als  z.  B.  die  Bildung  der  Ge- 
fässnarbe  dauert.  Zu  rasche  Resorption  wäre  also  kein  Grund,  das  Catgut 
nicht  zur  Gefässunlerbindung  zu  verwenden. 

Zur  Wundnaht  (vergl.  VVundvereinigung)  wird  zumeist  Seide, 
zum  Theil  Catgut  verwandt.  Ausserdem  wird  verwandt  Silberdraht. 
Er  wird  zunächst  durch  die  Flamme  gezogen  und  wird  dadurch 
weich  und  schmiegsam.  Darauf  lasse  ich  ihn  noch  10  IMinuten  kochen. 
Er  ist  am  leichtesten  zu  sterilisiren  und  wird  deshalb  von  vielen 
Chirurgen  zu  versenkten  Nähten  (sell)st  Ilerniotomicn)  verwandt,  wo  er 
aber  später  oft  recht  lästig  werden  kann.  Kr  saugt  keine  Flüssigkeit  in  die 
Wunde  ein.   wie  Seide  und  Cataut.  Am  meisten   wird  er  gebraucht  bei 


204 


ni.  Capitel.  —  VcrJctzungcii. 


plastischen  Operationen  (Gaumen,  Hasenscharte,  Vagina,  Damm  u.  s.  w.). 
Doch  ist  der  Vorwurf,  dass  die  Seide  Infectionskeime  in  die  Wunde 
hereindrainire,  hineinziehe,  unrichtig.  »Selbst  wenn  der  äussere  Theil  der 
Schlinge  bacterienhältig ,  ist  der  in  der  Haut  liegende  Theil  derselben 
fast  immer  steril. 

Der  Silkworm,  gleichfalls  aus  Seidenwurmdarm  präparirt,  ist 
starrer  als  Seide,  weicher  als  Silberdraht,  zu  plastischen  Operationen  gut 
geeignet.  Er  wirkt  nicht  capillär  ansaugend.  Er  wird  zunächst  mit 
Seife  gründlich  abgebürstet  und  auf  mindestens  48  Stunden  in  '/aVoigen 
Sublimatalkohol  gelegt.  Er  wird  nicht  resorbirt. 

Pferdehaare  können  wie  Seide  gekocht  werden  und  werden 
völlig  aseptisch. 

"Weitere  Unterbindungs-  oder  Nahtmaterialien  —  Wallfischsehnen,  Fäden  aus  dem 
Peritoneum,  parietale  oder  der  Aorta  des  Ochsen,  Känguruh-,  Eennthiersehnen  u.  s.  w. 
haben  keine  allgemeine  Annahme  gefunden. 

Die  Ableitung  der  Wundsecrete  wird  heute  fast  allgemein 
durch  Gummidrainröhren  erzielt,  die  man  seitlich  locht  oder  nicht 
(Fig.  124).  Nach  einem  kurzen  Auskochen  in  P/oigerSodalösung  werden  sie 
entweder  5 — 10  Minuten  in  ö^/oiger  CarboUösung  gekocht  oder  Monate 
lang  in  öliger  CarboUösung  (Carbolsäure  erneuern  oder  nachgiessen!)  auf- 

Fig.  12i. 


bewahrt.  Glasdrains  (in  Sodalösung  ausgekochte  Glasröhren  mit  seit- 
lichen Löchern),  ebenso  Wieken  aus  Glaswolle  (Kümmell)  werden  heute  nur 
wenig  mehr  angewandt.  Neuher  und  v.  Esmarch  suchten  die  Drainage 
durch  Hautperforation  (mit  Lochzange)  und  Offenlassen  der  Wundecken 
überflüssig  zu  machen.  Das  letztere  ist  mitunter  zweckmässig  (s.  pag  195). 

Die  gänzliche  Vermeidung  der  Drainage  suchte  man  da- 
durch anzustreben ,  dass  man  die  Wunde  von  Grund  aus  in  ihren 
verschiedenen  Schichten  durch  verlorene  (Catgut-  oder  Seiden-)Nähte 
vereinigte  (vergl.  Naht).  Diese  Methode  ist  nur  da  möglich,  wo  keine 
Infection  und  keine  Absonderung  von  Wundsecret  zu  erwarten  ist.  Oder 
man  nähte  erst  nach  24—48  Stunden  (Secun  därnaht,  Kocher, Helferkh). 

Um  die  Wund  spritzen  aseptisch  zu  machen,  genügt  nach 
Schimmelbusch  einmaliges  Diirchspritzen  mit  kochendem  Wasser,  wenig- 
stens zur  Vernichtung  der  Eiterkokken.  Hofmeister  legt  den  Lederstempel 
erst  für  einige  Stunden  in  4 — 10%ige  Formalinlösung  und  koclit  ihn 
dann  aus.  Ich  lasse  z.  B.  Praw^'sche  Spritzen  dauernd  in  sterilisirter  Koch- 
salzl-ösung  liegen,  lasse  sie  alle  paar  Tage  1 — 2  Stunden  mit  Alkohol 
aufgezogen  liegen  und  ziehe  sie  von  Zeit  zu  Zeit  mit  sterilisirtem 
l%igem  Salicylöl  auf,  damit  der  Stempel  nicht  vertrocknet. 

Zweckmässiger  sind  die  auskochbaren  Spritzen  mit  eingeschliftenem 
Metall-  oder  Asbeststempel.  Jedenfalls  empfiehlt  es  sich,  für  bestimmte 


Sterilisation  von  VerbandstotFen.  Verbandwechsel.  205 

Zwecke  eigene,  nicht  zu  verwechselnde  Spritzen  dauernd  zu  reser- 
viren  —  also  für]  Prohepunction  und  Aspiration  andere,  als  zur 
Injection  u.  s.  w.  Einmal  mit  Eiter  inficirte  Pravaz'sche  Spritzen  mit 
Lederstempel  sind  für  Injectionen  gänzlich  zu  verwerfen.  Da  wir  Wunden 
nicht  mehr  abspritzen  und  das  Ausspritzen  von  Abscessen  direct  ver- 
werflich ist,  ist  der  Gebrauch  von  Wundspritzen  heute  sehr  viel  geringer 
als  früher.  P2benso  ist  der  mit  sterilisirtem  Glasansatz  versehene  Irri- 
gator selten  nothwendig. 

Zum  Verband  der  Wunde  bedient  sich  die  heutige  aseptische 
Methode  reichlicher  Schichten  von  1  Stunde  lang  im  strömenden  Dampf 
sterilisirtem  Mull.  Ich  halte  es  für  zweckmässiger,  bei  Dauerverbänden 
direct  auf  die  Wunde  eine  in  Subliuiatlösung  (1  :  3000)  getauchte,  ausge- 
drückte Compresse  zu  legen.  Kocher  verbindet  mit  Mull,  der  in  I'ave/'scher 
Lösung  Yo  Stunde  ausgekocht  ist.  —  Ueber  den  Mull  kommt  sterili- 
sirtes  Verbandmaterial  —  Holzwatte,  Holzfaser,  Moos,  Moospappe,  ent- 
fettete Watte.  All  dies  wird  mit  sterilisirten  Mullbinden  befestigt  (s.  Ver- 
bandlehre) und  darüber  kommt  zum  Festhalten  des  Verbandes  eine 
Ein  Wicklung  mit  in  Sublimatlösung  1  :  3000  getauchter  gestärkter 
Gazebinde. 

Zum  Sterilisiren  der  Verbandstoffe  sind  am  geeignetsten  die 
Sterilisatoren  von  Lautenschläger  in  verschiedenen  Grössen.  Billig  sind 
auch  die  (leicht  in  Unordnung  gerathenden)  Apparate  von  Buddenherg. 
Die  Sterilisatoren,  die  Aufsätze  auf  Instrumentenkocher  darstellen  ("-Braafe^, 
fassen  meist  nur  wenig  Verbandstoffe.  Die  Minimalzeit  der  Sterilisation, 
von  der  Zeit  an  gerechnet,  wo  das  Thermometer  100'^  erreicht,  ist  30  Mi- 
nuten ;  als  Durchschnitt  hat  eine  Stunde  zu  gelten.  Der  strömende 
Wasserdampf  tritt  besser  von  oben  als  von  unten  ein ;  todte  Winkel 
müssen  im  Sterilisator  vermieden  sein. 

Bleiben  Temperatursteigerung  und  Secretdurchtränkung  aus,  so 
wird  der  Verbandwechsel  unter  denselben  Vorsichtsmassregeln 
(Hände,  Instrumente,  Verbandstoffe)  wie  bei  der  Operation,  bei  stark 
durchgebluteten  Verbänden  am  1. — 2.,  sonst  am  5. — 6.  Tage  vorgenom- 
men. Hiebei  können,  wenn  glatte  Heilung  erfolgt  ist,  Drainröhren  und 
Nähte  weggenommen  werden  (s.  Naht).  Bei  grossen  Wunden  (Laparo- 
tomien, Amputationen)  soll  ein  Theil  der  Nähte  (oder  alle)  bis  zum 
10.  Tage  gelassen  werden.  Tritt  Secret  durch  den  Verband  ohne  Tem- 
peratursteigeruug ,  so  wird  zunächst  die  feuchte  Stelle  mit  Holzwolle 
u.  dergl.  gedeckt  und  eine  neue  Binde  übergelegt.  Starke  Durchtränkung 
empfiehlt  Verbandwechsel.  Stellt  sich  Temperatursteigerung  über  38*5" 
ein  (vergl.  pag.  134  ff. ,  über  aseptisches  Fieber  etc.),  so  ist  der  Ver- 
band zu  wechseln;  findet  sich  irgendwo  Röthung  oder  Spannung,  so 
sind  hier  die  Nähte  zu  lösen,  die  Drainröhren  zu  wechseln.  Oft  ist  dann, 
besonders  wenn  Entzündung  oder  Eiterung  sich  zeigt,  Uebergang  zu 
feuchten  antiseptischen  Umschlägen  am  Platz. 

Für  die  Asepsis  auf  dem  Lande  oder  auf  dem  Schlacht- 
feld genügen  2  Kochtöpfe  und  l^/oige  Sodalösung  oder  TaveV^Q\\Q 
Lösung.  In  dem  einen  werden  die  Instrumente  in  P/oiger  Sodalösung,  im 
andern  Verbandstoffe  und  Seide  gekocht  (hier  mindestens  einmaliger 
Wechsel  der  Sodalösung).  Wenig  Wasser  in  einem  grossen  Kessel,  die 
Verbandstoffe  auf  einem  Rost  von  Stäben,  Steinen  oder  in  einem  Korbe 
lassen  einen  Verbandstoffsterilisator  improvisiren. 


206  ^^^-  ^-'apit'il-  —  V'!rl(:tziiiif,'i;i). 

Für  die  antiseptische  Methode  von  heute  sind  die  Vorschriften 
einigermassen  schwankend. 

Von  verschiedenen  Chirurgen  (besonders  Schimmelfjusch)  wird  die  antiseptische 
Behandlung  von  Wunden  und  Eiterungen  ganz  verworfen  als  unnütz,  unmöglich  und 
geradezu  schädlich,  weil  giftige  Antiseptica  die  Lebensenergie  der  die  Wunde  bildenden 
Gewebe  schädigen,  ihre  phagocytotische  bacterienvernichtende  Kraft  (siehe  pag.  2ß) 
herabsetzen  oder  ganz  aufheben  und  in  die  Girculation  aufgenommen  die  inneren  lebens- 
wichtigen Organe  (Herz,  Niere  etc.)  zur  Degeneration  bringen.  Zudem  seien  die  Anti- 
septica gar  nicht  im  Stande,  in  die  Gewebe  eingedrungene  Mikroorganismen  zu  zerstören. 

Nach  Schimmelhusch  (Chir.  Congr.  1894)  ist  jede  Desinfection  der  Wunde,  selbst 
das  Ausbrennen  mit  Pacquelin  nutzlos;  wenn  nicht  binnen  10  Minuten  der  Schwanz 
amputirt  wird,  ist  die  Allgemeininfection  (mit  Milzbrand,  virulenten  Streptokokken)  nicht 
mehr  zu  verhüten.  Diese  Versuche  sind  bestätigt  durch  ähnliche  von  Renmdt  und 
Boiiley  (Rotz  bei  Pferden),  Messen  (Milzbrand  beim  Kaninchen.)  Auch  Hänel  (D.iled. 
Wochenschr.,  1895,  8)  kommt  zu  der  Ansicht,  dass  es  ganz  gleichgiltig  sei,  ob  man  mit 
3°/oiger  CarboUösung  oder  0'67oiger  steriler  Kochsalzlösung  verbinde ,  wenn  nur  (bei 
EiteiTing)  durch  breite  Spaltung  für  freien  Abfluss  gesorgt  sei.  In  einem  gewissen 
Gegensatz  hiezu  kommt  Henle  (Langenbeck's  Archiv,  49,  4)  der  —  in  correcterer 
Weise  —  nicht  mit  so  hochvirulenten  Culturen,  wie  Schimmelhusch,  sondern  mit  Eiter 
(Streptokokken)  arbeitete,  zu  dem  Ergebniss,  dass  man  bis  zu  3  Stunden  post  infectionem 
eine  Wunde  mit  Sublimatlösung  1  :  1000  sicher  sterilisiren  könne,  in  einzelnen  Fällen 
bis  zu  8  Stunden,  im  Mittel  innerhalb  6  Stunden.  Die  Wundinfection  ist  für  Henle  zu- 
nächst eine  rein  locale  Infection  (im  Gegensatz  zu  Schimmelhusch).  Messner  (Chir. 
Congr.  94)  will  bei  den  aseptisch  behandelten  infiicirten  Wunden  mit  nur  einer  Ausnahme 
Gangrän  und  tödtliche  Sepsis  gesehen  haben,  während  bei  den  antiseptisch  behandelten 
der  Process  local  blieb.  Diese  Versuche  konnte  Eeichel  {Langenbeck's  Archiv,  42^ 
nicht  bestätigen   (vergl.  pag.  196). 

Beobachtungen,  die  ich  am  Menschen  gemacht  habe  ,  sprechen  für  einen  günstigen 
Einfiuss  massiger  antiseptischer  Lösungen  bei  offenen  Wunden.  Auf  antiseptisch  behan- 
delten offenen  Wunden  findet  man  einen  geringeren  Keimgehalt;  insbesondere  befördern 
Umschläge  mit  sterilisirter  Kochsalzlösung  die  Heilung  und  üeberhäutung  nicht.  Hoch- 
anschlagen darf  man  die  bacterienvernichtende  Wirkung  von  äusserlich  angewandten  anti- 
septischen Mitteln  jedenfalls  nicht.  —  ßeachtenswerth  sind  die  Ergebnisse  von  Schimmel- 
husch und  Pfuhl  (Chü-.  Centralbl.,  1894,  16),  wonach  ältere  Wunden  (24—48  Stunden), 
sowie  Brand-  und  Aetzschorfe ,  sowie  Fascien  der  Infection  einen  grossen  Widerstand 
entgegensetzen  und  nur  schwer  und  selten  inficirt  werden. 

Die  Asepsis  und  die  Antisepsis  sollen  sich  nicht  aus- 
schliessen,  sondern  sich  gegenseitig  ergänzen. 

Asepsis  ist  angezeigt  bei  vom  Chirurgen  zu  machenden  Operationen 
in  nicht  inticirten  Geweben  —  bei  frischen  Operationen. 

Eine  massvolle  Antisepsis  ist  angezeigt  bei  inincirten  Wunden  und 
bei  solchen  Operationen,  wo  im  voraus  kein  Zweifel  ist,  dass  eine 
Verunreinigung  doch  nicht  zu  vermeiden  ist ,  also  bei  Wunden ,  die 
mit  Schleimhautflächeu  *  in  offener  Verbindung  bleiben  (Respirations-, 
Verdauungstractus ,  unterer  Theil  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane); 
hier  empfiehlt  sich  vorsichtige  Jodoformantisepsis. 

Zweifelhaft  kann  man  sein  bei  Verletzungen,  wo  man  nicht  sicher 
weiss,  ob  sie  inficirt  sind  oder  nicht  —  z.  B.  bei  Schädelverletzungen, 
complicirten   Fracturen  u.  dergl. 

Zweifellos  ist  eine  gute  Antisepsis  besser  als  eine 
schlechte  Asepsis  (Land-  und  Kriegspraxis).  Wo  man  also  seiner 
Asepsis  nicht  sicher  ist,  wird  man  mit  der  Antisepsis  ohne  Frage  mehr 
erreichen,  ebenso  möge  derjenige,  der  die  Asepsis  nicht  beherrscht, 
lieber  bei  der  Antisepsis  bleiben.  Nirgends  ist  Principienreiterei  weniger 
am  Platze  als  in  der  Wundbehandlung. 

Das  Ziel,  das  dem  ausübenden  Chirurgen  in  jedem  einzelnen 
Fall  vorschweben  muss,  ist,  die  Operation  und  Heilung  so  zu  leiten, 
dass   eine   Infection    mit   virulenten   Kokken    möglichst   ausgeschlossen 


Antiseptische  Methoden.  207 

wird  und,  wo  sie  nicht  ganz  zu  vermeiden  ist,  jedenfalls  eine  Verhal- 
tung von  Wundsecreten,  Bacterien  und  ihren  Producten  und  damit  eine 
Invasion  derselben  und  eine  Aufsaugung  ihrer  Producte  vermieden  wird. 

Auch  Kocher  tritt  für  die  Combinatiou  von  Asepsis  und  Antisepsis 
ein  (u.  A.  Lanz  und  Flach,  Langenheck's  Archiv,  44).  Die  Operation  sei 
aseptisch,  die  Nachbehandlung  antiseptiscb.  —  Sublimat  —  noch  besser 
Jodoformgaze  —  schützt  besser  vor  Secundärinfection  (Infection  nach 
der  Operation)   als  sterile  Gaze.    Die  Verbände  sind  früh  zu  erneuern. 

Völlig  unerlaubt  ist  die  Anwenduug  von  Antisepticis  bei  Krank- 
heiten des  Herzens  und  der  Niere;  überhaupt  ist  bei  grossen  ein- 
greifenden Operationen  —  Bauch-,  Nierenoperationen  u.  dergl.  (vergl. 
pag.  195)  — ,  ebenso  bei  geschwächten  Personen  die  Anwendung  antisep- 
tischer Stoffe  (ausser  in  kleinsten  Mengen  für  den  Verband)  unzulässig. 

Wer  heute  Antisepsis  treiben  will,  wird  sich  am  besten  einer  massi- 
gen Sublimatantisepsis  bedienen,  mit  Lösungen  1:3000 — 1:5000; 
als  Max.  1 :  1000.  Als  Verband-  und  Tupfermaterial  kann  die  Kümmeirsche 
frisch  bereitete  Sublimatgaze  verwendet  werden,  Instrumente  und  Seide 
sind  wie  bei  Asepsis  zu  behandeln  (pag.  199  ff). 

Wunden  der  Schleimhäute ,  des  Athmungs-  und  Verdauungs- 
schlauches, der  Harn-  und  Geschlechtswerkzeuge  werden,  nachdem  die 
Operation  aseptisch  oder  antiseptisch  ausgeführt  wurde,  am  besten 
mit  loser  Jodoformgazetamponade  behandelt. 

Die  pag.  192  genannten  Ersatzmittel  des  Jodoforms  mögen  bei 
wenig  bedeutenden  äusseren  Wunden  verwandt  werden  —  bei  grossen 
Operationen  (Gebärmutter-,  Mastdarmexstirpationen)  möchte  ich  mich 
nicht  auf  sie  verlassen  und  halte  an  vorsichtigem  Jodoformgebrauch  fest. 

Angeblich  ungiftige  Ersatzmittel  des  Sublimats  und  derCarbol- 
säure  sind  gleichfalls  in  ziemlicher  Anzahl    auf  den  ^larkt  gekommen. 

Für  gewisse  Zwecke  brauchbar  ist  das  Lysol.  Lysol  ist  eine 
Verbindung  eines  Phenols  mit  Seifen.  Es  wird  gebraucht  in  ^a-  und 
l%iger  Lösung,  am  zweckmässigsteu  ist  es  zur  Ausspülung  und  Desin- 
fcction  der  Scheide  vor  Operationen;  weniger  geeignet  ist  es  zm*  Desiu- 
fection  von  Instrumenten,  der  Hände,  wozu  es  von  Einzelnen  gebraucht 
wird;  auch  zu  Umschlägen  ist  es  wegen  seiner  die  Haut  auf  die  Dauer 
reizenden  Eigenschaften  (Kämpfer)  nicht  geeignet.  Seine  desinticirende 
Kraft  ist  nicht  unbedeutend,  ungiftig  ist  es  aber  nicht  {Langfeld,  Acht 
Lysolvergiftungen.  Deutsche  Aerztezeitung,  1895,  Nr.  3). 

Das  Creolin  —  ein  ähnliches  Präparat  —  ist  ein  leidliches 
Antisepticum .  ist  aber  ebenfalls  nicht  ungiftig  und  wenig  handlich. 
Es  wird  verwandt   in  Yo  —  IV^Voiger  LiJsung. 

Die  Borsäure  wird  in  1 — 4"/oiger  Lösung  (auch  mit  Salicylsäure  1, 
Borsäure  6  auf  300"0)  zu  Umsehlägen,  Blasenausspülungen,  3Iagen- 
ausspülungen  u.  dergl.  mit  Vortheil  benützt. 

Weiter  kommen  gelegentlich  zur  Verwendung  1  —  27oig'C  Lösungen 
von  essigsaurer  Thonerde  (Maas),  ein  gut  desodorisirendes  antisep- 
tisches  I.'mschlagswasser  für  Geschwüre,  brandige  Flächen,  Quetsch- 
wunden u.  dergl. 

Auch  das  Chlorzink  ist  (in  stärkeren  Concentrationen  von  4  bis 
50Vo  stark  ätzcndj ,  -in  schwachen  Lösungen  1  :  1000  —  1  :  10.000  noch 
ein  gut  wirkendes  antiseptisches  Verbandwasser  (besonders  für  schlechte 
Beingeschwürej. 


208  liJ[-  Capitel.  —  Vorlctzuiijxoji. 

Dasselbe  ^ilt  von  dem  (frisch  zu  hereitendenj  Clilorwasser, 
das  energisch  dcsodorisirt  imd  früher  besonders  bei  jauchigen  Processen 
sehr  beliebt  war. 

Crede  (ühir.  (Jongr.  1896)  empfiehlt  citronensaures  .Silber  (Itrolj  als  wirkames  reiz- 
loses pulverförmiges  und  in  Lösungen  zu  verwendendes  Antisepticum. 

Kresolum  (Methylcarbolsäure)  purum  liquefactum  ist  in  Y^ — l'Yrjig^Jr  Lösung  ein 
kräftiges  Antisepticum.  Es  ist  weniger  giftig  als  die  Carbolsäure  und  reizt  die  Jfaut  weniger. 

Chinosol  (Phenol  der  Chinolinreihe)  soll  in  Lösung  von  1  :  .3000 — 1  :  IT/JO  kräftig 
antiseptisch  wirken,  ohne  Nebenwirkung. 

Nichts  wäre  verkehrter,  als  die  Kunst  des  Opevirens  und  der  Wund- 
behandlung nur  in  einer  correcten  Anwendung  des  aseptischen  oder 
antiseptischen  Verfahrens  suchen  zu  wollen,  wie  es  leider  von  mancher 
Seite  geschieht.  Es  handelt  sich  hier  noch  um  zahlreiche  andere  Punkte. 
Die  Blutung  ist  so  exact  als  möglich  zu  stillen  und  dabei  sollen  doch 
so  wenig  als  möglich  Fremdkörper  (Ligaturen)  in  der  Wunde  zurückge- 
lassen werden.  (Vergl.  pag.  100.)  Gute  Blutstillung,  ebenso  wie  eine 
schonende  Behandlung  der  verletzten  Gewebe,  die  weder  mechanisch, 
noch  chemisch  (durch  starke  Antiseptica)  beschädigt  werden  dürfen,  sollen 
der  Bildung  von  Wundsecret  entgegenwirken. 

Wo  die  Bildung  von  Wundsecret  nicht  zu  vermeiden  sein  wird, 
soll  dieses  durch  Offenlassen  der  Wundecken,  nicht  zu  enge  Naht,  Ein- 
legen von  Drainröhren  an  den  tiefsten  Stellen ,  abgeleitet  werden.  Bei 
inficirten  Wunden  muss  vorerst  auf  die  Vereinigung  der  Wunde  ganz 
verzichtet  werden  (offene  Wundbehandlung).  Die  Wunde  wird  dann 
vielleicht  später  noch  genäht  (Secundärnaht). 

Stellen ,  wo  sich  Blut-  oder  Wundsecrete  ansammeln  und  zer- 
setzen können  (todte  Winkel),  können  durch  die  Naht  (versenkte  oder 
verlorene  Nähte)  ausgeschaltet  oder  durch  Drainage  unschädlich  ge- 
macht werden.  Auch  Tamponade  mit  antiseptischer  (Jodoform)  oder  asep- 
tischer Gaze  kann  hiezu  zweckmässig  sein. 

Die  Wund  nähte  sollen  nicht  zu  dicht  liegen,  so  dass  sie  die  Er- 
nährung der  Wundränder  nicht  beeinträchtigen,  die  Spannung  der  Wund- 
ränder durch  die  Naht  soll  nicht  so  stark  sein ,  dass  diese  der  Rand- 
gangrän verfallen.  Ein  anderes  Mal  wird  die  Wunde  tamponirt,  d.  h= 
mit  antiseptischer  Gaze   ausgestopft ,   lose   oder   fest   (zur  Blutstillung). 

Defecte  werden  durch  Plastik  gedeckt  (s.  Plastische  Chirurgie). 
Lässt  man  sie  offen,  so  kann  man  sie  mit  Blut  volllaufen  lassen 
(ßchede's  Behandlung  unter  dem  feuchten  Blutschorf)  und  dieses  wird 
dann  der  Substitution  überlassen.  Oder  der  Defect  wird  —  unter  Tam- 
ponirung  —  dem  Ausgranuliren  überlassen  u.  s.  w. 

Regeln  im  Einzelnen  lassen  sich  nicht  geben  —  all  das  muss  am 
Operationstisch  und  Krankenbett  praktisch  erlernt  werden. 

Eine  Aufgabe,  die  sich  dem  praktischen  Arzt  mindestens  ebenso 
häufig  stellt,  wie  die  einer  antiseptischen  Operation,  ist  die,  eine  be- 
reits inficirt  in  Behandlung  zugehende  Wunde  möglichst 
aseptisch  zu  machen. 

Die  erste  Frage,  die  sich  hier  der  Beantwortung  stellt,  ist: 
Wie  lange  nach  der  Verletzung  lässt  sich  eine  Wunde  noch 
aseptisch  machen  und  womit?  Natürlich  ist  dies  von  Fall  zu  Fall 
verschieden,  je  nach  dem  Grade  der  Verunreinigung  der  Wunde,  ihrer 
Beschaffenheit,  ob  tief  und  buchtig  oder  oberflächlich  u.  s.  w.  (vergl. 
pag.  206).  Im  Laufe  der  ersten  24  Stunden  wird  der  Versuch  noch  eine 


Antisepsis.  209 

gewisse  Aussicht  auf  Erfolg  haben.  Man  entfernt  Schmutz  und  todte  Ge- 
webspartikel,  schneidet  gequetschte  Theile  aus  und  schwemmt  die  Wunde 
mit  Sublimatlösung  (1  :  1000),  Chlorzinklösung  (4^/0),  Carbollösung  (ö'^/o) 
aus,  wobei  mit  Tupfern  namentlich  die  Ecken  der  Wunde  besonders 
genau  ab-  und  ausgewischt  werden.  — ■  Will  man  noch  den  (nicht  unbe- 
denklichen) Versuch  der  Naht  machen,  so  müssen  die  Nähte  weit  und  lose 
gelegt  und  dazwischen  muss  ausgiebig  drainirt  werden.  Oder  man  nähert 
die  Wundränder  nur  mit  nicht  ganz  geschlossenen  Situationsnähten. 
Lässt  man  die  Wunde  offen ,  so  ist  ein  alle  6  Stunden  gewechselter 
Umschlag  mit  Sublimatlösung  (1  :  3000 — 1  :  2000)  zweckmässig.  Auch 
Bedecken  mit  Jodoformgaze  ist  dienlich. 

Schwer  inficirte  Wunden  lassen  sich  nicht  mit  Gewalt  und  auf 
einmal  aseptisch  machen.  Oft  gewechselte  Ueberschläge  dünner  anti- 
septischerLösungen  (Sublimat  1 : 2—3000),  Chlorzinklösungen  (1 :  3000  bis 
1  :  1000),  Lysollösung  (Vs — \2Vo)  sind  viel  zweckmässiger,  als  starke 
Lösungen.  Chlorwasser  thut  hier  oft  überraschend  gute  Dienste;  ebenso 
sind  Berieselungen  mit  Lösungen  von  essigsaurer  Thonerde  (2 — 4%) 
mitunter  erfolgreich.  Auch  die  Immersion  in  dünn  -  antiseptische 
Lösungen  oder  bei  ausgedehnten  gangränösen  Processen  das  permanente 
Vollbad  kann  in  Frage  kommen.  Genaue  Beobachtung  der  Temperatur- 
curve  und ,  wo  sich  eine  Verhaltung  (Schmerzhaftigkeit ,  Röthung, 
Schwellung  und  Fluctuation  zeigt) ,  sofortige  breite  Spaltung  oder 
wenigstens  Drainage  sind  un erlässlich. 

Zur  antiseptischen  Nachbehandlung  granulirender  Flächen  —  nach 
Operationen,  Verletzungen  —  wo  man  den  umständlichen  antiseptischen 
Verband  nicht  festhallen  will  —  sind  Compressen  mit  Sublimatlösung 
1 :  5000—1 :  3000.  Salicyl-Borlösung  (1  Ac.  sah,  6  Ac.  bor.,  300  Aq.  dest.) 
sehr  gut  zu  brauchen,  oder  Bor-  und  Salicylsalben  (1  :  30  Lanolin  oder 
A^aseline).  Schliesslich  genügt  ein  Streifen  Zinkpflastermull  oder  Heft- 
pflaster. 

Im  Ganzen  haben  theoretische  Untersuchungen  und  praktische 
Erfahrungen  in  übereinstimmender  Weise  ergeben ,  dass  es  unmöglich 
ist,  Mikroorganismen  in  einer  (frischen)  Wunde  durch  chemische  Ageutieu 
(Antiseptica)  zu  zerstören.  Die  Hauptaufgabe  ist,  alle  infectiösen  Stoffe 
vor  der  Operation  auf  mechanischem  Wege  zu  entfernen  und  die  mit 
der  Wunde  in  Berührung  kommenden  Gegenstände  durch  Hitze  keimfrei 
zu  machen.  Etwaigen  Wundsecreten  oder  Eiterverhaltungen  ist  durch 
breite  Spaltung  oder  ausgiebige  Drainage  freier  Abfluss  zu  schaffen.  Im 
l'ebrigen  sind  die  normalen  Schutzvorrichtungen  des  Organismus  —  die 
bactcricide  Eigenschaft  des  normalen  Gewebes ,  rasche  Verklebung  der 
Gewebsspalten  u.  dergl.  —  möglichst  zu  unterstützen,  mindestens  nicht 
durch  rohe  mechanische  oder  starke  chemische  Einwirkuno-en  zu  stören. 


Wundvereinigung. 

Pflaster.   Heftpflaster.  — Englisches   Pflaster.  —  Collodium.   —   Naht.  Nadeln. — 
Nahtmaterial.    —   Seide,  Catgut,  Draht.   —   Die    verschiedenen  Methoden    der  Naht- 
anlegung. —   Knopfnaht  u.  s.  w.   —   Das  Entfernen  der  Nähte. 

Ein  Theil  der  Wunden  legt  sich  von  selbst  so  mit  seinen  Flächen 
aneinander _,  z.B.  bei  starker  Beugung  in  den  Gelenken,  dass  eine 
Aneinandcrlügung     nicht     nüthig    ist.     Die    meisten    Wunden    jedoch 

l.rintlcrcr.    Alltr.  cliir.   l'.itlii.l.icri,-   u.  'I'liciiiipif,   2.  Aufl.  14 


210  ni.  Capitel.   —  Verletzungen. 

klaifen  und  bedürfen  einer  sorgfältigen  Wund  Vereinigung.  —  IJiezu 
kann  man  sich  der  Pflaster,  der  liindenverbände  und  der  Naht 
bedienen. 

Oberflächliche  Schnittwunden  kann  man  nach  sorgfältiger  Reinigung 
mit  Heftpflaster  streifen  zusammenziehen. 

Heftpflastermasse  (Olivenöl  und  Bleiglätte  werden  im  DampfTjad  erhitzt  und  dann 
Colophonium,  etwas  Talg  zugesetzt,  schliesslich  wird  auch  noch  etwas  Terpentinöl  zu- 
gefügt) wird  auf  derbe  Leinwand  gestrichen.  Je  mehr  es  Colophonium  enthält,  um  so 
besser  klebt  es   —  deutsches  Heftpflaster. 

Zweckmässiger,  weil  stärker  klebend  und  elastischer,  ist  das  amerikanische 
Heftpflaster  (Sparadrap). 

Heftpflaster  greift,  Avenn  es  viel  Terpentin  und  Colophonium  hält,  empfindliche 
Haut,  besonders  von  Kindern  und  Frauen,  an.  Schon  nach  24  Stunden  röthet  sich 
dieselbe ,  genau  dem  Umfang  des  Pflasters  entsprechend ,  es  können  wasser- ,  selbst 
eiterhaltige  Bläschen  aufschiessen  (Heftpfiasterekzem).  Es  entsteht  dann  ein  unangenehmes 
Hautjucken. 

Ganz  kleine  Wunden  kann  man  auch  mit  Collodium  verkleben. 

CoUodium  ist  eine  Auflösung  von  Schiessbaumwolle  (1  Theil  Baumwolle  mit 
7  Theilen  Salpetersäure  und  8  Theilen  Schwefelsäure  behandelt)  in  Aether  und  Wein- 
geist. Aufgepinselt  verdunstet  der  Aether  rasch  und  es  bleibt  ein  dünnes,  spiegelndes, 
der  Haut  fest  anhaftendes,  für  Wasser  undurchdringliches  Häutchen.  Ein  Zusatz  von 
2  Procent  Eicinusöl  gibt  das  Collodium  elasticum,  dessen  Häutchen  elastischer  sind, 
sich  weniger  stark  zusammenziehen  und  deshalb  nicht  so  leicht  zu  Schrunden  Anlass  geben. 
Das  Collodium  eignet  sich  auch  ganz  gut  zum  raschen  Verschluss  kleinster,  nicht  mehr 
blutender  Wunden,  z.  B.  Stichwunden  bei  Operationen,  Sectionen.  Man  setzt  ihm  zweck- 
mässig ein  Antisepticum  zu,  z.  B.  Jodoformcollodium  (5 — 10  Procent)  oder  Der- 
matol  u.  dergl. 

Ganz  kleine  Wunden,  Risse,  Stiche,  Schnittchen  im  Gesicht  lassen 
sich  auch  mit  „englischem  Pflaster"  (Emplastrum  adhaesivum  angli- 
cum)  bedecken. 

Es  ist  dies  feinster  Taffet,  auf  einer  Seite  bestrichen  mit  einer  Lösung  von 
Hausenblase  (Fischleim)  in  Wasser,  Weingeist  und  Glycerin.  Auf  die  Rückenfläche 
kommt  etwas  Benzoetinctur.  Meist  wird  noch  etwas  Salicylsäure  zugesetzt.  Auf  der 
klebenden  Fläche  befeuchtet  (aber  nicht  mit  dem  Munde !)  legt  man  das  Pflästerchen  — 
schwarz,  weiss  oder  rosa  —  auf  und  lässt  es  antrocknen.    Collodium  fixirt  es  noch  fester. 

Kleine  Wunden  an  den  Fingern  oder  der  Hand  schütze  ich  mir  mit  folgendem. 
Tage  lang,  bei  40-,  öOmaligem  Waschen  sitzenden  Verband.  Auf  die  Wunde  kommt 
etwas  Watte ,  kaum  ein  Flöckchen ,  welches  eben  die  Blutung  stillt.  Dies  wird  mit 
Collodium,  noch  besser  Jodoformcollodium  getränkt  und  klebt  an.  Ist  dies  getrocknet, 
so  wird  eine  zweite,  dritte  Schicht  Watte  mit  Collodium  darüber  befestigt. 

Das  souveräne  Mittel  zur  Wundvereinignng  bleibt  die  Naht.  Mit 
einer  Nadel  wird  ein  Faden  vom  einen  Wnndrand  durch  die  Wunde 
nach  dem  anderen  geführt;  durch  Zusammenziehen  und  Knoten  des  Fadens 
werden  die  Wundränder  vereinigt.  Nadeln,  Nahtniaterial  und  Anlegungs- 
weise der  Nähte  sind  ungemein  häufig  modiflcirt  worden.  Es  kann 
hier  nur  das  Wichtigste,  was  auch  heute  noch  wirklichen  Werth  hat. 
hervorgehoben  werden. 

Die  chirurgischen  Nadeln  sind  nach  dem  Muster  der  gewöhnlichen 
Nadeln  construirt.  Die  Spitze  ist  jedoch  nur  bei  einer  bestimmten 
Sorte  —  den  überaus  feinen  Madelung'' sehen  Darmnadeln  —  konisch, 
gewöhnlich  ist  sie  lanzenförmig ,  an  beiden  Rändern  geschliffen  oder 
flach  dreikantig,  letzteres  bei  gekrümmten  Nadeln.  Der  Schaft  ist 
meist  vierkantig ,  mit  abgestumpften  Kanten ,  und  schmäler  als  die 
etwas  breit  und  flach  geschlagene  Spitze.  Das  hintere  Ende  zeigt  das 
längliche  Oehr,  von  welchem  zwei  Rillen  nach  dem  Ende  der  Nadel 
gelassen  sind,  um  den  Faden  aufzunehmen  (vergl.  Fig.  125). 


Nadeln.    Nadelhalter. 


211 


Die  Nadeln  sind  gerade  (Fig.  125«)  und  kriiinm,  1  Cm.  bis 
8  Cm.  lang,  werden  mit  freier  Hand  oder  Nadelhaltern,  deren  es  eine 
grosse  Anzahl  gibt,  geführt. 

In  Fig.  126  ist  der  Nadelhalter  von  Busch  abgebildet;  eine  lange 
Zange,  mit  kurzem  gerieftem  Maul  a,  in  welches  die  Nadel  durch  den 
Sehluss  zwischen  den  Branchen  (b)  festgeklemmt  wird. 

Fig.  127«  gibt  den  Nadelhalter  von  Boux,  der  durch  das  Vor- 
schieben einer  Hülse  geschlossen  wird,  127  b  den  ähnlich  gebauten  von 
Simon  mit  der  Modification  des  Mauls  von  Mccthis  (eine  Backe  hohl). 
Fig.  128«  ist  der  von  Dieffenhach  angegebene  Nadelhalter,  dem  i^oser 


Fig.  125. 


Fig.  126. 


eine  Sperrvorrichtung  gegeben  hat.     Durch  Verschieben    eines  Knopfes 
öffnet  und  schliesst  sich  der  Nadelhalter  von  Collm  (1286). 

Die  krummen  Nadeln  sind  meist  nach  der  Fläche  gekrümmt 
(Fig.  125  6),  selten  nach  der  Ksrnte  (Har/edorn).,  Fig.  125  cZ;  die  Krüm- 
mung ist  —  bei  den  grossen  — •  nur  ein  Brnchtheil  eines  Kreises  (125  c); 
bei  den  kleineren  die  Hälfte  eines  solchen  (125  b).  Zum  Nähen  in 
tiefen  Höhlen  werden  oft  nahezu  hakenförmig  gekrümmte  Nadeln  ver- 
wendet (sogenannte  „Angelhaken")-  Hier  sind  auch  oft  gestielte  Nadeln 
(mit  Metallgriff j  allein  brauchbar  (Fig.  125^:)  und  kann  man  z.  B.  im 
Rachen,  der  Scheide,  dem  Mastdarm  fast  nur  mit  solchen  nähen.  Sie 
werden  eingefädelt  durch  die  Wunde  geführt  oder  der  Faden  erst  ein- 
gelegt, wenn  die  Wundränder  durchstochen  sind. 

14* 


212 


III.  Capitel.   —  Vorloteurigeri. 


Das  Maul  des  NadcUialtcrs  ist  eine  gerade  Fläehe ,  die  Kadeln 
sind  gekrümmt;  so  breehen  diese  leicht  ab.  Ifaf/edorn  suchte  dem  ab- 
zuhelfen, indem  er  nach  der  Kante  gebogene  Nadeln  (Fig.  125  r/j  in 
einen  Nadelhalter  fasste,  dessen  Maul  aus  zwei  parallel  sich  aneinander 
schiebenden  Backen  gebildet  ist.  So  ist  eine  gerade  Fläche  zwischen 
zwei  geraden  Flächen  gefasst.  Doch  sitzen  die  Nadeln  nicht  so  fest 
im  Nadelhalter  wie  die  anderen.  Der  hiezu  gehörige  Nadellialter  ist 
Fig.  129  abgebildet. 

Will  man  ohne  Nadelhalter  nähen,  so  fasst  man  die  Nadel,  durch 
deren  Oehr  man  den  Faden  gezogen  hat,  zwischen  Zeigefinger  und 
Daumen.     Der  Wundrand   wird    mit   einer   chirurgischen   oder   Haken- 


Fig.  127  a. 


Fig.  127  &. 


Fig.  128  a. 


Fig.  128  6. 


pincette  fixirt  oder  etwas  angezogen.  In  einer  Entfernung  von  ] ,  2,  3  Cm. 
vom  Wundrand,  je  nachdem  man  die  Naht  tiefer  oder  höher  legen 
will,  sticht  man  die  Nadel  nach  der  Wunde  durch,  führt  dieselbe 
hier  heraus,  sticht  sie  an  entsprechender  Stelle  in  die  Wunde  ein 
und  führt  sie  in  gleicher  Entfernung  vom  Wundrand  wieder  heraus. 
Das  Nähen  mit  krummer  Nadel  und  Nadelhalter  ist  in  Fig.  126 
dargestellt,  wo  auch  die  Haltung  der  Pincette  und  das  Fassen  des 
Wundrandes  abgebildet  ist.  Grössere  krumme  Nadeln  können  ohne 
Nadelhalter  in  freier  Hand  geführt  werden. 

Das  bequemste  Nahtmaterial  ist  die  Seide.    Fest  und  doch  dabei 
geschmeidig,  entspricht  sie  allen  Anforderungen  (vergl.  pag.  201). 


Nahtmaterial. 


21^ 


Das  Catgut,  welches  im  Körper  rasch  resorbirt  wird,  ist  weniger 
fest,  reisst  leichter  und  ist  nur  für  Fälle,  wo  der  Faden  nicht  wieder 
herausgenommen  werden  soll ,  der  Seide  vorzuziehen.  Die  Bereitung 
von  Catgut  ist  auf  pag.  202  mitgetheilt. 

Pferdehaare  bieten  keinen  besonderen  Nutzen.  Silbe rdraht  ist, 
geglüht ,  völlig  keimfrei ,  ziemlich  geschmeidig  und  gibt  der  Nahtlinie 
einen  gewissen  Halt,  wie  eine  Schiene.  Ist  er  durch  die  Wunde  ge- 
zogen, so  hält  man  beide  Enden  angezogen    und  schlingt    sie  mit  ge- 


Fig.  129. 


wechselten  Händen  einige  Male  spiralig  umeinander;  1  Cm.  hinter  der 
ersten  Drehung  wird  abgeschnitten.  Oder  man  bedient  sich  des  Draht- 
schniirers  (s.  Fig.  130j.  Für  plastische  Operationen  (Gaumenspalte, 
Scheidenvorfall  u.  dergl.)  ist  Silberdraht  ganz  zweckmässig.  Die  Nähte 
schneiden  leicht  durch,  d.  h.  das  in  der  Schlinge  gcfasste  Gewebe  wird 
durch  den  unnachgiebigen  Draht  nekrotisch 
selbst  abfallt. 

Eisendraht    wird    höchstens    zur    Naht    von     Knochen    Vortheile 
bieten. 


so  dass  die  Schlinge  von 


214 


in.  Capitel.  —  Verletzungen. 


Pil  de  Florence,  Silk  worm,  ist  ein  derber  und  etwas  harter, 
aus  den  Därmen  des  Seidenwurmes  gedrehter  Faden ;  nicht  so  hart  wie 
Silber,  fester  als  Seide.  Er  steht  gewissermassen  in  der  Mitte  zwischen 
beiden.     Er  wird  geknüpft  wie  Seide. 

Die  gebräuchlichste  Art,  die  Naht  anzulegen,  ist  die  Knopf- 
iiaht.  Die  Technik  ist  aus  Fig.  131  zu  ersehen.  Ist  der  Faden  in  der 
geschilderten  Weise  durch  beide  Wundränder  geführt  (Fig.  131a),  so 
werden  die  beiden  Fadenenden  einmal  durcheinander  geschlungen 
(Fig.  131 6),  dann  um  90"  gedreht  (131c)  und  ein  zweiter  Knoten 
daraufgesetzt  (Fig.  131c?).  Wenn  die  Spannung  der  Wundränder  eine 
starke  ist,  kann  man  als  ersten  Knoten  einen  chirurgischen  machen 
(Fig.  54),  indem  man  die  Fadenenden  doppelt  durchschlingt. 

Fig.  1 33  a  gibt  einen  sogenannten  einfachen  falschen  oder  Weiber- 
knoten, der  in  der  Chirurgie  verpönt  ist,  weil  er  nicht  hält,  Fig.  1336 


Fig.  133. 


ist  ein  (gewöhnlicher)  Schifferknoten,  Fig.  133c  ein  chirurgischer 
Knoten. 

Die  Faden  werden  1 Y2  Cm.  über  dem  Knoten  abgeschnitten  (Fig.  132). 
Bei  grösseren  und  tieferen  Wunden  legt  man  die  Nähte  verschieden  tief; 
die  tieferen  dienen  mehr  als  „Entspannungsnähte",  die  oberflächlichen, 
welche  die  Aneinanderfügung  der  Wundräuder  vermitteln,  sind  Ver- 
einigungsnähte (Fig.  132). 

Bei  einer  Eröffnung  des  Bauches  fassen  z.  B.  ca.  4  Nähte  das 
Peritoneum  mit,  6  die  Bauchmuskeln,  8—10  fassen  nur  das  Unter haut- 
zellgewebe  und  wo  die  Hautwunden  nicht  glatt  liegen,  fügt  man  noch 
oberflächliche,  durch  Haut  und  oberste  Schichte  der  Unterhaut  geführte 
hinzu.  Natürhch  müssen  sich  die  Wundstellen ,  wo  man  die  Nähte 
durchzieht,  genau  entsprechen  und  namentlich  bei  den  letzten  ober- 
flächlichsten Nähten  hat  man   darauf  zu   sehen,    dass   nicht   etwa   der 


Verschiedene  Arten  der  Naht. 


215 


Fig.  134. 


Fig.  135. 


Fig.  13(i. 


Wundrand  eingestülpt  wird,  Epithelstellen  nach  der  Wundfläche  gekehrt 
werden.  Die  Heilung  wird  dadurch  verzögert,  die  Narbe  unschön. 
Dasselbe  ist  die  Folge ,  wenn  wunde  Flächen  durch  die  Naht  nach 
aussen  gestülpt  werden. 

Sollen  dünne  Wundränder,  wie  sie  oft  nach  Aussehälung  von 
Geschwülsten  —  Kesection  des  Oberkiefers  —  sich  ergeben,  etwas 
flächenhafter  in  Berührung  gebracht  werden,  so  ist  die  Doppelknopf- 
naht oder  Matratzennaht  zweckmässig.  Der  Faden  wird  in  gewöhn- 
licher Weise  durch  die  Wunde  gezogen.  Statt  ihn  sogleich  zu  knoten, 
führt  man  ihn  V2  —  1  Cm.  parallel  der  Wundspalte  hin,  sticht  nach 
dem  ersten  Wundrande  zurück  und  knotet  hier  (Fig.  134).  Es  werden 
breitere  Flächen  aneinandergelegt,  die  Wunde  wird  allerdings  als  Wulst 
in  die  Höhe  getrieben.  Dieser  gleicht  sich  aber  später  wieder  aus. 
Einige  oberflächliche  Knopfnähte  fügen  die  Wundränder  genau  an- 
einander. 

Bei  der  Kürschner  naht  (Fig.  135)  beginnt  man  mit  einer  ge- 
wöhnlichen Knopfiiaht,  führt  den  Faden  schräg  über  die  Wunde  weg, 
sticht  schräg  durch  die  Wunde.  Nach 
dem  ersten  Wundrand  zurück ,  geht 
wieder  über  die  Wunde  schräg  hinüber, 
durch  die  Wunde  zurück  und  bildet 
so  ein  Zickzack  entlang  der  Wunde, 
dessen  einer  Schenkel  unter,  der  andere 
auf  der  Wunde  liegt.  Zum  Schluss 
schlingt  man  den  Faden  durch  oder 
lässt  ihn  laug  hängen.  Die  Naht  geht 
sehr  schnell,  weil  man  nicht  knotet  und 
nicht  abschneidet.  Für  grosse  Wunden 
spart  man  viel  Zeit;  doch  hält  die 
Naht  nicht  viel  Spannung  aus  und 
der  Faden  muss  sehr  gleichmässig 
angezogen  werden ;  wo  viel  Spannung 

ist,  müssen  Knopfnähte  dazwischen  gelegt  werden.  Zum  Aneinander- 
fügen der  Haut  —  nach  einer  Exstirpation  der  Brustdrüse  u.  dergl.  — 
ist  die  eine  Zeit  lang  fast  vergessene  Naht  ganz  brauchbar. 

Gewisserniassen  eine  fortlaufende  Matratzeunaht  ist  die  sogenannte 
..fortlaufende  Naht"  (Fig.  136).  Auf  die  Wunde  kommt  kein  Faden 
zu  liegen,  Beginn  und  Schluss  mit  einer  Knopfnaht.  Sie  bietet  nur  selten 
wirklichen  Nutzen. 

Tiefe,  unregelmässige  AVundeu  oder  solche  mit  starker  Spannung  lassen  uns  oft, 
um  eine  unmittelbare  Vereinigung  zu  erreichen,  noch  zu  ancieren  Modificationen  der 
Naht  greifen. 

Bei  der  Zapfennaht  (Fig.  137)  sucht  man  den  starken  Zug,  der  an  so  circum- 
scripter  Stelle,  wie  bei  der  Knopfnaht  wirkend,  den  Wundrand  sofort  durchreissen  würde, 
auf  eine  grössere  Fläche  zu  vertheilen  ,  indem  man  durch  Fadenschlingen  einen  Elfen- 
beinzapfen, ein  Stück  Draht  oder  Holz  gegen  den  Wundrand  andrückt.  Aus  Fig.  137 
wird  die  Technik  dieser  Naht  ohneweiters  klar. 

Die  Perl-  oder  Plattennaht  führt  mau  am  licsten  mit  Silljcrdraht  aus.  Durch 
eine  ovale,  etwa  l'/o  Cm.  lange,  1  Cm.  breite,  1 — IV-j  Mm.  dicke  durchbohrte  Blei- 
oder Glasplatte  zieht  man  einen  am  hinteren  Ende  mit  einer  Glasperle  armirten  Silber- 
draht, führt  deusellx-n,  in  eine  starke  Nadel  eingefädelt,  durch  die  Wunde  und  schiebt 
nun  auf  ilin  eine  gleiche  Bleiplatte  und  durchbohrte  Glasperle  auf,  und  wickelt  schliess- 
lich den  Draht  so  lange  auf  ein  viereckiges  Stäbchen  ,  z.  B.  ein  Stück  Streichholz ,  bis 
die    Platten    fest    gegen    die   AVundräiider    und    diese  gut  gegen  einander  gedruckt  sind 


216 


III.  Cai)itel.  —  Verletzungen, 


(Fig.  138).  Man  kann  mit  der  Perlnaht  einen  sehr  starken  Zug  auf  die  Wundrände;* 
ausüben.  Doch  macht  die  Platte  nicht  selten  Druckbrand.  Ich  habe  sie  seit  .Jahren 
nicht  mehr  verwandt,  sondern  durch  tiel'gi'eif'ende  Seidennähte  ersetzt. 

Nur  noch  historisches  Interes.sc  hat  die  „umschlungene  Naht"  (Fig.  139). 
Eine  durch  Glühen  gereinigte  Insectennadel  mit  jjlattgeschlagener  lanzcnföi-miger  Spitze  — 
sogenannte  Karlsbader  Nadel  —  Avird  durch  beide  Wundränder  durchgeführt  und  diese 
durch  einen  um  die  Enden  der  Nadel  mit  8-  und  0-Touren  geschlungenen  BanmwoU- 
oder  Seidenfäden  aneinander  gepres.st. 


Fig.  137. 


Fig.  138. 


Fig.  140. 


Diesen  in  letzter  Linie  doch  gekünstelten  Verfahren  ist  weit  über- 
legen die  in  letzter  Zeit  von  ^^uba'  besonders  ausgebildete  „versenkte 
Naht".  Man  führt  dieselbe  ihit  Catgiit  oder  Seide  aus.  Von  dem  Grunde 
der  Wunde  anfangend,  näht  man  die  Weichtheile  mit  Knopfnähteu, 
deren  Fäden  über  dem  Knoten  kurz  abgeschnitten  werden,  zusammen 
und  verschliesst  so,  vom  Grunde  nach  oben  fortschreitend,  die  Wunde 
allmälig  ganz.  Ebenso  näht  man  abgelöste  Hautlappen  au  die  Unter- 
lage an,  vom  Rande  nach  der  Wundspalte  hin.  Man  vertheilt  hiedureh 
die  Spaiihiing  auf  eine  grössere  Anzahl  von  Punkten  und  bedarf  gewalt- 
samer Zusammenziehung  mit 
Platten-  oder  Zapfennähten 
^  nicht.  Die  versenkte  Naht 
trägt  auch  zur  Blutstillung 
bei;  indem  man  das  Gewebe 
"^"über  den  blutenden  Gefässen 
vernäht ,  schliesst  man  die 
Gefässlumina.  Fig.  Jj40  zei^t 
eine  durch  versenkte  ^Talite 
vereinigte  Wunde  schema- 
tisch. —  Von  der  fort- 
laufenden versenkten 
Naht  habe  ich  keine  be- 
sonderen Vortheile  gesehen.  Nachdem  man  mit  einer  Knopfnaht  begonnen, 
führt  man  den  Faden,  vom  Grunde  der  Wunde  nach  der  Oberfläche  fort- 
schreitend, von  einem  Wundrand  zum  andern  herüber  und  hinüber  und 
schliesst  so  die  Wunde  allmählich.  Die  Aneinanderfügung  der  Wund- 
flächen ist  sehr  ungleichmässig.  Löst  sich  der  Faden  (Catgut!)  zu  früh, 
so  geht  die  ganze  Wunde  auseinander. 

Um    seröse    Flächen    aneinander    zu    legen,    bedarf   es    gewisser 
Modificationen  der  Nahtanlegung.  Die  am  häufigsten  verwendete  Methode 


Verschiedene  Arten  der  Naht. 


217 


der  Darm  naht  ist  die  von  Lemhert.     Aus  Fig.  141  {a  und  h)  ist  die 
Technik  zu  ersehen. 

Granulir ende  Flächen  zu  nähen  —  die  Technik  ist  die  gewöhnliche  — 
misslingt  meist  und  bietet  nur  selten  wirklichen  Erfolg.  —  Doch  kann  die  Secundär- 
oder  Spätnaht  gelegentlich  wirklichen  Nutzen  bringen.  Man  scheut  sich  manchmal 
eine  Wunde  zu  nähen,  weil  sie  entzündet  ist,  und  fürchtet  dui'ch  die  völlige  Ver- 
nähung der  Wunde  WundÖüssigkeit  in  der  Tiefe  zurückzuhalten.  Beim  nächsten 
Verbandwechsel  nach  2—3  Tagen  findet  man  die  Entzündung  vermindert  oder  ver- 
schwunden und  kann  nun  solche  Wunden,  wenn  sie  aseptisch  geworden  und  nicht  mehr 
viel  absondern,  ganz  ruhig  selbst  noch  am  4.,  5.  Tag  nähen.  Dieselben  heilen  meist 
ganz  glatt.  Ich  habe  selbst  breit  gespaltene  Abscesse  nach  einigen  Tagen  noch  genäht  — 
wenn  Absonderang  und  Entzündung  verschwunden  waren.  Alle,  auch  frische  Wunden, 
erst  nach  24  Stunden  zu  nähen,  die  Secundärnaht  zur  Regel  zu  machen,  wie  es  Kocher 
eine  Zeit  lang  empfahl,  halte  ich  nicht  für  empfehlenswerth. 

Manchmal  kann  man  in  Fällen,  wo  man  die  Naht  wegen  Infections- 
gefahr  scheut,  um  nicht  Wundflüssigkeit  in  der  Tiefe  zurückzuhalten, 
durch  einige  weitgreifende  Nähte  die  Wundränder  wenigstens  annähern, 
ohne  sie  s-anz  aneinanderzulegeu.     Der  Eiter  kann    abfliessen    und  die 


Fig.  141. 


Fig. 142. 


Heilung  wird  wenigstens  abgekürzt  —  Annäherungs-  oder  Situations- 
nähte.  "  ;     --«» 

Catgutnähte,  deren  in  der  Wunde  liegender  Theil  resorbirt  wird, 
brauchen  nicht  entfernt  zu  werden;  Nähte  aus  anderem  Materiale 
müssen,  wenn  die  Wunde  fest  genug  verklebt  ist,  herausgenommen 
werden.  —  Bei  Seiden-  oder  Silbernähten  schiebt  man  die  eine  Branche 
eines  scharfen  Scheerchens  flach  unter  den  Faden,  indem  man  den 
Knoten  mit  einer  anatomischen  Pincette  etwas  anzieht.  Man  schneidet 
darauf  den  Faden  unmittelbar  an  der  Stelle  durch,  wo  er  aus  der  Haut 
hervorkonunt  (Fig.  i:)2  bei  a)  und  zieht  den  Faden  in  der  Richtung 
von  h  nach  a  durch.  Würde  nu^n  in  umgekehrter  Richtung  ziehen,  so 
könnte  man  die  Wunde  auseinander  reissen.  Bei  Perlnähten  schneidet 
man  den  Draht  unmittelbar  unter  einer  Bleiplatte  al)  und  zieht  den 
Draht  nach  der  anderen  Seite  durch. 

Der  Zeitpunkt,  wo  die  Nähte  zu  entfernen  .^ind,  ist  ein 
verschiedener.  Ganz  oljcrflächliciie  Nähte  kilnnen  schon  nach  24  Stunden 
entfernt  werden,  namentlich  bei  plastischen  Operationen  im  Besicht. 
Tiefere  bleiben  2 — ;»  Tage    liegen.     Entspannungsnähte  —  l)ei  Bauch- 


218  III.  Capitel.  —   Verletzungen. 

schnitten  —  müssen  8 — 10  Tage  liegen  bleiben.  —  Bei  entzündeten 
Wunden  nimmt  man  die  Nähte  früher  heraus,  als  bei  solchen,  die  ohne 
Entzündung-  aseptisch  heilen.  Eitert  der  fttiehcanal,  so  ist  es  Zeit,  die 
Naht  wegzunehmen.  Schneidet  eine  Naht  durch,  d.  h.  schmilzt  das  in 
der  Schlinge  gefasste  Gewebe  eitrig  oder  brandig  ein,  so  kann  man 
die  Naht  ebenfalls  entfernen,  sie  hält  dann  doch  nichts- mehr. 

Nur  selten  ist  es  nöthig,  durch  Heftpflasterstreifen  die  Wunde 
noch  zusammen  zu  halten,  nachdem  man  die  Nähte  herausgenommen  hat. 

Wo  eine  Zerrung  der  Naht  durchaus  zu  vermeiden  ist,  fixirt  man 
den  Körpertbeil  durch  Binden-  und  Schienenverbände  in  der  gewünschten 
Stellung.  Namentlich  sind  solche  Verbände  für  Nerven-,  Muskel-  und 
Sehnennähte  nothwendig. 

Die  Vereinigung  von  Wunden  durch  annähernde  Binden  (Fascia 
reuniens)  wird  heute  nicht  mehr  geübt.  Naht  mit  sterilem  Material  ist 
sicherer.  Kbcnso  unnütz  sind  die  kürzlich  wieder  erneuerten  Versuche, 
die  Wunden  mit  kleinsten  Häkchen  und  Zangen  (Serres  fines ,  siehe 
Fig.  142)  zu   vereinigen. 


Verbrennungen  und  Erfrierungen. 

Entstehungsweise  der  "Verbrennungen.    ■ —    Die  H  Grade  der  Verbrennung.  —    Der 

Verbrennungstod  und  seine  Ursachen.  —  Behandlung.  —  Folgen  der  -Verbrennungen. 

—  Narbenschrumpfungen.   —   Blitzschlag.  —   Hitzschlag.   —   Erfrierung. 

Wenn  auf  den  menschlichen  Körper  höhere  Temperaturen,  jenseits 
60°  einwirken,  so  werden  dadurch  —  je  nach  der  Höhe  der  Temperatur 
und  der  Dauer  ihrer  Einwirkung  Zerstörungen  verschiedener  Intensität 
hervorgerufen.  Wir  unterscheiden  drei  Grade  der  Verbrennungen. 
Als  erster  Grad  wird  eine  länger  dauernde  Röthung  der  Haut  bezeichnet, 
Hyperämie,  —  als  zweiter  Grad  gilt  die  Blasenbildung,  —  als 
dritter  die  Gangrän.  Dies  ist  die  in  Deutschland  übliche  Eintheilung. 
Die  Franzosen  haben  ein^  andere  —  eigentlich  praktischere  Eintheilung 
(nach  Dupmjtren)  —  in  ö  Grade.  Der  dritte  Grad  zerfällt  in  3  —  der 
dritte  Grad  Gangrän  der  Haut;  der  vierte  Nekrose  sämmtlicher  Weich- 
theile  und  der  fünfte  Gangrän  der  Knochen. 

Für  die  Beurtheilung  einer  Verbrennung  ist  unerlässlich  eine  genaue 
Beachtung  der  Entstehungs weise.  —  Bei  Verbrennungen  durch 
strahlende  Wärme  kommt  die  Wärmequelle  nicht  in  directe  Berührung 
mit  dem  Körper,  sondern  sendet  ihm  ihre  Wärmestrahlen  durch  die 
Luft  zu  —  die  Sonnenstrahlen  bei  längerer  Einwirkung,  die  Ausstrahlung 
offenen  Feuers,  flüssigen  Metalles,  elektrischen  Lichtes.  Meist  kommt 
es  nur  zur  einfachen  Röthung  (Erythema  solare),  selten  zur  Blasenbildung. 

Die  durch  Gase  (Explosionen)  entstehenden  Verletzungen  sind 
meist  keine  reinen  Verbrennungen ,  sondern  mit  Erschütterungen, 
Quetschungen  u.  s.  f.  verbunden. 

Bei  Dynamitexplosionen  sind  die  Verbrennungen  oft  sehr  untergeordneter  Natur 
und  nicht  intensiv  und  treten  neben  den  Quetschungen  und  Zerreissungen  zurück. 
Schon  anders  ist  es  bei  Pulverexplosionen,  Explosion  von  Feuerwerkskörperu,  ätherischen 
Oelen  u.  s.  w.  Diese  können  ausgedehnte  Verbrennungen  dritten  Grades  zur  Folge 
haben;  ebenso  schlagende  Wetter.  Bei  diesen  Explosionen  kommt  es  meist  noch  zu 
einer  schweren  \'erbrennung  der  Eespirationswege  bis  in  die  feineren  Bronchien  hinein; 
und  diese  ist  dann  für  den  —  rasch  tödtlichen  —  Ausgang  bestimmender,  als  die  Ver- 


Verbrennung.  2 19 

brennung  der  äusseren  Haut.  Bei  Leuclitgasexplosionen  sind  die  Verbrennungen  un- 
bedeutend. —  Die  Verletzten  gehen  bei  Explosionen  meist  nicht  durch  die  Verbrennung, 
sondern  durch  Erstickung  (Athniung  irrespirabler  Gase)  zu  Grunde. 

Bei  Verbrennungen  durch  heisse  Flüssigkeiten  kommt  es 
hauptsächlich  auf  die  Wärmecapacität  der  betreffenden  Flüssigkeit  und 
die  Dauer  der  Einwirkung  an.  Aether,  Benzin  versengen  nur  die  Haare 
und  machen  meist  nur  kurzdauernde  Erytheme  ;  bei  Alkoholverbrennungen 
kann  es  bis  zur  Blasenbildung  kommen.  Bei  Einwirkung  heissen  Wassers 
bleibt  Nekrose  der  oberen  Cutisschichten  nicht  aus,  wenn  auch  die 
tieferen  Epithelialgebilde  erhalten  bleiben.  Am  schlimmsten  wirken  die 
bei  hohen  Temperaturen  siedenden  Fette,  kochende  Oelc,  siedende 
Butter  (z.  B.  Fischsaucen  u.  s.  f.).  Hier  sind  tiefe,  weit  in's  Unterhaut- 
zellgewebe hineingreifende  Zerstörungen  die  Regel.  Petroleumver- 
brennungen führen  gewöhnlich  zur  Gangrän  der  Haut.  Noch  schwerer 
in  ihren  Folgen  ist  die  unmittelbare  Berührung  des  menschlichen 
Körpers  mit  glühenden  festen  Körpern,  mit  glühenden  Kohlen  und 
mit  brennenden  Kleidern.  Je  fester  diese  gewoben  sind,  um  so  inten- 
siver ist  die  Wirkung.  Bei  einer  Frau,  deren  wollene  Kleider  und 
Unterkleider  während  des  epileptischen  Komas  in's  Brennen  gerathen 
waren,  fand  ich  die  ganze  Musculatur  des  Oberschenkels  —  förmlich 
wie  Roastbeef  —  geröstet  und  den  Knochen  noch  auf  die  Tiefe  von 
1  Centimeter  nekrotisch.  In  geschmolzenen  Metallen  wird  der  ein- 
getauchte Theil  im  Moment  vollständig  verbrannt.  Bei  einem  Arbeiter, 
welcher  mit  einem  Fuss  in  einen  Eisenfluss  getreten,  war  im  Mbment 
der  Fuss  bis  zum  Knöchel  vollständig  und  spurlos  verschwunden,  ohne 
grosse  Schmerzcmptindung. 

Die  Bcurtheilung  der  Tiefe  einer  Verbrennung  ist  nicht 
immer  leicht;  bei  Verbrennungen  1.  und  2.  Grades  wohl,  nicht  aber 
sobald  es  zur  Gangrän  gekommen ;  die  Haut  ist  dann  in  eine  leder-  oder 
pergamentartige,  bald  ganz  weisse,  bald  mehr  bräunliche  geröstete  Masse 
verwandelt,  durch  welche  sich  nichts  durchsehen  und  nichts  durchfühlen 
lässt.  Die  P2ntstehungsweise  und  die  Ursache  der  Verbrennung  sind 
wichtig  (s.  oben),  dann  ist  es  zweckmässig,  um  die  Grenzen  der  Circu- 
lation  festzustellen ,  mit  einer  scharfen  Nadel  oder  einem  Messerchen 
die  empfindungslose  Haut  einzustechen  oder  einzuschneiden,  am  zu 
sehen,  aus  welcher  Tiefe  Blut  kommt. 

Der  örtliche  Verlauf  der  Verbrennungen  ist  je  nach  der  Schwere 
der  ^'erletzung  sehr  verschieden.  Beim  ersten  Grad  nehmen  Röthung 
und  Schwellung  unter  heftigen  „brennenden"  Schmerzen  einige  Stunden 
zu,  bleiben  dann  etwa  bis  zum  Ende  des  ersten  Tages  auf  der  Höhe 
und  während  zugleich  die  Schmerzhaftigkeit  allmählich  nachlässt,  nimmt 
die  Schwellung  ab  und  die  Oberhaut  runzelt  sich.  Nach  einigen  Tagen 
blättert  die  Epidermis  in  grösseren  Stücken  ab,  und  es  tritt  die  junge 
glänzende,  anfangs  ndch  recht  empfindliche  Haut  zu  Tage.  Eine  braune, 
scharf  umrandete  Verfärbung  bleibt  als  letztes  Zeichen  noch  einige 
Wochen  zurück.  —  Die  Blasen  schiessen  nicht  unmittelbar  nach  der 
Verbrennung  auf,  meist  erst  '4 — ^/a  Stunde  nachher.  Die  Oberhaut 
wird  abgehoben  durch  bernsteingelbes  Serum .  die  Blase  füllt  sich 
allmählich  und  wird  sehliossliclierbsen-bishalbhühncreigross,  prall  gefüllt; 
beim  Anstechen  liemerkt  man.  dass  es  meist  nicht  eine  llJlhle,  son- 
dern ein  v(in  ikk-Ii  crlialtcnen  Sejjten  in  kleinere  Kammern  getheilter 
Raum  ist. 


220 


]II.  (.'ilDitcI. 


V<;rl(;tzuii^eii. 


Fig.  143  (nach  Ziegler)  gewährt  einen  Einblick  in  die  Entstehung  ciiiei'  Brand- 
blase. Der  Schnitt  (Vergrösserung  150)  ist  durch  den  Hand  einer  Brandblasf;  geführt.  — 
Die  Hornschicht  der  Epidermis,  an  sich  sclion  abgestorben,  ist  durch  die  Vei-ln'ennung 
nicht  zerstört.  Im  Rete  Malpighi  linden  sich  eigenthümliche  Verändf'rungcn,  die  Zellen 
sind  zum  Theil  verflüssigt  und  von  Transsudat  durchsetzt  (bei  u),  zum  Theil  lässt  sich 
die  Form  eben  nocli  ei'kennen,  Contouren  und  Kerne  sind  jedoch  undeutlich.  Bei  h  sind 
die  Papillen  der  Cutis  durch  den  Druck  des  Exsudates  Hach  gedrückt,  die  dort  ange- 
häuften weissen  Blutzellen  (c)  weisen  auf  den  Beginn  der  Entzündung  hin.  —  Man 
stellt  sich  die  Entstehung  der  Brandblase  so  vor,  dass  das  Stratum  corneiim,  obwohl 
abgestorben,  mechanisch  noch  zusammenhängt  und  durch  die  Transsudation  in's  Rete 
Malpighi,  wozu  vielleicht  noch  eine  Verflüssigung  der  Epithelzellen  hinzukommt  (Ziegler), 
zur  Blase  abgehoben  wird. 

Wird  die  verbrannte  Stelle  sich  selbst  überlassen,  so  gerinnt  das 
Serum  nach  einigen  Stunden.  Die  Blase  fängt  nach  24  Stunden  an, 
einzusinken  und  schlaff  zu  werden.  Der  Inhalt  verschwindet  durch 
Verdunstung  oder  Resorption  und  es  liegt  schliesslich  auf  der  ver- 
brennten Stelle    ein    vielfach  gefalteter  und  gerunzelter  Epidermissack ; 


dann  trocknet  die  Blase  völlig  ein ,  fängt  gegen  den  b.—^.  Tag  am 
Rande  an  sicn  zu  lösen,  und  darunter  findet  sich  neue,  vom  Rete  Mal-_ 
pighi  etc.  rasch  nachgebildete  zarte  junge  Epidermis^,  Bräunliche  Pig- 
'mentirungen  bleiben  ohne  Narbenbildung  noch  monatelang  zurück, 
Die  Schmerzen  sind  bei  Verbrennungen  zweiten  Grades  anfangs  un- 
gemein heftig. 

Die  Verbrennungen  3.  Grades  heilen  nur  mit  Narbenbildung. 
Das  Schicksal  dieser  Wunden  hängt  ab  von  der  Tiefe  der  Verbrennung 
und  der  Ausdehnung  derselben,  namentlich  ob  die  Cutis  in  ihrer  ganzen 
Dicke  zerstört  ist ,  oder  ob  von  den  tieferen  Epiderraoidalgebilden 
—  Haarbalg-,  Schweiss-  etc.  Drüsen  -  noch  Reste  erhalten  sind.  Das 
Stratum  corneum  löst  sich  gewöhnlich  bald  nach  der  Verbrennung  von 
der  gangränösen  Haut  ab  und  diese  vertrocknet  zu  einer  lederartigen 
braunen  Masse.  Verbrennungen  3.  Grades  sind  —  wegen  der  völligen 
Zerstörung  der  Hautnerven  —  anfangs  oft  nicht  so  schmerzhaft  wie 
die  1.  und  2.  Grades.  —  Unter  der  Decke  dieser  nekrotischen  Cutis_ 
spielen  sich  die  Heilungsvorgänge  ab,  in  den  ersten  Tagen"  ist  oft  eine 


Drei  Grade  der  Verbrennung.  221 

Veränderung-  kaum  zu  bemerken.     Nach  5— 10  Tagen  fangt  der  Schorf 
am  Rande  an  sich  zu  lösen   und  man  gewahrt  eine  junge  Granulation 
'darunter.     Doch    löst    sich    der    Schorf  oft    erst  nach  Wochen.     Dann 
liegt  eine  reine  Granulationsfläche  frei    zu  Tage.     Diese  Granulations- 
flächen bei  Verbrennungen  sind  überaus  empfindlich  und  besonders  die 
Verbandwechsel  werden  für  die  Kranken  stets  die  Quelle  fürchterlicher 
Leiden.  —  Allmählich  beginnt  die  Narbenbildung  und  Ueberhä,utung,  die 
SchrumpfungTler  Granulationsfläche  und  Neubildung  von  Epithel  vom 
"Rande    her    als    „einsäumende    Ueberhäutung".     Wo    noch    tiefe 
"epitheliale  Theile  (Hautdrüsen    und  Haarbälge)    erhalten    sind,    kommt 
ihnen  die  „inselförmige  Ueberhäutung"  zu  Hilfe.  CVergl.  pag^JTS^, 
VoE^'lO.— 12.  Tage  an  erseheinen  inmitten  der  GranulationsfläcHe  kleine 
mattweisse' Inseln.     Sie  vergrÖssern  sich  rasch    und    erweisen    sich  als 
neugebildetes    E])itlK'l.     S"öl?he    Wunden    heilen    rasch    und    gut,    die 
Sctnüiin'pfiinir  der  Narben  ist  meist  nur  eine  "üiibedeutende,    doch    gibt 
"es  eine  bleibende  Entstellung. 

~  Eine  schwere  Qual  für  Arzt  und  Kranken  sind  ausgedehnte  Gra- 

nulationsflächen nach  Verbrennung,  wo  keine  inselförmige  Ueberhäutung 
sich  einstellt,  wo  die  Wunde  zu  ihrer  Heilung  allein  auf  die  Narben- 
schrnmpfung  und  die  einsäumende  Ueberhäutung  angewiesen  ist ,  aus- 
gedehnte Flächen  an  Rumpf,  Hals,  Bein  u.  s.  f.  Hier  erreicht  die 
Fähigkeit  des  Organismus,  Defecte  zu  decken,  bald  ihre  Grenzen.  Wohl 
vermag  die  Narbenschrumpfung  eine  Granulationsfläche  auf  die  Hälfte, 
ein  Drittel  ihrer  Grösse  einzuengen,  wohl  vermag  sie  ein  Glied ,  ein 
Bein,  zusammenzuschnüren  und  seinen  Umfang  auf  die  Hälfte  zu  redu- 
ciren,  es  bleiben  doch  immer  noch  grosse  offene  Stellen.  Die  Leistungen 
der  einsäumenden  Ueberhäutung  sind  noch  enger  gezogen ;  je  weiter 
^vom  Mutterboden  entfernt,  um  so  kümmerlicher  und  hinfälliger  ist  das 

^unge  Epithel  und  circa  5— 6  Cm.  vom  Rande  entfernt,  erreicht  die 
Productionsfähigkeit  des  Epithels  seine  Grenze.  Hiejthab£n^_^,,^jr_in^ 
cler  T'///r'r.?r7/ 'sehen  Hauttransplantation  ein  ausgezeictmeFes 
Ts.  r'l;i>iiscLc  riiivm-gie).  Die  Granulationen  wei'den  iibg^' 
'Blutung  durch  C'onjpression  mit  aseptischer  Gaze  gestillt  und  dann  die 
Hautstreifen  aufgelegt.  Ich  habe  so  schon  ganze  Extremitäten  mir 
ncur-r  Haut  gedeckt,  wo  ""früher  nur  Amputation  oder  Exarticulation 
Tibrii:   lilieb.     Man  zögere    mit  der  Transplantation    nicht  zu  lange,    in 

"3'er  vierten  bisTtfnTteli  Woche,  wenn  Alles  rein  ist  und  keine  Epithel- 

"Tnseln  sich  zeigen,  ist  die  richtige  Zeit. 

'"  Eine  Reihe   von  Verbrennungen    ist    durch    schwere   Störungen 

des  Allgemeinbefindens  com))licirt.  Diese  hängen  nicht  vom  Grade, 
sondern  nur  von  der  Ausdehnung  der  Verbrennung  ab.  Eine  begrenzte 
Verbrennung  bis  auf  den  Knochen  kann  ohne  jede  Stih-ung  des  Be- 
findens verlaufen ;  eine  ausgedehnte  Verbrennung  ersten  Grades  wird 
nicht  ohne  schwere  Folgen  bleiben.  Betrifft  die  Verbrennung  über  ein 
Drittel  der  Körperoberfläche,  selbst  wenn  sie  nur  ersten  Grades  ist,  so 
wird  ein  tödtlicher  Ausgang  nur  schwer  vermieden  werden  können. 

Diese  \'erbrannten  verfallen  rasch  in  einen  Zustand  schweren 
Collai)scs;  die  Tempx^ratur  sinkt  bis  zu  80"  und  34";  der  Puls  geht 
in  die  Höhe  und  wird  unzählbar;  die  Kranken  sind  in  einem  Zustande 
grösster  Unruhe,  zum  Theil  auch  durch  die  Schmerzen,  oft  bei  vollem 
Bewusstsein.  werfen  sich  umher  und  gehen,    anscheinend    durch   Herz- 


222  ni.  Capitel.   —  Verletzungen. 

schwäche,  zu  Grunde.  Hiczu  hedarf'es  oft  nur  weniger  Stunden.  Lehen 
die  Kranken  etwas  läng;er,  so  wird  oft  noch  ein  dunkelbrauner,  liämo- 
globinhaltig-er  Urin  abgesondert.  Die  Sectionsergebnisse  sind  so  gut 
wie  negativ. 

Ueber  die  Ursachen  des  raschen  Todes  nach  Verbrennungen  ist  viel 
gedacht,  experimentirt  und  gestritten  worden ,  ohne  dass  eine  Entscheidung  bis  heute 
erzielt  wäre.  Die  älteren  Aerzte  dachten  an  „Congestionen  nach  inneren  Organen" 
oder  an  die  plötzliche  Unterdrückung  der  Hautthätigkeit. 

Ponfick  nahm  eine  Zerstörung  von  Blutkörperchen  in  dem  verbrannten  Theile  und 
dadurch  bedingte  Oligocythämie  an,  eine  Ansicht,  welche  von  L.  v.  Lesser  wieder  auf- 
genommen wurde.  Nach  dem ,  was  bei  der  Besprechung  der  Blutung  mitgetheilt  ist, 
kann  diese  Verminderung  der  Blutkörperchen  nie  einen  das  Leben  bedrohenden  Grad 
erreichen  (s.  pag.  119).  Oder  man  dachte  an  das  Freiwerden  giftiger  Stoffe  aus  den 
zerstörten  Blutkörperchen,  v.  Lesser  beschuldigte  das  Kali  derselben ;  Catiano  dachte 
an  die  Bildung  von  Cyan  und  sprach  das  Ganze  als  eine  Cyanvergiftung  an ,  oder  es 
sollte  Freiwerden  des  Hämoglobins  und  Fibrinfermentintoxication  vorliegen ;  Reiss  nimmt 
eine  Vergiftung  durch  entstehende  Pyridine  und  Chinoline  an,  Kiavicine  und  Kijanitzin 
haben  Ptomaine  aus  dem  Blut  Verbrannter  dargestellt ,  die  sie  beschuldigen ,  ebenso 
Boyer  und  Guinard.  —  Tapjieiner,  Hösslin  und  Hock  fanden  das  Blut  wasserärmer 
und  glauben  an  eine  Eindickung  des  Bluts.  (Ich  fand  im  Blute  Verbrannter  bis 
8 — 9  Millionen  pro  Cubikmillimeter,  also  eine  zweifellose  Eindickung.)  Klehs,  Silher- 
mann,  Welii  u.  A.  fanden  ausgedehnte  Thrombosen  (Fibrinfermentbildung  s.  pag.  121), 
Verminderung  des  0  und  CO,  des  Blutes.  SaloioU  glaubt  an  Blutplättchenthrombosen 
und  Embolien  und  so  bedingten  Stillstand  der  Circulation.  Manche  nehmen  gewöhnlichen 
Shock  an  (s.  pag.  127).  Sonnenburg  denkt  an  eine  Ueberhitzung  mit  reflectorischer 
Herzlähmung.  —  Eine  alte  Theorie  ist  die  der  fortschreitenden  Abkühlung  (vergl.  die 
niederen  Temperaturen),  obwohl  Verhinderung  der  Abkühlung  (Watteeinpackung  und 
permanentes  Vollbad  von  38'')  den  Tod  nicht  hindert.  —  Keine  dieser  Theorien  ist 
sichergestellt.  Vermuthlich  wirken  mehrere  Ursachen  zusammen.  (Vergl.  Tschmarke, 
D.  Zeitschr.  f.  Chir.  Bd.  44.  Lit.) 

Ueberstehen  die  Kranken  mit  ausgedehnten  Verbrennungen  die 
Gefahren  dieser  ersten  schweren  Stunden,  so  ist  ihr  Leben  damit  noch 
keineswegs  gesichert.  Gelingt  es  nicht,  den  Verlauf  der  Wunden 
aseptisch  zu  gestalten ,  so  sind  die  Kranken  allen  accidentellen  Wund- 
krankheiten ausgesetzt.  Vielfach  wurden ,  gerade  bei  Brandwunden, 
Throraboseubildung  und  folgende  Embolien  beobachtet.  Unaufgeklärt 
ist  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  von  Pneumonien  bei  Verbrannten. 
Eine  ebenso  räthselhafte  Erscheinung  ist  die  Bildung  von  Darm- 
geschwüren, namentlich  Duodenalgeschwüren  und  das  Vorkommen  von 
Darmblutungen  bei  Verbrennungen. 

Bei  aseptisch  verlaufenden  Verbrennungen  habe  ich  Darmblutungen  und  Darm- 
geschwüre nie  gesehen.  Ich  bin  geneigt,  sie  als  septische,  resp.  pyämische  Vorgänge 
aufzufassen  und  sie  mit  den  bei  Einspritzung  von  Fibrinferment  (Edelberg)  und  sep- 
tischen Stoffen  entstehenden  Darmerscheinungen  zu  identiliciren,  ebenso  die  Pneumonie. 
Dass  Fibrinferment  bei  Verbrennungen  frei  wird ,  lässt  sich  wohl  denken.  Dieselbe 
Deutung  als  septische  Vorgänge  lassen  auch  die  Meningiten  und  Nephriten  zu,  welche 
bei  Verbrannten  als  Todesursachen  in  den  ersten  Wochen  vorgekommen  sind. 

Selbst  Monate,  halbe  Jahre  nach  der  Verletzung  gehen  manche 
Verbrannte  noch  zu  Grunde.  Es  sind  dies  Fälle  ausgedehnter  Ver- 
brennungen, wo  eine  Ueberhäutung  der  Granulationsflächen  nicht  er- 
folgen kann.  Die  Kranken  erliegen  der  Erschöpfung  durch  die  monate- 
lange Eiterung  und  der  Amyloidentartung  innerer  Organe.  Diese  Todes- 
fälle lassen  sich  durch  die  Thiersch'' sehe  Hautaufpflanzung  zum  Theil 
vermeiden. 

Die  Aufgabe  der  Behandlung  ist  bei  schweren,  ausgedehnten 
Verbrennungen  zunächst  die  Bekämpfung  des  Collapses.  Die  Analeptica, 
Campherlösung  und  Aether,  subcutan;    Spiritusklystiere ,  heisser  Kalfee 


Allgemeinwirkung  der  Verbrennung.    Behandlung.  223 

und  Wein  u.  s.  f.  innerlich,  sind  zu  Anfang  wirkungslos,  später,  d.  h. 
nach  der  Infusion ,  zweckmässig.  Das  Einzige ,  wovon  eine  Wirkung 
erhofft  werden  kann,  ist  eine  intravenöse  Infusion  von  800 — 1500  Ccm. 
warmer  O'Tprocentiger  alkalischer  Kochsalzlösung.  (Vergl.  pag.  122.)  Sie 
begegnet  sowohl  dem  Collaps,  als  der  Vertrocknung  der  Gewebe.  Fast 
noch  zweckmässiger  sind  öfters  wiederholte  subcutane  Kochsalzinfusionen 
von  je  300  Ccm.  (bis  2000  Ccm.  pro  Tag)  in  die  Haut  des  Oberschenkels, 
des  Bauches,  der  Brust  etc.  Sobald  reichliche  Diurese  beginnt  und  der 
Harn  anfängt,  heller,  d.  h.  häraoglobinärmer  zu  werden,  bessert  sich 
die  Aussicht  sehr.  Ist  die  Verbrennung  dritten  Grades  und  so  ausge- 
dehnt, dass  eine  Heilung  doch  nicht  zu  erwarten  steht,  so  ist  es  zweck- 
los, die  Qualen  des  Kranken  noch  durch  eine  Infusion  hinzuziehen 
und  man  wird  keinem  Arzte  einen  Vorwurf  machen,  welcher  dem  Un- 
glücklichen das  Sterben  durch  eine  kräftige  Morphiuminjection  (003 
und   mehr)    erleichtert. 

Ist  der  Collaps  vorüber  und  sind  Chancen  für  eine  Heilung  da, 
so  tritt  die  örtliche  Behandlung  in  ihre  Rechte.  —  Wie  bei  jeder 
Wunde,  ist  auch  bei  Verbrennungen  Ausschluss  der  Infection  erste 
und  wichtigste  Pflicht.  Bei  der  enormen  Empfindlichkeit  ist  exacte 
Reinigung  ohne  Narkose  unmöglich  und  so  erscheint  es  am  zweck- 
mässigsten  —  bei  irgendwie  ausgedehnten  Verbrennungen  — ,  die  Kranken 
zu  chloroformiren,  die  Haut  kräftig  mit  Bürsten  abzuseifen,  mit  Aether 
abzureiben  und  in  pag.  197  vorgeschriebener  Weise  aseptisch  zu 
machen.  Carbollösungen  eignen  sich  wegen  der  Gefahr  der  Resorption 
nicht,  Salicvl-  und  Borlösungen  sind  zu  schwach.  Zweckmässiger 
sind  dünne  Sublimatlösungen  (1:5000 — 1:10.000).  Die  Gefahr  der 
Intoxication  ist  hier  geringer.  Man  schützt  die  Haut  mit  einer  anti- 
septischen Salbe  (Ac.  bor.  l'O  oder  Ac.  salicyl.  1"(),  Lanolin  30"0). 
Darüber  kommen  achtfache  Lagen  sterilen  Mulls  und  schliesslich 
reichliche  Schichten  stark  resorbirender  Verbandstoffe,  Holzwatte,  Holz- 
stoff u.  dergl.  Ist  die  Verbrennung  nicht  sehr  ausgedehnt,  so  ist  Narkose 
nicht  nötliig;  ein  Seifenbad,  dann  ein  sorgfältiges  Abwischen  mit  in 
Sublimatlösung  getauchten  Wattebäuschchen  genügt.  Für  kleine  Flächen 
ist  auch  das  Jodoform  ein  gutes  Verbandmittel,  bei  grossen  Resorptions- 
tlächen  verbietet  es  sich  durch  die  Gefahr  der  Vergiftung.  Man  be- 
pudert die  verbrannte  Stelle  nach  der  Desinfection  mit  Jodoform,  Zink- 
oxyd, Bismuthum  snbnitricurn  ( Barddehen) ,  pulverisirter  Borsäure, 
legt  Jodoform-  oder  Sublimatgaze  darüber  und  dann  Watte  und  erzielt 
so  einen  Dauerverband,  unter  dem  die  Verbrennung,  selbst  wenn  sie 
dritten  Grades  ist,  ruhig  heilen  kann.  Biclder  (Langenbecl'^s  Archiv^  43) 
bestreicht  die  verbrannten  Stellen  einfach  mit  Thiolum  liquidum,  darüber 
Watte.  Binde;  Verbandwechsel  nach  8—10  Tagen.  Auch  Ichthyol- 
salben fmit  Lanolin  1 :  10)  werden  empfohlen.  Den  Verband  so,  selten  als 
mitgiich  wechseln  zu  müssen,  ist  bei  Verbrennungen  für  den  Kranken 
ein  grosser  Gewinn ;  denn  die  Verbandwechsel  sind  äusserst  schmerz- 
haft, wenngleich  bei  aseptischem  Verlauf  die  Schmerzen  nicht  so  furcht- 
bar sind.  Ich  lasse  bei  grossen  Brandwunden  den  Verband  entweder 
in  protraliirten  Bädern  abweichen  oder  chloroformire  leicht  zum  Ver- 
bandwechsel. 

Die  antiseptisclie  Behandlung  der  Verbreiiuungen  übertrillt  ullc  anderen  ilethudeu 
weit.     Schmerzen    und    Entzündung    sind    viel    geringer,      die     llcgeneration      erfolgt 


224 


III.  Capitel.   —  Vcrlcl.zuiijrori. 


schnelloi-,  diu  Narben  sind  -vvoniger  d(;rl),  zeigen  eine  geringere  Neigung  zum 
Schrumpfen,  wie  sonst.  —  Bas  Fieber  ist  niedrig  oder  felilt  ganz :  die  oben  geschilderten 
septischen  Erscheinungen  I'aUen  weg;  der  Appetit  und  das  Allgemeinbefinden  bleiben  gut. 
Diesen  ganz  wesentlichen  Vortheilen  gegenüber  kommt  die  Gefahr  einer  Intoxication 
mit  einem  Antisepti cum  nur  wenig  in  Betracht;  hier  heisst  es  oft  „biegen  oder  l)rechen" 
und  von  den  zwei  Uebeln  ist  die  Gefahr  des  Antisepticums  die  kleinere.  I>ie  rein 
aseptische  Behandlung  genügt  wenigstens  in  späteren  Stadien  nicht,  wohl  aber  schwache 
Antiseptica,  wie  Borlanolin. 

Die  Schmerzen  lassen  sich  hei  kleineren  Verbrennungen  durch  Bepinseln 
mit  4procentiger  Cocainlösung  oder  Verbände  mit  Cocainsalben  (5—10  Procent)  sehr 
schnell  beseitigen.  (Gefahr  der  Intoxication!) 

In  den  älteren  Behandlungsmethoden  und  im  Verfahren  der  Laien  spielen 
„kühlende"  Stoffe  eine  Hauptrolle  —  Kalkwasser,  fleischige  Pflanzenblätter,  geschabte 
Kartoffeln  u.  dergl.  Dieselben  sind  höchstens  bis  zur  Ankunft  des  Arztes  erlaubt. 
Eine  grosse  Eolle  spielte  die  StaM'sche  Brandsalbe  (Aqua  calcis  und  Oleum  lini  zu 
gleichen  Theilen). 

Neben  der  antiseptischen    Behandlung    kann  —  für    ausgedehnte 
Verbrennungen  —  höchstens    noch  das    permanente  Wasserbad   in 
Fjg  144  Betracht  konomen.  Ohne  die  Vorzüge 

desselben  7ai  unterschätzen  (Weg- 
fallen der  Verbandwechsel),  habe  ich 
mich  doch  nie  dafür  begeistern 
können.  Die  Kranken  fühlen  sich  im 
Bett  — •  in  einem  guten  antiseptischen 
Verband,  entschieden  wohler. 

In  den  späteren  Perioden  sind, 
die  Granulationen  durch  Aetzen  mit 
Lapis  in  Substanz  oder  Bestreichen 
mit  starken  Höllensteinlösungen  in 
Schranken  zu  halten.  Die  Schmerzen 
sind  hiebei  enorm  (Morphium,  selbst 
Narkose,  bei  kleinen  Flächen  Cocain, 
Vergiftung!). 

Irgendwie  grössere  Defecte 
sind  zeitig  durch  Transplantation  zu 
decken.  Man  wird  hiedurch  manchen 
Fall,  wo  früher  nur  die  Amputation 
übrig  blieb,  noch  zur  Heilung  bringen. 
Als  besonders  üble  Folgen  ausgedehnter  und  tiefer  Verbrennungen 
sind  die  enormen  Narben  Schrumpfungen  gefürchtet.  Es  kann  da- 
durch der  Arm  an  den  Leib  fixirt,  das  Kinn  an  die  Brust  festgelöthet, 
Fig.  144  (nach  Bruns),  der  Mund  verschlossen  werden  u.  s.  f.  Dehnungen 
und  leichtes  Massiren ,  ebenso  multiple  Incisionen  geben  nur  geringe 
Erfolge;  Transplantationen  gestielter  Lappen,  oder  Transplantationen 
nach  Thiersch  (freier  Hautstücke)  sind  angezeigt.  Sie  müssen  durch 
zeitige  Transplantation  vermieden  werden. 

In  langsam  und  schlecht  geheilten  Brandnarben  entwickeln  sich  mitunter  „Narben- 
carcinome'",  echte  Epithelialcarcinome.     Auch  Lupus  wird  beobachtet. 


Die  Wirkung  des  Blitzes  ist  nach  Sonnenhurg  ausser  einer 
thermischen  und  erschütternden,  auch  eine  mechanisch  zerreissende  (z.  B. 
Zerstörungen  des  Rückenmarks). 

Vom  Blitze  Getroffene  sind  in  einem  Zustande  halber  oder 
ganzer  Bewusstlosigkeit.   Jene  ist  oft  nichts  als  grosser  Schrecken  des 


Blitzschlag.   Sonueustich. 


225 


sonst  Unverletzten;  diese  dagegen  kann  sieh  als  ein  schweres  lang- 
andauerndes Koma  erweisen.  Frottirungen,  am  besten  im  warmen  Bad 
mit  kalten  Uebergiessungen  des  Nackens,  subcutane  Aethereinspritzungen 
sind  angezeigt.  Man  findet  an  solchen  Kranken  mitunter  die  „Blitz- 
figuren", rothbraune  oder  mehr  bläuliche,  oft  schlangenartig  ver- 
laufende und  dendritisch  verzweigte  Streifen,  bestehend  in  einer  meist 
nur  oberflächlichen  Verbrennung  und  Vertrocknung  der  Cutis.  Nur 
selten  sind  es  Verbrennungen  dritten  Grades.  Bei  schweren  Blitzver- 
letzungen fehlen  nie  hochgradige  nervöse  Störungen,  Anästhesien, 
Parästhesien  und  vor  Allem  Lähmungen.  Selbst  wenn  die  Restitution 
lange  zögert,  ist  doch  eine  völlige  Wiederherstellung  die  Regel. 
Elektricität  und  Massage  sind  hier  nützlich.  Auch  die  nervösen  Er- 
regungszustände, die  oft  bei  Blitzgeschlagenen  nachher  sich  einstellen, 
verschwinden  schliesslich  wieder. 


Fig.  145  zei.st  Brandstellen  an  den  Füssen  einer  vom  Blitze  getroöenen  Frau 
am  fünften  Tage  der  Verletzung,  nach  Heusner.  Zwischen  den  Füssen  liegt  die 
Strumpfsohle,  die  gleichfalls,  den  Verbrennungen  entsprechend,  durchlöchert  und 
verbrannt  ist. 


Gleichfalls  durch  Hitze,  jedoch  auf  ganz  anderem  Wege,  werden 
herbeigeführt:  der  Sonnenstich  und  der  Hitzschlag. 

Der  Sonnenstich  entsteht  durch  unmittelbare  Bestrahlung  des 
Kopfes  und  scheint  auf  einer  durch  Ueberhitzung  des  Kopfes  und  Ge- 
hirnes entstehenden  Gehirnaflection  zu  beruhen.  Er  betriff't  namentlich 
Feld-  und  Erntearbeiter,  dann  Soldaten  während  grosser  Märsche.  Die 
Erscheinungen  sind  die  einer  rasch  eintretenden  und  schnell  verlaufenden 
Meningitis;  Kopfschmerz,  dann  Unbesinnlichkeit,  Ohnmacht,  Krämpfe, 
Störungen  der  AtiimuDg  und  scidiesslich  der  Herzthätigkeit. 

Die  Behandlung  besteht  in  kalten  Umschlägen  auf  den  Kopf, 
nassen  kalten  Einpackungen ,  kalten  Uebergiessungen  im  lauen  Bad, 
später  Blutegeln  an's  Foramen  mastoideum,  einer  Eiskappe  auf  den 
Kopf;  subcutane  oder  intravenöse  Koclisalzinfusionen  sind  zu  versuchen. 
Die  schweren  Fälle  gehen  meist  zu  Grunde. 


Landerer,  Allg.  cbir.  l'atliologie   u.  Tlierapip.  2.  Aufl. 


15 


226  J^I-  ^^Japitcl.   —  Verl(;tzurif?(iii. 

Zum  llitzsclilag-  kommt  es  an  lieissen  schwülen  Tagen  auch 
ohne  unmittelbare  Sonnenbestrahlung,  besonders  beim  Marschiren  in 
geschlossenen  Gliedern.  l)egünstigt  wird  das  Auftreten  von  Hitzschlag 
durch  Mangel  an  Wasser.  Die  beste  Verhütung  ist  genügendes  Wasser- 
trinken; Wein  etc.  trinken  begünstigt  den  Hitzschlag. 

Die  bis  dahin  reichliche  Schweisssecretion  hört  auf,  der  Kranke 
wird  blau ,  holt  mühsam  Athem  und  bricht  bewusstlos ,  mit  kleinem 
frequentem  Puls  zusammen.  Die  Temperatur  kann  excessive  Höhen, 
43*^  und  mehr  erreichen.  Man  denkt  an  eine  Ueberhitzung  und  Ein- 
dickung  des  Blutes.  Der  Tod  scheint  an  Herzparalyse  zu  erfolgen. 
Die  Kranken  werden  in  nasse  Laken  gepackt ,  dann  kommen  Bäder 
mit  kalten  Uebergiessungen  des  Kopfes  und  Nackens,  daneben  Herzreize 
(subcutane  Aether-  und  Campherinjection).  Intravenöse  oder  subcutane 
Infusion  von  Kochsalzlösung  (1000  Ccm.  und  mehr)  ist  dringend  angezeigt. 


Die  Erfrierungen  bieten  manche  Analogie  mit  den  Verbren- 
nungen ,  allerdings  mehr  in  ihrem  örtlichen  Verhalten ,  als  in  ihren 
Allgemein  Wirkungen . 

Alle  schwächenden  Momente  begünstigen  in  hohem  Grade  das 
Eintreten  des  Erfrierungstodes.  So  sind  Leute  unmittelbar  nach 
öder  während  einer  schweren  Anstrengung  sehr  viel  weniger  wider- 
standsfähig (Bergsteiger);  besonders  disponirt  sind  Betrunkene;  auch 
bei  Geisteskranken  ist  Erfrierung  häufig.  Es  scheint,  dass  sich  der 
Betreffenden  eine  überwältigende  Müdigkeit  und  Schlafsucht  bemächtigt, 
der  sie  schliesslich  nachgeben.  Sie  sinken  zusammen  und  liegen  in 
tiefem  Schlafe,  der  dann  in  einen  komatösen  Zustand  und  endlich  in 
den  Tod  übergeht.  Die  Temperatur  sinkt  tiefer  und  tiefer,  die  Respiration 
wird  seltener,  auch  der  Puls  geht  weit  unter  die  Norm  herunter.  Die 
niederste  Temperatur  eines  Erfrierenden ,  der  schliesslich  noch  gerettet 
wurde,  war  zwischen  24  und  25^  C.  (im  Mastdarm  gemessen),  der  Puls 
zwischen  40  und  50,  die  Zahl  der  Athemzüge  8  pro  Minute. 

Durch  die  Kälte  contrahiren  sich  die  peripheren  Gefässe  und 
halten  das  Blut  in  den  inneren  Organen  zusammen,  so  dass  hier  noch 
verhältnissmässig  lange  eine  eben  genügende  Circulation  und  damit 
die  Möglichkeit  einer  Wiederbelebung  erhalten  bleibt.  Schliesslich  er- 
lischt natürlich  die  Circulation  auch  hier.  Die  letzte  Ursache  des  Er- 
frierungstodes ist  nicht  bekannt;  ob  die  Hyperämie  innerer  Organe 
(Cohnheini)  oder  die  Anämie  des  Gehirns  (Catiano)  wesentliche  Momente 
sind,  scheint  fraglich.  Die  einfache  Abkühlung  empfindlicher  Organe, 
z.  B.  des  Gehirns,  kann  ja  auch  genügen,  sie  ausser  Function  zu  setzen 
ohne  grobe  anatomische  Veränderungen. 

Die  Aufgabe  der  Behandlung  Erfrorener  ist:  die  Circulation 
wieder  in  Gang  zu  bringen  und  den  Körper  zu  erwärmen.  Hier  streitet 
man  sich  um  die  grössere  Zweckmässigkeit  der  raschen  oder  lang- 
samen Erwärmung.  Für  erstere  sprechen  die  Thierexperimente  mehi, 
für  letztere  spricht  der  herkömmliche  Brauch.  Man  bringt  den  Kranken 
in  einen  Raum  von  12 — 16  Grad,  lässt  ihn  hier  mit  Schnee,  oder 
zweckmässiger  mit  rauhen  Tüchern,  Flanelllappen  u.  s.  w.  kräftig  frot- 
tiren  und  kneten.  Aetherinjectionen  in  die  Herzgegend  sind  gleichfalls 
nicht    zu   unterlassen.     Ebenso    ist ,    wenn    die  Athmung    schlecht    ist, 


Hitzschlag.   Erfrierung.  227 

künstliche  Athmung'  aus/Aiführen.  Am  besten  setzt  man  den  Kranken 
in  ein  nur  wenig  gefülltes  Bad  von  16°  R.  und  lässt  ihn  hierin  frottiren, 
allmälig  wird  heisses  Wasser  zugegossen,  dass  die  Wanne  voll  und  die 
Temperatur  auf  28"  R.  ist.  Darauf  kommt  der  Kranke  in  ein  wohl- 
durchwärmtes  Bett,  erhält  Aetherinjectionen,  ein  Spiritusklysma ;  wenn 
er  schlucken  kann,  schwarzen  Kaffee,  Glühwein  u.  s.  w. 

Manchmal  bekommen  die  Kranken  nachträglich  noch  Pneumonien; 
jedenfalls  bedürfen  sie  längerer  Schonung. 

Die  örtlichen  Wirkungen  der  Kälte  theilt  man  ebenso  in 
3  Grade  ein ,  wie  bei  der  Verbrennung  —  Röthung ,  Blasenbildung, 
Gangrän;  doch  ist  hier  die  französische  Eintheilung  in  5  Grade  — 
Gangrän  der  Haut,  der  Weichtheile,  der  Knochen  —  fast  verbreiteter. 

Die  Eötliung  der  Erfrierung  hat  einen  ganz  anderen  Charakter  als  bei  der 
Verbrennung.  Bei  dieser  eine  scharlachrothe,  intensive ,  rasch  ablaufende  entzündliche 
Hyperämie,  bei  der  Erfrierung  eine  bläuliche  Röthe  mit  starker  Stauung,  Oedembildung 
und  zögerndem  Verlauf.  Gewöhnlich  handelt  es  sich  iim  periphere  Theile,  erfrorene 
Nasen,  Ohren,  Finger,  Zehen.  Während  der  Erfrierung  fühlen  die  Verletzten  oft  nicht 
viel.  Der  erfrierende  Theil  ist  zunächst  weiss  und  blutarm.  Kommt  derselbe  nun  in 
die  Wärme,  so  tritt  wieder  Blut  ein,  dasselbe  circulirt  aber,  wie  der  Fingerdruck  zeigt, 
nur  langsam.  Es  folgt  entzündlich  -  ödematöse  Schwellung.  Zugleich  entwickeln  sich 
lebhafte  brennende  Schmerzen.  Die  Schwellung  kann  sich  steigern  bis  zur  Blasen- 
bildung. Auch  hier  zeigt  sich  die  Verwandtschaft  der  Frostentzündung  mit  der  Stauung ; 
die  Blasen  sind  nicht  mit  klarem  Serum  gefüllt,  wie  bei  der  Verbrennung,  ihr  Inhalt  ist 
bluthaltig,  schmutzig  -  braunroth ,  wie  bei  Stauung.  Viel  langsamer  als  bei  der  Ver- 
brennung laufen  die  weiteren  Processe  ab;  nach  mehreren  Tagen  fängt  der  Theil  an 
abzuschwellen .  die  Haut  schält  sich ,  doch  bilden  sich  in  den  Furchen  zwischen  den 
sich  abblätternden  Haiitstückchen  nicht  so  selten  kleine  Rhagadengeschwüre  ,  und  auch 
unter  den  Blasen  kommt  es  nicht  zu  einer  schnellen  Epithelregeneration ,  sondern  zu 
länger  dauernden  eiterigen  Absonderungen,  selbst  zur  Bildung  oberflächlicher  missfärbiger 
Granulationen. 

Nach  der  Abheilung  ist  die  Folge  nicht  eine  Pigmentirung ,  Avie  bei  der  Ver- 
brennung, sondern  eine  bläuliche  Verfärbung,  eine  chronische  Dilatation  und  Stauung 
in  den  Venen  und  manche  „blaue  Nase"  verdankt  ihre  Entstehung  einer  Erfrierung. 
Einmal  erfrorene  Theile  sind  einer  erneuten  Erfi'ieruug  besonders  leicht  ausgesetzt. 
Ebenso  sind  an  sich  blutarme  Theile  der  Erfrierung  besonders  zugänglich.  So  kommt 
es,  dass  gewisse  Körperstellen  bei  anämischen  Personen,  namentlich  chlorotischen 
Mädchen,  der  Sitz  einer  Art  von  chronischer  Erfi-ierung  sind,  der  „Frostballen", 
Perniones.  Es  sind  chronische  Hyperämien,  selbst  chronische  Geschwürchen,  hauptsächlich 
am  Handrücken  und  am  Ballen  der  grossen  Zehe.  Sie  kommen  immer  im  Winter, 
besonders  beim  Arbeiten  in  kaltem  Wasser,  um  im  Sommer  fast  ganz  zu  verschwinden. 
Die  Grundlage  des  Leidens  ist  die  mangelhafte  Blutcirculation  infolge  der  Stauung 
und  Blutarmut]!. 

Die  höheren  Grade  der  Erfrierung  bieten  ein  wesentlich 
anderes  Aussehen.  Tief  braunblau  erscheint  ein  solches  Glied  —  ein 
Unterschenkel  oder  Fuss  —  stellenweise  mit  braunrothen  Brandblasen 
bedeckt ;  wo  die  Oberhaut  abgegangen  ist ,  sickert  aus  der  miss- 
färbigen  schmutzigbraunen  Cutis  braune  dünne  Jauche  hervor.  Auf  Ein- 
schnitt kommt  kein  Blut,  sondern  nur  dieselbe  Brandflüssigkeit.  Die 
eingesenkte  Nadel  constatirt  keine  oder  nur  höchst  undeutliche  Empfin- 
dung. Je  mehr  centralwärts ,  um  so  deutlicher  werden  die  Zeichen 
noch  vorhandener  Circulation,  wenngleich  anfangs  nur  spurweisc.  Auch 
hier  zeigt  sich  in  den  noch  erhaltenen  Theilen  äusserste  Trtig- 
heit  der  Circulation.  —  Es  dauert  nicht  lange,  so  verfallen  die  nicht 
mehr  ernährten  Theile  stinkender  Fäiilniss .  die  rasch  von  der  Ober- 
fläche in  die  Tiefe  dringt.  Ein  schweres  Kesorptionsiiel)er  septischen 
Charakters  schliesst    sich  an;    die  Temperatur    schwankt  um   40*',    der 

15* 


228  ^^^-  Gapitel.  —    Verletzungen. 

Puls  um  110 — 120;  die  Hautfarbe  wird  gelblich,  das  Gesieht  verfällt, 
die  Augen  liegen  tief,  die  Hände  zittern  und  äussersie  Kraftlosigkeit 
befällt  den  Kranken.  Der  Appetit  ist  ganz  weg,  die  trockene  Zunge 
ist  russig  (fuliginös)  belegt,  trotz  eines  heftigen  Durstes  und  häutigen 
Trinkens;  stinkende  dünne  Ausleerungen  sind  vorhanden. 

Erliegt  der  Kranke  nicht  zu  früh,  so  kommt  es  an  der  Grenze  des 
Lebenden  undTodten  zur  Bildung  einer  dem  arkir  enden  Granulation. 
Je  nach  der  Tiefe  der  Erfrierung,  der  Art  der  Einwirkung  der  Kälte 
bildet  sich  ein  senkrecht  bis  zum  Knochen  abfallender  Demarcations- 
graben,  oder  die  demarkirende  Entzündung  schiebt  sich  schräg  unter 
der  Haut  in  die  Weichtheile  hinein ,  so  dass  schliesslich  der  vordere 
Theil  des  Fusses  wie  ein  Schuh  von  den  Knochen  abgezogen  werden 
kann.  Fascien  und  Sehnen  halten  lang  und  verleihen  oft  —  durch 
die  Bewegung  der  Zehen  —  dem  Todten  noch  den  Schein  des  Lebens. 
Am  spätesten  lösen  sich  die  Knochen,  diese  ragen  noch  Monate  lang 
als  nekrotische  Stümpfe  aus  der  sonst  fast  geheilten  Granulationstläche 
hervor. 

Bei  leichten  Erfrierungen  reibt  man  bekanntlich  mit  Schnee. 
Man  will  so  eine  entzündliche  Hyperämie  erregen,  die  der  Stauung  ent- 
gegenwirken soll.  Auch  hier  sind  die  Regeln  der  Antisepsis  auf's 
Peinlichste  zu  beobachten ;  der  Theil  ist  nach  allen  Regeln  (s.  pag.  197  ff.) 
zu  desinficiren,  dann  kann  man  kleine  Flächen  mit  Borlanolin  (1 :  10 
bis  1:30)  bedecken  und  darüber  einen  absorbirenden  Stoff  (Holz watte 
u.  s.  w.)  legen.  Droht  Brand,  so  sind  warme,  dicke  antiseptische  Ein- 
packungen (Sublimatlösung)  zweckmässiger. 

Chronische  Erfrierungen,  „Frostballen",  curirt  man  gleich- 
falls durch  Erzeugung  einer  energischen  Hyperämie.  In  weitem  Um- 
kreise bestreicht  man  die  Stellen  täglich  mit  Jodtinctur  und  verbindet 
dann  mit  einer  „reizenden",  d.  h.  leicht  ätzenden  antiseptischen 
Salbe  (Arg.  nitr.  1 :  30  Lanolin ,  Perubalsam  1 : 2  Lanolin  oder  pure) 
oder  Ichthyolsalbe  (1 : 4  Lanolin)  u.  s.  w.  Auch  dicke  Priessnitz' sehe 
Umschläge  mit  Sublimatlösungen  (1 :  3 — 2000)  sind  gut.  Dabei  lässt 
man  leicht  massiren  und  versäumt  nicht  die  Allgemeinbehandlung- 
etwaiger  Blutarmuth.  Gegen  „erfrorene"  blaue  Nasen  gibt  es  viele 
Mittel,  die  leider  meist  nicht  viel  helfen.  Collodium  mit  Sublimat  (1 :  20), 
Jodtinctur,  Abreiben  mit  Citronen  u.  s.  f.,  Massiren,  kurzum  leicht  ent- 
zündlich wirkende  oder  den  Kreislauf  beschleunigende  Verfahren,  oder 
narbenbildende  und  schrumpfende  Mittel  —  Elektropunctur,  Stichelungen 
mit  feinen  Messerchen  (Volkmann)  u.  dergl.  sind  gebräuchlich. 

Bei  schweren  Erfrierungen  ist  zunächst  die  Beseitigung  der 
Stauung  zu  erstreben;  vorzüglich  wirkt  hier  die  verticale  Suspension. 
Es  tritt  rasch  Abschwellung  ein  und  es  gelangen  oft  noch  Theile 
zum  Leben,  denen  man  es  nicht  mehr  zugetraut  hätte.  —  Ein  zweites  ist 
die  Beherrschung  und  Beseitigung  der  Fäulniss ;  hier  gilt  es,  den  feuchten 
stinkenden  Brand  überzuführen  in  den  trockenen  aseptischen.  (VergL 
pag.  42.)  Die  todten  Theile  müssen,  während  sie  noch  mechanisch  mit 
den  lebenden  zusammenhängen,  mumificirt  werden.  Man  bedient  sich 
hiezu  energisch  austrocknender  Verbandstoffe:  Kohlenpulver  (weniger 
geeignet),  Torfmull,  Holzstoff  und  Holzwolle,  Moos  u.  dergl.  Dieselben 
müssen  einen  antiseptischen  Zusatz  (Sublimat  oder  Jodoform)  haben. 
Vorher  macht  man  zweckmässig  zahlreiche  lange  Incisionen  durch  die 


Behandlung  der  Erfrierung.  229 

todten  Theile  bis  zum  Gesunden,  um  die  Austrocknung-  zu  erleichtern. 
Gelingt  es  nicht  mit  dem  ersten  Verband,  dann  mit  einem  zweiten  oder 
dritten.  Schliesslich  muss  das  Nekrotische  völlig  geruchlos  und  trocken 
sein,  die  angrenzenden  Theile  müssen  —  durch  Elevation  —  abschwellen 
und  der  Kranke  muss  fieberfrei  werden.  Zeigen  sich  noch  Temperatur- 
steigerungen, so  ist  irgend  etwas  nicht  in  Ordnung,  was  man  finden 
muss ;  meist  handelt  es  sich  um  eine  Eiterverhaltung,  eine  Gelenkver- 
eiterung oder  einen  in  einer  Sehnenscheide  fortgekrochenen  Abscess. 
Diese  sind  sofort  zu  eröffnen  und  zu  drainiren.  —  Hängt  das  Todte 
nur  noch  an  Sehnen  und  Knochen ,  so  ist  es  mit  Messer  und  Säge 
abzutragen.  Ist  Alles  in  guter  Granulation ,  die  Umgebung  gut  ab- 
geschwollen, der  Kranke  wieder  kräftig  und  frisch,  so  kann  man  noch 
während  der  Granulationsbildung ,  natürlich  aseptisch  ,  unter  Lappen- 
bildung von  dem  Knochen  so  viel  herausschälen  und  herausholen,  dass 
die  Weichtheile  zur  Bedeckung  reichen  und  ein  Ulcus  prominens  (s.  Ope- 
rationslehre) vermieden  wird.  Man  lässt  die  Lappen  übereinanderfallen  — 
ohne  exacte  Naht  —  und  meist  heilt  Alles  glatt  p.  p.  i.  (sog.  secundäre 
atypische  Amputation). 

Frühzeitige  Amputationen  vor  der  Begrenzung  der  Gangrän  sind, 
selbst  wenn  sie  weit  entfernt  gemacht  werden,  zu  widerrathen.  Gewöhn- 
lich ist  bei  einer  Erfrierung  des  Fusses  das  ganze  Bein  septisch  in- 
filtrirt ;  selbst  wenn  man  im  Oberschenkel  absetzen  will ,  kommt  man 
nicht  in  ganz  gesunde  Theile.  Der  Kranke ,  dessen  Leben  man  zu 
retten  gedachte,  stirbt  im  unmittelbaren  Anschluss  an  die  Operation 
-an  Blutverlust  oder  an  Blutvergiftung.  Abwarten  und  Eröffnung  von 
Eitersenkungen  ist  hier   das    einzig  Richtige. 


Die  Narkose. 

Das  C  hior  of  or  m.  Proben  seiner  Reinheit.  —  Anwendungs- und  Wirkungsweise.  — 
Gefahren  der  Chloroformnarkose.  —  Chloroformasphyxie  und  ihre  Behandlung.  — 
Künstliche  Athmung.  —  Morphium-Chloroformnarkose.  —  Aethernarkose.  — 
Narkose  mit  anderen  Anästheticis.  —  Locale  Anästhesie  (Aether,  Cocain),  Infiltra- 
tionsanästhesie. 

Das  Streben,  die  Schmerzen  einer  Operation  zu  lindern,  ist  so 
-alt  wie  die  Menschheit  selbst.  Die  im  Alterthum  verwandten  Mittel 
waren  ausnahmslos  mohn-,  d.  h.  opiumhaltig.  Ihre  Wirkung  ist  so 
ungenügend,  wie  die  in  neuester  Zeit  mitunter  gemachten  Versuche, 
magnetischen  Schlaf  oder  hypnotische  Zustände  chirurgischen  Zwecken 
dienstbar  zu  machen. 

In  erster  Linie  werden  heute  in  der  Chirurgie  angewandt  Chloroform 

(ClI  Clo,)  und  Aether  (Aethyläther  ^'  h'>0). 

I)a.s  MetliyliMiljiclilorid  (CH.Cl,),  von  Spencer  Weih  namentlich  für  Unterleibs- 
■operationen  eniptbhl(;n  ,  ist  viel  theurer  und  hat  keine  besonderen  Vortheile.  Die  An- 
gabe, dass  das  Mcthylenbiclilorid  kein  Erbrcclicn  mache,  ist  nicht  richtig.  —  Der  Aether 
wurde  zuerst  von  Jackson  und  Morton  184(5  in  Boston  zum  Narkotisiren  verwandt; 
1847  wurde  das  Chloroform  von   Simpson  in  l-'diiiburgli  eingeführt. 

Das  Chloroform  soll  frei  von  fremden  Beimengungen  sein. 

Das  Cliloroform  kann  von  einer  nachlässigen  Her.stellung  her  noch  Beimengungen 
enthalten.  Das  deutsche  Chloroform  wird  aus  (^lilorkalk  durch  Destilliren  mit  sehr 
Verdünntem    Spiritus   dargestellt.    Diese  fremden  Beimischungen ,    hauptsächlich    Aethyl- 


9y(j  III.  (Ja]nt(,'l.   —  Ve)'letzuiij.':cii. 

und  MothylverbindiuigiMi ,  deren  Kinathnmnf?  nicht  unl)(;denklich  ist,  sind  zu  erkennen 
durch  Eintauchen  eines  Streifens  reinen  schwedisclien  Filtriipapiers.  Zei^t  derselbe  nach 
Abdunsten  des  Chloroforms  noch  einen  unangenehmen,  ranzigen,  kratzenden  Geruch,  so 
ist  das  Präparat  nicht  rein  (Geruchprobe).  —  Im  diffusen  Tageslicht  zersetzt  sich 
Chloroform  in  freies  Chlor,  unterchlorige  Säure,  Salzsäure,  Ameisensäure,  Essigsäure, 
Aldehyd  u.  s.  f.  Blaues  Lackmuspapier  wird  geröthet  (durch  Säure)  oder  gebleicht  (durch 
Chlor,  unterchlorige  Säure).  Chloroform  darf  deshalb  nur  in  blauen,  gelben  oder  schwarzen 
Flaschen  oder  im  Dunkeln  aufbewahrt  werden.  —  Absichtliche  Verfälschungen  be- 
stehen besonders  in  Zusatz  von  Alkohol  und  Aether.  Auf  diese  wird  man  aufmerksam 
durch  die  Bestimmung  des  specifischen  Gewichtes.  Ist  dies  unter  l'48o,  so  ist  das 
Chloroform  nicht  rein.  Ein  Zusatz  von  1  Procent  Alkohol  zum  Chloroform  ist  gestattet ; 
dieser  Zusatz  scheint  die  Zersetzung  des  Chloroforms  aufzuhalten  oder  zu  verhindern. 
Stärkeren  Zusatz  erkennt  man  ,  wenn  man  einen  Tropfen  Chloroform  durch  destillirtes 
Wasser  fallen  lässt.  Reines  Chloroform  fällt  klar  zu  Boden ;  trübt  der  Tropfen  sich 
milchig,  so  ist  ein  erheblicher  Zusatz  von  Alkohol  im  Chloroform.  Aetherbeimischung 
ist  durch  Zusatz  von  etwas  wässeriger  Jodlösung  nachzuweisen ,  z.  B.  Jod-Jodkalium- 
lösung.  Peines  Chloroform  färbt  sich  amethystfarben ,  ätherhaltiges  blutroth  mit  einem 
Stich  in's  Braune. 

Das  Chloral  Chloroform  wird  durch  Zersetzung  von  Chloralhydrat  mit  kaustischen 
Alkalien  dargestellt.  Das  englische  Chloroform  gewinnt  man  durch  Chlorirung  von 
3Iethylalkohol.  —  Die  letzteren  beiden  Sorten  sind  reiner  als  das  deutsche ,  aber  auch 
wesentlich  theurer. 

In  neuerer  Zeit  werden  besonders  empfohlen  das  aus  Salicylid-Chloroform  ge- 
Avonnene  Chloroform  Anschütz  (Witzel)  und  das  durch  Gefrieren  und  Kiystallisiren  ge- 
reinigte Pic^e^'sche  Chloroform.  Die  beiden  Sorten  nachgerühmten  Vorzüge  (mangelnde 
unangenehme  Nebenwirkungen ,  Seltenheit  des  Erbrechens  während  und  nach  der  Nar- 
kose) habe  ich  bei  der  praktischen  Prüfung  nicht  bestätigen  können. 

Der  Narkotisirung  ist  eine  genaue  Untersuchung  des  Kranken 
vorauszuschicken.  Kinder  und  Frauen,  denen  der  Genuss  von  Spirituosen 
fremd  ist,  narkotisiren  sich  meist  leicht  und  ohne  Gefahr.  Die  meisten 
Schwierigkeiten  hat  man  bei  erwachsenen  Männern.  Hier  ist  besonders 
auf  das  Herz  zu  achten.  Die  Klappenfehler  sind  im  Ganzen  weniger 
zu  fürchten.  Ich  habe  Kranke  mit  schweren  Klappenfehlern  ohne 
Schaden  und  Störung  chlor oformirt,  natürlich  mit  besonderer  Vorsicht. 
Viel  schlimmer  sind  die  Affectionen  des  Herzmuskels,  namentlich  die 
Verfettungen,  wie  sie  sich  bei  Trinkern  finden.  Bei  solchen  ist  jede 
Narkose  als  ein  in  seinem  Ausgang  zweifelhafter  Eingriff  anzusehen 
(s.  unten).  Dasselbe  gilt  von  Gefässerkrankungen ,  besonders  allgemeinem 
Arterienatherora.  Lungenleiden  fordern  gleichfalls  zu  erhöhter  Vorsicht 
auf,  und  zwar  sind  Emphysem  und  Bronchitis  gefährlicher  als  Lungen- 
tuberculose  (in  nicht  zu  weit  vorgeschrittenen  Stadien).  Grosse  Aengst- 
lichkeit  der  Patienten  disponirt  gleichfalls  zu  üblen  Zufällen  während 
der  Narkose.  Hier  thut  oft  ein  freundliches  Wort  Wunder. 

Womöglich  sind  die  Kranken  einer  gewissen  Vorbereitung  zu 
unterwerfen.  Diätfehler  am  Abend  vorher  sind  auszuschliessen.  Früh- 
morgens bekommt  der  Kranke  nur  eine  Tasse  Thee  oder  schwarzen 
Katfee.  In  England  gibt  man  jedem  Patienten ,  selbst  Kindern  und 
Frauen  eine  halbe  Stunde  vor  der  Narkose  ein  Glas  Sherry  oder  einen 
tüchtigen  Schluck  Cognac.  Die  Narkose  scheint  dadurch  namentlich  bei 
Schwächlichen  erleichtert  und  die  Gefahr  seitens  des  Herzens  ver- 
mindert zu  werden.  Nie  soll  man  bei  vollem  Magen  narkotisiren.  — 
Nun  wird  der  Kranke,  auf  hartem  Polster  lang  ausgestreckt,  leicht 
zugedeckt,  eine  Rolle  unter  dem  Kopf  gelagert.  Alle  Hindernisse, 
welche  die  Athmung  beeinträchtigen  könnten  —  enge  Cravatten, 
Kragen,  Leibbänder  u.  s.  f.  —  sind  zu  entfernen.  Hals,  Brust  und 
Unterleib  sind  frei,   nur  dünn  bekleidet,    von  der  Hand  des  Chirurgen 


Chloroformuarkose. 


231 


(zur  Einleitung  der  künstlichen  Athmung)  jederzeit  leicht  zu  erreichen. 
Mund  und  Eachenhöhle  müssen  leer  sein.  Falsche  Gebisse,  Tabaks- 
priemen bei  Tabakkauern  u.  s.  f.  sind  auf  den  Kehlkopfseingang  gefallen 
und  haben  rasche  Erstickung  herbeigeführt.  Ein  oberhalb  des  Knies 
umgeschnallter  breiter  Riemen   fixirt  den  Kranken  an  den  Tisch. 

Als  Ort  zum  Chloroformiren  wählt  man  am  besten  einen 
stillen,  etwas  verdunkelten  Raum.  Nur  der  Narkotiseur  und  ein  bis 
zwei  Gehilfen  seien  anwesend.  Je  weniger  Sinneseindrücke  auf  den 
Kranken  in  den  ersten  Stadien  der  Narkose  einwirken,  um  so  glatter 
und  ungestörter  verläuft  dieselbe.  Ohne  zwingende  Noth  soll  man  nicht 
allein  chloroformiren ;  es  können  während  der  Narkose  Schwierigkeiten 


eintreten,  die  von  Zweien  leicht  besiegt  werden,  für  Einen  allein  aber 
unüherwindbar  sind.  In  England  ist  es  überhaupt  gesetzlich  verboten, 
ohne  Zuziehung  eines  zweiten  Arztes  zu  chloroformiren. 

Von  den  Apparaten  zur  Chloroformirung  sind  die  wichtigsten  der 
EsnttirrJi'mhQ  Chloroformkorb  und  der  Junker  ^ahe  Apparat. 

Die  K s iti arch' ach e  Maske  ist  ein  rundes  oder  ovales,  mit 
vierfach  Mull  überspanntes  Drahtgeflecht;  dasselbe  wird  dem  Kranken 
auf  Mund  und  Nase  gelegt  und  mit  einer  Tropfflasche  Chloroform  auf- 
gegossen. Der  Kranke  athmct  das  nach  dem  Innern  der  Maske  ver- 
dunstende Chloroform.  \crnii,s('ht  mit  mehr  oder  weniger  atmosphärischer 
Luft ,    die    durch    und    neljen    der    Maske    eindringt    (Fig.  14()).     Die 


111.  Capitel.   —    Verletzungen. 


Fig.  147. 


Maske  hat  den  Vorzuj^,  dass  sie  —  besonders  in  den  späteren  Stadien 
der  Narkose  —  ruhig  auf  dem  Gesicht  liegen  hleiVicn  kann.  Man 
behält  so  eine,  später  beide  Hände  frei  —  für  das  Lüften  des 
Kiefers  u.  s.  w.  Man  kann  bei  kleineren  Operationen  sogar  Xarkose 
und  Operation  zugleich  besorgen  (Landpraxis  und  Geburtshilfe). 

Eine  zweckmässige  Modification  der  Esmardi  iichen  Maske  ist  die 
„aseptische"  Maske  von  Schimmelbusch.  Zwischen  zwei  im  Charnier  beweg- 
liche Rahmen  kann  ein  (4 — Sfaches)  Stück  Mull  eingeklemmt  werden ; 
der  Wechsel  des  Netzes  ist  dadurch  sehr  erleichtert.  Eine  praktisclie 
Tropfflasche  gibt  Fig.  147. 

Die  beste  Methode  ist  die  Tropfmethode,  es  werden  vom  Anfang 
an  immer  Tropfen  um  Tropfen  auf  den  Mull  getropft,  anfangs  alle 
1 — 2  Secunden  einer,  dann  jede  Secunde  einer,  später  nur  alle  3 — 4Secun- 
den  ein  Tropfen  (Witzel),  oder  bis  zur  Betäubung  12  Tropfen  in  der 
Minute,  nach  erreichter  Anästhesie  nur  4 — 6  Tropfen  in  der  Minute 
(Bydygier).     Man    lässt  den  Kranken    dabei  langsam  und  laut    zählen. 

Wenn  auch  —  besonders  bei  Männern  — 
bei  diesem  langsamen  Anchloroformiren  die 
Betäubung  zunächst  nur  sehr  langsam  eintritt, 
so  lasse  man  sich  dadurch  nicht  verleiten, 
plötzlich  grosse  Quantitäten  aufzugi essen,  son- 
dern bleibe  bei  der  Tropfmethode. 

Das  Chloroformiren  mit  dem  Taschentuch  ist 
absolut  verwerflich.  Der  Zutritt  frischer  Luft  ist  durch 
das  feste  Anliegen  des  feuchten  dicken  Tuches  in  hohem 
Grade  behindert  und  die  Gefahr,  dass  zu  concentrirte 
Dämpfe  geathmet  werden ,  kaum  zu  vermeiden.  Von 
56  Chloroform-Todesfällen  sind  nicht  weniger  als  32  bei 
Verwendung  des  Taschentuches  vorgekommen ;  auf  Es- 
march's  Chloroformkorb  kamen  dabei  nur  5  (Kaippeler). 

Beim/wwÄ;er^schen  Apparat  (Fig.  148) 
wird  atmosphärische  Luft  mit  einem  Doppel- 
g  gebläse  aus  zwei  Kautschukballons  durch  eine 
^  cylindrische,  circa  25  Grm.  Chloroform  enthal- 
tende Glasflasche,  und  von  dieser  durch  einen 
zweiten  Kautschukschlauch  mit  Chloroform- 
dämpfen geschwängert ,  in  eine  Hartkautschuk-  oder  Nickelmaske 
getrieben ,  die  dem  Patienten  fest  auf  Mund  und  Nase  gesetzt  wird. 
In  dieser  Maske  sind  noch  verstellbare  Ventile,  die  den  Zutritt  weiterer 
Luft  gestatten  und  ein  Exspirationsventil.  Die  Flasche  wird  in's  Knopf- 
loch des  Rockes  eingehakt,  die  eine  Hand  drückt  den  Ballon,  die 
andere  hält  die  Maske.  Bei  geöffneten  Ventilen,  w^enn  die  Maske  nicht 
fest  aufsitzt,  wird  man  hier  nicht  leicht  concentrirte  Dämpfe  bekommen. 
Der  Chloroformverbrauch  ist  ein  sehr  sparsamer  und  genau  abzumessen. 
Der  Apparat  verlangt  aber  viel  Bedienung ,  da  der  Chloroformirende 
dabei  keine  Hand  frei  behält.  Für  etwaige  Zufälle,  z.  B.  Lüften  des 
Unterkiefers,  muss  stets  noch  ein  zweiter  Gehilfe  bereit  stehen. 

Mehr  als  20 — 25  Ccm.  darf  nicht  in  die  Flasche  gegossen  werden ,  sonst  wird 
Chloroform  durch  den  Schlauch  in  die  Maske  und  auf  das  Gesicht  des  Patienten  ge- 
schleudert. Einmal  habe  ich  erlebt,  dass  der  Narkotiseur  sich  auf  den  Operationstisch 
anlehnte ,  die  Flasche  legte  sich  um  ,  der  ganze  Inhalt  ward  in  die  Maske  und  in  den 
offenstehenden  Mund  des  Chloroformirten  geschleudert.  Der  Kranke  —  eine  eingeklemmte 
Hernie   mit  Perforativperitonitis    und    schon   vorher   fast    pulslos  —  war  auf  der  Stelle 


JEsmarcJt'sche  Maske.  Junker' scher  Apparat. 


233 


todt.  Teuffei  hat  statt  des  Cylinders  eine  U-förmige  Eöhre  und  im  Anfang-  des  Gummi- 
schlauches  einen  Wattepfropf  angebraclit.  Eine  genaue  Dosirung  des  Chloroforragehalts 
(zwischen  10  und  17  Grm.  Chloroform  auf  100  Liter  Luft)  ermöglicht  die  Modification  des 
(/;mÄ;er'schen  Apparats  nach  Kappeier. 

Die  Narkose  tritt  ziemlich  langsam  ein;  völlig-e  Unempfindlielikeit 
des  Kranken  wird  erst  nach  8 — 10  Minuten  erreicht.  Der  Apparat 
eignet  sich  daher  mehr  für  Hospitäler  als  die  Privatpraxis. 

Der  Kranke  soll  im  Beginn  der  Narkose  tief  und  langsam  athmen. 
Am  besten  zählt  er  laut  und  langsam.  Bei  der  Zahl  30  oft  schon,  bei  resi- 
stenten Männern  oft  erst  jenseits  200  wird  das  Zählen  unregelmässig;  auf 

Fig. 148. 


Zureden  wird  noch  etwas  weitergezählt  und  dann  verwirren  sich  die 
bedanken.  Die  meisten  Kranken  gelangen  nun  aus  diesem  Stadium 
prodrnniorom  in  das  zweite  Stadium,  das  der  Aufregung  (Kx- 
citation),  des  Rausches.  Bei  dem  Einen  kommt  es  zu  melancholischen 
Rührsccnen,  l)ei  dem  Anderen  zu  den  gewaltthätigsten  Raufereien.  Bei 
Kindern,  Frauen  und  ruhigen,  festen  Männern  fällt  das  Stadium  der 
Erregung  oft  ganz  weg  und  sie  verfallen  ohne  sichtbare  Erregung  in 
das  dritte  Stadium,  das  der  Unempfindlielikeit  fToleranz).  Die 
Bewegungen  werden  matter,  die  Augen  schielen  und  schlicssen  sich. 
die  Gesichtszüge  werden  schlaif,  die  Athmnng  ruliig,  man  hat  das  Bild 


234  ni.  Capitel.   —   Vcrlutzuiigou. 

ruliigen  Schlafes.  Hebt  man  den  Arm  auf,  so  sinkt  er  wie  bei  einem 
Todten  schlaft"  und  klatschend  auf  die  Unterlage,  die  .Sensibilität  ist 
erloschen,  die  (Operation  kann  beginnen. 

Parallel  diesen  grob  wahrnehmbaren  Vorgängen  laufen  eine  Reihe 
anderer  Erscheinungen ,  deren  genaue  Beobachtung  dringend  nothwendig 
ist.  —  Die  Veränderungen  an  dem  Circulationsapparat  sind  am  Pulse 
wahrnehmbar.  Im  ersten  und  zweiten  Stadium  wird  der  Puls,  der  zu- 
nehmenden Aufregung  entsprechend,  frequenter  und  dabei  hart  und 
gespannt,  er  steigt  von  70  auf  95,  100  und  mehr.  Mit  dem  Eintritt 
in  das  dritte  Stadium  wird  er  langsamer,  langsamer  als  zuvor,  sinkt 
auf  60  und  ist  dabei  voll  und  weich.  So  lange  nicht  der  Puls  selten 
und  weich  geworden,  ist  auch  die  Anästhesie  nicht  da.  Die  Puls- 
verlangsamung  ist  nach  meinen  Erfahrungen  das  untrüglichste  Zeichen, 
dass  die  Operation  beginnen  kann,  sicherer  als  die  Prüfungen  der 
Sensibilität.  —  Der  Blutdruck  sinkt  bis  zu  40,  selbst  30%  (bei  gesunden 
Thieren). 

Die  Aenderungen  der  Athmung  laufen  denen  des  Pulses  so  ziemlich 
parallel.  Auf  die  stürmische  Action  der  Athmung  des  zweiten  Stadiums 
folgt  die  ruhige,  tiefe,  oft  schnarchende  Athemweise  des  Schlafes.  — 
Die  Körpertemperatur  sinkt  um  02 — 1-2°. 

Sehr  wichtig  ist  das  Verhalten  der  Augen,  namentlich  der  Pupillen. 
Zuerst  löst  sich  die  normale  Association  der  Augen,  es  tritt  Schielen 
auf.  Die  Pupillen  erweitern  sich  unter  der  Einwirkung  der  mächtigen 
Reize  des  Erregungsstadiums ,  um  sich  im  dritten  Stadium  zu  verengen, 
wie  im  Schlafe:;  sie  werden  enger,  als  sie  vorher  im  Wachen  waren. 
Dabei  wird  die  Pupille  gegen  Licht  unempfindlich  und  lässt  sich 
schliesslich  auch  durch  starke  Hautreize,  Kneipen,  Stechen  u.  s.  f. 
nicht  mehr  beeinflussen.  Dies  ist  die  richtige  Zeit  für  Operationen. 
Erweitert  sich  die  Pupille  jetzt  wieder,  ohne  dass  der  Kranke  anfängt 
zu  reagiren,  z.  B.  zu  erbrechen,  zu  erwachen,  so  ist  dies  ein  äusserst 
bedenkliches  Zeichen,  es  ist  die  Erweiterung  der  Agone,  des  Todes.  — 
Das  Verhalten  der  Pupille  ist  neben  dem  des  Pulses  das  Wichtigste 
zur  Beurtheilung  der  Narkose.  Man  muss  daher  stets  mitunter  nach 
der  Pupille  sehen. 

Die  Sensibilität  erlischt  zunächst  am  Rücken  und  den  Extremi- 
täten ,  dann  am  Unterleib  ,  zuletzt  im  Gesichte.  Am  längsten  bleiben 
Conjunctiva  und  Cornea  empfindlich.  Das  Stadium,  wo  diese  nicht  mehr 
reagiren,  d.  h.  bei  zarter  Berührung  der  Conjunctiva  ein  reflectorischer 
Lidschluss  nicht  mehr  eintritt,  ist  das  gewünschte. 

Seitens  der  Verdau ungs-  und  Harnorgaue  sollen  während 
einer  normalen  Narkose  keinerlei  Erscheinungen  sich  bemerkbar  machen, 
doch  zeigen  sieh  oft  die  Schliessmuskeln   insufficient. 

Chloroform  lässt  die  rothen  Blutscheiben  aufquellen  und  schliesslich 
zerfallen.  Die  narkotisirende  Wirkung  desselben  beruht  wahrscheinlich 
auf  einer  unmittelbaren  Beeinflussung  der  nervösen  Centren  durch  das 
mit  Chloroform  geschwängerte  Blut  (ähnlich  wie  beim  Alkohol).  Nach 
Luther  soll  das  Chloroform  Lecithin  und  Cholestearin  lösen  und  Coagu- 
lationsnekrosen  machen  (daher  die  verfettende  Wirkung  des  Chloro- 
forms? s.  unten).  Nach  einer  kurzen  Erregung  tritt  Lähmung  ein,  und 
zwar  erliegen  der  Chloroform  Wirkung  zunächst  die  Grosshirnrinde, 
dann  die  grossen  Hirnganglien  und  schliesslich  —  bei  fortgesetzter  Zu- 


Chloroformwirkungeu.  Chloroformtod.  235 

fuhr  —  die  vasomotorisclien  und  Atlimung-scentren  der  Medulla  oblongata 
(Noeud  vital).  Kommt  es  so  weit,  so  ist  das  Leben  unmittelbar  bedroht.  — 
Die  Nervenfasern  vrerden  vom  Chloroform  nicht  beeinflusst. 

Die  Einwirkung  des  Chloroforms  auf  den  Organismus  ist  in  letzter 
Zeit  vielfach  studirt  Avordeu. 

Ob  der  Chloroformtod  auf  primärer  Herzlähmung  oder  primärer  Athemlähmung 
beruhe,  ist  nicht  endgiltig  entschieden.  Das  Hyderabad-Chloroformcomite  kam  zu  der 
Ansicht,  dass  das  Athmungscentrum  durch  directe  toxische  Wirkung  vor  dem  Herz 
gelähmt  werde,  während  JVood  u.  A.  für  primäre  Herzlähmung  eintreten.  In  der  Praxis 
sieht  man  häufiger  den  Puls  zuerst  verschwinden ,  während  die  Athmung  weiter  geht, 
doch  habe  ich  auch  (besonders  bei  Morphium-Chlorofonnnarkosen)  die  Athmung  zuerst 
aufhören  sehen,  Avährend  der  Puls  zunächst  ungestört  war. 

Den  Chloroformtod  hat  man  in  verschiedener  "Weise  zu  begründen  versucht.  Da 
die  Hälfte  aller  Chloroform-Todesfälle  vor  erzielter  Anästhesie  eingetreten  ist  (Dumont), 
wird  man  für  diese  Fälle  eine  vom  Trigeminusgebiet  (Nase)  reflectorisch  auf  den  Vagus 
übertragene  Reizung  des  Vaguscentrums  annehmen. 

Für  die  Spätformen  hätte  man  an  Vagnslähmung  (Dastre)  oder  primäre  Er- 
lahmung der  Herzgangiien  (Koch)  oder  primäre  Lähmung  des  Herzmuskels  (Frank) 
durch  das  chloroformgesättigte  Blut  zu  denken.  Das  Auftreten  von  Gasblasen  (Stickstoif) 
wird  von  Kuppeler  {Langenheck' s  Arch.,  35)  beschuldigt,  auch  Pirogoff  h&t  bei  dem 
lebensrettenden  Aderlass  gashaltiges  Blut  entleert.  Kundrai  (vergl.  Chir.  Centralbl.,  95,  22) 
beschuldigt  die  mit  Thymush^^perplasie,  Milz-  und  Lymphdrüsenschwellung  einhergehende 
„lymphatisch-chlorotische  Constitution"  als  Ursache  des  Chloroformtodes,  nicht  etwaige 
technische  Fehler. 

Neben  den  toxischen  Früh  Wirkungen  sind  Spät  Wirkungen  des  Chloro- 
forms zu  beachten. 

Der  Hämoglobingehalt  des  Blutes  wird  durchschnittlich  um  8  Procent  herab- 
gesetzt. (Bierfreund,  Langenbeck's  Arch.,  41,  Minimum  am  Abend  des  Operationstages.) 

Die  Spätwirkungen  des  Chloroforms  sind  von  Unger,  Strasstnann  (Vir- 
chou-'s  Arch.,  115),  Ostertag  (Vh^chow's  Arch.,  118)  experimentell,  von  Fränkel,  Thiem, 
Fischer  n.  A.  am  Menschen  constatirt  worden. 

Dl  übereinstimmender  "Weise  fanden  sich  parenchymatöse ,  zum  Theil  fettige 
Degeneration  des  Herzmuskels ,  hochgradige  Nekrose  und  Verfettung  der  Nierenriude, 
Verfettung  der  Aorta  ascendens  und  fettige  Entartung  der  Mm.  recti  abdominis  (Fränkel, 
Virchoiv's  Arch.,  127). 

In  der  Praxis  machen  sich  die  Spätwirkungen  des  Chloroforms  beson- 
ders als  zunehmende,  nicht  zu  beseitigende  Herzschwäche  mit  ungünstigem  Ausgang 
am  2.-3.  Tag  post  operationem  oder  noch  später  geltend.  Z.  B.  36jährige  Frau  mit  Cysten 
des  Lig.  latum ,  Untersuchung  in  Narkose ,  von  der  ersten  Narkose  nicht  im  Mindesten 
angegi-ilfen ,  nach  48  Stunden  (wider  meinen  Rath)  Operation,  glatter  Verlauf,  am  fol- 
genden Tag  beginnende  Herzschwäche ,  Tod  trotz  aller  Stimulantien  70  Stunden  post 
operationem;  Section:  frische  fettige  Entartung  der  Herzmusculatur .  Verfettung  in  den 
Nieren.    Keine  Spur  von   Peritonitis.    Sie  war  Potatrix. 

Eine  andere  Form  des  SpätcoUapses :  Potator  strenuus;  Morphium  0'015  mit 
A tropin  ,  4  Grm.  Chloroform;  Eröffnung  und  Auslöffelung  eines  tuberculösen  Abscesses 
am  Halse.  Normales  Erwachen  aus  der  Narkose.  2  Stunden  später  starke  Cyanose  bei 
stark  gespannten  Puls;  Koma.  Trotz  O-Inhalationen  Exitus  7  Stunden  post  operationem. 
Hier  hätte  vielleicht  ein  Aderlass  Hilfe  gebracht. 

Vermieden  werden  die  Spätwirkungen  des  Chloroforms  durch  die  Regel 
zwischen  2  Narkosen  (besonders  bei  Potatoren)  mindestens  8  Tage  liegen  zu  lassen 
durch  möglichst  wenig  und  stets  frisches  Chloroform  und  durch  subcutane  Kochsalz 
Infusionen  (mindestens  öÜOCcm.)  am  Schlüsse  der  Narkose. 

Ausgeschieden  wii'd  das  Chloroform  etwa  zu  V.i  <lwi'ch  die  Lungen,  der  Rest 
durch  die  Nieren,  theils  unverändert,  theils  als  Chlorverbindungen. 

Von  weiteren  Folgen  der  Chloroformnarkose  sind  namentlich  Verände- 
rungen des  Urins  zu  beachten.  In  32  Procent  der  Chloroformnarkose  findet  sich 
Albuminurie,  in  25  Procent  der  Aethernarkosen  ebenso;  Cylindrurie  findet  sich  bei 
beiden  gleich  liäufig  (Eismdralit ,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir. ,  Bd.  XL).  Chloroform  ist 
für  die  Niere  gefährlicher  als  Aether  (V).  In  zwei  Drittel  der  Chlnroformnarkosen  sah  man 
Acetonurie,  besonders  bei  Diabetes  (Becker.  Chir.  Centralbl.,  94,  38);  auch  Acetessig- 
säure,  Zucker ,  ferner  Kreatinin ,  Nuciooalbumin  (Friedlündcr)  sind  als  Zeichen  eines 
starken  Eiweisszerfalles  gefunden  worden.  (Vergl.  Nac]iod,  Langenbeck's  Arch.,  51.  Lit.) 
Die  Albuminurie  tritt  seltener  auf,  wenn  man  nach  längeren  Narkosen  regelmässige 
Kochsalzinfusion  macht  (eigene  Erfahrung). 


236 


III.  Caijitel.   —  Verletzungen. 


Das  Vorkommen  von  Gehirnblutungen  n'dch.  Narkosen  HSesfiel-JIayen,  SenyerJ 
ist  leicht  verständlich. 

Die  Narkosenlähmungen,  periphere  Lähmungen  der  Arme,  besonders  des 
N.  axillaris,  entstehen  durch  starke  Elevation  des  Armes  und  den  Druck  der  Tischkante. 
Sie  heilen  meist  in  3 — 4  Monaten  (u.  A.  Büdinger,  iMnyenheck's  Arcli.,  41). 

Chlorofoi'm  zersetzt  sich  mit  Leuchtgas  in  Cl,  CIH  etc.  and  macht  Asphyxie 
(2  eigene  Fälle)  und  Pneumonien  (?),  daher  soll  man  womöglich  nicht  bei  Gaslicht  und 
Gasheizung  chloroformiren. 

Dies  ist  der  normale  Verlauf  einer  Chloroformnarkose.  Nur  zu 
häufig  hat  man  mit  Störungen  der  Narkose,  leichter  oder  schwerer 
Art,    selbst  der  Gefahr  des  Todes  zu  kämpfen. 

Am  häufigsten  sind  die  Störungen  der  Athmung.  Vom  Ver- 
schluss der  Stimmritze  durch  fremde  Körper  haben  wir  schon  ge- 
redet.    Doch    sind  Kehlkopfeingang   und  Stimmritze    noch    anderweitig 

bedroht.  Mit  dem  Eintreten  der  Muskel- 
lähmung sinkt  bisweilen  die  sonst  von  den 
Mm.  geniohyoideus  und  genioglossus  nach 
vorn  gehaltene  Zunge  zurück  und  drückt 


Fig.  150. 


die  Epiglottis  über  den  Kehlkopfeiogaug. 
Der  Kranke  fängt  an,  „leer  zu  athmen",  die 
Athcmbewegungen  am  Bauche  oder  Thorax 
dauern  fort,  es  tritt  aber  keine  Luft  ein ;  das 
Geräusch,  mit  dem  die  Luft  Nase  und  Mund  durchströmt,  fehlt.  Diese  Ver- 
änderung des  Athemgeräusches  muss  sofort,  gewissermassen  instinctiv 
dem  Operateur  zum  Bewusstsein  kommen.  Der  Kehlkopfeingang  muss 
frei  gemacht  werden.  Man  kann  die  Kiefer  entfernen ,  am  besten  mit 
der  i?o.ser'schcn  Kieferzange  (Fig.  149),  einer  Kornzange  u.  dergl.  Zum 
Aufbrechen  des  Mundes  dienen  die  Mundspiegel  (Mundsperrer),  die 
zwischen  die  Seitenäste  des  Unterkiefers  eingeführt  werden  (Fig.  150. 
Mundspiegel  von  Heister).  Dann  zieht  man  die  Zunge  mit  der 
Kornzange  oder  der  gefensterten  Zungenzange  hervor  (Fig.  151).  Dies 
Verfahren  ist  in  schweren  Fällen  nothwendig,  immerhin  hat  es  auch 
seine  Nachtheile,  die  Zunge  wird  gequetscht  und  der  Kehlkopf- 
eingang nicht    so    gilt  frei   gemacht  (Kappelcr)   wie   bei    dem    zweiten 


Behandlung  der  AthnuinKSstörungen. 


237 


Verfahren,  dem  Lüften  des  Unterkiefers,  dem  sogenannten  eng- 
lischen Handgriff  (Fig.  152) ,  um  dessen  Verbreitung  in  Deutschland 
sich  namentlich  Esmarch  verdient  gemacht  hat.  Der  Unterkiefer  ist 
horizontal  nach  vorn,  mit  den  Condylen  auf  die  Tubercula  articularia 
zu  schieben  —  eine  Art  von  Subluxation  nach  vorn.  Man  hakt 
den  hinteren  Rand  des  aufsteigenden  Astes  mit  den  Daumen  an, 
während  der  Körper  auf  den  übrigen  Fingern  ruht  und  schiebt  so  den 
Unterkiefer  nach  vorne.  Zum  Erhalten  in  dieser  Lage  genügen  je  ein 
Finger  hinter  den  Unterkiefervvinkel  gehakt.  Meist  wird   der  Kehlkopf- 

Fig.  151. 


eingang  sofort  frei  und  es  tritt  tiefe,  ruhige  Athmung  ein.  Fig.  153 
gibt  das  Lüften  des  Unterkiefers  nach  Kappeier.  —  Auch  der  Zungen- 
halter von  Glitsch  (Fig.  154)  ist  zweckmässig ,  die  Gummipelotte  kommt 
hinter  die  unteren  Schneidezähne,  die  horizontale  Spange  aussen  auf 
den  Unterkiefer.  An  dem  Reif  lassen  sich  Zunge  und  Unterkiefer  zu- 
sammen  vorziehen. 

Das  Verfahren  von  Howard  (Hochlegen  des  Thorax ,  starkes  Zurückbiegen  des 
Kopfes),  wobei  die  Zunge  sich  von  der  Pharjaixwand  entfernt  und  der  Kehlkopfeingang 
frei  wild,  ist  weniger  sicher. 

Fig.  152. 


Die  Kieferklemrae  l(3st  man,  indem  man  mit  dem  Zeige- 
finger hinter  dem  letzten  Backenzahn  eingeht  und  den  Unterkiefer  ab- 
hebelt (Hüter).,  oder  einen  Mundsperrer  einführt.  Oder  man  sticht  ein 
.spitzes  Häkchen  vom  Halse  aus  hinter  die  Mitte  des  Zungenbeines  ein 
und  zieht  dieses  und  damit  Zunge  und  Ei)igIottis  nach  vorn  (Kappehr). 

Die  Stimmritze  selbst  kann  im  Laufe  der  Karkose  verschlossen 
werden  durch  Krampf  der  Vereugerer  oder  Lähmung  der  Erweiterer.  Der 
krampfhafte  (rlottisverschluss  gehijrt  den  früheren  Stadien  der 
Narkose  an,  er  ist  ein  refiectorischer,  durch  den  Reiz  der  (wohl  zu  con- 
centrirt   gegebenen)   Chloroformdämpfe    auf  die   Trigeminusäste    ausge- 


2;38 


Ur.  Cajjitel.  —   Verletzungen. 


löst.  Er  kann  schon  bei  den  ersten  Atliernzügen  sich  einstellen  und 
ist  häufig  mit  Krampf  der  Inspirationsmuskeln  verknüpft. 
Der  Thorax  steht  dann  in  Inspirationsstellung-  fest,  häufig  ist  auch 
Trismus  vorhanden.  Die  Athmung  hört  auf,  der  Kranke  wird  hlau. 
Die  Situation  ist  eine  unangenehme.  Der  Trismus  hindert  das  Vor- 
schieben des  Kiefers  oder  der  Zunge;  der  in  Inspirationsstellung 
starre  Thorax  lässt  sich  durch  künstliche  Athmung  nicht  verkleinern. 
Von  den  Kranken,  die  ich  in  diesem  Zustand  gesehen,  ist  jedoch  keiner 

Fig.  153. 


gestorben;  nach  einer  bis  zwei  peinlichen  Minuten,  mit  dem  Eintreten 
der  Kohlensäure-Intoxication  Hess  die  Spannung  nach,  die  Starre  schien 
sich  im  Tode  zu  lösen  und  jetzt  ward  die  künstliche  Athmung  wirksam: 

in    wenigen    Minuten    war    die 
^'s-iüi-  Schwierigkeit    beseitigt.      Doch 

sollen  Kranke    auch    in    dieser 
Weise  zu  Grunde  gegangen  sein. 
Die  andere  Form  des  Glot- 
tisverschlusses, durch  Läh- 
mung der  Erweiterer,  gehört 
dem   paralytischen  Stadium  an. 
Diese  Störung   ist  anzunehmen, 
wenn  im  Stadium  der  Toleranz 
trotz   Lüften    des    Unterkiefers, 
Vorziehen  der  Zunge  und  künst- 
licher  Athmung    ein   nachweisbarer    genügender   Luftwechsel    nicht    zu 
erzielen   ist.     Neben  dem    Versuch    der  Katheterisation  des  Larynx  ist 
allein  wirksam  der  Luftröhrenschnitt. 

Kaum  minder  wichtig,  doch  vielleicht  etwas  weniger  häufig  sind 
die  Gefahren,  die  dem  Chloroforrairten  seitens  der  Circulations- 
organe  drohen.  Die  Kranken  sterben  unter  den  Erscheinungen  plötz- 
licher Herzlähmung,  deren  Ursachen  verschieden  sein  können,  auch 
nicht  hinlänglich  gekannt  sind.    Die  Herzlähmung  kann  in  jedem 


Herzlähmung  bei  Chloroformnarkose.  2o9 

Stadium  der  Narkose  eintreten.  Nach  den  ersten  Athemzüg-en  kann 
der  Puls  verschwinden,  der  Kranke  sinkt  zurück  und  ist  todt.  Man  denkt 
in  solchen  Fällen  an  einen  von  den  Trigeminusästen  reflec torisch 
erregten  Herzstillstand  (durch  Vagusreizung).  Von  diesem 
Gedanken  geleitet,  hat  Bosenherf/  vorgeschlagen,  vor  Beginn  der  Narkose 
die  Nasenschleimhaut  mit  10%  Cocainlösnng  zu  bepinseln  oder  mit 
dem  Zerstäuber  zu  besprühen ,  unempfindlich  zu  machen  und  so  die 
Reflexe  auszuschalten.  De  Sanctls  klemmt  die  Nase  mit  einem  Nasen- 
quetscher  zu,  um  die  Nasenathmung  auszuschalten  (?).  Tritt  der  Herz- 
stillstand in  den  späteren  Stadien  der  Narkose  ein,  so  bleibt  kaum 
eine  andere  Annahme,  als  dass  der  Kranke  relativ  oder  absolut  zu  viel 
Chloroform  bekommen.  Fast  immer  handelt  es  sich  um  Erkrankungen 
des  Herzmuskels,  fettige  Entartung,  Fettherz,  Arterienatherom ;  ganz 
besonders  gefährdet  sind  Trinker. 

Es  ist  nicht  nur  die  Blutdrucksenkung  überhaupt  —  bei  Blutung,  Chlorofor- 
mii'ung  u.  a.  dergl.  — ,  die  der  Circulation  Gefässkranker  so  gefährlich  ist  und  das 
schlechter  ernährte  Herz  sofort  erlahmen  lässt  (s.  pag.  119),  sondern  auch  die  directe 
Schädigung  des  Herzmuskels  durch  das  chloroformgesättigte  Blut  ('Frank)  oder  eine 
primäre  Erlahmung  der  Herzganglien  (Kocli).  Siehe  auch  pag.  235. 

Droht  bei  einem  Gesunden  Gefahr  bei  der  Narkose,  wird  der 
Puls  unregelmässig  oder  verschwindet  er  und  setzt  die  Athmung  aus, 
so  hat  sicher  der  Chloroformeur  einen  Fehler  gemacht;  er  hat  zu  viel 
Chloroform  gegeben ;  er  hat  den  Kranken  über  das  Stadium  der  Toleranz 
hinaus  bis  zu  dem  der  Paralyse  betäubt. 

Die  Untersuchungen  des  englischen  Chloroformcomites  haben  ergeben ,  dass  die 
grösste  Gefahr  zu  suchen  ist  in  zu  hoher  Concentration  der  Chloroformdämpfe.  Thiere, 
die  in  3— 4  Procent  Chloroformdampf  haltender  Luft  mehrere  Stunden  ohne  sichtbaren 
Schaden  zubrachten ,  starben  in  wenigen  Minuten  bei  8  Procent  Chloroform  in  der 
Athmungsluft. 

Die  Erscheinungen  der  Herzlä Innung  sind  sehr  charakteri- 
stisch. Während  die  Athmung  weitergeht,  verfällt  das  Gesicht  plötzlich, 
der  Kranke  sieht  aus  wie  eine  Leiche.     Der  Puls  ist  weg. 

Einmal  wollte  ich  bei  einer  Amputatio  mammae  an  einem  kräftigen,  19jährigen 
Bauernmädchen  eine  spritzende  Arterie  fassen ,  plötzlich  verschwand  der  Strahl  ;  ich 
sehe  nach  dem  Gesicht,  es  ist  das  Gesicht  einer  Todten,  der  Puls  ist  weg.  Der  Chloro- 
formeur hielt  ruhig  seine  Maske  über  das  Gesicht,  goss  Chloroform  auf  und  merkte 
nichts.  Es  handelte  sich  um  eine  reine  Chloroformvergiftung  bei  einer  durchaus  ge- 
sunden Person.  Künstliche  Athmung,  durch  ^/^  Stunden  fortgesetzt,  brachte  die  Kranke 
wieder  zum  Leben.  Durch  niehrere  Minuten  war  eine  hör-  oder  sichtbare  Herzaction 
nicht  vorhanden.  Als  später  der  Puls  wiederkehrte ,  dauerte  es  noch  über  eine  halbe 
Stunde,  bis  die  Athmung  sich  wieder  herstellte  und  die  künstliche  Respiration  entbehrt 
werden  konnte. 

Diese  Schilderung  der  Unglücksfälle  beim  Chloroform  wird  zu- 
nächst ziemlich  unheimlich  klingen ,  und  es  wird  namentlich  schwer 
erscheinen,  in  dem  Momente,  wo  das  Unglück  entdeckt  wird,  auch 
sofort  die  Natur  der  Störung  zu  erkennen  und  darnach  zu  handeln. 
In  der  Praxis  macht  es  sich  jedoch  nicht  ganz  so  schwierig. 

Das  Erste,  worauf  man  zu  achten  hat,  ist,  ob  die  Luft  einstreicht, 
man  lässt  den  Unterkiefer  lüften  oder  zieht  die  Zunge  vor  (s.  oben),  ein 
Griff  in  den  Mund  zeigt,  dass  nicht  etwa  ein  vergessenes  künstliches 
Gebiss  auf  dem  Kchlkopfeingang  liegt.  Nun  wird  die  künstliche  Ath- 
mung eingeleitet.  Dies  ist  das  beste  Mittel,  sowohl  die  nntcrbrocliene 
Athmung,  als  die  erloschene  Circulation  wieder  in  Gang  zu  bringen. 
Streicht  keine  Luft  ein  bei  gut  ausgeführter  künstlicher  Athmung,  dann 


240 


in.  Capitel.  —  Verletzungen. 


ist  der  Luftrölirenschnitt  —  in  einem  Zug  —  geboten.  Die  Anwendung 
von  Excitanticn  ist  bei  eingetretener  Herzlälimung  von  sebr  zweifel- 
haftem Wertb.  Als  Propbylacticum  bei  drohender  .Synkope,  wenn  nament- 
lich gegen  das  Ende  langdauernder  und  blutiger  Operationen  der  Puls 
anfängt  schwach  und  unregelniässig  zu  werden,  sind  dagegen  subcutane 


Fig.  ]  65«. 


Einspritzungen  von  Aether  oder  Campher  (Solut.  Camphor.  oleos.  1  :  4) 
und  subcutane  Kochsalzinfusion  äusserst  zweckmässig  zur  Erhaltung 
der  Kräfte. 

Künstliche  Respiration  kann  in  verschiedener  Weise  aus- 
geführt werden.  Die  beste  Methode  ist  meiner  Ansicht  nach  die  von 
Silvester.  Man  stellt  sich  an  das  Kopfende  des  Bettes  hinter  den  Kranken, 

Fjg  155  0 


fasst  die  Arme  an  den  Ellbogen  und  hebt  sie  über  den  Kopf  —  Inspiration 
(Fig.  155  a) ;  legt  sie  dann  nach  der  Brust  zurück,  so  dass  die  Vorder- 
arme auf  die  Seiten  der  Brust  fallen  und  drückt  mit  denselben  noch 
die  unteren  Thoraxpartien  nieder  —  Exspiration  (Fig.  155  b).  Ein  nicht 
zu  starker  Druck  auf  den  Unterleib,  von  unten  nach  oben  schiebt  zu- 
gleich   das   Zwerchfell    in    die  Höhe    und   treibt   das   venöse    Blut    des 


Chlorofornitod.  —  Künstliche  Athmung,  241 

Unterleibes  iu's  rechte  Herz.  —  Es  lasseu  sich  so  äusserst  kräftige  Piimp- 
bewegungen  ausführen.  Bei  Luftröhrenschnitten  wegen  Diphtheritis 
konnte  ich  oft  die  Schleimpfröpfe  aus  der  Luftröhre  meterhoch  heraus- 
werfen.   Man  kann  dabei  das  untere  Tischende  hochstellen. 

Die  einfache  rhythmische  Compression  der  unteren  Thoraxpartien 
mit  den  Händen  —  man  kniet  sich  dabei  neben  oder  über  den  Schein- 
todten  auf  das  Operationsbett  —  gibt  nicht  so  ausgiebigen  Luftwechsel; 
dabei  sind  auch  Eippenbrüche  vorgekommen.  Noch  weniger  Effect  gibt 
das  Verfahren  von  MarshaU  Hall.  Bei  vorgezogener  Zunge  wird  der 
Kranke  abwechselnd  auf  den  Bauch  (Exspiration)  und  auf  den  Rücken 
(Inspiration)  um  seine  Längsachse  gewälzt.  Von  SchüUer  ist  angegeben, 
die  Rippenbogen  beiderseits  mit  den  Händen  anzuhaken  und  nach 
auswärts  zu  ziehen  (Einathmung).  Darauf  werden  sie  wieder  nieder- 
gepresst.  Der  Bauch  muss  durch  Beugung  in  den  Hüftgelenken  schlaff 
sein.  Alle  diese  Proceduren  werden  circa  lömal  per  Minute  wiederholt. 
Die  künstliche  Athmung  muss  lange,  eine  halbe  bis  eine  ganze  Stunde 
fortgesetzt  werden.  Gerade  in  den  Fällen,  wo  man  sich  die  schwersten 
Vorwürfe  zu  machen  hat,  bei  Verabreichung  von  zu  viel  Chloroform, 
wird  man  oft  noch  spät  durch  den  Erfolg  belohnt  (s.  oben). 

/u-«.sZ;e  (Langeubeck's  Arch.,  36)  hat  durch  künstliche  xühmung  mit 
Compression  des  Bauches  durch  einen  Gehilfen  den  Kreislauf  sich  rein 
mechanisch  wieder  herstellen  sehen  (Röthung  des  Gesichts ,  der  Lippen), 
ohne  dass  das  Leben  wiederkehrte.  Maas  empfahl  stossweise  Massage 
der  Herzgegend  (120  kurze  Stösse  gegsn  die  Herzgegend  in  der  Minute). 

Entschieden  zweckmässig  zur  Wiederbelebung  sind  die  rhyth- 
mischen Tractionen  der  Zunge  nach  Lahorde.  Etwa  lömal  in  der 
Minute  zieht  man  die  Zunge  (mit  Fingern  oder  Zungenzange)  langsam 
aber  kräftig  soweit  als  möglich  vor  und  lässt  sie  wieder  zurücktreten. 
Sobald  man  Widerstand  fühlt ,  folgen  reflectorisch  ausgelöste  Athemzüge. 

Die  Faradisation  der  Nn.  phrenici  —  die  Elektroden  werden 
beiderseits  am  Halse  am  unteren  Ende  der  Mm.  scaleni  aufgesetzt  und 
so  durch  die  Reizung  des  Zwerchfells  eine  Art  künstlicher  Athmung 
erzielt  —  hat  auch  eine  Anzahl  Erfolge  aufzuweisen. 

Das  Ein  blasen  von  Luft  mit  oder  ohne  Larynxkatheter  oder 
Tracheotomie ,  neuerdings  wieder  von  Frank  empfohlen,  gibt  wenig 
Nutzen.  Direct  verwerflich  ist  die  Acu-  und  Elektropunctur  des  Herzens. 
Kneten  und  Frottiren  des  Körpers  (Massage)  wirkt  einigermasseu  unter- 
stützend. In  einigen  Fällen  soll  auch  durch  Inversion,  Lagerung  mit 
dem  Kopf  zu  tiefst.  Erfolg  erzielt  worden  sein. 

Für  die  Bekämpfung  des  drohenden  Chloroformtodes  steht 
die  künstliche  Athmung  in  erster  Linie,  womit  man  am  besten  Sauer- 
stoffeinathmungen  (Prochoivnik)  verbindet.  Neben  subcutanen  Aether- 
injectionen  kann  —  besonders  bei  gespanntem  Puls  oder  wo  nach- 
weisbar zu  viel  Chloroform  gegeben  wurde,  ein  depletorischer  Aderlass 
(von  circa  3U0 — 500  Ccm.  Bhit)  und  eine  intravenöse  Kochsalzinfusion 
(800— 1000  Ccra.)  in  Frage  kommen  {Hein,  Chir.  Centralbl.  95,  17). 
Man  könnte  hiezu ,  um  die  künstliche  Athmung  nicht  zu  stören ,  auch 
die  V.  saphena  am  Oberschenkel  wählen. 

Viel  Störungen  macht  das  Erbrechen.  Es  fehlt  meist  bei  Solchen, 
die  vor  der  Operation  nichts  genossen;  höchstens  stellen  sich  hier 
unschädliche  Würgebewegungen  ein.  Sehr  fatal   kann  es  werden,  wenn 

Landeror,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Thcra[iio.  2.  Aiill.  Jg 


242  11^-  Cajjite].  —  Verletzungen. 

der  Magen  überfüllt  ist.  Die  Speisen  regurgitiren  in  den  Kachen  und 
laufen  dann  der  Schwere  nach  in  die  Luftwege  oder  werden  durch 
eine  Inspiration  angesaugt.  Sofortige,  selbst  durch  Tracheotornie  und 
Ausräumung  der  Luftröhre  meist  nicht  mehr  zu  beseitigende  Erstickung 
ist  die  Folge.  Im  günstigsten  Falle  kommt  der  Kranke  mit  einer  Fremd- 
körperpneumonie  davon.  —  Um  dieses  üble  Ereigniss  zu  vermeiden, 
muss  man  bei  der  ersten  Brechbewegung  den  Kopf  über  den  Rand  des 
Operationsbettes  seitlich  herabhängen.  Der  Larynxeingang  wird  dadurch 
hoch  gestellt,  die  Speisen  laufen  neben  ihm  durch  den  xMund  al).  Ehe 
man  den  Kopf  wieder  hoch  legt .  wird  Mund  und  Rachen  mit  einem 
Tuche  ausgewischt.  Das  Erbrechen  erfolgt  selten  in  tiefer  Narkose, 
entweder  vor  dem  Eintreten  der  Toleranz  oder  es  geht  dem  Erwachen 
des  Kranken  vorher.  Es  ist  fast  immer  ein  Fehler  des  Chloroformeurs  5 
wird  in  ruhiger,  gleichmässiger  Weise  die  nöthige  Menge  Chloroform 
fortgegeben ,  so  kommt  es  fast  nie  zum  Erbrechen ,  wohl  aber ,  wenn 
die  Verabreichung  von  Chloroform  zeitweilig  unterbrochen  wird.  Haben 
die  Würgebewegungen  aufgehört  und  ist  der  Mund  rein,  so  gibt  man 
Chloroform  weiter.  —  Wo  immer  möglich,  ist  nur  bei  leerem  Magen 
zu  narkotisiren. 

Manche  Narkosen  werden  durch  heftige  Aufregungszustände 
charakterisirt.  Besonders  arten  die  Narkosen  der  Trinker  oft  in  wilde 
Raufereien  des  Patienten  mit  seiner  Umgebung  aus.  Hier  gilt  es  ruhig 
weiter  zu  chloroformiren.  Der  Arzt,  der  seine  Leute  kennt,  weiss  dem 
vorzubeugen ,  indem  er  der  Chloroformirung  eine  genügende  subcutane 
Morphiuminjection  (0'03)  mit  Atropin  (s.  unten)  vorausschickt. 

Ist  die  Operation  beendet,  so  ist  sofort  das  Chloroform  wegzulassen. 

Die  mittlere  Dosis  Chloroforms  ist  bei  mir  bei  Operationen  unter 
einer  halben  Stunde  4 — 8  Grm.,  über  dem  12—15  Grm.,  selbst  bei  P/g 
bis  2stündigen  Operationen  brauche  ich  selten  über  25  Grm. 

Erwacht  der  Ki'anke ,  so  erweitern  sich  die  Pupillen  langsam, 
selten  plötzlich.  Der  Puls  wird  häufiger,  ebenso  die  Athmung:  es  kehren 
die  Reflexbewegungen  zurück  und  schliesslich  das  Bew^usstsein,  anfangs 
unklar  und  ohne  Erinnerung  des  Geschehenen.  Manche  Kranke  erwachen 
sofort,  andere  erst  nach  einer  halben  Stunde  oder  später. 

Die  Folgen  der  Narkose  sind  verschieden-  je  glatter  und 
ruhiger  dieselbe  verläuft,  je  weniger  Chloroform  verbraucht  wurde,  um 
so  geringfügiger  sind  sie.  Kinder  schlafen  meist  rasch  wieder  ein  und 
nach  einem  mehrstündigen  Schlaf  erwachen  sie  munter  und  mit  gutem 
Appetit.  Erwachsene  pflegen  selten  dem  Chloroform-,, Katzenjammer" 
zu  entgehen.  Den  meisten  ist  es  wüst  im  Magen  oder  im  Kopf,  Er- 
brechen, Abgeschlagenheit,  Kopfschmerzen,  heftiger  Durst  u.  s.  f.  nehmen 
den  Rest  des  Tages  ein.  Mit  dem  Eintreten  eines  guten  Schlafes  ])flegen 
auch  hier  die  Erscheinungen  nachzulassen  oder  zu  verschwinden.  Manche 
Kranke ,  besonders  Damen  besserer  Stände ,  habe  ich  dagegen  zwei, 
selbst   drei   volle  Tage    in  jämmerlichem    Zustande    hinbringen    sehen. 

Die  Therapie  dieser  Zustände  sei  im  Wesentlichen  eine  zuwartende. 
Werden  dem  Kranken  viel,  namentlich  feste  Speisen  gereicht,  so 
bricht  er  sie  aus  und  ist  nachher  schlechter  daran  als  vorher.  Das  Er- 
brechen wird  dadurch  oft  erst  hervorgerufen.  Kaltes  Selterswasser  mit 
oder  ohne  Coguac,  gut  gekühlter  herber  Sect,  Thee,  schwarzer  Katfee, 
Cilronenwasser  werden  meist  am  besten  ertragen,  daran  schliesst  sich 


Folgen  der  Narkose.  —  Morphium-Chloroformnarkose.  243 

Bouillon  mit  Ei,  Thee  mit  Zwieback  oder  Cakes,  ein  Teller  Suppe  u.  s.  f. 
Geg-en  das  Erbrechen  werden  von  Warholm  Essigeinatbmungen  (vor 
Mund  und  Nase  gehaltene  Compressen)  empfohlen.  Auch  Sauerstotf- 
einathmungen   (Prochomiik)   mildern    die    üblen    Folgen    der   Narkose. 

Die  Kopfschmerzen  werden  durch  kalte  Compressen  oder  eine  Eisblase 
gelindert,  ebenso  das  Magenweh,  durch  langdauerndes  quälendes  Erbrechen 
hervorgerufen.  Eine  kleine  Morphiuminjection  thut  oft  gute  Dienste. 

Grossen  Vortheil  gewährt  für  viele  Fälle  die  Verbindung-  der 
Chloroformnarkose  mit  einer  Morphiuminjection;  diese  Morphium- 
Chloroformnarkose  ist  namentlich  am  Platze  bei  Leuten,  die  sehr 
viel  Chloroform  brauchen,  um  betäubt  zu  werden,  also  vor  Allem  bei 
Trinkern.  Für  Kinder  ist  die  Verabreichung  von  Morphium  nicht  zu- 
lässig; je  kleiner  sie  sind,  um  so  schlechter  ertragen  sie  es.  Ausserdem 
hat  man  es  bei  ihnen ,    sowie  bei  Frauen  nicht  nöthig. 

Bei  Potatoren  aber  gibt  man  vor  Beginn  des  Chloroformirens  eine 
volle  Spritze  (0'03)  Morphium  und  chloroformirt  dann  in  gewöhnlicher 
Weise  weiter.  Das  Excitationsstadium  wird  entschieden  abgekürzt  und 
gemildert  und  im  paralytischen  Stadium  kommt  man  oft  dann  mit  ganz 
wenig  Chloroform  aus  —  für  schwache  Herzen  ein  nicht  zu  unter- 
schätzender Vortheil.  Zweckmässig  fügt  man  dem  ]\lorphiuin  noch  etwas 
Atropin  zu,  das  bekanntlich  den  Blutdruck  stei.i;ert  und  dadurch 
den  gefährlichen  Wirkungen  des  Morphiums  und  Chloroforms  auf  das 
Herz  entgegenwirkt  (Morph,  mur.  10,  Atropin.  sulf.  001 — 0*15,  Aq. 
dest.  30'0;  eine  Spritze  subcutan).  Ich  habe  damit  noch  ruhigere  Nar- 
kosen bei  Trinkern  erzielt.' —  Meist  schliesst  sich  dann  unmittelbar  an 
tue  Narkose  ein  langer  Schlaf  an  und  auch  die  Nachweheu  sind  geringer. 
Auch  Oxyspartein  (003— 0'04)  hat  man  zu  diesem  Zweck  empfohlen. 

Einen  eigenthümlichen  Zustand  kann  man  bei  dieser  gemischten 
Narkose  mitunter  erreichen ,  leider  nicht  immer  und  mit  einer  solchen 
Sicherheit,  dass  man  sich  stets  darauf  verlassen  könnte;  dies  ist  der 
Zustand  völliger  Schmerzlosigkeit  bei  erhaltenem  Bewusstsein,  gewisser- 
massen  das  Ideal  der  Narkose.  Dieser  Zustand  ist  höchst  schätzbar, 
besonders  bei  Operationen  an  den  Luftwegen.  Ist  das  Bewusstsein 
geschwunden,  so  ist  hier  stets  die  Gefahr,  dass  Blut  unbemerkt  in  die 
Bronchien  läuft  und  die  Kranken  erstickt.  Man  hat  deslialb  entweder 
am  hängenden  Kopf  operirt  (Rose),  indem  man  den  Kopf  über  den 
Tischrand  hängen  Hess  oder  den  Kranken  schräg  legte,  den  Kopf  zu 
tiefst,  so  dass  der  Kehlkopf  hoch  liegt  und  das  Blut  durch  Mund  und 
Nase  abläuft.  Dabei  ist  aber  die  Blutung ,  wegen  der  venösen  Stauung, 
sehr  stark.  —  Oder  man  machte  vorher  den  Luftrühi-enschnitt  und 
chloroformirte  durch  die  Tamponcanüle  (Trcndelenburg),  oder  durch 
die  mit  Jodoformgaze  umwickelte  Canüle  von  Halm,  eine  mit  einem 
aufgeblasenen  Condom  oder  Kautschukschlauch  umgebene  Tracheai- 
röhre, die  die  Luftröhre  völlig  ausfüllt,  so  dass  nichts  neben  der 
Canüle  in  die  Luftröhre  fliessen  kann. 

Bei  der  gemischten  Morphium  -  Chloroformnarkose  jedoch  fühlt 
der  Kranke  Alles  genau ,  hustet  und  spuckt  das  Blut  wieder  aus, 
besonders  wenn  er  von  Zeit  zu  Zeit  dazu  aufgei'ordert  wird.  Diesen  Zu- 
stand erreicht  man  am  besten  in  folgender  Weise.  Der  Kranke  bekommt 
seine  Spritze  Morphium  und  wird  nun  „anchloroformirt".  d.  h.  er  be- 
kommt Chloroform,  jedoch  etwas  weniger,  als  bei  einer  gewöhnlichen 

16* 


244  I^^-  *^'yp't'j'-    —    Vi;l'li;tzimKv;li. 

Narkose.  Nach  etwa  fünf  Minuten  ist  die  Wirkung-  der  .Morpliinui- 
injection  eine  vollständige  und  der  Kranke  befindet  sieh  nun  unter  der 
gemeinsamen  Wirkung  des  Chloroforms  und  Morphiums,  meist  in  einem 
Zustand  leichter,  jedoch  nicht  gewaltthäliger  Erregung.  Würde  mau 
nun  gleichmässig  weiter  chloroformiren ,  so  bekäme  man  eine  gewöhn- 
liche vollständige  Narkose.  Der  Kranke  muss  jedoch  wach  erhalten 
werden  durch  Anrufen ,  Aufforderung  zum  Munterbleiljen  oder  man 
beginnt  mit  ihm  eine  Unterredung.  Dann  prüft  man  die  Schnierz- 
empfindlichkeit ;  ist  sie  hinlänglich  herabgesetzt,  so  kann  man  beginnen. 
Man  kann  unter  Umständen  ein  grosses  Unterlippencarcinom  mit  nach- 
folgender Plastik  operiren  oder  einen  Oberkiefer  reseciren ,  während 
man  sich  mit  dem  Kranken  unterhält,  ihn  ausspucken  und  aushusten 
lassen  nach  Belieben.  —  Gelangt  er  nicht  in  diesen  Zustand  der  Analgesie, 
so  wird  eben  in  gewöhnlicher  Weise  narkotisirt  und  man  ist  auch  nicht 
schlimmer  daran  als  vorher. 

Bei  der  MorpMum-Chloroformnarkose  beobaclitet  man  oft  eine  eigenthümliche 
Veränderung  der  Athmung.  Dieselbe  wird  flaclier  und  flacher  und  scheint  schliesslich 
ganz  auszusetzen ,  bis  mit  einem  tiefen  Athemzug  die  Eespiration  wieder  beginnt ,  um 
allmälig  wieder  oberflächlich  zu  werden  fCJiepie-Stokes'sclies  Phänomen).  Diese  Er- 
scheinung sieht  sich  oft  recht  bedenklich  an,  ist  aber  in  der  That  ungefährlich. 


In  den  letzten  Jahren  hat  sich  auch  in  Deutschland  der  Aether  — 
hauptsächlich  durch  Bruns'  Bemühungen  —  fast  zur  selben  Bedeutung 
emporgeschwungen  wie  das  Chloroform. 

Die  physiologische  Wirkung  des  Aethers  ist  von  der  des  Chloro- 
forms so  verschieden,  dass  beiden  Mitteln  schon  hiedurch  ihr  richtiges 
gegenseitiges  Verhältniss  angewiesen  wird,  sich  zu  ergänzen,  nicht  sich 
auszusch  Hessen. 

Der  Aether  soll  ein  specifisches  Gewicht  von  0'720 — 0"725  haben,  neutral 
reagiren ;  Beimengungen  von  Säuren  (Essigsäure ,  Schwefelsäure)  verrathen  sich  durch 
die  Eöthung  des  blauen  Lackmuspapiers ;  Fuselöle  geben  dem  eingehängten  Streifen 
Filtrirpapier  (s.  Chloroform)  einen  widerlichen ,  stechenden  oder  ranzigen  Geruch.  In 
wasserhaltigem  Aether  setzt  sich  Tannin  als  schmieriger  Niederschlag  ab ,  in  wasser- 
freiem Aether  bleibt  es  pulverförmig.  Setzt  man  alkoholhaltigem  Aether  essigsaures  Kali 
und  Schwefelsäure  zu ,  so  bildet  sich  Essigsäure,  die  man  riecht.  —  Der  Aether  ist 
sehr  leicht  brennbar.  —  Sehr  bewährt  ist  der  Rath  von  Bruns ,  da  sich  der  Aether 
am  Licht  und  an  der  Luft  zersetzt,  denselben  in  kleinen  gelben  Flaschen  (50 — 100  Ccm.) 
kühl  aufzubewahren  und  angebrochene  Flaschen  nicht  mehr  zur  Narkose  zu  verwenden. 

Die  Technik  der  Aethernarkose  ist  eine  verschiedene.  — 
Die  Vorbereitungen  (Untersuchung  des  Herzens ,  sonstige  Vorsichts- 
massregeln)  sind  ganz  dieselben  wie  beim  Chloroform. 

Die  JulUard'Bche  Maske  ist  ein  grosser,  mit  impermeablem  Leder- 
tuch überzogener,  innen  einen  Schwamm  oder  eine  Flauellrosette 
tragender  Drahtkorb  Sofort  werden  20  Ccm.  Aether  eingegossen,  die 
Maske  langsam  genähert  und  dann  über  das  ganze  Gesicht  gedeckt, 
in  der  2.  Minute  werden  noch  rasch  30  Ccm.  aufgegossen,  die  Maske 
satt  aufgesetzt  und  der  Rand  mit  einem  Handtuch  umwickelt.  Nach 
4  Minuten  tritt  ohne  wesentliche  Excitation  die  Narkose  ein  —  asphy- 
xireiide  Methode.  Die  Maske  bleibt  liegen,  und  wenn  Patient  anfängt 
zu  reagiren,  giesst  man  10 — 20  Ccm.  nach.  Man  braucht  für  eine  halb- 
stündige Narkose  durchschnittlich  80  Ccm.  Aether  (Garre). 

Beim  Gebrauch  der  Wansclier'^ohQw  Maske  (Fig.  156)  schüttet  man 
in  den  etwas  Watte  haltenden  Gummisack  30 — 50  Ccm.  Aether,  setzt  die 


Aethernarkose. 


245 


Maske  auf  und  setzt  die  Aetlierdämpfe  durch  Schütteln  des  Sackes  in  Be- 
wegung —  berauschende  Methode.  Die  Narkose  tritt  erst  nach 
I4 — 1/2  Stunde  ein,  etwas  rascher  bei  der  von  Grossmann  modificirten 
Maske    (Drahtgestell ,    das   den 

Gunimisack        auseinanderhält,  Fig.ise. 

weitere  Oetfhung'). 

Dreher  (Beitr.  z.  klin.  Chirurgie, 
Ed.  X  und  XII)  fand ,  dass  unter  der 
Wanscher'sc\\6n  Maske  der  0-Gehalt 
in  2  Minuten  auf  5 — 6''/o  sank ,  bei 
der  Julliard'sc\iQn  Maske  (ohne  nasses 
Handtuch!)  nahm  weder  die  CO^  in 
bedenklicher  AVeise  zu ,  noch  der  0 
sehr  ab. 

Der  Verlauf  der  Aether- 
narkose zeigt  wie  die  Chloro- 
formuarkose  nach  einem  kür- 
zeren Initialstadium  halber 
Bewusstlosigkeit    ebenfalls     ein 

Excitationsstadium  mit  stark  gespanntem  frequentem  Puls  (bis  120), 
beschleunigter  tiefer  Respiration.  Das  Gesicht  ist  geröthet,  oft  cyanotisch. 

Im  Stadium  der  Toleranz  sind  die  Muskeln  erschlafft,  die 
Athnmng  ruhig,  oft  schnarchend,  der  Puls  kräftig,  voll,  80 — 90. 

Das  Erwachen  erfolgt  rascher  und  vollständiger  als  beim 
Chloroform. 

Die  Folgen  sind  meist  geringer  als  beim  Chloroform,  das  Er- 
brechen ist  eher  seltener  während  und  nach  der  Narkose.  Dagegen  ist 
nicht  so  selten  Bronchitis,  die  sich  bis  zu  (tödtlicher)  katarrhalischer 
Pneumonie  steigern  kann.  Albuminurie  findet  sich  in  circa  25  Procent 
der  Fälle  (?).  Doch  soll  Aetherisation  die  Albumenmenge  bei  Nephritis 
nicht  steigern  (Wunderlich).  Das  Vorkommen  von  Aetherdiabetes  (Schif) 
wird  angezweifelt. 

Der  Aether  erzeugt  eine  bedeutende  Steigerung  der  Pulsstärke 
und  des  Blutdruckes,  die  Temperatur  sinkt  um  0"52 — 068^  C.  Der 
Aether  lähmt  (durch  Gefässdilatation?)  erst  die  Grosshirncentren,  dann 
die  Rücken markscentren  (y),  zuletzt  die  Centren  der  Medulla  oblongata. 

Der  Aethertod  erfolgt  durch  primären  Respirationsstill- 
stand und  secundäre  Herzlähmung.  Die  reflectorische  Synkope  — 
im  Beginn  der  Chloroformnarkose  (s.  pag.  235)  über  die  Hälfte  der 
Chloroform-Todesfälle  ausmachend  —  kommt  beim  Aether  nicht  vor. 

Diesen  grossen  Vorzügen  stehen  aber  ebenfalls  wesentliche 
Mängel  gegenüber.  Zunächst  erzielt  man  in  einzelnen  Fällen  — 
besdnders  bei  Schnapstrinkern  —  mit  Aether  überhaupt  keine  voll- 
ständige Narkose ,  so  dass  man  zum  Chloroform  übergehen  muss. 
In  anderen  Fallen  macht  heftiges  Muskelzittern  das  Operiren  un- 
möglich ;  ebenso  werden  heftiger  Reizhusten  und  starke  Schleim-  und 
Speichelabsonderung  oft  sehr  lästig.  Beängstigend  wird  oft  die  Unregel- 
mässigkeit der  Athmung,  weniger  durch  Zurücksinken  der  Zunge,  was 
bein)  Aether  viel  seltener  vorkommt  als  beim  Chloroform,  als  durch 
Flaclierwerden  und  schliesslich  Aussetzen  der  Athmung,  das  unter 
starker  Cyanose  bei  zunächst  noch  gutem  Puls  in  Aethertod  durch 
toxische    Kespirationslähmung    übergehen    kann.   —  liier    ist   wie   beim 


246  11^-  Cai^itel.  —  Verletzungen. 

Chloroform,  künstliche  Respiration  mit  »SauerstofFeinathmung,  schlimmsten- 
falls mit  Luftröhrenschnitt  nöthig.  —  Auch  Lungenödem  ist  heobachtet. 
Aderlass  mit  Kochsalzinfusion  ist  hier  angezeigt. 

Ich  lasse,  sobald  das  Gesicht  blau  wird,  den  Aether  weg. 

Mir  hat  sich  am  besten  die  mit  Unrecht  vernachlässigte  Mor- 
phiumäthernarkose bewährt,  wobei  15 — 20  Minuten  vorher  O'Ol  bis 
0'015  Morphium  mit  00005  Atropin  subcutan  injicirt  wird.  Die  Nar- 
kose —  mit  JuUkird'&cher  Maske  ohne  umgelegtes  Handtuch  —  vei- 
läuft  überaus  glatt  und  ohne  Cjanose,  mit  massig  geröthetem  Gesicht. 
Sie  ist  die  schonendste  Narkose  für  schwache  Patienten ,  anämische, 
herzkranke  Menschen ,  Frauen  etc. ,  aber  auch  sie  genügt  für  alkohoi- 
gewöhnte  Männer  nicht. 

Die  Aetherisation  vom  Mastdarm  aus  (Molliere ,  Starche)  ist  in  ihren 
Folgen  gar  nicht  mehr  zu  überwachen.  Der  Meteorismus  kann  bis  zum  Platzen  der 
Därme  führen. 

Von  Nachkrankheiten  der  Aethernarkose  scheint  mir  in 
der  That  die  Häufigkeit  der  so  überaus  qualvollen  Aetherbroncbitis 
und  der  so  gefährlichen  Aetherpneumonie  durch  die  5nms'schen 
Vorschriften  ganz  wesentlich  herabgesetzt  zu  werden.  Sie  kann  nicht, 
wie  Nauwerck  annimmt,  von  abgeschlucktem  Speichel  etc.  herrühren, 
denn  gerade  nach  Operationen  in  Beckenhochlage  trifft  man  sie  be- 
sonders häufig. 

Ob  Chloroform  oder  Aether  vorzuziehen  sind ,  darüber  gibt  auch 
die  Statistik  keine  Entscheidung.  Garre  berechnet  —  auf  Grund  der 
während  der  Narkosen  eintretenden  Unglücksfälle  —  je  1  Todesfall 
auf  2907  Chloroformnarkosen  und  14.646  Aethernarkosen.  Poppert  da- 
gegen (Deutsche  med.  Wochenschr.  94,  37),  der  auch  die  Spättodesfälle 
mitrechnet,  bekommt  1  Todesfall  auf  1167  Aether  —  und  erst  auf 
2647  Chloroformnarkosen. 

In  Krankenhäusern  empfiehlt  es  sich,  Chloroform  und 
Aether  nebeneinander  zu  verwenden.  Chloroform  verbietet 
sich  bei  Herzaftectiouen,  weniger  der  Klappen  als  des  Herzmuskels,  also 
besonders  bei  Fettherz  und  Trinkerherz ;  es  ist  ebenso  nicht  erlaubt  bei 
Shock,  ferner  bei  Nierenkrankheiten  (?),  bei  Diabetes.  Es  soll  nicht  ver- 
wandt werden  bei  Gasbeleuchtung  oder  Gasöfen ,  bei  mehreren  auf- 
einanderfolgenden Narkosen . 

Der  Aether  ist  contraindicirt  bei  vorhandener  Bronchitis,  bei 
Tracheostenose  (von  Krönlein  bei  Struma  ohne  Schaden  verwandt),  bei 
Gefässerkrankungen  (Arterienatherom) ,  bei  Verwendung  des  Thermo- 
kauters  an  Gesicht  und  Hals,  bei  kleinen  Kindern.  —  Bei  Operationen 
im  Gesicht  macht  die  starke  Salivation  den  Aether  ebenfalls  unbequem. 

Für  sehr  geschwächte  Patienten,  wo  man  Bedenken  trägt,  über- 
haupt zu  narkotisiren ,  empfehle  ich  dringend  die  Morphiumäthernarkose. 

Der  praktische  Arzt  bleibt  am  besten  beim  Chloroform; 
es  ist  compendiöser ,  die  Verabreichung  einfacher  und  (in  Verbindung 
mit  Morphium)  es  lässt  nie  im  Stich.  Er  kann  sich  auch  nicht  auf 
verschiedene  Anästhetica  einüben  und  einrichten.  Bei  Gebärenden  kann 
er  das  Chloroform  doch  nicht  entbehren. 

Von  durchschlagenden  Vortheilen  gemischter  Narkosen  habe 
ich  mich  nicht  überzeugen  können.  Bekannt  ist  die  BiUroth''sche 
Mischung —  Chloroform  100,  Aether  sulfur.  und  Alkohol  absol.  circa  300.  — 


Gemisclite  Narkose.  —  Bromätliyl.  247 

Die  Verwendung-  ist  die  des  Chloroforms.  Dass  auch  diese  Methode 
nicht  ungefährlich  ist,  beweisen  die  17  von  Hewitt  festgestellten 
Todesfälle. 

Kocher  leitet  die  Nariiose  mit  Chloroform  ein  und  setzt  sie  mit 
Aether  fort.  Die  Gefahr  der  Frühtodesfälle  (pag.  235)  wird  dadurch  jeden- 
falls nicht  vermindert.  Madelung  leitet  mit  Aether  ein  und  fährt  mit 
Chloroform  fort;  auch  von  Kölüker  empfohlen.  Auf  4118  Chloroform- 
Aethernarkosen  ist  1  Todesfall  beobachtet.  Terrier  gibt  erst  3  Grm. 
Bromäthyl,  dann  Chloroform  (Cbir.  Centralbl,  1895,  28). 

Die  Stickoxydulnarkose  (N2O)  gibt  in  einer  Minute  eine  be- 
schwerdelose Narkose  von  1 — 2  Minuten.  Die  Anwendung  ist  complicirt 
und  völlig  gefahrlos  ist  sie  auch  nicht. 

Von  sonstigen  Anästheticis  hat  den  meisten  Werth  das  Brom- 
äthyl (Aether  bromatus  pro  narcosi,  C^HsBr,  ja  nicht  zu  verwechseln 
mit  ßromäthylen,  C^HsBr,,  einem  sehr  gefährlichen  Narcoticum). 

Es  soll  iiiclit  nacb  Knoblauch  riechen  (As ! ,  H^,  S !) ,  soll  mit  gleichen  Theilen 
destilliiten  Wassers  gemischt  blaues  Lackmuspapier  nicht  röthen,  mit  Silbernitratlösung 
sich  nicht  trüben  (freier  Br  H) ,  einige  Tropfen  auf  eine  3  Cm.  hohe  Jodkalischicht  ge- 
schichtet, sollen  keine  violette  Färbung  geben  (freies  Brom!).  —  Yergl.  Ziemachi, 
Langetibech's  Arch.,  42). 

Das  Bromäthyl  verflüchtigt  sich  leicht  und  zersetzt  sich  in  Br  und  C,  H,,.  Es 
ist  deshalb  in  gefärbten  versiegelten  Fläschchen  von  5,  10,  1.5  Grm.  vorräthig  kühl  auf- 
zubewahren. 

Man  nimmt  die  JuUiarcVsche  Maske,  legt  ein  Handtuch  um ;  Sauer 
nimmt  die  Esmarch'&chG  Maske.  Man  giesst  zunächst  1 — 2  Grm.  ein, 
nach  V4  Minute  den  Rest.  —  Die  Dosis  ist  für  Kinder  5  Grm.,  Flauen 
und  junge  Leute  10  Grm.,  Erwachsene  15  (20)  Grm.  Man  kann  zur 
Verlängerung  der  Narkose  noch  einmal  5 — 10  Grm.  nachgiessen ,  soll 
aber  25  (30  Ij  Grm.  nicht  überschreiten.  Die  Excitation  fehlt  ganz  oder 
ist  sehr  kurz ,  leichte  Cyanose  ist  manchmal  vorhanden.  Die  Toleranz 
tritt  meist  in  der  zweiten  Minute  ein ,  dauert  aber  nicht  länger  als 
3 — 5  Minuten.  Das  Erwachen  erfolgt  fast  plötzlich,  ohne  üble  Nach- 
wehen; Erbrechen  ist  sehr  selten.  Puls  und  Respiration  bleiben  fast  unver- 
ändert. Eine  völlige  Muskelerschlaff'ung  wird  meist  nicht  erzielt,  aber 
die  Bewusstlosigkeit  und  Analgesie  sind  meist  vollständig.  Für  Trinker 
ist  Bromäfchyl  nicht  ausreichend ,  sonst  ist  es  ein  gutes  Anästheticum 
für  kleine  Operationen  (Abscesse,  kleine  Geschwülste,  Unguis  incar- 
natus  etc.)  in  Sprechstunde  und  Poliklinik.  Die  locale  Anästhesie  hat 
seinen  Gebrauch  eingeschränkt. 

Einen  Todesfall  durch  Biomäthyl  beschreibt  Köhler  (Centrall)l.  f. 
Chir.,  1894,  2j.  BoUclia  (Centralbl.  f.  Chir.,  1895,  11)  berechnet  1  Todes- 
fall auf  20.000  Bromäthylnarkosen. 

Eine  Anzahl  weiterer  in  den  letzten  Jahren  versuchter  Anästhetica 
sind  zum  Tlieil  gefährlich,  zum  Theil  noch  nicht  genügend  erprobt. 
So  ist  das  Pental  (Cr,  Hk,),  von  Pliilip  (Lai/f/eiibcd'.^  Archiv,  45)  und 
KleimUeuHt  (D.Zeitschr.f.  Chir..  35)  empfohlen,  wegen  der  grossen  Zahl  von 
Todesfällen,  häutiger  Albuminurie  wieder  ganz  verlassen.  Aethylidenuni 
bichloratum  (C2  H^  CI2)  wurde  von  Liebreich  empfohlen.  Aethylchlorid 
(C,  H1CI2V)  (SouUer,  Münch.  med.  Wochenschr. ,  180G,  21)  5— ü  Ccm. 
soll  eine  Anästhesie  von  (3  — 10  Minuten  geben,  die  durch  Nachgiessen 
von  2  Ccni.  verlängert  werden  kann.  IJroinoform  scheint  keine  \'(trziigo 
zu  besitzen. 


248 


UI.  Capitel.  —   Voilotzuiigen. 


Die  erfolgreichen  Bestrebungen  der  letzten  Jahren,  die  locale 
Anästhesie  zu  verbesHern  und  zu  verallgemeinern,  haben  wohl  für 
kleinere  und  kürzere,  nicht  aber  für  grosse  und  länger  dauernde  Opera- 
tionen zum  Ziele  geführt. 

Die  Zerstäubung  von  Aether  mit  Hilfe  des  lüchardson'mhen 
Zerstäubers,  Fig.  157 ,  eines  kleinen  Handsprayapparates ,  erzeugt  eine 
intensive  Kälte  an  der  betreffenden  Stelle,  die  Haut  gefriert  und  ist, 
wenn  sie  sich  mit  einem  weissen  Reif  beschlagen,  fast  emjjfindungslos, 
so  dass  ein  Schnitt  durch  die  Haut  kaum  gefühlt  wird.  Die  tieferen 
Schichten  haben  ihre  Empfindlichkeit  jedoch  behalten.  Der  Aetherspray 
ist  aber  —  besonders  auf  entzündeter  Haut  —  sehr  schmerzhaft  und 
man  tauscht  eigentlich  nur  einen  Schmerz  gegen  einen  andern.  Auf 
empfindlicher  Haut  schiessen  mitunter  nachher  Frostblasen  auf.  —  Die 


Zusammensetzung  des  theuren  englischen  Anesthetic  ether  ist  Fabriks- 
geheiraniss  (Methylenbichlorid  ?) ;  der  Aether  von  König  eignet  sich 
aber  gut  zur  Anästhesie. 

Von  Henning  wird  zur  localen  Anästhesie  Aethylchlorid 
empfohlen  in  Glasröhren  (Fig.  158).  Man  schraubt  den  Verschluss 
ab,  nimmt  die  Röhre  in  die  Hand,  durch  deren  Wärme  der  Aether 
austritt ,  und  lässt  aus  einer  Entfernung  von  20 — 30  Cm.  den  Spray 
einwirken.  Das  Chlorraethyl  (CHg  Gl)  erzeugt  gleichfalls  locale 
Anästhesie,  ist  aber  noch  nicht  recht  praktisch  zu  brauchen. 

Die  locale  Anästhesie  durch  subcutane  Cocaininjectionen 
in  1 — Öproeentiger  Lösung  in's  ünterhautzellgewebe  ist  1885  gleich- 
zeitig von  Wölßer  und  mir  eingeführt  worden.  Man  löst  das  Cocain 
nicht  in  Aqua  destillata,  da  leicht  Mikroorganismen  in  der  Lösung  sich 
entwickeln,  wenn  dieselbe  längere  Zeit  steht,  sondern  in  Sohlt.  Hydrarg. 


Locale  Anästhesie. 


249 


iaestheliit 

[l'sssig     und  j 


bichlor.  1  :  10.000  bis  l  :  20.000  (z.  B.  Rp.  Cocain,  miiriat.  0-2  solve  in 
soliitione  Hydrarg.  bichlor.  [1  :  10.000]  10  0.  D.  S.  Zur  subcutanen  In- 
jection).  Hievon  spritze  icli  eine  Viertel-  bis  höchstens  eine  Spritze 
(O'OOö — ^0"02)  in  das  Unterhantzellgewebe  und  vertheile  dieselbe  durch 
allmähliches  Verschieben  der  Canüle  auf  eine  Fläche  von  2 — 3  Cm.  Nach 
5 — 6  Minuten  hat  man  einen  anästbetischen  Bezirk  von 
5 — 6  Cm.  Durchmesser.  In  Verbindung-  mit  temporärer  Blut-  '^' 
leere  —  an  den  Fingern  und  den  Zehen  —  ist  die  Wirkung 
noch  viel  sicherer ,  doch  ist  der  abschnürende  elastische 
Schlauch  erst  einige  Minuten  nach  der  Injection  umzulegen. 
Männer  ertragen  die  Cocainanästhesie  meist  gut.  Man  beob- 
achtet gelegentlich  leichte  Ohnmacht,  Schwäche  in  den  Beinen, 
die  aber  durch  Einathmungen  von  Amjlnitrit  —  einige  Tropfen 
aufs  Taschentuch  —  meist  rasch  beseitigt  werden.  Eine  be- 
trächtliche Zahl  von  Cocaintodesfällen  sind  in  der  Societe  de 
Chirurgie  16.  und  23.  December  1891  mitgetbeilt  worden.  Die 
mittlere  Dosis  der  Todesfälle  betrug  007  (!).  —  Für  Schleim- 
häute ist  die  Cocainanästhesie  schon  heute  fast  unentbehrlich 
geworden  —  für  Harnröhre  und  Harnblase  (4 — 10  Procenl), 
Nase,  Kehlkopf,  Conjunctiva  (10  Procent)  in  Gestalt  von 
Einspritzungen  oder  Bepinselungen. 

Wegen  der  Gefahren  des  Cocains  ist  äiQ  Schleich' sehe 
Infiltrationsanästhesic  freudig  zu  begrüssen.  Man  injicirt 
mit  ganz  flach  gehaltener  Nadel  in  die  Haut  (nicht  unter  die 
Haut)  und  macht  mit  wenigen  Tropfen  hier  eine  circa  50  stück- 
grosse  Quaddel,  am  Rande  derselben  sticht  man  wieder  ein  und 
macht  in  der  gewünschten  Richtung  eine  weitere  Quaddel 
u.  s.  w.  Eine  Pravaz'äche  Spritze  reicht  für  6 — 8  Quaddeln. 
Der  weisse  etwas  vorragende  Bezirk  ist  anästhetisch  auf  un- 
gefähr 20  Minuten.  Will  man  in  die  Tiefe  wirken,  so  sticht  man 
durch  die  Qaaddel  senkrecht  in  die  Tiefe.  Ä'/^/c^cA  verwendet  3  Lösungen, 
die  stärkste  I.  für  stark  überempfindliche  (entzünctete)  Stellen,  die  mittlere 
(Normallösung)  für  kleinere,  die  schwache  HI.  für  ausgedehnte  Operationen, 
wo  viel  und  oft  injicirt  wird.  —  Cocain,  hydrochlor.  Ol  (1. 02,  HI.  O'Ol); 
Morph,  hydrochlor.  0025  (0025,  0-005);  Natr.  chlor,  sterilis.  0-2  (0'2, 
0-2);  Aqu.  dest.  sterilis.  ad  1000  (1000,  lOO'O),  adde  sol.  acid.  carbol. 
ö^/o  gtt.  2  (2,  2).  Die  Lösungen  sollen  ziemlich  kalt  sein.  Da  die 
Hauptwirkung  auf  dem  künstlichen  Oedem  zu  beruhen  scheint ,  mache 
ich  meist  nur  die  erste  Quaddel  mit  z;procentiger  Cocainlösnng,  die  übrigen 
mit  sterilisirter  physiologischer  Kochsalzlösung.  — ■  Die  Infiltrations- 
anästhesie lässt  sich  auch  für  grössere  Operationen,  Herniotomien,  I'auch- 
schnitte  etc.  verwenden,  doch  wird  hiebei  das  häufige,  die  Operation 
verlängernde  und  die  Orientirung  erschwerende  Injiciren  lästig.  In  den 
tiefen  Schichten  ist  aber  auch  die  Eni])findlichkeit  geringer.  Bei  der 
Infiltrationsanästhesie  spielt  die  Suggestion  nicht  die  kleinste  Rolle; 
versagt  sie,  wie  nicht  selten,  so  nniss  man  noch  zu  Chloroform  oder 
Aether  greifen. 

P^ine  lOprocentige  LfJsung  von  Guajacol  in  Olivenöl  subcutan 
injicirt  soll  nach  7 — 8  Minuten  eine  länger  dauernde  Anästhesie  hervor- 
rnfcn   CLucas-Chani pi onnihrc.) . 


IV.  Capitel. 
Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 

Die  Vorbereitungen    einer    Operation   sind ,    was  Constitution  etc. 
betrifft,  pag.  132,  was  Antisepsis  und  Asepsis  anlangt,  pag.  185ff,  und 

Fig.  159. 


n  bauchiges,   h  bauchig-spitzes,   c  spitzes,  d  zweischneidiges,   c  geknöiiftes  Scalpell. 
(72  d.  natürl.  Grösse.) 

betreffs  der  Narkose  pag.  230  ff",  besprochen.    Die  Methoden    der  Blut- 
stillung, die  hiezu  nöthigen  Instrumente  sind  pag.  100  ff.  erwähnt. 


Verschiedene  Messer. 


251 


Es  sind  daher  nur  üoch  einige  wichtige  Punkte  nachzutragen 
über  die  gebräuchlichen  Instrumente  und  über  die  Art  und  Weise,  wie 
sie  zu  gebrauchen  sind,  zunächst  über  die  Messer. 

Die  zu  Operationen  an  den  Weichtheilen  gebrauchten  Messer 
gibt  Fig.  159.  (Messer  mit  Metallgriffen  sind  vorzuziehen.)  Fig.  159«  das 


Fig.  160. 


«  Grosses  zweischneidiges,  h  grosses  einschneidiges,  c  mittelgrosses  zweischneidiges,  d  mittel- 
grosses einschneidiges  Amputationsmesser,  e  liaiipenmesser,  /  Phalangenmesser,   g  Catline. 


bauchige  Messer  zum  Präpariren,  z.  B.  bei  Geschwulstexstirpation ; 
c  zum  Eröffnen  von  Abscesseu;  d  vorwiegend  zu  plastischen  Operationen 
(Hasenscharte  u.  dergl.)  ge])raucht;  e  das  Knopfmesser,  zum  Erweitern 
von  Fisteln  u.  dergl.  (Folgende  Figuren  z.  Th.  nach  Löhker.) 

Fig.  100    zeigt  die  grossen  Messer  für  Amputationen  und  Exarti- 
cuhitionen. 


252 


IV.  ('/d,])iUi\.  —  Allf^emcinc  Oj)i;i'a,ti(nis-  und   instrumcrit.eiiichrc. 


Die  verschiedenen  Arten    das    Messer    zu    halten    und    zu    fuhren 
geben  Fig.  161 — 165. 

Fig.  161  die  Schrcibfederhaltung. 
Fig-.  162  die  Tischmesserhaltung. 


Fig.  101. 


Fig.  165. 


Fig.  163  die  Geigenbogenhaltung,  besonders  bei  langen  Schnitten 
gebraucht. 

Fig.  164  zeigt  die  Haltung  des  Messers  in  der  vollen  Faust  (Ampu- 
tationen). 

Das  Ansetzen  des  Messers,  das  Spannen  der  Haut  mit  Daumen 
und  Zeigefinger  der  andern  Hand  gibt  Fig.  165. 

Fig.  166  zeigt  die  Trennung  der  Haut  durch  Erheben  einer  Hautfalte. 


Messerlialtuiis 


253 


Das  Weiteieindringen  und  Prüpariren  zwischen  zwei  cbiriirgischen 
oder  Hakenpincetten  zeigt  Fig.  167. 

Das  Spalten  von  Fisteln  i\.  dergl.  auf  der  Hoblsonde  wird  aus 
Fig.  168  deutlich. 

Die  Haken  zum  Auseinanderhalten  tieferer  Wunden  sind  in 
Fig.  169  dargestellt. 

Fig.  166. 


Die  gebräuchlichsten  Scheeren  und  ihre  Führung  geben  Fig.  170 
bis  172. 

Die  Messerhaltung  und  Schnittführung  bei  Amputationen  wird 
aus  Fig.  173  klar. 

Amputationen  sind  Absetzungen  der  Glieder  in  der  Kontinuität 
der  Knochen,    also  zwischen  den  Gelenken;   Exarticulationen  Aus- 


254 


IV.  Capitcl.  — •  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 


lösungen  der  Glieder  in  den  Gelenken;  Resectionen  Entfernung  von 


Knochen-  oder  Gelenktheilcn  mit  Erhaltung  des  Gliedes. 

Fig.  108. 


Fig.  170. 


Fig.  V,'.). 


Gerade  Scheere  (Va  d.  nat.  Grösse). 


a  scharier,  b  stumpfer 
Wundhaken  (V2ld- nat.  Gr.). 

Fig.  171. 


Coo^JeJ-'sche  Scheere  (Va  d.  nat.  Grösse). 


Für  die  Technik  der  Amputationen  gilt  als  erste  Regel,  die 
Weichtheile  tiefer  zu  durchtrennen  als  den  Knochen,  um  dadurch  den 


Amputation.   —  Cirkelschuitt. 


255 


höher   oben    abgesägten   Knochen   mit   einer   genügenden   Schicht   von 
Haut  und  Weichtheilen  bedecken  zu  können. 

Dieser  Schnitt  durch  die  Weichtheile  wird  in  verschiedener 
Weise  ausgeführt.  Die  ältesten  Methoden  sind  die  Cirkelschnitte, 
auch  heute  noch  brauchbar  an  Stellen ,  die  ungefähr  cylindrisch  sind 
(Oberarm ,  unterer  Theil  des  Vorderarms  und  Unterschenkels ,  magere 
Oberschenkel)  (vergl.  Fig.  173,  Haltung  des  Messers  bei  einzeitigem 
Cirkelschuitt).  Während  Haut  und  Weichtheile  von  einem  Assistenten 


Fig.  173. 


möglich.st  weit  nach  oben  zurückgezogen  werden,  trennt  der  Operateur 
mit  einem  kreisförmig  das  Glied  umziehenden ,  in  sich  selbst  zurück- 
kehrenden Schnitt  alle  Weichtheile  bis  auf  den  Knochen  —  ein- 
zeitiger Cirkelschuitt. 

Zweckmässiger  ist  der  zwei  zeit  ige  Cirkelschuitt,  wo  ein 
erster  Scliuitt  Haut  und  Faseie  durchtrcnut.  Indem  der  Assi.stent  den 
nun  sicli  präsentirendcn  .Muskek- vi  Inder  möglichst  nach  oben  spannt, 
wild    dieser    höher   als  im  Niveau  des  Hautschnitts  mit  einem  zweiten 


256 


]V.  Caj)it(;l.  —  Allgemeine  Operulioiis-  und  instruinentenlelire. 


bis  auf  den  Kiioelicii  dring-endcii  Cirkel.schnitt  dui-cliselinittcn.  Der 
Knochen  selbst  wird  womöglich  noch  etwas  höher  durchsägt,  nachdem 
der  Rest  der  VVeichtlieilc  vorher  mit  dem  Schabeisen  fßasjjatorium. 
Elevatoriom,  Fig.  174)  zurückgeschoben  oder  mit  dem  Messei-  abj)i'äparirt 
sind.  Die  ßeinhaut  wird  um  das  Periost  kreisförmig  mit  dem  Messer 
durchschnitten  ,  um  sie  nicht  mit  der  Säge  zu  zerfetzen  und  dann  der 
Knochen  mit  ruhigen  gleichmässigen  Sägezügen  durchtrennt. 


Fig.  175. 


Fig.  176. 


Bei  Amputationen  bedient  man  sich  zum  Absägen  des  Knochens 
der  Bogensäge  (Fig.  175  a),  wahrend  man  die  spongiösen  Partien  bei 
Resectionen  mit  der  Blattsäge  (Fig.  175  5)  durchsägt. 

Vorragende  Knochenspitzen  oder  -kanten  werden  mit  der  Kuochen- 
scheere  oder  der  Hohlmeisselzange  geglättet    (Fig.  176  a  und  b). 

Vergl.  aiTch  Fig.  98  und  100. 

Die  grossen  Nervenstämme  werden  vorgezogen  und  möglichst 
hoch  abgeschnitten,  um  die  Bildung  von  mit  der  Narbe  verwachsenden 
Neuromknoten  zu  verhüten. 

Die  Wunde  stellt  bei  einem  gut  ausgeführten  zweizeitigen  Cirkel- 
schnitt  einen  Trichter  dar ,    dessen  Spitze  der  durchsägte  Knochen  ist. 


Laijpeuschnitte. 


257 


Die  Wunde  von  Anfang  an  durch  schräge  Messerführung  trichterförmig 
auszuhöhlen  (Tri  cht  er  schnitt),  ist  zwecklos. 

Beim  Lappenschnitt  werden  au  ihrer  Basis  mit  dem  Körper 
zusammenhängende  Haut-  und  Weichtheilflächen  über  den  Knochenstumpf 
weggeschlagen  (Fig.  178).  Diese  Lappen  gewinnt  man  zum  Theil  durch 
Schnitt  von  innen  nach  aussen,  mit  Durchstich.  Mit  einem 
langen  spitzen,  am  besten  zweischneidigen  Messer  (vergl.  Fig.  160 
und   Fig.  180)    durchstösst   man    die  Weichtheile   etwas    unterhalb    der 


Fig.  177. 


Fig.  178. 


Stelle,  wo  abgesägt  werden  soll,  indem 
man  das  IMesser  hart  am  Knochen 
hinführt.  Ungefähr  die  Hälfte  der 
Weichtheile  des  Gliedes  liegt  auf 
dem  Messer.  Nun  führt  man  das 
Messer  in  möglichst  wenig,  aber 
grossen  Zügen  flach  und  schräg  gegen 
die  Oberfläche  des  Gliedes  heraus, 
so  dass  man  einen  grossen  zungen- 
förmigen  Lappen  erhält.  Dieser  wird 
nach  oben  geschlagen ,  und  nun 
durchtrennt  man  den  Rest  der  Weich- 
theile entweder  mit  einem  Cirkel- 
schnitt ,  der  etwas  unterhalb  des  Durchstichs  geführt  wird ,  so 
dass  man  einen  kleinen  hinteren  Lappen  bekommt  (Fig.  177  h).  Oder 
man  kann  die  Weichtheile  an  der  anderen  Seite  des  Gliedes  ebenso 
wieder  durchstechen  und  lappenförmig  zuschneiden,  so  dass  man  dann 
zwei  gleich  grosse  (seitliche,  oder  vorderen  und  hinteren)  Lappen  erhält 
(Fig.  177  a).  Der  Muskelkegel,  welcher  übrig  bleibt,  wird,  nachdem 
beide  Lappen  nach  oben  geschlagen  sind,  durch  einen  Cirkelschnitt  um 
den  Knochen  vollends  durchtrennt. 

Bei  der  Lai)i)eubildung  von  aussen  nach  innen  umschreibt 
der  Operateur  mit  dem  Messer  einen  abgerundet  viereckigen,  oder  flach 
zungeuförmigen  Lappen,  dessen  Basis  etwas  mehr  als  den  halben  Um- 


Landerer,   AU,',  cliir.  Pathologie   u.  'J^lierapic.  a.Aiitl. 


17 


258 


IV.  Cajiitel.  —  AUgerndne  Ojierations-  und  Instrumentenlchre. 


schneidet    dann 


i'ig.  17U. 


fang-  des  Gliedes  beträgt,  und  vertieft  ihn  bis  in  die  Musculatur.  Der 
Lappen  wird  nach  oben  g-eschlagen  und  nun  die  Weichtheile  etwas 
unterhalb  der  Basis  des  Schnittes  mit  einem  Cirkelschnitt  durchtrennt 
(Fig.  177  d)  oder  man  bildet  in  derselben  Weise  einen  zweiten  Lappen 
aus  dem  noch  übrigen  Theil  des  G-liedes  (Doppellappenj  und  durch- 
den  noch  übrigen  Theil  der  Weichtheile  (Fig.  177  c). 
Je  nach  den  Verhältnissen  des  Falles,  der 
Beschaffenheit  der  Weichtheile  bildet  man 
einen  einzigen  grossen  Lappen,  einen  vor- 
deren, hinteren  oder  seitlichen ,  oder  zwei 
Lappen,  einen  grossen  (oberen  oder  hinteren) 
und  einen  kleinen  (unteren  oder  oberen), 
zwei  seitliche  u.  s.  w.  (s.  Fig.  177).  Die 
Bildung  zweier  Doppellappen  zeigt  Fig.  178 
(Exartieulation  sämmtliclier  Mittelfusskno- 
chen  nach  Lisfranc). 

Die  Lappen  sollen  nach  v.  Bruns  Haut 
und  Fascie  enthalten  ,  da  die  ernährenden 
Gefasse  der  Haut  auf  der  Fascie  verlaufen. 
Etwas  Musculatur  schadet  nichts,  wenn  sie 
auch  später  schwindet.  Zu  dicke  Muskel- 
lagen an  der  Innenfläche  des  Lappens 
stören  eher  die  Heilung.  Oberst  empfiehlt 
nur  Hautlappen  ohne  Fascie. 

Aus  dem  Cirkelschnitt  kann ,  wenn 
die  Ausführung  desselben  irgendwelche 
Schwierigkeiten  bietet  (feste  Anheftuuii-  der 
Haut  an  die  Fascie  u.  s.w.),  ohne  Weiteres 
zum  Lappenschnitt  übergegangen  werden, 
indem  man  an  zwei  entgegengesetzten 
Stellen  (z.  B.  innen  und  aussen)  zwei  zum 
Cirkelschnitt  senkrecht  gestellte  Längs- 
schnitte führt ;  so  bekommt  man  dann 
zwei  viereckige  Lappen ,  die  man  nach 
oben  abpräparirt  (Manschetten schnitt, 
vergl.  Fig.  119  A). 

Der  Ovalär schnitt,  für  gewisse 
Exarticulationen    die  beste  Methode,    wird 

.■i  Amputation    des   Unterschenkels     bcl  dcU  AmputationCU  SCltCUer    gCÜbt    (vCrgl. 
fi  „Orte  der  Wahl"  mit  Manschetten-     „.        ^„r^   -r,   '^        ^     ^r^^x  V         o 

Flg.  179  5  und  186). 

Bei  Gliedern  mit  zwei  Röhren- 
knochen werden  die  W^eichtheile  zwischen 
spitzen  zweischneidigen  Messer  (Catline, 
Fig.  160  (i)  durchtrennt,  dann  werden  beide  Knochen  zu  gleicher 
Zeit  und  in  gleicher  Höhe  durchsägt.  Die  Bildung  eines  viereckigen 
Periostlappens,  welcher  die  Markhöhle  verschliessen  soll,  ist  unnöthig. 

Als  die  Stelle,  wo  amputirt,  respective  esarticulirt  wird,  ist  seit 
der  Durchführung  der  Antisepsis  die  Grenze  des  Gesunden  oder  Lebensfähigen  nnd 
Kranken  oder  Lebensunfähigen  zu  bezeichnen.  Die  alte  Chirurgie  hatte  bestimmte 
Prädilectionsstellen ,  den  „Ort  der  Wahl",  wo  sie  absetzte,  da  gewisse  Stellen,  z.B. 
unteres  Drittel  des  Oberschenkels,  mittleres  Drittel  des  Unterschenkels,  bessere  End- 
resultate   gaben    als    andere,    wie    die    Exartieulation    im    Knie-    oder    Fussgelenk.    — 


am  . 


schnitt.     BB  Amputation    des  Unter- 
schenkels mit  Bildung  zweier  Lappen. 
C^  AmxJutation  sus-mulleolaire. 

den    Knochen     mit    einem 


Osteoplastische  Amputationen. 


259 


Heilte    sparen  wir  jeden  Centimeter,    der  noch  zu  erhalten  ist,    und  können  dies  auch 
mit  Hilfe  der  Antisepsis. 

Eine  wichtige  Errungenschaft  der  Neuzeit  sind  die  osteoplasti- 
schen Amputationen,  deren  erste  Pirogoff  ausgeführt  hat  und  die 
später    besonders  von  Langenheck  und  Ollier  ausgebildet  wurden.    Es 


Fig.  180. 


wird  hiebei  auf  die  Sägefläche  des  einen  Knochens,  z.  B.'der^Unter- 
schenkelknochen ,  die  angefrischte  Fläche  eines  anderen  —  des  Proe. 
post.  calcanei,  aufgesetzt.  Dadurch  wird  nicht  nur  eine  Verlängerung 
des  Gliedes,  sondern  auch  in  der  Fersenhaut  eine  brauchbare  Gehfläche 
gewonnen.  Die  Verhältnisse,  die  ^.    ^^^ 

Art  und  Weise  der  Ausführung 
viud  der  Heilung  ist  aus  Fig.  181 
bis  Fig.  183  ersichtlich. 

Diesen  Gedanken  hat 
Gritti  weiter  verwerthet,  indem 
er  die  angefrischte  Patella  auf 
die  Sägeflächen  der  Femurcon- 
dylen  aufsetzte.  Doch  sind  die 
liesultate  dieses  Verfahres  nicht 
so  glänzend  als  bei  dem  l^irogoff- 
sehen.  Mikulicz  hat  —  bei  Ent- 
fernung sämmtlicher  Knochen 
der  Fusswurzel 
schenkeis  aufgesetzt. 

Bier  geht  von  der  Ansicht  aus ,  dass  nur  solche  Stümpfe  trag- 
fähig seien,  wo  der  Markcanal  durch  eine  mit  Periost  bedeckte  Knoehen- 
lage  verschlossen  wird.  Er  sägt  also  aus  dem  Knochen  weiter  oben 
nochmals  einen  Keil  z.  P.  mit  hinterer  Basis  aus  und  legt  den  so  ge- 
wonnenen kleinen  unteren  KiK)clionlap])en  mit  einer  Drehung  um  1  R  auf 
den  Kuoclieiistiuiii)f,  Wunde  gegen  Wunde.  Auch  durch  treppcnfiirmiges 
Absägen  lässt  sich    ein  Knochenlappen   erhalten,   der   auf  den  Stumpf 

17* 


die  ]\Iittclfussknocheu  auf  die  Sägefläche  des  Unter- 


260 


IV.  Capitel.  —  All^'(!m(;iiie  Opci'iitioiis-  und    liislrimicutciili-liic 


gesetzt  wird.  Die  so  erlialteiien  Stumpf c  sind  in  der  'J  hat  \  icl  tra.:,^- 
fähiger  und  gegen  Berührung  wenig  empfindlicli. 

Selbstvei'ständlich  finden  alle  antiseptiselien  Massregeln  für 
die  Amputationen  und  Exarticulationen  ihre  volle  Anwendung.  CSielie 
pag.  188 ff.)  Die  Blutung  beherrscht  man  nach  den  pag.  100  angegebenen 
Vorschriften  durch  Esmarch'sahQ  Blutleere  oder  Digitalcompression  und 
durch  Unterbindung  der  Gefässe  in  der  Wunde. 

Auf  den  Verlauf  von  Amputationen  und  Exarticulationen,  ebenso 
auch  Resectionen  ist  es  von  Einfluss,  in  welcher  Zeit  nach  der  Ver- 


Fig.  182. 


Fig.  183. 


letzung  sie  gemacht  werden.    Diese  Frage  hat   auch  heute   noch  ihre 
Bedeutung  für  die  Kriegschirurgie. 

Man  unterscheidet  in  diesem  Sinne  Primäroperatiouen,  ausge- 
führt im  Verlaufe  der  ersten  24  (bis  36  Stunden),  ehe  eine  lufectiou  der 
Wunde  stattgefunden  hat.  Sie  geben  eine  günstige  Heilungsziffer,  weil 
sie  eine  ziemliche  Aussicht  auf  aseptische  Heilung  haben.  Nur  macht 
es  oft  Schwierigkeiten ,  zu  beurtheilen ,  wie  weit  die  Weichtheile  noch 
lebensfähig  sind  oder  durch  die  Verletzung  (Ueberfahrung ,  Schuss- 
verletzung u.  s.  w.)  erfcödtet  sind.  Vergl.  pag.  5.  Stirbt  die  nicht  mehr 
genügend  lebensfähige,  bedeckende  Haut  ab,  so  ragt  der  Knochenstumpf 
ungedeckt  aus  der  Wunde  hervor ,  eine  Vernarbung  erfolgt  entweder 
gar  nicht  —  man  behält  ein  dauerndes  Geschwür  an  der  Spitze  des 
Stumpfes  —  Ulcus  prominens,  oder  wenn  die  Heilung  schliesslich 
nach    langer    Zeit    und    vieler    Mühe    erfolgt,    so    bleibt    der    Stumpf 


Zeit  der  Amputation.  Nachbehandlung.  261 

schlecht  geformt  und  wegen  der  auf  der  Amputationsfläche  ange- 
wachsenen, leicht  wieder  wund  werdenden  Narbe  für  die  Anlegung  eines 
künstlichen  Ersatzes  wenig  geeignet  —  konischer  Stumpf  (Zucker- 
hutstumpf). Hier  hilft  nur  eine  zweite  Amputation  —  Reamputation, 
so  hoch  oben ,  dass  die  Amputations-  oder  Exarticulationsfläche  mit 
gesunder  Haut  und  Weichtheile  gedeckt  bleibt. 

Auf  der  anderen  Seite  läuft  man  Gefahr,  mitunter  zu  viel  zu  opfern 
und  Theile  zu  entfernen,  die  vielleicht  noch  lebensfähig  waren.  Hier 
hilft  nur  Erfahrung.  Auch  die  äusseren  Verhältnisse  (Friedenspraxis 
oder  Thätigkeit  auf  dem  Schlachtfelde)  sprechen  hier  mit.  Unter 
günstigen  Verhältnissen  darf  man  Erhaltung  anstreben  ,  wo  mau  unter 
ungünstigen  Verhältnissen  mehr  opfern  muss. 

Weitaus  die  schlechtesten  Resultate  geben  die  Intermediär- 
operationen, ausgeführt  in  den  septisch  infiltrirten  Theilen.  Die  Ge- 
fahr einer  massenhaften  Aufnahme  septischer  Stoffe,  das  Entstehen  von 
Septikämie  und  Pyämie  mit  all  ihren  Schrecknissen  liegt  hier  ungemein 
nahe.  Muss  man  in  diesem  Stadium  operiren,  weil  Gefahr  im  Verzuge 
ist,  so  ist  auf  jede  Vereinigung  der  Wunde  zu  verzichten ,  damit  die 
infectiösen  Stoffe  ohne  Weiteres  abfliessen  können.  Irrigation  mit  Chlor- 
wasser, Immersion  u.  dergl.  (pag.  186)  oder  oft  gewechselte  feuchte 
antiseptische  Umschläge  (Sublimat  1  :  5000 — 1  :  1000)  können  von  Vor- 
theil  sein. 

Mit  dem  Nachlass  von  Fieber  und  Entzündung  werden  dann  die 
Resultate  wieder  günstiger,  doch  erreichen  die  Secundäroperationen 
nicht  ganz  die  günstigen  Zahlen  der  Primäroperationen. 

Den  Primäroperationen  wieder  annähernd  gleich  bezüglich  der  Er- 
folge stehen  die  erst  Monate  nach  der  Verletzung  ausgeführten  Spät- 
oder Tertiäroperationen.  Doch  ist  z.  B.  bei  Kriegsverletzten  die 
Zahl  derer,  die  überhaupt  in  dieses  Stadium  treten,  einstweilen  sehr 
gelichtet.  Pyämie  und  pyämische  Blutungen ,  andauerndes  Fieber, 
Amyloidentartung  innerer  Organe  u.  s.  w.  haben  einen  hohen  Procent- 
satz mittlerweile  dahingerafft. 

Bei  aseptischem  Verlauf  gibt  es  diese  Unterscheidung  verschie- 
dener Perioden  nicht.  Wo  eine  septische  Infection  durch  die  Behandlung 
ausgeschlossen  geblieben  ist,  kann  man  an  jedem  Behaudlungstage 
operiren  mit  derselben  Aussicht  auf  Erfolg,  wie  in  der  ersten  Stunde 
nach  der  Verletzung.  Gelingt  es  auf  dem  Schlachtfeld  durch  den  ersten 
Verband  (Jodoform)  die  Wunde  aseptisch  zu  gestalten ,  so  ist  damit 
unendlich   viel  gewonnen. 

Innerhalb  der  ersten  24  Stunden  vorgenommene  Amputationen  ergaben  nach 
Adler  (Pennsylvania-Hospital  zu  Philadelphia)  in  der  vorantiseptischen  Zeit  35'477o)  iii 
der  antisepti.schen  Periode  24'26°/o  Mortalität,  nach  der  primären  Periode  50' 19"/,)  und 
84'44:'' ß.     (Die  Zahlen  sind  für  heute  viel  zu  hoch.)  S.  unten. 

Für  die  Nachbehandlung  sind  die  einzelnen  Fälle  zu  speciali- 
siren.  Amputationen  in  inficirten  Theilen  dürfen  nicht  genäht  werden, 
höchstens  sind  einige  Situationsnähte  zulässig,  die  den  Abfluss  der 
Wuiulsecrcte  auch  nicht  im  Geringsten  stören  dürfen.  Bei  nicht  inficirten 
Fällen  gilt  als  Regel  Naht,  abwechselnd  tiefe  und  ol)erflächliche  Nähte 
und  genügende  Drainage.  Nur  in  ganz  gesunden  Theilen  darf  die  Wunde 
mit  verlorenen  Nähten  von  Catgut  oder  gut  dcsinficirtcr  Seide  von 
Grund  aus  genäht  und  ii'anz  verschlossen  werden. 


262 


IV.  Capitel.  —  Allf^emeine  Operations-  und   Instrunicntenlclirc. 


Die  Exarticulationcn  sind  in  ilirer  Technik  den  Amputationen 
ähnlich.  Für  die  Haut-  und  Weichtheilsclmitte,  Verhalten  der  Blutj^efässe 
und  Nerven  gelten  dieselben  Regeln.  Statt  den  Knochen  zu  durch- 
sägen, werden  die  Bänder  und  die  Kapsel  durchschnitten  (vergl.Fig.  185). 

Wo  die  Kapsel  bequem  liegt,  wie  der  Recessus  sul)  M.  quadricipite 
im  Kniegelenk,    kann  man  die  Kapsel  mit  Scheere   und  Tincette  oder 


JFig.  184. 

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mit  dem  Messer   herauspräpariren  und  entfernen.     Doch  ist  die  Esstir- 
pation  der  Gelenkkapsel,  wenn  sie  nicht  krank  ist,  nicht  nothwendig; 


Fig.  185. 


ebensowenig  braucht  der  Knorpel  ent- 
^"  fernt  zu  werden.  Bei  aseptischem  Ver- 

lauf wird  der  Knorpel  nicht  nekrotisch. 
Die  Exarticulationcn  geben  wider- 
standsfähigere Stümpfe,  die  auch  eine 
directe  Belastung  ertragen. 

Sonst  zeigen  die  Exarticula- 
tioncn in  ihrer  Ausführung  im  Ganzen 
viel  Aehnlichkeit  mit  den  Amputa- 
tionen. Nur  sind  Cirkelschnitte 
blos  in  einzelnen  Ausnahmsfällen  ver- 
wendbar. Fig.  185  zeigt  die  Aus- 
einer Handgelenksexarticulation  mit  dem  Cirkelschnitt.  Am 
besten  eignen  sich  Lappenschnitte  (Fig.  178  und  184)  und  der  Ovalär- 
schnitt.  Diese,  für  eine  Reihe  von  Exarticulationcn  recht  brauchbare 
Methode,  zeigt  Fig.  186  (Exarticulation  des  Daumens  nach  Älberf).  Das 
Messer  wird  oberhalb  des  Gelenkes  eingestochen,  erst  eine  Strecke  nach 
abwärts  geführt ,   unterhalb  des  Gelenkes    um  das  Glied   herumgeführt 


\«' 


führung 


ö 


Exai'ticulatiou.  Künstliche  Glieder. 


263 


Fig.  187. 


und  kehrt  daun  in  den  alten  Schnitt  zurück.  Die  Schnittlinien  sind 
etwas  gegen  einander  convex.  Dann  wird,  während  die  Wundränder 
mit  stumpfen  Haken  auseinandergezogen  werden ,  auf  das  Gelenk  ein- 
gegangen, die  Kapsel  und  Bänder  durchschnitten  und  der  Kopf  heraus- 
gehoben. Der  Ovalärschnitt  wird  als  Linie  vereinigt  und  wenn  nöthig 
werden  in  die  Ecken  Drainröhreu  eingelegt.  — ■  Im  Uebrigen  gelten 
alle  für  die  Amputationen  gegebenen  Vorschriften, 

Die  Gefahren  der  Amputation  und  Exarticulation  stehen 
in  geradem  Verhältnisse  zum  Umfange  des  Gliedes  und 
steigen  mit  der  Annäherung  der  Absetzungsstelle  an  den 
Rumpf.  Z.  B.  ergibt  die  englische  (Friedens-)  Statistik  nach  Simpson 
für  den  Vorderarm  eine  Mortalität  von  0'5%  -,  Oberarm  4"37o  ?  t^en 
Unterschenkel  13*l°/o,  den  Oberschenkel 
18'5%  (Amputationen).  —  Die  Gesammt- 
mortalität  beträgt  in  gut  geleiteten  Friedens- 
spitälern ca.  4 — 8%,  im  Kriege  dürfte  sie 
wohl  kaum  unter  25— 30Vo  sinken  (?) 
(amerikanischer  Krieg);  hat  aber  in  ein- 
zelnen Kriegen  und  Armeen  (Franzosen 
im  Krimkriege)  60 — 70"/o  (Oberschenkel 
91-9%,  Unterschenkel  72%)  betragen. 

Im  Frieden  sind  meist  Anämie  und 
schon  vorher  bestandene  innere  Leiden, 
Erschöpfung  u.  s.  w.  die  Todesursache ;  im 
Felde  fast  ausnahmslos  Pyämie  oder  andere 
accidentelle  Wundkraukheiten  (Tetanus, 
Septikämie,  progrediente  Gangrän  u.  s.  w.). 
Für  die  individuelle  Prognose  des  Falles 
sind  pag.  133  Anhaltspunkte  gegeben.  Das 
Alter  kommt  nicht  wesentlich  in  Betracht 
(Oberst). 

Der  Streit,  ob  Amputation  oder  Exarticulation 
das  zweckmässigei'e  Verfahren  sei,  ist  mit  der  Durch- 
führung der  Antisepsis  gegenstandslos  geworden. 
Man  setzt  ab  unter  Erhaltung  eines  möglichst  langen 
Stumpfes. 

Nach  vollendeter  Heilung  der  Wunden  werden  künstliche 
Glieder  oder  Prothesen  angelegt.  Diese ,  in  verschiedenster 
Weise  construirt ,  müssen  an  der  unteren  Extremität  vor  Allem  dem 
Bedürfniss  einer  festen  Stütze  entsprechen.  Ihre  Angriffspunkte  sind 
vorsi)riugende  Knochenkanten  —  die  Condylen  der  Tibia,  das  Tuber 
ischii ,  der  Darmbeinkamm ;  doch  trägt  auch  das  nach  unten  kegel- 
fijrmig  zulaufende  Muskelpolster  des  Oberschenkels  das  Seinige  zur 
Stützung  bei,  wenn  es  von  einer  enganliegenden  Lederkapsel  umschlossen 
wird.  Einfach  stabförmige  Stützen  ohne  Gelenke  nennt  man  Stelz- 
füsse,  solche  mit  Gelenken,  die  durch  Federkraft  gestellt  werden 
und  zugleich  die  Form  des  Beines  im  Aeussern  nachahmen,  künst- 
liche Beine.  Auch  an  der  oberen  Extremität  sieht  man  bald  mit  Ge- 
lenken versehene  Xachbildungcn  des  Armes  im  Gebrauch  —  künst- 
liche Arme  oder  an  Schulterriemen  angesetzte  Haken,  Gal)eln  zu 
einfachen  ^'errichtungen  (Tragen    von   Kcirben  u.  s.  f.).  —  Das  Hauj)!- 


264 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instramentenlehre. 


erforderniss  aller  Prothesen   ist  die  Leichtigkeit ,    ein    künstliches   Bein 
soll  nicht  mehr  wiegen  als  l'ö — 2  Kgrm.,  ein  künstlicher  Arm  1  Kgrm, 

Stümpfe,  wo  die  Hautbedeckung  ungenügend  war  und  der  Stumpf  sich  infolge 
dessen  zuckerhutförmig  zuspitzt,  nennt  man  —  konische  Stümpfe.  l)ie  Narbe  geht 
leicht  wieder  auf,  und  es  entsteht  Geschwürsbildung  auf  der  Spitze  des  Knochens  — 
Ulcus  prominens.  Diese  Stümpfe  sind  selbst  für  leiseste  Berührung  im  höchsten 
Grade  empfindlich.  Die  Reamputation  ist  angezeigt  (siehe  oben).  In  anderen  Fällen 
entwickeln  sich  schwere  Neuralgien  in  den  Stümpfen,  beruhend  auf  einer  kolbigen  Ver- 
dickung der  durchschnittenen  Nerven  —  Amputationsneurome  fs.  Geschwülste).  Sie 
sind  seit  der  Einführung  der  Antisepsis  viel  seltener  geworden.  Es  ist  die  Exstiqiation 
der  Neurome  zu  machen.  Durch  Resection  der  vorgezogenen  gi'ossen  Nervenstämme 
bei  der  Amputation  (pag.  256}  beugt  man  der  Neurombildung  am  sichersten  vor.  —  Die 


Stümpfe  atrophiren  sowohl  im  Knochen,   als  namentlich  auch    in  der  Musculatur, 
und  ist  dies  bei  der  Anpassung  der  ersten  Prothese  zn  beachten. 


Der  hervorragend  conservative  Charakter  der  neueren  Chirurgie 
findet  seinen  bezeichnendsten  Ausdruck  in  der  hohen  Entwicklung  und 
Ausdehnung  des  Gebietes  der  Resectionen  —  Entfernung  von  kranken 
Knochen  oder  Gelenktheilen ,  auch  Weichtheilen ,  ohne  dass  dabei  der 
Zusammenhang  des  Gliedes  ganz  aufgehoben  wird.  Selbstverständlich 
muss  dabei  eine  die  Hauptgefässe  und  Nerven  des  peripheren  Theiles 
enthaltende  Weichtheilbrücke  erhalten  bleiben,  während  von  den  Knochen 
und  Gelenken  mehr  oder  weniger  grössere  Partien  (im  Nothfall  bis  zu 
15  Cm.)  entfernt  werden  können.     Die    wunden    Knochenstellen    heilen 


nachher 


gehörig   aneinandergefügt 


wieder    zusammen,   wie  ein 


gewöhnlicher  complicirter  Knochenbruch. 


Eesection.  Subperiostale  Resectiou. 


265 


Seltener  handelt  es  sieh  um  Resection  in  der  Continiiität  eines 
Knochens,  gewöhnlich  um  Entfernung  kranker  oder  verletzter  Gelenke. 

Um  das  Gelenk  zu  eröffnen,  werden  die  verschiedensten  Schnitte, 
Bogen-,  Längs-,  T-,  H-,  U-Schnitte,  Lappenschnitte  mit  oberer  und  unterer 
Basis  (vergl.  Fig.  187 — 190)  verwendet.  Sie  müssen  natürlich  die  Gefäss- 
und  Nervengegend  meiden,  und  in  Theilen  geführt  werden,  deren  Ver- 
letzung keine  schweren  Folgen  für  die  spätere  Gebrauchsfähigkeit  des 
Gliedes  hat ;  dabei  muss  die  Gelenkgegend  doch  frei  zugänglich  werden. 
Nachdem  man  durch  Haut  und  Musculatur  bis  zum  Gelenke  gedrungen  ist, 
wird  dieses  eröffnet  und  die  Gelenktheile  herausgehoben,  indem  alle  Weich- 
theile  von   den  Knochen  abpräparirt  und   möglichst  unversehrt  zurück- 


Fig.  189. 


Fig.  190. 


Schnitte  fär  die  Resection  des  Schulterkopfes 
(ta  nach  B.  v.  Langrnbeck ;  bb  Ollicr  und  C.  Hueter. 


AA  Resection  des  Kniegoienkes 
mit  vorderem  Bogenschnitt. 


gelassen  werden.  Am  besten  erreichen  wir  diesen  Zweck  durch  sub- 
periostaleResection,  deren  Ausbildung  wir  B.  v.  Langenbecl-  verdanken. 
Das  Periost  wird  eingeschnitten  und  mit  dem  Schabeisen  zurückgeschoben, 
was  bei  entzündetem  Periost  leicht  gelingt,  doch  auch  am  normalen.  Die 
ganz  nackten  Gelenkkörper  werden  dann  mit  der  Säge  so  abgesägt,  dass 
die  erkrankten  Theile  wegfallen.  Fig.  187  und  Fig.  188  (nach  Albert) 
veranschaulichen  eine  subperiostale  Resection  am  Schultergelenk. 

Die  Erhaltung  des  Periostes  gestattet  einmal  äusserste  Sclionung 
der  Weichtheile,  dann  i)roducirt  das  erhaltene  Periost  nachher  wieder 
werthvolle  neue  Knochenmasse,  so  dass  die  Resultate  der  subperiostalen 
Resectionen  da,  wo  sie  am  Platze  sind,  die  ohne  Erhaltung  des  Periostes 
ausgeführten  wesentlich  überragen. 


266 


IV.  Capitol.  —  Allgoiiicine  Operations-  und   )nsti'ujnr:nt<;nle}ire. 


Zur  Ausführung-  der  Rescctioueu  sind  verschiedene  Instru- 
mente nöthig". 

Zum  Freipräparircn  der  Knochen  benutzen  wir  die  kurzen  kräf- 
tigen, in  voller  Faust  geführten  Resectionsmesser.  Fig.  191. 

Zum  Fassen  der  Gelenkkörper,  Herausziehen  von  Splittern  etc. 
dienen  die  in  Fig.  192  a — e   abgebildeten  Zangen. 

Zum  Abhebein  des  zu  schonenden  Periostes  v^^erden  ausser  dem 
in  Fig.  174  abgebildeten  Elevatorium  die  in  Fig.  19.^  gegebenen  Schab- 
eisen und  der  Gaisfuss  nach  v.  Lanyenheck  angev^^andt. 


Fig.  191  a. 


Pig.  192  a. 


Fig.  102  &. 


a  spitzes,  b  geknöpftes  Besectionsmesser. 


a  Kornzange,  h  Sequesterzange. 


Fig.  194  gibt  eine  Stichsäge  zur  Abtragung  kleiner  Knochen- 
partien. Fig.  195  eine  Kettensäge,  die  mit  einer  biegsamen  Silberöhrsonde 
oder  eigenen  Führern  um  den  zu  durchsägenden  Knochen  herumge- 
führt wird  und  den  Knochen  von  innen  nach  aussen  durchtrennt. 

Breite  Knochenflächen ,  wie  der  Tibiakopf ,  werden  mit  der 
Szymanoivski  sehen  Resectionssäge  (Fig.  196)  oder  mit  der  Fig.  1755  ab- 
gebildeten Blattsäge  abgetragen. 

Feinere  Arbeit  am  Knochen  verrichtet  man  mit  Meissein,  die 
in  Fig.  197  dargestellt  sind.  Ihre  Handhabung  —  mit  Metill-  oder  ab- 
gekochtem Holzhammer  zeigt  Fig.  198. 

Die  Vereinigung  getrennter  Knochenstücke  wird,  wie  bei 
den  Knochenbrüchen  (s.  dort),  am  häufigsten  durch  geeignete  Verbände 


Technik  der  Resection. 


267 


erzielt.  In  anderen  Fällen  werden  die  (tbeilweise  spongiösen)  Knochen- 
flächen mit  geglühten  vernickelten  oder  vergoldeten  vierkantigen  Nägeln 
oder  Drahtstiften  zusammengenagelt  (Tktersch^  Hahn)  oder  man  stutzt 
sie  treppenförmig  zu,  oder  implantirt  das  eine  zugespitzte  Stück  in  die 
Markhöhle  des  anderen  oder  man  verbindet  sie  durch  sterilisirte  Elfen- 
beinstifte oder  durch  darüber  geschobene  Ringe  aus  decalcinirten  oder  unbe- 
handelten, aber  sterilisirten  Thierknochen  (z.  B.  Tibia  des  Kalbes,  Senn). 

Fig.  192  c. 


Fig.  192  d. 


c  Fnrnbcvf. 


</ ResectionPzange  nach  v.  Launen  heck. 


F,;rijussiiK 


In  vielen  Fällen  greift  man  zur  Knochennaht.  Mit  den  in  Fig.  199 
dargestellten  Bohrern  bohrt  man  Löcher  in  die  Knochen  (z.  B.  den 
Unterkiefer),  schiebt  sterilisirte  8ilberdrähte  hindurch  und  dreht  diese 
mit  freier  Hand  oder  dem  Drahtschnürer  (Fig.  199  f)  zusammen. 

Auch  für  die  Resectionen  haben  die  ]!ag.  261  angeführten  vier 
Perioden  des  (nicht  aseptischen)  Wundverlaufes  ihre  Geltung.  Auch 
hier  geben  die  Primärresectionen  die  besten,  die  intermediären  die 
denkbar  schlechtesten  Resultate,  während  die  Secundärperiode  mittlere 
Erfolge  ergibt,  die  Tertiär|)eriodc  sich  wieder  der  l'rimärpcriode  nähert. 
Nach  Gurlf  starben  von  Resectionen  nach  Scliussverlctzungcn  :  Schulter- 
gelenk 34-7«/o,  Ellbogen  24-877o,  Handgelenk  ir)-4r)"/o,  Hüfte  88-40%, 
Knie  77-080/O,  Fuss  38-92o  o  (Kricgsverlct/uiigrii  i. 


268 


IV.  (Japitcl.  —  AUgoinoino  OpcrutioiiK-   luni    In.slj'imiciiteiilijlin;. 


Für    die   Vornalime   der  Operation ,    sowie    die    Nachbehandlung 
gelten    dieselben    Regeln    wie   für   Amputationen   und  Exarticulationen. 


Fig.  193  a. 


Fig.  l'.l'ilj. 


a  Schabeisen,     b  Gaisfuss  nach  v.  Langenbeck. 
Fig.  194. 


Jeffralfs  Kettensäge. 


Drainage  ist  fast  immer  nötbig.  Besonders  wichtig  ist  eine  gute  Coap- 
tation  der  Knochenflächen  und  sichere  Lagerung   während  der  Heilung 


Instrumente  der  Eesection.  269 

(s.  obeu).  Besonders  zweckmässig  sind  hier  unterbrochene  oder  gefensterte 


Szymanowsky's  Eesectionssäge. 


Fig.  197  I. 


Fig.  197  II. 


T   '9^' 


Chirurgische  Meissel. 

I.   Grösseres  Osteotom.     II.  Kleinere  Meissel. 

a  Hohlmeissel,  b  Meissel  mit  abgeschrägter  Schneide. 


Fig.  198. 


Haltung  des  Meissel.';. 

Gipsverbände  wie  Fig.  2i>ii    nach   AHktI    ciiK'i:  suh-lieii    nach  Kesection 


270 


JV.  Capitol.  —  AIlgi;meim;]^Opi;rations-  und  Instruineiitciilcli)*,- 


Fig.  199  a. 


im  Fiissgelenk,  zugleich  zur  Suspension  eingerichtet,  darstellt.    Für  die 

untere  Extremität  gilt  nach  Resectionen  zum  Theile  das  bei  den  Knochen- 

hrüchen  über  „Gehverbände"  Mitgetheilte. 

Wo  Beweglichkeit  erzielt  werden    soll  (Ellbogen  ,  Hand  u.  s.  w.j, 

fangen  wir  schon  in  der   zweiten  Woche   mit  .Stellungsänderungen    an, 

wozu  sich  sehr  gut  Schienen  mit  verstellbarem 
Gelenk  —  wie  die  Volkmann'sahe  Supinations- 
schiene  —  eignen ,  denen  sich  dann  bald 
passive  Bewegungen  anschliessen. 

Im  Ganzen  erstreben  wir  an  der  unteren 
Extremität  mehr  die  Ankylose  (besonders  im 
Knie),  während  an  der  oberen  Extremität  auf 
ein  bewegliches  Gelenk  hingearbeitet  wird.  — 
Interessant  sind  die  Untersuchungen  von  Gurlt 
über  die  spätere  Gebrauchsfähigkeit  der  re- 
secirten  Glieder.     Hienach  fanden  sich  unbe- 

Resultate, 

Fig.  199  6. 


d.  h.  ungenügende  Ge- 
brauchsfähigkeit am 
Schultergelenk  55"867o  •. 
Ellbogen  70-70%,  Hand 
93-750/0  (0;  Hüfte  nur 
günstige  Resultate,  Knie 
11-11%  ungünstige, 
Fuss  49-27%  unge- 
nüo-ende. 


Fig.  199  c. 


Sticlibolirer. 


Schnürstäbchen. 


Soll  ein  Gelenk  steif  werden  oder  lässt  sich  die  Steifigkeit  nicht 
vermeiden,  so  ist  dasselbe  während  der  Heilung  in  der  für  den  Gebrauch 
günstigsten  Stellung  zu  fixiren  —  das  Knie  nahezu  gestreckt,  Ellbogen 
etwas  mehr  als  rechtwinklig  gebeugt,  drei  Viertel  supinirt,  die  Hand 
etwas  dorsalfiectirt  u.  s.  w.  (S.  auch  Gelenkbrüche.) 

jManchmal  lässt  sich   ein  nicht   ganz    genügendes  Resultat  —  wie 
ein  Schlottergelenk   im  Knie,    das  natürlich    den  Gebrauch    des  Beines 


Ergebnisse  der  Eesectionen.  Thermokaustik. 


271 


erheblich  beeinträchtigt  —  durch  einen  passenden  Stützapparat,  einen 
Tutor,  eine  auf  einem  Gipsabguss  oder  Holzmodell  gearbeitete,  der 
Körperform  sich  genau  anschliessende,  durch  Stahlschienen  verstärkte 
Lederhülse,  noch  wesentlich  verbessern. 

Misslingt  die  Resection,  so  ist  schliesslich  doch  oft  noch  die  Ampu- 
tation angezeigt.     Hiezu  kann  man  durch  Infection  mit  Eitersenkungen 

Fig.  200. 


u.  s.  w.  gezwungen  werden ,  oder  der  Kranke  ist  durch  langdauernde 
Leiden  und  Eiterung,  Amyloidentartung  innerer  Organe  so  herunter- 
gekommen, dass  es  —  im  Interesse  der  Erhaltung  des  Lebens  — 
geboten  scheint,  durch  die  Amputation  ihm  eine  rasche  Heilung  der 
Wunden  und  so  die  letzte  Möglichkeit  der  Genesung  zu  bieten. 


Zur  Entfernung  und  Zerstörung  krankhafter  Gewelje 
stehen    uns  die  verschiedensten  Verfahren  und  Instrumente  zu  Gebote. 

Will  man  die  Blutung  vermeiden ,  so  lassen  sich  gestielte  Ge- 
schwülste mit  Seidenfäden  abbinden  oder  durch  geeignete  Instrumente 
allmählich  abquetschen.  Der  Typus  dieser  Instrumente  ist  der  Draht- 
Ecraseur  von  Maissoneuve  (Fig.  201),  moditicirt  von  Meyer ,  wo  das 
Gewebe  mit  geglühtem  Eisendraht  allmählich,  d.h.  in  Minuten  bis  einer 
halben  Stunde  durchgeschnitten  wird.  Man  nennt  dies  auch  „kalte 
Schlinge"   im  Gegensatz  zur  galvanokaustischen  Schlinge. 

Weiche  Gewebe,  Granulationen  u.  dergl.  zerstört  und  entfernt  am 
schnellsten  der  scharfe  Löffel  (Fig.  202  a  und  h). 

Zur  Zerstörung  von  Geweben  bedienen  wir  uns  ausserdem  der 
Glühhitze  und  der  Aetzmittel. 

Die  Glülicisen,  Glühkupfer  von  den  verschiedensten  Formen  linden 
heute  kaum  noch  \'crwcndung,  sie  sind  nicht  so  wirksam  und  bequem 
wie  der  Thermokauter  (Fig.  203  und  204).  Der  Platinbrenner  von 
l'ar/urlüi  besteht  aus  einer  an  der  Spitze  mit  Platinschwamm  gefüllten 
hohlen  l'latinröhrc,  Handgriff  und  Gebläse.  Die  Platinspitze  wird  in 
Gas-  oder  Spiritusflanime  bis  zur  Ptothglühhitze  erwärmt  und  glüht  dann 


272 


IV.  Cupitel.  —  Allgemeine  (Jpi;ratioiis-  und   JnstianiientenlelDi 


beliebig  weiter,  wenn  Benzin-  oder  rctroleumätlierdäuipfl-  diiich  das 
Gebläse  zugeführt  werden. 

Schwache  Kothglühhitze  wirkt  blutstillend,  wenigstens  für  kleine 
Arterien,  Weissglühhitze  trennt  die  Gewebe  fast  so  glatt  wie  ein  Messer 
und  wirkt  nur  wenig  blutstillend. 

Dies  gilt  auch  für  die  Galvanokaustik. 

Die  Kraft  kann  aus  den  verschiedensten  Quellen  (Accu- 
mulatoren ,    Dynamomaschinen   etc.)    bezogen    werden.    Für    den   Arzt 


Fig.  201. 


Fig.  202. 


Fig.  203 


eignen  sich  am  besten  die  Zinkkohlebatterien,  die  mit  folgender,  öfters 
erneuerter  Lösung  gefüllt  werden:  Acid,  chrom.  75"0,  Hydrarg.  sulf.  25"0, 
Ac.  sulfur.  206-0,  Aq.  dest.  lOOO'O. 

Der  Typus  verschiedener  Brenner  ist  entweder  das  Platinmesser 
(Fig.  205)  oder  die  Schlinge  (Fig.  206)  oder  der  vom  Draht  umzogene 
Porzellanbrenner  (Fig.  207). 

Die  Galvanokaustik  hat  vor  dem  Thermokauter  den  Vorzug,  dass 
man  die  Brenner  kalt  in  Höhlen  (Nase,  Hals,  Kehlkopf,  Blase,  Gebär- 
mutterhöhle) einführen  und  dort  erst  zum  Glühen  bringen  kann.  An 
frei  zugänglichen  Orten  ist  der  Thermokauter  bequemer  und  handlicher. 


Elektrolyse. 


273 


Während  die  Galvanokaustik  lediglich  durch  Hitze  wirkt,  kommen 
bei  der  Elektrolyse  die  chemischen  Wirkungen  des  elektrischen 
Stromes  zur  Wirkung,  zunächst  als  Aetzung.  Man  bedarf  eigener  Batterien 
zur  Elektrolyse,  meist  gleichfalls  aus  Zinkkohleelementen  und  mit  der- 
selben Flüssigkeit  beschickt.  —  Zur  Zerstörung  von  Warzen,  flachen 
Krebsen,  kleinen  Blutschwämmen  u.  dergl.  senkt  man  je  eine  Nadel 
ein.  An  der  mit  dem  positiven  Pol  verbundenen  Nadel  entsteht  Sauer- 
stoff, am  negativen  Wasserstoff,  der  sich  mit  "dem  Natron  der  Gewebe 


Fig.  206. 


Fig.  207. 


Fig.  205 


f 


ZU  Aetznatron  umsetzt.  Es  entstehen  hier  kleine  Bläschen.  Das  zwischen 
beiden  Nadeln  liegende  Gewebe  wird  allmählich  missfarbig,  schrumpft 
später  oder  stirbt  ab. 

Setzt  man  die  eine  breite  Elektrode  auf  die  Haut  (Brustbein)  und 
liilirt  die  andere  als  Nadel  oder  kleine  Kugelelcktrode  in  eine  Ge- 
schwulst oder  eine  Körperhühle  (Gebärmutter)  ein,  so  erhält  man  die 
katalytischc  (uinstinnncnde,  resorbircnde)  Wirkung,  durch  die  die  all- 
mähliche Aufsaugung     oder  Verkleinerung     chronischer     entzündlicher 

Landerer,  AUg.  chir.  PatholoRJc  u.  Therapie.  2.  Aufl.  lg 


274 


IV.  Capitel.   —  Allf^emdnc  Ojiorations-  und  Instrumeritenlohrc, 


Exsudate  oder  selbst  Geschwülste,  wie  Gebärmuttermyome  fAjjo.^fo/ij^ 
herbeig:efülirt  wird. 

Die  Aetzmittel  sind  bei  der  Behandlung  der  Neut)iklungen  be- 
sprochen. 

lieber  Einspritzung  und  Ausspülung ,  die  hiezu  nötliigen  Instru- 
mente   und   Medicamente    ist    bei    den   Krankheiten    der  Gelenke    das 


Wichtigste  erwähnt. 


Plastische  Chirurgie. 


Dije^jDlastische  Chirurgie-,  deren  Geschichte  schon  mit  den  alten 
Indern  beginnt,  hat  in  den  letzten  Jahren  besonders  grosse  Fortschritte 
gemacht.  Sie  hat  die  Aufgabe ,  Defecte  durch  gleichartiges  Gewebe, 
Haut  durch  Haut,  Knochen  durch  Knochen  u.  s.  w.  zu  ersetzen.,  statt 
des  Narbengewebes,  was  sonst  die  Lücke  füllt  und  durch  Schrumpfung 
"(Haut)  oder  Behinderung  der  Function  (Nerven,  Knochen)  stört. 

^Für  den  Ersatz  von  Hautdefecten  stehen  uns  die  verschiedensten 
Methoden   zur   Verfügung.    Oft   genügt    einfache  Hautverschiebung,_ 


Fig.  208. 


Fig.  209. 


Operation  der  Lii^peneinziebung  nach  N^laton. 


wobei  man  einen  oder  mehrere  Schnitte  in  anderer  zweckmässiger 
Weise  durch  die  Naht  zusammenfügt,  wie  in  Fig.  208  oder  ein  V'Sehnitt 

wird  als   Y ,    ein  liegendes  O  als  senkrechte  oder  wagrechte  Linie 

vernäht  u.  s.  w.  —  Ein  anderes  Mal  muss  die  Haut  erst  durch  Ent- 
spannungsschnitte beweglich  und  verschieblich  gemacht  werden 
(vergl.  Fig.  209 ,  Verschluss  einer  Darmfistel  durch  Darüberlegen  eines 
Brückenlappens). 

Hängt  der  Lappen  nur  noch  mit  einer  schmalen  ernährenden 
Brücke  mit  seinem  Mutterboden  zusammen,  so  haben  wir  einen  ge- 
stielten Lappen,  durch  dessen  Verpflanzung  sich  Defecte  decken 
lassen    (vergl.  Fig.  210).    Diese    gestielten  Lappen    —    womöglich   mit, 

Arterie   und  Vene   im   StieT  —  lassen    sich    verschieben ,    drehen ,    um- 

''****^'^-^schlagen  u.  srw:  ^  -—'-■■-■-  - -■-  -- ^^^     ^'^'^ 

*'''"''"'"~"Siül^  sie'"äri"i1iitem  neuen  Orte  angewachsen,  so  kann  nach  2  bis 

4  Wochen    der   ernährende  Stiel    durchtrennt  werden.    So    lassen    sich 

Nasen   aus  Stirn-  und  Wangenhaut   (zweite   indische  Methode)   bilden, 

/        oder   aus   der  Armhaut   (italienische   Methode    Tagliacozzd)  (Fig.  211). 


Plastische  Chirurgie.  Hauttransplantation. 


275 


Es  lassen  sich  mit  g-rossen  gestielten  Lappen  aus  dem  andern 
Bein  grosse  Substanz  Verluste  durch  Geschwüre  oder  Verletzungen  am 
Bein,  aus  der  Brusthaut  Defecte  an  Hand  und  Arm  decken.  Die  beiden 
Körpertheile  müssen  dann  durch  feste  Verbände  (wenn  nöthig  Gips- 
verbände) auf  2 — 3  Wochen  un verschieblich  gegeneinander  fixirt  werden. 

Auch  die  Thatsache  der  Wiederanheilung  völlig  getrennter  Haut- 
stücke.  —  ^^M  IJeö'bächtet"  dies  öfter  an  abgeschlagenen  Stückchen 
ISfase,  Kopf  baut  u,  s.  f.  —  ist  zur  fruchtbringenden  Methode  ausgebildet 
worden.  Schon  die  alten  Inder  (ältere  indische  Methode)  verstanden  es, 
aus  durch  Klopfen  hyperämisch  gemachten  Stücken  der  Gesässhaut 
Nasen  zu  bilden  jVergl^u.A.  Hirsciiherg,  Langenhec]x''s  Arch.,  46). 

ßeverdin  hat  die  Methode  in  dem  Sinn  ausgebildet,  abgetragene 
dünne  Hautstückchen  auf  granulireude  Flächen  aufzulegen ;  der  Erfolg 
"isF~ein"  massiger  ,D  weil  die  Granulation  (vergl.  pag.  78)  ein  so  hin- 
fälliges Gewebe  ist,  dass  auch  die  darauf  gepflanzte  Haut  nur  unsicher 
anheilt  und  leicht  wieder  abg-eht. 


e> 


Fig.  210. 


Lippenbildung  mit  Hilfe  eines  Kinnlappens  nach  B.  v.  Langenbenk. 
II  a  Defect  und  Lappenbildung;   b  vollendete  Plastik. 

„.^'^  Nachdem  schoivZehender  mit  Glück  auf  die  alte  indische  Methode  — 

völlig^äbgelüste,  frische  Haut,  auf  frische  Wunden  [zu  pflanzen  —  zurück- 
gegriffen hatte,  ist  die  Hauttransplantation  durch  TJjicrsch  zu.  ihrer 
jetzigen  Vollendung  gelangt.  Es  werden  aus  der  Haut  (am  geeignetsten 
Tstdie  Vorderfläche  der  Oberschenkel)  mit  einem  flachen  Rasirmesser 
(Mikrotommesser)  ganz  dünne  lange  Streifen  abgetragen  und  direct  auf 
dfe  Wundfläche ,  deren  Blutung  gestillt  ist ,  mit  dem  Spatel  aufgelegt. 
Pie  Operation  ist  aseptisch,  nicht  antiseptisch  zu  machen,  Messer  und 
Hautflächen  werden  mit  sterilisirter  physiologischer  Kochsalzlösung 
benetzt.  Als  bester  Verband  haben  sich  mir  dachziegelförmig  sich 
deckende  schmale  Streifen  sterilisirten  Mulls  mit  3%  Borlanolin  bewährt. 
Will    man    auf  granulireude  Flächen  trausplautiren ,    so  sind  die 

I  y  Granulationen    mit    dem    scharfen    Löffel    abzukratzen    oder    mit    dem 

I  llRasirmesser    vorher    abzutragen    und    die   Blutung    durch    einen    Coni- 

•  I  pressionsverband  (10—30  Minuten)  zu  stillen. 

j  Narkose  ist  zur  Ablösung  der  Hautstreifen  nicht  unbedingt  nöthig. 

f  Die  locale  Anästhesie  mit  Aethylbichlorid  (pag.  248)  nach  Schnltzlßr 
und  J;JiniI(l  (Chir.  Centralbl.,T8yC  7)  hat  mich  weniger  liefriedigt  als 
das  Umziohen  des  Bezirkes  mit  Infiltrationsanästhesie  (physiol.  Kochsalz- 


^  I        lösun 


249). 


18-^ 


1 


*vW>|vOf. 


tr^ 


276 


IV.  Capitel.   —  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 


Die  feineren  Vorgänge  bei  der  Anbeilung  transplantirter  Läppehen 
sind  u.  A.  von  Karg ,  Garre ,  Juwjengd ,  Goldmann  (Beitr.  z.  Chir., 
Hd.  XI)  studirt  worden.    *"'  ' '  "^' 

*°^~"  Die  Processe  der  Aufheilung  J;ransplantirtgr,Läp.pe]ien  sind  mit  den  bei  der  prima 
reunio  geschilderten  Processen  identisch.  Am  J.Tag  lassen  sich  feinste  Gefäs^cliOT^  '^ 
iti"  der  bekannten  Weise  vom  Mutterboden  aus  hereinwachsen,  nachweisen  und  jetzt 
beginnt  auch  das  Epithel  des  Läppchens  zu  wuchern.  Das  Stratum  corneum  und  zum  Theil 
auch  das  Stratum  Malpighi  gehen  zu  Grunde,  ebenso  dieGefässe  des  Läppchens.  Das  zwischen 
Mutterboden  und  Läppchen  sich  einschiebende  gewöhnliche  Granulationsgewebe  wandelt 
sich  im  Laufe  der  nächsten  2 — 3  Wochen  in  Bindegewebe  um  (Goldmann).  Aber  erst^ 
iiach^wa^  einem  Jahre  habe  ich  bei  ausgedehnten  Transplantationen  auf  nackte jyiusSln"']'^ 

Fig.  211. 


/-.. 


und  Pascien,  Unterhautzell-  und  Fettgewebe  sich^ bilden  und  damit  auch  die  Farbe  der 
Haut  annäherncT  normal  werden  sehen.  Das  Pigment  bringen  Wauderzellen  (Karg).   — 
Selbst  die  dünnsten  Streifen  halten  ausser  Epithel  auch  JBindege webe.  Auf  Fett,  haften 
die  Läppchen  am  schlechtesten.    Das  Älter  scliadet' nicTit  viel.  "Ich  näFe"  auf '75jährig&   '' 
mit  Erfolg  transplantirt.  ■-■:.<■-■  _    _  -;,.;.-:w:.J.^.,.   _^ 

-.■La  Fig.  212  ist  eine  Nasenbildung  („Ehinoplastik")  dargestellt.  Aus  beiden 
Wangen  sind  rhomboidale  Lappen  a,  a  geschnitten,  und  mit  der  Hautfläche  nach  innen 
geklappt,  in  der  Mttellinie  vereinigt.  Es  ist  dies  eine  Modification  der  ältesten  oder 
ersten  indischen  Methode,  die  die  Nase  aus  der  benachbarten  Wangenhaut  bildete. 
Ueber  diese  ihre  Wundflächen  nach  aussen  kehrenden  Lappen  ist  ein  lang  gestielter 
Lappen  aus  der  Stii'nhaut,  in  dessen  Stiel  sich  A.  und  V.  frontalis  befinden,  herunter- 
geklappt oder  vielmehr  heruntergedreht  und  angenäht  (c  kommt  nach  c',  d  nach  d').  — 
Die  so  entstandenen  Lücken  in  Wangen  und  Stirn  sind  durch  Nähte  verkleinert  und  im 


Rhinoplastik.  Osteoplastik. 


277 


TJebrigen  durch  aufgepflanzte  Hautstreifen  gedeckt.  Diese  werden  der  Innenfläche  des 
Oberarms  oder  Oberschenkels  entnommen  (s.  oben). 

Die  Stellen  am  Arm  heilen  durch  Epithelwucherung  ohne  Narbenbildung. 

König  lässt  an  der  Unterfläche  des  Stirnlappens  die  Rindenschicht  des  Stirn- 
beins stehen  und  erzielt  so  ein  knöchernes  Nasengerüst. 

^ScMeimhautdefecte  lassen  sich  durch  gestielte  Hautlappen 
decken  (TMersch  deckte  einen  grossen  Defect  des  Gaumens  aus  der 
Wange)  oder  durch  gestielte  Schleimhautlappen.  Auch  völlig  abgelöste 
Schleimhautläppchen  heilen  auf  (Wölfler,  Chir.  Congr.,  1888),  auf  Haut  und 

"^uf  Schleimhaut.  Doch  bleibt  die  transplantirte  Haut  Haut  und  Schleim- 
haut  bleibt  Schleimhaut  {Schiavoni ,    Chir.  Centralbl.,    1895,  16,    und 

eigene  Beobachtungen). 


Fig.  212. 


Die  Methoden  der  Knochenplastik  (Osteoplastik)  sind  7Air 
Zeit  noch  in  voller  Entwicklung.  —  Die  Vereinigung  zweier  getrennter 
Knochenwunden  erfolgt  durch  passende  Verbände,  Lagerung,  Knochen- 
naht u.  dergl.  (s.  pag.  270). 

Für  die  Ausfüllung  grosserer  Defecte  am  Knochen  streiten  dagegen 
die  verschiedensten  Methoden  um  den  Vorrang. 

Die  Einpflanzung  lebenden,  mit  seinen  ernährenden  Ge-_ 
lassen  in  Verbindung  gebliebenen  Knochens  ist  in  der  ver- 
schiedensten Weise  ausgeübt  worden.  So  pflanzt  llfl^v?e>-  den  mit  einer 
«mährenden  Brücke  in  Verbindung  gebliebenen~~Scha3eTl<:nochenweicb- 
tlieillappen  wieder  in  die  Oeffnung  des  Schädels  ein  (temporäre  osteo^__ 
plastisclie  Scliädelresection)  und  Kihiiy  nimmt  einen  aus  Wciclitlieilen, 
Periost  und  oberflächlicher  Knochenschicht  bestehenden  Lappen  aus  der 


278  ^^-  Capitel.   —  Allgemeine  Operations-  und  Instrunientenlehre. 

Stirn ,  um  eine  Nase  mit  knöcherner  Grundlage  neuzubilden  (osteo- 
plastische Rhinoplastik). 

Man  pflanzt  ein  Stück  der  Fibula  in  eine  Lücke  der  Tibia  ein 
oder  spaltet  die  Fibula  und  implantirt  die  Hälfte  derselben  zwischen 
die  Fragmente  der  Tibia.  Oder  man  verpflanzt  ganz  abgetrennte  Knochen- 
stücke; so  hat  C'zerny  einen  Defect  im  Schädel  gedeckt  durch  ein  aus 
der  Rinde  der  Tibia  genommenes  Stück.  Mac  Ewen  bildete  einen  durch 
Osteomyelitis  verlorenen  Humerusschaft  beim  Kinde  durch  ^Einpflanzung 
zahlreicher  kleiner  bei  keilförmiger  Osteotomie  gewonnener  Knochen- 
stückchen. Auch  Knochenstückchen  von  jungen  Thieren  (Kaninchen^ 
Hunden)  sind  mit  Erfolg  eingeheilt  worden. 

Andere  Methoden  verwenden  todte  Knochenstücke  zur  Im- 
plantation. Ihnen  stehen  die  Forschungen  Barth' s  (Chir.  Congr.  1895  und 
l^^Q^  Langenheck' s  ki-oh.  4.1)  stützend  zur  Seite.  Er  nimmt  an,  dass  jeder 
Knochen  in  dem  Augenblick,  wo  er  abgelöst  wird,  abstirbt  und  dass  nur 
die  in  ihm  enthaltenen  Knochensalze  die  Knochenneubildung  veranlassen. 
Ich  habe  schon  seit  1892  theils  mit  in  Jodoformäther  sterilisirten 
Stücken  von  Thierknochen  verlorene  kleine  Röhrenknochen  (Phalangen, 
Schlüsselbein)  ersetzt,  theils  Defecte  im  Schädel  durch  geglühte  Knochen- 
stücke  zum  Verschluss  gebracht ;  selbst  grosse  Hölilen  im  Knochen  (nach 
Osteomyelitis,  Tuberculose)  heilen  sehr  schnell,  wenn  man  sie  mit  ge- 
glühten Knochensalzen  (phosphorsaurer  Kalk  85*6 ,  phosphorsaure 
Magnesia  1-75,  Fluor  calcium  3'5,  kohlensaurer  Kalk  9"0)  füllt. 

Ausser  völliger  Asepsis  (Antisepsis  ist  weniger  geeignet)  halte 
ich  aber  das  Vorhandensein  eines  knochenbildenden  Mutterbodens  (Periost, 
Mark  etc.)  für  unerlässlich.  Im  Gegensatz  zu  Barth,  der  glaubt,  dass^ 
man  durch  Implantation  von  Knochensalzen  überall  beliebig  Knochen 
neubilden  könne,  komme  ich  auf  Grund  meiner  praktischen  Erfahrungen 
zu  dem  Ergebniss,  dass  man  durch  Einpflanzung  von  todter  Knochen- 
substanz nur  die  Regeneration  mächtig  fördern,  nicht  aber  Knochen 
neu  bilden  kann. 

Decalcinirte  (mit  verdünnter  Salzsäure  entkalkte)  Knochenstücke 
haben  sich  später  wieder  resorbirt  (Kümmell),  während  Elfenbeiustifte, 
mit  denen  Knochenstücke  verbunden  wurden,  zum  Theile  einheilten  und 
die  Knochenneubildung  anregten. 

Ebenso  ist  es  gelungen,  nach  dem  Vorgange  von  Fraenkel  und 
■V .  Eiselsherg  Schädellücken  auf  heteroplastischem  Wege  durch  Cellu- 
loidplatten  dauernd  zu  verschliessen ;  doch  ist  ein  Theil  der  Platten 
später  wieder  ausgeeitert.  Auch  hier  ist  strengste  Asepsis  geboten. 
(S.  übrigens  auch  bei   „complicirte   Fractur".) 

Die  Plombirung  von  Knochenhöhlen  mit  sterilisirtem  Gips,  Kiipferamalgam^ 
geraspelten ,  in  Jodoformäther  sterilisirten  Knoclienspähnen ,  ebenso  sterilisirten  Fibrin- 
massen ,  Cement ,  Guttapercha ,  Jodoformkleister  (Neuher)  u.  s.  w.  hat  nur  in  einzelnen 
Fällen  Erfolg  gehabt.  Meist  misslingt  die  Asepsis.  Ich  ziehe  das  Einschütten  von  im 
Trockenschrank  2  Stunden  lang  bei  130°  sterilisirten  Knochensalzen  vor,  weil  es  in 
jedem  Stadium  der  Wundheilung ,  auch  im  Stadium  der  Granulation ,  gemacht  werden 
kann  und  die  Secrete  durch  die  Salze  nicht  zurückgehalten  werden. 

Die  Plastik  von  Muskeln  und  Sehnen  arbeitet  weniger  mit 
Heteroplastik,  als  mit  modificirten  Nahtverfahren. 

Durchschnittene  Muskeln  näht  man  mit  verlorenen  Seiden- 
oder Catgutnähten   so    flächenhaft   als    möglich    zusammen ,    sie  heilen 


Sehnennaht  und  Sehnenplastik. 


279 


mit  einer  der  Inscriptio  tendinea  äholichen  Narbe  mit  guter  Function, 
Der  Versuch ,  lebendes  Muskelgewebe  in  Muskellücken  einzuheilen 
(Helfer  ich),  ist  bis  jetzt  nicht  ein  wandsfrei  gelungen,  wenn  auch 
Gluck's  Experimente  theilweise  gelungen  sind. 

Durchschnittene  Sehnen,  die  sich  sehr  stark  zurückziehen,  sind 
nach  genügender  Freilegung  durch  lange  Schnitte,  durch  die  Sehnen- 
naht zu  vereinigen. 

Ich  bin  bei  der  Sehnennaht  immer  ausgekommen  mit  der  einfachen 
Matratzennaht    der  Sehne   mit  Seide,    wobei    man   bei    breiten  Sehnen 


Fig.  212  a. 


Fig.  2126. 


Fig.  212  d. 


noch  seitliche  Knopfnähte  hinzufügen  kann.  Bei  stärkerer  Spannung 
kann  man  Halteschlingen  quer  durch  die  Stümpfe  ziehen,  diese  zunächst 
mit  Knopfnähten  vereinigen  und  jene  dann  festziehen  (Witzd). 

Fig.  212  gibt  verschiedene  Methoden  der  Sehnennaht  nach  Wölfler. 

Die  verschiedenen  Methoden  von  Sehnenplastik  —  wobei  vom 
centralen  und  peri])lieren  Stumpfe  Läppchen  brückenartig  herüber- 
gesclilagen  werden  (Hilter,  Czcrny)  u.  dergl.  sind  complicirt  und  nur 
bei  kleinen  Defecten  ausführbar.  Sciion  seit  1890  haljc  icii  über  10  Cm. 
lange  Sehnendefecte  (meist  mit  vorzüglichem  Erfolg)  durch  an  die  Stelle 
der  Sehne  oder  der  Sehnenscheide  gelegte  Seidenschlingen  ersetzt  und 
Neubildung  der  Sehne  mit  guter  Function  gesehen.  (Mechanotherapie,  1894, 


280 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Oi>erations-  und  Instrumentenleljre. 


pag.  323.)  Die  Erfolge  sind  von  Kümmell  bestätigt  (Naturforseher- 
versammlung 1896).  Schon  früher  hatte  Gluck  mit  (Jatgutschlingcn  8  Cm. 
lange  Sehnendefecte  überbrückt.  Der  heroische  Vorschlag  Löh/cer's.  den 
Knochen  durch  Resection  zu  verkürzen,  um  weit  auseinandergewichene 
Sehnen  vereinigen  zu  können,  dürfte  daher  nur  bei  ganz  vereinzelten 
Fällen  zu  empfehlen  sein. 

Auch  Hilter's  peritendinöse  Sehnennaht  (Fig.  213)  ist  unnöthig, 
höchstens  als  Unterstützung  der  directen  Sehnennaht  kann  auch  das 
peritendinöse  Gewebe  durch  die  Naht  vereinigt  werden. 

Um  die  Sehne  zu  verlängern,  hat  man  treppenförmige  seitliche 
Querschnitte  bis  zur  Mitte  angebracht,  auch  in  dem  der  Sehne  benach- 
barten Theil  des  Muskels  (F.  Lange).  Findet  man  das  centrale  Ende  der 
Sehne  nicht,  so  kann  man  das  periphere  Ende  an  eine  benachbarte  Sehne 
oder  einen  benachbarten  Muskel  annähen.  Man  erhält  so  oft  noch  eine 
genügende  Function. 

In  Fällen  subcutaner  Abreissung  der  Sehne  von  ihrem  An- 
satz habe  ich  mehrmals  die  Sehne   blossgelegt  und,  wenn   nöthig  mit 


Fig.  213. 


Schema  der  peritencliaösen 
Sehnennaht. 


Scliema  der  directeu'  (a)  und  paraneurotischen  (h) 
Nervennaht.    Wolberg's  Nadel  (e). 


Resection  des  Knochens,  sie  an  ihrer  Ansatzstelle  mit  kleinen  Stiften 
angenagelt  oder  festgenäht,  z,  B.  die  vom  Nagelglied  abgerissene  Sehne 
des  M.  extensor  digitorum. 

Die  Histologie  der  Sehnenregeneration  ist  bei  der  Pathologie  der 
Sehne  besprochen. 

Die  Transplantation  von  Sehnen  wird  besonders  ausgeführt 
bei  der  spinalen  Kinderlähmung,  wo  gewisse  Sehnen,  z.  B.  die  der  (ge- 
lähmten) Zehenstrecker,  mit  nicht  gelähmten  anderen  Muskeln ,  z.  B. 
den  Mm.  peroneis,  vereinigt  werden,  so  dass  die  Wirkung  nicht  ge- 
lähmter Muskeln  auf  andere  Sehnen  übertragen  wird. 

Auch  Fascioplastik  wird  geübt.  Um  geschrumpfte  Fascien  zu 
verlängern,  werden  Y-Schnitte  als  V  vernäht,  Querschnitte  als  Längs- 
schnitte u.  s.  w. 

Nervendurchtrennungen  und  Nervendefecte  werden  zu- 
nächst durch  die  Nervennaht  vereinigt.  Auch  hier  haben  wir  die 
Naht  der  Nervenscheide  und  des  paraneurotischen  Gewebes,  die  para- 
neurotische Nervennaht  (Hüter)   und    die   directe    Nervennaht 


Nervennaht.  Nervenplastik. 


281 


(Wolherg) ,    die  Naht   der  Nervenstümpfe   mit  durch    die  Substanz   des 
Nerven  geführten  Nähten.  (S.  Fig.  214.) 

Die  paraneurotische  Naht  ist  vorzuziehen,  weil  man  besser  keinen 
Fremdkörper  in  die  Substanz  des  Nerven  einlegt,  wodurch  störende 
Bindegewebsentwicklung  angeregt  wird.  Ausserdem  ist  beim  Nerven 
keine  Spannung  zu  überwinden.  Auch  empfehlen  sich  für  die  Nerven- 
naht Hagedorn'sohe  Nadeln  oder  die  ähnlich  gebaute  von  Wolherg 
(Fig.  214  c).  Die  gewöhnlichen  Nadeln  zertrennen  ohne  Noth  eine  grosse 
Zahl  von  Nervenfasern.  Zweckmässig  verbindet  man  die  paraneurotische 
Naht  mit  einer  nicht  zu  tief  greifenden  directen  Nervennaht  (Tillmanns). 

Fig.  215. 


Wo  es  angeht,  legt  man  die  angefrischten  Nervenstümpfe  ohne 
Naht  in  ein  decalcinirtes  Knochendrain  —  Tubulisation  von  Vanlair. 
Nervendefecte  hat  man  in  der  verschiedensten  Weise  zu  decken 
Tcrsucht.  Zunächst  lässt  sich  durch  Dehnung  des  centralen  Stumpfes 
viel  ausgleichen  (Schüller).  Wo  dies  nicht  genügt,  kann  man  von  beiden 
Stümpfen  Läppchen  in  die  Brücke    hereinschlagen  (Letievant),  wie  bei 

Fig.  216. 


■der  Sehnenplastik,  oder  die  Tubulisation  machen.  Weniger  geeignet  ist 
die  Interpositiou  von  Catgutbündeln  (Gluck).  Mir  ist  es  gelungen ,  in 
einen  Defect  des  N.  radialis  ein  4  Cm.  langes  Stück  eines  Kaninchen- 
ischiadicus  mit  vorzüglichem  Erfolge  einzuheilen  (1886). 

Findet  man  das  centrale  Ende  nicht ,  so  kann  das  periphere 
Ende  seitlich  in  den  Stamm  eines  andern  Nerven  zwischen  dessen 
Fasern  eingeschoben  werden  (greffe  nerveuse ,  Nervenpfropfung  von 
Ijetihant). 

Die  Nervennalit  kann  primär,  d.  h.  unmittelbar  nach  der  Ver- 
letzung ausgeführt  werden  oder  secundär;  nach  Monaten,  selbst  nach 
Jahren  hat    man  mitunter   noch  Erfolg.    Stets  müssen  die  Stümpfe  mit 


282 


IV.  Capitel.  —   Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 


scharfer  Scheere  angefrischt  werden  und  bei  der  secundären  Nervennaht 
Narben  und  Verlöthungen  sorgfältig  entfernt  werden. 

Die  primäre  Nervennaht  gibt  etwa  in  zwei  Drittel,  die  secundäre 
kaum  in  der  Hälfte  der  Fälle  Erfolg  (vergl,  Nervenregeneration, 
pag.  83  ff.). 

Fig.  217, 
f 


Manchmal  handelt  es  sich  um  Befreiung  des  Nerven  aus  der  Umklammerung 
von  Calluswucherungen  bei  Knochenbrüchen  oder  durch  Narben.  Der  Nervenstamm  ist 
ganz  freizupräpariren  und  entfernt  in  einen  Canal  nicht  entzündeter  Weichtheile  lose 
einzunähen.  Die  Erfolge  —  meist  handelt  es  sich  um  den  N.  radialis  am  Oberarm 
(Fracturen,  Necrose)  —  sind  meist  sehr  gute. 

Transplantation  von  Fettgewebe  hat  Czernij  gemacht ,  indem  er  eine 
an  anderer  Stelle  entfernte  Fettgeschwulst  unter  Jer  Haut  der  entfernten  Mamma 
einheilte.,  .  -      ..,.----"-" ■ 

Allgemeine  Verbandlehre. 

Die  Grundlage  der  Verbandtechnik  sind  die  einfachen  Binden- 
verbände. Man  übt  sie  mit  Leinenbinden  oder  Flanellbinden.  (Die 
Figuren  meist  nach  Wohendorß'.) 

Fig.  218. 


Die  Fig.  215  und  216  zeigen  die  Art  und  Weise,  wie  man  Binden 
wickelt. 

Man  beginnt  mit  einer  das  Glied  umkreisenden  Cirkeltour 
(Fig.  217)  und   geht   weiter   mit   auf-  oder   absteigenden,   sich   zu  ein 


Allgemeine  Verbaüdlehre. 


283 


Drittel  deckenden  Spiraltouren,  Dolabra-  (Fig.  218)  (ascendens  oder 
descendens) ,  auch  Hobelbinde  genannt.  Bleiben  Lücken  zwischen  den 
Gängen  oder  Touren,  z.  B.  beim  raschen  Befestigen  von  Watte  u.  dergl., 
so  hat  man  die  kriechende  Hobelbinde  —  Dolabra  repens  (Fig.  218  &). 


Fig.  219. 


Fig.  220. 


Nimmt  ein  Glied  rasch  an  Umfang  zu ,  so  werden ,  um  Falten 
(Nasen)  zu  vermeiden ,  Umschläge  (renverses)  der  Binden  nöthig 
(Fig.  219).  An  anderen  Stellen  lässt  man  die  Touren  sich  in  Form 
einer  8  überkreuzen  (Fig.  220). 

Meist  beginnt  die  Einwicklung  eines  Körpertheiles  mit  einer 
Cirkeltour  und  schliesst  damit,  dazwischen  liegen  Spiraltouren  mit  oder 


Fig.  221. 


Fig.  222. 


Fig.  223. 


ohne  Umschläge  oder  8  Touren.   —  Aus  diesen  4  Grundformen  setzen 
sich  die  meisten  Bindenverbände  zusannnen. 

Durch  die  Ueberkreuzung  von  8-  oder  Umschlagstouren  entstehen 
eigentliiimliche  Kreuzungen  der  Bindengänge,  die  man  wegen  ihrer 
Aelinliclikeit  mit  der  Stellung  von  Getreidegrannen  Spica  nennt 


284 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 


So  haben  wir  in  Fig.  221  die  Spica  coxae,  die  Einwicklung  der 
Hüfte ;  Fig.  222  gibt  die  Spica  manus ;  Fig.  223  die  Spica  poUicis ; 
Fig.  224  die  Spica  humeri. 

Die  spicaartige  Einwicklung  des  Fusses  (Fig.  225j  wird  Stapes 
(Steigbügel)  genannt. 

Aus  sich  in  der  Kniekehle  kreuzenden  8-Touren  setzt  sich  die 
Testudo  genu  zusammen  (Fig.  226) ;  inversa  genannt,  wenn  die  Touren 
sich  nach  dem  Knie  hin  decken;  reversa,  wenn  die  Einwicklung  mit 
einer  Cirkeltour  über  der  Kniescheibe  beginnt  und  die  Touren  nach 
Oberschenkel  und  Unterschenkel  hin  auseinander  laufen. 

Die  Einwicklung  des  ganzen  Beines  zeigt  Fig.  227. 

Eine  Einwicklung  des  Beckens  ist  in  Fig.  228  dargestellt. 

Die  üblichen  Brustverbände  (Suspensorium  mammae)  geben  Fig.  229 
und  Fig.  230. 

Die  drei  gebräuchlichsten  Kopfverbände  sind  in  Fig.  231 — 233 
dargestellt.  Fig.  231  die  Augenbinde  (Monoculus),  durch  einige  in  gleicher 


Fig.  224. 


Fig.  225. 


Fig.  226. 


Weise  auch  über  das  zweite  Auge  gezogene  Touren  zum  Binoculus 
umzugestalten.  —  Fig.  232,  aus  Kreis-  und  Umschlagtouren  bestehend, 
die  Mitra  Hippocratis,  und  Fig.  233 ,  Capistrum  duplex ,  die  doppelte 
Halfterbinde. 

Eine  von  beiden  Seiten  eingeschnittene  Binde  mit  gemeinsamem 
Mittelstück  ist  eine  zweiköpfige  Binde  (Fig.  240),  ihre  Anwendung 
zeigt  Fig.  234,  die  Kinnschleuder,  Funda  maxillae. 

Die  mehrköpfige  Binde  (ScuUef&che  Binde) ,  eigentlich  aus  zahl- 
reichen parallel  gelagerten  Bindenstreifen  bestehend,  wird  heute  kaum 
mehr  angewandt.  Fig.  235  zeigt  die  Anwendung  zur  Einwicklung  des 
Unterschenkels.  Mit  Heftpflasterstreifen  ausgeführt ,  wird  diese  Ein- 
wicklung des  Unterschenkels  als  Bat/nton' scher  Verband  noch  mitunter 
bei  alten  callösen  Unterschenkelgeschwüren  verwendet. 

Verbandtücher  aus  Leinenstofif",  Hemdentuch  u.  s.  w.  finden  als 
dreieckige,  viereckige  Tücher  besonders  bei  Massenbedarf  von  Ver- 
bänden (Schlachtfeld)  oder  zur  Nachbehandlung  mit  Nutzen  Verwendung 

Man    leg 
vatten"  zusammengelegt 


legt    sie   an  frei  als  Tücher   oder  zu  bindenförmigen   „Cra- 


Bindenverbände. 


285 


Die    Art    der  Anlegung   geht    aus   beifolgenden  Abbildungen  von 
selbst   hervor  (Fig.  236—247). 


Fig.  228. 


Fig.  229. 


Fig.  230. 


Fig.  231. 


Fig.  232. 


Zusammengesetzte  Verbände    dienen    bestimmten    Zwecken. 

Die  antiseptische  Aera  hat  die  viel  benützten ,   schwer  desinficir- 

l)arcii  Schienen-  und  Lagerungsverbündc  aus  Holz ,    Polstern  ,    Riemen 


286 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operatiori.s-  und   J)i.sf,i'uri](!j]ti:iilt;!ir':. 


u.  dergl.  mehr  und  rnclir  in  den  Hintergrund  treten  lassen  zu  Gunsten 
einfacher  billiger  Verbände  aus  Gjpsbinden,  einfachen  Pa))pdeckel- 
schienen  u.  dergl.,  die  nach  einmaligem  Gebrauclic  weggeworfen  werden 
können.    Immerhin    haben    manche  Schienen    noch  ihre  Bedeutung,  be- 


Fig.  233. 


Fiff.  234. 


sonders  für  Behandlung  einzelner  häufig  vorkommender  Knochenbrliche. 
Pappe  lässt  sich  in  verschiedener  Weise  verwerthen.  Man  legt 
ein  gesundes  Glied  auf  die  Pappe,  umzieht  die  Form  mit  Bleistift  und 
schneidet  sich  darnach  mit  starker  Scheere  die  Schiene  (vergl.  Fig.  249). 
Man    kann    sie    in    Sublimatlösung    (1  :  1000)    befeuchten    und    damit 


Fig.  235. 


Fig.  236. 


Mitella  triana-ularis. 


ziemlich  keimfrei   machen,    so   dass   man    die  Schiene    in   die    oberen 
Schichten  eines  aseptischen  Verbandes  einschliessen  kann. 

Wasserdichte  Pappschienen  erzielt  man,  indem  man  die  ge- 
polsterte Pappschiene  in  Guttaperchapapier  einschlägt  und  dieses  an 
den  Nähten  mit  (altem)  Chloroform  zusammenklebt. 


Tuchverbände.  Pappe. 


287 


Zu  fixireiideu  Verbänden  lässt  sieb  die  feucbt  angelegte  und  mit 
Mull-  und  befeuchteten  Stärke-  (Gaze-,  Organtin-)  binden  befestigte  Pappe 
in  der  Fig.  248  und  249  angegebenen  Weise  benützen ,  womit  auch 
Knochenbrüche,  Gelenkentzündungen  genügenden  Halt  bekommen. 

Die  plastische  Pappe  von  P.  Bruns  lässt  sich  in  trockener  Hitze  formen, 
nachdem  man  die  Schiene  ausgeschnitten  oder  ausgesägt  hat.  Fig.  250,  Schiene  aus 
plastischer  Pappe  für  Eadiusbrnch  nach   Scliede. 


Fig.  237. 


Fig.  238. 


Fig.  240. 


Fig.  241. 


Fig.  242. 


Fig.  243. 


Ilolzschienen  verwendet  man  entweder  als  vorgearbeitete 
Lagerungsschieueu,  wie  Fig.  251,  Lagerungsschiene  für  den  Vorderarm, 
oder  als  einfache  Brettstreifen ,  die  in  verschiedener  Weise  angelegt 
werden.  Fig.  252,  provisorischer  Verband  eines  Vorderarmbruches; 
Fig.  253,  Verband  für  Radiusbruch  nach  lioser. 

Improvisirte  Verbände  aus  Holzstäbeu  mit  Schnur  zeigt  Fig.  254, 
mit  Leinwand-  oder  Tuchstreifen  Fig.  255. 


288  ^^-  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 

Viel  verwendet  sind  Schienen  aus  Zinkblech,  wie  man  sie 
sich  selbst  ausschneiden  und  zurechtbiegen  und  mit  Schnur  oder  Draht 
binden  kann  (Fig.  256  und  257). 


Fig.  244. 


Fig.;;248. 


JFig.  249. 


Selbst  auszuschneiden  aus  einer  Tafel  Zinkblech  (Schlachtfeld)  ist 
die  Schiene  aus  dünnem  Zinkblech  nach  Deslongchcmiijs  (Fig.  2ö9  a—c). 


Zinkblechschienen. 


289 


Ein  viel  gebrauchter  Apparat  ist  die  Volkmann'sche  T-Schiene 
(Fig.  258) ,  der  übliche  Lagerungsapparat  für  Entzündungen,  Wunden, 
Operationen  an  der  unteren  Extremität. 

Leicht  anzupassen  sind  auch  die  Lagerungsschienen  aus  Draht- 
gewebe nach  V.  Esmarch  (Fig.  260). 


Fig.  250, 


Fig.  251. 


Fig.  252. 


für    den    Chirurgen    ist    der    Gips- 


hat   leicht   geglüht  und 


Die    wichtigste    Verbandart 
verband. 

Der  Gii)s  —  sclnveielsaures  Calcium 
trocken  aufbewahrt  die  Eigenschaft,  mit  Wasser  angefeuchtet  binnen 
:■) — 5  Minuten  zu  steinharter  jMasse  zu  erstarren  und  die  ihm  während 
des  Trocknens  gegebene  Form  dauernd  festzuhalten. 

Landerer,  AUg.  chir.  l'atholngie  u.  Theraiiio.  2.  Aufl.  19 


290 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlelire. 


Bester  Modellirg-ips  wird  in  Mull-  frascher  trocknend)  oder  Gaze- 
binden lose  eingestreut  und  diese  lose  gewickelt.  Aufbewahrt  werden 
die  Binden  in  Blechkästen ,  wo  eine  Schale  mit  Chlorcalcium  aufge- 
stellt ist  (zur  Entwässerung  des  Gipses).  Zweifelhaften  Gips  stellt  man 
einige  Stunden  vorher  auf  einen  nicht  zu  heissen  Ofen. 

Fig.  253. 


Fig.  255. 


Fig.  256. 


Man  legt  den  Gipsverband  nicht  auf  die  nackte  Haut,  da  sonst 
die  Haare  ankleben  und  beim  Abnehmen  ausgerissen  werden  (!);  am 
besten  zieht  man  über  den  Theil  einen  Tricotschlauch ,  der  an  den 
Rändern  etwas  übersteht  oder  macht  eine  vorschriftsmässige  Einwick- 
lung   mit    Flanellbindeu.     Je    rascher    der    Gips   trocknen    soll,    umso 


Gipsverband. 


291 


wärmer  sei  das  Wasser.  Ein  gehäufter  Esslöffel  Alaun  in  einer  grossen 

Fig.  257. 


Schale  Wasser  gelöst,  beschleunigt  gleichfalls  die  Erhärtung.  Die  Binden 


19=^ 


292 


IV.  Crapitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instrurnentenlehre. 


sind  mit  Wasser  ganz  durchzogen,  wenn  keine  Luftblasen  mehr  auf- 
steigen. Man  drückt  sie  leicht  aus  und  führt  sie  locker  (ja  nicht  fest 
anziehen!)  um  das  Glied  herum  in  Cirkel-,  Spiral-  und  8-Touren. 
Umschläge  macht  man  nicht  (sie  geben  drückende  Faltenj ,  sondern 
schneidet  die  Binde  lieber  ab.   —   Soll  der  Verband  länger  liegen,  so 


Fig.  260. 


sind  mindestens  drei  Lagen  Gipsbinden  über  einander  nöthig.  Soli  der 
Verband  sehr  exact  sitzen  (Gehverbände),  so  kann  die  rasirte  Haut 
nur  mit  Vaseline  eingerieben  werden  und  jede  Unterlage  bleibt  weg. 
Ist  im  Gipsverband  Schwellung  des  Gliedes  zu  erwarten  (frische  Knochen- 
brüche) ,  so  sind  fingerdicke  lose  Lagen  nicht  entfetteter  Watte  unter- 
zulegen. 


Gipsverband. 


293 


Durchschnittlich  erstarrt  der  Gipsverband  in  6 — 10  Minuten.  Bis 
€r  ganz  trocken  ist  (Gehverbände)  dauert  es  etwa  36  Stunden. 

Hat  man  Gipsmehl,  so  lassen  sich  auch  ohne  Binden  Gips- 
verbände machen.  Man  rührt  Gipsmehl  und  Wasser  zu  gleichen 
Theilen  zusammen,  z.  B.  je  1  Liter,  taucht  beliebige  Stücke  Tuch 
(im  Krieg  Uniformrock  oder  -Hose),  Flanell    oder  dergl.  hinein,  drückt 


sie  aus,  legt  sie  um  und  lässt  sie  trocknen  (Gipskataplasma).  Man 
kann  so  aus  zwei  je  der  Hälfte  des  Umfanges  entsprechenden  Stücken 
einen  zweiklappigen  Gipsverband  machen  (vergl.  Fig.  261  ff  und  b). 


Fig.  263. 


Fig.  264. 


Fig.  265. 


Die  Gipsumgiisse  —  das  geölte  Bein  wird  in  eine  Lade  gelegt  nnd  erst  zur 
unteren  Hälfte,  dann  wenn  diese  halb  erstarrt  nnd  auf  ihrer  oberen  Fläche  gleichfalls 
eingefettet  ist,  zur  anderen  Hälfte  mit  Gipsbrei  umgössen  —  werden  heute  selbst  bei 
Delirium  tremens  nicht  mehr  gemacht. 

Die  Gipsleimvcrbände  von  llarimann  (Heidenheim)  haben  mich  wegen  ihres 
langsamen  Trocknens  nicht  befriedigt. 

An  jedem  Gipsverband  müssen  die  peripheren  Theile  —  Zehen, 
Finger   —   frei   bleilicn ,    um    die   Circulation   beobachten   zu    können. 


294 


IV.  Capitel.  —   Allgemeine   Operations-  und  Instrumentenlelire. 


Werden  die  Zehen  blau  und  schwellen  an  ,  treten  Schmerzen  auf  und 
nehmen  diese  Stauungserscheinungen  bei  Hochlegen  des  Gliedes  nicht 
binnen  einer  Stunde  ab,  so  ist  der  Verband  aufzuschneiden.  Gangrän 
des    Gliedes    oder    ischämische    Muskellähmung   (s.  pag.  8j   sind    sonst 


Fig.  266«. 


Fig.  266  0. 


die  drohenden  Folgen  der  durch  den  schnürenden  Verband  bedingten 
Stauung,  Verurtheilung  des  Arztes  wegen  groben  Kunstfehlers  der 
traurige  Ausgang. 


Fig.  267  a. 


Fig.  267  &. 


Zur  Verstärkung  der  Gipsverbände  kann  man  Streifen  von  Zink- 
blech oder  Holzspäne  oder  Drahtgitter  zwischen  die  einzelnen  Schichten 
einschalten  (Fig.  262).  Um  einzelne  Stellen  besichtigen  oder  verbinden 
zu   können ,   schneidet  man  innerhalb  der  ersten  24  Stunden  mit  dem 


Gipsverband.  Gipsschienen. 


295 


Gipsmesser  (Fig.  269)  Fenster  aus  dem  Verband  (vergl.  Fig.  200)  oder 
macht  unterbrochene  Gipsverbände,  wobei  man  die  beiden  Stücke 
mit  Bandeisenbügeln  (Fig.  263),  Telegraphendraht  oder  Holzlatten  mit 
einander  verbindet.  Man  kann  auch  Charniere  eingipsen  und  so  Be- 
weglichkeit erzielen  (Fig.  265). 

Auch  Schienen  lassen  sich  mit  Hilfe  von  Gips  herstellen. 

In  Gipsbrei  getauchte  Hanfsträhne  werden  auf  der  einen  Seite 
des  Gliedes  aufgelegt,    vorübergehend    mit  Binden   befestigt    und   nach 

Fig.  270. 


Fiff.  26 


WUI 


Fig.  26 


dem  Trocknen  abgenommen  (Beely).  Fig.  266  a  zeigt  eine  Armschiene 
aus  Hanfsträhnen,  h  eine  zum  Aufhängen  (durch  eingegipste  Ringe  oder 
Drähte)  eingerichtete  Suspensionsschiene  für  das  Bein. 

Eine  Unterschenkelschiene  aus  gegipsten  14 — 16  Lagen  Tarlatan 
nach  Herryott  zeigt  Fig.  267  a  und  h. 

Gipsverbände ,  an  deren  Erhaltung  nichts  liegt ,  lässt  man  im 
Bade  aufweichen  oder  einige  Stunden  vorher  in  einen  Salzwasser- 
umschlag einhüllen.  Will  man  den  Verband  nur  spalten,  um  ihn  nach- 


296 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instrumentenlehre. 


her,  indem  man  ihn  langsam  auseinander  dehnt,  als  Kapsel,  Schale 
oder  Schiene  zu  verwenden ,  so  ritzt  man  ihn  in  einer  geeigneten 
Linie  mit  dem  Gipsmesser  (Fig.  269)  ein  und  schneidet  den  Rest  in 
der  in  Fig.  268  abgebildeten  Weise  mit  der  Gipsscheere  (Fig.  270)  ein. 
Um  das  Aufschneiden  zu  erleichtern ,  kann  man  beim  Anlegen 
eine  gut  geölte  Schnur  einlegen ,  die  man  herauszieht  und  mit  der 
man  die  an  der  Spitze  geöhrte  Gipsscheere  durchziehen  kann.  Oder 
man  gipst  die  gut  geölte  Drahtschnur  von  Härtel  (Breslau)  ein  (Mikulicz). 
mit  der  man  den  Gipsverband  wie  mit  einer  Kettensäge  aufschneiden 
kann.  Die  Ränder  des  gespaltenen  Verbandes,  der  Gipskapsel,  kann 
man  mit  Heftpflasterstreifen  einfassen  und  erhält  so  eine  noch  Monate 
lang  zu  brauchende  feste  Kapsel. 


Fig.  272. 


Fig.  273. 


Fig.  271. 


Langsamer  erhärtend,  leichter  und  elastischer  ist  der  Wasser- 
glasverband (kieselsaures  Natron  oder  Kali,  eine  sirupähnliche  Flüssig- 
keit). Kieselsaures  Natron  von  annähernd  1'4  spec.  Gew.  ist  das  ge- 
eignetste Präparat.  Die  Unterlage  (Tricot  doppelt  oder  Mulleinwicklung 
darüber)  muss  dicker  sein,  als  beim  Gypsverband,  auch  empfiehlt  sich 
trotz  Unterlage  Einfettung  der  Haut.  Die  Anwendung  erfolgt  in  ver- 
schiedener Weise.  Entweder  lässt  man  die  nicht  zu  fest  gewickelten 
Mullbinden  in  einem  mit  Wasserglas  gefüllten  Präparatenglas  im  Laufe 
mehrerer  Tage  allmählich  mit  Wasserglas  durchziehen,  drückt  sie  aus 
und  legt  sie  an  wie  Gipsbinden.  Oder  man  macht  eine  (doppelte)  Ein- 
wicklung  des  Theiles  mit  Mullbinden  oder  gut  ausgedrückten  feuchten 
Gazebinden  und  streicht  das  Wasserglas  mit  einem  dicken  Borsten- 
pinsel (nach  dem  Gebrauch  sofort  in  warmem  Wasser  gut  auswaschen) 
auf,  tiberall  in  gleichmässiger  Weise ;  darauf  kommt  wieder  eine  Doppel- 
lage Mull  oder  Gaze,  erneutes  Bestreichen  und  so  noch  ein  drittes  Mal. 


Wasserglas  verb  ände . 


297 


Da    Wasserglasverbände   3  Tage   zum    Trocknen   brauchen ,  legt 
man    —    durch   eine   doppelte    Schicht   Mullbinden   getrennt   —   einen 


Fig.  274. 


Fip.  275. 


Fig.  27G. 


Gipsverband  darüber,  der  nach  4—6  Tagen  abgenommen  wird  und  die 
Form  erliält.  bis  das  Wasserglas  getrocknet  ist.  Der  Wasserglasverband 
lässt  sicli  durch   weiteres  Auftragen  später  beliebig  verstärken. 


298 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Jnstrumentenleljre. 


Fester,  etwas  weniger  elastisch,  aber  schwerer  wird  der  Wasser- 
glasverband durch  Einrühren  von  Magnesit  (Scldemmkreidej  in  das 
Wasserglas.  Der  Wasserglasverband  lässt  sich  durch  Einlegen  von  Holz- 
spänen, Zinkblechstreifen,  Drahtgeflecht  (Karewski)  u.  s.  w.  in  derselben 
Weise  modificiren  wie  der  Gipsverband ,  ebenso  durch  Fenster  ein- 
schneiden etc.  Er  eignet  sich  besonders  für  die  Behandlung  chronischer 
Gelenkentzündungen  und  für  orthopädische  Apparate;  wegen  seines  lang- 
samen Erhärtens  passt  er  nicht  für  Knochenbrüche. 

Der  Kleister  verband  ist  heute  so  ziemlich  aus  der  Mode  ge- 
kommen. Die  Herstellungsweise  ist  dem  Wasserglasverband  ähnlich. 
Den  Kleister  bereitet  man  sich  aus  Stärke ,    mit  wenig  kaltem  Wasser 

Fig.  277. 


glatt  gerührt  und  streicht  ihn  mit  Borstenpinsel  auf  Lagen  feuchter 
Gazebinden.  Er  wird  mit  feuchten  Pappendeckelstreifen  (oder  Zink- 
blech) verstärkt.  Er  trocknet  erst  in  4 — 5  Tagen  und  hat  deshalb 
nur  in  wenigen  Fällen  Vorzüge  vor   anderen  Verbandarten. 

Für  leichte  Fälle  eignet  sich  ein  über  Mullunterlage  gelegter  Verband  aus 
feuchten  Stärke(Gaze)binden ,  der  durch  Pappdeckelschienen  einen  gewissen  Halt  hat. 
Er  trocknet  in  12  Stunden  und  ist  aufgeschnitten  als  leicht  aufzuklappender,  nicht 
schwerer  Kapselverband  ganz  brauchbar,  für  leichte  Gelenkentzündungen  u.  dergl. 

Der  Leimverband  wurde  früher  aus  mit  Leim  getränkten  Leinen- 
binden gemacht,  die  vor  dem  Gebrauch  eingeweicht  oder  mit  nassem 
Schwamm  befeuchtet  wurden.  In  neuester  Zeit  empfiehlt  Lorenz  wieder 
die  Waltuch' ^oh^w  H  olzleimverbäude,  die  über  ein  Gipsmodell  (mit 
Gipsbrei  ausgegossenen,  über  dem  nackten  beölten  Körper  hergestellten 


Kleisterverband.  Leimverband. 


299 


Gipsbindenverband)  angelegt  werden,  Kölnerleim  wird  8 — 10  Stunden 
lang  in  kaltem  Wasser  aufgeweicht  und  dann  im  Wasserbad  aufgekocht 
(mit  57o  Grlycerinzusatz),  20 — 40  Grm.  doppeltchromsaures  Kali  auf  ein 
Liter  machen  ihn  später  wasserbeständig.  Die  Holzverbände  werden 
nun  aus  abwechselnden  Schichten  Holzbinden  (Vg — 1  Mm.  starke  auf- 
gerollte Fichtenspäne)  (Fig.  271)  und  Leinwand  (diese  an  den  Charnier- 
stellen  allein)  hergestellt,  die  zusammengeleimt  werden.  Lorenz  empfiehlt 
die  Holzmieder  als  besonders  leicht  (Fig.  272).  —  Hübscher  stellt  Ver- 
bände  aus  geleimter  Cellulose  her. 

Beim  Gummikreide  verband  werden  mit  einer  honigdicken  Mischung  Flanell- 
stücke  getränkt,  sie  trocknen  in  24  Stunden. 

Fig.  278. 


Die  Paraffinverbände  fjlfac  £'«<;ewj  Averden  aus  rolier,  mit  Paraffin  getränkter 
Baumwolle  bei  45"  hergestellt  und,  wenn  nöthig,  durch  kalte  Umschläge  rasch  erkaltet. 
Sie  haben  keine  besonderen  Vorzüge.  Auch  Stearin  ist  zu  brauchen.- 

Bei  dem  von  mir  eingeführten  Celluloidm  u  11  verband  werden  über  ein  G3'ps- 
modell  Mullbinden  gelegt  und  die  Mulltouren  schichtweise  mit  einer  Auflösung  von 
Celluloid  in  Aceton  mit  ledernem  Handschuh  eingerieben.  Die  Verbände  trocknen  in 
3—5  Stunden.  Sie  eignen  sich  besonders  zu  orthopädischen  Zwecken.  Wasserglasüberzug 
macht  sie  feuerbeständig. 

Guttaperchaplatten  (theuer),  nach  der  Form  des  Gliedes  ge- 
schnitten ,  werden  in  warmem  Wasser  erwärmt ,  dem  Gliede  angepasst 
und  halten  später  die  Form.  Sie  sind  unempfindlich  gegen  Wasser  und 
Schmutz  (Klumpfnssschienen  kleiner  Kinder). 

Filz  ist  als  Unterlage  von  Verbänden  zweckmässig.  Der  plastische 
Filz  (mit  gesättigter  alkoholischer Sclielhicklösung  [660:  lOOOj  getränkt), 


300 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Oiterations-  und  Instrumentenlehre. 


soll  in  der  Wärme  von  70''  so  biegsam  werden ,  dass  er  sich  jeder 
Körperform  anschmiegt  und  die  Form  später  hält.  —  Die  Technik  ist 
nicht  leicht,  die  Verbände  sind  plump. 

Der  Extensions-  oder   Zugverbände    bedienen  wir    uns,    um 
bei    Knochenbrüchen    der    Neigung    der    Bruchstücke,    sich    zu    ver- 


schieben, entgegenzuwirken,  oder  sich  krümmende  Gelenke  gerade  zu 
stellen,  kranke  Gelenke  zu  „distrahiren",  d.  h.  den  Druck  der  Gelenk- 
körper gegen  einander  aufzuheben  u.  s.  f.  Wir  bedienen  uns  hiezu  bald 
des  Zuges  von  Gewichten,  bald  des  Zuges  von  Gummischläuchen  u.  dergl. 
Am  klarsten  zeigen  dies  einzelne  Beispiele,  so  der  bekannte  Ge wicht s- 
extensionsverband  an  der  unteren  Extremität. 


Wir  bedienen  uns  meist  der  Heftpflasterstreifeu ,  seltener  (bei 
empfindlicher  Haut)  der  Flanellstreifen.  In  der  Richtung  des  auszu- 
übenden Zuges  liegt  der  Zugstreifen,  dieser  wird  durch  Circulär-  oder 
Spiraltouren  befestigt  (vergl.  Fig.  274).  Die  Anbringung  der  Gewichte 
zeigten  Fig.  275  und  277,  278. 


Zugverbände. 


301 


Zur  Flanellextension  theilt  man  einen  25 — 30  Cm.  langen  Flanellstreifen  von 
beiden  Enden  her  in  je  3  Streifen  und  lässt  ein  Mittelstück  von  etwa  40  Cm.  ungetheilt 
(3köpfige  Binde,  vergl.  Fig.  240).  Der  Mittelstreifen  kommt  als  Zugstreifen  auf  beide 
Seiten  des  Gliedes,    die  2  (4)  Seitenstreifen  werden  als  Dolabra  repens  (Fig.  218),   sich 


gegenseitig  überkreuzend,    angelegt,    darüber   kommt    eine    typische   Flanelleinwickluug- 
(Fig.  227).  Ein  solcher  Verband  trägt,  fest  angelegt,  20  Pfund  6  Wochen  lang. 

Heusner  besprüht  die  rasirte  Haut  mit  Hilfe  eines  Zerstäubers  mit  folgender 
Klebelösuug:  Cerae  flavae  lO'O,  Eesin.  damar.,  Colophon.  aa.  100,  Terebinth.  TO,  Aether, 
Spiritus,  Ol.  terebinth.  aa.  55'0;  filtra.  Darauf  kommt  nur  ein  Zugstreifen  aus  abgestepptem 
Filz  oder  starkem  Drell:  dieser  wird  mit  einer  Bindeneinwicklung  für  24  Stunden  an- 
gedrückt und  hält  dann  von  selbst. 


Fig.  282. 


Fig.  283. 


Fig.  276  gibt  das  Volkmann^ohQ,  schleifende  Fussbrctt  mit  unter- 
gelegten prismatischen  Hölzern  zur  Verminderung  der  Reibung  am  Bett. 
Eine   Extension    in  verticaler    liiehtung   nach    Scliedn,    besonders 


beliebt   bei  Oberschenkelbrüchen 
gestellt. 


kleiner  Kinder,    ist  in  Fig.  275   dar 


302 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Operations-  und   Instiumentenlehre. 


Züge  in  verschiedenen  Richtungen  werden  in  der  Fig.  277  dar- 
gestellten Weise  ermöglicht  (nach  Bardenheuer). 

Fast  zu  viel  des  Guten  ist  in  Fig.  278  gegeben,  wo  auf  die  ver- 
letzten Stellen  mit  Hilfe  der  durcheinander  gesteckten  Heftpflaster- 
streifen (Fig.  279)  von  verschiedener  entgegengesetzter  Seite  einge- 
wirkt wird. 

Einen  einfacheren  gut  wirkenden  Verband  gibt  Fig.  280  (bei 
Subluxation  des  Knies  nach  hinten  infolge  von  tuberculöser  Knie- 
gelenksentzündung). 

Den  Gegenzug  besorgt  meist  die  Schwere  oder  bei  Zugverbänden 
am  Bein  Gummischläuche ,  die  von  den  oberen  Bettpfosten  zwischen 
den  Beinen  über  den  Damm  gezogen  werden. 


Fig.  284. 


Fig.  285. 


Einen  Zug-  und  Gegenzugverband  an  der  oberen  Extremität 
haben  wir  in  Fig.  281  dargestellt. 

Züge,  wo  Gewichte  in  anderer  Weise  verwerthet  sind,  zeigt  der 
Verband  für  Oberarmbruch  nach  Haemiton- Clark  (Fig.  282). 

Fig  283  gibt  einen  Gewichtszug ,  wo  das  Gewicht  durch  Hebel- 
kraft wirkt. 

Nur  durch  Gummizüge  (Kautschukstreifen,  Kautschukringe  u.  dergl.) 
wirken  Verbände  wie  der  in  Fig.  284,  wo  der  Hebung  der  Hacke, 
Spitzfussstellung  durch  einen  den  Vorfuss  hebenden  Apparat  entgegen- 
gewirkt wird. 

Zweckmässig  sind  auch  die  von  mir  angegebenen  Verbände,  wo 
zwischen  fixirende  Heftpflasterstreifen  Stücke  elastischen  Gurtes  ein- 
geschaltet werden  (Fig.  285) ,  elastischer  Zugverband  für  Genu  valgum. 


Massaare. 


303 


Meclianotlierapie. 

Massage  und  Gymnastik. 

Unter  Massage  verstehen  wir  gewisse  mechanische  Eingriffe, 
durch  die  der  Stoffwechsel  der  Gewebe  gesteigert ,  beschleunigt  und 
geregelt  wird.  Die  Massage  ist  für  den  Chirurgen  von  grosser  Bedeu- 
tung, besonders  für  die  Behandlung  von  Verletzungen  und  Entzündungen 
und  ihren  Folgezuständen,  aber  auch  in  der  Orthopädie. 

Die  Grundform  der  Massage  ist  der  Druck,  wo  das  betreffende 
Gewebe  mit  den  Fingern  gegen  die  Unterlage  gedrückt  wird  (Fig.  286).  Er 

Fig. 286. 


wandelt  sich  um  in  kreisförmige  Reibungen  (Friction),  durch  die  z.  B. 
Exsudate  oder  Blutergüsse  vertheilt  werden  sollen.  Centripetal,demLymi)h- 
und  venösen  Blutstrom  entsprechend  fortschreitendes  Drücken  wird  zum 
Streichen  (EfHeurage);  vergl.Fig.2ST  und  290,  Massage  bei  Quetschung. 

Ausserdem  werden  die  Theile  durch  Kneten  (Petrissage)  gewisser- 
massen  ausgequetscht,  ausgedrückt,  wie  ein  Schwamm  (Fig.  288  und  289), 
wobei  die  Hände  zangenartig  wirken. 

Für  contractile  Gewebe  (Muskeln)  ganz  besonders  wirksam  ist 
das  elastische  Klopfen  (Tapotement),  zweckmässiger  mit  dem  Klcin- 
fingerballen  ausgeführt  (Fig.  291  a),  als  die  Hackung  (Fig.  291  h)  mit 
dem  Klcinfingcrrand  der  Hand. 

Das  Klatschen  mit  der  tiachen  Hand  ist  fast  nutzlos. 


504 


IV.  Capitel.  —  Allgemeine  Opei'ations-  und  Jnstrumentenlehre. 


Wird  die  drückende  Hand  in  vibrirendc  zitternde  Bewcf^unf^  ver- 
setzt, so  hat  man  die  Erschütterung  (Vibration).  Fig.  292,  Erschütte- 
rung des  N.  ischiadicus. 

Die  Anzeigen ,  wo  die  Massage  in  ihren  verschiedenen  Formen 
anzuwenden  ist,  sind  bei  den  betreffenden  Krankheiten  mitgetheilt. 


Fig.  287. 


Fig.  288. 


Die  physiologische  Wirkung  der  Massage  ist  zunächst  die, 
dass  sie  den  örtlichen  Stoffwechsel  in  hohem  Grade  steigert.  Der 
Lymphstrom  wird  auf's  Mehrfache  gesteigert,  durch  die  Entleerung  der 
Venen  wird  auch  die  Blutdurchströmung  gesteigert  und  eine  künstliche 
Hyperämie  herbeigeführt  (vergl.  pag.  9).  Auch  körperliche  Elemente, 
weisse  (chronische  Entzündungen)  und  rothe  Blutkörperchen  (Blutungen), 


Physiologie  der  Massage. 


305 


Gewebstrümmer  werden  mit  dem  Lymphstrom  weggeschafft  (Pigmenth-img- 
der  Lymphdrüsen).  So  wird  die  Resorption  gesteigert  und  heschleunigt. 


Fig.  289. 


Fig.  290. 


Verwachsungen  und  Verklebungen  werden  mechanisch  gelöst.    Auf  die 
Muskeln  wirkt  das  Klopfen  contractionserregend,  wie  die  Elektrisirung 


Fig.  291. 


\ 


neben  den  allgemeinen  hypcrämisirenden  und  resorbirenden  Wirkungen 
der  Massage.  Aehnlich  ist  die  Wirkung  auf  die  peripheren  Nerven. 

Landerer,  Allp.  cliir.  PatholoKJi!  u.  Therapie.  2.  Aufl.  20 


306 


IV.  Capitul,  —  Allgemeine  Operations-  iirid   liistrumentenlehre. 


Schädliche  Stoffe   dürfen    durch    die  Massage    iiielit    künstlich    in 
den    Kreislauf    eingepresst    werden     und    so    verbietet     sich     die 


Fig.  2(12. 


Massage    bei   allen    frischen    bacterielleu    Processen    (acuten    Entzün- 
dungen), bösartigen  Neubildungen  und  Gefässbrüchigkeit. 


SÄsäbäSSäi^'^--------^ 


Gymnastik  ist  Muskelübung;  zum  Unterschied  vom  Turnen  eine 
methodische,   auf  bestimmte  Zwecke    und  einzelne  Muskelgruppen  be- 


Gymnastik. 


307 


rechnete  Uebung.  Wir  haben  eine  active  Gymnastik,  wobei  der 
Patient  gewisse  Uebungen  —  wie  Beugen  und  Strecken  des  Vorder- 
armes ,  Hebung  und  Senkung  des  Armes ,  Vorwärts-  und  Rückwärts- 
beugung des  Rumpfes,  Seitwärtsdrehung  des  Kopfes  u.  dergl.  ra. — 
selbst  ausführt,  bei  der  passiven  Gymnastik  führt  der  Arzt  (Gym- 
nast)  mit  den  Gliedern  des  Patienten  systematische  Bewegungen  aus. 
Bei  der  Widerstandsgymnastik  werden  die  vorgeschriebenen 
Bewegungen    unter  Widerstand    des    Gymnasten    ausgeführt ,    den   Be- 


-Fig.  294. 


wegungen  wird  ein  gewisses  Hinderniss  entgegengesetzt,  das  der 
Patient  überwinden  muss. 

Weil  zwei  Personen  zusammenwirken ,  nennt  man  diese  Be- 
wegungen auch  duplicirte.  Führt  die  Bewegung  zur  Verkürzung  des 
Muskels,  so  spricht  man  von  duplicirt  concentrischer  Bewegung,  so  in 
Fig.  293,  wo  der  Gymnast  der  Beugung  des  Vorderarmes  Widerstand 
leistet.  In  Fig.  294  ist  eine  duplicirt  excentrische  Bewegung  dargestellt, 
wo  der  Arzt  unter  Widerstand  des  Patienten  den  gebeugten  ^'orderar^l 
in  Streckung  ülierführt. 

Um  gymnastische  l'cbungen  genau  zu  specialisiren  und  exaet 
dosiren  zu  können,  hat  mau  sich  in  neuerer  Zeit  auch  eigens  constru- 
irtcr  Maschinen   bedient.     Die  genial  erdachten  IMaschinen  G.  Zandcr's 

20* 


308  ^^-  tiapitel.  —  Allgemeine  Operations-  und  Instramentenlehre. 

lassen  eine  genau  abmessbare  Uebung  jeder  einzelnen  Muskelgruppe,, 
wie  Uebungcn  des  Gesammtkörpers  zu.  —  Vorwiegend  für  die  Uebung 
der  Extremitäten  sind  die  Apparate  von  Krukenhcnj  berechnet. 

Die  Physiologie  der  Gymnastik  ist  im  Wesentlichen  die  der 
Muskelthätigkeit.  Lymph-  und  Blutbewegung  werden  gesteigert,  durch 
Arbeitshypertrophie  sollen  geschwächte  Muskeln  gekräftigt,  verkürzte 
Muskeln ,  Sehnen  und  Fascien  gedehnt ,  steife  Gelenke  beweglich  ge- 
macht werden  u,  s.  w. 

Die  Bedeutung  der  manuellen  und  maschinellen  Massage  und 
Gymnastik  ist  namentlich  eine  wesentliche  für  die  Beseitigung  der 
nach  Verletzungen  (Knochenbrüche ,  Verrenkungen ,  Verstauchungen, 
Quetschungen  etc.)  zurückbleibenden  Störungen ,  wie  Gelenksteifigkeit, 
Muskel  schwäche,  chronische  Oedeme.  Massage  und  Gymnastik  des  ganzen 
Körpers  steigern  den  Gesammtstoffwechsel  und  die  Secretionen  im  hohen 
Grade.  "  ' 


V.  Capitel. 
(jescliwülste. 

Allgemeines.   —  Was  ist  und  wie  entsteht  eine  Geschwulst?  —  Die  verschiedenen 

Theorien  über  die  Entstehung  der  Geschwülste.     —    Eintheilung  der  Geschwülste. 

Wachsthum    und   fernere    Schicksale    der    Geschwülste.    Degenerationen,    Blutung, 

Entzündung,  Verjauchung  u.  dergl. 

Das  Capitel  der  Geschwülste  ist  das  am  wenigsten  klare  auf 
dem  ganzen  Felde  der  allgemeinen  Pathologie.  Für  manche  Zweige 
der  Geschwulstlehre  befinden  wir  uns  in  der  That  auf  einem  Stand- 
punkte ,  wo  es  das  Beste  wäre ,  einzugestehen ,  dass  Erkenntniss  des 
Nichtwissens  der  Anfang  des  Wissens  ist. 

Was  eine  „Geschwulst",  eine  „Neubildung"  (i.  e.  S.),  ein  „Tumor" 
ist ,  dafür  gibt  es  eine  ganze  Reihe  von  Definitionen.  Vielleicht  die 
kürzeste  und  treffendste  ist  die  von  Cornil  und  Ranvier:  Geschwulst 
ist  jede  „Neubildung,  welche  die  Tendenz  hat  zu  bleiben  oder  zu 
wachsen".  „Tout  neoplasme,  qui  a  tendance  ä  persister  ou  ä  accroitre." 
In  Deutschland  ist  die  Definition  von  Lücke  viel  gebraucht:  „Eine 
Geschwulst  ist  eine  Volumszunahme  durch  Gewebsneubildung ,  bei  der 
kein  physiologischer  Abschluss  gewonnen  wird."  Virchoio  verzichtet 
überhaupt  auf  eine  genaue  Definition  des  Wortes  „Geschwulst".  Für 
ihn  sind  es  wesentlich  praktische  Rücksichten ,  die  Anlass  geben,  die 
eine  Bildung  unter  den  Geschwülsten  zu  besprechen ,  eine  andere 
ähnliche  nicht. 

Nach  Billroth  ist  eine  Geschwulst  eine  Neubildung,  die  aus 
anderen  Ursachen  entsteht,  als  die  entzündliche  Neubildung  und  ein 
Wachsthum  zeigt,  das  nicht  zu  einem  bestimmten  Ziele  führt,  sondern 
sich  in's  Unbestimmte  hinzieht.  Diese  Definition  scheint  mir  wegen  des 
principiellen  Gegensatzes,  in  den  sie  die  „Neubildung"  zur  Entzündung 
setzt,  zu  weit  zu  gehen,  zu  viel  zu  sagen,  jedenfalls  mehr,  als  zu 
beweisen  ist,  und  ich  würde  mich  persönlich  für  die  am  wenigsten 
l)räjudicirende  Definition  von  Cornil  und  Ranvier  entscheiden. 

Es  ist  interessant  zu  beobachten,  wie  sich,  mit  dem  Fortschreiten  der  Wissen- 
schaft, der  Geschwulstbegriit'  verengt.  —  Im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  wurden 
Furunkel,  Carbunkel,  selbst  ödematöse  Anschwellungen  unter  die  Geschwülste  gestellt; 
Virdiow  führt  noch  Syphilome ,  tuberculöse  Knoten,  selbst  Hämatome.  H^-drocelen, 
letztere  allerdings  mit  innerlichem  Widerstreben,  Elephantiasis  u.  dergl.  als  Geschwülste 
auf.  Heutzutage  fällt  es  Niemand  mehr  ein,  tuberculöse  und  syphilitische  Producte, 
die  eine  Zeit  lang  als  „Infectionsgeschwülste"  (Cohnheim)  eine  Gruppe  für  sich  l)ildi-ten, 
den  Geschwülsten  zuzuzählen. 

Das  Gemeinsame  der  Geschwülste  ist  eine  nornnvidriue  Anhäu- 
fung von  Gewebselementen.    die  keine  Tendenz   zur  Kückbildung  hat; 


3|()  V.  Capitel.  —  Geschwülste. 

eine  Gescliwiilst  ist  etwas  ihrem  Standort,  dem  Mutterboden  Fremdes, 
ein  Plus,  was  nicht  dahin  gehört,  wo  es  ist,  und  was  gegen  die  Um- 
gebung mehr  oder  wenig  abgegrenzt  ist,  eine  selbständige,  von  dem 
Muttergewebe  unabhängige  Bildung  mit  ihrer  eigenen  Geschichte,  Ent- 
wicklung und  Verlauf.  Ganz  anders  wie  entzündliche  Producte ,  die 
mit  und  in  den  Geweben  entstehen,  leben,  bestehen  und  vergehen.  80 
finden  sich  —  meist  in  Knotenform  —  Bindegewebe,  Fett,  Knorpel 
Knochen ,  Schleimgewebe  u.  s.  w.  zu  Bindegewebs-Knorpel-Fettge- 
sch Wülsten  zusammengehäuft,  oder  epitheliale  Massen  zu  Epitheliomen 
und  Carcinomen  entwickelt  —  Alles  an  Stellen,  wo  im  normalen  Körper 
nichts  Derartiges  sich  finden  sollte  oder  wenigstens  nicht  in  dieser  von 
der  Norm  abweichenden  Anordnung  der  Gewebe  zu  einander. 

So  weit  die  Ansichten  unserer  grössten  Forscher  in  der  Frage 
auseinandergehen :  was  ist  eine  Geschwulst  ?  vielleicht  noch  grösser  ist 
die  Verschiedenheit  der  Antworten,  wenn  man  fragt:  „Wie  entsteht 
eine  Geschwulst?" 

Die  Alten  Hessen  die  Geschwülste  aus  Verderbniss  der  Säfte  (Kakochymiej  ent- 
stehen ,  die  an  bestimmten  Stellen  ausschwitzen  und  dort  die  Geschwülste  erzeugen 
sollten.  Nicht  weit  hievon  entfernt  ist  die  Annahme  einer  krebsigen  Diathese ,  die 
auf  schon  krankem  Körper  die  Geschwülste  hervorspriessen  lässt.  Die  natürliche 
Consequenz  dieser  noch  heute  von  manchen  Aerzten,  Homöopathen  vertheidigten  Theorie 
ist  die  Verwerfung  jeder  Operation,  wenigstens  bei  Krebsen.  Noch  in  den  Fünfziger- 
Jahren  hat  John  Simon  die  These  aufgestellt,  die  Krebse  seien  ueugebildete  Drüsen, 
die  schlechte  oder  üppige  Säfte  nach  aussen  ableiteten.  Natürlich  waren  sie  damit  ein 
noli  me  tangere. 

Mit  der  systemvollen  Durchführung  der  cellularpathologischen 
Anschauungen,  mit  der  Anwendung  des  Satzes  „Omnis  cellula  e  cellula" 
auch  auf  die  Geschwülste  hat  Virchow  mit  der  humoralpathologischen 
Auffassung  der  Geschwülste  aufgeräumt.  Der  Annahme,  dass  die  Ge- 
schwülste aus  irgend  einem  „Blastem",  einer  eiweissreichen  Flüssigkeit 
auskrystallisiren ,  oder  dass  es  sich  gar  um  dem  Organismus  fremde 
thierartige  parasitische  Bildungen,  um  Nova  oder  Monstra  handle,  setzte 
er  als  Ergebniss  seiner  Forschungen  die  Thatsache  entgegen,  dass 
Geschwülste  durch  Neubildung  von  Zellen  aus  vorhandenen  Zellen  des 
Körpers  hervorgehen.  Entspricht  die  neue  Bildung  dem  Typus  des 
Mutterbodens,  der  Matrix,  —  eine  Fettgeschwulst,  z.  B.  dem  Unter- 
hautfettgewebe, aus  dem  sie  hervorwächst,  so  ist  dies  eine  „homologe" 
Geschwulst ;  ist  sie  dem  Mutterboden  nicht  entsprechend ,  so  ist  sie 
heterolog,  z.  B.  eine  Knorpelgeschwulst  im  Hoden.  In  eine  gewisse 
Analogie  wurden  die  Neubildungen,  die  Geschwülste,  gesetzt  mit  den 
Hyperplasien  und  Hypertrophien,  die  ja  auch  mit  Bildung  und  Ver- 
grösserung  von  Gewebselementen  über  das  Mass  des  Gewöhnlichen  hinaus 
einhergehen.  Eine  noch  schärfere  Formulirung  hat  diese  F^rc/^o^^;'sche 
Theorie  erfahren  durch  die  Arbeiten  von  Thlersch  und  Waldeyer.  Auf 
Grund  ihrer  Studien  über  epitheliale  Neubildungen  kamen  sie  zu  dem 
Satze,  dass  epitheliale  Neubildungen  nur  von  präexistenten  Epithelien 
ausgehen.  Sie  gelangten  so  zu  der  scharfen  Trennung  von  epithelialen 
und  bindegewebigen  Neubildungen. 

Das  Moment  jedoch,  was  nun  eigentlich  die  Zellen  bestimmt,  zu 
geschwulstartigen  Neubildungen  auszuwachsen ,  d.  h.  die  unmittelbare 
Ursache  und  Veranlassung  der  Geschwulstbildung,  darüber  gibt  es 
wohl  die  verschiedensten  Ansichten,  aber  es  sind  sämmtlich  nur  Hypo- 


Aetiologie  der  Geschwülste.  311 

thesen.  Vor  Allem  kann  nicht  dringend  genug  auf  den  einen  Umstand 
hingewiesen  werden,  dass  es  nicht  gerechtfertigt  ist,  für  alle  Geschwülste, 
die  in  ihrer  Entwicklung,  ihrem  Verlauf  und  ihrer  Bedeutung  für 
den  Gesammtorganismus  so  unendlich  verschieden  sind,  eine  gemein- 
same Ursache  zu  suchen. 

Es  seien  zunächst  die  wichtigsten  Hypothesen  über  die  Entstehung 
der  bösartigen  Geschwülste  (Krebse)  mitgetheilt. 

Nach  Tläersch  soll  mit  vorgerücktem  Lebensalter,  wo  ja  die  Neubildungen  ganz 
besonders  sich  häufen,  das  Bindegewebe  früher  altern,  als  das  productionsfähig  bleibende 
Epithel.  Das  Gleichgewicht  zwischen  Epithel  und  bindegewebiger  Matrix  verschiebt  sich 
zu  Gunsten  des  ersteren  und  das  Epithel  vermag  in  das  alternde  Bindegewebe  hinein 
zu  wachsen.  Im  Gegensatze  hiezu  beruhen  nach  Cohnhem  alle  Geschwülste  auf 
embryonaler  Anlage,  es  sind  versprengte,  verirrte  Keime,  die  verborgen,  und  selbst 
mikroskopisch  nicht  zu  erkennen,  lagern,  bis  sie  durch  irgend  einen  Anlass  zum  Wachs- 
thum  angeregt  werden.  Da  sie  ihre  „embryonale  Wachsthumsenergie"  behalten  haben, 
wachsen  sie,  gereizt,  zu  wirklichen  Geschwülsten  heran.  Diese  Idee  war  keineswegs 
neu.  Man  wusste  längst,  dass  manche  Geschwülste  angeboren  seien  —  Dermoidcysten, 
Atherome,  gewisse  Nierengeschwülste,  Gefässgeschwülste  u.  s.  w.  Neu  war  nur  die  Aus- 
dehnung dieser  Entstehung  auf  alle  Geschwülste,  gutartige  und  bösartige,  die  wir  sonach 
alle  in  letzter  Linie  als  „Missbildungen",  vitia  primae  formationis,  aufzufassen  hätten. 
In  Uebereinstimmung  mit  der  klinischen  Erfahrung  haben  Volkmann  u.  A.  darauf  hin- 
gewiesen, dass  die  congenitale  Entstehung,  die  embryonale  Anlage  bei  gutartigen 
Geschwülsten  häufig  zutreffe,  für  bösartige  aber  sich  viel  schwerer  glaublich  machen 
lasse,  ja  dass  manche  bösartige  Neubildungen,  die  auf  schon  krankem,  zum  Theil 
gegenüber  der  ursprünglichen  Anlage  total  verändertem  Boden  entstehen  —  die  Narben- 
krebse, die  ELrebse  auf  Beingeschwüren,  in  Sequesterladen  u.  s.  f.  —  eine  congenitale 
Anlage  fast  mit  Sicherheit  ausschliessen. 

Der  experimentelle  Beweis,  den  Cohnheim  durch  die  Untersuchungen  mit  Maas 
und  Leoimld  zu  erbringen  suchte,  ist  gleichfalls  als  misslungen  zu  bezeichnen.  Die  in 
die  Lungenarterien  eingebrachten  Perioststückchen  (Maas)  wuchsen  eine  Zeit  lang,  um 
schliesslich  wieder  ganz  zu  verschwinden.  Leojyold  pflanzte  embryonale  Knorpelstückchen 
in  die  vordere  Augenkammer,  sie  wuchsen  weiter  und  nahmen  ein  geschwulstähnliches 
Aussehen  an.  Aber  zum  Charakter  der  Geschwulst  fehlte  denn  doch  noch  viel ,  zum 
Charakter  der  „bösartigen"  Geschwulst  Alles.  Unna  acceptirt  die  Cohnheim'' sehe  Theorie 
für  einen  Theil  der  Naevuscarcinome. 

In  Roux's  fruchtbringenden  Arbeiten  finden  sich  Beobachtungen,  die  sich  zu 
Gunsten  der  embryonalen  Anlage  von  Geschwülsten  verwerthen  lassen.  Sticht  man 
mit  glühender  Nadel  einzelne  Furchungskugeln  an,  so  entsteht  entweder  eine  Miss- 
geburt ,  oder  sie  werden  wieder  von  den  erhalten  gebliebenen  aus  reorganisirt ;  bei 
dieser  Postgeneration  finden  sich  gelegentlich  Zellen  jugendlichen  Charakters ,  wenig 
differenzirte  (Morulaform)  zwischen  höher  differenzirten,  die  wohl  diese  liegenbleibenden 
embryonalen  Keime  sein  könnten. 

Klehs  glaubt,  dass  Leukocyten  in  die  Epithelien  eindringen,  sie  befruchten 
und  zur  Geschwulstbildung  anregen ,  während  Graivifz  seine  Schlummerzellen  als  Ent- 
stehungsort mindestens  des  Krebsstromas  und  der  kleinzelligen  Infiltration  anspricht. 
Hansemann ,  der  Grawitz  widerlegt  {Virchow's  Archiv,  CXXXIII),  legt  besonderen 
Werth  auf  die  atypischen  Mitosen  in  bösartigen  Geschwülsten.  Die  Anschauungen 
von  Klehs  und  auch  Grawitz  können  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  der  alten  Yirchow- 
Försf er' sehen  Theorie  nicht  verhehlen,  die  die  Geschwulstzellen  aus  dem  Bindegewebe 
hervorgehen  Hessen,  nachdem  das  Geschwulstvirus  (sie!)  das  Muttergewelie  befruchtet 
hat.  Auch  die  Ansicht  von  Schleich,  dass  es  sich  bei  der  Gescliwulstbildung  um 
einen  pathologischen  Befruchtnngsvorgang  der  Zellen  durcheinander  handle,  enthält 
somit  nichts  wesentlich  Neues. 

Ribhert  lässt  der  epithelialen  Wucherung  eine  chronische  Entzündung  des  sub- 
epithelialen Gewebes  vorangehen,  sie  hebt  lebende  Zellgruppen  ganz  oder  theilweise 
aus  ihrem  Mutterboden  heraus  (postembryonale  Versprengung  im  Gegensatz  zu  Coltnheim- 
/["ojAr'.?  embryonaler  Versprengung).  Diese  geben,  üppig  ernährt,  den  Anlass  zur  Geschwulst- 
bildung, die  zunächst  der  Regeneration  und  Hypertrophie  analog  ist.  Eine  Stütze  finden 
Tiihheri's  Anschauungen  in  den  Befunden  Fricdlünder's,  der  bei  Entzündungsprocessen 
neben  progressiven  Processen  im  Bindegewebe  aucli  atypische  epitheliale  Bildungen  sah. 
Es  ist  hier  auch  an  llauscr's  Bt-o1iaclitungen  zu  erinnern,  der  in  der  Narbe  von 
Magengeschwüren  ])eginnende  Krebsentwicklung  fand. 


312  V.  Capitel.  —  Geschwülste. 

Esmarch  betont  den  Zusammenhang  zwischen  Syphilis  fauch  der  Voreltern)  und 
Neubildung,  besonders  Sarkom. 

Die  Lehre  von  der  Specificität  der  Keimblätttjr  wird  heutzutage  nicht  mehr  mit 
der  Schroft'heit  wie  in  den  Zeiten  TIdersch-Waldeyer  festgehalten. 

Die  Theorie  vom  parasitären  Ursprung  der  bösartigen  Neubildungen 
hat  in  den  letzten  Jalu'en  zahlreiche  Vertreter  und  manche  wesentliche  Stützen  gewonnen. 
Ich  habe  sie  schon  in  der  ersten  Auflage  energisch  vertreten  ,  damals  noch  wesentlich 
mich  stützend  auf  den  klinischen  Verlauf  vieler ,  gerade  bösartiger  Neubildungen.  Be- 
ginnend von  einer  kleinen  Stelle  (Krebse  der  Unterlippe,  der  Portio  vaginalis),  die  viel 
verletzt  wird ,  beginnend  oft  mit  einer  kleinen  dauernd  wunden  Stelle ,  an  der  sich 
allmählich  die  Zeichen  der  Neubildung  geltend  machen ;  dann  ein  Uebergreifen  auf  die 
Nachbarschaft,  schliesslich  eine  Infection  —  selbst  die  Anhänger  der  anderen  Theorien 
pflegen  diesen  Ausdruck  zu  gebrauchen  —  der  regionären  Lymphdrüsen,  Etappe  für 
Etappe  und  zum  Schluss  die  „Generalisation"  des  Krebses,  die  Bildung  zahlreicher 
gleichartiger ,  kleinster ,  dann  grösser  werdender  Geschwülste  über  den  ganzen  Köi'per 
hin.  Mit  welcher  Macht  drängt  sich  bei  der  Betrachtung  jedes  einzelnen  Falles  immer 
wieder  der  Gedanke  auf,  dass  von  dieser  Stelle  aus  ein  fremder,  die  Krankheit  erregender 
Stoff  in  den  Körper  eingedrungen  sei!  Die  Analogie  mit  der  Verbreitungsweise  aner- 
kannter Infectionskrankheiteu,  z.  B.  der  Lues,  dem  Eotz  u.  s.  f.  ist  eine  schlagende.  Nur 
ist  der  Verlauf  ein  viel  langsamerer. 

Allerdings  dürfte  es  sich  nicht  um  bacilläre  Ursachen  handeln,  der  Krebsbacillus 
Scheuerlen' s  ist  als  Kartoffelbacillus  erkannt  und  abgethan  worden. 

Die  Erreger  der  bösartigen  Neubildungen  dürften  wohl  unter  den  Sporozoen 
(s.  pag.  65)  zu  suchen  sein.  Als  eifrigster  Vertreter  der  Sporozoennatur  des  Krebses  ist 
Li.  Pfeiffer  zu  nennen.  Für  ihn  ist  der  Erreger  des  Carcinoms  das  Sporozoen  sar- 
colytum ;  die  kleinzellige  Infiltration  in  der  Umgebung  sind  junge  ausschwärmende 
Sporen.  Diese  Ansicht  wird  von  Clarhe,  Metschnikoff  u.  A.  getheilt. 

Fig.  295  (nach  Birch-Hirschfeld)  zeigt  die  Zelleinschlüsse  in  den  Epithelien  von 
Carcinomen,  die  von  Einzelnen  als  Sporozoen  und  Sporen  angesehen  werden. 

Eine  beträchtliche  Anzahl  anderer  Autoren  {Bibbert ,  Hansemann ,  Steinhaus, 
Cornil  u.  s.  w.)  leugnet  die  parasitäre  Natur  dieser  Zelleinschlüsse  und  sieht  sie  als 
Degenerationserscheinungen  des  Nucleins  und  Paranucleins ,  Hyalinbildungen  u.  dergl. 
oder  entartete  Zelleindringlinge  (Leukocyten)  an  (vgl.  Fig.  295  e).  Da  es  eine  diffe- 
renzirende  Färbemethode  zwischen  Sporozoen  und  Degeneratiousproducten  nicht  gibt,  ist 
auf  diesen!  "VVege  eine  Entscheidung  kaum  zu  erwarten. 

Eine  wichtige  Unterstützung  der  parasitären  Natur  der  bösartigen  Neubildungen 
haben  die  Mittheilungen  von  Jürgens  auf  dem  Chirurgen-Congress  1896  gebracht.  Er 
fand  in  einem  Kiesenzellensarkom  Sporozoen  (dem  Coccidium  oviforme  des  Kaninchens 
ähnlich),  die  sich  auf's  Kaninchen  übertragen  und  in  drei  Generationen  weiter  züchten 
Hessen.  Ebenso  konnte  er  das  Epithelioma  contagiosum  des  Huhns  auf  Kaninchen 
übertragen. 

Sanfelice  (Zeitschr.  f.  Hygiene,  Bd.  XXII)  erklärt  Sarkom  und  Carcinom  für  eine 
Infection  mit  einer  Hefenart  (s.  pag.  63) ,  Saccharomyces  neoformans.  Diese  Ansicht 
wird  auch  von  Anderen  getheilt. 

Das  Coccidium  sarcolytus  von  AdamMetvicz  ist  unbestätigt. 

Ueber  die  Aetiologie  bösartiger  Neubildungen  finden  sich  Mittheilungen  u.  a.  bei 
Graf,  Langenbeck's  Archiv,  Bd.  50;  Schuchardt,  ebenda,  Bd.  43 ;  Bibbert,  Deutsche 
med.  Wochenschr.,  1895,  Nr.  1 — 4. 

Der  Nachweis  der  Impfbarkeit  bösartiger  Geschwülste  spricht  entschieden 
mehr  zu  Gunsten  des  parasitären  Ursprungs ,  wenn  auch  die  Möglichkeit ,  proliferirende 
Zellen  zu  übertragen,  nicht  geleugnet  werden  soll. 

Dass  auf  einer  bereits  mit  einer  Geschw^ulst  behafteten  Person  sich  Geschwülste 
durch  Impfung  weiter  übertragen  lassen ,  ist  durch  zahlreiche  Beobachtungen  sicher- 
gestellt (Selbstimpfung).  Nicht  blos  entlang  der  Lymphbahnen  und  Blutgefässe ,  wie 
ja  die  Infection  gewöhnlich  erfolgt  ,  sondern  auch  auf  anderem  Wege.  Olshausen  beob- 
achtete die  Uebertragung  eines  Papilloma  ovarii  auf  die  Bauchwand  durch  den  Stich- 
canal  einer  Function.  Kraske  sah  die  Entstehung  eines  Krebses  am  After  nach  hoch- 
sitzendem  Mastdarmkrebs.  Nach  Zungenkrebs  entsteht  Wangenkrebs  (Abklatschcarcinome). 
Das  Messer,  selbst  die  Nadel  des  Chirurgen  überträgt  oft  die  Neubildung  (Krebsrecidive 
in  Nadelstichnarben),  v.  Bergmann  und  Hahn  haben  bei  Ki'ebskranken  Krebsstückchen 
auf  andere  Körperstellen   übertragen  und  dort  sich  weiter  entwickeln  sehen. 

Hanau,  Wehr,  Geissler  haben  Carcinome  von  Thier  auf  Thier  übertragen  (Hund 
auf  Hund,  Ratte  auf  Ratte  u.  s.  w.).  (Vergl.  Geissler,  Langenheck's  Archiv,  46,  Literatur.) 


Aetioloffie  der  Geschwülste. 


313 


Für  die  Aetiologie  der  gutartigen  Geschwülste  kommen,  soweit  sie  uns 
bekannt  ist,  ganz  andere  Momente  in  Frage. 

Ein  Theil  (Atherome ,  Dermoidcysten ,  Enchondrome  u.  dergl.)  beruht  auf  ange- 
borener Anlage  (versprengten  Keimen) ,  bei  anderen  mögen  Verletzungen  der  Anlass 
sein.  Für  einen  anderen  Theil  müssen  Störungen  des  Stoif wechseis  die  Ursache  sein. 
Wenn  wir  Adenome  der  Schilddrüse  durch  Verabreichung  von  Schilddrüsensubstanz 
(Bruns),  Thyreojodin  (Baumann),  Jodpräparate  heilen  können,  wenn  uns  das  Gleiche 
bei  Myomen  des  Uterus  und  der  Prostata  durch  Castration  gelingt,  so  ist  die  Annahme 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  diese  Geschwülste,  wie  wir  sie  durch  eine  Aenderung 
des  Stoffwechsels  heilend  beeinflussen  können,  so  auch  einer  Abnormität  des  Stoffwechsels 
ihre  Entstehung  verdanken. 

Bösartige  Neubildungen  entwickeln  sich  häufig  auf  bereits 
krankem  Boden.  Schuchardt  hat  auf  den  äusserst  interessanten  Zusammenhang 
zmschen  Carcinom  und  chronisch  entzündlichen  Zuständen  der  Haut  und  Schleimhäute 

Fig.  295. 


a  Zellenhaufen  aus  «-inein  Gebärmuttercarcinom ,  sämmtliche  Zellen  protozoenähnliche  Ein- 
schlüsse enthaltend  (Zellkerne  verdrängt).  —  b  Sehr  grosse  aus  einem  Epithelkrebs  des  Penis, 
der  zerfallende  Zellkern  nach  rechts  verdrängt,  zelliger,  doppeltcontourirter  Einschluss.  — 
c  Carcinomzelle  ,  in  einer  Vacuole  mit  doppeltcontourirtem  Saum  einen  plasmodienartigen 
Körper  einschliessend,  nach  oben  ein  freier  sarcodenartiger  Körper  (beide  durch  Magdala  roth 
gefärbt,  Zellkerne  blau  durch  Hämatoxylin).  —  d  Grosse,  mit  zahlreichen  runden  (sporenartigen) 
Körpern  gefüllte  Zelle  aus  einem  Zungencarcinom.  — e  Zelle  aus  einem  Lungencarcinom,  farb- 
lose Blutkörperchen  mit  fragmentirten  Kernen  einschliessend. 


hingewiesen,  die  Entwicklung  von  Krebs  aus  chronischer  Paraffiadermatitis ;  die  Be- 
ziehungen zwischen  Leucoplakia  buccalis  (Rauchen!)  und  Krebs  der  Mundschleimhaut 
und  Zunge;  der  chronischen  Seborrhöe  zu  Gesichtskrebs;  der  Phimose  zu  Penis- 
carcinom  u.  s.  f.  Bekannt  ist  ebenso  der  innige  Zusammenhang  zwischen  chronischem 
Ekzem  der  Brustwarze  und  Carcinom  {Paget's  Disease).  —  Ich  habe  in  eigenthümlich 
verlaufenden  Darmabscessen  (vom  Processus  vermiformis  ausgehend)  Carcinom  entstehen 
sehen.  liosenbach  verzeichnet  einen  gleichen  Fall,  wo  er  sogar  den  Staphylo- 
coccus  Intens  rein  gezüchtet  hat.  Dass  auch  sonst  Organe,  deren  Ernährungsverhältnisse 
aus  diesem  oder  jenem  Grunde  weniger  günstig  sind  —  verlagerte  und  retinirte 
Hoden  u.  s.  w.  zu  bösartigen  Erkrankungen  disponirt  sind  ,  ist  gleichfalls  oft  genug 
bestätigt  worden.  Vielleicht  gehört  hieher  auch  die  Entstehung  von  Carcinonien  auf 
Naevis.  Auch  beim  Unterlippenkrebse  lässt  sich  der  Zusammenhang  mit  Maltraitirung 
und  Unreinlichkeit  der  Unterlippe  nicht  verkennen.  Frauen ,  die  sich  weder  rasiren, 
nocli  rauchen,  bekommen  ungewöhnlich  selten  Unterlippenkrebse.    Die,  seltener  rasirte, 


314  V.  Capitel.  —  Geschwülstfi. 

weniger  von  Tabaksjauche  berieselte  Oberlippe  wird  auch  weniger  befallen.  Die  Ent- 
stehung von  Carcinom  in  Lupusnarben,  selbst  in  floridem  Lupusgewebe,  auf  Verbrennungs- 
narben ist  hier  mit  anzuziehen.  Für  Magencarcinorae  hat  Häuser  eine  Beziehung  mit 
alten  Geschwürsnarben  wahrscheinlich  gemacht.  —  Wenn  man  in  der  Virchoiv' ii<■^llM 
Geschwulststatistik  den  Magen  mit  34'9  Procent,  Uterus  und  Scheide  mit  18'5  Procent, 
Dick-  und  Mastdarm  mit  8'1  Procent,  Gesicht  und  Lippen  mit  4"y  Pi-ocent,  Mamma 
mit  4'3  Procent  vertreten  findet ,  alles  Gewebe ,  die  zu  den  „bestmaltraitirten"  des 
Körpers  gehören ,  so  fallen  damit  allein  auf  diese  Organe  circa  70  Procent  aller  bös- 
artigen Neubildungen. 

Die  Beziehungen  der  Geschwülste  zu  Verletzungen  sind  in  den  letzten 
Jahren  vielfach  studirt  worden.  Löwenthal  (Bollinger),  Langenheck'' s  Archiv,  Bd.  49, 
fand  folgende  Zahlen :  für  Carcinom  12"2  Procent ,  Sarkom  20'2  Procent ,  Enchondrom 
33'3  Procent ,  Exostosen  42"9  Procent ,  Neurome  66'7  Procent ,  Lipome  25  Procent, 
Fibrome  8'3  Procent,  bei  sonstigen  Geschwülsten  15'4  Procent.  Für  alle  Tumoren  zu- 
sammen ergab  sich  eine  Ziffer  von  14"3  Procent  traumatischen  Ursprungs,  Liehe  fand 
lO'B  Procent.  Ziegler  (Münchener  med.  Wochenschr.,  1895,  Nr.  27 — 28)  findet  als  Anlass 
von  Verletzungen  für  bösartige  Tumoren  einmalige  Verletzungen  in  18  Procent,  chronisches 
Trauma  (öftere  Verletzungen  und  Reizungen)  in  25  Procent. 

Man  wird  die  Verletzungen  nicht  als  alleinige  Ursache ,  sondern  als  Anlass 
ansehen ,  der  einen  Locus  minoris  resistentiae ,  Bluterguss ,  Quetschungsherd  u.  dergl. 
setzt,  wie  bei  den  tuberculösen  und  osteomyelitischen  Knochenentzündungen.  Bei  Sarkom 
hat  man  öfters  den  Eindruck,  als  ob  sich  die  Neubildung  ziemlich  rasch,  das  heisst  in 
wenigen  Monaten  an  die  Verletzung  anschliesst.  Das  Reichsversicherungsamt  hat  auch 
den  Zusammenhang  von  Geschwülsten  mit  Verletzungen  anerkannt,  nicht  blos  für 
Sarkome,  Enchondrome  etc.,  sondern  auch  für  Carcinome ,  wenn  der  Träger  vor  der 
sicher  erwiesenen  Verletzang  völlig  gesund  und  arbeitsfähig  war  (selbst  Magenkrebs 
nach  stumpfer  Verletzung  der  Magengegend). 

Die  Erblichkeit  der  Krebse  ist  für  den  Laien  zweifellos.  Dagegen  hat 
Sliow  aus  der  Statistik  des  London  Cancer  Hospital  nur  eine  Erblichkeit  von  15  Procent 
herausgerechnet ,  während  in  anderen  Hospitälern  sich  bis  18  Procent  der  Patienten 
hereditär  mit  Krebs  belastet  zeigten ,  ohne  an  Krebs  zu  leiden.  Graf  {Langenbeck's 
Archiv,  Bd.  50)    fand  von  1137  Fällen  von  Krebs  192  erblich   belastet  =   17  Procent. 

Dass  in  einzelnen  Familien  sich  Krebse  besonders  häufig  zeigen ,  ist  bekannt 
(Magenkrebs  in  der  Familie  Bonaparte) ,  auch  von  Paget  betont  worden.  Es  soll  auch 
Krebsgegenden  geben  (z.B.  in  der  Nähe  von  Jena,  nach  Graf),  (Haviland),  selbst 
einzelne  „Krebshäuser"   (?). 

Dass  gutartige  Geschwülste  in  mehreren  Generationen  derselben  Familie  vor- 
kommen, ist  bekannt,  besonders  Atherome  und  Knorpelgeschwülste. 

Auch  die  Eintheilung  der  Geschwülste  ist  ein  schwieriges 
Problem.  So  lange  wir  den  allein  richtigen,  den  ätiologischen  Stand- 
punkt nicht  einhalten  können ,  müssen  wir  uns  mit  anderen  Ge- 
sichtspunkten begnügen  und  uns  bemühen,  die  zwei  ausschlaggebenden 
Eintheilungsmomente,  klinischen  Charakter  und  mikroskopischen  Bau, 
möglichst  zu  vereinigen. 

Klinisch  unterscheiden  wir  gutartige  und  bösartige  Geschwülste. 

Wir  nennen  eine  Gesehwulst  gutartig,  wenn  sie  nur  durch  ihren 
Sitz  oder  ihre  Grösse  für  den  Träger  belästigend  wirkt,  wenn  sie  aber, 
wie  ein  sonstiger  harmloser  Fremdkörper,  keine  weiteren  ungünstigen 
Einwirkungen  auf  Gesundheit  und  Wohlbetinden  äussert. 

Bösartig  dagegen  ist  eine  Geschwulst,  wenn  sie  über  kurz  oder 
lang  die  Gesundheit  des  Trägers  durch  ununterbrochenes  Uebergreifen 
auf  die  Umgebung,  auf  die  Lymphdrüsen  der  betreffenden  Gegend, 
schliesslich  durch  Einbruch  in  die  Circulation  und  Bildung  neuer  Ge- 
schwülste in  inneren  Organen  auf  embolischem  Wege  gefährdet  und 
endlich  vernichtet.  Bösartigen  Geschwülsten  kommt  also  ausser  der 
örtlichen  Wirkung  noch  eine  „inficirende"  zu,  d,  h.  sie  wachsen  in  die 
Umgebung  herein,  erdrücken  diese  oder  wandeln  diese  in  Geschwulst- 
gewebe um.    Dann  entwickeln    sich    in  den  Lymphdrüsen    der  Mutter- 


Eintheilung  der  Geschwülste.  315 

geschwulst  gleichartige  Geschwülste,  zunächst  in  den  der  Geschwulst 
unmittelbar  benachbarten  Drüsen,  darauf  in  der  nächstfolgenden  cen- 
traleren  Drlisengruppe  u.  s.  w.  Schliesslich  kommen  „Metastasen"  in 
inneren  Organen,  Es  ist  nicht  wohl  anders  möglich,  als  dass  diese 
Ausbreitung  bösartiger  Gewebe  auf  der  Locomotionsfähigkeit  der  Ge- 
schwulstzellen beruht,  mögen  nun  diese  im  Ganzen  wandern  können 
oder  nur  kleinste  Theile  abgeben  (Seminium),  die  in  die  Nachbar- 
schaft getragen  und  mit  dem  Lymph-  und  Blutstrom  fortgeschleppt 
werden ,  an  anderen  Orten  liegen  bleiben  und  dort  dieselbe  Verän- 
derung hervorrufen,  wie  am  ersten  Orte.  (Die  Analogie  mit  der  Ver- 
breitung der  Bacterien  liegt  auf  der  Hand,  s.  pag.  61.)  —  Bei  der  Me- 
tastasenbildung, die  zur  „Generalisation"  führt,  kann  der  Einbruch 
in  das  Gefässsystem  unmittelbar  durch  Einwachsen  der  Geschwulst  in 
die  Gefässwand  und  Bildung  von  Thromben  erfolgen,  die  Geschwulst- 
masse enthalten  und  nachher  zu  Embolis  werden.  Solche  Thromben 
sind  bei  Sarkomen  oft  beobachtet.  (Diese  Verbreitungsweise  erinnert 
an  die  Pyämie.)  Oder  die  Verbreitung  erfolgt  zunächst  entlang  der 
Lymphgefässe  und  erst  von  diesen  aus  erfolgt  der  Uebertritt  in's  Blut. 
Dies  ist  der  Weg,  wie  die  Krebse  sich  generalisiren.  Mit  dem  Fort- 
schreiten bösartiger  Gesehwülste  werden  die  Kräfte  des  Kranken 
zusehends  consumirt  und  es  entwickelt  sich  die  „Geschwulst  (Kr ebs)- 
Kachexie".  Diese  hat  vor  anderen  Kachexien  gerade  keine  Besonder- 
heiten voraus ;  von  Tag  zu  Tag  wird  der  Kranke  weniger ,  sein  Aus- 
sehen fahler  und  blutärmer,  der  Puls  schwächer;  schliesslich  treten 
allgemeine  marantische  Oedeme  auf  und  die  Kranken  gehen  an  Herz- 
schwäche zu  Grunde,  wenn  nicht  irgend  ein  Zwischenfall,  eine  Blutung, 
eine  Verdauungsstörung,  eine  Lungenafifection  den  Ausgang  beschleunigt. 

Die  Ursache  dieser  Kachexie  ist  nicht  ganz  aufgeklärt.  Die  Jauchung  bei  auf- 
gebrochenen Geschwülsten  kann  die  Ursache  nicht  sein ,  denn  die  Kachexie  tritt  auch 
ohne  diese  ein.  Ebenso  wirken  Blutungen  nur  beschleunigend.  Man  beschuldigt  meist 
die  Aufnahme  von  Zerfallproducten  aus  den  Geschwülsten,  so  dass  es  sich  also  um  eine 
Art  Resorptionskachexie  —  analog  den  Fieberzuständen  —  handeln  möchte.  (L.  Pfeiffer 
nimmt  eine  specifische  Giftwirkung  der  Sporozoen  au.)  Andererseits  muss  auch  der 
massenhafte  Materialverbrauch  zum  Aufl)au  der  Geschwulst  den  übrigen  Organen  die 
ihnen  nothwendigen  Nährstoffe  vorenthalten.  Wir  müssten  dann  diese  Kachexie  in  Parallele 
stellen  mit  den  Störungen  des  Allgemeinbefindens ,  die  sich  zur  Zeit  der  Entwicklung 
der  Geschlechtsorgane,  des  raschen  Kuochenwachsthums,  auch  der  SchAvangerschaft  und 
Bildung  des  Embrj^o  einzustellen  pflegen.  Vielleicht  darf  man  auch  an  die  interessanten 
Studien  von  Miescher-Rüsch  über  das  Leben  des  Rheinlachses  denken.  Während  des 
Autljaues  der  Geschlechtsorgane  werden  bei  diesem  Thier  die  anderen  Organe,  namentlich 
Muskeln,  Fettgewebe  eingeschmolzen  und  gerathen  in  den  höchsten  Grad  von  Atrophie ; 
das  Thier  verfällt  in  einen  Zustand  äusserster  Abmagerung,  selbst  tiefgreifende  Ge- 
schwüre treten  auf.  Alles  nur  irgend  verfügbare  Material  wird  nach  den  Genitalorganen 
getragen. 

Bei  gutartigen  Geschwülsten  ist  der  Hämoglobingehalt  normal  und  die  Regene- 
rationszeit des  Blutes  nach  der  Operation  ist  normal.  Bei  bösartigen  Geschwülsten  ist 
der  Hänioglobingehalt  im  Durchschnitt  nur  G8'5  Procent ,  kann  sogar  bei  rasch  wach- 
senden Geschwülsten  bis  .öG'.ö  Procent  herabgehen.  Die  Regeneration  nach  der  Operation 
erfolgt  langsamer ,  eine  Uebercompensation  des  Blutverlustes  erfolgt  nie ,  wie  bei  gut- 
artigen Geschwülsten  und  Verletzungen  (Bierfreund ,  Lanyenheck's  Archiv  41). 

Ein  weiteres  Zeichen  der  Bösartigkeit  der  Geschwülste  ist  die 
Fähigkeit,  örtlich  wiederzukehren,  wenn  sie  entfernt  worden  sind,  die 
Neigung  zu  Recidiveu. 

Thier  seh  unterscheidet  „continuirliche"  Recidive,  wo  ein  Theil  der  Ge- 
schwulst zurückgeblieben  ist  und  sich  weiter  entwickelt,  dann  Infectionsrecidive, 


316  V.  Caintel.  —  Geschwülste. 

wenn  in  den  Lymphdrüsen  oder  im  übrigen  Körper  sich  nach  der  Operation  Geschwülste 
entwickeln,  und  „regionäres  Eecidiv",  wenn  an  der  >Stelle ,  wo  die  Geschwulst 
entfernt  wurde,  sich  aus  denselben  Gründen,  wie  die  erste,  wieder  eine  neue  Geschwulst 
bildet.  Eigentlich  sind  die  ersten  beiden  Recidivformen  nur  neue  Aeusserungen  der 
alten,  wenn  die  Geschwulst  nicht  ganz  entfernt  wurde  und  zur  Zeit  der  Operation 
bereits  eine  Verbreitung  auf  L3i'mph-  oder  Blutgefässe  bestand.  Und  das  regionäre  Kecidiv 
ist,  genau  betrachtet,  nicht  mehr  die  alte  Krankheit,  sondern  eine  neue  für  sich. 

Natürlich  führt  diese  Eintheilung  in  gutartige  und  bösartige  Ge- 
schwülste zu  manchen  scheinbaren  Inconsequenzen.  Ein  flaches  Epi- 
thelialcarcinora  des  Gesichts  kann  Jahrzehnte  lang  bestehen,  ohne  den 
Gesammtorganismus  zu  inficiren  und  ist  doch  eine  bösartige  Geschwulst. 
Umgekehrt  kann  eine  durchaus  gutartige  Kehlkopfgeschwulst,  wenn 
sie  sich  in  die  Stimmritze  einklemmt,  in  einer  Minute  das  tödtliche 
Ende  herbeiführen. 

Nach  anatomischen  Merkmalen  theilen  wir  die  Geschwülste  in 
bindegewebige,  welche  nur  aus  Bestandtheilen  des  Bindegewebes 
und  Gefässen  bestehen,  und  epitheliale,  welche  ausser  diesen  noch 
epitheliale  Gebilde,  anscheinend  als  vorwiegenden  und  wesentlichen 
Bestandtheil  enthalten. 

Beiden  Gruppen  kommen  auch  gewisse  klinische  Besonderheiten 
zu  und  so  ist  mit  dieser  Eintheilung,  wenn  man  sie  nicht  zu  sehr  in's 
Einzelne  treibt,  sehr  wohl  auszukommen.  Man  bekommt  so  durch  die 
Combinirung  beider  Eintheilungsprincipien :  Bindegewebige  Ge- 
schwülste gutartiger  und  bösartiger  Natur  und  epitheliale 
Geschwülste  gutartiger  und  bösartiger  Natur.  Die  bösartigen 
Geschwülste  epithelialen  Ursprungs  pflegt  man  zusammenzufassen  als 
„Krebse  im  engeren  Sinn,  Cancroide,  Epithelialkrebse  oder 
Epithelialcarcinome".  Der  Name  Epitheliom,  als  zu  allgemein,  wird 
besser  für  „epitheliale  Neubildung"  unbestimmten  Charakters  verwendet. 
Die  bösartigen  bindegewebigen  Geschwülste  werden  als  Sarkome  auf- 
geführt. 

Dem  Kliniker  und  dem  pathologischen  Anatomen  ist  es  im  ge- 
gebenen Falle  oft  unmöglich,  eine  gerade  bei  einem  Kranken  ge- 
fundene Geschwulst  mit  Sicherheit  zu  rubriciren.  Es  gibt  Uebergangs- 
formen,  denen  man  ihren  wirklichen  Charakter  nicht  ansieht;  es 
können  auch  gutartige  Geschwülste  bösartig  werden,  indem  sie  ihren 
mikroskopischen  Bau  allmählich  ändern ;  selten  sogar  ohne  ihn  zu 
ändern.  In  frühen  Stadien  gibt  es  sichere  histologische  Kennzeichen  des 
Krebses  nicht  (vergl.  Schuchardt,  Langenheck' s  Archiv,  Bd.  XLIII,  der  mit 
Recht  auf  die  Schwierigkeiten  der  mikroskopischen  Diagnose  beginnender 
epithelialer  Neubildungen  hinweist). 

Das  Wachsthum  der  Geschwülste  ist  nach  der  gewöhnlichen 
Darstellung  ein  centrales  oder  peripheres,  appositionelles.  Jenes 
nehmen  wir  bei  den  meist  gutartigen  Geschwülsten  an,  die  durch 
eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Bindegewebsschicht,  eine  Kapsel, 
von  der  Umgebung  abgegrenzt  sind  und  eine  verhältnissmässig  selbst- 
ständige, oft  wie  an  einem  Hilus  in  das  Innere  der  Geschwulst  ein- 
dringende Gefäss-Versorgung  besitzen.  —  Die  Neubildung  der  Geschwulst- 
zellen erfolgt  wohl  vorwiegend  durch  Theilung  der  vorhandenen  Zellen 
auf  dem  Wege  der  Kerntheilung.  In  Geschwülsten  sind  Kerntheilungs- 
figuren  ganz  gewöhnliche  Erscheinungen. 


Wachstlium  der  Geschwülste.  —  Metamorphosen.  317 

In  bösartigen  Tumoren  finden  sich  neben  symmetrischen  Mitrosen  auch  asym- 
metrische ,  die  in  gutartigen  Geschwülsten  nicht  vorkommen.  Die  Ghromatinsubstanz 
theilt  sich  dort  in  ungleiche  Abschnitte.  ScJiüfz  und  V.  Müller  weisen  auf  die  über- 
wiegend periphere  Lage  der  Mitosen  in  den  Krebszellenzügen  hin. 

Bei  den  Geschwülsten  mit  peripherem  appositionellem  Wachs- 
thum  fehlt  meist  die  scharfe  Grenzschicht;  wenn  sie  eine  Kapsel 
anfangs  besitzen,  wird  sie  oft  später  durchbrochen.  Neben  dem  Wachs- 
thum  durch  Zellvermehrung  scheint  die  Vergrösserung  dieser  —  fast 
ausnahmslos  bösartigen  —  Geschwülste  auch  noch  durch  Umwandlung 
der  Gewebe  des  Mutterbodens,  in  Geschwulstgewebe,  wie  unter  dem 
Einfluss  eines  inficirenden  Virus  zu  erfolgen.  Namentlich  bei  der  Ent- 
wicklung von  secundären  Geschwülsten  in  Lymphdrüsen  gewinnt  man 
oft  diesen  Eindruck,  dass  unter  dem  Einfluss  der  Infection  Lymphzellen 
und  Lymphgefässendothelien  sich  in  Geschwulstzellen  umwandeln 
(Gussenbauer).  Andere  Male  scheint  das  Geschwulstgewebe  das  des 
Mutterbodens  zu  erdrücken  und  sich  an  seine  Stelle  zu  setzen,  es  ist 
dann  also  mehr  eine  Substitution  der  Matrix. 

Dem  Wachsthum  von  Geschwülsten  setzen  Fascien,  derbe  Binde- 
gewebszüge ,  hauptsächlich  aber  Knochen  oft  langen  hartnäckigen 
Widerstand  entgegen.  Nach  ihrer  Durchbrechung  —  besonders  gilt  dies 
von  central  entstehenden  Knochengeschwülsten  —  nimmt  das  Wachs- 
thum dann  ein  ganz  anderes ,  beschleunigtes  Tempo  an.  —  Manche 
Geschwülste  wachsen  gleichmässig,  andere  schubweise  und  in  Absätzen. 
Die  Perioden  rascheren  Wachsthums  fallen  oft  mit  eingreifenden  Ver- 
änderungen des  Gesammtorganismus ,  Schwangerschaft,  Menstruation, 
Pubertät,  schweren  Krankheiten  u.  s.  f.  zusammen. 

Die  oft  ungemein  reichliche  Gefäss Versorgung  der  Geschwülste 
scheint  zum  Theil  durch  die  Erweiterung  der  vorhandenen  Gefässe  zu 
erfolgen.  Daneben  bilden  sich  neue,  wie  auch  sonst,  durch  Sprossen- 
bildung (vergl.  Fig.  33).  Die  Arterien  der  Neubildungen  sind  oft  sehr 
dickwandig,  die  Venen  dagegen  stark  erweitert  und  in  ihrer  Wandung 
verdünnt.  —  Die  meisten  Geschwülste  zeigen  reichliche  Lymphgefässe. 
Auch  Nerven  finden  sich  in  Geschwülsten;  ob  eine  Neubildung  von 
Nervenfasern  stattfindet,  ist  fraglich. 

Sämmtliche  Geschwülste  zeigen  eine  erhöhte  Neigung  zu  regres- 
siven Metamorphosen,  vorwiegend  in  den  älteren  und  centralen 
Theilen  der  Neubildung.  Es  finden  sich  fast  alle  Degenerationen,  die 
pag.  41  ft".  geschildert  wurden;  ebenso  spielen  sich  in  Geschwülsten  oft 
metaplastische  Vorgänge  ab. 

Dann  sind  Blutungen  ungemein  häufig,  wohl  weil  es  nicht  zur 
Ausbildung  wirklich  normaler  Gefässwände  kommt.  Das  Blut  wühlt 
sich  —  besonders  bei  weichen  Geschwülsten,  in  das  Gewebe  derselben 
hinein  und  verursacht  mitunter  umfangreiche  Hämatome  oder  Blut- 
cysten.  Das  ausgetretene  Blut  macht  die  gewöhnlichen  Veränderungen 
durch  (Gerinnung,  Vertrocknung,  Verkreidung  etc.  Vergl.  pag.  100).  Plötz- 
liche bedeutende  Vergrösserung  eines  Tumors,  von  gestern  zu  heute,  wie 
sie  nicht  so  selten  beobachtet  wird,  beruht  fast  ausnahmslos  auf  einer 
Blutung  in  die  Substanz  der  Geschwulst.  Diese  Neigung  zu  Blutungen 
in"s  Gewebe  zeigen  besonders  weiche,  schnellwachscnde  Sareome. 

Andererseits  können  in  Geschwülsten  auch  Vernarbungsprocesse 
eintreten,  die  zu  einer  Schrumpfung  und  partiellen  Verödung   und  Rc- 


318  V.  Capitel.  —  GeschwiilKte. 

Sorption  der  Geschwulst  führen.  In  seltenen  Fällen  können  Geschwülste 
so  ganz  zum  Verschwinden  kommen. 

Verletzungen  von  Geschwülsten  zeigen  nur  geringe,  meist  gar 
keine  Neigung  zur  spontanen  Heilung. 

Auch  Oedembildung  wird  in  Neubildungen  beobachtet. 

Dann  können  Geschwülste  sich,  wie  andere  Gewebe,  entzünden, 
und  solche  Entzündungen  nehmen  leicht  einen  jauchigen  Charakter 
mit  septischen  Allgemeinerscheinungen  an.  Besonders  leicht  verjauchen 
Blutergüsse  in  Geschwülsten.  Die  Eintrittspforte  der  Entzündungserregei- 
bildet  häufig  ein  kleiner  Hautdefect.  Durch  das  Wachstlium  der  Ge- 
schwulst wird  die  Haut  über  derselben  immer  mehr  ausgezogen  und 
verdünnt  und  schliesslich  durch  Druck  von  innen  brandig,  „die  Ge- 
schwulst bricht  auf".  Die  so  zu  Tage  tretende  Geschwulstmasse  wird 
ungemein  leicht  von  aussen  her  inficirt. 


Geschwülste  bindegewebiger  Natur  (Desmoidgeschwülste). 

Gutartige  Bindegewebsge  schwülst  e.  —  Fibrom. — Lipom.  —  Myxom. — 
Osteom.  —  Enchondrom.  —  Myom.  —  Neurom.  —  Gliom.  —  Angioma  und 
Lymphangiome.    —  Lymphom.  —   Bösartige    Bindegewebgeschwülste.  —  Sarkome. 

Wir  verfolgen  die  Geschwülste ,  die  nur  aus  Bindegewebe  und 
Abkömmlingen  der  BindegeW' ebsgruppe ,  Knochen,  Knorpel,  Fett  und 
dergleichen  bestehen,  von  ihren  einfachsten  und  unschuldigsten  Vertretern, 
den  Fibromen,  bis  zu  den  bösartigsten  Geschwülsten,  die  wir  überhaupt 
kennen,  bis  zu  gewissen  Sarkomen.  Die  Grenzen  der  einzelnen  Ge- 
schwulstgruppen sind  keineswegs  sehr  scharfe.  Man  findet  zahlreiche, 
oft  fast  unmerkliche  Uebergänge  von  gutartigen  zu  bösartigen  Formen. 
Ebenso  zeigen  sich  diese  Geschwülste  keineswegs  immer  nur  aus  einer 
einzigen  Art  von  Bindegewebssubstanzen  aufgebaut;  häufig  sind  die 
verschiedensten  Arten  — ■  Bindegewebe  im  engern  Sinne,  Fett,  Knorpel, 
Knochen,  Schleimgewebe  u  s.  f.  —  neben  einander  vertreten  und  es 
entstehen  so  Mischformen  und  Mischgeschwülste.  Die  Benennung 
erfolgt  dann  nach  dem  vorwiegenden  Bestandtheil  („a  potiori  fit  deno- 
minatio")  oder  nach  dem  am  höchsten  organisirten  Gewebe,  das  sich 
darin  findet,  z.  B.  Nerven-  oder  Knorpelgewebe. 

Auch  kann  eine  Gewebsart  später  metaplastisch  (s.  pag.  49)  an 
die  Stelle  einer  anderen  treten,  ganz  oder  theilweise,  Scbleimgewebe  an 
Stelle  des  faserigen  Bindegewebes,  des  Fettgewebes  u.  s.  w.  In  derselben 
Weise  können  de  generative  Vorgänge  in  diesen  Geschwülsten 
sich  abspielen  und  so  der  Charakter  und  das  mikroskopische  und 
makroskopische  Verhalten  einer  solchen  Neubildung  später  ein  anderes 
sein,  als  zu  Anfang.  —  Der  anatomisch  gemischte  Bau  findet  dann 
auch  seinen  Ausdruck  in  der  Benennung,  wie  Mjofibrom  (Muskelfaser- 
geschwulst), Neurofibrom,  Osteochondrom  u,  dergl.  mehr. 


Das  Fibrom,  die  Fasergeschwulst,  auch  Fibroid,  Desmoid 
genannt,  besteht  nur  aus  Bindegewebe.  Als  Hauptmasse  finden  sich 
Bindegewebsfasern  mit  wenigen  platten  Bindegewebskörperchen  und 
spärlicher   Intercellularsubstanz.    Meist    sind    Gefässe    nur    in    geringer 


Bindegewebsgescli-v\ülste.  —  Fibrom. 


319 


Anzahl  vorbanden.  In  seinem  histologischen  Aufbau  steht  das  Fibrom 
der  Narbe  und  der  Sehuensubstanz  sehr  nahe  (s.  Fig.  296  =  Fig.  51). 
Entsprechend  den  Elementen ,  die  es  zusammensetzen ,  ist  das  echte 
Fibrom  hart ,  oft  geradezu  knorpelhart ,  knirscht  unter  dem  Messer ; 
die  Schnittfläche  ist  glatt,  trocken,  sehnig  glänzend.  Die  Form  ist 
kugelig  oder  eiförmig,  mitunter  etwas  abgeplattet,  meist  einlappig, 
seltener  mehrlappig  (multilobulär).  Die  Oberfläche  ist  glatt  oder  leicht 
höckerig.  Die  Grösse  variirt  von  einem  Hirsekorn  bis  Kindskopf  und 
darüber.  Sie  kommen  vereinzelt  vor  („solitär"),  oft  aber  auch  in  grosser 
Anzahl  über  den  ganzen  Körper  zerstreut  („multiple"  Fibrome).  Das 
Fibrom  ist  meist  schmerzlos  und  auch  auf  Druck  nicht  empfindlich. 

Gewöhnlich  ist  eine  gut  abzugrenzende  Kapsel  vorhanden;  jen- 
seits derselben  oft  lockeres  Zellgewebe.  Vorwiegende  Standorte  sind 
das  eigentliche  Cutisgewebe,  die  Fascien,  Schleimhäute  und  das  Periost. 

Fig.  29G.  Fig.  297. 


Die  multiplen  Fibrome  der  Haut  werden  mit  dem  Verlauf  der  peripheren 
Nerven  in  N'erbindiing  gebracht.  Die  Geschwulst  drängt  die  Ner- 
venfasern auseinander,  die  sich  pinselförmig  auf  der  Geschwulst 
ausbreiten,  ohne  in  derselben  aufzugehen  und  ihre  Function  ganz  ein- 
zubüssen  (Fig.  297,  Neurofibrom  im  Nervus  ulnaris).  Diese  Fibrome,  meist 
kleine,  derbe,  längliche  Knötchen  im  Verlauf  des  Nerven,  werden  auch 
falsche  Ncuromc  oder  wegen  der  meist  ganz  enormen  Schmerzen,  die 
sie  spontan  und  noch  mehr  bei  Berührung  machen,  Tubercnla  dolorosa 
genannt.  (Nicht  alle  Tul)ercula  dolorosa  sind  Fibrome,  sondern  zum 
Theil  Adenome  der  Hautdrüsen.) 

Ganze  Nervengeflechte  können  durcli  Fibrombiklungen  zu  ver- 
schlungenen knolligen  Strängen  werden  —  (plexiformes  Neuro- 
fibrom oder  Kankeuueurom  (1\  Briois,  vergl.  Tietzc ,  Langenbeck' s 
Archiv,  Bd.  45j. 


320 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Fibrome  gehören  vorwiegend  dem  mittleren  L«:;bcn,sa]ter  an.  Ihr 
Waehsthum  ist  ein  langsames  und  gleichmässiges. 

In  den  Drüsen,  besonders  der  Mamma,  weniger  im  Hoden,  finden  sich  ferner 
(jeschwülste ,  die  zum  überwiegenden  Theile  aus  faserigem  Bindegewebe  bestehen 
und  zur  Bildung  lappiger,  in  die  Milchgänge  hineinwachsender  Massen  führen,  Fibroma 
mammae  proliferum  intracanaliculare.  Man  findet  dabei  stets  auch  Wucherung 
des  Drüsenkörpers,  deshalb  gehören  diese  Geschwülste  eigentlich  zu  den  Adenomen. 
(Siehe  dort.) 

Die  narbigen  Schrumpfungen  nach  Entzündungen  führen  in  Organen ,  wie  der 
Brustdrüse ,    oft   zu   harten ,    durch  die  Haut  durchzutastenden  unregelmässigen  Knoten, 

von     der    Consistenz ,    jedoch    nicht    dem 
]'''P-  298.  rundlichen  Bau  der  Fasergeschwülste.     Zu 

Fibromen  entwickeln  sich  die  Narbenknoten 
■  nie,   eher  entwickelt  sich  einmal  eine  bös- 
artige Neubildung  darin. 

Neben  diesen  festen  oder 
harten  Fibromen  findet  sieh  auch 
eine  weiche  Form. 

Auf  der  Haut  entwickelt  sich 
das  Fibroma  molluscum,  Mol- 
luscum pendulum .  Cutis  pendula. 
Diese  weichen  Fasergeschwülste 
sind  fast  ausnahmslos  multipel  und 
die  Haut  ist  oft  geradezu  übersät 
damit.  Es  sind  gelblichgraue, 
schwammigweiche  Geschwülstchen, 
die  sich  wie  ödematös  anfühlen. 
Sie  sind  bald  gestielt,  bald  ruhen 
sie  mehr  breitbasig  auf.  Ihr  Sitz 
ist  im  Unterhautzellgewebe  und  sie 
sollen  von  den  Scheiden  der  peri- 
pheren Nerven  ausgehen  Durch- 
schnitten zeigen  sie  ein  fast  caver- 
nöses  Gefüge  und  von  der  Schnitt- 
fläche tropft  gelbliche,  schleimige, 
ei weissh altige  Flüssigkeit  ab. 

Fig.  298  (nach  Virchow)  stellt  eine 
mit  massenhaften  weichen  Fibromen  be- 
haftete 47jährige  Frau  dar;  die  kleinsten 
kaum  linsengross ;  das  grösste  wog  exstirpirt 
32  Yä  Pfund.  Dieselben  waren  überaus  weich, 
wie  fluctuirend. 

Fig.  299     ist    ein    mikroskopischer 
Schnitt  aus  derselben  Geschwulst  (20fache 
Vergrösserung).  Von  breiten  bindegewebigen 
Balken,  in  denen  Gefässe  liegen,  strahlen 
schmälere  Züge  aus ,  von  diesen  zweigt  sich  wieder  ein  feineres  Netzwerk  ab ,    so  dass 
das  Ganze   ein  zierliches    wabenartiges  Gefüge   gewinnt  (areolärer  Bau).    Die  Zwischen- 
räume sind  mit  eiweisshaltiger  Flüssigkeit  erfüllt. 

Die  auf  den  Schleimhäuten  stehenden  Fibrome  nennt  man  Po- 
lypen. Ein  Theil  derselben,  z.  B.  die  im  Kehlkopf,  an  den  Stimm- 
bändern sitzenden,  sind  harte,  kleine,  unter  dem  Epithel  sitzende 
Höckerchen,  von  dem  Bau  der  harten  Fibrome.  Andere,  im  Nasen- 
rachenraum, sind  dagegen  äusserst  weich,  graugelb  und  durchscheinend; 
ihr  Gefüge    ist  dem    des   Fibroms   ähnlich,    aber    sie   sind    erfüllt   mit 


Fibrom.  —  Keloid. 


321 


Pig.  299. 


reichlicher  Flüssigkeit,  die  nicht  blos  zwischen  den  Fasern  liegt, 
sondern  auch  diese  selbst  zu  durchtränken  scheint.  Sie  befinden  sich 
ge Wissermassen  im  Zustande  chronischen  Oedems.  Die  Nasenpolypen 
gehen  gewöhnlich  vom  Periost  aus,  die  andern  Schleimhautpolypen, 
soweit  sie  Fibrome  sind,  von  der  Submucosa.  Sie  sind  von  dünner 
Epithellage  überzogen ,  spärliche  dendritisch  verzweigte  Gef  ässchen 
liegen  unter  dem  Epithel.  Die  Form  ist  gewöhnlich  eine  lang  aus- 
gezogene, ungefähr  flaschen-  oder  birnenförmige,  mit  dünnem  Hals  und 
massigerem  Körper.  Einer  entfernten  Aehnlichkeit  mit  Polypus  verdanken 
sie  den  Namen.  Zur  Abtragung  der  Polypen  bedient  man  sich  meist 
der  Drahtschlinge  (s.  Fig.  201)  oder  der  galvanokaustischen  Schlinge 
(s.  Fig.  206). 

Vom  Knochen  ausgehende  harte  Fibrome  (Osteofibrome)  finden 
sich  besonders  am  Unterkiefer,  demnächst  häufig  am  Oberkiefer.  Diese 
faserigen,  ungemein  langsam  wachsenden  harten  Kiefergeschwülste  nennt 
man  Epulis  (ouXv]  das  Zahnfleisch).  Nur  selten  tragen  sie  den  reinen 
Charakter  der  Fasergeschwulst,  gewisse  zwischen  die  Faserzüge  ein- 
gesprengte Zellanhäufungen  oder  einzelne  eigenartige  Zellen  (Riesen- 
zellen) stellen  sie  anatomisch  zu  den 
Sarkomen,  während  sie  sonst  als  gut- 
artige, nur  leicht  recidivirende  Ge- 
schwülste den  klinischen  Charakter 
der  Fibrome  tragen. 

In  einzelnen  Fibromen  sind  die 
Gefässe  überaus  weit  und  massenhaft 
(cavernöse  Fibrome).  (S.  Angiom.) 

Die  Ursache  der  echten  Fi- 
brome ist  unbekannt,  ihr  Wachsthum 
meist  ein  sehr  langsames ,  in  Jahren 
nur  wenig  Fortschritte  zeigend.  Fast 
ausnahmslos  sind    sie  gutartig;    doch 

sind  einige  Fälle  (Paget,  Volkmann)  beschrieben,  wo  sie  örtlich  wieder- 
kehrten und  innerliche  Metastasen  machten  (recidivirendes  Fibrom). 

Die  Behandlung  der  Fibrome  besteht  in  der  Exstirpation  mit 
dem  Messer. 

Auf  Narben,  häufiger  solchen,  die  nicht  p.  p.  i.,  sondern  langsam  und  mit  Eiterung 
geheilt  und  viel  misshandelt,  gescheuert  sind,  entsteht  die  Narbengeschwulst, 
das  Keloid.  Die  Narbe  fängt  an,  sich  zu  wulsten,  über  die  Umgebung  hervorzuragen 
(statt  zu  schrumpfen  und  sich  zu  vertiefen) ;  statt  gefässärmer  und  dadurch  blasser  zu 
werden ,  bleibt  sie  roth  und  wird  turgescenter.  Ein  Gefühl  unangenehmer  Spannung 
fehlt  selten.  Schliesslich  ist  aus  der  Narbe  eine  Va~~l  Cm.  hohe,  glänzende,  rothe 
Geschwulst  geworden ,  die  sich  hart ,  doch  meist  etwas  weicher  als  eine  gewöhnliche 
Narbe  anfühlt  und  an  sichtbaren  Stellen  als  hässlicher  Wulst  auffallt.  Die  Neubildung 
breitet  sicli  auch  auf  die  Umgebung  etwas  aus :  sind  2  Keloide  sich  benachbart , "  so 
können  sie  zusammenfliessen.  Fig.  300,  ein  seit  mehreren  Jahren  unverändertes,  doppeltes 
Keloid  des  Halses ,  entstanden  während  der  Militärzeit  aus  Furunkelnarben  am  Rande 
der  Halsbinde.  Exstirpirt  kehren  Keloide  mit  unangenehmer  Regelmässigkeit  wieder, 
indem  die  Narbe  allmählich  wieder  zum  Keloid  sich  umwandelt.  Die  Keloide  können 
nach  jahrelangem  l'.cstand  oft  von  selbst  wieder  zu  wenig  prominenten  Narben  schwinden. 

^Mikroskopisch  zeigt  das  Keloid  ungefähr  den  liau  der  jungen  Narbe, 
weiches  saftreiches  Bindegewebe  (vergl.  Fig.  o6),  in  das  Anhäufungen  von 
weissen  Blutzellen ,  auch  hier  und  dort  Riesenzcllcn  und  epithelioide 
Zellen  eingesprengt  sind;    dazwischen    straficre  Bindegcwebszüge.    Das 

LandertT,  Allfe'.  cliir.  Pathologien  ii.  Thi'raiiio.  2.  Autl.  21 


J22 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


bedeckende  Epithel ,   die  drüsigen  Gewe])e    der  Haut    sind  iin  Zustand 
der  Atrophie. 

Thorn  {Lamjenhech's  Archiv,  Bd.  51)  fand  Hypertropliie  der  CoriumzeUen  und 
wesentliche  Unterschiede  der  Keloidf'asern  von  der  gewöhnlichen  ßindegeweljsfaser. 

Der  Exstirpation  folgt  oft  ein  Eecidiv ;  einer  zweiten  Exstirjjation  ist  dann  der 
Misserfolg  mit  Sicherheit  vorauszusagen,  und  man  verhält  sich  dann  besser  exspectativ. 


-^5- 


Consequentes  Bestreichen  mit  CoUodinm  (eventuell  mit  Sublimatzusatz  1  :  200),  mit  Jod- 
tinctur,  mit  Ichthj'ol  hat  gelegentlich  Erfolg. 


Das  Lipom  oder  die  Fettgeschwulst  hat  ihren  Ausgaugsort 
besonders  vom  Unterhautzellgewebe.  Manche  Lipome  setzen  sich  mit 
einem  Stiel  durch  die  Fascie  hindurch,  zwischen  die  Muskeln  oder  Ge- 
fässbündel  herein,  selbst  bis  zum  Periost  des  Knochens  fort. 

Das-Lipom  ist  eine  meist  gef ässarme,  ausgesprochen  lappig  gebaute 
Geschwulst  von  Kirsch-  bis   über  Mannkopfgrösse.  Wie  eine  Traube  aus 


einzelnen  Beeren,  so  ist  das  Lipom  zusammengesetzt  aus  Fettknollen, 
die  durch  lockeres  Zellgewebe  getrennt,  bis  Apfelgrösse  erreichen 
können  (Fig.  301).  Wenn  sich  auch  das  Lipom  meist  ohne  Mühe  aus 
dem  umgebenden  Gewebe ,  oft  schon  mit  dem  Finger  herausschälen 
lässt,  so  ist  es  doch  nicht  durch  eine  so  scharf  ausgesprochene  Kapsel 
von  demselben  getrennt,  wie  das  Fibrom. 


Lipom.  —  Myxom.  323 

Die  Diagnose  „Fettgeschwulst"  ist  meist  nicht  schwer  zu 
machen.  Der  lappige,  traubige  Bau,  die  weiche  Consistenz  des  bei  Körper- 
temperatur fast  flüssigen  Fetts,  die  absolute  Schmerzlosigkeit,  die  leichte 
Verschieblichkeit,  das  langsame  Wachsthum  werden  zur  Diagnose  heran- 
gezogen ,  doch  sind  schon  Cysten,  syphilitische  Gummigeschwülstcheu, 
weiche  Fibrome  u.  s.  w.  von  guten  Chirurgen  für  Lipome  gehalten 
worden.  Man  hat  das  Gefühl,  welches  das  Lipom  dem  znfühlenden  Finger 
gewährt,  mit  dem  eines  Sacks  voll  Wattebäuschchen  verglichen.  Entzündete 
Lipome  sind  oft  schwer  als  solche  zu  erkennen. 

Das  Lipom  ist  zweifellos  bei  mageren  Personen  und  an  fettarmen 
Körperstellen  häutiger.  Sein  Lieblingssitz  ist  oberer  Theil  des  Rückens 
(21-57o),  Nacken  (S'löo/o),  Hals  (7'1%),  Aussenfläche  der  Oberarme 
.(l3-57o/o)  und  Oberschenkel  (eseo/o). 

Lipome  sind  schmerzlos.  Vollständig  exstirpirt,  kehren  sie  nicht 
wieder. 

Der  mikroskopische  Charakter  des  Lipoms  zeigt  gleichfalls  einen 
traubigen  Bau.  Auf  einem  Stiele,  der  die  spärlichen  Gefässe  ent- 
hält, sitzen  beerenartig  die  Fettträubchen. 

Lipome  können  allerlei  weitere  Veränderungen  erleiden ;  sie  können 
«chleimig  erweichen,  Lipoma  myxomatosum.  Bei  starker  Zunahme  des 
Bindegewebes  spricht  man  von  L.  fibrosum.  Bisweilen  entwickeln  sich 
die  Gefässe  massenhaft,  L.  teleangiectodes.  Ferner  können  Lipome  ver- 
kalken, in  seltenen  Fällen  abscediren  und  versch wären  (nach  Druckbrand 
der  Haut)  u.  s.  w.;  ebenso  können  sie  chronisch  ödematös  werden. 

Eine  Bildung  eigener  Art  ist  das  Lipoma  diffusum,  eine  An- 
häufung traubigen  Fetts  an  bestimmten  Stellen,  z.  B.  der  Aussenfläche 
des  Oberschenkels ,  ohne  Abgrenzung  von  der  Nachbarschaft.  Auf  die 
lipomartige  massige  Anhäufung  des  Fettes  am  Halse,  „Fetthals",  die 
sogar  zu  schwerer  Atherastörung  führen  kann,  \i2ii  Madelung  (Lang en- 
hech's  Archiv,  Bd.  37)  aufmerksam  gemacht.  Hier  fehlte  die  Schilddrüse. 
Eine  solche  örtliche  Polysarkie  kann  auch  die  weiblichen  Brüste  zu 
unförmlichen  bis  10  Kilogr.  schweren  Massen  auftreiben ,  unter  theil- 
weisem  Schwund  des  echten  Drüsengewebes. 

Die  diffuse  Lipombildung  ist  auch  wesentlich  mitbetheiligt  bei  den  meisten  Formen 
von  Riesenwuchs  (angeboren,  selten  erworben);  eine  oder  auch  mehrere  Extremitäten 
nehmen  allmälig  einen  enormen  Umfang  an,  ohne  sichtbare  Circulations-,  mit  nur  geringen 
Functionsstörungen.  Doch  entwickeln  sich  nicht  selten  hartnäckige  Geschwürsbildungen 
u.  dergl. ,  so  dass  oft  die  Amputation  nöthig  wird.  In  anderen  Fällen  handelt  es  sich 
nicht  blos  um  abnorme  Fettansammlung  ,  sondern  um  wirkliche  Hypertrophie  auch  der 
übrigen  Gewebe,  namentlich  der  Knochen. 

In  Gelenken ,  namentlich  im  Kniegelenk ,  wuchert  das  normal  vorhandene  sub- 
synoviale Fett  oft  zu  wirklichen,  verzweigten  Lipomen  heran  (Lipoma  arborescens). 
Den  Anlass  scheinen  Blutergüsse  zu  bilden.  Manchmal  erscheint  das  Lipom  als  Vor- 
läufer der  Tuberculose  der  Gelenke  (vergl.  Blacliian,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  36). 

Nach  Grosch  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  26)  steht  die  Häufigkeit  des  Lipoms 
im  umgekehrten  Yerhältniss  zum  Drüsenreichthum  des  Standortes.  Nach  Küttnitz  be- 
ruhen die  Lipome ,  wenigstens  die  symmetrischen ,  auf  trophoneurotischer  Grundlage 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  38). 


Der  physiologische  Typus  des  Myxoms  (Colloid,  Collonema),  der 
Schleimgeschwnlst,  ist  das  Schleimgewebe,  wie  es  sich  an  Stelle 
des  späteren  Unterhautfettgewebes  des  Erwachsenen  im  subcutanen 
•Gewebe  des  Embryo  und  besonders  im  Nabelstrang  der  Neugeborenen, 

21* 


324 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


dann  auch  als  Gallcrtniark  in  der  Markliölile  des  Fötus  und  gelegent- 
lich wieder  bei  alten  und  geschwächten  Personen  daselbst  findet.  Es  ist 
ein  Bindegewebe  mit  grossen,  sternförmigen,  vielfach  verästelten  Binde- 
gewebskörpern ;  statt  der  Bindegewebsfasern  hat  man  eine  schleimige 
Zwischensubstanz,  die  bei  Zusatz  von  Gerinnungsmitteln,  z.  B.  Alkohol, 
faserig  gerinnt.  (Fig.  302  Myxomgewebe  nach  Ziefjler.  Vergrösserung 
250.)  Reine  Myxome  sind  nicht  häufig ,  sie  finden  sich  als  gelappte, 
traut) enförmige ,  weiche,  fast  fluctuirende,  graurothe,  schmerzlose  Ge- 
schwülste in  dem  lockeren  ünterhautzellgewebe  der  Genitalien,  Labien 
und  Scrotum,  in  der  weiblichen  Mamma  und  an  grossen  Röhrenknochen, 
namentlich  dem  Oberschenkel.  Myxome  sind  nur  bedingt  gutartig ,  sie 
können  örtlich  wiederkehren  und  allgemein  inficiren ,  besonders  die 
Myxolipome.  —  Sehr  häufig  sind  andere  Geschwülste  ganz  oder  theilweise 
schleimig  entartet,  weniger  das  Fibrom,  als  das  dem  Myxom  nahe  ver- 

Fig.  302. 


wandte  Lipom ,  dann  aber  in  besonderer  Häufigkeit  das  Sarkom  als- 
„Myxosarkom".  Ferner  entwickeln  sich  Myxofibrome  an  den  peripheren 
Nerven. 

Auch  epitheliale  Neubildungen,  namentlicli  gewisse  Epitlielialcarcinome  können 
theilweise  schleimig  entarten  und  sind  daher  früher  als  eigene  Form  von  Carcinomen^ 
Gallert-Carcinome,  geführt  worden. 

Fig.  303  Myxom  der  grossen  Schamlippe  (nach   Virchow). 
Myxome  sind,  als  stets  verdächtige  Geschwülste,   sofort  mit  dem 
Messer  zu  entfernen. 


Knochenneubildungen,  selbst  in  Form  von  grösseren  geschwulst- 
artigen Stücken  und  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  Knochen  kommen 
häufig  auf  entzündlichem  Wege  zustande,  durch  oft  wiederholte 
kleine  Verletzungen,  namentlich  Druck  oder  Schlag.    Solche  Bildungen 


Myxom.  —  Osteom.  325 

sind  als  „Reitknochen"  (in  den  Mm.  adductores) ,  als  Exerciei'knochen 
(an  der  Schulter)  bekannt.  Doch  werden  diese  als  Entzündnngsproduete 
mit  Recht  nicht  zu  den  Knochengeschwiilsten  (Osteomen)  ge- 
rechnet, obwohl  sie  aus  echter  Knochensiibstanz  bestehen.  Bei  einer 
eigenthümlichen  Erkrankungsform  (der  Myositis  ossificans)  kommt  es 
^•leichfalls  zur  Bildung  massenhafter  Knochensubstanz  in  der  Muscu- 
latur,  in  Form  von  Strängen  und  Platten.  (S.  Krankheiten  der  Muskeln.) 
Ebensowenig  dürfen  die  Verknöchernngeu  der  Muskelausätze  und  Sehnen, 
die  bei  Vögeln  in  höherem  Alter  fast  Regel,  auch  bei  manchen  Menschen  in 
grosser  Anzahl  sich  finden,  zu  den  Knochengeschwülsten  gezählt  werden. 
Für  die  Entstehung  der  echten  K  noch  engeschwülste  oder 
Osteome  werden  öfters  Verletzungen  in  Anspruch  genommen;  meist 
fehlt  jeder  genügende  Anlass.  Bei  den  von  den  Epiphysenlinien  der 
langen  Röhrenknochen  ausgehenden  Osteomen  mögen  verirrte  und  abge- 
schnürte Knorpelkeime  die  Grundlage  der  Geschwulst  bilden. 

Fig.  303. 


Die  Osteome  sitzen  bald  breitbasig  dem  Knochen  auf  und  stellen 
dann  flache  halbkugelige  Vorragungen  vor  (die  Osteome  des  Schädel- 
daches z.  B.),  bald  zeigen  sie  eine  verjüngte  Basis  (Fig.  304)  oder 
sind  förmlich  gestielt  (Epiphysenosteome).  Der  Stiel  kann  schliesslich 
durchschneiden,  dann  liegt  das  Osteom  frei  zwischen  den  Muskeln 
(discontinuirliches  Osteom).  Osteome  werden  in  sehr  verschiedener 
Grösse  angetroft'en ,  von  Erbsen-  bis  über  ]Mannsko))fgrösse.  Sie  sind 
sehr  häufig  multipel.  Ausser  an  den  Epiphysenlinien  sitzen  sie  besonders 
an  platten  Knochen ,  Schädel ,  Rippen ,  Schulterblatt ,  Becken.  Das 
Osteom  ist  knochenhart,  schmerzlos;  entweder  ein  flacher,  glatter  Hügel 
(Schädeldach)  oder  eine  unregelmässig  geformte,  meist  etwas  gestielte 
Geschwulst.  Jene  bestehen  meist  aus  compacter  Substanz  („Elfenbein- 
osteome"),  die  letzteren  mehr  aus  Si)ongiosa  (spongiöse  Osteome). 
Diese  tragen  häufig  einen  knorpeligen  Ueberzug  und  ihre  Oberfläche 
ist  selten  glatt  und  gleicliuiässig.  sondern  war/ig,  drusig,  selbst  in 
mchrci'c  Käiuiiic  /.i-rrallcn .  mitinitcr  liegt  ein  Sciileinibeutel  darüber 
(Osteoma  bursatuuij. 


326 


V.  Capitel.   —   Geschwülste. 


Fig.  304  ist  ein  Osteoma  spongiosum  jnit  knoiiieligem  Ueherzug ,  vom  Schulter- 
blatt eines  neunjährigen  Knaben,  mit  der  Basis  ausgcmeisselt. 

Mikroskopisch  zeigen  die  Osteome  die  Beschaffenheit  von  com- 
pacter und  spong-iöser  Knochensubstanz,  in  wechsehidem  Verhähniss, 
und  häufig  liyalinen  Knorpel,   eingesprengt  und  auf  der  Oberfläche. 

Auch  von  Zähnen  können  Geschwülste  aus  Elfenbeinsubstanz  ausgehen,  knochen- 
harte, unregelmässig  geformte  knollige  Geschwülste,  bis  Hühnereigrösse,  Odontome. 


Fig.  304. 


Fig.  305. 


Für  die  Diagnose  sind  die  ausgesprochene  Knochenhärte,  da,s^ 
langsame  und  schmerzlose  Wachsthum  ausschlaggebend.  Rasch  wachsende 
knochenharte  Geschwülste  sind  höchstwahrscheinlich  Osteosarkome  (s. 
Sarkome). 

Die  Osteome  werden  mit  dem  Messer  freigelegt  und  mit  dem 
Meissel  an  der  Basis,  noch  besser  mit  dieser  abgetrennt.  Die  Blutung 
ist  oft  nicht  unbedeutend.  Auch  gelingt  bei  sehr  grossen  Osteomen  die 
Entfernung  nicht  immer  vollständig. 

Multiple  Myelome  aus  Knochenmarkgewebe  sind  in  sehr  seltenen 
Fällen  beobachet  {Zahn,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  22). 


Die  Enchondrome  (Chondrome),  Knorpelgeschwülste  finden 
sich  zwar  am  häufigsten  an  Stellen,  wo  sich  auch  sonst  Knorpel,  we- 
nigstens während  der  Entwicklungsperiode  des  Skelets  findet ,  vor 
Allem  an  den  Epiphysenlinien  (hier  auch  oft  Ecchondrosen  genannt). 
Besonders  sind  die  Finger  oft  Sitz  von  Enchondromen  (s.  Fig.  305). 
Man  begegnet  ihnen  aber  auch  an  Stellen,  wo  normal  keine  Spur  von 
Knorpel  sich  findet,  im  Hoden,  in  der  Ohrspeicheldrüse  (Fig.  306, 
Enchondrora  der  Parotis).  Der  Knorpel  bildet  wohl  die  Hauptmasse 
der  Geschwulst,  fast  immer  ist  er  aber  vergesellschaftet  mit  (wahr- 
scheinlich metaplastisch  entstandenen)  Gewebsmassen  anderer  Art, 
namentlich  Schleimgewebe  —  Myxochondrom ,  dann  Knochensubstanz. 
(Osteochondrom),  Bindegewebsziigen  u.  s.  f. 

Man  könnte  daher  diese  meist  als  Chondrome  geführten  Geschwülste  oft  mit  dem- 
selben Rechte  als  Mischgeschwülste  bezeichnen.  Auch  klinisch  ist  ihre  Stellung  keine- 
ganz  klare.  Wohl  werden  sie  im  Allgemeinen  zu  den  gutartigen  Geschwülsten  gestellt, 
tragen  diesen  Charakter  oft  auch  Jahrzehnte  lang  zur  Schau,  um  dann  plötzlich  rasch 
zu  wachsen,  wobei  sie  oft  ganz  in  der  Art  bösartiger  Neubildungen  inficirend  auf  die 
Umgebung  übergehen  können ;  selbst  innere  Metastasen  sind  in  einzelnen  Fällen  beob- 
achtet. Auch  können  sie  örtlich  wiederkehren.    Solchen  Enchondromen   fehlt  dann  auch 


Enchondrom.  —  ilyom. 


327 


oft  eine  scharf  abgegrenzte  Kapsel  und  man  ist  ausser  Stande,  sie  auszuschälen,  sondern 
muss  das  Organ,  in  dem  sie  sitzen,  mit  exstirpiren  (z.  B.  die  Ohrspeicheldrüse). 

Die  Anlage  ist  wohl  meist  eine  angeborne,  die  Zeit  rascher  Ent- 
wicklung fällt  vorwiegend  in  die  Pubertätsjahre. 

Für   die   Diagnose    ist   neben 
dem  Sitz   die  Zeit  der    Entwicklung,  Fig.  soe. 

ihr  oft  sprungweises  Wachsthum  be- 
zeichnend. Sie  sind  meist  harte,  klein- 
knollige Gesehwülste  (s.  Fig.  306). 
Die  Consisteuz  ist  nicht  immer  gleich- 
massig,  neben  knochenharten  Stelleu, 
wo  Verknöcherung  eingetreten,  finden 
sich  oft  auch  weiche  Partien ,  wo 
schleimige  Erweichung  stattgefunden 
hat.  Sie  bleiben  meist  unempfindlich. 
Auf  dem  Durchschnitt  sind  sie  fast 
nie  gleichmässig ;  rein  knorpelige 
Stellen  wechseln  ab  mit  schleimig  er- 
weichten, und  so  entsteht  oft  ein  fast 
cystenartiger  Charakter.  An  andern 
Stellen  findet  sich  Verkalkung  oder 
Verkuöcherung  (s.  Fig.  307  ,  Durch- 
schnitt von  Fig.  305). 

Mikroskopisch  ist  nur  selten  der  reine  hyaline  Knorpel  mit  schönen  Knorpel- 
zellen, Knoi'pelkapseln  und  homogener  Intercellularsubstauz  anzutreffen ;  häufiger  findet 
sich  faseriger  Zerfall  der  letzteren  (Faserknorpel)  oder  netzförmige  Anordnung  derselben 
(Netzknorpel).  Auch  sind  die  Knorpelzellen  nicht  mehr  regelmässig  geformt,  sondern 
spindelförmig,  oft  fast  geschwänzt.  Beim  Uebergang  in  myxomatöse  Entartung  werden 
dieselben  zu  förmlichen  Sternzellen,  wie  sie  in  Fig.  302  beim  Myxom  abgebildet  sind; 
an  anderen  Stellen  findet  sich  unregelmässig  gebaute  Knochensubstanz. 


Geschwülste  aus  quergestreifter  Muskelsubstanz,  Rhab- 
domyome,  sind  sehr  selten  und  kommen  als  ausschliessliche  Grund- 
lage einer  Geschwulst  nie  vor.  Sie  finden  sich  in  embryonalen  Xieren- 
und  Hodengesehwülsten,  wo  sie  einen  wesentlichen  Theil  der  Geschwulst 


Fig.  307. 


bilden  können.  Es  handelt  sich  wohl  meist  um  versprengte  Keime,  aus 
der  frühesten  Zeit  der  Eientwicklung. 

Häufiger  sind  die  Geschwülste  aus  glatter  Musculatur, 
Leiomyome.  Sie  bilden  sich  als  umschriebene  Knoten,  namentlich  im 
Gewebe  des  weiblichen  Uterus  und  wachsen  hier,  oft  in  grösserer  An- 
zahl   zugleicii    vorkommend,    zu  kindskopfgrossen  Geschwülsten    heran. 


328  V.  Capitcl.  —  Goscliwülste. 

Beim  Manne  finden  sich  ähnliche,  aher  dem  Geschwulsttyp us  nicht  ^anz 
entsprechende  Neubildungen  in  der  Prostata. 

Die  Myomata  uteri  stehen  mit  den  physiologischen  Vorgängen  des  weiblichen 
Geschlechtslebens  in  zweifellosem  Zusammenhang.  Die  Zeit,  in  der  sie  sich  mit 
Vorliebe  entwickeln,  ist  die  zweite  Hälfte  der  weiblichen  Geschlechtsthätigkeit ,  und 
mit  dem  Aufhören  derselben,  mit  dem  Eintreten  der  Involution,  des  sogenannten 
„Climacteriums"  hören  sie  fast  ausnahmslos  auf,  weiter  zu  wachsen;  sie  zeigen  grosse 
Neigung  zu  regressiven  Metamorphosen ,  Verfettung ,  Blutungen  u.  s.  f.  und  es  kann 
so  schliesslich  zum  völligen  Verschwinden  der  Geschwülste  kommen.  Wird  durch 
operative  Entfernung  der  Ovarien  die  weibliche  Involution  künstlich  früher  herl^eigeführt 
(„antecipirter  Klimax"),  so  pflegen  diese  regressiven  Veränderungen  meist  sofort  prompt 
einzutreten.  Ebenso  bewirkt  oft  Ergotinbehandlung ,  namentlich  in  Form  subcutaner  In- 
jectionen  Verkleinerung ,  selbst  völliges  Verschwinden  der  Tumoren.  —  Die  Myome  der 
Prostata  entstehen  erst  im  höheren  Lebensalter. 

Die  Myome  des  Uterus  sind  meist  gefässreiche  Geschwülste, 
namentlich  werden  sie  von  oft  fingerdicken  Venen  über-  und  durch- 
zogen. Herausgenommen  und  blutleer  zeigen  sie  eine  feuchte  graurüth- 
liche,  blassem  Fleische  ähnliche  Schnittfläche.  Derbe  Muskelfaserzüge 
durchziehen  in  unregelmässiger  Weise  die  Schnittfläche ,  um  sich  mit 
andern  bald  zu  kreuzen,  bald  sich  aneinanderzulegen.  Dazwischen  hat  man 
zahlreiche  Gefässlumina  mit  dünner  Wandung  (Venen).  —  Die  kleinen, 
derben,  gram'öthlichen  Leiomyoma  der  Haut,  ausgehend  von  der 
glatten  Musculatur  der  Cutis,  sind  den  Fibromen  der  Haut  ähnlich. 

Mikroskopisch  zeigt  sich  die  Geschwulst  fast  ausschliesslich  aus  glatten 
Muskelfasern ,  mit  Gefässen  und  wenig  Bindegewebe  zusammengesetzt.  Fig.  308  stellt 
einen  Schnitt  aus  einem  Myom  des  Uterus  dar,  auf  welchem  zwei  Züge  glatter  Muskel- 
fasern unter  einem  Winkel  auf  einander  treffen.  An  manchen  Stellen  halten  die  Myome 
viel  Bindegewebe,  daher  sie  auch  als  Myoflbrome,  früher  fast  allgemein  als  Uterusfibrome, 
Uterusflbroide  bezeichnet  wurden. 

Ausser  der  operativen  Behandlung  (Exstirpation  der  Geschwülste 
oder  Castration  sowohl  bei  Uterus-,  wie  bei  Prostatamyomen),  der 
medicamentösen  Behandlung  (Seeale,  Ergotin),  hat  auch  die  elektrolytische 
Behandlung  bei  Uterusmyomen  Erfolge  gegeben  (Apostoli). 


Geschwülste  aus  echtem  Nervengewebe,  die  wahren  Neurome 
sind  äusserst  selten.  Die  falschen  Neurome,  Neurofibrome,  haben  wir 
pag.  319  bereits  besprochen.  Mau  hat  die  echten  Neurome  in  solche 
mit  markhaltigen  und  mit  marklosen  Fasern  (myelinische  und  amyeli- 
nische  Neurome)  getheilt.  Jene,  wo  markhaltige  echte  Nervenfasern  neu 
gebildet  werden ,  sind  sehr  selten  und  sind  wohl  nur  an  Gehirn  und 
Rückenmark  beobachtet.  Die  kolbigen  Verdickungen ,  womit  die  durch- 
schnittenen Nerven  z.  B.  bei  Amputationen  sich  abzuschliessen  pflegen, 
„  Amputationsneurome",  beruhen  nur  zum  kleinsten  Theil  auf 
Wucherung  von  Nervenfasern ,  überwiegend  handelt  es  sich  um  neu- 
gebildetes Bindegewebe.  Im  Uebrigen  bestehen  sie  aus  einem  Gewirr 
von  markhaltigen,  zum  Theil  auch  marklosen  Nervenfasern.  Die  amy- 
elinischen  Neurome  sind  von  Neurofibromen  und  gewissen  Sarkomen 
kaum  zu  unterscheiden. 

Im  Allgemeinen  sind  die  Neurome  gutartiger  Natur-  doch  gibt 
es  auch  rasch  wachsende  unter  ihnen  und  es  sind  auch  örtliche  Rück- 
fälle und  selbst  Metastasenbildungen  vorgekommen.  Sie  sind  mit  dem 
Messer  zu  entfernen.    Der  durchschnittene  Nerv  ist,  wenn  möglich,  in 


Neurom. 


Gliom. 


Angiom. 


329 


seiner  Contiiiuität  wieder  durch  Nervennaht  oder  -Plastik  herzustellen. 
(Verg-1.  pag.  281.) 

Das  Gliom  baut  sich  aus  den  Zellen  der  Neuroglia  auf  (Zellen 
aus  feinstem,  zahlreich  verästelten!  Protoplasma  Fig.  309,  Zellen  aus 
einem  Gliom,  Zerzupfuugspräparat,  Vergr.  350  nach  Ziegler)  und  bildet 
grauröthliche  Geschwülste  im  Gehirn,  Rückenmark,  Retina,  ohne  scharf 
umschriebene  Kapsel.  Das  Gliom  macht  keine  Metastasen,  kann  jedoch 
durch  seinen  Sitz  in  den  nervösen  Centren  natürlich  sehr  schv^/ere 
Folgen  nach  sich  ziehen. 

Gliome  sind  nach  Trepanation  des  Schädels  mit  Glück  aus  dem  Gehirn  exstirpirt 
worden. 


Von  den  Gefässgeschwülsten  (Angiomen)  sondern  wir  die 
durch  Erweiterung  der  grösseren  Gefässe,  Arterien  und  Venen  be- 
dingten,   die   Aneurysmen    und  Varicositäten    aus.     Sie    werden    heut- 


C;^  ^' 


/ 
1 


zmL 


Fig.  309. 


zutage  nicht  mehr  zu  den  Geschwülsten  gerechnet  (s.  Krankheiten 
der  Gefässe).  Die  eigentlichen  Gefässgeschwülste ,  soweit  sie  zur  Zeit 
als  solche  angesehen  werden,  bestehen  in  der  Hauptsache  aus  er- 
weiterten und  neugebildeten  Gefässen,  meist  kleineren  und  kleinsten 
Calibers ,  und  einem ,  im  Ganzen  meist  spärlichen  und  in  seiner  Be- 
deutung zurücktretenden,  bindegewebigen  Stützgerüste. 

Wir  unterscheiden  zwei  Gruppen  von  Gefässgeschwülsten,  die 
einfachen  Angiome  oder  Teleangiektasien  und  die  cavernösen 
Angiome. 

Die  einfachen  Angiomeoder  Teleangiektasien,  Erweiterungen 
der  Gefässenden.  d.  h.  der  feinsten  Gefässchen,  Capillaren  etc.,  werden 
auch  Feuermal .  lilutmal ,  Muttermal ,  Naevus  vasculosus  genannt.  Sie 
bilden  jene  flachen .  bald  fcuerrothen ,  bald  tiefblauen  entstellenden 
Hautverfärbungon.  die  man  liäutig  im  Gesicht  und  am  Halse  sieht.  Sie 
wachsen  langsam  und  hlcihcn  oft  stationär.  Sie  lassen  sich  durch  Finger- 
druck Vfirübergcliend  tlieihveise  entleeren.  Sie  ])estehcn  aus  Convoluten 
erweiterter,  in  ihrer  Wandung  verdickter  Capillaren  (Fig.  3lOj  und  je 


;30 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


nachdem  sie  sich  unmittelbar  an  kleine  Arterien  oder  Venen  anschliessen, 
ist  die  Farbe  roth  oder  blau.  Die  Bestandthcilc  der  Haut  können  neben 
dieser  Erweiterung  der  Gefässe  erhalten  sein  und  die  erweiterten  Gefasse 

umspinnen  die  Drüsen,  folgen  der 
i<'ig.  310.  Anordnung  der  Papillen  u.  s.  f.; 

in  anderen  Fällen  gehen  letztere 
verloren  und  es  sind  dann  nur 
noch  bindegewebige  8epta  vor- 
handen ,  wie  beim  cavernösen 
Angiom  (Fig.  312).  In  die 
Nachbarschaft  geht  die  Gefäss- 
erweiterung  ohne  scharfe  Grenzen 
über.  Manche  Naevi  ragen  wie 
eine  lappige  hahnenkammartige 
Masse,  selbst  wie  eine  gestielte 
Geschwulst  über  die  Haut  hervor. 
Bei  solchen  findet  man  Neu- 
bildung von  Bindegewebe  und  Fett.  Solche  Naevi  sind  oft  stark  behaart. 
Das     cavernöse    Angiom     sieht    äusserlich    einer    Geschwulst 

ähnlicher.    Es    bildet   blutrothe, 
Fig.  311.  vorragende  Wülste ,  von  Steck- 

nadelkopf- bis  Handtellergrösse. 
Sie  sind  w^ohl  ausnahmslos  an- 
geboren. Bei  der  Geburt  oft 
kaum  sichtbar ,  vergrössern  sie 
sich  gewöhnlich  unaufhaltsam 
und  breiten  sich  nicht  nur  der 
Fläche  nach  in  der  Haut  aus, 
sondern  dringen  auch  in  die 
Tiefe  und  bringen  Fascien, 
Muskeln ,  selbst  die  Knochen 
zum  Schwund.  Auch  diese  Ge- 
schwülste sind  durch  Finger- 
druck wenigstens  theilweise  zu 
entleeren.  Verletzt  geben  sie  zu 
schwer  stillbaren  Blutungen  An- 
lass.  Die  Diagnose  ist  bei  An- 
giomen, die  nicht  an  der  Haut 
zu  Tage  liegen,  oft  nicht  leicht. 
Das  Gefühl  der  Fluctuation,  das 
Ansehwellen  beim  Schreien,  die 
Ausdrückbarkeit  und  das  Kleiner- 
werden bei  festem  Druck  sind 
wichtig;  doch  sind  Verwechs- 
lungen mit  Lipomen  und  an- 
deren weichen  Geschwülsten  oft 
kaum  zu  vermeiden. 

Fig.  311  stellt  ein  Angioma  cavernosum  bei  einem  zweijährigen  Kinde  dar.  Das- 
selbe war  bei  der  Geburt  stecknadelkopfgross  und  ist  jetzt  zu  dieser  Grösse  heran- 
gewachsen. In  der  Achselfalte ,  in  die  das  Angioma  hineingewachsen ,  ist  oberfläch- 
liche Geschwürsbildung  (durch  Intertrigo)  eingetreten.  Nach  oben  von  der  Geschwulst  ist 
die  Haut  leicht  bläulich  verfärbt  und  es  lässt  sich  nachweisen,  dass  die  Angiombildung 


Angiome.  331 

hier  im  Unterhautzellgewebe   bereits    mehrere  Centimeter   weit    über   die   sichtbaren  Ge- 
schwulstgrenzen fortgeschritten  ist. 

Diese  Form  von  Angiomen  bietet  mikroskopisch  durchaus  den  Charakter  caver- 
nösen  Gewebes,  wie  es  auch  sonst  im  Körper,  z.  B.  in  den  Corpora  cavernosa  der  Geschlechts- 
organe gefunden  wird,  Fig.  312.  Grosse  mit  Blut  gefüllte  Räume  werden  getrennt  von 
einem  Balkenwerk  aus  Bindegewebe  und  elastischen  Fasern  und  auch  dieses  Netzwerk 
sieht  man  wieder  durchbrochen  von  feineren  bluthaltigen  Maschenräumen.  Die  Quer- 
schnitte dieser  Räume  sind  bald  rundlich ,  bald  langgestreckt ;  hin  und  wieder  sieht 
man  Endothelien  längs  den  Wänden  derselben. 

Augiome  metastasiren  nicht.  Multiple  cavernöse  Angiome  beschreibt 
Hildebrand  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  XXX).  Angiombildung  tritt 
vielfach  in  anderen  Geschwülsten,  im  Ganzen  oder  an  einzelnen  Stellen 
auf  und  man  bekommt  dann  ein  Sarkoma ,  Liporaa  teleangiectodes  und 
dergleichen  mehr. 

Bei  den  cavernösen  Angiomen  gewinnt  man  vielfach  den  Eindruck ,  als  ob  es 
sich  nicht  um  eine  Neubildung ,  speciell  eine  Gefässneubildung  handle ,  sondern  mehr 
um   eine   fortschreitende  cavernöse  Entartung   der  Gewebe,    dass    Schrumpfungsprocesse 


I 


im  Gewebe  das  Primäre  und  diese  Räume  von  den  Gefässen  aus  mit  Blut  gefüllt  wären. 
Andere  denken  au  ein  Hineinwühlen  des  flüssig  bleibenden  Blutes  in  endothelbekleidete 
Gewebslücken.  Bei  Geschwülsten  ,  die  stellenweise  cavernöse  Umänderung  zeigen ,  mag 
sich's  ähnlich  verhalten.   Die  Teleangiektasien  scheinen  eher  einfache  Gefässerweiterungen. 

Wo  prima  intentio  möglich,  ist  die  Exstirpation  des  Angioms 
das  rascheste  und  am  wenigsten  entstellende  Verfahren.  Einige  vorher 
unter  der  Basis  des  Angioms  durchgezogene  und  rasch  geknotete  Seiden- 
fäden beschränken  die  Blutung  wesentlich.  BiUroth  sucht  die  Geschwulst 
durch  Anlegen  von  Klemmen  und  Bleiplattennähten  (pag.  138)  erst  zu 
stielen  und  unter  diesen  eine  Kettennaht  (2  durcheinander  und  gegen- 
einanderlaufende,  fortlaufende  Nähte,  Fig.  136)  zu  legen,  so  dass  der  Blut- 
verlust gering  ist.  Sonst  kommen  Ignipunctur  (vielfache  Stichelung  mit  dem 
nur  rothglühenden  Fistelbrcnner  der  Panju elvi' scheu  Piatina  candens)  in 
Frage.  Die  elcktrolytische  Behandlung  (pag.  237)  wird  von  Juiarshoy 
{LniKjcnbcrk's  ArciiiV,  Bd.  4S)  eni])f()hlen.  Auch  Ueberstreichen  mit 
Sublimatcollodium  (1:1<)  l)is  20)  führt,  allerdings  meist  unter  Eiterung 
l)ci   klcinoii  Angiomen,  /.um  Ziele.  Alkolidlinjoetionen  (50 — 75%)  ii^  die 


332 


V.  Capitel.  —  Gescliwülste. 


nächste  Ui'ngel)!!!!^  (niclit  in  die  Gcfässrämnc  !j  sind  langwierig;  und 
nicht  ohne  gewisse  Gefahr.  Gestielte  Angiome  können  abgebunden 
werden.  Vor  der  Einspritzung  von  coagulirenden  Mitteln  (Lirju.  ferri 
sesquichlorati  u.  dergl.);  ebenso  dem  Durchziehen  von  in  Liquor  ferri 
sesquichlorati    getränkten    Fäden   ist    zu   warnen.     Das  Einimpfen    der 

Kuhpocke  führt   nur  bei  kleinen  An- 
Pig.  313.  giomen  zum  Ziel ,    hier   ist  auch  Be- 

tupfen   mit   rauchender  Salpetersäure 
nützlich. 

Eine  Eildung  eigener  Art  ist  in  Fig.  31.3 
abgebildet;  eine  Blut  Cyste  (nach  Gramer), 
entwickelt  im  M.  semimembranosus  des  Ober- 
schenkels. Vermöge  ihres  wabenartigen  Baues, 
der  Eintheilung  in  einzelne  Fächer  durch 
Stränge ,  die  von  einer  "Wand  zur  anderen 
ziehen,  ähnelt  sie  den  Angiomen.  Doch  war 
der  Inhalt  nicht  frisches ,  sondern  altes  ver- 
ändertes Blut.  Vermuthlich  war  der  Zusammen- 
hang mit  den  Gefässen  ursprünglich  vorhanden 
und  später  verschlossen  worden. 


Den  Blutangiomen  analoge  Bil- 
dungen sind  die  Lymphangiome. 
Bald  handelt  es  sich  vorwiegend  um 
den  Teleangiektasien  vergleichbare 
Erweiterungen  der  feinsten  Lympli- 
gefässe  bestimmter  Regionen ,  die 
dann  zu  mehr  gleichmässigeu ,  etwas 
erectilen  und  comprimirbaren,  blassen 
Anschwellungen  führen.  Hieher  gehören  die  meist  angebornen  Ver- 
grösserungen  der  Zunge  und  Lippen  (Makroglossie,  Makrochilie)  und  die 
sogenannte  Wangenhypertrophie  (wenn  man  diese  Zustände  nicht  zur 
Elephantiasis  rechnen  will).  —  Besser  als  Excision  scheint  hier  wieder- 
holte Ignipunctur  zu  wirken. 

Den  cavernösen  Angiomen  mehr  entsprechend  und  in  ihrem 
äusseren  Verhalten  mehr  an  den  Geschwulsttypus  gemahnend,  sind  die 
cavernösen  Lymphangiome  oder  Cystenhygrome.  Sie  linden  sich 
angeboren  als  knollige,  rosenkranz-  oder  traubenartig  angeordnete,  schmerz- 
lose, blasse  Geschwülste,  meist  am  Halse  und  zeigen  sich  als  mit  blass- 
gelblicher, lymphartiger  Flüssigkeit  gefüllte  Hohlräume.  Charakteristisch 
ist  für  beide  Formen  die  intermittirende  schubweise  Anschwellung  und 
Entzündung  mit  Fieber,  wonach  sie  kleiner  werden,  selbst  verschwinden 
können. 

Function  hat  nur  vorübergehenden  Erfolg.  Injectionen  sind  zu 
widerrathen.  Die  Exstirpatiou,  an  sich  das  rationellste  Verfahren,  gelingt 
nicht  immer  vollständig,  da  die  in  der  Tiefe  meist  sehr  dünnwandigen 
Geschwülstchen  sich  aus  den  Gefässen ,  Nerven  und  Eingeweiden  des 
Halses  nicht  ausschälen  lassen,  doch  führt  auch  unvollständige  Exstir- 
patiou oft  zum  Stillstand  und  weiterer  Verkleinerung.  Die  Kinder  sterben 
durch  Druck  der  Geschwülste  auf  Luft-  und  Speiseröhre  und  die  Gefässe 
oder  die  Geschwülste  verjauchen  durch  Verletzung  und  tödten  durch 
Septikämie. 


Lymphangiom.  —  Sarkom.  333 

Entstehen  sollen  sie  (nach  Wagner)  theils  durch  Dilatation  mit  Neubildung 
infolge  Lymphstauung ,  theils  durch  Proliferation  der  Lymphgefässendothelien  mit  Neu- 
bildung von  Lymphgefässen,  theils  aus  Granulationsgewebe  mit  secundärer  Bildung  von 
Lymphgefässen.  Vergl.  Middeldor^rf  (Langenbeck's  Archiv,  Bd.  31,  Literatur)  und  Nasse 
(Langenbeck's  Archiv,  Bd.  38). 

Ob  es  wahre  Lj'-mphdrüsengeschwülste,  ein  echtes  gutartiges  Lymphom, 
eine  örtliche  Anhäufung  von  wahrer  Lymphdrüsensubstanz  gibt,  dürfte  äusserst  unwahr- 
scheinlich sein.  —  Allerdings  sind  geschwulstartige  Vergrös  serungen  voil 
Lymphdrüsen  ein  durchaus  gewöhnliches  Vorkommen.  Aber  in  den  meisten  Fällen 
handelt  es  sich  um  Anschwellungen,  die  auf  entzündlichem  Wege,  durch  chronische 
Infectionskrankheiten ,  in  erster  Linie  Tuberculose  bedingt  sind.  Solche  tuberculöse 
Lymphdrüsenmassen  ,  oft  Conglomerate  von  10—20  ei-  bis  faustgrossen  Knoten  ,  finden 
sich  namentlich  am  Halse.  —  Andere  Male  hängt  die  —  dann  meist  über  den  ganzen 
Körper  verbreitete  —  geschwfilstartige  Anschwellung  der  Lymphdrüsen  mit  eigenthüm- 
lichen  ,, Blutkrankheiten'"  (Dyskrasien)  zusammen,  der  Leukämie,  Pseudo-Leukämie. 
Hodgkitt  schev  Krankheit,  wobei  ausser  den  Lymphdrüsen  auch  noch  Milz  und  Knochen- 
mark betheiligt  sind  und  die  Bestandtheile  des  Blutes ,  die  weissen  und  rothen  Blut- 
körperchen, schweren  Veränderungen  nach  Form  und  Zahl  unterliegen.  Vielleicht  handelt 
es  sich  hier  auch  um  chronische  Infectionskrankheiten. 

Eine  andere  Anzahl  von  Lymphdrüsengeschwülsten  ist  unzweifelhaft  bösartiger 
Natur.  Für  sie  passt  der  Name  „Lymphosarkom"  besser  als  „Lymphoma  malig- 
num"  (siehe  unter  Sarkomen). 


Als  Sarkome  fassen  wir  Geschwülste  aus  Bindegewebssubstanz 
zusammen ,  die  neben  Bindegewebe  und  Gefässen  noch  Zellen  der 
BindegewebsgTuppe  in  ihren  Maschenräumen  eingelagert  enthalten. 
In  ein  Netzwerk  von  Bindegewebe  und  Gefässe  finden  sich  Nester  von 
bindegewebigen  Zellen  verschiedener  Art  eingesprengt;  dem  Charakter 
dieser  Zellen  entsprechend  machen  wir  die  anatomische  Trennung  in 
Rundzellen-,  Spindelzellen-  und  Riesenzellensarkome. 

Ausserdem  findet  sich  eine  bald  spärliche,  bald  sehr  reichliche 
eiweiss-,  gelegentlich  auch  leimhaltige  Intercellularsubstanz,  die  in 
rasch  wachsenden  Sarkomen  homogen  ist.  In  langsam  wachsenden 
Sarkomen  dagegen  kommt  es  zur  Abscheidung  einer  faserigen,  den 
Bindegewebsfasern  analogen  bindegewebigen  Zwischensubstanz.  Eine 
Abart  der  Sarkome  sind  die  pigmentirten  Sarkome.  —  Ausser 
den  anatomischen  Merkmalen  gibt  der  Standort  Anlass  zur  Eintheilung* 
in  Knochen-,  Haut-,  Drüsen-,  Fascien-  u.  s.  w.  Sarkome. 

Das  Neue  und  für  das  Sarkom  Bezeichnende  ist  also  die  —  meist 
nesterförmige  —  Anhäufung  von  Zellen  zwischen  den  Bindegewebs- 
zügen.  Dies  ist  das  unterscheidende  Merkmal  gegenüber  der  ihm 
am  nächsten  stehenden  Geschwulst,  dem  Fibrom  (siehe  Fig.  296).  Der- 
artige Zellanhäufungen  können  in  allen  Geschwülsten  der  Bindegewebs- 
gruppe  angetroffen  werden  und  es  entstehen  dann  Geschwülste,  deren 
klinischer  Charakter  bald  mehr  der  ursprünglichen  Geschwulst ,  bald 
mehr  dem  Sarkom  entspricht.  Oder  es  können  solche  Zellenanhäufungen 
nur  an  einzelnen  Theilen  dieser  Geschwülste  auftreten,  so  dass  diese 
dann  partiell  sarkomatös  entartet  sind.  Wir  bekommen  so  Fibrosarkome, 
Myxosarkome,  Ostcoma  sarcomatosum,  Chondrosarkome  u.  s.  w.  Auch 
kann  bei  Geschwülsten,  die  sich  im  anatomischen  Baue  so  nahestehen, 
leicht  ein  Ueb ergang  der  einen  in  die  andere  vorkommen  und  so 
sehen  wir  l)iswcilen  Geschwülste .  die  uns  klinisch  durch  Jahre  als 
FihrdHio  iinponirtcn .  sclilicsslicli  sarkomatöscn  Cliai'ukter  gewinnen. 
Seltener  ist  es,  doch  kenne  ich  solche  Fälle,  dass  Geschwülste  (Polypen 


334  ^^-  Capitel.  —  Geschwülste. 

der  Schädelbasis)  anfangs  deutlich  sarkomatösen  Bau  zeigen ,  nach 
der  2.,  3.  Exstirpation  fast  reinen  Fibromcharakter  bieten  und  nicht 
mehr  recidiviren. 

Die  Engländer  nennen  die  Sarkome  (nach  Paget)  recurring  flhroid,  fihronucleated 
und  myeloid  tumours ;  die  Franzosen  Tumeurs  fibroplastiques  (Leherij  oder  jdasraömes 
(Follin). 

Was  wirklich  Sarkom  ist,  kann  auf  den  Charakter  der  Gutartigkeit 
keinen  Anspruch  mehr  machen.  —  In  dieser  Gruppe  finden  sich  Ge- 
schwülste von  unschuldiger  Natur  (Riesenzellensarkome)  neben  solchen, 
die  in  kürzester  Zeit,  in  Wochen  bis  Monaten  das  Leben  vernichten 
(Rundzellensarkome). 

Die  Sarkome  sind  oft  anfangs  verhältnissmässig  circumscript  und 
zeigen  eine  differenzirte  Kapsel.  Ist  diese  durchwachsen  oder  wird  sie 
durch  Function  u.  dergl.  künstlich  durchbrochen,  so  nimmt  oft  das  bis 
dahin  langsame  Wachs th um  einen  rapiden  Charakter  an.  Ebenso  kann 

Fig.  314. 


das  Wachsthuni  derselben  durch  Faseien,  bei  Sarkomen  des  Knochen- 
marks durch  die  Knochenrinde  eine  Zeitlang  aufgehalten  werden.  Nach- 
dem das  Wachsthum  oft  anfangs  ein  anscheinend  centrales  gewesen, 
kommt  bei  den  meisten  Sarkomen  ein  Stadium,  wo  die  Geschwulst 
inficirend  wächst,  d.  h.  durch  Hineinwuchern  in  die  Nachbargewebe 
und  Umwandlung  derselben  in  Geschwulstgewebe.  Die  Grenze  der  Neu- 
bildung ist  dann  eine  verwischte. 

Je  ärmer  an  faserigem  Bindegewebe,  je  reicher  an  Zellen 
die  Sarkome  sind,  umso  weicher  sind  sie,  um  so  schneller 
wachsen  sie  und  um  so  bösartiger  sind  sie. 

Der  Ausgangspunkt  der  sarkomatöseu  Wucherung  ist 
das  Bindegewebe  und  seine  zelligen  Elemente.  Die  Neubildung 
der  Sarkomzellen  erfolgt  mit  ungewöhnlicher  Intensität,  namentlich  bei 
rasch  wachsenden  Sarkomen,  durch  Kern-  und  Zelltheilung  seitens 
dieser  Zellen.  Ob  sich  alle  im  Bindegewebe  vorhandenen  Zellgattungen 
hieran  betheiligen ,  Bindegewebszellen ,  Lymphgefäss-  und  Blutgefäss- 
endothelien,  ist  fraglich ;  in  dem  einen  Fall  scheinen  es  mehr  die  Binde- 
gewebszellen und  Lymphendothelien  zu  sein,  in  einem  anderen  vielleicht 
wieder  mehr  die  Endothelien  der  Blutgefässe  (Angiosarkome).  Die  Kern- 


Sarkome. 


335 


theilungsvorgänge  sind  in  Sarkomen  keineswegs  immer  regelmässige; 
häufig  erscheinen  unregelmässige  Kerntheilungsfiguren  und  diese  führen 
oft  zur  Bildung  mehrerer ,  selbst  vieler  Kerne  (epithelioide  und  Eiesen- 
zellen). 

Eundzellen  vom  Charakter  der  weissen  Blutkörperchen  begegnet  man  in  Sarkomen 
stets  in  wechselnder  Anzahl.  Bei  Rundzellensarkomen  (Granulationssarkomen)  ist  ein 
unterscheidendes  Merkmal  zwischen  Geschwulstzellen  und  weissen  Blutzellen  nicht 
vorhanden.  Bei  Spindelzellensarkomen  hat  man  nicht  den  Eindruck,  als  ob  die  weissen 
Blntzellen  sich  in  irgendwie  directer  Weise  am  Aufbau  der  Geschwulst  betheiligten.  Kern- 
theilungsfiguren beobachtet  man  nicht  an  ihnen.  Ob  die  bei  Sarkomen  namentlich  in  der 
Zwischensubstauz  sich  findenden  weissen  Blutzellen  als  eine  Art  entzündlicher  klein- 
zelliger Infiltration  aufzufassen  sind ,  möge  dahin  gestellt  bleiben.  Vielleicht  sind  sie 
nur  als  Träger  des  Ernährungsmaterials  für  die  vom  Bindegewebe  ausgehende  Geschwulst- 
neubildung anzusehen  (ähnlich  der  Rolle,  die  die  weissen  Blutkörperchen  bei  der  Dotter- 
bildung des  Hühnereies  nach  W.  His  spielen). 

Fig.  315. 


Die  Generalisation  der  Sarkome  erfolgt  mehr  auf  dem  Wege 
der  Blutbahn  als  der  Lymphwege.  Einwachsen  der  sarkomatöseu 
Massen  in  das  Lumen  der  Gefässe  ist  oft  genug  beobachtet  und  es  er- 
klärt sich  so  äusserst  natürlich ,  dass  diese  Wucherungen  zu  Embolis 
werden  und  dadurch  Metastasenbildung  veranlassen.  Doch  kommen 
auch  Anschwellungen  der  Lymphdrüsen    der  betreifenden  Gegend    vor. 

AVenn  man  annimmt,  dass  die  erste  Ent-\vicklung  der  Sarkome  überhaupt  eine 
intravasculäre  ist,  d.  h.  von  den  Capillarendothelien  ausgeht,  wäre  die  Art  der  Generali- 
sation der  Sarkome  noch  viel  leichter  verständlich  (Angiosarkome). 

Die  Zahl  der  Tochterknoten ,  die  sich  bei  Sarkomen  oft  binnen 
Kurzem  entwickeln,  kann  eine  ganz  enorme  sein. 

Die  meisten  Sarkome  zeigen ,  wenn  sie  entfernt  werden ,  grosse 
Neigung,  örtlich  wiederzukehren. 

Sarkome  sind  überaus  hinfällige  Bildungen ,  und  kaum  ist  das 
Sarkomgewebe  aufgebaut  —  wenigstens  die  weichen  Formen  — ,  so  zeigt 
sich    auch    schon   die   Tendenz    zur    Rückbildung   und    zum  Zer- 


336  V-  Capitel.  —  Geschwülste. 

fall.  —  Eines  der  häufigsten  Vorkommnisse  in  weichen  Sarkomen  sind 
Bhitung-en.  Die  neugebildeten  Capillaren,  die  erweiterten  dünnwandigen 
Venen  liefern  die  Quelle  der  lilntung  und  das  ergossene  Blut  wühlt 
sich  weithin  in  das  widerstandslose  Geschwulstgewebe  ein.  Es  ent- 
stehen so  oft  über  mannsfaustgrosse  Blutgeschwülste  in  Sarkomen ;  die- 
selben machen  nachher  die  bereits  pag.  100  geschilderte  Verwand- 
lung der  Blutergüsse  durch  und  werden  zu  erst  chocolade- ,  dann 
ockerfarbigen  krümligen  Faserstoffmassen.  Eine  Abkapselung  der  Blut- 
ergüsse, wie  Fig.  52  sie  zeigt,  findet  in  Sarkomen  nie  statt.  Man  hat 
an  eine  erfolgte  Blutung  zu  denken ,  wenn  die  Geschwulst  ganz  plötz- 
lich, vielleicht  unter  spannenden  Schmerzen  sich  wesentlich  vergrössert. 
Häufig  führt  die  Blutung  zu  einer  anderen ,  noch  übleren  Folge, 
zur  Verjauchung  des  Sarkoms.  Die  gespannte  Haut  verdünnt  sich, 
zerfällt  nekrotisch  und  das  Geschwulstgewebe  liegt  den  von  aussen  zu- 
tretenden Infectionserregern  schutzlos  preisgegeben.  Meist  drängt  sich 
durch    die   Perforationsstelle    nun   schwammartig   das    blutig   imbibirte 

Fig.  31G. 


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Geschwulstgewebe  pilzartig  hervor,  hier  und  dort  gangränös  zerfallend ; 
eine  missfarbige,  übelriechende  Brühe  wird  abgesondert ,  es  stellt  sich 
Fieber  ein  —  und  eine  schwere  septische  Infection  schliesst  sich  dem 
Geschwulstmarasmus  an.  Fig.  315  verjauchtes  Sarkom  der  Mamma 
nach  Albert.  Rasch  wachsende  Sarkome  zeigen  auch  ohne  Infection 
oft  Fieber. 

Ein  anderes  Mal  kommt  es  zu  centralen  Erweichungen ,  Ver- 
fettungen und  Cystenbildungen.  Verknöcherung,  Verkalkung 
u.  dergl.  findet  sich  namentlich  in  Sarkomen ,  die  vom  Knochen  aus- 
gehen.    Wirkliche  Narbenbildung  findet  sich  nie  in  Sarkomen. 

Sarkome  finden  sich  häufiger  im  jüngeren  Lebensalter,  vor- 
wiegend zur  Zeit  der  Pubertät  bis  zu  den  frühen  Mannesjahren  hin; 
im  hohen  Alter,  wo  die  Carcinome  überwiegen,  sind  sie  selten. 

Als  veranlassendes  Moment  wird  oft  mit  grosser  Bestimmtheit  eine 
Verletzung  angegeben. 

Der  Nachweis  von  Coccidien  in  Sarkomen  (Jürgens) ,  s.  pag.  66 ,  wirft ,  wenn 
gesichert,  auf  die  Aetiologie  der  Sarkome  ein  wichtiges  Licht.  Anf  pag.  66  ist  auch 
der  Beziehung  der  Lymphosarkome  zur  Tuberculose  gedacht. 


Eundzellen-  und  Spindelzellensarkom. 


337 


Als  endotheliale  Gescliwülste  beschreibt  Volkmann  (D.  Zeitschr.  f.  Chir. ,  Bd.  41) 
atypische  Wucherungen  von  glatten  EndotheUen  in  Bindegewebsspalträumen ,  Blut-  und 
Lymphgefässen,  serösen  Höhlen,  Perithelien  (Aussenbelag  von  Capillaren),  die  den  Sar- 
komen klinisch  und  histologisch  sehr  nahe  stehen ;  besonders  häufig  finden  sie  sich  als 
Gaumen-  und  Speicheldrüsengeschwülste. 


Das  Rundzellensarkom  nähert  sich  in  seinem  Bau  am  meisten 
dem  Granulationsgewebe  (Granulationssarkom).  Nur  sind  die  Räume, 
in  die  die  Rimdzellen  abgesetzt  sind,  regelmässig,  meist  rhombisch 
oder  spindelförmig,  seltener  mehr  der  Kugelform  sich  nähernd.  Sie 
erinnern  an  die  Spalten  im  normalen  Bindegewebe.  Man  hat  ein  Netz- 
werk, in  dessen  Maschen  die  Zellhaufen  eingelagert  sind ;  diese  Sarkome 
haben  meist  einen  ausgesprochen  alveolären  Bau. 

Fig.  316  ist  ein  Kundzellensarkom ;  nach  abwärts  ein  derberer  Bindegewebs- 
streifen ;  im  Uebrigen  massenhafte  Rundzellen 

(im  Ganzen  doch  etwas  grösser,  als  weisse  Blut-  '^"     ' ' 

Zellen) ,  zwischen  denselben  Bindegewebszüge, 
bald  mehr,  bald  weniger  ausgesprochen,  mit 
nicht  besonders  deutlich  entwickelten  Fasei'n 
und  hin  und  wieder  si)indelförmige  Binde- 
gewebszellen. Einzelne  Stellen,  wo  diese  spin- 
deligen Elemente  in  geordneten  Reihen,  Ca- 
pillarendothelien  gleich ,  angeordnet  sind, 
scheinen  Blutcapillaren.  Manche  Rundzellen- 
sarkome enthalten  auch  grössere ,  epithelioide 
Zellen.  Die  Intercellularsubstanz  ist  eine  fast 
flüssige. 

Rundzellensarkome  sind  überaus 
schnell  wachsende,  weiche,  fast  fluc- 
tuirende  Geschwülste,  mit  grösster 
Neigung  zu  secundären  Veränderungen, 
namentlich  Blutungen  und  Jauchungen. 
Sie  machen  binnen  Kurzem  eine  Un- 
zahl von  Metastasen  und  kann  die 
ganze  Krankheitsdauer  bis  zum  Tode 
oft  nur  Monate  dauern.  —  Der  Haupt- 
ausgangsort ist  das  Knochenmark. 

Die  Spindelzellensarkome 
stehen  klinisch  in  der  Mitte  zwischen 
den  weichen  Rundzellensarkomen  und 

den  harten  Fasersarkomen.  Meist  von  Periost  und  Fascien  ausgehend, 
stellen  sie  Geschwülste  dar  von  massig  raschem  Wachsthum.  Selten 
sind  sie  ganz  weicli. 

Sie  enthalten  zwischen  langgestrecktem  bindegewebigem  Faserwerk  in  meist 
ungefähr  spindelförmigen  Räumen  Zellnester  eingesprengt  aus  spindeligen  Zellen  mit 
blassem  zartem  Protoplasma.  Fig.  317  Spindelzellen  aus  einem  Spindelzellensarkom 
nacli  Zieijler. 

Wohl  linden  sich  auch  unter  den  Spindelzellensarkomen  sehr  bös- 
artige Geschwäilste;  doch  ist  der  Verlauf  meist  ein  weniger  rapider  und 
verderblicher  als  bei  den  Rundzellensarkomen.  Das  Wachsthum  ist 
ein  langsameres,  sie  zeigen  oft  lange  eine  sie  noch  von  der  Umgebung 
trennende  Kapsei  und  greifen  erst  spät  auf  die  Nachbarschaft  über. 
Auch  sind  sie  weniger  oder  erst  spät  zur  Metastasenl)ihlung  geneigt. 
Sie  verknüchcni  niitiiuter  (»der  entarten  cyst(»s.     Exstirpirt  kehren    sie 


Landerer.  Allg   chir.  l'atlioloffie  u.  Therapie-.  2.  Aufl. 


22 


ms 


V.  Capifel.  —  Geschwülste. 


leicht  wieder,  doch  lassen  sie  —  gründlich    entfernt ,  z.  B.    durch  eine 
Amputation  —  wohl  radicale  Heilung  zu. 

In  den  harten  Sarkomen  herrscht  faseriges  Bindegewebe  vor 
und  die  eingesprengten  Zellnester  —  seltener  Kundzellen ,  häutiger 
Spindelzellen,  am  häufigsten  einzelne  Riesenzellen  —  treten  der  Masse 
nach  gegen  das  Bindegewebe  erheblich  zurück.  Sie  sind  circumscripte 
harte  Knoten,  die  meist  zeitlebens  eine  Kapsel  besitzen  und  in  ihrem 
klinischen  Verhalten  dem  Fibrom  nahe  stehen.  Secundäre  Veränderungen 
zeigen  diese  im  Laufe  von  Jahren  unmerklich  wachsenden  „Fibro- 
sarkome"  kaum.  —  Metastasen  machen  diese  harten  Sarkome  seltener 
(s.  pag.  340) ;  dagegen  können  sie  örtlich  recidiviren. 

Fig.  318  ist  die  Abbildung  eines  sehr  harten  Eiesenzellensarkomes  vom  Unter- 
kiefer ausgehend,  einer  Epulis.  —  In  massigen  Zügen  faserigen  Bindegewebes  mit 
kräftig  entwickelten  Bindegewebskörperchen  sind  Riesenzellen  eingesprengt  —  Riesen- 
zellensarkome. Die  Zellen  sind  —  im  Alkohol  —  geschrumpft  und  es  entstehen  so 
förmliche  Lücken  (Hohlräume,  Alveolen),  worin  sie  liegen,  doch  zeigen  sie  sich  vielfach 
durch  feinste  protoplasmatische  Ausläufer  mit  dem  übiigen  Gewebe  verbunden.  Die 
Riesenzellen  aus  Neubildungen  lassen  sich  ohne  Mühe  von  den  tuberculösen  Eiesenzellen 
unterscheiden;  in  jenen  sind  die  Kerne  über  das  ganze,  im  Uebrigen  sich  normal  färbende 

Protoplasma  zerstreut.  Bei  diesen  liegen 
Fig-  318-  die  Kerne  vorwiegend  wandständig ;  das 

Protoplasma  der  Tuberculösen  nimmt  oft, 
weil  zum  Theil  nekrotisch,  Farbstoff  nicht 
recht  auf.  Kerntheilungsfiguren  lassen 
sich  in  tuberculösen  Eiesenzellen  nicht 
finden,  wohl  aber  in  Geschwülsten.  — 
In  der  Mitte  der  Abbildung  sind  einige 
klaffende  Gefässe. 

Eigenthümliche  Formen 
von  Sarkomen  sind  die  pigmen- 
tirten  Sarkome  —  Melauo- 
sarkome.  Sie  kommen  nur 
an  Stellen  vor,  wo  normal 
Pigment  sich  findet  —  Haut 
und  Auge  (Chorioidea).  —  Das 

Pigment  liegt  theils  in  den  Zellen,  theils  dazwischen,   in  Gestalt  feinster 

bräunlicher  bis  schw^arzer  amorpher  Körnchen. 

Das  Pigment,  Melanin  ist  bald  eisenhaltig  (Mörner),  bald  eisenfrei  gefunden 
worden  (Berdez).  — ■  Es  ist  dies  kein  Beweis,  dass  dasselbe  nicht  vom  Blutfarbstoff 
abstamme ,  denn  auch  Neumann  hat  gefunden ,  dass  bei  Blutergüssen  in's  Gewebe  der 
Blutfarbstoff  in  einen  eisenhaltigen  (Hämatosiderin)  und  einen  eisenfreien  Bestandtheil 
(Hämatoidin)  zerfalle.  Das  Pigment  der  Melanome  soll  entstehen  durch  Thrombose  in 
kleinsten  Gefässen,  worauf  die  Blutkörperchen  zerfallen  und  den  Farbstoff  abgeben. 

Die  Pigmentsarkome  sind  äusserst  gefährliche  Geschwülste,  nament- 
lich durch  die  Rapidität,  mit  der  sie  zahllose  Metastasen  machen.  Von 
145  wurden  13  geheilt,  also  11%  {Dieterich,  LangenhecM s  Areh.,  35).  — 
Die  Melanosarkome  der  Haut  gehen  öfters  aus  von  einem  Xaevus 
pigmentosus,  einem  Pigmentmal. 

Fast  alle  Menschen  ,  besonders  brünette ,  tragen  diese  kleinen ,  meist  etwas  vor- 
ragenden warzenähnlichen  Pigmentflecke  hier  oder  dort  an  sich,  einige  oft  zu  Dutzenden 
(Leberflecke  nennt  sie  das  Volk).  Sie  zeigen  Wucherung  der  Hautpapillen  und  tiefere 
Epitheleinsenkungen,  dabei  meist  auch  einige  grössere  Haarbälge  und  längere  und 
stärkere  dunkle  Haare.  Das  Pigment  liegt  in  den  Zellen  und  zwischen  denselben.  Diese 
Pigmentmäler,  die  sonst  von  der  Geburt  an  stationär  bleiben,  fangen  mitunter  plötzlich 
an  wund  zu  werden  und  zu  wachsen.  Es  ist  dies  eine  überaus  bedenkliche  Erscheinung 
und   jeder  Naevus    sollte ,    sowie    er    anfängt   Krusten    zu    bilden ,    weit    im    Gesunden 


Eiesenzellen-  und  Pigmentsarkome.  339 

(2  Bogenschriitte  mindestens  lV-2  Cm.  von  den  sichtbaren  Grenzen)  entfernt  werden. 
Anderenfalls  kommt  es,  bis  er  zu  einer  pflaumengi'ossen,  oberflächlich  ulcerirten  bräunlichen 
Geschwulst  herangewachsen  ist,  fast  immer  schon  zu  Metastasen  und  der  Fall  ist  ver- 
loren. —  Die  Metastasen  erscheinen  zunächst  als  kleine ,  kaum  stecknadelkopfgrosse, 
braune  oder  bräunlichschwarze  Körnchen  in  der  umgebenden  Cutis ,  bald  ist  aber  die 
ganze  Haut  förmlich  übersäet  damit.  Ebenso  finden  sich  bei  der  Autopsie  die  Gewebe 
durchsetzt  mit  schwarzen  Geschwülsten. 

Die  Pigmentproduction  ist  oft  eine  so  massenhafte,  dass  auch  der  Urin  durch 
Pigment  (Melanin)  schwarz  gefärbt  sein  kann  (Melanurie)  (vergl.  Tietze,  Chir.  Centr.-Bl., 
1894,  Nr.  23). 

Das  Pigmentsarkom  der  Chorioidea  beginnt  als  kleines,  mit  dem  Augen- 
spiegel festzustellendes  Knötchen,  das  rasch  den  Augapfel  ausfüllt,  durchbricht  und 
die  Augenhöhle  als  eine  schwarze,  lappig-knotige  Geschwulst  einnimmt.  Easche  örtliche 
Wiederkehr  und  schnelle  Generalisation  sind  auch  dieser  Art  von  Pigmentsarkom  eigen- 
thümlich. 

Ob  es  eine  gutartige  Pigmentgeschwulst ,  Melanom  i.  e.  S.  gibt ,  scheint  sehr 
fraglich. 

Den  Sarkomen  wird  durch  den  Standort,  auf  dem  sie  zur 
Entwicklung  g-elangen,  ein  charakteristisches  Gepräge  verliehen,  das  sie 
auch  in  den  Metastasen  festhalten. 

Am  Knochensystem  finden  sich  Sarkome  vom  Mark  (centrale) 
und  solche  vom  Periost  ausgehend  (periphere).  Vergl.  Nasse,  Langen- 
heck''s  Arch.,  39. 

Die  Sarkome  des  Knochenmarkes  sind  vorwiegend  Rund- 
zellensarkome, halten  jedoch  auch  —  wie  das  normale  Knochenmark 
—  grössere  epithelioide  und  Riesenzellen. 

Nach  einer  unklaren  Periode  tief  im  Knochen  sitzender,  für  „rheumatisch" 
gehaltener  Schmerzen ,  kommt  Licht  in  die  Diagnose ;  entweder  bricht  der  durch  die 
Öarkomentwicklung  erweichte  Knochen  plötzlich  ohne  besondere  Ursache  durch  (Spontan- 
fractnr)  oder  der  Knochen  fängt  an  sich  spindelförmig  aufzutreiben.  Noch  kann  man 
bei  jüngeren  Leuten  an  eine  centrale  tuberculöse,  osteomyelitische  oder  syphilitische 
Knochenentzündnng  denken,  wenn  auch  das  fehlende  Fieber  dagegen  spricht ;  bald  lässt 
sich  jedoch  die  Verdünnung  des  Knochens,  der  zu  einer  dünnwandigen  Blase  aufgetrieben 
wird,  nachweisen  durch  das  sogenannte  Pergamentknittern.  Die  Knochenschale  ist  so 
dünn  geworden  Avie  Pergament  und  lässt  sich  unter  knisterndem  Geräusch  oder  Gefühl 
mit  dem  Finger  eindrücken,  um  dann  wieder  in  die  Höhe  zu  federn.  Ist  der  Knochen 
dui-chbrochen ,  so  wird  das  Wachsthum  ein  noch  viel  rascheres ,  die  Haut  wird  dünn, 
hlass  und  gespannt,  ein  Netz  ausgedehnter  Hantvsnen  ist  über  der  Geschwulst  zu  selieii. 
Dann  wird  auch  die  Haut  durchbrochen  und  die  Geschwulstmasse  tritt  frei  zu  Tage. 
Jauchung  und  Blutungen  schliessen  die  Scene ,  wenn  nicht  etwa  die  Metastasen  in 
inneren  Organen  schon  vorher  dem  Leben  ein  Ende  gemacht  haben. 

Auf  dem  Durchschnitt  erscheinen  diese  Sarkome  (centrale  Osteo- 
sarkome) als  äusserst  weiche,  graue  oder  gelblichgriiue ,  markähnliche 
Massen.  Sie  sind  daher  früher  auch  Markschwämme  (Encephaloid) 
genannt  worden.  Stellen,  wo  das  Geschwulstgewebe  verfettet  oder 
durch  Blutungen  verändert  und  zerstört  ist,  finden  sich  stets  in  grösserer 
Anzahl.  Ausser  der  Tendenz ,  zu  verknöchern ,  zeigen  sie  besondere 
Neigung  zur  Cystenbildung  und  sind  dann  oft  durchsetzt  von  zahllosen 
crbsen-  bis  kleinapfelgrossen,  mit  schleimiger,  grauer  oder  l)lutiger  Flüssig- 
keit erfülhen  Hohlräumen  (Myxosarkom,  Cystosarkom).  Fig.  319  centrales 
Osteosarkom  des  Femur  mit  cystöser  Entartung  nach  Virchow. 

Die  Periostsarkome  fangen  als  kleine,  halbkugelige  Anschwel- 
lungen des  Knochens  an,  die  man  umsomehr  mit  Pcriostiten  ver- 
wechseln mag.  als  auch  die  Sarkome  Neigung  zur  Verknöcherung 
haben.  Namentlich  die  derberen  Bindegewebsbündel  zeigen  häufig  Ver- 
knöcherung und  80  gewinnt  ein    macerirtes  Periostsarkom  oft  das  An- 

22* 


340 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


sehen  eines  dem  Knochen  aufsitzenden  stalaktitenartigen  Osteophyts 
(Fig.  320,  Periostsarkom  des  Feniur  nach  Virchow).  Ilir  Wachsthuni 
ist  ein  langsameres. 

Den  Fibromen  in  seinem  klinischen  Charakter  nahestehend  ist  das 
hauptsächlich  vom  Ober-  und  Unterkiefer  ausgehende  Riesen zellen- 
sarkom  (Epulis) ,  s.  pag.  338.  Es  bildet  sehr  langsam  wachsende, 
knorpelharte,  schmerzlose  Anschwellungen  der  betreifenden  Knochen; 
Recidive  folgen  der  Exstirpation  häufig.  Innere  Metastasen  sind  nicht 
so  selten,  als  man  früher  annahm  (22-7o/o  nach  Nasse). 

Die  Knocliensarkome  sind  in  ihrer  Malignität  schwer  abzuschätzen,  wohl  gilt  auch 
hier  der  Satz:  je  zellenreicher,   je    kleinzelliger,    umso     ungünstiger,    doch   sind   selbst 


Fig.  319. 


Fig.  320. 


histologisch  ganz  gleichartige  Sarkome  an  verschiedenen  Standorten  von  ganz  verschie- 
dener Malignität.  Die  iniiltrirten  Marksarkome  der  Epiphysen  sind  von  allergi'össter 
Malignität,  die  Riesenzellensarkome  bleiben,  namentlich  so  lange  sie  den  Knochen  noch 
nicht  durchbrochen  haben  (schalige  Eiesenzellensarkome) ,  relativ  gutartig  und  sind  in 
einzelnen  Fällen  sogar  durch  Ausschaben  dauernd  geheilt  worden ;  meist  genügt  hier  eine 
Resection.  Die  Ektasie  der  Hautvenen  (Thrombose  der  tiefen  Venen  durch  Einwachsen  von 
Geschwulstmassen  ?) ,  das  Verwachsen  mit  den  Weichtheilen  sind  ungünstige  Zeichen. 
Nur  die  langsam  wachsenden  Riesenzellensarkome  können  mit  Erhaltung  der 
Extremität  durch  Resection  geheilt  werden  (Bosenherger,  Krause),  sonst  ist  hohe  Am- 
putation oder  Exarticulation  geboten ;  ergriffene  Muskeln  sollen  ganz,  mit  ihren  Ansätzen 
entfernt  werden  (v.  Bergmann) ;  die  Recidive  beginnen  meist  in  den  Weichtlieilen ;  nach 
dem  ersten  Jahr  kommen  selten  noch  Recidive. 

Die  Sarkome  der  Fascien  sind  meist  Spindelzellensarkome  von 
massiger  Malignität;  doch  kommen  auch  hier  bösartigere  Formen  vor. 
Dasselbe  gilt  von  den  Sarkomen   der  Haut  (s.  pag.  338). 


Knochensarkome.    Drüsensarkome. 


341 


In  der  Haut  finden  sich  die  zu  den  Sarkomen  gehörenden  Endotheliome  {H.  Braun, 
Langenbeck's  Arch.,  -43).  Zwischen  den  Bindegewebsfibrillenbündeln  finden  sich  Wuche- 
rungen der  Lymphendothelien ,  bald  nur  wenige  platte  Zellen ,  bald  in  Gestalt  cylin- 
drischer,  theilweise  hyalin  gewordener  Stränge  (daher  Cylindrome  genannt).  Sie  recidiviren 
leicht  (daher  auch  recurring  fibroi'd  i.  e.  S.  genannt) ,  und  werden  deshalb  leicht  mit 
Hautkrebsen  verwechselt ;  sie  inficiren  aber  die  Lymphdrüsen  nicht  und  machen  selten 
Metastasen. 

Dann  finden  sich  Sarkome  in  Drüsen,  vorwiegend  in  Brustdrüse, 
Speicheldrüse  und  Hoden,  langsam  wachsende  Geschwülste,  mit  wenig 
Neigung  zur  Metastasenbildung, 

Mikroskopisch  sieht  man  Wucherungen  von  Drüsengewebe  in  der  Art  von 
Adenomen,  dazwischen  aber  das  Bindegewebe  sarkomatös  entartet,  d.h.  Einlagerungen 
von  Zellnestern  in  das  Zwischengewebe  und  dieses  oft  noch  zellig  infiltrirt.  In  manchen 
Fällen  gewinnt  diese  sarkomatöse  Entartung  so  sehr  das  Uebergewicht,  dass  von  Wuche- 
rung des  Drüsengewebes  fast   nichts   mehr   zu    sehen    ist  und  die  Geschwulst  erscheint 


Fig.  321. 


Cystosarcoma  mammae  proliferum  phyllodes 
(nach  Albert). 


dann  au  manchen  Stellen  als  reines  Rundzellen-,  Spindelzellen-,  selbst  Riesenzellensarkom 
und  nähert  sich  auch  in  ihrem  klinischen  Verhalten  diesen  Geschwulstformen.  Andere 
Male  tritt  die  unregelmässige  Drüsenwucherung  mehr  hervor,  es  sammeln  sich  Secret- 
massen  an,  welche  durch  die  verzogenen  Ausführungsgänge  nicht  entleert  werden  können, 
es  bilden  sich  Hohlräume,  erfüllt  mit  zäher,  meist  gelblicher  oder  grünlichbrauner  eiweiss- 
reicher  Flüssigkeit;  an  den  Wänden  dieser  Hohlräume  erheben  sich  neue  unregelmässige 
Wucherungen,  die  sich  wieder  verzweigen  und  so  entstehen  höchst  eigenartige  Bildungen : 
(!ystosarcoma  proliferum  ))hyllodes  mammae  [Fig.  321 ,  nacli  Alherf].  Siehe  auch 
unter  Adenom.) 

Zu  den  allersclilinnnstcn  Geschwülsten  gehören  die  Lympho- 
sarkome. Vorwiegend  von  den  Lymphdrüsen  des  Halses  ausgehend, 
bilden  sie  überaus  schnell  wachsende,  knollige,  weiche,  saftreiche,  auf 
dem  Durchschnitt  wie  Hirnniark  aussehende  Geschwülste;  sie  greifen 
rasch  auf  die  Inigebung  über  und  verlöthcn  mit  ihr,  verwachsen  auch 
früh  mit  der  Haut  und  führen  oft  schon,  ehe  es  vaw  Metastasirung 
kommt,  durch  rasches  Siechthum  zum  Tode. 


342 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Fig.  322  Lymphosarkom  des  Halses  von  einem  21jälirigen  Kranken, 
der  während  der  Operation  gestorben. 

Mikroskopisch  erweisen  sie  sich  aus  massenhaften  lyniplioidcn  Zelh;n  zu- 
sammengesetzt, die  das  Gesichtsfeld  so  völlig  erfüllen,  dass  nur  bei  sehr  dünnen 
Schnitten  oder  in  ausgepinselten  Präparaten  ein  äusserst  dünnes  und  zartes  Reticulum 
zu  sehen  ist.  Lymphosarkome  finden  sich  besonders  bei  gleichzeitig  bestehender  Tuber- 
culose  {Fischer,  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  36,  Lit.).  Auch  in  der  Geschwulst  hat  man  Tuberkel- 
bacillen  gefunden  (Weigert). 

Die  Exstirpation  gibt  trostlose  Resultate.  Da  die  Geschwulst 
überall  mit  den  Nachbargeweben  verlöthet  ist,  gelingt  die  Ausschäl iing 
oft  nicht  oder  das  Recidiv  folgt  auf  dem  Fusse  nach.  In  manchen 
Fällen  soll  die  Arsenbehandlung  genützt  haben  (10  Tropfen  Sohitio 
arsenicalis  Fowleri  pro  die ,  steigend  bis  circa  30  Tropfen  und  örtlich 
2 — 4 — 6  Tropfen  injicirt).  Noch  besser  ertragen  sich  Pillen  (0"004  Acid. 
arsenicos.  pro  Pille,  3 — 4mal  täglich).  Die  auf  Arsenik  reagirenden  Fälle 
scheinen  tuberculöser  Natur  zu  sein. 

Das  Chlorom,  eine  an  der  Schädelbasis  und  der  Thränendrüse  vorkommende 
Geschwulst  von  grüner  Farbe,  gehört  klinisch  und  histologisch  zu  den  Sarkomen.  Die 
eigenartige   grünlich-gelbe  Färbung   beruht    auf  der  Einlagerung   feinster   Fettkörnchen. 

Fig.  322. 


Gerade  auf  dem  Gebiete  der  Sarkome  kommt  uns  die  ungenügende 
Kenntniss  der  Aetiologie  besonders  häufig  und  drückend  zum  Bewusstsein. 


Epitheliale  Neubildungen. 

Gutartige    epitheliale  Neubildungen.   —   Papillome    der    Haut    und  Schleimhäute. 
Warze  und  Condylom.     —    Adenome   der  Haut,    Schleimhäute   und  Drüsen.     — 

C  y sten. 

Bei  epithelialen  Neubildungen  tritt  als  weiteres  wesentliches 
Element  Wucherung  des  Epithels  hinzu.  Natürlich  muss  auch  das  Binde- 
gewebe, die  Ernährungsschicht  des  Epithels  entsprechende  progressive 
Veränderungen  zeigen  und  so  bleibt  es  für  viele  „epitheliale"  Neubil- 
dungen fraglich ,  ob  die  Wucherung  des  Epithels  das  Erste  oder  die 
bindegewebige  Neubildung  das  Wichtigere  ist.  (S.  auch  bei  Carcinom.) 
Ein  Theil  der  epithelialen  Neubildungen  steht  zweifellos  zur  Entzündung 
in  innigem  genetischem  Zusammenhang  (Condylome). 

Die  epithelialen  Neubildungen  sind  zum  Theil  Uebertreibungen 
der   Papillarbildungen   von    Haut-   und  Schleimhäuten  —    Papillome, 


Lymphosarkome.  Paijillome.  843 

Warzen,  Condylome  u.  dergl.  Zum  Theil  sind  sie  Wucherungen  oder 
Entartungen  epithelialer  Drüsenbildungen  —  Cystome,  Adenome  der 
Haut,  der  Schleimhäute  und  der  Drüsen.  Diese  Bildungen  können  in 
ihrer  in  die  Augen  fallenden  Aehnlichkeit  mit  normalen  Formen  noch 
als  „typische"  Neubildungen  bezeichnet  werden.  Andere  dagegen  lassen, 
besonders  in  ihren  späteren  Stadien,  kaum  noch  Aehnlichkeit  mit  den 
normalen  Bildungen  des  Mutterbodens  erkennen  —  atypische  Neo- 
plasmen oder  echte  Carcinome,  Epithelialkrebse  der  Haut^ 
Drüsen  u.  s.  w. 

Die  typischen  epithelialen  Neubildungen  sind  als  gutartig  zu  be- 
zeichnen ;  die  atypischen  sind  ausnahmslos  bösartig.  Die  typischen 
können  in  die  atypischen  übergehen  oder  eine  temporäre  Vorstufe  der 
atypischen  darstellen. 


Die  Papillome  entstehen  durch  Vergrösserung  der  normalen 
Papillen  und  Wucherung  der  diese  deckenden  epithelialen  Schichten. 
Die  Papillen  können  einfach  in  die  Länge  wachsen,  oder  es  können  von 
den  Papillen  seitlich  weitere  papilläre  Wucherungen  ausgehen,  so 
dass  auf  dem  Längsschnitt  dendritische  oder  blattartige  Formen  zum 
Vorschein  kommen.  Den  Typus  der  Papillombildung  geben  Fig.  324 
und  326.  Fig.  326  Papillom  der  Blase:  centrale  Gefässschlingen,  meist 
senkrecht  aufsteigend,  umgeben  von  etwas  Adventitia  capillaris,  darum 
Bindegewebe  —  bald  weicher  und  saftreicher  (Schleimhäute),  bald 
derber  und  faseriger  (äussere  Haut) ;  über  dieser  bindegewebigen 
Matrix  nun  eine  mehrschichtige  Epithellage,  die  an  der  äusseren  Haut 
in  ihren  peripheren  Schichten  in  gewöhnlicher  Weise  verhornt  (siehe 
Fig.  324,  spitzes  Condylom  der  Haut).  Der  Grund  der  Papillome  ist 
meist  etwas  blutreicheres  Bindegewebe,  mit  reichlicheren  weissen  Blut- 
zelleu  durchsetzt.  Auf  diesen  Typus  lassen  sich  eigentlich  alle  papillären 
Neubildungen  zurückführen. 

Die  Papillome  der  äusseren  Haut  sind  bekannt  als  „Maler"; 
braune,  über  die  Umgebung  etwas  erhabene,  oft  mit  grossen  dicken 
Haaren  besetzte  Flecken ,  die  schon  mit  blossem  Auge  einen  deutlich 
papillären  Bau  zeigen  —  Naevus  pigmentosus.  Mikroskopisch  er- 
weisen sie  sich  als  aus  grossen  Pai)illen  mit  weiten  Haarbälgen  u.  s.  w. 
zusammengesetzt.  In  den  tiefen  Zellen  des  Rete  Malpighi  liegt  körniges 
Pigment.  Die  Möglichkeit  ihres  Ueberganges  in  sarkomatöse  Geschwülste 
ist  pag.  338  hervorgehoben.  Ihre  Exstirpation  mit  2  Bogenschnittchen, 
wenn    nöthig   mit    localer  Anästhesie ,    ist    deshalb    stets  gerechtfertigt. 

Hierher  gehören  auch  die  Warzen  (Verrucae).  Ihre  Bauart  ist 
ganz  die  eines  dendritisch  verzweigten,  mit  dicker  Epithellage  bedeckten 
Papilloms;  ihr  mikroskopisches  Aussehen  ist  dem  in  Fig.  324  abge- 
bildeten spitzen  Condylom  durchaus  ähnlich.  Die  Warzen  sind  meist 
multipel ,  besonders  bei  jungen  Leuten  in  den  Pubertätsjahren.  Sie 
gelten  für  infectiiis.  !Mit  Messer  oder  Scheere  entfernt  kehren  sie  leicht 
wieder.  Am  besten  betu))lt  man  sie  wiederholt  mit  Essigsäure  (Eis- 
essig oder  Monochloressigsäure  u.  dergl.) ;  Salpetersäure  führt  öfters  zur 
Eiterung. 

Die  S]>itzon  Condylome  sind  ähnliche  Bildungen.  (Die  „breiten" 
Condylome  sind   hckainitlich  flache.    sy])hilitische  Haut-    d'ler  Schleim- 


344  V.  Caiiitel.   —  Geschwülste. 

hautinfiltrate  entzündlicher  Natur,  allerdings  meist  auch  mit  t^pithel- 
wucheruDg  und  massenhafter  Epithelabstossung.)  Fig.  823  gibt  Gruppen 
von  spitzen  Condylomen  von  der  Vorhaut,  bei  Vorhautverengerung,  ohne 
Gonorrhoe,  mitsammt  der  Vorhaut  entfernt. 

Fig.  324  ist  die  mikroskopische  Darstellung  eines  spitzen  Condy- 
loms (nach  Kaposi).  In  der  Mitte  hat  man  die  Blutgefäss-  und  saft- 
reiche Bindegewebsschichte  (a)  in  Form  einer  lang  ausgezogenen  Papille, 
darüber  Epithel  ((i),  dessen  Hornschichte  (c)  verhältnissmässig  reducirt 
erscheint. 

Die  Condylome  sind  Begleiterscheinungen  von  Entzündungen  ihres 
Standorts,  namentlich  finden  sie  sich  bei  Gonorrhoe  auf  der  Eichel- 
oberfläche ,  an  den  Schamlippen ,  um  den  After  herum.  Essigsäure- 
ätzungen,  Ueberschläge  mit  4 — 6^/0  Lösungen  von  essigsaurer  Thonerde 
(Aluminium  aceticum)  sind  nützlich.  Breite  Rasen  von  spitzen  Condy- 
lomen (weibliche  Genitalien)  trägt  man  mit  Pincette  und  krummer 
Scheere    ab    und    brennt    den  Grund   mit   dem  Platinbrenner ,    nachher 

wieder  Umschläge  mit  essigsaurer  Thon- 
^'^-  ^^^-  erde  oder  Salben  aus  Sadebaumspitzen  und 

Alaun  (Lesser). 

Die  Hauthörner  sind  rein  epitheliale 

Bildungen.     Auf    blutreichem    Grund     mit 

^'^^,:^m~^!Bmmi'W/ry .  ^.^£^       starker    Papillarentwicklung    wachsen     oft 

mehrere  Centimeter  lange,  meist  gewundene 
Hörner  hervor ,  aus  verhornten  Epithelien 
bestehend ;  sie  sind  gewöhnlich  plattgedrückt 
und  gerieft.  Nur  die  Exstirpation  gibt 
dauernde  Heilung.  Oft  entarten  auch  Nägel,  namentlich  an  den  Zehen, 
in  ähnlicher  Weise ;  sonst  sitzen  die  Hauthörner  meist  am  behaarten  Kopf. 

Das  Molluscum  contagiosum  findet  sich  auf  der  Haut  in  grosser  Anzahl  als 
linsen-  bis  kirschgrosse,  blassgrau  röthliche,  weiche  Geschwülstchen,  dem  Fibroma  moUuscuni 
ähnlich  (flache  Kegel,  meist  mit  einer  Delle  auf  der  Spitze).  Sie  bevorzugen  Stellen,  wo 
gegenseitige  Berührung  von  Hautflächen  vorkommt  oder  die  viel  betastet  werden.  Gesicht, 
Hände,  Arme,  Brust.  Beine,  Genitalien,  und  finden  sich  fast  nie  auf  dem  Rücken.  Aus  der  Spitze 
lässt  sich  ein  comedonenartiger  Kern  hervordrücken.  Mikroskopisch  zeigt  sich  die  Geschwulst 
aus  einer  Bindegewebswucherung  bestehend,  eine  centrale,  verzweigte  Höhle  enthält  Epi- 
thelien und  glasige  kernlose  Zellen,  die  Farbstoffe  begierig  annehmen,  die  „Möllns  cum- 
körperchen"  (Fig.  327  nach  Birch- Hirschfeld),  links  unten  bei  stärkerer  Vergrösse- 
rung  zwischen  Epithelien  die  MoUuscumkörperchen,  Zelleneinschlüsse  (ähnlich  Fig.  295), 
die  die  Kerne  verdrängen  und  das  Protoplasma  substituiren.  Sie  werden  von  Boech 
(Dermatolog.  Congr.  1892),  Neisser  u.  A.  für  Psorospermien  (einzellige  Coccidien)  gehalten, 
während  Petersen,  Israel  {Langenbeck's  Archiv,  43)  ihren  parasitären  Charakter  leugnen. 
Bei  uns  in  Deutschland  kommt  das  Molluscum  contagiosum  wenig  vor,  häufig  ist  es  in 
England.  Aetzung  des  Centrums  —  mit  rauchender  Salpetersäure  —  oder  Auskratzen 
mit  scharfem  Löfl'el  genügen  zur  Entfernung. 

Von  den  ganz  in  der  Art  der  Condylome  der  Haut  gebauten 
Papillomen  der  Schleimhäute  sind  Paradigmen  in  Fig.  325  und 
Fig.  326  dargestellt.  Fig.  325,  ein  Papillom  der  Harnblase ,  das  im 
Fundus  der  Blase  mit  schmälerer  Basis  aufsitzt  und  sich  buschartig  in 
den  Körper  der  Blase  hineinerstreckt.  Fig.  326  stellt  einen  mikro- 
skopischen Schnitt  von  derselben  Geschwulst  dar.  Auf  der  normal  ge- 
bliebenen Muskelhaut  sieht  man  die  gefässreiche  Submucosa,  mit  reich- 
licheren weissen  Blutzellen  durchsetzt.  Von  ihr  erheben  sich  langgezogene 
Bindegewebspapillen ,    in    der  Mitte   ein    Gefäss   und   reichliche   weisse 


Warzen.  Condylome.  Schleimhautpapillome. 


345 


Blutkörperchen,  darüber   die  mehrschichtige,  zum  Theil  in  Abstossung 
begriffene  Epithellage. 

Die  Papillome,  namentlich  des  Darmes,  bleiben  oft  ganz  syraptom- 
los,  andere  dagegen,  wie  die  (meist  mehr  flachknotigen  und  harten) 
Papillome  der  Stimmbänder,  machen  schwere  örtliche  Störungen.     Die 


Fig.  324. 


teil**; 


überaus  weichen  und  zerreisslichen  Papillome  der  Harnblase  verrathen 
sich  oft  durch  äusserst  reichliche,  schliesslich  zur  Erschiipfung  führende 
Bla.senblutuiigen ,  ebenso  die  Mastdarmpapillonie.  Meist  ist  zugleich 
Sclileimliautcatarrh  vorhanden.  Die  ßeliandhnig  besteht  in  Exstirpation 
und  ('auterisation  des  Onindes. 


346 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Fig.  325. 


Die  Adenome  lassen  meist  den  ßau  der  Drüse,  von  der  sie 
ausgehen,  noch  deutlich  erkennen.  Doch  sind  die  DrüsenschJäuclie 
grösser,  länger,  massiger;  die  Regelmässigkeit  in  der  Anordnung  der 
Theile,  das  Verhältniss  der  drüsigen  Theile  /u  den  Ausführungsgängen 
ist  bei  ihnen  nicht  so  durchsichtig;  functionelle  Leistungen  und  Ver- 
änderungen werden  an  ihnen  nicht  mehr  wahrgenommen  und  unter- 
scheiden sie  sich  hiedurch  von  der  echten  Hypertrophie  der  Drüsen,  der 
sie  sonst  anatomisch  sehr  nahe  stehen.  Während  die  Grenze  mancher 
Adenome  gegenüber  den  normalen  Gleweben  nicht  immer  scharf  ist,  gibt 
es  wieder  andere ,  die  sich  in  dem  Gewebe ,  wo  sie  sitzen  ,  z.  B.  der 
Brustdrüse ,  als  deutliche  Knoten  durchtasten  lassen  und  sogar  eine 
Art  Kapsel  besitzen.  Sie  können  durch  Druck  das  übrige  Gewebe  zur 
Atrophie  bringen. 

Die  Adenome  sind  an  sich  gutartige  Geschwülste.  Wie  aber  die 
Grenze  gegen    die  echten  Drüsenhypertrophien    hin   eine   nicht    scharfe 

ist,  so  ist  es  auch  den  bösartigen  Ge- 
schwülsten gegenüber;  sie  gehen  sehr 
leicht  in  Carcinome  über  oder  viel- 
mehr ein  Theil  der  Carcinome  weist 
in  seinen  ersten  Stadien  adenoma- 
tösen Bau  auf.  Manche  Geschwülste 
zeigen  auch  an  der  einen  Stelle  den 
Bau  des  Adenoms,  an  der  anderen 
den  des  Carcinoms.  Wegen  dieser 
zweifelhaften  klinischen  Stellung  ver- 
langt jedes  Adenom,  wenn  es  nicht 
ganz  stationär  bleibt,  dringend  rasche 
Exstirpation. 

Die  Adenome  der  Mamma 
entstehen  zunächst  als  fleischfarbige 
harte  Knoten  und  sind  bald  einzeln, 
bald  in  grosser  Anzahl  vorhanden. 
In  letzterem  Fall  ist  die  Krankheit 
auch  oft  als  diffuse  knotige  Hyper- 
trophie be  eichnet  worden;  entschieden  mit  Unrecht,  denn  die  echte 
Hypertrophie  (Fig.  328  nach  Albert)  beruht  auf  gleichmässiger  Ver- 
grösserung  der  Brustdrüse,  ist  meist  doppelseitig  und  führt  zu  enorm 
grossen  Geschwülsten.  Mikroskopisch  ist  jedoch  stets  ein  deutliches 
und  typisches  Drüsengewebe  zu  erkennen  (Schüssler  ^  Langenbeck's 
Arch.,  43). 

Die  Entstellung  der  wahren  Adenome  mag  Fig.  329  klar  machen. 
Bei  a  und  b  finden  sich  epitheliale  Wucherungen  in  die  Höhlung  eines  erweiterten 
Ausführungsganges  herein,  es  handelt  sich  um  zapfenförmige  Wülste  (a) ,  zwischen 
denen  entsprechende  Einsenkungen  bleiben,  die  sich  schliesslich,  wenn  die  Zapfen 
mit  ihren  Gipfeln  sich  aneinander  legen ,  zu  förmlichen  abgeschlossenen  Räumen  (ej 
umbilden  können.  Diese  können  durch  Verhaltung  von  Secret  zu  förmlichen  Cysten 
■werden.  An  anderen  Stellen  (bj  werden  diese  Wucherungen  zu  fast  gestielten  Ex- 
crescenzen,  die  in  die  Ausführungsgänge  hineinwuchern  und  diese  zu  unregelmässigen 
Spalten  verziehen.  Das  Gewebe  dieser  Excrescenzen  kann  seinerseits  (bei  c  und  noch 
deutlicher  bei  d)  cystös  entarten,  so  dass  auch  dadurch  wieder  Gelegenheit  zur  Er- 
weichung und  Cystenbildung  gegeben  ist.  Um  diese  einem  Ausführungsgang  entsprechende 
Wucherung    herum   lagert    derbes  gefässarmes  Bindegewebe,  die  der  ganzen  Neubildung 


Adenome  der  Mamma ,    dei'  Ovarien. 


347 


fibromartige  Härte  verleiht.  Wegen  dieser  Eigenthümlichkeiten  führt  die  Geschwulst  auch 
die  Namen  Fibroadenoma  proliferum,  Cystoadenoma  u.  dergl.  Der  Tumor  ist  meist  gut 
verschieblich,  oft  fast  mit  dem  Finger  aus  der  Drüse  auszuschälen  {Schimmelhusch, 
Langenheck' s  Ärch,  44).  Die  Entstellungsweise  ist  unbekannt;  meist  sind  jüngere  Frauen 
befallen. 

Manche  Aebnlichkeit  in  der  Entstehungsweise  mit  den  Mamraa- 
adenomen  zeigen  die  Adenome  der  Ovarien,  auch  Cvstadeuome 
oder  schlechtweg  Cystome  genannt.  Im  Gegensatz  zu  den  einfachen 
Cysten  des  Ovariums  (Hydrops  folliculi  Graafii,  s,  pag.  354)  und  des 
Parovariums  handelt  es  sich  hier  um  wirkliche  Neubildungen  vom 
Charakter  des  Adenoms. 

Fig.  326. 


Es  bilden  sich  epitbelialc  und  bindegewebige  Productionen ,  an- 
nähernd vom  Typus  normaler  Bildungen,  Der  Ausgangspunkt  derselben 
scheinen  die  normalen  Eischläuclie  des  Ovariums  zu  sein  ;  indem  diese 
wuchern,  entstehen  cpitlielialc  Wulstungen  und  dementsprechend  Ein- 
senkungen  dos  Epitbcls.  wie  in  Fig.  329.  Diese  schnüren  sich  ab  und 
bilden  kugelige  abgeschlossene  Räume,  in  deren  Inneres  seitens  der 
Epithelien  schleimige  Massen  sich  absondern  und  dann  den  Raum  zur 
Blase,  Cyste  auftreiben.  Auf  der  epithelialen  Innenfläche  dieser  Blase 
geben  nun  die  epitbclialen  Wuehcnmgen ,  Wulstungen.  Einsenkungen, 
Abscliniirungen  aufs  Neue  voi-  sieb,  und  so  ilndcn  sich  Cysten  in  Cysten 
eingeschachtelt;  die  einzelnen  von  Mannsk;»pfgrösse  bis  herunter  zu 
mikroskopisch    eben    walirnebni])aren    llolilijiunien.     Man    nennt    diese 


348 


V.  Capitel.   —  Geschwülste. 


in    einandei-    eingeschachtelten    Cystenbildungen    auch   multiloculäre 
Ovariencysten. 

Fig.  330,  "Wand  einer  multiloculären  Ovariencyste  bei  .schwacher  Vergrösserang. 
In  dem  unten  abgerissenen  Gewebestrang,  der  ein  Septum  der  Geschwulst  darstellt, 
sieht  man  die  Entwicklung  junger  Cystchen  bis  zu  Stecknadelkopfgrösse  herunter. 
Diese  sind  mit  einer  —  durch  den  Alkohol  geronnenen  —  eiweissreichen  Flüssigkeit 
gefüllt  (Lupenvergrösserung).  Fig.  331  ein  Stück  derselben  Cyste  bei  starker  Ver- 
grösserung,  und  zwar  ein  Stück  schmaler  Zwischenwand  zwischen  zwei  Cysten.  Ein 
zellem-eiches  bindegewebiges  Stroma  trägt  epithelialen  Ueberzug,  dessen  oberste  Lage 
den  Charakter  schönster  Cylinderepithelien  tragen,  es  sind  Flimmerzellen  (im  Holzschnitt 
nicht  deutlich  zu  erkennen).  In  der  Mitte  ist  ein  Gefäss  schräg  getroffen.  Nach  rechts 
ein  kleiner  Hohlraum,  dessen  Inhalt  —  Cylinderzellen  —  ausgefallen  sind.  Dieser  Hohl- 
raum ist  vermuthlich  die  quergeschnittene  Spitze  einer  zapfenartigen  Einstülpung ,  wie 
man  solche  auch  an  verschiedenen  Stellen  der  epithelialen  Fläche  sieht.  Durch  diese  Ein- 
senkungen,  welche  sich  schliesslich  nach  oben  abschliessen,  entstehen  neue  Cysten.  Die 

Fig.  327. 


Durchschnitt  eines  Epithelioma  contagiosum  der  menschlichen  Haut. 


Aehnlichkeit  dieser  Vorgänge  mit  den  in  Fig.  329  dargestellten  Processen  in  der  Mamma 
liegt  auf  der  Hand. 

Diese  Geschwülste  werden  gewöhnlich  Cystoma  ovarii  proliferum 
(multiloculäre  Ovarialcyste,  Colloidgeschwulst ,  Myxoidcystom ,  Cystoid, 
Adenoma  cylindrocellulare  u.  s.  w.)  genannt.  Sie  sind  vielfächerige,  un- 
regelmässig knotige,  derbwandige,  meist  deutlich  fluctuirende  Geschwülste, 
langsam  wachsend  und  nicht  schmerzhaft.  Ihr  Inhalt  ist  ein  dicker, 
zäher,  leimartiger  Schleim,  grünlichgrau  oder  chocoladenfarbig,  oft  mit 
getrübten  schleimigen  Flocken  und  Fetzen  gemischt.  Er  verdankt  seine 
Entstehung  wahrscheinlich  der  colloiden  Entartung  oder  Absonderung 
der  Cylinderzellen  seiner  Wand.  Die  Annahme ,  dass  es  sich  um 
coUoide  Umwandlung  des  bindegewebigen  Stromas  handle ,  ist  weniger 
wahrscheinlich.  Sie  kommen  vorwiegend  in  jüngeren  und  mittleren 
Jahren  vor. 


Cystoma.  Cvstoma  ovarii. 


349 


Eine  höchst  merkwürdige  Abart  dieser  Geschwulst  ist  die  papilläre  Form  — 
Cystoma  proliferum  papilläre.  —  Mikroskopisch  vom  gewöhnlichen  Cystom 
kaum  zu  unterscheiden,  bietet  es  makroskopisch  und  klinisch  wesentliche  Besonderheiten. 
Die  Wucherung  der  Epithelieu  bietet  einen  mehr  warzigen  Charakter  und  diese  AYarzen 
vermögen  die  Wand  der  Cyste,  indem  sie  von  der  einen  Seite  gegen  die  andere  heran- 
wachsen, zu  durchbrechen.  Diese  warzigen  Wucherungen  erscheinen  frei  auf  der  Aussen- 
fläche,  verbreiten  sich  der  Fläche  nach  auf  dem  Peritoneum  und  dieses  kann  gleich- 
falls eine  warzige  Veränderung  erleiden.  OlsJiatisen  hat  bei  einer  Function  eine  Ver- 
impfung  in  die  Stichwunde  der  Bauchwunde  und  Bildung  Avarziger  Neubildungen  an 
dieser  Stelle  gesehen.  Metastasen  macht  diese  papilläre  Form  nicht ;  vermöge  ihres  in- 
fectiösen  Wachsthums    in   der   Fläche    und   ihres   Uebergreifens    auch    auf    andersartige 


Gewebe   steht   die   Geschwulst    aber    doch    schon    an   der  Grenze    der    bösartigen   Neu- 
bildungen. 

Die  einzig  genügende  Beliaudliing  der  Cystomc  ist  die  Exstir- 
pation.  Die  Function  ist  bei  den  niehrkaninierigen  Cysten  erfolglos  und 
auch  bei  einkammerigen  Cysten  gefährlicher,  als  die  Exstirpation. 


Aehnliche  Verhältnisse  bietet  die  Schilddrüse.  Auch  hier  ent- 
stehen durch  Wucherung,  Thcilung  und  Abschnürung  der  Drüsenschläuche 
und  sccundäre  Veränderungen,  besonders  Coiloideutartung  (vergl.  i)ag.  4b 


S50 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


und  Fig.  1 Ö) ,  Neubildungen ,  die  von  dem  normalen  Typus  der  Drüse 
oft  nur  wenig  abweiclien.  Bald  sind  es  circumscripte  braunrothe,  festem 
Fleische  älmliclie  Knoten,  die  von  der  übrigen  Drüsenmasse  durch  eine 
Art  Kapsel  abgetrennt  und  sich  aus  derselben  ausschälen  lassen 
(„Enucleation"  der  Kropf  knoten);  bald  kommt  es  zu  einer  mehr  diffusen 
Anschwellung  der  ganzen  Drüse,  doch  lässt  auch  hier  die  Entstehung 
des  Tumors  aus  einzelnen  Knoten  und  Knötchen  meist  sich  noch  er- 
kennen —  Struma  parenchymatosa.  Mit  dem  Fortschreiten  der 
Verflüssigung  der  zu  Anfang  Sagokörnern  ähnlichen  Colloidmassen 
kommt  es  zur  Bildung  förmlicher  colloider  Cysten,  die  durch  Druck- 
schwund der  Zwischenwände  zum  Theil  in  einander  fliessen  und  mehr- 


Fig.  329. 


h 


.'?  :- 


Ic 


7/ 


kammerige,  schliesslich  selbst  einfache  Cysten  bilden,  Struma  cystica. 
Ihr  Inhalt  ist  ein  zäliflüssiges,  grünliches  Colloid,  das  auch  (durch  Ver- 
letzung) einen  blutigen  Charakter  annehmen  kann. 

Die  Scliilddrüsenadenome  „Kröpfe"  sind  fast  die  einzigen  Adenome,  über  deren  Ent- 
stehungsursaclien  uns  Einiges  bekannt  ist.  Ein  Theil  derselben  hängt  mit  dem  Geschlechts- 
lehen des  Weibes  zusammen,  schwillt  mit  der  Menstruation  an,  um  nachher,  aber  nur  zum 
Theil,  wieder  abzuschwellen.  Andere  Adenome  sind  an  gewissen  Orten  endemisch,  und 
zwar  sind  es  (nach  Bircher)  gewisse  Meerwasserformationen  und  oft  ganz  beschränkte 
Localitäten,  wo  der  Kropf  auftritt,  während  z.  B.  die  Süsswasserformationen  der  deut- 
schen Tiefebene  ganz  frei  davon  sind.  Kodier  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  34)  kommt 
zu  fast  entgegengesetzten  Anschauungen  über  den  Einfluss  des  Bodens  auf  den  Kropf, 
besonders  dass  die  Süsswasserformationen  nicht  frei  von  Kropf  sind.  Das  Volk  beschul- 
digt mit  grosser  Einmüthigkeit  das  Trinkwasser  als  Ursache.  Ob  es  der  Kalkgehalt  des 
"Wassers  oder  der  Gehalt  desselben  an  Mikroben  (Bircher)  ist ,  darüber  ist  man  erst 
recht  im  Unklaren.  Bekanntlich  kommen  zugleich  mit  der  Entartung  der  Schilddrüse 
häufig  —  keineswegs  immer  —  geistige  Störungen,  Idiotie  und  allgemeine  Ernährungs- 


Schilddrüsenadenome.  Kropf. 


351 


und  Wachsthumsstörungen  vor,  die  man  als  Ki'etinismus  zusammenfasst.  Das  ende- 
mische Vorkommen  des  Kretinismus  fällt  örtlich  mit  dem  des  Kropfes  oft  zusammen. 
Doch  leugnet  Bircher  den  Zusammenhang  (Lubarsch  und  Ostertag  1896).  Gerade  so, 
wie  bei  der  Entartung  der  Schilddrüse  diese  höchst  eigenartigen  Störungen  des  Allge- 
meinbefindens eintreten,  stellen  sich  ähnliche  Veränderungen  ein,  wenn  die  ganze  Schild- 
drüse operativ  entfernt  wird,  dann  meist  mit  allgemeinem  Myxödem  (siehe  Krankheiten 
der  Haut).  —  Cachexia  strumipriva. 

Die  Adenome  der  Schilddrüse  bieten  insoferne  einen  weiten  Ausblick  aiaf  die 
Pathogenese  der  Geschwülste,  als  wir  sehen,  dass  äussere  Einflüsse  nicht,  wie  wir  sonst 
zu  beobachten  gewohnt  sind ,  zur  Entzündung  führen ,  sondern  zur  Geschwulstbildung 
—  wenigstens  was  wir  Geschwulst  nennen;  dass  äussere  Einflüsse  zur  Proliferation  der 
Gewebe  Anlass  geben  können,  dass  sie  den  Zellen  des  Körpers  den  Eeiz  zur  Theilung 
und  Vermehrung  zuführen  können,  dass  sie  Zellen  wachsen  lassen  können. 

Interessant  ist  auch  ferner,  dass  ein  Theil  der  Schilddrüsenadenome 
durch  Jod  (1 — 5  Grni.  Jodkali  täglich)  beeinflusst  wird.  Früher  machte 
man  viel  parenchymatöse  Einspritzungen  von  Jodtinetiir  in  die  Tumoren ; 
sie  sind  verlassen  wegen  der  Gefahr,  dass  man  in  eine  Vene  sticht  und 
von  dieser  aus  rasche  Blutgerinnung  mit  Collaps,  selbst  den  Tod  erlebt. 


Fig.  330. 


Auf  Jod  nicht  reagirende  Kropfknoten  werden  mögliehst  stumpf  aus 
der  Drüse  ausgeschält  (enucleirt),  wobei  stets  ein  Rest  der  Drüse  zur 
Vermeidung  der  Cachexia  strumipriva  zurückbleiben  soll. 

Ueberaus  wichtig  ist  die  Entdeckung  Baimtann's,  dass  die  Schilddrüse  regelmässig 
ei)ie  Jodverbindung  (Jodothjain  oder  Th3'reojodin  genannt)  enthält.  Sowohl  durch  die 
Schilddrüsenfütterung  (^y:^r»>/.s>i,  sei  es  in  Form  von  wirklicher  Schafschilddrüse,  oder  von 
comprimirten  Schilddrüsentabletten,  alkoholischen  Auszügen  oder  besonderen  Präparaten, 
wie  Thyraden  u.  dergl. ,  als  durch  Jodverabreichung  (besonders  zweckmässig  Adelheid- 
•luelle  täglich  V:;  Flasche)  wird  also  dem  Organismus  der  Stofi"  zugeführt,  dessen  Fehlen 
die  Wucherung  der  Schilddrüse  zu  veranlassen  scheint.  Die  Schilddrüsenpräparate  äussern 
in  grösseren  Dosen  ungünstige  Nebenwirkungen,  besonders  auf  das  Herz.  Mit  dem  Aus- 
setzen der  Verabreichung  von  Schilddrüsensubstanz  kommt  es  in  einem  grossen  Theil 
der  Fälle  zu  Rückfällen.  Das  Volk  warnt  in  Kropfgegenden  vor  dem  Genuss  unge- 
kochten Wassers. 

Die  Adenome  der  Schilddrü.se  sind  an  sich  gutartig,  wenngleich 
sie  durch  Compression  der  Luftröhre  natürlich  schwere  örtliche  Folgen 
haben  können;  sie  recidiviren  nicht,  wenn  auch  bei  Fortbestehen  der 
Ursache  in  den  zurückgelassenen  Theilen  der  Drüse  erneute  Adenom- 
bildunff  eintreten  kann. 


352  ^-  Capitel.  —  Geschwülste. 

Auf  der  äusseren  Haut  kommen  gleichfalls  Adenome  vor, 
ausgehend  von  Talg-  und  Schweissdrüsen.  Jene  scheinen  bei  der  Acne 
rosacea  mitbetheiligt  zu  sein.  Diese  bilden  knollige  Geschwülstchen, 
meist  weich  und  dem  Fibroma  molluscum  ähnlich ,  die  oft  recht 
schmerzhaft  sind  und  als  Tubercula  dolorosa  fs.  pag.  329j  imponiren. 
Mikroskopisch  erweisen  sie  sich  als  aus  einem  Convolut  von  .Schweiss- 
drüsen zusammengesetzt,  mit  den  charakteristischen  gewundenen 
Drüsengängen. 

Auch  auf  Schleimhäuten  finden  sich  Adenome,  gewrjhnlich  in 
Form  polypenartiger  Wucherungen.  Mikroskopisch  liegen  Drüsenneu- 
bildungen vor,  in  der  Art  der  vorhandenen  Schleimhautdrüsen,  meist  in 
Form    von  Einstülpungen    und  Schläuchen    mit  schönen  Cylinderzellen. 

Sonst  finden  sich  noch  Adenome  in  der  Leber,  den  Hoden, 
Parotis  u.  s.  w. 


Cysten,  Hohl- oder  Sackgeschwülste,  sind  pathologische  Hohlräume 
mit  einer  meist  selbständigen  Wandung,  gefüllt  mit  flüssigem  oder 
halbflüssigem,  breiigem  Inhalt.  Der  grösste  Theil  der  Cysten  ist  epithe- 
lialer Natur.  Der  Hohlraum  kann  ein  vorgebildeter  oder  ein  neuge- 
bildeter sein.  Bei  gewöhnlich  langsamem  schmerzlosem  Wachsthum 
bilden  sich  rein  kuglige  oder  durch  Druck  und  Spannung  von  Haut 
und  Fascien  leicht  abgeplattete  Geschwülste,  die  fast  immer  verschieb- 
lich sind  und  oft  Fluctuation  darbieten.  Die  Diagnose  ist  daher  nicht 
leicht  zu  verfehlen,  wenn  auch  gelegentlich  Verwechslungen,  mit  Fett- 
geschwülsten, Gummata  u.  dgl.  vorkommen.  Spätere  Veränderungen  können 
die  Diagnose  erschweren ,  so  wenn  Verkalkung  oder  Verknöcherung 
in  der  Cysten  wand  eintritt ,  oder  wenn  die  Geschwulst  sich ,  etwa 
im  Anschlüsse  an  eine  Verletzung ,  entzündet  und  erweicht.  Dann 
kann  die  Geschwulst  einem  Abscess  ähneln  und  nach  dem  Aufbruch 
bleibt  oft  ein  dauerndes  Hohlgeschwür,  eine  „Fistel"  zurück,  die  als  eine 
auf  rein  entzündlichem  Wege  entstandene  Fistel  erscheinen  kann. 

Was  man  unter  die  Cysten  rechnen  will,  ist  keineswegs  feststehend;  und  wenn 
man  diese  Gruppe  nach  rein  ätiologischen  Gesichtspunkten  sichten  wollte,  würde  sie  sehr 
zusammenschrumpfen;  ein  Theil  der  Bildungen,  die  man  früher  als  Cysten  bezeichnete, 
ist  heute  bereits  aus  dieser  Rubrik  ausgeschieden.  —  Virchow  unterschied  von  den 
Flüssigkeitsansammlungen  in  präformirten  Hohlräumen  3  Hauptgruppen  —  Ex- 
tra vasationscysten,  Exsudationscy sten  und  Re tentionscysten.  Von  den 
Cysten  in  neugebildeten  Hohlräumen  werden  2  Gruppen  aufgeführt  —  Erwei- 
chungscysten  und  wirkliche  Geschwülste,  in  deren  Innerem  es  regelmässig  zur  Cj-sten- 
entwicklung  kommt,  wirkliche  Neubildungen,  in  deren  Wesen  es  liegt,  cystöse  Räume  in 
sich  zu  bilden,  genuine  Cysten  oder  echte  Cystome. 

Von  diesen  Bildungen  sind  die  auf  entzündlichem  Wege  oder  durch  Störungen 
der  Entwicklung  entstehenden  Exsudationscysten  auszuscheiden,  wie  die  chronisch 
entzündlichen  Ergüsse  in  die  Scheidenhaut  des  Hodens  (Hydrocele) ,  die  cystenartigen 
Ausstülpungen  der  Gehirn-  und  Rückenmarkshöhle  (Hydromeninx,  Spina  bifida,  Menin- 
gocele),  die  Wasseransammlungen  der  Schleimbeutel  (Hygrome)  und  die  Ausdehnungen 
der  Sehnenscheiden  (Ganglien).  Es  sind  dies  Cystenbildungen  in  Geweben  der  Bindege- 
websgruppe  (s.  bei  Krankheiten  der  Sehnen).  Lücke  suchte  diese  letzteren  beiden  als 
Abschnür ungscysten  in  einer  Gruppe  für  sich  zu  lassen. 

Ebenso  wird  man  es  mit  den  Extravasationscysten  halten ,  den  Folgen  von  Ver- 
letzungen oder  Entzündungen :  ein  abgekapselter,  flüssig  gebliebener  Bluterguss  oder  ein 
Bluterguss  in  einen  Hohlraum,  z.  B.  die  Scheidenhaut  des  Hodens  (Hämatocele)  oder  in 
einen  durch  entzündliche  Verlöthung  abgeschlossenen  Raum,  z.  B.  den  Don  glas' sehen  Raum 
(Haematocele  retrouterina )  sind  nicht  als  Cysten  anzusprechen. 


Cysten.  Atherome.  353 

Eine  Art  von  Blntcysten,  vermutlilicli  aus  Gefässverletzuug  hervorgegangen, 
ist  pag.  332  beschrieben  und  in  Fig.  313  abgebildet.  —  Ebenso  kann  der  Inhalt  anderer 
Cysten  durch  Bluterguss  ein  blutiger  werden,  bald  durch  Verletzung,  bald  durch  Stauung, 
wenn  durch  Verlagerung  der  Cyste  die  abführenden  Venen  verlegt  oder  zugedrückt  und 
zugedreht  werden;  dies  kommt  namentlich  bei  gestielten  Cysten  (Ovarium)  nicht  so 
selten  vor  —  Stieldrehung  oder  Torsion. 

Die  Retentionscysten,  wo  die  normale  Absonderung  einer 
Drüse  oder  eines  Hohlraumes  durch  eine  entzündliche  oder  traumatische 
Verengerung  oder  Verschliessung  des  Ausführungsganges  zurückgehalten 
und  der  Hohlraum  zur  Geschwulst  ausgedehnt  wird ,  gehören  nicht  zu 
den  echten  Geschwülsten  oder  Neubildungen;  nur  aus  praktischen 
Gründen  mögen  sie  hier  besprochen  werden.  Diese  Geschwülste  sind 
namentlich  häufig  an  den  drüsigen  Organen  von  Haut  und  Schleim- 
häuten. 

Die  bekanntesten  und  häufigsten  Cysten  der  Haut  sind  die 
Atherome  oder  Grützbeutel,  Balggeschwülste,  entstanden  durch 
Retention  des  Inhaltes  in  Haarbälgen  und  Talgdrüsen. 

Sie  stellen  flach  rundliche,  unter  der  Epidermis  verschiebliche 
Geschwülstchen  dar,  oft  noch  mit  einer  kleinen  Vertiefung  auf  der 
Kuppe,  der  Stelle  des  Ausführungsganges.  Anfangs  erbsengross  und  hart, 
werden  sie  allmählich  grösser  und  weicher,  fast  fluctuirend  und  können 
dann  über  hühnereigross  werden.  Die  Haut  über  ihnen  verdünnt  sich, 
die  Haare  fallen  aus  und  schliesslich  kann  das  Atherom  platzen  und 
es  entleert  sich  die  Grütze,  eine  gelbliche,  fade  riechende,  fettige 
Schmiere,  oft  in  dünnere  ölartige  Flüssigkeit  und  festere  talgartige 
Concremente  getrennt.  Der  Grützbrei  besteht  aus  Epithelzelleu ,  Oel- 
tropfen ,  ]Margarinnadeln  ,  Tyrosinkrystallen  ,  Detritus  u.  dergl. ,  er  ist 
bacterienfrei.  Der  Balg  zeigt  auf  der  Innenfläche  epithelialen  Belag, 
meist  eine  warzige  Oberfläche,  nach  aussen  eine  bindegewebige  Kapsel 
mit  spärlichen  Gefässen.  An  einer  (braunen)  Stelle  fehlt  das  Epithel, 
und  hier  finden  sich  Riesenzellen  (König,  Langenbeck's  Arch.,  48). 

Fig.  332  zeigt  eine  Anzahl  Atherome  der  Kopfhaut.  Fig.  333  die  grösste  dieser 
Geschwülste,  exstii-pirt,  nach  unten  den  durchschimmernden  Balg,  mit  feinsten  Gefässver- 
zweigungen. 

Atherome  sitzen ,  oft  mehrfach ,  hauptsächlich  an  der  behaarten 
Kopfhaut  und  im  Gesicht,  am  übrigen  Körper  sind  sie  selten. 

Einfache  Spaltung  genügt  nicht,  sie  füllen  sich  wieder.  Auch  die 
Verätzung  mit  kaustischem  Kali  ist  unsicher  und  langwierig.  Ein 
Schnitt,  der  nicht  einmal  über  die  ganze  Geschwulst  wegzugehen  braucht, 
nur  über  einen  Quadranten ,  seltener  ein  Kreuzschnitt  und  dann  Aus- 
schälen mit  Scalpellstiel ,  Sonde  oder  krummer  Scheere  ist  das  beste 
Verfahren. 

Viel  seltener  sind  mit  fettiger  Flüssigkeit  gefüllte  Sebo-  (Talg-)  oder  Oelcysten. 
Verwechselt  sind  Atherome  gelegentlich  worden  mit  Hirnbrüchen ,  Ausstülpungen  der 
Hirnhäute,  Meni  ngocelen.  Diese  liegen  an  Nahtlinien  oder  Foramina  des  Schädels, 
sind  meist  weicher  und  durchscheinend.  Der  Stiel  ist  nicht  immer  nachzuweisen.  Eine 
Probepunction  liefert  wasserklare,  fast  eiweissfreie  Cerebrospinaltlüssigkeit. 

Für  Franke  (Lanffenheck's  Avch.,  34.  1)  sind  die  Atherome  keine  Verhaltungscysten, 
sondern  echte  epitheliale  Neubildungen  mit  cystischer  Entartung ,  hervorgegangen  aus 
versprengten  embryonalen  Keimen.  Er  rechnet  auch  das  Cholesteatom  (siehe  S.  372)  zu 
den  Atheromen.  Auch  JlescJd  lässt  das  Atherom  nicht  ans  Talgdrüsen  durch  Verhaltung 
entstehen,  sondern  rechnet  es  als  .,Epidermoid"  zu  den  echten  Neubildungen. 

Durch  Einstülpung  von  Ejjithel  unter  die  Haut  bei  Verletzungen  entstehen  die 
besonders  an  der  Hand    sich  tindenden  traumatischen  Epithel cysten,    rundliche 

Landerer,  AUg.  chir.  Pathologie  u.  Therapie.  2.  Aufl.  23 


354 


V.  Caintcl.  —  Geschwülste. 


epithelausgekleidete,  linsen-  bis  bohnengrosse  Bälge,  deren  Wand  richtige  Epidermis  dar- 
stellt {Gart-e,  Beit.  zur.  klin.  Chir.,  11.  Bd.,  lÜumhcrg,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chlr.,  Bd. 
39,  u.  a.). 

Durch  Verlialtung  des  Schleimes  in  den  Drüsen  der  Schleimhäute 
entstehen  die  Schleimcysteu.  Sie  sind  dünnwandige,  mit  sehr  zähem, 
fadenziehendem,  oft  gallertigem  klarem  Inhalt  gefüllte  Bälge,  von  Hirse- 
korn- bis  über  Hühnereigrösse.  Man  begegnet  ihnen  an  den  Lippen, 
unter  der  Zunge ,  wo  die  aus  den  Glandulae  sublinguales  hervorge- 
gangene Geschwulst  den  Namen  Ranula  führt,  dann  in  der  Highmors- 
Höhle,  in  den  Bartholinischen  Drüsen,  in  der  Scheide  u.  s.  w. 

Hieher  gehört  auch  die  Wasseransammlung  in  einem  Graaf- 
schen  Follikel  (Hydrops  folliculi  Graafii)  —  massig  grosse,  mit  klarer 
Flüssigkeit  gefüllte,  einkammerige  (uniloculäre)  Cysten.  —  Ebenso  ein- 
kammerig,  mit  klarer,  eiweissarmer  Flüssigkeit  gefüllt,  aber  oft  über- 
mannskopfgross  sind  die  Cysten  des  Parovariums,  hervorgegangen 
aus  den  Drüsenschläuchen  dieses  Organs. 


Fig.  332. 


Fig.  333. 


.r 


Ob  mau  die  Verhaltungen  des  Secrets  in  Ausführuugsgängen  der  Drüsen  u.  dergl., 
z.  B.  der  Speichelgänge  —  meist  längliche  wurstförmige ,  fluctuirende  Geschwülste  — 
hieher  rechnen  will,  scheint  doch  sehr  fraglich.  Es  ist  dann  nur  noch  ein  Schritt, 
auch  die  Wasseransammlung  im  Eileiter  (Hydrosalpinx)  ,  in  der  Gallenblase  (Hydrops 
cystitis  felleae),  selbst  den  Verschluss  des  Ureters  mit  folgender  Ausdehnung  der  Niere 
(Hydronephrose)  u.  dergl.  hier  mit  zu  besprechen. 

Die  Schleimcysten  lassen  sich ,  wiegen  der  Zerreisslichkeit  der 
Wand,  selten  ganz  exstirpiren.  Oft  genügt  es,  ein  möglichst  grosses 
Stück  der  Wand  zu  entfernen,  oder,  nachdem  die  Flüssigkeit  abgelassen, 
die  Wand  mit  Jodtinctur  oder  Höllensteinlösung  (1  :  5 — 1 :  10)  ge- 
tauchten Bäuschen  kräftig  auszureiben.  —  Auch  der  Versuch,  eine  zur 
Entzündung  und  Schrumpfung  führende  Einspritzung,  z.  B.  von  Jodtinctur, 
Chlorzinklösung  0*1  "/o  zu  machen,  ist  bisweilen  erfolgreich.  Eine  vor- 
ausgeschickte Einspritzung  von  4 — 10%  Cocainlösung  macht  die  Ein- 
spritzung schmerzlos.  Manche  Schleimcysten ,  z.  B.  die  Ranula ,  füllen 
sich  immer  und  immer  wieder,  bis  es  schliesslich  nach  monatelangeu 
Bemühungen  doch  gelingt,  sie  zu  veröden. 


.  Cysten.  Dermoidcysten.  355 

Durcli  Verschluss  von  Milchgäng-en  in  der  Brustdrüse  bilden  sich 
Milchcysten,  derbwandige,  oft  mehrkammerige,  kaum  schmerzhafte, 
kugelige  oder  längliche  Geschwülste.  Bei  längerem  Bestand  dickt  sich 
der  Inhalt  ein  und  es  kann  zu  einer  Art  „Buttercyste"  kommen. 

Eine  andere  Art  von  Cysten,  w^o  es  sich  um  wirkliche  Neubildung 
von  Geweben  handelt,  in  denen  es  dann  zur  cystösen  Entartung  und 
Bildung  grösserer,  meist  mehrfächiger  Cystengeschwülste  kommt  —  die 
eigentlichen  Cystome  sind  bei  den  Adenomen  pag.  348  besprochen. 

Eine  höchst  eigenartige  Bildung  sind  die  Dermoidcysten.  Derb- 
wandige, meist  so  ziemlich  kugelige  Bälge,  sind  sie  auf  ihrer  Innen- 
fläche mit  einer  Art  echter  Cutis  ausgestattet  —  nicht  blos  Epithel, 
dem  normalen  Hautepithel  gleich,  findet  sich,  sondern  auch  Haare, 
Talgdrüsen  u.  dergl.  Sie  sind  erfüllt  mit  einer  dem  Atherombrei 
ähnlichen,  fettigen  Masse,  mit  oft  langen  verfilzten  Haaren,  dazwischen 
noch  andere  epitheliale  Gebilde ,  Zähne  u.  dergl.  Diese  Cysten,  im 
Ovarium,  aber  auch  im  Hoden,  am  Halse,  wo  sie  von  den  Kiemenspalten 
ausgehen ,  wird  man  wohl  auf  eine  embryonale  Einstülpung  und  Ab- 
schnürung von  Haut  zurückführen  dürfen  („Abschnürungscysten"). 

Andere  Dermoide  enthalten  noch  merkwürdigeren  Inhalt  —  nicht 
blos  Haut,  Haare  und  Zähne,  selbst  Knochen  und  völlige  Skelettheile. 
Diese  Bildungen  sind  den  echten  Missbildungen  —  vitia  primae  for- 
mationis  —  zuzuzählen  und  anzunehmen,  dass  sie  entstehen  durch  Ein- 
schluss  eines  rudimentären  und  verkümmerten  zweiten  Eies  im  Leib 
des  anderen,  eine  Foetus  in  foetu-Bildung.  Sie  stehen  den  Teratomen, 
Wundergeschwülsten,  nahe,  die,  durch  solche  Störungen  der 
ersten  Anlage  entstanden,  die  wunderbarsten  und  unregelmässigsten 
rudimentären  Körpertheile  und  Stücke  eines  verkümmerten  zweiten 
Organismus  enthalten.  Yergl.  Boux'  Experimente,  pag.  311.  Die  Tera- 
tome finden  sich  besondei-s  in  der  Kreuzbeingegend. 

Für  die  Diagnose  lässt  sich  ausser  den  allgemeinen  Kennzeichen 
der  Cysten  das  sehr  langsame  Wachsthum  bei  meist  cougenitaler  An- 
lage und  der  Sitz  der  Geschwülste  verwerthen.  —  Die  vollständige 
Exstirpation   ist    die  einzig   richtige   Behandlung  der  Dermoidcysten. 

Mit  Cysten  können  gewisse  durch  Parasiten  bedingte  Bildungen 
verwechselt  werden.  Es  kommen  hier  hauptsächlich  der  Cysticercus 
eellulosae  und  der  Echinococcus  hominis  in  Frage. 

Jener  bildet  eine  überaus  zartwandige  Blase  von  Erbsen-  bis  AVallnussgrösse  mit 
einem,  so  lange  das  Thier  lebt,  aus-  und  einstülpbaren  Halse  und  Kopfe.  Darum  ent- 
wickelt sich,  seitens  des  umgebenden  Gewebes ,  eine  bindegewebige  Kapsel.  Er  kommt 
liauptsächlich  in  den  Muskeln,  dem  Unterhautzellgewebe  und  dem  Auge  vor.  Die  Diagnose 
wird  —  ausgenommen  am  Auge,  wo  der  Blasenwurm  direct  gesehen  werden  kann  — 
fast  immer  erst  bei  der  operativen  Entfernung  gemacht. 

Fig.  334  stellt  eingekapselte  Cysticerken  aus  dem  M.  sartorius  des  Menschen  in 
natürlicher  Grösse  dar  (nach  Somtner). 

Der  Echinococcus  bildet  beträchtlichere,  bis  mannskopfgrosse  Cysten  und 
Cystengeschwülste.  Auch  ihn  umschliesst  eine,  vom  Nachbargewebe  gebildete  Bindegewebs- 
kapsel.  Seine  eigene  Wandung  besteht  dann  noch  aus  einer  sehr  derben  parallel  geschich- 
teten Cuticularschicht,  auf  deren  Innenseite  eine  weichere,  zellenreiche  Parenchymscliicht 
folgt.  Diese  Schicht  bildet  durch  Wucherung  und  Sprossung  zapfenartige  Vorragungen, 
die  sich  entweder  zu  ähnlichen  Cysten  entwickeln  wie  die  Mutterc^'ste,  oder  sie  wer- 
den zu  Brutkapseln,  die  Köpfe  mit  Hakenkränzen  (Scolices)  bilden.  Fig.  33.3  (nacli 
Sommer)  ist  ein  Schnitt  durch  die  Wand  einer  Echinococcusblase,  a  die  Cuticular- 
schicht, b  die  Parenchymscliicht,  c  die  Brutkapsel  mit  Scolices.  Der  Echinococcus  kann 
zu    einer    grossen   Geschwulst    werden,    worin    die   Tochtertdasen    der  Wand   nacli  innen 

23* 


356 


V.  Caijitel.  —  Geschwßlste. 


aufsitzen  oder  frei  geworden  umherschwimmen.  Oder  es  bilden  sich  neue  Tochterblasen: 
auch  nach  aussen,  und  es  entstehen  dann  mehrfächerige  grosse  Cystengeschwülste,  die- 
nun  nicht  rundlich ,  sondern  vielhöckerig  erscheinen,  den  eigentlichen  Cystomen  im 
Aeusseren  ähnlich.  Die  Echinococcen  zeigen  ausser  deutlicher  Fluctuation  bisweilen 
Hydatidensch wirren,  ein  eigenartiges  Zittern,  bedingt  durch  die  schwingende  Be- 
wegung der  in  der  Mutterblase  frei  schwimmenden  Tochterblasen  bei  leichtem  kurzem 
Anschlagen  mit  dem  Finger.  Die  Probepunction  ergibt  eiweissfreie  Flüssigkeit ,  in  der 
sich  oft  die  frei  gewordenen  Haken  mikroskopisch  nachweisen  lassen  (Fig.  336 ,  nach 
Sommer,  freigewordene  Häkchen  aus  Echinococcusblasenj.  Hauptsitz  sind  Leber,  Lungen, 
Milz  und  Unterhautbindegewebe,  und  in  ihnen  findet  sich  vorwiegend  die  uniloculäre 
(endogene)  Form;  die  mehrfächerige  dagegen  (exogene),  Echinococcus  multilocularis, 
kommt  namentlich  im  Knochen  vor.  Die  Exstirpation  nach  vorausgegangener  Function 
ist  die  einzig  mögliche    Behandlung;    dieselbe  ist  leider  —  gerade   beim   multiloculären 


Pig.  334. 


Pig.  335. 


a       b 


Fig.  336. 


Echinococcus  —  wegen  der  beträchtlichen  Grösse  und  dem  Sitz  oft  nicht  ausführbar. 
Bülroth  incidirt  und  entleert,  füllt  mit  6— 107o  Jodoformglyceriu ,  näht  an  die  Haut 
9.n  und  verschliesst  dann.  Die  Injection  von  Jodtinctur  ist  unsicher  und  nicht  gefahrlos. 


Bösartige  epitheliale  Neubildungen. 

Epithelialcarcinom,    Krebs. 

Das  Epithelialcarcinom  oder  der  Krebs  (nach  heutiger  Be- 
nennung) wird  als  „atypische  epitheliale  Neubildung"  definirt, 
im  Gegensatz  zu  den  bisher  besprochenen  epithelialen  Neubildungen, 
die  Aehnlichkeit  mit  normalen  epithelialen  Formen  behalten.  Wohl 
zeigt  sich  die  Verwandtschaft  mit  normalen  Typen,  dem  Papillarkörper,, 
den  Drüsen  der  Haut  und  Schleimhaut  und  dem  Bau  anderer  Drüsen^ 
wie  Milchdrüse ,  Hoden  u.  s.  f. ,  im  Anfang  des  Krebses  noch  oder  in, 
frisch  entwickelten  Stellen  desselben  und,  kann  man  hier  von  specifischem 
Bau  nicht  reden  (vergl,  u.  A.  Schuchardt^  Langenheck's  Arch.,  Bd.  43) ; 
aber  bald  verwischen  sich  diese  Aehnlichkeiten  mehr  und  mehr;  die 
epitheliale  Wucherung  wird  unregelmässiger  und  in  ihren  Formen  ab- 
weichender, und  schliesslich  haben  wir  eine  Bildung  vor  uns,  durchaus 
unähnlich  den  normalen  Geweben  des  Mutterbodens.     Sie   besteht    aus 


Krebs.  Allgemeines.  357 

Epithel  und  dem  dazwischen  liegenden  gefässhaltigen  bindegewebigen 
Stroma.  Bindegewebige,  gefässführende  Streifen  von  grösserer  oder 
geringerer  Mächtigkeit,  strafferem  oder  weicherem  Gewebe,  umschlies- 
sen  rundliche  oder  spindelförmige  Räume,  worin  die  neugebildeten 
Epithelien  als  Nester  oder  Zapfen  liegen.  Das  Ganze  bekommt  da- 
durch eine  wabenartige  Anordnung,  und  dieser  „alveoläre  Bau"  ist 
gleichfalls  für  Epithelialcarcinom  charakteristisch ;  derselbe  ist  zwar  auch 
in  manchen  Sarkomen  zu  erkennen,  aber  doch  nicht  so  ausgesprochen. 
Die  Vorstellung  dieser  gegenseitigen  Verhältnisse  der  Gewebe  in 
«inem  Carcinom  mag  Fig.  337  —  Cylinderzellenkrebs  der  Schilddrüse 
nach  Wölfler  —  erleichtern.  Rechts  sind  Drüsenschläuche  von  noch 
annähernd   normalem  Bau   mit   reichlichem  bindegewebigem  Zwischen- 


Fig.  337 


/ 


(i. 


L 


'^^G^^-,^^^. 


gewebe;  in  der  Mitte  sind  die  Formen  schon  weniger  regelmässig, 
indem  die  Formen  der  Schläuche  abweichen ;  auch  die  Zellen  sind 
weniger  regelmässig  gelagert,  das  Zwischengewebe  ist  spärlicher  ge- 
worden. Je  weiter  nach  links,  um  so  mehr  weichen  die  Schlauch-  und 
Zellbildungen  von  der  Norm  ab.  Man  hat  lange  Zapfen,  die  wohl  hier 
und  dort  den  Charakter  der  Drüsenschläuche ,  die  tu])ulösc  Anordnung 
noch  erkennen  lassen,  aber  schliesslich  hört  sowohl  die  Regelmässigkeit 
der  Schlauchform,  als  die  Anordnung  der  cntbaltcnen  Zellen  zu  einander 
und  die  glcichnüissige  cylindrische  Form  derselben  auf.  Das  Zwischen- 
gewebe ist  aufs  Aeusserstc  reducirt.  Man  ist  hier  mitten  im  richtigen 
Krebsgevvebe  drin. 

Ebenso  wichtig  wie  diese  eigcntlinmliche  Anordnung  von  Epithel- 
und  Stützgewebe  ist  aber  für  das  Carcinom  das  Verhalten  zur  Fni- 


358  ■  ^-  Capitel.  —  Geschwülste. 

gebinig.  Das  Epithelialcarcinom  hat  die  Eigenartigkeit,  in 
die  Gewebe  seines  Standortes  einzudringen  und  sie  durch- 
zusetzen. Gutartige  epitheliale  Neubildungen,  Condylom  und  Blasen- 
papillora,  Fig.  324  und  326,  ruhen  auf  normaler,  höchstens  hyperämischer 
Grundlage,  auf  wenig  verändertem  Cutisgewebe  oder  Submucosa  auf. 
Das  ist  bei  Careinomen  nie  der  Fall.  Sowie  sich  die  Neubildung 
als  echter  Krebs  manifestirt,  wachsen  die  epithelialen  Massen  in  Gestalt 
von  Zapfen,  Schläuchen  (tubulöse  Form)  oder  Drüsenwindungen  (acinöse 
Form)  in  die  Unterlage,  z.  B.  Unterhautzellgewebe  oder  Submucosa  hinein 
und  weiter  in  Muskeln ,  Fascien,  Knochen ,  Haut  u.  s.  w.  (s.  Fig.  339, 
Lippenkrebs). 

Ferner  hat  das  Carcinom  nie  eine  scharfe  kapselartige 
Begrenzung,  es  ist  von  Anfang  an  diffus  und  in  die  Gewebe  infiltrirt. 
Dieses  Eindringen  der  epithelialen  Massen  in  die  Nachbarschaft  erfolgt 
vermuthlieh  längs  der  Bindegewebs-  und  Lymphspalten ,  vorwiegend 
mit  dem  Lymphstrom,  doch  demselben  auch  entgegen,  letzteres  wohl 
durch  active  Locomotionsfähigkeit  der  jungen  Epithelzellen.  Das  vor- 
handene Gewebe  —  z.  B.  Muskeln  —  verschwindet,  vermuthlieh  durch 
Druckschwund.  Nach  Ansicht  Anderer  wandelt  es  sich  in  Geschwulst- 
gewehe um  und  das  bindegewebige  Stroma  des  Nachbargewebes  wird 
zum  Strom  des  Krebses.  Doch  ist  zweifellos  ein  Theil  des  Krebs- 
stromas und  der  Gefässe  des  Krebses  neugebildet;  und  es  erfolgt  die 
Neubildung  derselben  in  der  gleichen  Weise,  wie  Gefässe  und  Binde- 
gewebe auch  sonst  sich  neu  bilden  (siehe  Regeneration).  —  Lymph- 
gefässe  und  Nerven  finden  sich  gleichfalls  in  Krebsen;  ob  neugebildet 
oder  alt,  ist  ungewiss. 

Ueber  die  Herkunft  dieser  neugebildeten  epithelialen  Massen  ist 
man  heute  so  wenig  sicher,  als  früher.  Früher  hatte  VircJiow  die  Ansicht  aufgestellt^ 
dass  die  neugebildeten  Epithelien  der  Krebse  aus  der  bindegewebigen  Matrix  hervor- 
gehen, aus  den,  Leukocyten  ähnlichen,  rundlichen  „indifferenten  Bildungszellen". 
Diese  sollten  sich  mit  Protoplasma  umgeben  oder  ihr  Protoplasma  vermehren  und 
zu  Epithelien  werden.  Derartige  Zellen  sieht  man  allerdings  in  den  peripheren 
jungen  Bezirken  der  Epithelkrebse  überall ;  was  sie  aber  sind ,  ob  gewöhnliche, 
durch  Entzündung  ausgewanderte  Leukocyten  oder  die  Vorstufen  der  Epithelien,  das  ist 
eben  die  Frage.  —  Im  Gegensatz  zu  VircJioiv  haben  Tlderscli,  Waldei/er  u.  A.  die 
Theorie  aufgestellt,  dass  Epithel  nur  aus  Epithel  entstehe  und  diesen  Satz,  der  für  die 
normale  embryologische  Entwicklung  und  auch  für  die  Regeneration  bei  Entzündung 
und  AVundheilung  fast  unumstösslich  erwiesen  ist ,  auch  auf  die  Epithelialcarcinome 
ausgedehnt. 

Andererseits  haben  wieder  Gussenhauer,  Klehs,  Schöhl  u.  A.  Beobachtungen  bei- 
gebracht, die  die  Entstehung  epithelähnlicher  oder  wirklich  epithelialer  Bildungen  aus 
Bindegewebe  nicht  ganz  unmöglich  erscheinen  lassen. 

Kerntheilungsfiguren  finden  sich  in  den  Epithelialcarcinomeu ,  besonders  in  den 
jüngeren,  peripheren  Stellen  stets  in  ziemlicher  Menge,  aber  atypisch  (Hansemann). 
Ribbert  lässt  das  Carcinom  mit  einer  Wucherung  des  subepithelialen  Bindegewebes  be- 
ginnen (Pathol.  Gewebelehre,  pag.  169 ff.).  Hauser  hat  jedenfalls  für  einen  Theil  der 
Carcinome  (Magenkrebse)  nachgewiesen,  dass  die  pathologische  Wucherung  des  Epithels 
das  Primäre  ist  und  ohne  jede  nachweisbare  Betheiligung  des  Bindegewebs  erfolgt  (u.  A. 
Virclioiv's  Axci^äxv,  141).  (Vergl.  pag.  311.) 

Der  Krebs  wächst  also  in  die  Nachbarschaft  ein,  theils  continuir- 
lich,  theils  entstehen  in  einiger  Entfernung,  Ya  bis  mehrere  Centimeter 
vom  fühlbaren  Rande  des  Krebses,  discontinuirliche  Knötchen  von  dem- 
selben Bau,  Tochterknoten,  die  mit  dem  ursprünglichen  Krebsknoten 
schliesslich  zusammenfliessen.  Neben  dieser  Ausbreitung  in  der  Fläche 
dringt  die  Neubildung,  jedoch  in  langsamerem  Tempo ,  in  die  Tiefe, 
durch  die  Muskeln  zum  Knochen   und  in  diesen  hinein. 


Krebs.  Lymphdrüseninfection. 


359 


Um  diese  Zeit  macht  sich  auch  schon  die  lufection  der  Lyniph- 
drüsen  bemerklich.  Durch  die  Lymphgetässe ,  die  ihrerseits  selten 
sichtbar  befallen  werden ,  setzt  sich  die  Wucherung  in  die  Drüsen 
fort,  diese  schwellen  an,  anfangs  oft  nicht  specifisch,  sondern  rein  ent- 
zündlich („consensuell"),  bald  aber  entwickeln  sie  sich  zu  Drüsenknoten, 
deren  Bau  ganz  dem  ursprünglichen  Krebse  entspricht.  —  Schon  in 
stecknadelkopfgrossen  Drüschen  findet  sich  oft  echtes  Carcinom.  Hier 
folgt  nun  der  Process  ganz  demselben  Verlauf,  vvie  an  der  Ursprungs- 
stelle ;  die  Drüsen  verlöthen  mit  einander  und  der  Umgebung,  nament- 
lich Gefässen  und  Nerven,  und  können  nun  schwere  Störungen  der 
Blut-  und  Lymphbewegung  und  der  Nervenleitung  machen  (Schmerzen 

Fig.  338. 


und  Staunngsödeine).  Fig.  338.  nach  Birch-HlrachfeJd.,  zeigt  eine  krebsig 
infiltrirtc  Lymphdrüse,  deren  Reste  von  Drüsenfollikcln  zum  Theil  noch 
zwischen  den  Krebszellhaufen  (Gebärmutterkrebs)  erhalten  sind.  Nach 
Fdrirk  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  32)  sollen  die  ersten  Krebszellen  in 
den  Sinus  der  Kinde  auftreten,  nachdem  Entzündung  und  kleinzellige 
Infiltration  in  der  Drüse  vorausgegangen  sind  (stets?).  —  Der  ersten  Etape 
der  Lyniplidriisen,  z.  B.  bei  Mammakrebs  der  Axillardriisen  ,  folgt  die 
Infection  der  zweiten,  der  Subclaviculardrüsen,  dieser  die  der  dritten, 
der  Supraclaviculardrüsen,  und  schliesslich  werden  die  Keime  durch  die 
grossen  Lymplistänime  in  die  Venen  und  damit  in  die  Bliitbahn  ver- 
.schle]ipt ,    werden  hier  auf   enil)olischcm    Wege  verbreitet    und    machen 


360  ^'  (Kapitel.  —  Geschwülste. 

nun,  wo  sie  liegen  bleiben,  secundäre  Krebsknoten  TMetastasen). 
Der  Krebs  hat  sich  verallgemeinert,  generalisirt.  rMiiltiple» 
Auftreten  von  primären  Carcinomen  ist  nach  Schimnielhusch  (Larifjen- 
heck's  Arch,,  39)  nicht  so  selten.) 

Beim  Krebs  haben  wir  ein  langsames  Fortschreiten  durch  die  Lymphwege  bis  in 
den  Blutkreislauf  —  meist  erst  im  Verlaufe  eines  oder  mehrerer  .Jahre ;  bei  Sarkom  ein 
unmittelbares  Einwachsen  in  die  Venenwand ,  Bildung  sarkomatöser  Thromben  und 
directer  rascher  Einbruch  in  die  Circulatiou.  Die  Stellen  der  Localisation  sind  ungefähr 
die  gleichen  wie  beim  Sarkom  —  Lungen,  Leber,  aber  beim  Krebs  namentlich  auch  die 
Knochen.  Diese  werden  an  den  befallenen  Stellen  brüchig  und  brechen  bei  kleinen 
Anlässen  („Spontanfracturen"). 

Einstweilen  ist  der  ursprüng-liche  Krebsknoten  auch  nicht  unver- 
ändert geblieben.  Er  ist  nicht  blos  unter  der  Haut  vorwärts  gedrungen, 
sondern  meist  auch  auf  die  Haut  selbst  übergegangen,  hat  sie  durch- 
brochen und  nun  tritt  oberflächlicher  oder  tieferer  Zerfall  ein,  es  ist  ein 
Krebsgeschw^ür  entstanden. 

Die  alten  Aerzte  glaubten,  jeder  Krebs  durchliefe  die  drei  Stadien  —  Beginn 
als  eine  Verhärtung  des  Mutterbodens,  Scirrhus,  dann  Bildung  eines  richtigen  Krebs- 
knotens, Cancer  occultus,  und   schliesslich  Aufbruch,  Cancer  apertus. 

Mit  dem  Eintreten  der  Geschwörsbildung  und  Jauchung  tritt  nun 
auch  die  Störung  des  Allgemeinbefindens,  das  in  einem  Theil  der  Fälle 
oft  lange  ein  befriedigendes  bleibt,  mehr  in  den  Vordergrund,  um  so 
mehr,  wenn  auch  Metastasen  in  inneren  Organen  entstehen.  —  Ueber 
die  nun  sich  entwickelnde  Krebscachexie  habe  ich  schon  pag.  315 
Mittheilung  gemacht.  Injection  von  Krebssaft  tödtet  Kaninchen  in 
1—5  Tagen  (L.  Pfeiffer). 

Verallgemeinerung  des  Krebses  tritt  in  einzelnen  Fällen  in 
äusserst  stürmischer  und  massenhafter  Weise  zu  Tage  .  die  Kranken 
fiebern  und  verfallen  rasch  und  man  findet  dann  unzählige  kleine  Knöt- 
chen   durch    den    ganzen   Körper   verbreitet  —  Carcinosis  miliaris. 

So  symptomlos  die  ersten  Anfänge  des  Krebses  verlaufen  —  dies 
ist  der  Grund,  warum  der  Kranke  es  so  oft  versäumt,  rechtzeitig  seinen 
Zustand  dem  Arzte  zu  entdecken  — ,  so  schwer  sind  die  Leiden  des 
Kranken  gegen  das  Ende  des  Krebses.  Es  ist  geradezu  charakte- 
ristisch ,  dass  der  Krebs  zu  Anfang  schmerzlos ,  selbst  nicht  einmal 
druckempfindlich  ist.  Dann  aber  stellen  sich  erst  ziehende,  später  au- 
fallsweise  durchschiessende,  „lancinirende"  Schmerzen  ein,  die  dem 
Kranken  den  Schlaf  rauben  und  gegen  die  schliesslich  alle  Schlaf-, 
örtlichen  und  allgemeinen  Betäubungsmittel  (Chloralhydrat ,  Cocain, 
Morphium  O'Oo  und  mehr)  machtlos  sind.  Noch  furchtbarer  sind  die 
gleichraässig  anhaltenden  Schmerzen,  die  eintreten,  wenn  grosse  Nerven- 
stämme (Plexus  axillaris  oder  die  Wurzeln  der  Rückenmarksnerven)  von 
krebsigen  Lymphdrüsen  umklammert  werden. 

Der  Tod  des  Krebskranken  erfolgt  am  häufigsten  durch  Er- 
schöpfung, wobei  hydrämische  Oedeme,  hypostatische  Lungenentzün- 
dung u.  dergl.  den  Kranken  quälen.  Ein  anderes  Mal  führt  eine  Meta- 
stase in  lebenswichtigen  Organen,  im  Gehirn  z.  B.,  das  Ende  herbei. 
Wieder  andere  Male,  und  das  ist  noch  das  glücklichste  Ende,  geht  der 
Krebs  auf  grosse  Gefässe  über,  arrodirt  dieselben  und  der  Kranke  er- 
liegt momentan  einer  schweren  Blutung,  oder  geht  an  mehreren 
Hämorrhagien  hinter  einander  schliesslich  erschöpft  zu  Grunde.  Der  Auf- 
bruch führt  zu  äusserst  übelriechenden  Jauchungen,  die  dem  Kranken 


Metastasen.    Metamorphosen  des  Krebses.  3ß[ 

den  Aufenthalt  in  der  menscWicbeu  Gesellschaft  fast  immög-lich  machen. 
Das  daran  sich  anschliessende  septische  Resorptionsfieber  rafft  auch 
Manchen  dahin. 

V.  Moraczeivshi  fand  im  Blut  Krebskranker  eine  Verminderung  des  Phosphor- 
gehaltes (0'04  statt  O'l  auf  100  Com).  Die  rothen  Blutkörperchen  sind  stark  vermindert 
( — 950.000  pr.  Gem.,  v.Limbeck),  die  weissen  zum  Theil  yermehrt  (Bembach,  Langenbeck's 
Arch.  46,  Lit.),  der  Hämoglobingehalt  ist  stets  herabgesetzt,  im  Durchschnitt  auf  45 — 707ui 
im  Maximum  auf  18 — 20% • 

Die  ganze  Dauer  des  Krebsleidens  beläuft  sich  meist  auf 
einige  Jahre,  doch  sind  die  einzelnen  Krebse  in  dieser  Hinsicht 
äusserst  verschieden.  Manche  Krebse  der  äusseren  Haut  können  Jahr- 
zehnte lang  getragen  werden ,  andere ,  namentlich  der  Schleimhäute, 
z.  B.  des  Kehlkopfes,  des  Darmes,  tödten  durch  die  schweren  örtlichen 
Störungen  (carcinomatöse  Verengerungen,  Stricturen,  Stenosen)  schon  im 
Laufe  eines  Jahres. 

Eine  spontane  Heilung  des  Krebses  gehört  zu  den  extrem- 
sten Seltenheiten ;  doch  sollen  Krebsknoten  gangränescirt  und  darnach 
dauernde  Heilung  eingetreten  sein .  ebenso  sollen  Krebse  während 
pyämischer  Fieber  sich  zurückgebildet  haben  (Plenio). 

Nach  Finkeinburg  soll  die  Krebssterblichkeit  in  Deutschland  von  31'1  im  Jahre 
1881  auf  43'1  im  Jahre  1890  auf  100.000  Lebende  zugenommen  haben;  in  den  Städten 
soll  sie  grösser  sein  als  auf  dem  Lande,  z.B.  in  Ostpreussen  49'2  :  23'1 ,  im  Ehein- 
land 44'6  :  22'7,  in  Berlin  62"3  (!)  auf  100.000.  (AVirkliche  Zunahme  oder  nur  genauere 
Diagnosen  ?) 

Neben  Jauchung  und  Blutungen  treten  im  weiteren  Verlaufe  andere, 
minder  wichtige  Metamorphosen  und  Degenerationen  in  den 
Krebsen  auf  fvergl.  pag.  47). 

In  den  epithelialen  Bestandtheilen  des  Krebses  treten  ,  wie  auch 
sonst  in  diesen  Gebilden ,  namentlich  Verhornung  und  Colloident- 
artung  ein. 

Die  Verhornung  befällt  besonders  in  Hautkrebsen  vorwiegend  die  älteren 
Epithelmassen  des  Krebses ,  und  in  den  Krebszapfen  oder  Schläuchen  namentlich  die 
centralen  Partien.  Werden  die  Zapfen  vom  Mikrotommesser  quer  getroffen ,  so  erhält 
man  —  vergleiche  Fig.  344  —  zwiebelschalenartige  Anordnungen  der  Epithelien,  deren 
innere  Schichten  kernlose  flache  Plättchen  sind,  die  die  Kernfarbstoft'e  nicht  mehr  an- 
nehmen ,  nach  aussen  dagegen  jüngere ,  kernhaltige.  Diese  verhornten  Massen  lassen 
sich  schon  mit  1)lossem  Auge  als  gelbgraue,  über  das  Krebsgeschwür  zerstreute  Perlen 
erkennen  und  sind,  wie  das  verhaltene  Secret  der  Talgdrüsen  der  Haut,  die  Hautcome- 
domen, bei  seitlichem  Druck  als  längliche  Würstchen  auszudrücken.  Diese  Krebs- 
comedonen  sind  einwichtigesdiagn  ostisch  es  Hilfsmittel ;  sie  kommen  auf  anderen 
Geschwülsten  und  Geschwüren  nicht  vor. 

Die  Colloidentartung  führt  zur  Bildung  des  „Gallertcarcin  oms''. 
Die  epithelialen  Bestandtheile  sind  colloid  oder  mj'xomatös  entartet.  Das  bindegewebige 
Stützgelüste  scheint  von  der  Entartung  frei  zu  bleiljen.  Diese  Geschwülste  wachsen 
wegen  ilires  enormen  Flüssigkeitsgehaltes  rasch  zu  grossen  Tumoren  heran.  Sie  finden 
sich  vorwiegend  auf  Schleimhäuten  (Magen)  und  Drüsen  (Mamma). 

EpitheUalcarcinome  können  —  Epithel  ist  ja  genug  da  —  oberflächlich  über- 
häuten,   allerdings    meist  nur  vorübergehend.     (Bei    Sarkomen    kommt  dies    nie    vor.) 

Ferner  entzünden  sich  Epithelialcarcinome  häufig  und  schrumpfen  theil- 
weise  narbig.  Man  hat  so  oft  eine  Art  spontaner  örtlicher  Heilung  vorsieh. 
Leider  findet  dafür  meist  an  anderen  Stellen  ein  Fortschreiten  statt.  Doch  gehören 
solche  Krebse  —  namentlich  der  schrumpfende  Brustkrebs  oder  Cancer  en  cuirasse 
(s.  Fig.  353)  —  inso ferne  zu  den  günstigsten,  als  sie  einen  überaus  langsamen,  oft  über 
Jahrzehnte  sich  hinziehenden  Verlauf  zeigen  und  spät  oder  nie  Metastasen  machen.  — 
Könnten  wir  diese  narbige  Schrumpfung  erzwingen,  wie  es  Thierscli  mit  seinen  Arg. 
nitr.-Lijectionen  versucht  hat,  so  wären  wir  in  der  Behandlung  des  Kreljses  einen  guten 
Schritt  weiter.  —  Verfettung  ist  in  den    älteren    centralen  Theilen   des  Krebses  di« 


J62 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Kegel.     Der  beim  Durchschneiden  eines  Krebsknotens  abfliessende  milchige  Saft  —  der 
Krebssaft  —    hält  Fettkörnchen  und  -tropf chen  und  verfettete  Epithelien  in  Menge. 


Fig.  339. 


Wir  haben  nun  die  einzelnen  Formen  der  Krebse  —  die  der 
Haut,  der  Schleimhäute  und  der  Drüsen  zu  besprechen. 

Für  die  Krebse  der  Haut  sind  Lieblingssitze  die  Ostien  des 
Körpers,  Mund,  After,  Penis,  Vulva;  dann  Gesicht  und  Stellen,  die 
schon  vorher  krank  sind  —  Geschwürs-  und  Narbenfiächen  (von  Ver- 
brennungen, Lupus  u.  dergl.).  Die  Epithelialcarcinome  der  Haut  sind, 
entsprechend  dem  Epithel  der  Haut,  Plattenepithelkrebse.  Nach 
Thiersch  unterscheiden  wir  einen  tiefen  (infiltrirten)  und  einen 
flachen  Krebs. 

Der  tiefe  Hautkrebs,  dessen  Typus  der  Krebs  der  Unter- 
lippe  ist,    geht    aus  von  den   tiefen  Epithelialgebilden  der  Cutis,    als 

welche  Thiersch  nennt  die  Wurzeln 
der  Barthaare,  die  Talgdrüsen  der- 
selben und  die  Knäuel  der  Schweiss- 
drüsen.  Er  beginnt  als  eine  kleine 
Verhärtung,  fast  ausnahmslos  an  der 
Hautgrenze  des  Lippenroths,  wird 
dann  eine  blutige ,  rissige ,  mit 
einer  oft  abgerissenen  Borke  bedeckte 
Schrunde  mit  hartem  Grunde.  All- 
mählich entwickelt  sich  ein  wirklicher 
Knoten ,  der  unter  der  Haut  und  in 
die  Substanz  der  Lippe  hinein  vor- 
dringt und  bald  tritt  Abstossung 
des  Epithels  und  Beginn  des  ge- 
schwürigen Zerfalls  ein. 

Fig.  339  zeigt  eine  von  Lippenkrebs 
befallene  Unterlippe  bei  Lupen-  (4facher) 
Vergrösserung.  In  dem  linken  noch  annähernd 
normalen  Theile  findet  sich  oben  die  Lippen- 
schleimhaut mit  ihrer  Drüsenschicht,  dann  folgt  von  oben  nach  unten  die  massige 
Muskelschicht  des  Orbicularis  oris,  dessen  Fasern  quer  geschnitten  sind;  zu  unterst  ist 
die  Kinnhaut  mit  ihrem  an  Gefässen  reichen  Unterhautzellgewebe,  den  tiefen  Einsen- 
kungen  der  Haarfollikel,  Drüsenmündungen  und  Papillen.  Hierauf  ruht  nun,  in  der 
Zeichnung  dunkler  gehalten,  der  Krebs,  als  eine  zerklüftete,  fast  hahnenkammartig  vor- 
ragende Wucherung,  a,  b  die  verdickten  Lippengefässe. 

Fig.  340  ist  dasselbe  Uuterlippencarcinom  bei  stärkerer  Vergrösserung.  Links 
sind  schräg  durchschnittene  Haarbälge ,,  in  denen  bei  d  noch  Haare  stecken.  In 
ihrem  Umkreise  findet  sich  —  anscheinend  von  den  Haarbälgen  oder  ihren  Drüsen 
ausgehend  —  junge ,  epitheliale  Neubildung ,  mit  meist  grossen ,  sich  gut  färbenden 
und  scharf  gegen  die  bindegewebige  Umgebung  sich  absetzenden  Epithelzellen.  Bei  c 
dagegen  ist  kleinzellige ,  entschieden  entzündliche  Infiltration  (die  Zone  der  „in- 
differenten Bildungszellen"  Virchotc's).  Von  b  strahlt  ein  Zug  noch  ziemlich  normalen, 
bindegewebigen  und  gefässhaltigen  Zwischengewebes  von  oben  nach  unten ,  sich  in  der 
Mitte  des  Bildes  mehrfach  theilend,  zwischen  die  epithelialen  Massen  herein.  Bei  b 
selbst  einige  noch  ziemlich  gut  erhaltene,  quer  gestreifte  Muskelfasern  (vom  M.  orbi- 
cularis oris).  Hin  und  wieder  Stellen,  die  durchschnittene  Gefässe  zu  sein  scheinen  {ej. 
Nach  rechts  und  gerade  nach  unten  (aj  begegnen  uns  ältere  Stellen  des  Krebses,  kennt- 
lich an  der  zwiebelschalenähnlichen  Anordnung  der  Epithelien.  Die  Epithelien  sind  hier 
nicht  mehr  die  grossen,  protoplasmareichen  Zellen  mit  grossen  deutlichen  Kernen,  sondern 
flache  Platten,  mit  undeutlichen  oder  gar  nicht  mehr  nachzuweisenden  Kernen  und 
schlecht  zu  färben.  Sie  sind  verhornt,  den  Zellen  des  Stratum  corneum  gleich.  Zwischen 


Hautkrebse.  Lippeukrebs.  363 

diese  zwei  älteren  Krebszapfen  mit  concentriseher  Schichtung  schiebt  sich  ein  jüngerer, 
bei  dem  diese  Anordnung  der  Zellen  erst  angedeutet  ist. 

Fig.  341  ist  ein  Unterlippenkrebs  (nat.  Grösse)  in  vorgeschrittenem  Stadium.  — 
Die  ganze  Unterlippe  ist  in  eine  zerklüftete  knollige  Masse  verwandelt,  die  von  einem 
Mundwinkel  zum  andern  reicht  und  links  bereits  in  einigen  Knoten  die  Oberlippe  er- 
griffen hat.  Auf  den  scharf  ausgefressenen  Geschwürsflächen  sieht  man  hellere  (in  natura 
graugelbe)  perlenartige  Stellen,  die  für  Krebsgeschwüre  charakteristischen  Epithelperlen 
oder  Krebscomedonen. 

Für  die  differentielle  Diagnose  sei  auf  Fig.  342  syphilitische  Geschwüre^ihin- 
gewiesen.  Beim  Krebs  harter  gewulsteter  Grund  und  ebensolcher  Rand  und  Umgebung. 
Beim  syphilitischen  Geschwür  ist  die  Umgebung  nur  wenig  infiltrirt  und  so  gut  wie 
nicht  gewulstet,  auch  der  Grund  im  Ganzen  weich.  Die  Geschwürsfläche  zeigt  bei  Krebs 
die  mehrfach  erwähnten  Epidermisperlen,  die  bei  Lues  nie  vorkommen.  Die  syphilitischen 
Geschwüre  sind  oft  mehrfach,  das  Krebsgeschwür  eine  einzige  zusammenhängende  Neu- 
bildung. Als  letztes  diagnostisches  Hilfsmittel  wäre  schliesslich  eine  antisyphilitische 
Behandlung  mit  Jodkali  (1 — l'ö  Grm.  p.  d.)  einzuleiten.  —  Wegen  der  differentiellen 
Diagnose  gegenüber  anderen  chronischen  Hautaft'ectionen  (Lupus  u.  A.)  s.  bei  Haut- 
aflectionen. 

Fig.  340. 


^^/^•^^r  ^^«^^gf^'"^^^r^^^rl»^> 


In  seinem  weiteren  Verlauf  ergreift  der  Lippenkrebs,  meist 
iinterminirend,  die  Haut  und  Weicbtheile  des  Kinns,  schliesslich  den 
Knochen  des  Unterkiefers ;  die  Schleimhaut  der  Lippe  bleibt  oft  lange 
erhalten.  Dann  folgt  Ausbreitung  auf  das  übrige  Gesicht;  ebenso  sind 
die  Submental-  und  Submaxillardrüsen  längst  inficirt  und  zu  harten 
Packeten  herangewachsen.  Jauchung,  Blutung,  seltener  Metastasen 
tödten  den  Kranken  nach  einer  Gesammtdauer  des  Leidens  von  2  bis 
5  Jahren. 

Lippenkrebs  kommt  fast  nie  bei  Weibern  vor.  Ob  er  bei  Männern  mit  unge- 
schicktem Easiren,  mangelnder  Reinlichkeit  oder  dem  Pfeifenrauchen  zusammenhängt, 
ist  nicht  sichergestellt;  jedenfalls  ist  er  bei  Städtern  viel  seltener,  als  bei  der  bäuerlichen 
Bevölkerung. 

Bei  der  Behandlung  ist  vor  Aetzmitteln,  namentlich  Argentum 
nitricum.  dringend  zu  warnen.  Die  Excision,  das  einzig  richtige  IMittel, 
ist  mindestens  IV«  Cm.  vom  fühlbaren  Rande  der  Neubildung  auszu- 
führen. Nur  in  ganz  frühen  Stadien  darf  auf  die  Ausräumung  des  sub- 
maxillaren  Ze]lge\vcl)Os  mit  den  onthaltent'n  Lymphdrüsen  verzichtet 
wcrilen. 


364 


V.  Caintel.  —  GescliwüLste. 


Die  Prognose  des  Lippenkrebses  ist  nicht  schlecht; 
hat  für  die  operirten  Fälle  eine  Heilungszahl  von  '62  Procent 
gerechnet.  (Nach  meinen  I^rfahrungen  etwas  zu  optimistisch.) 

Der  flache  Hautkrebs  (Ulcus  rodens,  Rodent  ulcer 
exedens  u.  s.  w.)  ist  entschieden  eine  specifisch  andere  Erkr 
Die  Neubildung   ist  hier  wenig  in   die  Augen  fallend ,  das  Ha 

Fig  341. 


Wörner 
heraus- 

,  L'lcus 
ankuDg. 
ui 


liehe  ist  eine  überaus  laugsam  fortschreitende,  erst  spät  in  die  Tiefe 
greifende  Geschwürsbildung  auf  hartem  Grunde.  Der  Proeess  zieht  sich 
über  Jahrzehnte  hin  und  kann  an  einzelnen  Stellen  temporär  ver- 
narben. Sowohl  die  mikroskopische  Untersuchung  (s.  Fig.  343),  als  die, 
allerdings    sehr    seltene,    Bildung  metastatischer   Knoten   zwingen   uns 


Fig.  342. 


jedoch,    den  Proeess    zu  den  Neubildungen    zu  stellen   mid    nicht,  wie 
Cohnheim  wollte,  zu  den  Geschwüren. 

Nach  Thiersch\s  Untersucliungeu  geht  der  flache  Epithelkrebs  aus  von  den  ober- 
flächlichen Epithelialgebilden  der  Cutis  (Lanugohaare  und  ihre  Talgdrüsen,  Hornschicht 
und  Rete  Malpighi);  er  beginnt  meist  als  Wucherung  der  Talgdrüsen  und  später  be- 
theiligt sich  dann  auch  das  Rete  Malpighi.  Eig.  343  flacher  Epithelkrebs  nach  TJiiersch. 
Bei  l)  Schweissdrüsenknäuel ,    die   wenig   verändert   sind    und  deren  Anordnung  zu  den 


Flacher  Hautkrebs. 


365 


Lanugohaaren  noch  nicht  wesentlich  verändert  ist,  bei  e  weicht  das  Verhalten  der  Drüsen- 
schläuche schon  mehr  von  der  Norm  ab  und  bei/  sind  nur  noch  unregelmässige  Epithel- 
nester zu  sehen,  mit  centraler  Verhornung  (g),  darüber  noch  relativ  normale  Haut  (ßete 
Malpighi  (a),  Lanugohaare  (c)  u.  s.  w.  Auf  den  Zusammenhang  mit  allerlei  anderen 
Krankheiten  der  Haut,  chronischer  Seborrhoe,  Unreinlichkeit  u.  dergl.  hat  Schuchardt 
hingewiesen.  Das  Ulcus  rodens  kommt  mit  besonderer  Vorliebe  bei  alten  Leuten  vor^ 
am  innern  Augenwinkel,  an  den  Nasenwinkeln  u.  dergl.,  auch  sonst  im  Gesicht. 

Für  die  Therapie  ist  die  Excision  in  erster  Linie  zu  nennen^ 
wobei  man  schon  bei  einer  Entfernung  von  Va — ^  Ceq.  vom  sichtbaren 
ßand  im  Gesunden  operirt.  Nachher  ist  plastische  Deckung  des  Defectes 
angezeigt. 

Busch  hat  vorgeschlagen,  diese  Stellen  täglich  mit  Wattebäuschchen  in^concentrirte- 
Lösungen  von  kohlensaurem  Natron  getaucht,  abzureiben.  Ich  habe  gelegentlich  den 
Eindruck  gewonnen,  als  ob  das  Verfahren  nicht  ohne  Nutzen  wäre.  Auch  Aetzung  mit 
Chlorzinkpaste  (1—2  Mm.  dick)  gibt,  wo  man  nicht  operiren  kann,  gute  Erfolge.    (Auge!) 

Kleine  flache  Krebse  können  auch  elektrolytisch  zerstört  werden. 

Die  Prognose  ist  die  günstigste  aller  Neubildungen;  die  Dauer 
beträgt  Jahrzehnte  und  meist  sterben  die  ohnedies  alten  Leute  mittler- 
weile an  anderen  Krankheiten. 

Fig.  343. 


Nach  Ohren  {Langenheclcs  Arch.,  37)  sterben  bei  Gesichtskrebs  an  der  Operation 
4-27o,  an  Eecidiven  27-87n.  mit  Recidiven  leben  9-77o,  ohne  Recidiv  sterben  lllVor 
recidivfrei  leben  31'97o ;  unbekannt  15"37u- 

Die  Epithelialkrebse  der  äusseren  Genitalien  sind  dem 
Lippenkrebs  im  Bau  und  Verlauf  so  ziemlich  analog.  Von  ihnen  gibt 
namentlich  der  Peniskrebs  eine  verhältnissmässig  günstige  Prognose,  da 
mit  der  Amputatio  penis  die  ganze  krebsige  Partie  gründlich  entfernt 
und  gerade  hier  die  radicale  Heilung  häutig  erzielt  wird. 

Ein  anderer  Ort,  wo  Hautkrebse  gerne  sich  entwickeln ,  ist  der 
Hodensack.  Namentlich  bei  Schornsteinfegern  ist  dieser  Krebs  öfters 
beobachtet  („Schornstein  feger  krebs")  und  der  Gedanke  liegt  nahe, 
dass  die  dauernde  Einwirkung  mangelhafter  Reinlichkeit  und  der  im 
Russ  enthaltenen  entzündungserregenden  Stoffe  hier  eine  Rolle  spielt. 
—  Unmittelbaren  Uebergang  chronisch  entzündlicher  Zustände  in  Krebs 
kann  man  bei  Paraffinari)eitern  beobachten,  an  Händen,  Scrotum  u.  s.  f. 

In  Fig.  344  ist  ein  Pa  r  affi  ii  krebs  vom  Scrotum  abgebildet.  —  In  der  rechten 
Partie  des  Präparats  deutliclier  Krcl)s.     Bei  a,  a,  a  die  charakteristischen,  im  Contrum 


366 


V.  Capitol.  —  Geschwülste, 


verhornten,  atypischen  Epitlielwucherungen ;    um    sie  herum   eine  Zone  reichliclier ,   ent- 


zündlicher Rundzelleninfiltration,    z.  B.  bei  b] 


Fig.  344. 


c  sind  leere  Gefässe.  Der  linke  AIj- 
schnitt  des  Präpaiats  zeigt  geringe 
Veränderungen ,  nur  hin  und  wieder 
einige  Rundzellen ;  ä  sind  querge- 
schnittenc  glatte  Muskelfasern  (Tunica 
dartos) ;  e  eine  in  ihrer  Wandung  stark 
verdickte  Arterie. 

Ein  ähnlicher  Vorgang  — 
Ueberg'ang-  chronischer  Entzün- 
dung in  Carcinom  —  liegt  dem 
Epi  thelca  rein  om  der  Brust- 
war ze  zu  Grunde,  wo  ein 
chronisches  Eczem  in  Krebs 
übergeht  (Pagefs  Disease)  und 
der  Entwicklung  von  Krebs  in 
Beingeschwüren  ,  Sequester- 
laden und  Fistelgängen. 


ß  CO 

Die  Schleimhautkrebse 
sind    meist    Cvlinderzellen- 
krebse.  Doch  kommen  an  einzelnen  Stellen  —  den  Stimmbändern,  der 
Vagina  —  auch  Plattenepithelkrebse  vor. 

Den  Schleimhautkrebsen  gehen  oft  länger  dauernde  örtliche  Störungen  voraus ; 
den  Krebsen  der  Wangenschleimhaut  Leukoplakia  buccalis,  eine  chronische  Epithelver- 
dickung in  Gestalt  weisslicher,  etwas  erhabener  Flecken.  Der  Zungenkrebs  soll  sich 
öfters  in  einer  Erosion  entwickeln ,  die  durch  einen  defecten  Zahn  dauernd  wund  ge- 
scheuert wird.  Für  den  Kehlkopfkrebs  soll  chronischer  Catarrh  disponirend  wirken 
(Rauchen,  öftere  Heiserkeit).  —  Magenkrebse  finden  sich  zweifellos  häufiger  bei  Leuten, 
die  zeitlebens  magenkrank  gewesen.  Hmtser  glaubt,  dass  die  Magenkrebse  sich  zum  Theil 
in  den  Narben  von  Magengeschwüren  entwickeln.  Ebenso  scheinen  chronische  Darm- 
catarrhe,  mit  Kothsiauung,  Stenosenbildungen  u.  dergl.  in  Darmkrebse  „überzugehen'", 
Blasenkrebs  sich,  in  steinhaltenden  Blasen  zu  entwickeln  u.  dergl.  m. 

Die  Schleimhautkrebse  beginnen  als  flache  verschiebliche  Knöt- 
chen, die  sich  rasch  in  der  Fläche  vergrössern  und  dann  in  die  Tiefe 
greifen.  Die  Schleimhaiitkrebse  ulceriren  früh  und  inficiren  auch  die 
Lymphdrüsen  schnell.  Sie  machen  auch  fast  ausnahmslos  bald  schwere 
Störungen ,  hauptsächlich  Verengerungen  der  erkrankten  Schleimhaut- 
canäle  —  Stimmritze,  Speiseröhre,  Pylorus,  Mastdarm.  —  Diese  Stenosen 
machen  dann  oft  die  dringlichsten  Erscheinungen,  und  wenn  die  Dia- 
gnose: Stenose  bald  klar  wird,  so  ist  die  Natur  derselben,  ob  krebsig 
oder  narbig,  oft  bis  zum  Tode  unsicher. 

Die  Schleimhautkrebse  kommen  auch  in  jüngeren  Jahren  vor. 
Ich  habe  Rectumcarcinome,  Krebse  der  Portio  vaginalis  uteri  vor  und 
um  das  zwanzigste  Lebensjahr  gesehen.  Der  Verlauf  ist  durchschnitt- 
lich ein  schnellerer,  1,  IV2  bis  2  Jahre,  natürlich  mit  Ausnahmen.  Die 
Prognose  ist  viel  schlechter ,  als  die  der  Hautkrebse  —  sie  werden, 
wegen  der  verborgeneren  Lage,  meist  erst  in  vorgerückteren  Stadien 
erkannt;  die  Operationen  sind  schwieriger  und  gefährlicher  (Peritoneum) 
und  so  ist  die  Zahl  der  Todesfälle  an  der  Operation  und  der  späteren 
Rückfälle  eine  viel  grössere. 

Fig.  345  gibt  einen  Zungenkrebs.  Die  Neubildung  dringt  von  rechts  nach 
links  in  das  Gewebe  der  Zunge  ein.     Bei  h  massenhafte  epitheliale  Massen ,    die  .  bei  a 


Schleimhautkrebse. 


367 


auch  centrale  Yerhornung  zeigen.  Links  ist  noch  Zungengewebe ,  nicht  normal ,  aber 
doch  als  solches  zu  erkennen,  vorhanden,  c  Muskelfasern,  bereits  zellig  iniiltrirt  und  in 
ihrem  Protoplasma  nicht  mehr  intact,  bei  d  lockeres  Zellgewebe,  mit  einigen  Fettzellen 
und  ausgesprochener  zelliger  Infiltration,  e  sind  Gefässe. 


Der  Zungenkrebs  unterscheidet  sich  von  tuberculösen  und  syphilitischen  Ge- 
schwüren durch  seine  Härte,  durch  Nachweis  anderer  syphilitischer  oder  tuberculöser 
Processe,  oder  eine  antisyphilitische  Cur  gibt  den  Ausschlag. 

Fig.  346  Krebs  des  Pharynx.     Die    zapfenförmige  Anordnung 
der  protoplasmareichen  und   grosskernigen  Epithelzellen   ist   eine   sehr 


Fig.  34G. 


regelmässige  und  erinnert  noch  an  den  normalen  Typu.s  der  Drüsen  der 
Schleimhaut.  Ein  reichliches  Zwischengewebe ,  theils  aus  welligem 
Bindegewebe,  theils  aus  glatten  Muskelfasern  bestehend,  umschliesst  die 
epithelialen  Mas.sen. 


368 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Fig.  347. 


In  Fig.  347   ist  ein  Epithelialcarcinom   des   Larynx   darge- 
stellt (Laryngoskopisches  Bild  nach  Tobold,  nat.  Gr.).  Vom  Stimmband 

aus  wuchert  die  höckerige  zerklüftete  Ge- 
schwulst in  das  Larynxinnere  und  gegen 
die  Stimmritze  hin. 

Fig.  348  ist  ein  Mastdarmkrebs. 
Ausser  den  schönen  Cylinderzellen  fällt 
der  ausgesprochen  drüsige  Bau  der  Neu- 
bildung auf,  deren  Abstammung  von  den 
normalen  Schlauchdrüsen  des  Mastdarmes 
ohne  weiteres  klar  wird. 

Die  Blasenkrebse  treten  bald  als 
gestielte  polypenartige  Geschwülste  auf, 
den  in  Fig.  326  geschilderten  Papillomen  ähnlich.  Die  Neubildung 
von  drüsen-  und  schlauchartigen  epithelialen  Wucherungen  dringt 
auch  in  die  Tiefe  des  Gewebes ,  Schleimhaut ,  Submucosa ,  Mus- 
cularis.  Der  Grund  ist  auch  nach  der  Abtragung  der  Geschwulst  hart, 
rauh,  höckerig  und  derb  anzufühlen  (diagnostisch  wichtig!).  —  In 
anderen  Fällen  tritt  der  Krebs  von  Anfang  an  als  flächenhafte  derb- 
knotige Einlagerung  in  das  Gewebe  auf  —  „infiltrirter  Blasenkrebs". 
Die  Blasenkrebse  sind  Pflasterzellenkrebse. 

Die    Schleimhautkrebse    der   weiblichen   Geschlechtsor- 
gane erscheinen  meist  zunächst  als  flache  Infiltrate  und   werden  dann 


Fig.  348. 


zum  harten  knotigen,  oft  etwas  erhabenen  Geschwür  —  namentlich  an 
der  Portio  vaginalis  („Erosionsgeschwür").  —  Mikroskopisch  findet  man 
sehr  schöne  Drüsenschläuche  oder  Epitheleinstülpungen  mit  regelmässigen 
Cylinderepithelien,  den  normalen  drüsigen  Schleimhautgebilden  ähnlich. 
Später  erfolgt  dann  ein  Einwachsen  in  die  Tiefe,  wobei  auch  die  Form 
der   epithelialen   Bildungen   eine   weniger   regelmässige   wird.     In  den 


Drüsenkrebse. 


Mammacarcinom. 


369 


späten  Stadien  kommt  es  oft  zur  Bildung-  grösserer  höckeriger  Ge- 
schwülste, namentlich  von  der  Portio  vaginalis  ausgehend,  die  —  von 
einer  entfernten  Aehnlichkeit  her  —  Blumenkohlgewächse  genannt 
werden.  Die  Krebse  des  Uterus  sind  'Cylinderzellenkrebse ,  die  der 
Vagina  bestehen  aus  Pflasterzellen. 


Für  die  Drüsenkrebse  ist  das  beste  Beispiel  das  Mamma- 
carcinom. Es  beginnt  als  ein  kleiner,  schmerzloser,  harter,  aber  nicht 
ganz  scharf  umschriebener  Knoten  —  Fibrome  u.  dergl.  Greschwülste 
fühlen  sich  distincter  an  —  in  einem  Drüsenlappen  der  Mamma,  häufig 
im  äusseren  Quadranten.  Er  wächst  unmerklich  und  langsam,  indem 
er  sich  allmählich  nach  den  übrigen  Theilen  der   Drüse  hin  verbreitet. 

Fig.  349  gibt  einen  Durchschnitt  dui'ch  einen  Krebsknoten  einer  63jährigen  Frau 
in  halber  Grösse.  Der  fast  gänseeigrosse  Tumor  erscheint  makroskopisch  gegen  die  Um- 
gebung noch  ziemlich  scharf  abgesetzt  (mikroskopisch  existirt  eine  solche  scharfe  Tren- 

Fig.  349. 


nungsliuie  keineswegs).  In  frischem  Zustand  war  er  blass.  fleischfarben,  mit  einge- 
sprengten zahli'eichen  hellgelben  verfetteten  Stellen.  Von  der  .Scliaittfläche  floss  etwas 
milchige  fette  Flüssigkeit  —  der  bekannte  Krebs saft.  Das  Gefüge  war  ein  derbes. 
Um  den  in  zwei  Hälften  auseinandergelegten  Geschwulstknoten  liegt  die  grauliche,  ge- 
körnte, noch  erhaltene,  aber  zum  Theil  atrophische  Drüsensubstanz. 

Im  weiteren  Verlauf  breitet  sich  nun  der  Krebs  einerseits  nach 
der  Haut  hin  aus,  verwächst  mit  ihr,  es  bilden  sich  massenhafte  Knöt- 
chen in  der  Haut,  schliesslich  bricht  er  auf  und  das  Ganze  wird  zum 
stinkenden  ,  jauchigen  Krebs  (s.  Fig.  351).  Andererseits  verwächst  er 
mit  dem  unterliegenden  'M.  i)ectoralis  major,  durch.setzt  denselben,  ja  er 
kann  auf  die  Rippen  und  die  Pleura  sich  fortsetzen  und  —  als  »Schluss 
des  Leidens  —  eine  (liäniorrhagischc)  Pleuritis  hervorrufen.  Einst- 
weilen sind  natürlich  auch  die  Lymphdrüsen  der  Axilla,  der  Infra-  und 
Supraclaviculargegend  erkrankt ;  es  kommen  Blut-  und  Lyniphstauungen 
im  Arm,  grässlichc  Schmerzen  in  den  umwachsenen  Nerven  des  Plexus 
axillaris,  oder  es  haben  sich  innere  Metastasen  gebildet,  in  Knochen, 
Leber  u.  s.  w.,  und  die  Kranken  gehen  an  der  Krebskaehexie,  Blutungen, 
Jauchung  u.  dergl.  zu  Grunde. 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  u.  Tlierapic.  2.  Aufl.  24 


370 


V.  Capitel.  —  Gfischwülste. 


Blllroth  unterscheidet  4  Hauptformen  des  Brustkrebses. 

1.  Die  tlieils  weicbereu,  theils  härteren  Carcinom knoten  TMark- 
schwämme).  Vergl.  Fig.  349.  Mikroskopiscli  sind  die  Geschwülste  von 
acinösem  Bau,  Fig.  350.  Im  unteren  Theil  die  drüsigen  Wucherungen 
in  Gestalt  von  Blasen  und  Schläuchen,  bestehend  aus  sch(3nen,  grossen, 
protoplasmareichen  Zellen ,  grösstentheils  Cylinderzellen.  In  der  Um- 
gebung entzündliche  Infiltration.  Rechts  ein  gegen  die  Haut  heranwach- 
sender Krebszapfen. 

2.  Die  carcinomatöse  Infiltration  ist  meist  von  Anfang  au 
ohne  scharfe  Grenzen,  geht  bald  auf  die  Haut  über  und  bildet  rasch 
zahlreiche  Knötchen  in  der  Haut.  Fig.  351  nach  Billroth  (doppelseitigj. 
Von  der  Warze  ist  rechts  nichts  mehr  zu  sehen  links  ist  sie  geschwürig 
verändert,  beiderseits  grosse  Krebsgeschwüre  mit  mis>farbigem  hartem 
Grund  und  unregelmässigen  Rändern.    Weithin  ist  die  Haut  durchsetzt 

Fig.  350. 


mit-  grösseren  und  kleineren  Knötchen.  Die  Infiltration  der  Achsel- 
drüsen ist  angedeutet.  Selbstverständlich  ist  dieser  Fall  jenseits  der 
Grenzen  eines  operativen  Eingriffes.  Diese  Form  macht  frühzeitige 
innere  Metastasen.  Histologisch  findet  mau  in  Geschwülsten  dieser  Art 
Bilder  wie  in  Fig.  352  (auch  als  tubulöser  Krebs  bezeichnet).  Die 
Anordnung  der  grossen  protoplasmareichen  Zellen  ist  mehr  eine  strang- 
förmige,  namentlich  in  dem  linken  Theil  des  Präparats.  Die  Lagerung 
der  Zellen  ist  eine  weniger  regelmässige  und  gewinnt  namentlich  in 
dem  rechten  Theil  des  Präparats,  wo  die  Neubildung  in  das  Binde- 
gewebe hineinwächst,  stellenweise  Aehnlichkeit  mit  Sarkom. 

3.  Der  atrophirende  schrumpfende  Brustkrebs  (Cancer  en 
cuirasse).  Fig.  353  (nach  Blllroth).  Von  der  linken  Brust  ist  eigent- 
lich nichts  mehr  vorhanden ;  an  ihre  Stelle  ist  ein  dem  Knochen  fest 
aufsitzendes  carcinomatöses  Geschwür  getreten,  dessen  Grund  von  harten 
Knötchen    gebildet    wird.     Von    dieser    Geschwürsfläche    ziehen    tiefe 


Brustkrebs. 


371 


harte  Narbenstränge  nach  allen  Richtungen,  namentlieh  nach  den  Acbsel- 
höhlen  hin;  ebenso  ist  die  ganze  iinigebende  Haut  in  ein  starres  un- 
nachgiebiges Infiltrat  verwandelt,  daher  der  Name  Panzerkrebs,  weil 
er  den  Thorax  wie  ein  Panzer  einschnürt.  —  Diese  Krebsform  zieht 
sich  über  eine  Reihe  von  Jahren  hin  und  neigt  weniger  zu  Metastasen. 
Mikroskopisch  sieht  man  oft  auf  weiten  Strecken  nur  starres,  faseriges 
Bindegewebe  mit  nur  wenig  epithelialer  Neubildung,  die  anscheinend 
sofort  wieder  von  dem  massigen  Narbengewebe  erdrückt  wird. 

Viel  Statistik  über  Maromageschwülste  findet  sich  bei  Poulsen  {Langenheck's 
Arch.,  42). 

Vielfach  auf  Psorospermien  zurückgefülirt  wird  die  von  Paget  zuerst  beschriebene 
Krankheit  der  Brustwarze,  die  zuerst  mehr  eiue  Art  chronisches  Eczem  darstellt,  später 
aber  als  Krebs    anzusehen  ist.     Es    finden    sich    dabei   in    den   gewucherten   Epithelien 

Fig.  351. 


Psorospermien  ähnliche  Zelleinschlüsse,  die  lJctrier'ad\ew  Kürperchen.  Vergl.  u.  A.  auch 
Schidten,  LangenhecKs  Arcli.,  48. 

4.  Der  Gallertkrebs  (Colloidkrebs).  eine  in  der  Mamma  seltene 
Carcinomspecies  mit  colloider  Umwandlung  der  Epithelien.  Er  bildet 
rasch  zu  enormer  Grösse  hei'anwaclisende  Geschwülste ,  mit  rapidem 
klinischem  Verlauf. 

Beim  Hodenkrebs  finden  sich  von  den  Öamencanälchen  aus- 
gehende Wucherungen  von  Cylinderepithelien,  in  Form  von  Schläuchen. 
Regressive  Metamorphosen  —  \'erlettungen  ,  Blutungen  .  C'ystenbiidung 
sind  häufig.  Klinisch  bilden  diese  (ieschwüiste  zicndich  rasch  wach- 
sende Geschwülste,  die  von  ."syphilitischen  Ibidcntuuiorcn  oft  nur  durch 
die  antiluetische  Behandlung  unterschieden  werden  kijnnen.  Von  llnden- 
sarkomen  —  vom  Stützgewebe  des  Hodens  ausgehend  —  lassen 
sie   sich    oft    erst    durch  das    Mikroskop    unterscheiden:    doch    wachsen 

24* 


372  V.  Capitel.  —  Geschwülste. 

letztere  meist  noch  schneller  und  zu  noch  grösseren  Geschwülsten  heran. 
Früh  exstirpirt  durch  Entfernung  des  ganzen  Hodens  (Castrationj,  kehren 
sie  mitunter  nicht  wieder. 

In  Fig.  337  ist  ein  Schilddrüsenkrehs  abgebildet.  Das 
Charakteristische  der  Abbildung  ist  bereits  auf  pag.  357  hervor- 
gehoben. Vergl.  auch  Fig.  15  (colloide  Entartung  der  Scliilddrüse). 
Diese  rasch  wachsenden  Tumoren  sind  übel  berüchtigt  durch  die  früh- 
zeitigen Verwachsungen  mit  den  Eingeweiden  des  Halses ,  namentlich 
der  Luftröhre,  die  von  ihnen  bald  auf's  Aeusserste  verengt  wird. 
Sie  sind  viel  weniger  beweglich,  als  die  gutartigen  Schilddrüsenge- 
schwülste und  wegen  ihrer  allseitigen  Verwachsungen  schwer,  oft  gar 
nicht  ganz  auszulösen,  sie  kehren  rasch  wieder. 

Die  Melanocarcinome  verhalten  sich  in  ihrem  histologischen 
Bau  ganz  wie  sonstige  Carcinome,  von  denen  sie  sich  durch  die  braunen 

Fig.  352. 


'^It^:  -  -     > 


und  schwarzen  Pigmentkörner  unterscheiden.  Diese  liegen  wie  bei  den 
Sarkomen  theils  in,  theils  zwischen  den  Zellen.  Sie  kommen  haupt- 
sächlich auf  der  äusseren  Haut  und  auf  Schleimhäuten  als  bräunliche 
oder  schwärzliche  Tumoren  vor.  Ihr  klinischer  Verlauf  ist  dem  der 
Melanosarkome  ähnlich,  wenn  sie  auch  vielleicht  nicht  ganz  so  bösartig 
sind,  wie  diese,  namentlich  nicht  so  rasch  und  massenhaft  Metastasen 
machen  und  nicht  so  schnell  zum  Tode  führen.  Die  Melanocarcinome 
sind  seltener  als  die  Melanosarkome. 

Das,  Cholesteatom  (Perlgeschwulst,  Margaritom)  ist  eine  eigenartige,  nament- 
lich im  Felsenbein  vorkommende  epitheliale  Neubildung,  deren  Zellen  (Plattenepithelien) 
ungefähr  in  der  Art  der  Hautkrebse  angeordnet  sind.  Die  Epithelien  sind  verhornt,  und 
der  Tumor  ist  sehr  gefässarm,  auf  dem  Durchschnitt  trocken,  p er Imutter artig  glänzend 
und  gekörnt.  Er  wächst  inficirend,  durchbricht  z.  B.  das  Felsenbein,  geht  auf  die  Dura 
über,  kehrt  exstirpirt  sehr  leicht  wieder  und  scheint  auch  Metastasen  zu  machen. 
BenecJce  (Virchoir's  Ärch.,  142)  nimmt  auch  ein  von  den  Endothelien  der  Meningen 
ausgehendes  Endotheliom  an  und  verwirft  den  Namen  Cholesteatom  ganz. 


Allgemeine  Diagnose  der  Geschwülste. 


373 


Allgemeine  klinische  Diagnose,  Therapie  und  Prognose  der  Geschwülste. 

Um  uuter  diesen  zahlreichen  Geschwiilstformen  sich  leichter  zu 
Orientiren,  ist  es  zweckmässig,  stets  einen  bestimmten  Gang  der  Unter- 
suchung festzuhalten.  —  Wie  bei  jeder  Untersuchung,  geht  der  Unter- 
suchung der  vorhandenen  Geschwulst,  der  Aufnahme  des  „Status 
praesens",  die  Anamnese,  die  Erhebung  der  Vorgeschichte  voraus. 

Gutartige  Geschwülste  sind  häufig  vererbt;  bei  den  bösartigen  scheint  der 
Heredität  durchaus  nicht  die  wichtige  Rolle  zuzukommen,  die  ihr  von  Vielen  auch  heute 
noch  zugetheilt  wird.  Vergl.  pag.  314. 

Wichtig  ist  das  AI  t  er  des  Kranken.  Bei  ganz  kleinen  Kindern  kommen 
gewisse  angeborene  Geschwülste,  z.  B,  bösartige  Nierentumoren ,  dann 
das  Cystoma  colli  congenitum,  vor.  Das  15.  bis  30.  Lebensjahr  ist  die 
Liebliugszeit  der  Sarkome;  der  Krebs  sucht  vorwiegend  die  letzten 
Decennien  heim.     Gutartige  Neubildungen  sind  über   das  ganze  Leben 

Fig.  353. 


fast  gleichmässig  zerstreut.  Geschwülste,  die  seit  der  Geburt  vorhanden 
sind  und  wegen  deren  man  erst  in  späteren  Lebensjahren  consultirt 
wird,  sind  meist  gutartig. 

Von  fr  über  erworbenen  c  lir  o  n  i  s  c  h  e  n  K  r  a  n  k  h  e  i  t  e  n  si  nd  bei  der  Anam- 
nese namentlich  Syphilis  und  Tuberculose  zu  berücksichtigen.  Syphilitische  und  tuber- 
kulöse Knochengeschwülste,  Hoden-  und  Brusttumoren,  Lymphdrüsengeschwülste  sind 
schon  mehr  als  einmal  selbst  von  erfahrenen  Chiiiirgen  als  bösartige  Neubildungen  ent- 
fernt worden.  Luetische  Geschwülste  werden  durch  Quecksilber  und  Jodkali  beeinflusst, 
tuberculose  Attectionen  durch  den  Nachweis  anderweitiger  oder  früherer  tuberculöser 
Leiden  wahrscheinlich  gemacht.  Bei  Drüsen-,  Knochen-  und  Milzgeschwülston  kann 
gelegentlich  Leukämie  mit  in  Frage  kommen. 

Nach  V.  Esmarch  (Chir.  Congr.,  1895)  hat  man  an  den  Zusammenhang  mit 
Syphilis  zu  denken,  wenn  sonst  Zeichen  von  Syphilis  am  Körper  vorhanden  sind, 
bei  allen  Geschwülsten,  die  sich  primär  in  willkürlichen  Muskeln  entwickeln,  bei  sarkom- 
artigi-n  Bildungen,  wenn  diese  nach  reiner  Entfernung  erst  langsam,  dann  immer  rascher 
recidiviren  (Eecurring  fibroids),  schliesslich  bei  allen  Tumoren,  die  durch  Jod,  (Quecksilber, 
Arsenik,   ZHtviann's(^hes  Decoct,  Wundrose,  Streptokokkentoxine  beeinflusst  werden. 

Geschlechtliche  Unterschiede  kommen  wenig  in  Bctraclit.  —  Bei  den 
Weibern  finden  sich  überwiegend  Brustdrüsen-  und  l'teruskrebse,    ilagegen  fast   nie    ein 


374  V.  Capitel.  —  Geschwülste. 

Unterlippenki'ebs ;  beim  Manne  viele  Unterlippenkrebse  und  nui-  als  extreme  Rarität  ein 
Brustdrüsenkrebs. 

Beschäftigung,  Lebensweise  und  Gewohnheit  spielen  nur  in  einzelnen 
Fällen  eine  EoUe.  Das  Epithelialcarcinom  der  Unterlippe  kommt  fast  nur  in  der  bäuer- 
lichen Bevölkerung  vor.  .Starkes  Rauchen  wird  als  wichtig  für  Lippen-,  Wangen-,  Kehl- 
kopfkrebse angegeben ;  Unreinlichkeit  (Phimose)  für  Peniskrebse  und  die  Gesichtskrebse 
a,lter  Leute.  Gewisse  Beschäftigungen,  Paraffin-,  Petroleumindustrie  u.  s.  f.,  sollen  zu 
Hautkrebsen  Anlass  geben  (Schornsteinfegerkrebs).  Manches  andere  —  der  Einfluss  der 
Bodenbeschaffenheit  auf  Kröpfe  —  ist  bei  den  einzelnen  Geschwülsten  angegeben. 
Ebenso,  dass  für  manche  Geschwülste  (Sarkome)  eine  Verletzung  als  Anlass  angegeben 
wird ,  für  andere  (Krebse)  vorausgegangene  chronische  Entzündungen  und  andauernde 
Reizungen.  (Vergl.  pag.  314.) 

Es  kommt  nun  die  Frage  über  den  Anfang  und  bisherigen 
Verlauf  des  Leidens.  —  Man  fragt,  wann  die  Geschwulst  zuerst  be- 
merkt wurde  und  wo,  ob  sie  dem  Knochen  aufgesessen,  unter  der  Haut 
verschieblich  gewesen  u.  dergl. 

Eine  wichtige  Frage  ist  die  nach  der  Wachsthumsgeschwin- 
digkeit  der  Geschwulst.  Langsame,  gleichmässige  Entwicklung 
spricht  meist  für  Gutartigkeit.  Rasches  Wachsthum  ist  mit  Ausnahme 
von  cystischen  Geschwülsten  ominös.  Plötzliche  Wachsthumszunahme 
ist  sehr  verdächtig,  ebenso  sprungweises  Wachsthum,  Ganz  rapide  Zu- 
nahme, z.  B.  über  Nacht  (durch  Blutung  in  die  Geschwulst),  ist  fast 
nur  bösartigen  Neubildungen  eigen  (vorwiegend  weichen  Sarkomen). 
Periodisches ,  namentlich  der  weiblichen  Menstruation  gleichzeitiges 
Wachsthum,  zeigen  manche  gutartigen  Geschwülste  der  Schilddrüse  und 
der  weiblichen  Brustdrüse.  Li  der  Schwangerschaft  wachsen  alle  Tu- 
moren, besonders  aber  die  malignen,  sehr  schnell  (Lücke). 

Eine  weitere  Frage  ist  noch,  ob  die  Geschwulst  bisher  Schmerzen 
gemacht  hat.  Gutartige  Geschwülste,  Lipome,  Osteome,  Fibrome 
u.  s.  w.,  sind  meist  schmerzlos,  von  den  Tubercula  dolorosa  (pag.  319) 
abgesehen ,  die  oft  geradezu  fürchterliche  neuralgische  Schmerzen 
machen.  Von  den  bösartigen  Geschwülsten  sind  die  Sarkome  meist 
während  ihrer  ganzen  Dauer  schmerzlos.  Die  Krebse  sind  es  nur  an- 
fangs; dann  stellen  sich  periodische,  durchschiessende,  „lancinirende" 
Schmerzen  ein  und  zum  Schluss.  wenn  Nervenäste  umwachsen  werden, 
continuirliche  ausstrahlende  Schmerzen. 

Die  letzte  Frage  ist  dann  die,  ob  der  Träger  bisher  eine  Ein- 
wirkung der  Geschwulst  auf  sein  Allgemeinbefinden  erfahren  hat. 
Gutartige  Geschwülste  lassen  meist  die  Gesundheit  des  Trägers  ganz 
unberührt;  doch  ist  der  umgekehrte  Schluss  falsch,  dass  die  Geschwulst 
eine  gutartige  ist,  weil  der  Träger  blühend  aussieht.  Die  meisten  bös- 
artigen Geschwülste  verändern  im  Anfang  die  Gesundheit  des  Kranken 
nicht,  und  dies  ist  oft  der  Grund,  warum  die  Kranken  nicht  früh  genug 
zur  Operation  sich  entschliessen. 

Ehe  man  bei  der  Aufnahme  des  Status  praesens  an  die  Unter- 
suchung der  Geschwulst  selbst  geht,  ist  eine  physikalische  Untersuchung 
von  Lungen  und  Herz,  auch  eine  Prüfung  des  Urins  auf  Eiweiss  und 
Zucker  zu  machen.  —  Sehr  bedenklich  ist  es,  wenn  es  schon  zur  „Ge- 
schwulstkachexie"  —  als  Zeichen  der  Bösartigkeit  der  Neubildung  — 
gekommen  ist.  Die  Kranken  sehen  fahl,  graugelb,  abgemagert  aus; 
die  Haut  ist  welk ,  schilfert  namentlich  an  den  Beinen  ab  (Pityriasis 
tabescentium).  In  vorgeschrittenen  Fällen  sind  schon  Oedeme  der  Füsse 
vorhanden.  Der  Gesichtsausdruck  ist  ein  matter  und  müder. 


Allgemeine  Diagnose  der  Geschwülste.  375 

Bei  der  Untersuchung  der  Geschwulst  selbst  gibt  die  Form  und 
Grösse  meist  wenig  entscheidende  Aufschlüsse.  Ausgesprochene  Kugel- 
gestalt spricht  für  cystische  Natur.  —  Unregelmässige,  höckerige  Form 
kommt  gutartigen  und  bösartigen  Geschwülsten  zu. 

In  der  Bestimmung  der  Grösse  sind  genaue  Aufzeichnungen  nach 
Centimetern  zu  macheu,  Länge,  Breite,  wo  möglich  auch  Höhe  und 
Umfang  festzustellen  und  zugleich  eine  vergleichende  Messung  der  gesunden 
und  der  kranken  Seite  (Bein,  Arm,  Rumpfbälfte)  vorzunehmen.  Die 
bekannte  Grössenscala ,  „von  Sandkorn-  bis  Mannskopfgrösse  und 
darüber"   soll  man  höchstens  nebenher  gebrauchen. 

Sehr  grosse  Geschwülste  sind  häufiger  gutartig;  einer  bösartigen 
Geschwulst  wäre  der  Kranke  meist  erlegen,  ehe  sie  die  Grösse  von 
zwei  Mannsköpfeu  u.  s.  w.  erreicht  hätte. 

Die  Betastung  (Palpation)  gibt  über  Form  und  Oberfläche 
der  Geschwulst  Aufschluss,  ob  sie  kuglig,  eiförmig,  flach  u.  s.  w. ;  dann 
ob  die  Oberfläche  eine  gleichmässige ,  glatte  oder  unregelmässige, 
höckerige  ist  u.  s.  w. 

Die  Consistenz  gibt  werth volle  Aufschlüsse.  Man  kann  hier 
eine  Härtescala  aufstellen,  die  am  zweckmässigsten  sich  an  die  be- 
kannten normalen  Gewebe  des  Körpers  anschliesst.  Man  hat  knöcherne 
Härte  —  Osteome,  Osteosarkome,  Odontome,  Exostosen,  Reitknochen  — 
ihr  nahestehend  Knorpelconsistenz  —  Enchondrome.  Von  sehr  derbem, 
hartem  Gefiige  sind  dann  die  Fibrome ,  Fibrosarkome ,  manche  Car- 
cinomknoten,  Neurome.  Zu  den  weichen  Geschwülsten,  die  häufig  sich 
zugleich  elastisch  anfühlen,  gehören  Lipome  (lappig),  weiche  Fibrome, 
weiche  Sarkome  (Rundzellensarkome),  manche  Drüsencarcinome.  Sie 
fühlen  sich  vielfach  schon  wie  diejenigen  Geschwülste  an ,  die 
Flüssigkeit  enthalten,  sie  bieten  Pseudofluctuation  (ähnlich  der  Con- 
sistenz des  schwangeren  Uterus).  Fluctuation  (s.  pag.  31),  (die  Fort- 
leitung des  Stosses  von  dem  einen  Finger  auf  den  an  anderer  Stelle 
aufgesetzten  zweiten  Finger),  bieten  diejenigen  Geschwülste,  die 
freie  Flüssigkeit  enthalten.  Steht  der  Inhalt  unter  starkem  Druck,  so 
fühlt  sich  die  Geschwulst  oft  nebenbei  sehr  prall  und  hart  an  und  das 
Gefühl  der  Fluctuation  kann  schliesslich  fast  verschwinden  und  nur  sehr 
schwer  nachzuweisen   sein. 

Wichtig  ist  das  Verhalten  zur  Umgebung  der  Geschwulst, 
besonders  ob  die  Geschwulst  gegen  die  Nachbarschaft  verschieb- 
lich ist  oder  nicht.  Man  prüft,  ob  die  Haut  über  der  Geschwulst  ver- 
schoben und  in  Falten  gehoben  werden  kann,  ob  die  Geschwulst  mit 
der  Haut  verlöthet  ist  oder  nicht,  ob  die  Geschwulst  gegen  Fascie, 
Muskel  und  den  Knochen  verschoben  werden  kann ,  ferner  ob  eine 
Halsgeschwulst  den  Bewegungen  des  Kehlkopfes,  der  Luftröhre  beim 
Schlucken  folgt,  eine  Bauchgesclivvulst  den  Excursionen  des  Zwerchfells 
bei  der  Atlimung,  der  Bewegung  des  Uterus  (durch  die  Utcrussonde)  u.  s.  w. 
folgt.  Nur  gutartige  Geschwülste  und  bösartige  nur  in  früheren 
Stadien  (meist  gar  nicht)  sind  gegen  die  Umgebung  verschieblich. 
Auch  über  den  Ausgangspunkt  der  Geschwulst  orientirt  man  sich 
so.  Liegt  nur  die  Haut  darüber,  so  mag  die  Geschwulst  vom  Unter- 
hantzellgewebe ausgehen;  fühlt  man  eine  stratfi;  Fascie  darüber  weg- 
gespannt, so  wird  sie  von  den  unterhalb  dieser    gelegenen  Theilen  — 


376  ^'  Oapitel.  —  Geschwülste. 

Muskeln,  grossen  Gefässen,  Eingeweiden  ausgehen.  Ganz  in  der  Tiefe 
ruhen  Knochengeschwülste  u.  s.  w. 

Pulsation  kommt  den  Gefässgeschwülsten  zu.  Z.B.Aneurysmen 
(s.  Krankheiten  der  Gefässe)  zeigen  den  Arterienpuls.  Ein  anderes  Mal 
ist  es  ein  mehr  gleichmässig  periodisch  verstärktes  Sausen  odei*  Brausen 
(ähnlich  den  Venengeräuschen).  Dies  kann  in  allen  sehr  gefässreichen 
Geschwülsten  vorkommen  (cavernös  entarteten  Geschwülsten ,  Struma 
aneurysmatica ,  Sarcoma  teleangiectodes  u.  s.  w.).  Doch  können  Ge- 
schwülste auch  durch  Verwachsung  mit  grossen  Gefässen  (Aorta)  pulsa- 
torische  Erschütterung  gewinnen.  Mit  der  Gehirnrückenmarkshöhle  frei 
communicirende  Geschwülste  (Meningocele  u.  s.  w.)  können  Gehirn- 
pulsation zeigen. 

Andere  Geschwülste  sind  compressibel,  namentlich  die  Gefäss- 
geschwülste  (Angiome) ;  man  kann  den  Inhalt  in  die  übrigen  Blutge- 
tässe  durch  Fingerdruck  entleeren.  Sie  sind  meist  auch  erectil,  das 
heisst  sie  schwellen  an  beim  Exspirium  (Schreien). 

Zu  beachten  ist  ferner  noch  das  Verhalten  der  Haut.  Gut- 
artige Tumoren  lassen  meist  die  Haut  unverändert;  nur  wenn  sie  sehr 
gross  sind,  wird  sie  gespannt,  kann  sogenannte  Striae  zeigen  (weisse, 
sehnig  glänzende  Streifchen),  lieber  bösartigen  Tumoren  ist  die  Haut 
häufig  gespannt  und  zugleich  ödematös.  Dabei  sieht  man  ausgedehnte, 
flache  Venennetze  über  die  Geschwulst  weg  ziehen  —  ein  Zeichen  der 
Circulationsstörung  in  der  Tiefe  (vergl.  pag.  340). 

Entzündung  der  Haut  kommt  bösartigen  Geschwülsten  eben- 
falls häufiger  zu ,  als  gutartigen.  Ein  fast  untrügliches  Zeichen  der 
Bösartigkeit  ist  das  Vorhandensein  kleinster  Knötchen  (miliarer  Krebs- 
knötchen)  in  der  umgebenden  Haut. 

Aufbruch  der  Geschwulst  und  Bildung  einer  Geschwtirs- 
fläche  ist  bei  bösartigen  Geschwülsten  in  den  fortgeschrittenen  Stadien 
die  Regel ;  bei  gutartigen  eine  Seltenheit  und  nur  die  Folge  besonderer 
Veranlassung  (Druckbrand  der  Haut  bei  sehr  grossen  Geschwülsten, 
Verletzungen,  uuzweckmässige  Behandlung).  Bei  gutartigen  Neubildungen 
kommt  es  dann  bisweilen  wieder  zu  richtiger  Heilung;  bei  bösartigen 
folgt  gewöhnlich  Verjauchung.  —  Krebse  zeigen  hin  und  wieder  Epithel- 
bekleidung und  Narbenbildung ,  wenigstens  an  einzelnen  Stellen ;  bei 
Sarkomen  findet  man  dies  nie. 

Blutungen  sind  vorwiegend  bösartigen  Geschwülsten  eigen. 

Wirkliche  Pigmentirung  (schwarz,  braun)  zeigen  nur  bösartige 
Tumoren. 

In  keinem  Fall  darf  man  eine  genaue  Betastung  der  Lymph- 
drüsen der  betreffenden  Gegend  unterlassen,  z.B.  der  Achseldrüsen 
bei  Mammatumor.  Sind  sie  nicht  grösser  als  die  der  anderen  Seite,  so  ist 
dies  ein  gutes  Zeichen ;  es  handelt  sich  entweder  um  eine  gutartige 
Geschwulst  oder,  wenn  es  eine  bösartige  ist,  um  ein  frühes  Stadium, 
wo  eine  Operation  Aussicht  auf  Erfolg  gibt.  Man  begnüge  sich  hiebei 
nicht  mit  den  Drüsen  der  ersten  Etappe,  sondern  betaste  auch  die  der 
zweiten  und  dritten  —  bei  Mammageschwülsten  ausser  den  Achsel- 
drüsen die  Infra-  und  Supraclaviculardrüsen ;  bei  einer  Geschwulst  am 
Unterschenkel  die  Femoral-,  Inguinal-  und  Iliacaldrüsen  u.  s.  w. 

Die  Zahl  der  Geschwülste  ist  gleichfalls  nicht  ganz  ohne 
diagnostische  Bedeutung.  Zahlreiche  Geschwülste  von  annähernd  gleichem 


Allgemeine  Diagnose  der  Geschwülste.  377 

Alter  und  Entwicklungszustand  sind  meist  gutartig  —  multiple  Fibrome, 
Neurome,  Osteome  u.  dergl.  Hat  man  eine  grosse  Geschwulst  und  zalil- 
reiche  viel  kleinere,  so  sind  diese  wohl  als  Metastasen  der  grossen  auf- 
zufassen und  die  Neubildung  ist  eine  bösartige. 

Für  die  dif f erentielle  Diagnose  von  Sarkom  und  Carcinom  werden 
meist  folgende  Piinkte  als  wichtig  hervorgehoben :  Die  Sarkome  gehören  vorwiegend  der 
Blüthezeit  des  Lebens  an ,  die  Krebse  mehr  den  späteren  —  Involutionsjahren.  Das 
Sarkom  schliesst  sich  oft  an  eine  Verletzung  an ;  dem  Carcinom  gehen  öfter  chronische 
Störungen  voraus.  Carcinome  finden  sich  nur  da ,  wo  epitheliale  Elemente  vorhanden 
sind.  Sarkome  gehen  von  der  Bindegewebsgruppe  aus.  Die  Sarkome  sind  oft  anfangs 
deutlich  abgekapselt,  die  Krebse  nie.  Entzündungserscheinungen  zeigen  Krebse  häufiger 
als  Sarkome.  Blutungen  in  die  Substanz  der  Geschwulst  sind  beim  Krebs  selten  und 
klein,  beim  weichen  Sarkom  häufig  und  massenhaft.  Blutungen  aus  grossen  Arterien 
kommen  beim  Krebs  öfters  vor,  bei  Sarkomen  kaum  jemals.  Lymphdrüseninfection  ist 
beim  Krebs  die  Eegel,  bei  Sarkomen  weniger  häufig.  Ist  Aufbruch  erfolgt,  so  können 
Carcinome  temporär  oder  stellenweise  benarben  (d.  h.  sich  mit  Epithel  bedecken) ,  bei 
Sarkomen  kommt  dies  nie  vor.  Die  Bildung  kleiner  secundärer  Hautknötchen  in  der 
Umgebung  der  Hauptgeschwulst  kommt  vorwiegend  dem  Krebs  zu,  selten  triift  man  dies 
beim  Sarkom. 

Eine  vorliegende  Geschwulst  wäre  etwa  in  folgender  Weise  zu  diagno- 
sticiren  und  zu  beschreiben: 

1.  Gesunde,  kräftig  entwickelte  Person,  35  Jahre  alt.  An  der  Aussenfläche  des 
Oberarms  im  mittleren  Drittel  eine  12  Cm.  lange,  9  Cm.  breite  Geschwulst;  Umfang  des 
Oberarms  an  dieser  Seite  (links)  38  Cm.  gegen  32  Cm.  rechts ;  ohne  bekannte  Ent- 
stehungsursache, seit  6  Jahren  bemerkt,  nicht  schmerzhaft,  nicht  druckempfindlich.  Haut 
unverändert,  eher  blässer.  Die  Geschwulst  ist  unter  der  Haut  etwas,  gegen  Fasele  und 
Muskeln  leicht  verschieblich  ;  Form  länglich  rund,  Oberfläche  halbkugelig,  etwas  höckerig. 
Consistenz  weich,  fast  fluctuirend ;  der  Tumor  setzt  sich  deutlich  aus  einer  Anzahl  ein- 
zelner Knoten  zusammen.  Diagnose :  Fettgeschwulst,  Lipom. 

2.  23jähriger  junger  Mensch  ;  etwas  kränklich  aussehend.  An  Lunge,  Herz  u.  s.  w. 
keine  nachweisbaren  Veränderungen ,  kein  Fieber.  Der  linke  Oberschenkel  stark  ge- 
schwollen, Difl'erenz  gegen  rechts  9  Cm.  —  Die  Anschwellung  sitzt  an  der  äusseren 
vorderen  Fläche  des  Oberschenkels,  entsprechend  seinem  mittleren  Drittel ,  nach  oben 
und  unten  ist  die  Grenze  der  Geschwulst  durch  die  Inspection  nicht  genau  festzu- 
stellen. Haut,  von  einigen  erweiterten  Venen  abgesehen,  so  ziemlich  normal.  —  Patient 
klagt  über  leichte,  für  „rheumatisch"  gehaltene  ziehende  Empfindungen  im  Bein.  Patient 
weiss  über  den  Beginn  seines  Leidens  keine  Angaben  zu  machen.  Bei  der  Betastung 
fühlt  man  eine  nahezu  knochenharte,  halbkugelige,  flache  Geschwulst,  über  der  die 
Haut  leicht,  Fascien  und  Muskeln  in  Streckung  nur  schwer,  in  gebeugter  Stellung  des 
Beins  und  dadurch  erschlafl'ter  Muskulatur  leichter  zu  verschieben  sind.  Soweit  dies  bei 
der  dicken  überliegenden  Weichtheilschicht  möglich  ist,  lassen  sich  ziemlich  scharfe 
Grenzen  der  Geschwulst  herau.stasten.  Die  Untersuchung  ist  nicht  besonders  schmerz- 
haft. Die  Beweglichkeit  des  Beins  ist  nur  durch  das  Gefühl  der  Schwere  im  Bein  be- 
schränkt. Femoral-,  Inguinal-  und  Uiacaldrüsen  links  stärker  entwickelt  als  rechts,  nicht 
schmerzhaft  oder  drackempfindlich. 

Diagnose:  Periostsarkom  des  linken  Oberschenkels. 

Ein  Sarkom  des  Marks  würde  den  ganzen  Knochen  blasenförmig  auftreiben,  nicht 
an  der  Aussenseite  eine  circumscripte  Anschwellung  erzeugen.  —  Eine  Entzündung  der 
Beinhaut  würde  heftigere  Schmerzen,  wahrscheinlich  Fieber  machen :  die  Muskeln  wären 
bei  dieser  Grösse  der  Anschwellung  mit  derselben  fest  verlöthet ;  die  Anschwellung  würde 
selbst  der  genauesten  Betastung  keine  scharfen  Grenzen  geben;  entzündliche  Anschwel- 
lungen sind  fast  nie  so  scharf  begrenzt  wie  Geschwülste;  die  Drüsen  der  Seite  wären 
vergrössert  und  schmerzhaft. 

Die  Operation  (liohe  Oberschenkelamputation  oder  E.xarticulation  im  Hüftgelenk) 
wird  abgelehnt,  weil  die  kranken  Uiacaldrüsen  doch  nicht  entfernt  werden  können.  — 
Die  nach  2  Monaten  erfolgte  Section  wies  ausgedehnte  innere  Metastasen  nach. 

3.  54jährige  Frau,  früh  gealtert  erscheinend  (präsenil),  mager,  matt  aussehend; 
bisher  gesund,  in  der  rechten  Brust  vor  25  Jahren  in  pucrperio  eine  eitrige  Mastitis. 
Vor  i  Jahren  angeblich  ein  Stoss.  Seit  Vj  Jahren  eine  „Verhärtung'*  in  der  Brust  be- 
merkt, hin  und  wieder  durchschiessende  Schmerzen.  —  Innere  Organe  ohne  nachweis- 
bare Abnormitäten.     Rechte  Brust  etwas   grösser   als  die  linke,    ungefähr  18  Cm.  breit 


378  ^-  t-'apite].  —  Geschwülste. 

und  12  Cm.  hoch,  gegen  16  :  10  Cm.  links.  Haut  etc.  beiderseits  gleich,  welk,  gerunzelt. 
Die  rechte  Brustwarze  stärker  eingezogen. 

Im  äusseren  Quadranten  der  rechten  Mamma  fühlt  man  einen  über  hühnerei- 
grossen  harten  Knoten,  leicht  höckerig;  gegen  die  übrige  Drüse  nicht  zu  verschieben, 
nicht  scharf  gegen  diese  abgesetzt.  Kaum  druckempfindlich.  Die  Haut  ist  über  ihm 
noch  verschieblich,  ebenso  wie  die  ganze  Drüse  sich  leicht  über  dem  Musculus  pectoralis 
major  hin-  und  herschieben  lässt.  Drüsen  der  Axilla  rechts  erbsen-  bis  bohnengross, 
links  nicht  zu  fühlen.  Infra-  und  Supraclaviculardrüsen  ohne  nachweisbare  Verände- 
rung gegen  links. 

Diagnose :  Carcinoma  mammae  (vermuthlich  knotige  Form). 

Sarkom  ist  auszuschliessen  wegen  des  höheren  Alters  der  Trägerin,  der  harten 
Consistenz  und  des  langsamen  "Wachsthums.  Sarkome  sind  meist  weicher,  wachsen 
schneller,  verlöthen  früher  mit  der  Haut,  zeigen  früh  ektatische  Venen.  Lymphdrüsen- 
schwellung ist  beim  Sarkom  selten,  beim  Krebs  die  Regel.  Sarkome  sind  ganz  schmerzlos, 
Krebse  zeigen  bald  die  lancinirenden  Schmerzen.  Gegen  Adenom  spricht  das  Alter  und 
die  Lymphdrüsenschwellung,  die  Einziehung  der  Warze,  dasselbe  spricht  gegen  F  i  b  r  o  m 
und  Fibroadenom.  Ebenso  das  verhältnissmässig  rasche  Wachsthum.  Mastiten  ver- 
laufen mit  heftigen  Schmerzen  und  Entzündungserscheinungen,  schliessen  sich  meist  un- 
mittelbar an  eine  bestimmte  Ursache,  Lactation,  Verletzung  u.  s.  w.  an,  sind  mit  Fieber 
verknüpft,  kommen  fast  nur  diesseits  des  Climacteriums  vor.  Gegen  Cysten,  Lipom 
u.  s.  w.  spricht  die  Consistenz. 

In  der  Behandlung  der  Geschwülste  spielt  das  Messer  die 
erste  Rolle;  seit  die  Einführung  der  Antisepsis  die  Exstirpation  der 
meisten  Geschwülste  zu  einer  fast  gefahrlosen  Operation  gemacht  hat, 
mehr  denn  je.  Die  Entfernung  der  Geschwülste  ist  ein  um  so  berech- 
tigterer Eingriff,  als  es  sich  hier  nicht  wie  etwa  bei  der  Amputation 
eines  Beins  um  eine  dauernde  Verstümmelung,  sondern  durch  Ent- 
fernung der  für  den  Organismus  werthlosen  Geschwulst ,  um  Wieder- 
herstellung eines  rein  physiologischen  Zustandes  handelt.  Doch  ist 
in  jedem  Falle  die  Gefahr,  die  möglicherweise  mit  der 
Operation  für  den  Kranken  verknüpft  sein  kann,  mit  der 
Gefahr  zu  vergleichen,  die  ihm  mit  Sicherheit  aus  der  Ge- 
schwulst erwächst. 

Gutartige  Geschwülste  fordern  nur  durch  besondere  örtliche 
Verhältnisse  zu  sofortigem  Eingreifen  auf  —  Kehlkopfpolypen ,  sehr 
grosse  Unterleibsgeschwülste  u.  dergl.  Sollte  die  Geschwulst  nur  mit  er- 
heblicher Lebensgefahr  (wegen  Gefahr  der  Blutung,  tiefer  Lage  u.  s.  w.) 
entfernt  werden  können  und  sind  schwere  Störungen  von  ihr  nicht  zu 
befürchten,  so  mag  man  sie  unberührt  lassen.  Ist  aber  die  Geschwulst 
leicht  und  gefahrlos  zu  entfernen ,  wie  dies  meist  bei  den  leicht  aus- 
schälbaren gutartigen  Geschwülsten  der  Fall  ist,  so  genügt  der  AVunsch 
des  Kranken,  der  dadurch  genirt,  entstellt  wird  oder  die  sichere  Aus- 
sicht   auf  spätere   schwerere    Störungen    als    Anzeige   zur    Entfernung. 

Bösartige  oder  verdächtige  Geschwülste  sind,  wenn  irgend 
möglich,  sofort  zu  entfernen,  und  zwar,  wenn  thunlich,  mit  ihren 
Lymphdrüsen  und  dem  diese  umgebenden  Binde-  und  Fett- 
gewebe. 

Auf  statistische  Zahlen  der  Gefährlichkeit  einzelner  Operationen  ist  nicht  so  viel 
zu  geben,  als  persönliche  Erfahrung  der  einzelnen  Operateure.  So  hat  Bülrotli  für 
Amputatio  mammae  eine  Mortalität  von  20'77oi  Esmarch  10-22° /q,  Fischer  20-4:°/ q, 
Volkmann  7'63  /(,,  Küster  14'397r..  Diese  zum  Theil  aus  vorantiseptischer  Zeit  stammen- 
.den  Zahlen  sind  durch  die  Erfolge  von  heute  längst  überholt.  Ein  Todesfall  durch 
Amputatio  mammae  kommt  heute  nur  noch  durch  besondere  Umstände  (Herzkrankheit 
u.  dergl.)  vor.  —  Bei  Operationen  in  der  Bauchhöhle  ist  z.  B.  bei  Ovarialgeschwülsten 
die  Sterblichkeit  auf  1— 37o  (Lcuvson  Tau)  herabgedrückt.  Weniger  günstig    steht   es 


Allgemeine  Behandlung  der  Geschwülste.  379 

mit  den  Schleimhautkrebsen,  die  zu  gleicher  Zeit  eine  Eröffnung  des  Peritoneums  und 
des  Darms  nöthig  machen.  Hier  ist  die  Gefahr  einer  septischen  Infection  der  Bauchfell- 
höhle eine  sehr  naheliegende,  und  die  Mortalität  an  der  Operation  allein  dürfte  immer- 
ihin  mit  15 — 20%  (Mastdarmkrehse),  30 — 40%  (Darmkrebse)  anzusetzen  sein.  —  Ope- 
rationen von  Geschwülsten  der  Nasenhöhle,  des  Schlund-  und  Kehlkopfs  leiden  unter  der 
Gefahr  des  Eiufiiessens  von  Blut  und  "Wundsecret  in  die  Lunge  und  der  dadurch  ent- 
stehenden Aspirations-  oder  Fremdköi-perpneumonien.  Die  Mortalität  der  Kehlkopf- 
exstirpation  als  solcher  ist  allein  schon  40 '/q. 

Nicht  ausser  Acht  lassen  darf  man  die  muthmasslichen  Folgen 
der  Operation.  Bei  einer  Amputation  eines  Beines  lässt  sich  der 
Schaden  noch  durch  ein  künstliches  Glied  verdecken  und  mildern,  der 
Zustand  eines  Kehlkopfexstirpirten  nach  der  Operation  oder  eines  Mast- 
darmoperirten,  der  den  Koth  nicht  mehr  halten  kann,  ist  dagegen  ein 
höchst  bemitleidenswerther,  selbst  wenn  er  „geheilt"  ist. 

Von  fast  noch  entscheidenderer  Wichtigkeit  als  die  Frage  nach 
der  Mortalität  der  Operation  ist  die  Frage  nach  dem  Enderfolg  der- 
selben, nach  der  Zahl  der  definitiven  Heilungen  bei  bösartigen 
Neubildungen. 

Hier  gehen  nun  die  Ansichten  der  Aerzte  sehr  auseinander.  Manche 
alten  Aerzte  behaupten,  dass  das  Operiren  nur  das  Leben  der  Kranken 
abkürze.  Diese  Anschauung  findet  man  auch  im  Lager  der  Homöo- 
pathen. Diese  Meinung  ist  entschieden  unrichtig.  Grosse  Zahlenzu- 
sammenstellungen haben  ergeben,  dass  die  Summe  der  Operirten  länger 
lebte,  Va — 1  Jahr,  als  die  Summe  der  Nichtoperirten. 

Wie  viel  dauernd  geheilt  sind,  darüber  lauten  die  Angaben 
gleichfalls  sehr  verschieden.  Durchschnittlich  betrachtet  man  einen 
kranken  als  geheilt,  bei  dem  nach  3  Jahren  noch  keine  Spur  eines 
Rückfalles  aufgetreten  ist.  Es  sind  jedoch  Fälle  bekannt,  wo  nach 
<3 ,  8 ,  11  Jahren  Recidiv  eintrat ;  dagegen  wieder  andere ,  wo  nach 
20,  30  Jahren  kein  Recidiv  eingetreten  war.  —  lieber  die  Möglich- 
keit einer  Radicalheilung  des  Krebses  durch  das  Messer 
kann  ein  Zweifel  nicht  bestehen;  ebenso  Avenig ,  dass  einem 
Kranken  von  vielleicht  55 — 60  Jahren,  der  ohne  Operation  binnen  ein 
bis  zwei  Jahren  elend  zu  Grunde  gegangen  wäre,  wesentlich  genützt 
ist,  wenn  man  sein  Leben  durch  die  Operation  um  6,  8  Jahre  ver- 
längern und  so  ihn  das  normale  Lebensende  fast  erreichen  sehen  kann. 
Schon  die  Aussicht  auf  mehrjährige  Palliativheilung  berech- 
tigt zur  Operation. 

Wird  als  Heilung  eine  Zeitdauer  von  3  Jahren  nach  der  Operation 
ohne  nachweisbares  Recidiv  angesehen,  so  erhält  man  z.  B.  für  die  bös- 
artigen Briistdrüsengeschwülste  folgende  Zahlen:  BlUrotli  geheilt  5"59Vo, 
Eswarrh  ll-öö^/o,  Fischer  Q-M^o,  Volkmann  IG"]  9%,  Küster  25-39o  o  — 
Differenzen  um  das  4-  bis  5fache  I  Kocher  hat  z.  B.  von  5  Pharynx- 
krebsen  eine  Radicalheilung,  von  14  Zungenkrebsen  5,  von  6  Mastdarm- 
krebsen 4  u.  s.  w. 

Ueber  die  Ergebnisse  der  Operationen  l)ei  Krebs  ist  u.  A.  v.  Meyer, 
Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  28,  zu  vergleichen. 

Die  Frage,  wann  eine  Geschwulst  zu  operiren  ist,  lässt 
sieh  leicht  beantworten:  So  früh  als  möglich;  sobald  die  Diagnose 
gestellt  ist.  Zögern  darf  man  hitch.^tens  bei  Xcnliildiingon.  über  deren 
gutartigen  Charakter  kein  Zweifel  möglich  ist. 


380  V.  Capitel.  —  Geschwülste. 

Die  übrigen  Behandlungsmethoden  kommen  neben  der 
blutigen  Exstirpation  kaum  in  Betracht.  —  Die  Ligatur  CAbbindenj, 
das  Ecrasement  (Abquetschen),  pag.  271,  die  Abtragung  mit  der  galvano- 
kaustischen Schlinge,  pag.  272,  kann  bei  gestielten  Geschwülsten  ge- 
legentlich nützlich  sein.  Einige  bei  gutartigen  Geschwülsten  wirksame 
innerliche  Mittel  etc.  sind  bei  den  einzelnen  Geschwulstformen  erwähnt. 
Die  Technik  der  Aetzung  besprechen  wir  bei  den  inoperabeln  Neu- 
bildungen. 

Die  Therapie  inoperabler  Neubildungen  ist  eine  der 
schwersten  Pflichten  des  ärztlichen  Standes. 

Die  Entscheidung,  ob  eine  Geschwulst  noch  operirbar  ist  oder 
nicht ,  wird  natürlich  von  verschiedenen  Chirurgen  im  Einzelfall  ver- 
schieden getroffen,  je  nach  Erfahrung,  Muth  u.  s.  w.  des  Operateurs. 
Doch  lassen  sich  einige  Regeln  aufstellen.  Eine  bösartige  Neubildung 
soll  nicht  mehr  operirt  werden,  wenn  das  Vorhandensein  von  inneren 
Metastasen  zweifellos  ist.  Dasselbe  gilt,  wenn  die  Neubildung  bereits 
eine  solche  örtliche  Ausdehnung  gewonnen  hat,  dass  eine  Heilung, 
selbst  mit  Hilfe  von  Transplantationen  u.  s.  f.,  nicht  mehr  zu  erwarten 
ist,  z.  B.  Mammacarcinome  mit  sehr  ausgedehnter  Hautinfiltration.  Oder, 
wenn  die  Neubildung  soweit  in  die  Tiefe  geht,  dass  eine  völlige  Ent- 
fernung ohne  Gefährdung  lebenswichtiger  Organe  nicht  mehr  möglich 
ist,  z.  B.  wenn  ein  Brustkrebs  die  Thoraxwand  bereits  durchwachsen 
hat.  Diese  Indication  ist  nur  eine  relative.  Dann  wird  man  eine 
Operation  unterlassen,  wenn  die  Lymj)drüsen  schon  so  fest  mit  Knochen, 
Nerven  und  Gefässen  verwachsen  sind,  dass  die  muthmasslich  eintreten- 
den Störungen  von  den  Kranken  doch  nicht  mehr  ertragen  werden 
(consecutive  Gangrän,  Blutungen  u.  s.  f.). 

Die  meisten  Chirurgen  unterlassen  eine  Operation,  wenn  sie  von 
der  Unvermeidbarkeit  des  Recidivs  überzeugt  sind,  weil  doch  voraus- 
sichtlich nicht  alles  Krankhafte  entfernt  werden  kann  —  festgelöthete 
Uterus-  oder  Darmkrebse,  Infection  tiefliegender,  nicht  zu  exstirpirender 
Lymphdrüsen  u.  s.  w. 

Ist  der  Kräftezustand  der  Kranken  ein  sehr  schlechter,  die  Ab- 
magerung eine  hochgradige,  Oedeme  u.  s.  w.  vorhanden,  so  ist  die  Ab- 
lehnung der  Operation  auch  meist  geboten.  Solche  Kranke  —  z.  B. 
Magenkrebse  —  haben  oft  gar  nicht  mehr  die  zur  Wundheilung  nöthige 
Energie  des  Kreislaufs. 

Gibt  man,  vielleicht  nach  Berathung  mit  einem  zweiten  Arzt,  den 
Versuch  der  Radicalheilung  auf,  so  erlischt  damit  die  Pflicht,  sich  des 
hoffnungslosen  Kranken  anzunehmen ,  keineswegs.  Man  kann  viel 
thun,  um  ihm  die  oft  furchtbaren  Leiden  seiner  letzten  Leidenszeit  zu 
erleichtern. 

Oft  gewähren  dem  Kranken  Palliativoperationen  eine  längere 
Pause  scheinbarer  Genesung. 

Diese  Palliativoperationen  haben  namentlich  den  Zweck,  die  den  Kranken  con- 
sumirende  und  quälende  Janchung  auszuschalten ;  Blutungen  zu  stillen  oder  ihnen  zuvor- 
zukommen und  die  Schmerzen  zu  mindern.  Hier  spielt  die  Entfernung  der  ver- 
jauchten Masse  mit  dem  scharfen  Löffel  unter  strengster  Antisepsis  die  erste 
Eolle ;  die  Desinfection  erfolgt  mit  starken  Sublimatlösungen  (1  :  1000),  Chlorwasser  oder, 
was  vielleicht  noch  wirksamer  ist,  5— 8proc.  Chlorzinklösung.  Nachdem  die  Massen 
ausgekratzt  sind,  stillt  man  die  Blutung  mit  antiseptischer  Tamponade  (Jodoformgaze) 
oder  brennt  die  Fläche  kräftig  mit  der  Piatina  candens.  In  manchen  Fällen  kann  man 


Allgemeine  Behandlung  der  Geschwülste.  381 

auch  noch  eine  Aetzung  anschliessen.  Zur  Nachbehandlung  eignen  sich  am  besten  Dauer- 
verbände mit  Jodoformgaze  und  darüber  Holzwatte.  Sollten  diese  zur  Bekämpfung' 
des  Übeln  Geruchs  nicht  genügen,  so  sind  auch  Umschläge  mit  4-,  6-  bis  8proc.  essig- 
saurer Thonerdelösung  zweckmässig.  Sarkome  eignen  sich,  wegen  ihres  Blutreichthums, 
ihres  raschen  Wachsthums ,  ihrer  mangelnden  Tendenz  zu  jeder  Art  von  Vernarbung' 
oder  Epithelbekleidung  weniger  für  Palliativoperationen,  als  Krebse. 

In  den  vorgerückten  Stadien  von  Neubildungen  spielen  die  Aetz- 
mittel  eine  Rolle. 

Die  Aetzmittel  wirken  meist  coagulirend  auf  das  Organeiweiss,  d.  h.  sie  entziehen 
den  Geweben  —  normalen  und  pathologischen  —  sehr  energisch  Wasser  und  wirken 
so  zerstörend.  Die  Gewebsstructur  wird  dabei  oft  nur  wenig  verändert;  in  Chlorzink- 
schorfen z.  B.  habe  ich  später  die  einzelnen  Gewebe  mikroskopisch  ganz  wohl  diiferen- 
ziren  können. 

Für  Neubildungen  eignet  sich  das  nur  oberflächlich  wirkende  Argentum  nitricum 
nicht  (Arg.  nitr.  gibt  einen  silb erweissen ,  am  Licht  sich  schwarzfärbenden  Schorf); 
ebenso  wenig  sind  die  Säuren  zweckmässig  (Schwefelsäure  grünlich-schwarzer  Schorf), 
Salpetersäure  (nur  für  AVarzen  u.  dergl.,  gelber  Schorf,  von  Xanthoproteinsäure).  Auch 
die  Chlor-,  Bromessigsäuren  und  reine  Essigsäure  (Eisessig)  (weisser  Schorf,  sehr  wenig^ 
schmerzhaft)  dürften  nur  in  seltenen  Fällen  genügen.  Chromsäure  ist  gefährlich  wegen 
Gefahr  der  Allgemeinintoxication.  Von  der  Milchsäure,  die  eine  Zeit  lang  zur  Zerstörung- 
bösartiger  Gewächse  sehr  empfohlen  war,  habe  ich  nichts  Besonderes  gesehen,  ebenso 
wenig  von  der  Citronensänre ,  die  für  die  Anhänger  der  Naturheilmethode  das  allein 
.,uaturgemässe"  Mittel  gegen  Krebs  ist.  Die  Quecksilberi^räparate,  in  er.ster  Linie  Hydrar- 
g3'rum  bichloratum  corrosivum  (Sublimat),  sind  sehr  schmerzhaft  und  bieten  keine  be- 
sonderen Vortheile.  Gelöst  wird  letzteres  am  besten  in  Alkohol  (in  Wasser  ist  es  erst 
1  :  20  löslich). 

Von  den  Alkalien  werden  Aetzkali  (Kali  hydricum)  in  Lösungen 
(1:2)  oder  rein  (in  sehr  zerfliesslichen  Stangen)  angewandt,  weniger 
bei  Neubildungen  als  bei  Schankerbubonen.  Es  dringt  tief  ein  und 
verwandelt  die  Gewebe  rasch  in  einen  schmierigen  schwarzen,  bald 
trocknenden  Brei.  Aehulich  wirkt  das  seltener  gebrauchte  Aetznatrou. 
Weniger  energisch  wirkt  Aetzkalk  (Calcarea  viva,  Calcarea    caustica). 

Für  Neubildungen  sind  zweckmässig  einige  Pasten -Präparate, 
Mischungen  in  Brei-  und  Teig  form,  die  auf  die  Neubildung  aufgetragen 
werden  und  ungefähr  so  tief  wirken,  wie  die  Paste  dick  ist.  Die  ge- 
sunden Gewebe  werden  mit  Heftpflaster  geschützt,  das  wie  ein  Kranz 
um  die  Stelle  herumgeklebt  wird  (Pflasterkorb).  Auch  Collodium,  Vaseline 
u.  s.  f.  schützen.  Etwas  fliesst  immer  über,  daher  macht  man  die  Paste 
eher  zu  klein,  als  zu  gross.  In  erster  Linie  zu  nennen  ist  die  Chlor- 
zinkpaste (Canquom''s>Q.hG  Paste;  4  Chlorzink  mit  1,  2,  3,  4  Theilen 
Mehl  und  etwas  Wasser  angerührt,  wirkt  je  nach  der  Stärke  ver- 
schieden schnell  und  tief).  Bei  den  starken  Pasten  (1:1 — 1:2)  wird 
der  Schorf  ungefähr  so  dick,  wie  die  Paste  aufgetragen  ist.  W^iener 
Aetzpaste  (Pasta  caustica  viennensis)  —  5  Theile  Aetzkali  mit 
6  Theilen  Aetzkalk  und  Spiritus  werden  zur  Paste  gerührt.  Die  Arsen- 
paste (Frere  Cosme)  ist  wegen  ihrer  enormen  Schmerzhaftigkeit  und 
der  Gefahr  der  Allgemein  Vergiftung  mit  Recht  ausser  Gebrauch.  Es 
wurde  ihr  ein  specifischer  Einfluss  auf  den  Krebs  zugescliriel)en. 

In  der  messerscheuen  Zeit  des  Mittelalters  bis  in  den  Anfang  dieses  .Jalirhundert& 
wurden  die  Neubildungen  von  Anfang  an  mit  Aetzung  behandelt  und  die  Aetzmittel 
wurden  nicht  blos  auf  die  freie  Fläche  der  Geschwulst  aufgetragen  ,  sondern  in  Form 
von  Aetzstiften ,  Aetzpfeilen  in  den  Grund  der  Neubildung  direct  eingestossen ,  oder 
nachdem  ihnen  mit  dem  Messer  oder  dem  Glüheisen  der  Weg  gebahnt  war,  eingeschoben. 
Fig.  354  und  355  machen  das  Verfahren  anschaulich.  Fig.  354  ist  die  Cauterisation 
parallele  ou  en  faisceau ,  wo  die  Geschwulst  ganz  gespickt  wird  mit  parallel  einge- 
schobenen Aetzpfeilen.  —  Fig.  355  Cauterisation  circulaire  ou  en  raj'ons  sollte  die  Basis 
der  Geschwulst  zerstören  und  damit  diese  zur  Gangrän  bringen.  Dann  wurde  noch 
Cauterisation  centrale,  croisee.  lin^aire  etc.  geübt. 


382 


V.  Capitel.  —  Geschwülste. 


Ist  man  von  der  Machtlosigkeit  jedes  Eingriffes  iihei'zengt .  so 
bleibt  nur  noch  übrig,  den  Kranken  zu  Tode  zu  pflegen.  Jodoform  und 
stark  absorbirende  Verbandstoffe  (Holzwolle,  Torf,  Kohlenpulver)  be- 
kämpfen die  Jaucbung;  auch  Umschläge  —  essigsaure  Thonerdc,  Ohlor- 
wasser  sind  nützlich.  Von  schmerzstillenden  Salben  fPeriibalsam  oder 
Borvaseline  mit  Extr.  Opii,  Belladonnae,  Cocain  u.  s.  w.j  habe  ich  nur 
wenig  befriedigende  Resultate  gesehen.  Das  souveräne  Mittel  ist 
Morphium  subcutan,  das  man  dreist  in  grossen,  oft  wiederholten  Gaben 
verabreichen  darf.  —  Constante  Eisbehandlung  verzögert  das  Wachs- 
thum  der  Neubildung,  mildert  die  Schmerzen  und  ist  vielen  Kranken 
subjectiv  angenehm. 

Die  übrigen  gegen  bösartige  Neubildungen  vorgeschlagenen  Mittel 
verdienen  mehr  in  dem  Gedanken ,  dass  vielleicht  später  auf  diesen 
Wegen  etwas  zu  erreichen  sein  mag,  genannt  zu  werden ,  als  wegen 
ihrer  thatsächlichen  Erfolge. 

Schon  lange  ist  es  bekannt ,  dass  in  einzelnen  Fällen  ein  über  eine  bösartige 
Neubildung  weggehendes  Erysipel  Verkleinerung,  selbst  Heilung  des  Processes  ergeben 
hat;  so  hat  auch  Plenio  [Langenhech's  Arch.,  37)  die  Totalresorption  eines  grossen 
Melanosarkoms  während  eines   schweren,  andauernden,    hohen  Fiebers   von   pyämischem 


Fig.  354. 


Fig.  355. 


Charakter  beobachtet.  Andererseits  hat  Janiche  nach  einem  Erysipel  rasche  und  be- 
denkliche Verschlimmerung  eines  Brustkrebses  gesehen.  Diese  Beobachtungen  waren  die 
Grundlage  für  die  Bestrebungen  Colei/s,  der  von  43  bösartigen  Neubildungen  sarkoma- 
tösen (?)  Charakters  (vergl.  pag.  373  v.  Esmarcli  über  Syphilome)  bei  11  Heilung  er- 
zielt haben  will  durch  subcutane  und  intravenöse  (!)  Einspritzung  von  Streptokokken- 
toxinen (1/10—10  Theilstriche  einer  Pravaz'?,c\ien  Spritze  von  1  Gem.).  Gesteigert 
wird  die  Giftigkeit  durch  Zusatz  von  Prodigiosus  -  Culturen.  Die  Filtrate  der  Culturen 
sind  wirksamer,  als  die  durch  (kurzes)  Aufkochen  sterilisirten  Bouülon  -  Culturen. 
Die  zahlreichen  Nachprüfer  (u.  A.  Czerny ,  Münch.  Medic.  Wochenschr. ,  1895,  Nr.  36) 
haben  wohl  Fieber  mit  Schüttelfrost  und  grösserer  oder  geringerer  Schwächung 
der  Kranken  erzielt,  an  den  Tumoren  aber  nur  unbedeutende,  vorübergehende  oder 
gar  keine  Veränderungen.  Ebenso  wirkungslos  war  das  „Krebsserum"  von  Emmerich 
und  Scholl,  Serum  von  mit  Erysipel  infictrten  Schafen.  Das  kokkenfi'eie  Serum  machte 
keine,  das  kokkenhaltige  nur  wirkungslose  schwache  Entzündungen  (vergl.  z.  B.  Bruns, 
Deutsch.  Med.  Wochenschr.,  1895,  Nr.  20,  und  Petersen,  ebenda  20  und  27).  Auch  mit 
Serum  von  einem  Pferde,  dem  Salvati  und  Gaetano  mehrfach  Sarkomextracte  injicirt 
hatten,  wurde  nichts  en-eicht. 

Die  Versuche  von  Mosetig,  inoperable  Neoplasmen  mit  I'^/q  Pyoctanin  (Methyl- 
violett)-Lösung  zu  injiciren  ( —  1  Ccm  täglich  in  Mengen  von  O'l— 0'2  Ccm.  an  jeder 
Stelle),  haben  kaum  hin  und  wieder  eine  "Wachsthumshemmung  erzielt.  (..Tinctions- 
behandlung.") 

Kaarsherg  (Langenbeck's  Arch.,  48)  will  durch  Elektrolyse  mit  starken  Strömen 
200 — 300  Milliamperes  —  680  Milliamperes  (Bleiplatten  als  Elektroden  und  Stahlnadeln 
=  4 — 10  Charriere  Stärke)  Erfolge  erzielt  haben. 


Behandlung  inoperabler  Neubildungen.  383 

Die  iuDerliche  Behandlung  der  bösartigen  Neubildungen  hat 
sichtbare  Erfolge  bislang  nicht  gegeben.  In  altem  Rufe  steht  das 
Arsen  und  ich  gebe  es  auch  häufig  nach  Krebsoperationen ,  ohne  Be- 
weise seiner  Leistungsfähigkeit  geben  zu  können.  Bei  Blasenkrebs  soll 
Chios-Terpentin ,  bei  Magenkrebs  Condurango  genützt  haben,  und  sind 
deshalb  beide  auch  bei  anderen  Krebsen  gegeben  worden.  Condurango 
(Infus,  cort.  condur.  2*5 — 5"0  auf  löO'O)  ist  ein  gutes  Magenmittel  und 
wird  von  den  Kranken  gelobt.  Von  Beneke  wurde  eine  eigene ,  mög- 
lichst Stickstoff  lose  Diät  empfohlen ,  also  vorwiegend  Vegetabilien  mit 
Ausschluss  der  Hülsenfrüchte.  Manche  Kranke  fühlen  sich  dadurch 
psychisch  beruhigt. 

Die  Prognose  der  bösartigen  Neubildungen  ist  im  Bisherigen  ent- 
halten. An  sich,  d.  h.  ohne  Behandlung  sind  die  Fälle  absolut  ver- 
loren ;  denn  mit  den  nicht  einmal  ganz  sicheren  Fällen  von  Spontan- 
heilung durch  Gangränescenz  u.  s.  w,  lässt  sich  nicht  rechnen.  Das  sind 
unerhörte  Glücksfälle. 

Die  Prognose  des  einzelnen  Falles  lässt  sich  nie  mit  Sicher- 
heit geben.  Je  langsamer  die  Geschwulst  bisher  gewachsen,  je  härter 
sie  ist,  je  verschieblicher  sie  geblieben,  je  weniger  die  Haut  und  Nach- 
barschaft erkrankt  sind,  je  weniger  sich  eine  Erkrankung  der  Lymph- 
drüsen nachweisen  lässt,  je  besser  der  Allgemeinzustand  geblieben,  um 
so  günstiger  sind  die  Aussichten. 

Von  den  Recidiven  sind  die  örtlichen  weniger  gefährlich,  als 
die  in  den  Lymphdrüsen.  Muss  man  in  diesen  eine  Recidivoperation 
macheu,  so  sind  die  Aussichten  auf  dauernde  Heilung  äusserst  gering. 
Dagegen  erinnere  ich  mich  eines  Falles,  wo  nach  der  zweiten  örtlichen 
Recidivoperation  (Mamma)  seit  7  Jahren  Heilung  eingetreten  ist. 

In  der  Behandlung  des  Krebses  ist  die  Exstirpation  mit  dem  Messer 
nicht  das  Ideal,  aber  jedenfalls  auf  lange  Zeit,  wenn  nicht  auf  immer, 
das  wirksamste  Mittel  der  Behandlung. 


VI  Capitel. 
Krankheiten  der  Haut  und  des  Unterliautzellgewebes. 

Atrophie  und  Hypertrophie.  —  Anämie  und  Hyperämie.   —  Verletzungen.   —   Ent- 
zündung und  Eiterung.  —  Acute  Entzündungen:    Furunkel   und  Carbunkel.    Chro- 
nische: Geschwüre.  Lupus.  Die  Narben  von  Geschwüren. 

Von  den  Krankheiten  der  Haut  werden  wir  nur  diejenigen  be- 
sprechen, die  wegen  ihrer  Behandlung  in  den  Bereich  des  Chirurgen 
gehören. 

Die  acuten  Entzündungen,  die  Stauung,  den  Brand  u.  s.  f.  haben  wir  schon  be- 
sprochen, hauptsächlich  bei  den  Wundinfectionskrankheiten,  die  Wundrose  (s.  pag.  145), 
das  Erysipeloid  (s.  pag.  150) ,  den  Milzbrand  (s.  pag.  167) ,  Gangrene  foudroyante 
(s.  pag.  157)  u.  s.  f.  Ebenso  haben  die  Verletzungen  der  Haut  bei  den  Verletzungen  der 
Weichtheile  (pag.  91),  Verbrennung  und  Erfrierung  ihre  Besprechung  gefunden. 

Reine  Atrophien  und  Hy^Dertrophien  der  Haut  sind  als  selbständige  Er- 
krankungen im  Ganzen  recht  selten ;  um  so  häufiger  dagegen  als  Folgen  anderer  Er- 
krankungen, namentlich  acuter  und  besonders  chronischer  Entzündungen.  Atrophie  findet 
man  als  Folge  chronischer  Unterschenkeleczeme  und  ähnlicher  Processe.  Auf  nervöser 
Basis  beruht  die  halbseitige  Gesichtsatrophie.  Die  Haut  ist  welk,  dünn,  bald  glänzend, 
bald  matt;  die  drüsigen  Bestandtheile ,  Haare,  Talgdrüsen  u.  s.  f.  rareficirt.  Hyper- 
trophische Vorgänge  begleiten  meist  die  Elephantiasis. 

Das  Oedem  der  Haut  ist  häufig  Folge  anderer,  meist  innerer  Krankheiten  — 
Herz-,  Lungen-,  Nierenaffectionen ,  allgemeiner  Blutarmuth  und  Begleiterscheinung 
schweren  Siechthums.  Es  betrifft  dann  vorwiegend  die  unteren  Extremitäten  und  ist 
doppelseitig. 

Einseitige  Oedeme  sind  auf  örtUche  Ursachen  zurückzuführen ,  Hindernisse ,  die 
sich  dem  venösen  Eückfluss  entgegensetzen ,  Druck  von  Geschwülsten  auf  die  Haupt- 
vene eiues  Körpertheils ,  z.  B.  die  Vena  femoralis  oder  iliaca  einer  Seite ,  die  Vena 
axillaris  eines  Armes  (z.  B.  durch  krebsige  Lymphdrüsen  in  der  Achselhöhle)  oder 
Thrombosen  der  betreffenden  Venen ;  dann  führen  auch  Erweiterungen  der  venösen 
Strombahn  (Krampfadern  oder  Varicositäten)  zu  Oedemen. 

Die  meisten  Oedeme  nehmen  ab  oder  verschwinden  in  horizontaler  Lage,  wo  der 
venöse  Eückstrom  günstigere  Bedingungen  findet;  sie  sind  daher  stets  bei  umher- 
gehenden Patienten  Abends  stärker  als  Morgens.  Solche  Kranke  müssen  liegen,  bis  die 
Ursache  beseitigt  ist. 

Doch  gibt  es  auch  selbständige  Oedeme,  namentlich  nach  starken  Anstrengungen, 
z.  B.  nach  starken  Uebungen  und  Märschen  bei  Recruten.  —  Leichte  Massage,  Priess- 
nitz'seh.e  Umschläge  beseitigen  diese  „traumatischen"  Oedeme  rasch. 

Länger  bestehendes  Oedem  der  Haut  ist  oft  nur  das  äussere  Anzeichen  eines  tief- 
liegenden, zur  Zeit  noch  verborgenen  Pi'oceäses  (Abscesse,  Neubildungen)  und  verdient 
daher  stets  eine  vorsichtige  Beachtung  und  Würdigung. 

Bei  Entzündungen  der  Haut  lassen  sich  alle  die  verschie- 
denen Formen  der  Entzündung ,  pag.  29  fF.  ,  besonders  leicht  und  un- 
mittelbar verfolgen  —  die  einfach   hyperämischen  Formen,  die  serösen, 


Hautentzündungen.  Furunkel.  385 

zellig-en  und  eitrigen  Infiltrationen  und  Exsudationen,  die  hämorrhagischen 
und  die  brandigen  Formen.  Es  entstehen  so  eine  grosse  Anzahl  ver- 
schiedener Effloreseenzen  (Ausschläge). 

Ein  einfacher  Fleck,  über  die  Umgebung  nicht  erhaben,  ist  die  Macula.  Ist  er 
durch  Fingerdruck  wegzudrücken,  handelt  es  sich  einfach  um  Hyperämie  —  Eoseola. 
Grössere  Flecken  nennt  man  Erytheme.  Bleibt  die  Eöthung  unter  dem  Fingerdruck, 
so  handelt  es  sich  um  einen  Blutaustritt  —  per  rhexin  oder  diapedesin  —  Petecchie 
(Purpura)  oder,  wenn  grösser,  Ecchymose  und  Sugillation  (Verletzungen).  Handelt 
es  sich  um  eine  kleine  Erhabenheit ,  d.  h.  eine  Infiltration  der  Cutis,  so  ist  es  eine 
Papula,  wenn  grösser  einNodus;  mehr  ödematöse  Infiltrate  sind  die  Quaddeln  — 
Pomphus  (bei  Nesselsucht).  Tritt  Flüssigkeit  sichtbar  aus,  so  ist  es  ein  Bläschen  — 
Yesicula,  wenn  grösser,  eine  Blase  —  Bulla  (z.B.  bei  der  Wundrose)  mit  serösem, 
eitrigem  oder  (seltener)  blutigem  Inhalt.  Grössere  Eiter  enthaltende  Blasen  heissen 
Pustulae  (Pusteln);  Ecthyma  die  grössten.  Sitzt  die  Eiterung  tiefer,  in  Haut  und 
Unterhautzellgewebe,  nicht  blos  zwischen  den  obersten  epithelialen  Lagen,  so  ist  es  ein 
Furunkel,  der,  wenn  er  sich  zur  völligen  Eiteransammlung  in  Haut  und  Unterhaut- 
zellgewebe steigert,  zum  folliculären  Abscess  wird.  Wirkliche  Defecte  in  der  Haut 
bedingen  ausser  Verletzungen  (Excoriationen)  die  Geschwüre  (s.  pag.  387  ff.). 

Aus  diesen  Formen  gehen  durch  weitere  Veränderungen  andere ,  gewissermassen 
secundäre  Formen  hervor  —  die  Haut  schilfert  sich  ab  in  kleinen  Blättchen  (Defur- 
furatio)  oder  blättert ,  schuppt  sich  in  grösseren  Epidermisfetzen  ab  (Desquamatio).  — 
Die  Blasen  etc.  trocknen  zu  Krusten,  Borken  oder  Schorfen  (Crnsta,  Eschara)  ein 
und  es  kommt,  in  einem  Theil  der  Fälle,  zur  Narbenbildung. 

Heilt  der  Process  in  der  Mitte  aus  und  schreitet  am  Eand  fort,  so  wird  die 
Efflorescenz  kreisförmig  (annularis,  cireinnatus),  ist  nur  ein  Stück  des  Kreises  noch  da, 
das  Uebrige  geheilt,  so  ist  ein  Gyms  da ;  entsteht  durch  Weiterschreiten  an  einer  Stelle 
und  Heilen  an  anderer  eine  gesch-wungene,  schlangenartige  Linie,  so  ist  es  eine  serpigi- 
nöse  Form  u.  s.  w.  (s.  Geschwüre,  pag.  389). 

Die  verschiedenen  entzündlichen  Hautkrankheiten  haben  für  uns 
mehr  diagnostisches  Interesse,  da  sie  oft  nur  die  äusseren  Zeichen 
schwerer  innerlicher  Erkrankungen  sind.  So  sind  kleine  Hautblutungen 
(Petecchien)  oft  mit  septischer  Blutvergiftung  verbunden;  chronische 
vesiculöse  Eruptionen  (Eczeme)  Zeichen  vorhandener  Scrophulose  und 
Tuberculose.  Vielgestaltige  Effloreseenzen  (Flecke,  Blasen,  Knoten  u.  s.  w. 
durcheinander)  finden  sich  bei  Syphilis;  furunculöse  Afifectionen  bei 
Zuckerharnruhr ,  angeborener  Syphilis  u.  dergl.  Insofern  ist  ein  ge- 
naues specialistisches  Studium  der  Hautkrankheiten  auch  für  den 
Chirurgen  unerlässlich. 

Wichtig  sind  für  uns  namentlich  folgende  eitrige  Vorgänge  in  der 
Haut:  Der  Furunkel  und  Carbunkel. 

Der  Furunkel  beginnt  als  ein  leicht  juckender  oder  brennender, 
rother,  etwas  erhabener  Fleck,  dessen  Centrum  meist  ein  Drüsenaus- 
führungsgang, am  häufigsten  ein  Haarbalg  ist.  Er  treibt  sich  rasch  vor 
und  ])ildet  eine  kegelförmige  geröthete  Anschwellung,  auf  deren  Spitze 
ein  grünlich  gelber  Punkt  —  necrotischen  Gewebes  —  von  Stecknadel- 
kopf- bis  Erbsengrösse  zu  Tage  tritt.  Während  dem  breitet  sich  die 
Anschwellung  mehr  und  mehr  aus,  ohne  sich  gegen  die  Umgebung 
scharf  ab/Aisetzen.  Der  geröthete  Bezirk  kann  die  Grösse  eines  Hand- 
tellers erreichen,  meist  ist  er  ungefähr  thalergross.  Lymphgefässe  und 
Drüsen  schwellen.  Der  Schmerz  ist  sehr  lebhaft.  Appetit,  Schlaf  kann 
gestört  sein,  die  Temperatur  leicht  erhöht.  Nach  2 — 3  Tagen  lassen 
die  Schmerzen  allmählich  nach,  die  bislang  mehr  seröse  Ab.sonderung 
wird  citrig.  scliiiesslicli  (|uellen  dicke  Eitertropfen  neben  dem  nc>ch 
haftenden  necrotischen  Pfropf  (dem  „Eiterstock"  des  Volksmundes) 
hervor ,  am  5.  bis  6.  Tag   wird   auch  dieser   losgestossen   (vorwiegend 

Ijandfrer,  All^'.  cliir.  l'atliolnpic  ii. 'l'lirTajiic.   2.  Auti.  2;l 


886  VI-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Haut  und  des  IJnteihautz<;llgewebes. 

aus  elastischem  Gewebe  bestehend  und  einem  Haarbalg  oder  einer  Tal;^'- 
oder  8chweissdrüse  und  ihrer  Umgebung  entsprechendj.  Die  kh^'ine,  voii 
Granulationen  ausgekleidete  Höhle  heilt  in  2 — 3  Tagen  mit  derber 
Narbe.  Lieblingssitze  des  Furunkels  sind  viel  gescheuerte  Stellen, 
Nacken  (wo  die  Halsbinde  anliegt),  Rücken,  Achselhöhle,  Umgebung 
des  Afters. 

Ein  Furunkel  im  Kleinen  ist^  die  Acnepustel,  ein  kleines  von 
einem  Drüsengang  ausgehendes  Eiterbläschen,  häufig  im  Gesicht.  Hier 
ist  keine  makroskopische  Gangrän  vorhanden. 

Nur  eine  quantitative  Steigerung  dieses  Processes  ist  der  „ C ar- 
bunk el";  eine  ganze  Anzahl  von  benachbarten  Drüsen  mit  dem  ihnen 
zugehörigen  Gewebe  gangränesciren.  Die  dadurch  bedingten  Anschwel- 
lungen fliessen  zusammen  und  bedingen  ein  über  handgrosses  Infiltrat 
mit  starker  bläulicher  Röthung  und  intensiver  Schmerzhaftigkeit.  — 
Schliesslich  erfolgt  auch  hier  der  Durchbruch  des  Eiters  und  die  Ab- 
stossung  der  umfangreichen  necrotischen  Partien,  die  oft  selbst  Fascien- 
stücke  enthalten.  Nach  ihrer  meist  recht  langsamen  Ausstossung  bleibt 
eine  unregelraJissig  buchtige,  mit  Granulationen  ausgekleidete  Höhle, 
deren  dünne  bläuliche  Decke  siebförmig  durchlöchert  ist.  Nur  sehr 
langsam  heilen  die  grossen  Substanzverluste  aus.  Der  Carbunkel  ist 
immer  mit  ziemlich  schwerem  Allgemeinleiden  verbunden  —  Fieber  oft 
über  40°,  Appetitlosigkeit,  durch  die  qualvollen  Schmerzen  Schlaflosig- 
keit und  damit  schliesslich  starke  Entkräftung  selbst  bei  gesunden 
Personen.  Kranke  und  alte  Leute  gehen  nicht  selten  an  einem  Car- 
bunkel zu  Grunde.    Der  häufigste  Sitz  desselben  ist  der  Rücken. 

Der  Erreger  des  Furunkels  und  Carbunkels  ist  der  Staphylococcns 
aureus  (Fig.  12).  Den  exacten  experimentellen  Beweis  verdanken  wir 
Garre,  der  sich  eine  Reincultur  dieses  Pilzes  in  die  unverletzte  Haut 
des  Vorderarmes  einrieb  und  mehrere  Furunkel  und  einen  Carbunkel  er- 
zielte. Einer  Verletzung  als  Eingangspforte  bedarf  es  nicht,  der  Pilz 
scheint  von    den  Drüsenausführungsgängen  aus  einwandern  zu  können. 

Zu  Furunculose  disponiren  ganz  besonders  Diabetiker  (deshalb 
stets  den  Urin  untersuchen!),  auch  Leute  mit  chronischer  Nephritis  und 
decrepide  Personen,  ferner  solche,  die  viel  schwitzen. 

Bei  der  Behandlung  des  Furunkels  streiten  sich  die  abwar- 
tende und  operative  Behandlung.  Häufig  genügen  antiseptische  Um- 
schläge (Sublimatlösung  1 :  5000 — 1 :  SOÖO)  oder  Salben  (Borlanolin 
1:30,  mit  1  Perubalsam)  oder  Pflaster,  Zinkpflastermull,  Eraplastruni 
Hydrargjri  oder  Peruba!sampflaster  (1  Perubalsam  zu  4  Emplastrum 
adhaesivum).  Bei  heftigem  Schmerz  und  deutlicher  Fluctuation  wirkt 
ein  tiefer  Schnitt  oder  Kreuzschnitt  oft  erleichternd. 

Coupirt  soll  der  Furunkel  werden  durch  Injection  von  einigen 
Tropfen  3^0  Carbollösung  (von  der  Seite  her)  oder  durch  Einbohren 
einer  Sonde,  an  die  coucentrirte  Carbolsäure  angeschmolzen  ist  (von 
der  Kuppe  aus).  {Antoneivitsch,  Chir.  Centralbl.,  1895,  Nr.  17.)  Auch 
Ueberstreichen  mit  Jodtinctur  ist  nützlich. 

Beim  Carbunkel  halte  ich  von  der  zuwartenden  Behandlung 
weniger  —  grosse  dicke  Sublimatcompressen  (auf  Wunsch  des  Patienten 
warme  Bähungen  darüber).  Den  tiefen  Kreuzschnitt  durch  den  Cai- 
bunkel  bis  in  die  Unterlage  hinein  —  die  bisher  übliche,  aber  von 
vielen  Chirurgen  verworfene  Behandlung  —  hat  Tischer  (Chir.  Centralbl., 


Carbunkel.  Panaritium.  387 

1895,  Nr.  17)  vervollständigt,  indem  er  den  Carbunkel  durch  eine  An- 
zahl sich  rechtwinklig-  kreuzender  Schnitte  in  quadratische  Felder  zerlegte. 
Die  besten  Erfolge  hat  mir  die  Exstirpation  des  Carbunkel s  nach 
Biedel  (Deutsche  Med.  Wochenschr.,  1891,  Nr.  27)  gegeben.  Man  präpa- 
rirt  die  Haut  zurück ,  schält  den  Furunkel  im  Gesunden  heraus  und 
lässt  die  Haut  ohne  Naht  über  den  Defect  sich  legen.  Die  Heilung  er- 
folgt überraschend  schnell. 

Zur  Verhütung  von  Furunkeln  und  Carbunkeln  bei  Dis- 
ponirten  empfiehlt  man  —  antidiabetische  Kost  bei  Diabetikern,  sonst 
eine  gründliche  Aenderung  der  Lebensweise  —  Verbot  der  alkoholischen 
Oetränke,  besonders  des  Biers,  Einschränkung  des  Fleischgenusses,  Ab- 
führcuren  (Marienbad,  Kissingen  u.  dergl.),  von  Medicamenten  Arsenik, 
ferner  Schwefelbäder  u.  dergl.  Die  Franzosen  empfehlen  täglich  einen 
Esslöffel  Bierhefe  (?). 

Die  übrigen  acuten  Entzündungen  und  Eiterungen  in  Haut-  und 
llnterhautzellgewebe  haben  wir  zum  Theil  schon  bei  den  Abscessen 
(pag.  30 ff.)  besprochen.  Die  Haut  dient  durch  kleine  Verletzungen  häufig 
als  Eingangspforte  der  Mikroorganismen  und  der  weitere  klinische  Ver- 
lauf wird  dann  oft  durch  die  Oertlichkeit  bestimmt.  Als  Typus  dieser 
Vorgänge  mag  das  Panaritium  dienen.  An  eine  kleine  Verletzung 
am  Finger  schliesst  sich  eine  Entzündung  und  Eiterung  an  ,  bald  nur 
in  Haut  und  Unterhautzellgewebe  (P.  cutaneum) ,  bald  im  Knochen 
(P.  osseum);  ein  anderes  Mal  in  der  Sehnenscheide  (P.  tendinenm). 
Namentlich  die  letzteren  Formen  zeigen  die  Neigung .  sich  nach  der 
Hand  hin  fortzusetzen  und  erscheinen  dann  als  Eiterung  in  der  Hand  — 
Phlegmone  manus  — ,  um  schliesslich  längs  der  Sehnenscheiden  nacli 
dem  Vorderarm  weiter  zu  kriechen  —  Phlegmone  antibrachii.  —  Ein 
anderes  Mal  tritt  die  Betheiligung  der  Lymphgefässe  (Lymphangitis) 
mehr  in  den  Vordergrund  und  schliesslich  kann  es  zur  Entzündung  und 
Vereiterung  der  Lymphdrüsen  kommen  (Lymphadenitis  purulenta,  Lymph- 
(Irüsenabscess;  s.  pag.  144).  Antiseptische  Umschläge  und  frühzeitige 
tiefe  Einschnitte  sind  bei  diesen  Eiterungen  geboten. 

Dann  ist  noch  zu  nennen  das  Eczem,  ein  juckender  Ausschlag 
seröser  oder  eitriger  Bläschen ,  hervorgerufen  durch  allerlei  die  Haut 
trefiende  reizend  wirkende  Substanzen,  meist  chemischer  Natur,  z.B. 
Jod,  Jodoform,  Sublimat,  Carbolsäure  u.  dergl.,  Insectenstiche.  Zunächst 
acut,  kann  es  bei  fortwirkender  Ursache  chronisch  werden  und  sich 
dann  mit  allen  Erscheinungen  chronischer  Hantentzündungen  verbinden. 
Das  Eczem  ü-ehürt  in  das  Gebiet  der  Dermatologie. 


Von  den  chronischen  Entzündungsprocessen  in  fLiut  und 
Unterhaut  Zellgewebe  ist  für  den  Chirurgen  der  wichtigste  das 
Geschwür. 

Was  ein  Geschwür  ist,  dafür  gibt  es  zahlreiche,  mehr  oder 
minder  zutretende  Definitionen.  „Ein  Substanzverlust  mit  moleculäreni 
Zerfall"  (die  Quetschwunde  wäre  ein  Substanzverlust  mit  nicht  mole- 
culären ,  sondern  groben,  makroskopischen  Zerfallvorgängen).  „Eine 
(iranulationsfläche,  deren  Granulationen  stets  wieder  necrotisch  zer- 
fallen." Letzterer  Zusatz  zum  l'ntcrschiede  von  einer  gesunden,  zur 
Heilung  tendirenden  firanulationstläche,  die  so  häulig  von  Laien,  aber 

9n* 


ijgc^  VI.  Capitel.  —  Kranklieiteri  der  ll;iut  um!  dos  TJnt(:rli;uit/,ellg('weV)e,s. 

auch  von  weniger  erfahrenen  Aerzten  als  Geschwür  hezeiclinet  wird. 
Charakteristisch  sind  das  „Nichtheilen"  und  die  'J'endenz  zum  Zerfall 
neben  Regenerationsvorgängen  seitens  des  Organismus.  Eine  solche 
Fläche  bleibt  ein  Geschwür,  so  lange  auch  nur  theil weise  der  Zerfall 
des  Neugebildeten  erfolgt,  selbst  wenn  an  der  einen  oder  anderen  .Stelle 
zweifellose  Heilungsvorgänge  stattfinden.  —  Dabei  kann  Anbildung  und 
Zerfall  gleichen  Schritt  halten,  so  dass  das  Geschwür  nicht  grösser  und 
nicht  kleiner  wird  —  es  bleibt  stationär,  oder  es  werden  weitere 
gesunde  Gewebe  eingeschmolzen,  es  wird  grösser,  es  ist  fortschrei- 
tend, fressend  (phage dänisch).  Gegenüber  dem  örtlichen  Brande 
ist  die  Grenze  eine  weniger  scharfe.  Wo  gar  keine  Spur  von  Heil- 
bestrebungen des  Organismus  sich  erkennen  lassen,  wird  man  nicht 
leicht  von  Geschwür  reden.  Bei  dem  rapiden  Zerfall  der  Gewebe 
bei  Gangrene  foudroyante ,  oder  bei  groben  Zerquetschungen  braucht 
Niemand  den  Ausdruck  Geschwür,  wohl  aber  gelegentlich  bei  langsam 
sich  entwickelnden ,  kleineren  Brandflächen ,  wie  Milz-  oder  Hospital- 
brandgeschwür u.  dergl.  Eine  Steigerung  des  Gewebszerfalles,  nament- 
lich bei  Entwicklung  makroskopischer  Brandstellen ,  lässt  die  Grenze 
aufs  Neue  verwischen;  das  Geschwür  wird  ein  brandiges. 

Ein  klares  Bild  von  dem,  was  ein  Geschwür  ist,  ebenso  wie  eine 
zielgerechte  Behandlung,  lässt  sich  nicht  gewinnen ,  ohne  genaue  Ein- 
sicht in  die  Ursache  der  Geschwürsbildung.  Warum  heilt  die  vor- 
handene Wunde  nicht,  wie  jede  andere  Wunde  sonst?  —  Die  Ursachen 
können  verschieden  sein. 

Entweder  es  wirkt  diejenige  Ursache,  die  überhaupt  zum  Ge- 
webszerfall geführt  hat,  weiter  und  erzeugt  erneuerte  Necrose  —  dies 
ist  namentlich  der  Fall  bei  den  Geschwüren,  die  durch  chronische 
Infectionskrankheiten  bedingt  sind.  In  Betracht  kommen  hier 
Syphilis,  Tuberculose,  Lepra,  Rotz  u.  dergl.  und  einige  weniger  häufige, 
namentlich  in  tropischen  Gegenden  vorkommende  Infectionen  (s.  pag.  395). 
Diese  Geschwüre  bilden  die  grosse  Gruppe  der  infect lösen  Geschwüre. 
Auch  acute  Infectionen  können  acut  verlaufende  Geschwüre  hervor- 
rufen —  der  weiche  Chancre,   Ulcus  molle. 

Bei  einer  anderen  Gruppe  von  Geschwüren  sind  die  Ernährungs- 
verhältnisse der  wunden  Stelle  so  ungünstige,  dass  die  neugebildeten 
Gewebe,  die  Granulationen,  immer  wieder  zerfallen,  die  Gewebe  sind 
so  hinfällig;  dass  sie  den  Keim  sofortigen  Zerfalls  immer  wieder  in 
sich  tragen.  Hier  liegt  also  der  Fehler  im  Körper,  nicht  in  dem  ur- 
sächlichen Moment.  Bald  ist  es  Krankheit  des  ganzen  Körpers,  welche 
die  Hinfälligkeit  der  Anbildung  bedingt.  Man  kann  diese  Geschwüre 
constitutionelle  oder  dyscrasische  nennen. 

Hieher  gehören  a.  A.  die  scorbutischen  Geschwüre.  Scorbut  ist  eine  eigeu- 
thümliche  Veränderung  der  Gewebe  des  Körpers,  die  durch  einseitige  ungenügende  Er- 
nährung, Mangel  an  frischem  Fleisch  und  Gemüse  entsteht ,  mit  grosser  Hinfälligkeit 
des  ganzen  Körpers  verknüpft  ist.  Besonders  erkrankt  scheint  die  Gefässwand.  Massen- 
hafte kleine  Blutungen  in  Haut,  Schleimhaut  und  andere  Theile  erfolgen ;  dabei  neigen 
die  Gewebe  zum  brandigen  und  geschwürigen  Zerfall.  Zahnfleisch- ,  Mundgeschwüre 
u.  dergl.  treten  auf;  der  abgesonderte  Eiter  ist  blutig.  Auch  Processe ,  wie  Noma 
(pag.  43) ,  können  solche  dyscrasische  Geschwüre  machen ;  dann  gehören  hieher  die 
„kachektischen"  Geschwüre,  die  bei  allgemeinem  Siechthum  des  Körpers  hin  und 
wieder  auftreten.  Ob  eine  Reihe  anderer  „Diathesen"  —  die  rheumatische,  arthritische 
(gichtische),  der  sogenannte  „Paludisme"  (Malaria?)  Geschwüre  erzeugen  kann,  ist  fraglich. 

Auch  Metallvergiftungen  können  zur  Geschwürsbildung  führen  (mercurielle 
Zahnfleischgeschwüre,  Wismuth,  Blei). 


Geschwüre.  Verschiedene  Arten.  389 

Für  die  örtlichen  Geschwüre,  auf  gesundem  Träger,  kann  es 
sich  um  verschiedene  Ursachen  handeln.  Die  einen  derselben,  die  rein 
mechanischen  Geschwüre,  entstehen  durch  eine,  sonst  unbedeutende 
kleine  Verletzung,  eine  leichte  Quetschung,  eine  Abscheuerung  der  Ober- 
haut durch  Druck  des  Stiefels,  des  Sattels  beim  Reiten  u.  dergl.  Dass  diese 
Wunden  nun  nicht  heilen,  beruht  in  beständiger  Wiederholung  der  Ver- 
letzung bei  fortgesetztem  Marschiren  oder  Reiten  („Scheuergeschwüre") 
oder  in  Unreiulichkeit  und  mangelnder  Pflege ,  z.  B.  bei  Handwerks- 
burschen. Ein  anderes  Mal  werden  die  in  Heilung  begriffenen  Ge- 
schwürsflächen durch  die  Körperbewegungen  immer  wieder  auseinander- 
gerissen —  in  der  Achselhöhle,  am  After  beim  Stuhlgang  („After- 
fissuren"') u.  dergl.  —  Bei  einer  anderen  grossen  Gruppe  von  Ge- 
schwüren kommt  es  nicht  zur  Heilung,  weil  die  örtliche  Circulation  zu 
mangelhaft  ist  für  eine  solide  Granulations-  und  Narbenbildung.  Es 
handelt  sich  um  Blutstauung,  namentlich  an  den  unteren  Extremitäten, 
besonders  bei  Venenerweiterungen  —  Varicositäten  —  Stauungsge- 
schwüre, Ulcus  varicosum.  (S.  Krankheiten  der  Venen.) 

Eine  eigenartige  Form  von  Geschwüren  sind  die  neuropara- 
lytischen  Geschwüre,  die  bei  aufgehobenem  oder  herabgesetztem 
Nerveneinfluss ,  vermuthlich  durch  herabgesetzte  Widerstandsfähigkeit 
der  Gewebe  entstehen.  Sie  finden  sich  nach  Rückenmarksverletzungen, 
bei  Tabes  dorsalis  und  ähnlichen  Zuständen,  seltener  nach  der  Durch- 
schneidung peripherer  Nerven.  Sie  sind  den  „trophischen"  Störungen 
beizuzählen  (pag.  35).  Ihr  Lieblingssitz  ist  die  Fusssohle  am  Metatarsal- 
gelenk  der  grossen  Zehe;  sie  sind  bekannt  unter  dem  Namen  „Mal 
perforant  du  pied".  Die  Versch wärung  durchsetzt  alle  Weichtheile 
Schicht  für  Schiebt  und  zerstört  schliesslich  auch  Knochen  und  Gelenke ; 
die  Kranken  laufen  sich  die  betreffenden  Stellen  der  Sohle  förmlich 
weg  ohne  jede  Schmerzen.  Gerade  die  völlige  Schmerzlosigkeit  ist 
charakteristisch  für  diese  neuropathischen  Geschwüre.  —  Manche  andere 
eigenthümliche,  der  symmetrischen  oder  Spontangangrän  nahestehende 
geschwürige  Processe  gehören  auch  in  diese  Gruppe  (s.  pag.  43). 


Die  Lehre  von  den  Geschwüren  (Helkologie)  war  eine  Zeit  lang 
ein  Steckenpferd  der  Chirurgie  und  es  wurde  zu  dieser  Zeit  eine 
minutiöse  Nomenclatur  eingeführt,  von  der  wir  auch  heute  noch  Reste 
haben.  Man  hat  dementsprechend  an  einem  Geschwür  zu  unterscheiden 
die  Form,  den  Grund,  den  Rand,  die  Umgebung,  die  Absonde- 
rung, in  zweiter  Linie  Zahl  und  Sitz  der  Geschwüre. 

Die  Form  des  Geschwürs  ist  oft  eine  unregelmässige  und  dann 
wenig  charakteristisch.  Bei  manchen  Geschwüren  lässt  aber  allein  die 
Form  schon  fast  mit  Sicherheit  die  Diagnose  machen.  —  So  sind 
syphilitische  Geschwüre  (überhaupt  Infectionsgcschwüre)  oft  rundlich. 
Wenn  sie  von  einer  Seite  her  heilen,  so  entsteht  ein  Halbkreis  (Gyrus). 
Ulcus  gyratum;  schreitet  nun  die  Ulceration  an  einem  oder  beiden 
Enden  dieses  Halbkreises  fort,  so  hat  man  die  Schlangenform,  l'lcus 
serjjiginosuni.  Heilt  es  in  der  ]\Iitte,  so  bleibt  ein  Ring  —  Ulcus 
annulare.  circinnatum.  Diese  Formen  zeigen  nicht  infcctiöse  Ge- 
schwüre nie  (s.  Fig.  342:  Syphilitische  Geschwüre  des  Gesichts). 


390  ^I-  Caiiitel.   —  Krankheiten  der  Haut  und  des   rinterliautzellgewebes. 

Rinnen-  oder  spaltenfürmig  sind  Geschwüre  in  Achseliiöhle  .  ain 
After,  Mundwinkel  und  an  anderen  Stellen ,  wo  die  Ränder  immer 
wieder  auseinandergerissen  werden,  sie  lieissen  auch  Fissuren  ffindere, 
SpaltgeschwLire)  oder  Rhagaden  (prjyvu|7.t,  zerreissej,   Schrunden. 

Der  Grund  des  Geschwürs  ist  meist  gebildet  von  zerfallenden 
Granulationen  oder  nekrotischem  Gewebe;  er  erscheint  also  schmutzig 
gelbgrau  mit  grünlichen,  mit  Watte  nicht  abzuwischenden  Belägen  besetzt. 
Ein  anderesmal  lassen  sich  wohl  die  Granulationen  als  solche  er- 
kennen ,  aber  sie  sind  blass  ,  wässerig ,  mit  grauen  Stellen  durchsetzt 
(Tuberkelknötchen).  Oder  wieder  ist  der  Grund  mit  einem  grauen 
Faserstoflffilz,  der  sich  nicht  ohne  Blutung  abziehen  lässt ,  bedeckt  — 
das  Geschwür  ist  croupös  oder  diphtheritisch  belegt.  Oft  finden  sich 
auch  kleine  Blutungen  in  die  Granulationen,  als  rothe  oder  dunkelblau- 
rothe,  selbst  schwarze  Flecken.  Doch  kann  der  Grund  des  Geschwürs 
auch  die  Umgebung  überragen  —  Ulcus  elevatum.  Dieser  üppigen 
Wucherung  von  Granulationen  begegnet  man  namentlich  bei  schlecht 
gehaltenen,  mechanisch  oft  misshandelten  Geschwüren,  dann  aber  auch 
bei  solchen,  wo  in  der  Tiefe  des  Geschwürs  ein  fremder  Körper,  ein 
Stück  todten  Knochens  (ein  „Sequester")  verborgen  liegt.  Ein  Unter- 
schied gegenüber  einer  wirklichen  Granulations  Wucherung  (Caro  luxu- 
rians)  ist  oft  kaum  zu  machen. 

Solche  Geschwüre  mit  üppiger  Granulationswucherung  neigen  sehr 
zu  parenchymatösen  Blutungen  und  sind  oft  überaus  empfindlich .  — 
sie  führen  dann  den  Namen  Ulcus  erethicum.  Andere  Geschwüre 
zeigen  ganz  niedrige  Granulationen  mit  äusserst  spärlicher  Secretion, 
verändern  sich  in  Wochen  so  gut  wie  gar  nicht,  weder  zum  Guten 
noch  zum  Schlimmen  und  sind  so  gut  wie  unempfindlich  —  Ulcus 
atonicum. 

Ein  harter,  unregelmässig  knotiger  Grund  —  mit  eingesprengten 
Epithelperlen  —  kommt  dem  Krebsgeschwür  zu  (vergl.  Fig.  341). 

Der  über  den  Geschwürsgrund  weggleitende  Finger  fühlt  oft,  dass 
der  Grund  direct  vom  Knochen  gebildet  wird,  dass  das  Geschwiir  un- 
mittelbar „auf  dem  Knochen  sitzt".  In  manchen  Fällen  fällt  der  Ge- 
schwürsgrund jäh  in  die  Tiefe  und  man  kann  nur  mit  Hilfe  einer 
„Sonde"  (eines  geknöpften  Silberstäbchens)  oder  eines  elastischen 
„Bougies"  den  Grund  des  einen  langen  Gang  darstellenden  Ge- 
schwürs erreichen.  Es  liegt  ein  „Hohlgeschwür"  vor,  eine  Fistel 
(Fistula),  meist  dadurch  entstanden,  dass  eine  tief  liegende  Eiterung, 
z.  B.  eine  tuberculöse  oder  osteomyelitische  Entzündung  am  Knochen 
nach  der  Oberfläche  durchgebrochen  ist  und  durch  diesen  oft  20  und 
mehr  Cenlimeter  langen  Gang  der  Eiter  sich  entleert.  So  wandert 
(„senkt  sich")  der  Eiter  von  der  Wirbelsäule  längs  des  M.  psoas  bis 
unter  das  Pouparfsche  Band  zur  Leiste  (Psoasabscess).  Diese  Fistel- 
gänge sind  oft  gewunden,  hier  und  dort  mit  einer  Art  Klappe  versehen, 
die  die  Entleerung  des  Eiters  stört ;  in  der  Tiefe  fühlt  man  manchmal 
den  freiliegenden  Knochen.  Ist  die  äussere  Oeffhung  der  Fistel  von 
einem  Wall  üppiger,  leicht  blutender  Granulationen  überlagert .  so  ist 
nicht  selten  im  Grunde  derselben  ein  Fremdkörper ,  ein  Stück  todten 
Knochens,  Kugel,  Holzsplitter,   Tuchfetzen  u.  dergl.  zurückgehalten. 

Der  Ausdruck  Fistel  wird  in  correcter  Weise  auch  für  einige  den  Begriff  nicht 
ganz  deckende  Zustände  gebraucht,  so  wird  z.  B.  die  regelwidrige  Communication  zweier 


Form,  Grund,  Rand,  Absonderung  der  Geschwüre.  391 

Körperhöhleu  oder  einer  solchen  mit  der  Oberfläche  auch  Fistel  genannt  —  Blasen- 
scheiden-, Scheiden-Mastdarmflstel,  Magenfistel,  Thränenfistel,  Pleurafistel  u.  s.  f.  Dieselbe 
kann  auf  dem  Wege  der  Verschwärung  entstanden  sein ,  die  Wunde  aber  längst  geheilt 
und  allseitig  mit  Epithel  umsäumt.  Wo  die  Ränder  dieses  Loches  lippenartig  dünn  sind, 
spricht  man  von  „Lippenfistel".  Es  handelt  sich  also  meist  nur  um  den  Folgezustand 
einer  Geschwürsbilduug. 

Gar  nie  war  Geschwürsbildung  vorhanden  bei  den  „angeborenen  Fisteln". 
Hemmungsbildungen,  entstanden  durch  Ausbleiben  des  Schlusses  embryonaler  Spalt-  und 
Rinnenbildungen.  So  ist  die  „congenitale  Halsfistel"  entstanden  durch  nicht  völligen 
Verschluss  der  Kiemenspalten,  ähnlich  gewisse  Darmfisteln,  Missbildungen  an  Blase  und 
Harnröhre  u.  dergl.  Diese  abnormen  Communicationsgänge  sind  in  ihrer  ganzen  Länge 
mit  echtem  Epithel  und  einer  Art  Schleimhaut  ausgekleidet  und  können  deshalb  nur 
durch  Entfernung  aller  epithelialen  Gebilde  zur  Heilung  gebracht  werden. 

Ebenso  wichtig  ist  es,  den  Rand  des  Geschwürs  zu  beachten. 
Manche  Geschwüre  zeigen  einen  flachen,  sanft  abfallenden  Rand;  oft 
ist  dies  ein  Anzeichen  beginnender  Heilung.  Zeigt  sich  gar  der  graue, 
röthlich  durchschimmernde ,  flach  auslaufende  Epithelsaum  am  Rande, 
so  ist  dies  der  Beweis  wirklicher  Heilungsvorgänge.  Steil  abfallend, 
wie  ausgefressen  und  ausgenagt,  „wie  mit  dem  Locheisen  geschlagen" 
sind  die  Ränder  gewisser  acuter  venerischer,  d.  h.  durch  geschlecht- 
liche Ansteckung  entstandener  Geschwüre,  des  „weichen  Chanere". 
Die  Ursache  des  weichen  Chanere  wird  jetzt  in  den  Ducrei/' sehen 
Bacillen  gesucht. 

Ein  anderesmal  ist  der  Rand  ein  überhängender,  der  geschwürige 
Zerfall  ist  im  Unterhautzellgewebe  weitergegangen  als  in  der  Ober- 
haut; es  bilden  sich  förmliche  Höhlen  und  Buchten  unterhalb  der 
Ränder  —  Ulcus  sinuosum.  Ganz  besonders  sind  es  tuberculöse  Ge- 
schwüre, die  diese  Beschaffenheit  des  Randes  zeigen.  Ist  der  Rand 
wallartig  aufgeworfen  und  hart,  so  ist  er  callös  (Callus,  Schwiele). 
Eine  chronische  Bindegewebswucherung  ist  die  Ursache  davon.  Der 
callöse  Rand  ist  ein  Zeichen  langen,  mt)nate-  bis  jahrelangen  Bestandes 
und  besonders  häufig  bei  misshandelten  mechanischen  Geschwüren  (Bein- 
geschwüren). —  Einen  auffallend  slarken  Horn(Epidermis-)wall  findet 
man  bei  neuroparaly tischen  Geschwüren. 

Umgebung  und  Rand  gehen  meist  ohne  scharfe  Grenzen  in  ein- 
ander über.  Die  Umgebung  ist  oft  fast  unverändert  (bei  manchen 
syphilitischen  und  tuberculösen  Geschwüren),  ein  kaum,  1  Cm.  l)reiter, 
wenig  gerötheter  „Hof".  Ein  anderesmal  sind  auf  weite  Strecken  hin 
die  Gewebe  im  Zustand  schwerer  chronischer  Entzündung  mit  elephan- 
tiastischer  Veränderung  oder  chronischem  Ekzem.  Oder  es  ist  in 
den  bis  Fingerdicke  erweiterten  Hautvenen  (Varicositäten)  sofort  die 
Ursache  der  Geschwürsbildnng  zu  erkennen.  Unmittelbar  an  das  Ge 
schwur  anstossende  narbige  Processe  weisen  darauf  hin,  dass  früher 
vielleicht  vor  Jahrzehnten,  sich  derselbe  Vorgang  schon  hier  abgespielt 
hat.  Die  Umgcl)ung  gibt  somit  oft  ein  Stück  Geschichte  des  Leidens 
an  die  Hand.  Harten,  mit  kleinen  Knötchen  durchsetzten  Rand  und 
Umgebung  zeigt  das  Krebsgeschwür  (s.  Fig.  341). 

Die  Absonderung  eines  Geschwürs  ist  selten  guter,  dicker 
Kiter  (höchstens  wenn  es  anfängt  zu  heilen),  sonst  meist  eine  dünne,  oft 
blutgemischte  (sanguinolentej .  jauchige  Flüssigkeit.  —  Die  Art  der 
Secretion  ist  fiir  die  Erkennung  der  Natur  gewisser  Fisteln  von 
AVertli.  Tuberculöse  Knoehenfisteln  geben  eine  dünne,  graue  Flüssig- 
keit  aus,    osteomyelitische   und    FremdkörperHsteln    gewöhnlich    einen 


392  VI.  Capitcl.  —  Kriuiklieiteu  der  Jiaut  iiud  des   l^jitciliaiifzcllgowebcs. 

dicken,  rahmigen  Eiter.  Tuberkelbacillcii  finden  sich  in  einem  Fistel- 
secret  nur  ausnahmsweise,  selbst  wenn  die  Fistel  zweifellos  tubercuh'Js 
ist.  Scorbutischer  Eiter  ist  reich  an  rothen  Blutkörperchen.  Ebenso 
zeigen  mechanisch  raalträtirte  Geschwüre  blutgemischten  Eiter. 

Die  Grösse  der  Geschwüre  ist  sehr  wechselnd,  am  Unterschenkel 
finden  sich  oft  solche,  die  ihn  fast  ganz  ringförmig  umziehen  und 
kolossale  Ausdehnung  gewonnen  haben.  Infectiöse  Geschwüre,  nament- 
lich syphilitische  werden  selten  so  gross ,  weil  sie  gewöhnlich  bei 
längerem  Bestand  theilweise  heilen. 

Auch  die  Zahl  gleichzeitig  bestehender  Geschwüre,  resp.  der  von 
früher  zurückgebliebenen  Narben  ist  für  die  Diagnose  wichtig.  Mecha- 
nische Geschwüre  sind  meist  einfach,  höchstens  doppelt,  vielleicht  eines 
auf  dem  äusseren,  eines  auf  dem  inneren  Knöchel.  In  mehrfacher  An- 
zahl vorhandene  Geschwüre  erregen  stets  den  Verdacht,  dass  sie  in- 
fectiöser  oder  dyskrasischer  Natur  sind.  (Vergl.  Fig.  342:  Syphilitische 
Geschwüre  des  Gesichts.) 

Schliesslich  kann  auch  noch  der  Sitz  gelegentlich  Aufschluss 
geben.  Liegen  Geschwüre  an  Verletzungen  leicht  ausgesetzten ,  un- 
günstig ernährten  Punkten,  wo  die  Haut  unmittelbar  auf  dem  Knochen 
liegt  —  an  den  Knöchehi,  der  Vorderfläche  des  Schienbeines  u.  dergl., 
so  sind  es  wahrscheinlich  mechanische  Geschwüre;  sitzen  sie  dagegen 
an  Stellen  mit  guter  Circulation,  an  weichen  muskelgepolsterten  Stellen, 
an  der  Wade,  so  sind  es  wahrscheinlich  Infectionsgeschwüre. 

Zu  einer  erfolgreichen  Behandlung  eines  Geschwürs  ist  eine 
genaue  Diagnose  der  Ursache  derVerschwärung  und  des  Ausbleibens 
der  Heilung  durchaus  unerlässlich.  Unter  sorgfältiger  Berücksichtigung 
der  angeführten  Punkte  wird  es  meist  nicht  schwierig  sein,  die  wahre 
Natur  des  Geschwüres  zu  erkennen. 

Alle  Geschwüre  verlangen  eine  massvolle  Antisepsis,  d.  h. 
Antiseptica  in  nicht  zerstörender  Concentration. 

Stauungsgeschwüre  erheischen  eine  Aenderung  der  örtlichen  Cir- 
culation, Hochlage  des  Beins  —  es  handelt  sich  ja  fast  nur  um  Bein- 
geschwüre — ,  zum  Mindesten  gute  Einwicklung  mit  Leinen-  oder 
elastischen  {Martin' scheri)  Binden ,  späterhin  Massage.  Syphilitische 
Geschwüre  werden  örtlich  (Ung.  Hydrarg.  praec.  alb.,  Sol.  Hydr.  bichlor. 
corros.  1 :  3000,  Emplastrum  Hydrargyri,  Jodoformpulver)  und  allge- 
mein antiluetisch  (Kai.  jod.  10 — 1'5  p.  d.  oder  Quecksilbercur,  s.  pag.  181) 
behandelt.  Serophulöse  Geschwüre  werden  energisch  örtlich  behandelt, 
ausgekratzt  und  ausgebrannt  und  antiseptisch  nachbehandelt.  Fisteln 
werden  mit  Höllensteinlösungen  (1 :  100 — 1 :  10)  ausgespritzt  und  wenn 
dies,  wie  leider  oft  genug,  nicht  genügt,  so  müssen  sie  gespalten 
werden  (auf  der  Hohlsonde),  vergl.  Fig.  168,  und,  unter  Ausstopfung  der 
Wunde,  als  Rinnen  ausheilen.  Während  der  Heilung  ist  scharfe  Con- 
trole  nöthig. 

Eine  grosse  Anzahl  von  Geschwüren,  namentlich  Beingeschwüren, 
ist  für  Arzt  und  Patienten  eine  grosse  Geduldsprobe  und  es  bedarf  oft 
längeren  Experimentirens,  bis  man  findet,  was  das  Geschwür  „erträgt". 
Manche  —  namentlich  schmerzhafte  —  Geschwüre  sind  schmerzfrei  bei 
Salbenbehandlung  (Borlanolin  1  :  30,  Ung.  diachylon  Hebrae,  Ung.  emol- 
liens  u.  dergl.),  andere  bei  leicht  antiseptischen ,   feuchten  Umschlägen 


Behandlung  der  Geschwüre.  393 

(Aq.  plumbi ;  Öol.  ac.  salicyl.  1,  Ac.  bor.  6,  Aq.  dest.  oOO"0 ;  Sol.  Aliim.  acet. 
1  :  lOO'O,  Sol.  Zinci  Chlorati  V30  —  73%  ^-  dergl.).  Wieder  andere,  jedoch 
nur  kleine,  mit  geringer  Absonderung-  können  mit  antiseptiscbeu  Pulver- 
verbänden  (Jodoform)  behandelt  werden.  Ekzeme  halten  sich  gut  bei 
Puderung  mit  venetianischem  Talk. 

Selbstverständlich  verlangen  alle  Geschwüre  ausserdem  möglichste 
Ruhe  des  kranken  Theiles  und  Schutz  gegen  Verletzungen.  Diese  sind 
für  die  kümmerlichen  Granulationen  ebenso  schädlich  wie  chemisch, 
stark  wirkende  Mittel. 

Nicht  genug  kann  ich  warnen  vor  der  kritiklosen  Anwendung  der  Carbolsäure, 
selbst  in  dünnen  Lösungen  (IVo)-  ^^^  nassen  Carbolumschläge  maceriren  oft  auf  weite 
Strecken  hin  die  Epidermis,  es  entstehen  Blasen  (Ekzem),  die  Oberhaut  geht  in  Fetzen 
ab  und  das  Geschwür  wird  von  Tag  zu  Tag  grösser. 

Die  Compression  der  Geschwüre  mit  kreisförmig  um  das  Bein  ge- 
legten und  sich  dachziegelförmig  deckenden  Heftpflasterstreifen  (Baynton- 
scher  Verband,  vergl.  Fig.  235)  hat  mich  nur  selten  befriedigt. 

Die  Hauptsache  bleibt  für  die  meisten  Geschwüre  Geduld,  peinliche 
Reinlichkeit  und  ausdauernde  Pflege  seitens  des  Arztes  und  Patienten. 

Manche,  namentlich  varicöse  und  grosse  mechanische  Geschwüre 
sind  nahezu  unheilbar.  In  alten  narbigen  Massen  gelegen,  die 
die  Wundränder  auseinandergezerrt  halten,  unmittelbar  auf  dem  Knochen 
unverschieblich  aufsitzend ,  kann  die  Schrumpfung  der  Granulationen 
nicht  eintreten  und  ebenso  fehlt  es  an  gesunder  Haut  in  der  Um- 
gebung, die  lebensfähiges  Epithel  in  genügendem  Masse  erzeugen 
könnte.  Solche  Geschwüre  zu  heilen,  ist  schon  viel  versucht  worden. 
Manchmal  ist  kräftiges  Abkratzen  mit  dem  scharfen  Lötfei,  eine  ener- 
gische Aetzung  oder  Brennen  mit  der  Piatina  candens  dienlich  oder 
man  greift  zur  Circumcision.  IY2 — 2  Cm.  vom  Geschwürsrand  ent- 
fernt wird  ein  kreisförmiger  Schnitt  ringsum  bis  auf  den  Knochen  ge- 
führt. Anfangs  klafft  er  vielleicht  nur  Y2  t!m. ,  am  anderen  Tag  oft 
2 — 4  Cm.  Der  Geschwürsgrund  ist  dadurch  entspannt  und  verkleinert 
sich  meist  schnell,  der  Graben  wird  von  beiden  Seiten  rasch  von  Epithel 
überbrückt.  Sicherer  als  die  Circumcision  ist  die  Auf p flau zung  von 
Haut.  Man  trägt  die  Granulationen,  nachdem  die  Wunde  durch  längere 
Bettruhe  und  antiseptische  Umschläge  frei  von  Entzündung  geworden 
ist,  mit  dem  scharfen  Lötfei  oder  flach  gehaltenem  Rasirmesser  ab  und 
transplantirt  nach  Thiersch  (pag.  276).  Leider  ist  die  so  erzielte  Haut- 
decke doch  oft  etwas  hinfällig  und  so  hat  man ,  wenn  ]\laterial  vor- 
handen ,  vom  andern  Bein  grosse  gestielte  Lappen  herübergeschlagen 
und  angeheilt  (MaaHj.  Meist  lässt  sich  so  die  früher  oft  wegen  unheil- 
baren Beingeschwürs  ausgeführte  Amputation  des  Unterschenkels  ver- 
meiden. 

Von  chronischen  Infectionskrankheiten ,  die  Entzündungen  der 
Haut  machen,  sind  die  Syphilis  pag.  181 ,  die  Lepra  pag.  182  be- 
sprochen. 

Eigenartig  sind  die  Manifestationen  der  Tuberculose  der  Haut. 

Der  Lupus  („fressende  Flechte")  ist  erst  in  neuerer  Zeit  als 
der  Tuberculose  zugehörig  erkannt  wcn'den. 

Die  histologische  Grundlage  des  Lupus  ist  die  Bildung  kleiner  Grauulations- 
geschwülstchen  im  Bindegewebe  der  Haut,  gebaut  uacli  dem  Tj'Jjus  der  entzündlichen 
Granulome,  aus  Gefiissen,  weissen  Blutzellen  und  einer  faserigen  Zwischensubstanz;  nach 
der  Peripherie  hin  zeigen  sich  die  Erscheinungen  gewöhnlicher  Entzündung,  kleinzellige 


394  VI'  Capitel.  —  Krankheiten  der  Haut  und  des   Unlerliautzellgewebes. 

Infiltration  und  bei  längerem  Bestand  auch  Biridegewebswucherung.  Die  ejjithelialen 
Elemente  der  Cutis  atrophiren  und  gehen  schliesslich  ganz  ein.  Ausserdem  enthält  das 
Lupusknötchen  ziemlieh  constant  Riesenzellen  vom  Bau  tuberculöser  KiesenzelJen  und 
Bacillen  in  sehr  spärlicher  Zahl.  Durch  Impfung  mit  Lupusmaterial  wurde  bei  Kanin- 
chen echte  Tuberculose  erzeugt. 

Durchans  in  Uebereinstimmung  mit  dem  histologischen  und  patho- 
logischen Befund  des  Lupus  steht  der  klinische  Verlauf.  Man  hat 
einen  Aussciilag,  bestehend  aus  kleinsten,  Stecknadelkopf-  bis  erbsen- 
grossen  Knötchen,  die  sich  ziemlich  hart  anfühlen  und  darum  herum 
einen  bläulichrothen,  gleichfalls  härtliehen  Hof  chronischer  Entzündung. 
Hinfällig  wie  alle  Granulationsgeschwülste  verfallen  diese  bald  secun- 
därer  Degeneration.  Sie  können  ohneweiters  in  Narben  übergehen  — 
Lupus  cicatricans  und  geben  dann  vertiefte  braunrothe  Narben 
ohne  Haare  und  Drüsen,  von  dünner,  spiegelnd  glänzender  Epithellage  be- 
deckt. Oder  ehe  es  zur  Narbung  kommt,  entwickelt  sich  Schuppenbildung, 
die  Oberhaut  stösst  sich  in  lange  haftenden  Schuppen  ab  —  Lupus 
exfoliativus.  Oder  es  kommt  zum  wirklichen  Zerfall  und  Geschwürs- 
bildung  —  Lupus  exulcerans,  wenig  vertiefte,  mit  festen  Borken  be- 
deckte, spärlich  secernirende  Geschwüre  mit  harter  knotiger  Umgebung. 
An  anderen  Stellen  wieder  kommt  es  zu  warziger  Verdickung  der 
Cutis  —  Lupus  hypertrophicus  (verrucosus).  Alle  diese  verschiedenen 
Formen  können  neben  einander  bestehen  und  das  gleichmässige  gemein- 
same Ende  aller  ist  die  Lupusnarbe,  unter  der  alles  Cutisgewebe  ver- 
schwunden ist  und  die  über  das  knöcherne  Gerüst,  z.  B.  des  Gesichts, 
der  Hände  (der  Lieblingssitze  des  Lupus),  scharf  weggespannt  ist ,  so 
dass  man  dieselben  fast  durch  sie  durchschimmern  sieht  und  das  Ge- 
sicht bei  einem  ausgebreiteten  Lupus  einem  mit  Wachs  überzogenen 
Todtenschadel  nicht  unähnlich  ist.  Die  Knochen  werden  erst  später 
ergriffen  und  gleichfalls  längsam  zerstört.  Auf  Schleimhäuten  (harter 
Gaumen)  findet  sich  der  Lupus  auch.  Verziehungen,  wie  Ausstülpung 
der  Augenlider  (Ectropium  und  Entropium),  können  die  Folge  sein. 

Vom  Krebs  lässt  sich  der  Lupus  meist  unterscheiden  durch  die  reichliche 
Narbenbildung,  die  nicht  auf  so  hartem  Boden  sitzt,  wie  das  Carcinom ,  dann  die  am 
Eande  angeordneten  vielen  kleinen  Knötchen.  Schliesslich  das  Alter;  der  Lupus  beginnt 
meist  in  jungen  Jahren,  um  sich  dann  durch  Jahrzehnte  bis  in 's  höhere  Alter  hinzu- 
ziehen. Bei  Syphilis  fehlen  die  Knötchen  und  ist  meist  mehr  Ulceration  da :  doch  ist 
oft  hier  die  Unterscheidung  erst  durch  eine  antisyphilitische  Behandlung  möglich. 

Lupuskranke  enden  oft  vorzeitig  durch  Gesichtserysipele,  Miliar- 
tuberculose  oder  Lungenschwindsucht. 

Bei  der  Behandlung  werden  von  innerlichen  Mitteln  alle  Antiscro- 
phulosa  und  Antituberculosa  (s.  pag.  179)  angewandt,  doch  verdient  von 
ihnen  höchstens  das  Arsen  in  grossen  Dosen  (von  OOOö  täglich,  steigend 
bis  0"02,  selbst  0'03 !)  ein  gewisses  Vertrauen,  Oertlich  w^erden  die 
lupösen  Stellen  mit  Emplastrum  Hydrargjri,  Emplastrum  balsami  peru- 
viani,  weisser  Präcipitatsalbe,  Chrysarobinsalbe ,  Salicylkreosotpflaster, 
Kreosot  rein  oder  mit  Glycerin  oder  Oel  (1 :  10 — 1:  o)  u.  dergl  bedeckt. 
Meist  muss  man  aber  zu  Aetzungen  greifen,  indem  man  einen  spitzen 
Höllensteinstift  in  jedes  einzelne  Knötchen  einbohrt.  Statt  dessen  kann 
auch  der  Kali  causticum-  oder  der  Chlorziukstift  (1  Theil  Chlorkalium, 
1  Theil  Kali  nitricum,  2  Theile  Chlorzink)  verwendet  werden.  Die 
blutigen  Operationen,  Auskratzung  mit  dem  scharfen  Löffel ,  eventuell 
mit  sofortiger  Aetzung  mit  Jodglycerin  oder  Höllenstein,   Stiehelungen, 


Lupus.  Hauttuberciilose.  395 

d.  h.  feinste  Stiche  oder  Schnittchen  bis  in  die  Untevhaut,  um  Narbung- 
zu  erzielen  (Volhnann),  sind  heute  weniger  populär,  angeblich  wegen 
der  Gefahr  der  Erzeugung  von  Irapfniiliartuberculose.  Wo  es  irgend 
geht  (Arme,  Rumpf,  Wangen)  ist  eine  breite  Excision  des  Lupus  im 
Gesunden  wie  beim  Krebs  und  darauf  folgende  Hauttransplantation 
nach  Thiersch  das  beste  Verfahren.  Im  Ganzen  ist  die  Lupusbehand- 
lung bis  jetzt  wenig  erfolgreich  und  erzielt  höchstens  zeitweisen  Still- 
stand des  mit  grosser  Hartnäckigkeit  wiederkehrenden  Uebels. 

Auf  alten  Lupusfläclien  entstehen  nicht  selten  echte  Epithelialcarcinome.  Vergl. 
Steinhäuser,  Beitr.  z.  kl.  Chir.,  Bd.  XII,  Lit. 

Die  eigentliche  Tuberculose  der  Haut  oder  das  Scrophulo- 
derma  (Gomme  scrufuleuse)  ist  im  Ganzen  selten  und  macht  sich  als 
langsam  entstehende,  röthlichbraune,  allmählich  erweichende  und  dann 
im  Centrum  zu  sinuösen  Geschwüren  zerfallende  Knoten  geltend ,  die 
manche  Aehnlichkeit  haben  mit  syphilitischen  Guramiknoten;  ein 
anderesmal  tritt  sie  in  Form  atonischer,  oft  mit  sichtbaren  miliaren 
Tuberkeln  (s.  Tuberculose  der  Knochen)  besetzter  Geschwüre,  namentlich 
am  Anus ,  Mund  u.  s.  w,  auf  (Hauttuberculose  i.  e.  S.).  Sie  sind  mit 
Perubalsam,  Spaltungen ,  Auskratzungen ,  Aetzungen  u.  s.  w.  zu  be- 
handeln ;  im  Uebrigen  ist  die  Scrophulose  oder  Tuberculose  allgemein  zu 
behandeln.  Ein  Theil  der  Hauttuberculosen  entsteht  secundär  nach  tuber- 
culöser  Lymphdrüsenvereiterung,  tuberculösen  Knochen-  und  Gelenk- 
eiterungen. 

Ein  anderer  eigenthümlicher  Process  scheint  auch  in  einem  Theil 
der  Fälle,  jedoch  nicht  in  allen,  mit  Tuberculose  im  Zusammenhang  zu 
stehen,  der  Leichentuberkel.  Bei  Leuten,  die  viel  mit  der  Zer- 
legung von  Leichen  zu  thun  haben,  pathologischen  Anatomen  (bei  nor- 
malen Anatomen  habe  ich  sie  nie  gesehen) ,  Leichendienern  u.  s.  w. 
bilden  sich  bald  mehr  warzige  und  condylomähnliche  Wucherungen, 
bald  mehr  flache,  von  Sehrundengeschwüren  durchzogene  Knoten,  meist 
auf  Fingern  und  Handrücken,  mit  rothem  Hof,  ziemlich  schmerzhaft, 
verkrustend  oder  eine  dünne  Jauche  absondernd.  Ihr  histologischer 
Bau  ist  der  der  Granulationsgeschwülste.  In  einzelnen  sind  Tuberkel- 
bacillen  gefunden  (Karg,  Biehl),  in  anderen  nicht.  Sie  bleiben  im 
Wesentlichen  örtlich,  doch  ist  die  Möglichkeit  einer  Verschleppung  des 
Giftes  durch  die  Lymphbahnen  und  damit  allgemeiner  Tuberculose  nicht 
ausser  Acht  zu  lassen.  Für  die  Behandlung  ist  Bedeckung  mit  Einpl. 
Hydrargyri  odei-  Perubalsam  nützlich.  Ebenso  sind  Aetzungen  mit  con- 
centrirter  Carbolsiiure  oft  erfolgreich.  Werden  die  Hände  vor  weiterer 
Infection  geschützt  durch  Einstellung  der  Beschäftigung  mit  Leichen, 
so  heilt  der  Process  nieist  von  selbst  aus. 

Eine  eigenartige  Erkrankung  der  Haut ,  die  nur  in  den  Tropen  namentlich 
auf  den  Antillen  vorkommt,  ist  die  Framboesia  (Yaws,  Plan).  Hier  bilden  sich 
meist  zunächst  kleine  Dermatiden,  die  schliesslich  zu  Geschwüren  führen  und  um  diese 
herum,  zum  Theil  aus  diesen  hfrau.sspriessend ,  Granulationsgeschwülstchen,  von  Form 
und  Grösse  von  Erd-  oder  Himbeeren,  die  gleichfalls  zur  Eiterung  gelangen.  Nacli  Be- 
stand von  7., — 1  Jahr  heilt  die  Affection  von  selbst  aus.  Die  Beziehungen  der  Krankheit 
zn  Lues  und  Scrophulose  sind  nocli  nicht  genügend  klargestellt. 

Eine  der  Framboi-sie  iilinliche  Erkrankung,  die  Mycosis  fungoides  oder  das 
Granulom  der  Haut  (Alihertj  (aucli  als  Pseudoleucaemia  cutis  beschrieben)  führt 
gleichfalls  im  Laufe  weniger  Wochen  zur  Bildung  von  massenhaften  ulcerirenden,  sarkom- 
ähnlichen Granulationsgeschwülstchen  auf  der  ganzen  Haut.  Unter  Fiebererscheinungen 
und  raschem  Kräfteverfall  trat  in  dem  Fall,  den  ich  gesehen,  nach  8  Wochen  der  Exitus 


396  VI.  Capitel.  —  Knuikhdteii  der  Haut  und  d<;.s   ( Jit,i;rli;iut,/,i;]l;.'-i;\vebe«. 

ein.  Ob  die  in  den  Granulomen  gefundenen  Bactericn  und  Protozoen  wiiklich  die  Ur- 
sache der  Krankheit  sind,  oder  nur  Begleiter  derselben,  ist  noch  nicht  erledigt. 

Es  seien  hier  noch  einige  seltene  exotische  Gcschwürsf  or  ni  e  n  kurz 
erwähnt. 

Der  Madurafuss  beginnt  meist  mit  am  inneren  Fussrand  sich  entwickelnden  sub- 
cutanen Geschwülsten,  die  schliesslicli  aufbrechen;  unter  Missstaltung  des  Fnsses  bildet 
sich  schliesslich  eine  (oder  mehrere)  Höhle,  in  der  nekrotische  Sehnen,  caiiöse  Knochen 
etc.  liegen.  Im  Eiter  finden  sich  gelbweisse  Körnchen.  Bedingt  soll  die  Krankheit  sein 
durch  einen  dem  Actinomyces  ähnlichen,  aber  mit  ihm  nicht  identischen  Strahlenpilz. 
{Paltauf,  Internat,  klin.  Rundschau,  1894,  Nr.  26.) 

Die  Dehlibeule  ist  eine  knotige,  unter  Schuppung  und  Eiterung  im  Laufe 
eines  .Jahres  in  eine  hässliche  Narbe  übergehende  Infiltration  der  Haut  und  des  TJnter- 
hautzellgewebes,  im  Gesicht  und  an  den  Extremitäten.  Ob  es  sich  um  Lupus,  Lues  oder  eine 
Krankheit  für  sich  handelt,  ist  noch  nicht  ausgemacht.  Auch  die  Stellung  zum  sartischen 
Geschwür  (Kokanka),  zum  Pendehgeschwür  in  Transkaspien,  dem  Jelisawetpolschen  Jähr- 
ling, der  Aleppobeule  (=  Dehlibeule?)  ist  unsicher,  wie  das  Verhalten  dieser  Geschwürs- 
formen  unter  einander  (Tehatjeiv). 

Beim  Ainhun  (Tropen)  kommt  es  mit  oder  ohne  sichtbare  Versch wärung  zu  einer 
ringförmigen  Abschnürung  und  schliesslich  zum  brandigen  Abfallen  einer  oder  mehrerer 
Zehen  (meist  der  kleinen). 


Alle  diese  geschwürigen  Processe  in  der  Haut  linden  ihr  Ende  in  der  Narbe. 
Narben  aus  früheren  Krankheiten  geben  eine  zuverlässige ,  von  den  oft  unwahren 
Mittheilungen  des  Kranken  unabhängige  wichtige  Krankengeschichte  an  die  Hand. 
Rein  mechanische  Geschwüre  sitzen  an  schlecht  ernährten  Stellen ,  wo  die  Haut 
unmittelbar  dem  Knochen  aufsitzt  —  Knöchel,  Vorderfläche  der  Tibia.  Sie  sind  an 
einem  Beine  meist  nur  einfach  oder  höchstens  doppelt  (auf  äusserem  und  innerem 
Knöchel).  Die  von  ihnen  zurückbleibenden  Narben  sind,  da  die  Verschwärung  bis  in's 
Unterhautzellgewebe  oder  Periost  gegangen ,  stark  zusammengezogen  und  ohne  alle 
drüsigen  Organe  (Schweissdrüsen,  Haare).  Narben  von  syphilitischen  Geschwüren  sind 
anfangs  rothbraun,  bald  silberglänzend ;  es  zeigt  sich  an  ihnen  keine  Narbenretraction, 
da  der  geschwürige  Process  wenig  in  die  Tiefe  und  mehr  in  die  Fläche  geht  und  Drüsen 
und  Haare  nicht  vollständig  zerstört  sind.  Die  Narben  sind  mehrfach  und  nicht  an  be- 
stimmte Oertlichkeiten  gebunden.  Die  syphilitischen  Narben  zeigen  meist  Kreisform.  Tuber- 
culöse  Narben  sind  unregelmässig  gebaut,  oft  wie  gestrickt,  dann  radiär  strahlig,  manch- 
mal von  kleinen,  polypenartigen  Hautläppchen  überragt,  namentlich  die  von  tuberculösen 
Drüseneiterungeu  herrührenden.  Lupusnarben  sind  überaus  dünn ,  spiegelnd ,  oft  von 
kleinsten  Gefässen  durchzogen,  abschuppend  und  häufig  mit  kleinen  Lupusknötchen, 
namentlich  am  Rande,  besetzt.  —  Betraf  der  geschwürige  Process  nur  Haut  und  Unter- 
hautzellgewebe ,  so  sind  die  Narben  leicht  verschieblich  (z.  B.  syphilitische) ,  kam  das 
Geschwür  durch  Zerfall  tieferer  Theile ,  die  jenseits  der  Fascien  liegen,  oder  durch 
Knocheneiterung  zustande,  so  sind  die  Narben  tief  eingezogen  und  oft  dem  Knochen  fest 
angelöthet. 

Objective  Beurtheilung  von  Narben  kann  in  der  Praxis  sehr  nützlich  werden,  be- 
sonders unaufrichtigen  Patienten  gegenüber.  Eine  Narbe  von  einem  scrophulösen  Drüsen- 
geschwür am  Halse  gibt  über  die  Natur  eines  unklaren  Gelenkleidens  Aufschluss  ;  ebenso 
lassen  die  Narben  syphilitischer  Geschwüre  —  z.  B.  am  Unterschenkel  —  stillschweigend 
in  zweifelhaften  Fällen  eine  antisyphilitische  Cur  einschlagen,  selbst  wenn  die  Ehrbarkeit 
des  Patienten  nicht  einmal  eine  indirecte  Frage  gestattet.  —  Hässliche,  namentlich 
stark  pigmentirte  Narben  werden  durch  Aufstreichen  von  verdünnter  Jodtinctur  oder 
Ichthyol  allmählich  weniger  entstellend. 

Eine  Reihe  von  chronisch-entzündlichen  Processen  in  der  Haut, 
namentlich  aber  langdanernde  Geschwüre,  führen  schliesslich  zu  einer 
Art  Hypertrophie,  richtiger  gesagt  zu  Zuständen  der  Verdickung  und 
Voluraszunahme ,  die  unter  dem  Namen  Elephantiasis  zusammenge- 
fasst  werden.  Doch  sind  die  Processe ,  die  als  elephantiastische  be- 
zeichnet werden,  nach  Ursache,  Entstehungsart  und  klinischer  Erschei- 
nungsweise immerhin  ziemlich  verschieden. 

Der  typische  Sitz  der  Elephantiasis  sind  die  unteren  Extremitäten, 
demnächst    die    Genitalien ,    seltener    andere    Körpertheile.     Die    Beine 


Elephantiasis. 


397 


Fig.  356. 


isfe 


werden  zu  unförmlielien  plumpen  Cylindern  aufgetrieben,  an  denen  von 
den  Contouren  der  Muskeln  und  Knochen  absolut  nichts  mehr  zu  sehen 
ist.  Die  Aehnlichkeit  mit  einem  Elefantenbein,  Elephantopus  ist  eine 
naheliegende. 

Mikroskopisch  hat  man  massiges  Bindegewebe,  vorwiegend  plumpe,  wie  ödematöse 
Fasern,  dazwischen  reichliche  Gewebsflüssigkeit,  Wanderzellen  in  massiger  Anzahl.  Die 
Lymphgefässe  sind  erweitert,  oft  zu  makroskopisch  sofort  wahrnehmbaren  Röhren,  förm- 
lichen Lymphvarices,  die  gelegentlich  platzen  können  und  zum  Lymphfluss  (Lj^mphorrhoe) 
führen  können  (vergl.  pag.  126).  Helferich  und  Solger  fanden  die  elastischen  Fasern 
des  Bindegewebes  bei  Elephantiasis  zu  plumpen  queren  Schollen  zerfallen.  Das  chronische 
Oedem  betrifft  nicht  allein  Haut  und  Unterhautzellgewebe,  auch  die  Muskeln  und  das 
Zwischengewebe,  selbst  das  Periost  sind  chronisch  ödematös.  Die  drüsigen  Organe  der 
Haut  sind  atrophisch.  Die  Oberhaut  ist  meist  gleichfalls  verdünnt,  wenn  auch  an  einzelnen 
Stellen  oft  warzenartige  oder  granulationsähnliche  "Wucherungen  von  Haut  und  Epidermis 
sich  finden.  Häufig  findet  sich  bräunliche  Pigmentirung.  Fig.  356  ist  eine  Elephantiasis 
cruris  höhereu  Grades  mit  warziger  Hypertrophie  der  Haut  (nach  Albert). 

Die  Ursachen  der  Elephan- 
tiasis sind  verschieden  und  damit 
auch  der  Verlauf  der  einzelnen  Fälle. 

Nur  selten  führen  reine  mecha- 
nische Circulationsstörungen  zur  wirk- 
lichen Elephantiasis,  wenngleich  sie 
begiinstigend  wirken  können.  So  hat 
selbst  Thrombose  der  Vena  iliaca  bei 
Phlegmasia  alba  dolens  der  Wöchne- 
rinnen ,  oder  bei  Druck  durch  Neu- 
bildungen wohl  chronisches  Oedem, 
aber  fast  nie  Elephantiasis  zur  Folge. 
—  Die  typischen  Fälle  von  Ele- 
phantiasis entstehen  auf  entzünd- 
lichem Wege.  Es  sind  oft  sich  wieder- 
holende wundrosenartige  Processe, 
verbunden  mit  frischer  entzündlicher 
Schwellung,  Schmerz,  Röthung  und 
massigem  Fieber.  Jeder  Anfall  lässt 
das  Bein  dicker  zurück,  als  es  vorher 
gewesen  und  so  entwickelt  sich  das- 
selbe allmählich  zu  der  unf(»rmlichen 
Masse  des  Elefantenbeines. 

Aehnlich  ist  es  bei  der  Elephantiasis,  die  das  chronische  Ekzem 
und  das  Beingeschwür  begleitet.  Die  beständige  Entzündung,  die  sich 
im  Lauf  der  Zeit  ebenso  in  die  Tiefe  fortsetzt  wie  in  die  Fläche, 
führt  hier  zur  Elephantiasis. 

Die  schwersten  Formen  von  Elephantiasis,  wo  z.  B.  das  Scrotura 
zu  50  Pfund  schweren  Geschwülsten  entarten  kann,  iindet  man  bei  der 
Filariakrankheit.  Die  Embryonen  der  Filaria  sitzen  in  den  Lymph- 
gängen, verstopfen  diese  und  fuhren  dadurch  zu  der  enormen  Dilatation 
derselben  und  zur  Lymphstauung.  Die  exotischen  Fälle  von  Elei)han- 
tiasis,  z.  B.  auf  Samoa ,  sind  wohl  sämmtlich  auf  diese  Krankheit  zu- 
rückzutüliren. 

Die  Behandlung  der  Elephantiasis  ist  eine  vorwiegend 
mechanische.  Hohe  Lage  der  unteren  Extremitäten  und  centripetale 
Einwicklung    der    Beine    mit    elastischen    oder    nassen    Leincnl)iiiden, 


r 


398  ^^-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Haut  und  des  Untei'liaatzellgewebe.s. 

Massag-e,  nicht  Streichen,  sondern  kräfiig-es  Kh^pfen  fllelj'crkhj  fvergl. 
l)ag.  3Ö5)  bringen  ineist  rasch,  wenigstens  hei  den  nicht  aufFilaria  be- 
ruhenden Fällen,  eine  bedeutende  Vohnnsabnahrne  zustande,  doch  sind 
Rückfälle  häutig.  Temporäre  Compression  der  zuführenden  Arterien, 
ebenso  Esmarch'' ache  Einwicklung  wii'ken  unterstützend.  Dabei  kann 
es  vorkommen ,  dass  die  Haut  förmlich  zu  weit  wird  und  man  mit 
2  Bogenschnitten  grosse  Striemen  aus  der  Haut  ausschneiden  muss ;  der 
Defect  wird  dann  sofort  vernäht  (Helferich).  Die  vorgeschlagene  Unter- 
bindung der  Arterien  ist  durchaus  zu  widerrathen. 

Bei  den  elephantiastischen  Tumoren  des  Scrotums  oder  der  weib- 
lichen Labien  gibt  die  Abtragung  mit  Lappenbildung  und  nachherige 
Naht  recht  gute  ßesultate.  —  Wo  Beingeschwüre,  chronische  Ekzeme 
u.  s.  w.  die  Ursache   sind ,   ist   die  Beseitigung   dieser  das  Wichtigste. 

Verwandte  Zustände  sind  die  Sklerodermie  und  das  Sclerema 
neonatorum. 

Bei  der  Sklerodermie  zeigen  sich  nach  einem  ödematösen 
Prodromalstadium  grosse  Flächen  infiltrirt,  so  hart,  dass  der  Finger- 
druck nicht  eindringt ,  bräunlichroth  pigmeutirt ,  kalt ;  die  starre  In- 
filtration der  Cutis  verdeckt  die  Contouren  der  Haut  und  Muskeln  völlig ; 
auch  ist  die  Bewegung  derselben  in  diesem  starren  äusseren  Panzer 
sehr  gehemmt.  Mikroskopisch  fand  man  bis  jetzt  nur  Bindegewebs- 
wucherung  und  Verengerung  der  Gefässe.  Hoffa  (Münch.  med.  Wochen- 
schrift, 1892,  Nr.  35)  fand  kleinzelliges  Infiltrat  der  Gewebe ,  auch  in 
Media  und  Adventitia  der  Arterien ;  diesen  Befund  bestätigt  DinMer 
(Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  XLVIII),  der  auch  die  Abwesenheit  von  Mikro- 
organismen hervorhebt.  Singer  (Berl.  klin.  Wochenschr.,  1895,  Nr.  11) 
fand  auch  bei  Sklerodermie  schwielige  Verödung  der  Schilddrüse.  Be- 
fallen sind  vorwiegend  obere  Extremitäten  und  Gesicht,  dann  der  Rumpf. 

Aus  diesem  Stadium  hypertrophicum  kann  die  Krankheit  in 
Heilung  oder  in  das  Stadium  der  Atrophie  übergehen.  Die  Haut 
wird  papierdünn  ;  ausser  der  Cutis  schwinden  aber  auch  die  Muskeln 
und  die  übrigen  Weichtheile.  Schliesslich  kann  es  sogar  zur  Abstossung 
von  einzelnen  Fingergliedern  (Spontangangrän,  vergl.  pag.  43)  kommen. 
Die  Dauer  des  Leidens  erstreckt  sich  über  eine  Reihe  von  Jahren. 
Unsere  Mittel,  hauptsächlich  Massage  und  Elektricität,  sind  wenig 
wirkungsvoll. 

Ein  ähnlicher  Zustand  der  Hautverhärtuug  findet  sich  bei  Neu- 
geborenen, aber  nicht  wie  bei  der  Sklerodermie  nur  au  einzelnen 
Körperstellen,  sondern  über  den  ganzen  Körper  verbreitet  —  Sclerema 
neonatorum.  Die  Kinder,  deren  Temperatur  eine  niedrige  ist  und 
deren  sämmtliche  Lebensfunctionen  darniederliegen ,  gehen  meist  bald 
atrophisch  zu  Grunde. 

Das  Myxödem  der  Haut  (vergl.  pag.  20) ,  ein  ähnlicher  Zu- 
stand chronisch-ödematöser  Hautverdickung,  ist  die  Folge  einer  Atrophie 
der  Schilddrüse  und  wird  durch  Verabreichung  von  Schilddrüsen- 
substanz (vergl.  pag.  351)  gebessert,  die  auch  bei  Sklerodermie  zu  ver- 
suchen wäre. 

Das  Rhinosclerom  ist  pag.  183  besprochen. 

Die   Neubildungen    der  Haut  sind   im  Cap.  IV  besprochen. 


VII.  Capitel. 


Kranklieiten  der  Knochen  nnd  Gelenke. 

Entwicklung  und  Bau  des  Kno  chen  Systems.  —  Entwicklungsstörun- 
gen. Rachitis.  Osteomälacie.  Atrophie.  Hypertrophie.   Riesenwuchs. 

Wir  besprechen  die  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke  zu- 
sammen. Beide  sind  nicht  nur  eine  entwicklungsgeschichtliche  Einheit; 
auch  ihre  Krankheiten  sind  vielfach  gemeinsam.  Wo  eine  Trennung 
in  der  Natur  der  Sache  liegt  —  wie  bei  den  Verletzungen,  sollen  sie 
auch  getrennte  Besprechung  finden. 

Knochen  und  Gelenke  gehören  zur  Bindegewebsgruppe.  Sie  gehen  aus  einer  ge- 
meinsamen   knorpeligen    Grundlage    hervor,    die    von    einer   bindegewebigen  Hülle    um- 


Fig.  357. 


.schlössen  ist.  Durch  Spaltbildung  im  Knorpel  entstehen  .die  Gelenkhühlen .  deren  Be- 
grenzung, der  Gelenkknorpel,  ein  Rest  des  alten  Hyalinknorpels  ist.  Verrauthlich  beruht 
diese  Öpaltbildung  auf  der  Entwicklung  der  Muskeln,  durch  deren  Bewegung  sie  veran- 
lasst wird.  Die  bindegewebige  Hülle  wird  über  dem  Theil  des  Knorpels ,  der  erhalten 
lileibt,  zur  Knorpelhaut  (Perichondrinm) ;  an  den  zur  Knochensubstanz  umgewandelten 
Partien  zur  Beinhaut  (Periost) ,  über  den  Gelenkspalten  zu  der  Gelenkkapsel  mit  den 
Gelenkbändern,  der  Synovialhaut  und  den  Synovialfortsätzen. 

Am  leichtesten  verständlicli  ist  der  Bau  des  Knorpels  (Fig.  857 
nach  SrJictil-).     Schöne,    ein-    l)is    niclirkernige ,    ziemlich    prutoplasma- 


400  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

reiche,  meist  rundliche  oder  halbmondfi'trrnige  Zellen  —  die  Knorpel- 
zellen —  liegen  zu  ein  bis  mehreren  in  kleinen  Höhlen  —  Knor])el- 
kapseln  —  und  diese  werden  umg-eben  von  einer  Gi'und-  oder  Zwisdien- 
substanz.  Diese  ist  homogen  (scheint  jedoch  auch  aus  einzelnen  Fibrillen 
oder  Lamellen  zu  bestehen)  beim  Hyalinknorpel  (Fig.  357) ,  deutlich 
faserig  beim  Faser-  oder  Bindegewebsknorpel  (Fig.  558  Faserknorpel 
nach  Schenk) ;  ein  Netz  elastischer  Fasern  beim  elastischen  oder  Xetz- 
knorpel.  Die  Aehnlichkeit  im  Bau  mit  gewöhnlichem  Bindegewebe 
(Fasern ,  Zwischensubstanz  und  Bindegewebszellen)  springt  in  die 
Augen.  Gefässe  hat  der  Knorpel  keine,  doch  scheint  er  ein  äusserst 
feines  verzweigtes  System  von  Saftcanälen,  die  radiär  von  den  Knorpel- 
kapseln ausgehen,  zu  besitzen  (Arnold ,  Budrje). 

Der  embryonale  Knorpel ,  der  den  Vorläufer  des  Knochens  dar- 
stellt, ist  ein  Hyalinknorpel  mit  sehr  reichlichen  Zellen  und  verhältniss- 
mässig  spärlicher  Grundsubstanz.  —  Die  Umwandlung  des  Knorpels  in 
Knochen  können  wir  an  der  Hand  der  Fig.  359 — 361  studiren.  Die 
Knochen  wachsen  bekanntlich  nicht  an  allen  Stellen,  sondern  nur  an 
bestimmten  Punkten  wird  Knochengewebe  producirt  —  an  den  Epi- 
physenlinien  und  an  der  Innenfläche  der  Beinhaut  und  an  den 

Fig.  358. 


'  '  \__  ,'~^  -  Knorpelzellen 

Faserige  Grundsubstanz  — 

Knorpelzellen  ~ 


Grenzflächen  des  Marks.  An  den  Epiphysenlinien  —  den  Grenzen 
des  Mittelstiickes  (Schaftes,  der  Diaphyse)  und  der  Gelenkenden  liegt 
die  eigentliche  Wachsthumsschicht  des  Knochens  —  der  Epiphysen- 
knorpel.  Einzelne  Knoehenfortsätze  (Trochanteren,  Tubercula,  Epicon- 
dyli)  oder  Apophysen  haben  ihren  eigenen  kleinen  Epiphysenknorpel.  — 
An  der  Grenze  zwischen  Epiphyse  und  Diaphyse  beginnt  nun  die  Ver- 
knöcherung. Die  Diaphyse  ist  beim  Embryo  so  klein  und  kurz,  dass 
die  Gelenkenden  fast  aneinanderstossen  und  die  Verknöcherung  in 
einem  Punkte  zu  beginnen  scheint — Ossi ficationspunkt,  Kno che u- 
kern  —  und  auf  diese  kleinen  Stellen  werden  nun  von  den  Epiphysen 
her  immer  neue  Verknöcherungslagen  aufgesetzt  (Apposition)  und 
dadurch  wächst  der  Knochen  in  der  Länge.  —  Der  Umwandlung  des 
Knorpels  in  Knochen  gehen  gewisse  Veränderungen  voraus.  In  den 
dem  Gelenke  nahen  Theilen  des  Knorpels  liegen  die  Knorpelzellen 
weniger  regelmässig,  aber  die  Kapseln  meist  mit  den  Längsdurch- 
messern der  Gelenkfläche  parallel  und  die  Zellen  sind  meist  einkernig. 
Je  näher  der  Epiphysenlinie ,  umsomehr  beginnen  sie  sich  zu  regel- 
mässigen, parallelen  Reihen  anzuordnen  und  sich  zu  richten  („Kuorpel- 
säulen") ,  Fig.  359.  Zugleich  erscheinen  Kerntheilungsfiguren  in  den 
Knorpelzellen ,  dieselben  werden  mehrkernig ,  theilen  sich  und  die 
Kapseln  enthalten  mehrere  Zellen. 


Knochenwachstlium. 


401 


In  eiuer  weiteren,  der  Epiphysenlinie  näheren  Zone,  der  „Ver- 
kalkungszone" ,  erlischt  aber  diese  rege  Zellthätigkeit.  Die  Knorpel- 
zellen schwellen  an  und  erleiden  eine  Art  hydropischer  Degeneration, 
während  die  Grundsubstanz  sich  trübt  und  der  Kern  schwindet.  Das 
Protoplasma  wird  stark  lichtbrechend,  die  Kapsel  wird  ausgedehnt  und 
in  diesen  Hohlraum  brechen  von  dem  Ossificationskern  her  Gefäss- 
schlingen  herein  und  zugleich  sieht  man  mehrkernige  Zellen  vom 
Charakter  der  Riesenzellen  zwischen  Gefässschlingen  und  Kapselwand 

Fig.  359. 


Epiphyse 


Ossifica- 
tionsrand 


\\uV 


i.    f^n  '         Li 


Epiphyse 


auftauchen  (Fig.  361  nach  Stöhr).  Diese  Zellen  —  Osteoblasten  ge- 
nannt —  scheinen  nun  in  der  That  die  Bildner  der  Knochensubstanz 
zu  sein.  Ihre  Herkunft  ist  nicht  sicher  bekannt.  Von  den  Knorpel- 
zellen stammen  sie  wohl  nicht  her,  wahrscheinlich  stammt  das  Material 
dazu  aus  dem  Blute  oder  ist  wenigstens  längs  der  Blutgefässe  herein- 
gewachsen. Die  Grundsubstanz  des  Knorpels  wird  eingeschmolzen  und 
die  Osteoblasten  scheiden  um  sich  structurlosc  Lamellen  ab  (die  beim 
Kochen  Leim  geben),  in  Form  eoncentrisch  geschichteter  Rijhren.  Diese 
Grundsubstanz  trübt  sich  bald  durch  Einlagerung  feinster  anorganischer 


Landerer,  Allg.  chir.  Patliologie  u.  Therapie.  2.  Aufl. 


26 


402  VIl.  Capitel.  —   Ki'ankheiten  der  Knochou   und  Gelenke. 

Körnchen,  die  sich  in  Säuren  lösen  und  Allem  nach  Kaiksalze  sind  — 
(phosphorsaurer  Kalk ,  kohlensaurer  Kalk  und  etwas  phosphorsaure 
Magnesia).     Sie  sieht  wie  bestäubt  aus. 

Die  Osteoblasten  bleiben,  wie  es  scheint,  /um  Tlieil  bestehen  als 
Knochenkörperchen  des  bleibenden  Knochens,  während  ein  anderer 
Theil  derselben  eingeschmolzen  wird.  Sie  bilden  damit  die  Grundlagen 
des  Knochens.  In  Fig.  362  (nach  SchenJc)  erkennt  man  zunächst  die 
beim  Erwachsenen  einkernigen  Knochenkörperchen   mit  spärlichem 


Fig.  360. 


if'i 


Zerstreut   liegende 

KnorpelzeHen  an  der 

hyalinen 

Grundsubstanz 


Knorpelzellen  hinter 
k  einander  geordnet 


-^V  5.  ^^^*(-^'tfJ-^?,  Dieselben  werden 

Ä-s   ^''"^r -^"^^  »^"s  grösser 


;  Jijj  ;/  %rK%<ifx'z^jt4l^^''S° 


■^      ^y  ;"'-S^'^fe!-5';%J";"Sig"  3^P/vJ''-^^ Die  Knorpelzellen 

■^    ^/'"''l'^^'^fCSf '?j;^:^";'^'i';J*?g5'5  rücken  einander 


Bildung   der 

neuen 
Markräunae 


In  der  Grundsubstanz 

sind  Kalksalze  in 
körniger  Masse  abge- 
lagert 


Markräume  im 
Knochen 


Protoplasma  und  zahlreichen  feinsten  protoplasmatischen  Ausläufern, 
die  durch  ein  feinstes  Canalsystem ,  das  von  den  Lymphgefässen  her 
injicirt  werden  kann  —  Knochencanälchen  —  mit  einander  communi- 
ciren,  durch  die  Lamellen  der  Grundsubstanz  hindurch.  Die  Knochen- 
körperchen liegen  in  Knochenhöhlen  oder  Kapseln 5  darum  herum 
die  concentrisch  geschichteten  Lamellen. 

Die  Anordnung  dieser  von  den  Knochenkörperchen  abgeschiedenen 
Knochenlagen  wird  nun  bestimmt  durch  die  Blutgefässe.  Im  wachsenden 
Knochen  sehr  reichlich  (s.  Fig.  361),  sind  sie  im  entwickelten  Knochen 


Bau  des  Knochens.  Verknöcliei'uns 


403 


Fig.  361. 
P  .1 


ow 


E 


Oh 


^r 


natürlich  viel  weniger  zahlreich.  Ausgehend  von  den  in  den  Foramina 
nutritia  eintretenden  Hauptgefässen  liegen  sie  im  Knochen  eingegraben 
in  eigenen  röhrenförmigen  Canälen  {Havers'^cXxQ  Canäle,  s.  P^ig.  362 
und  363,70,  die  bald  nur  ein  Gefäss,  bald  mehrere  (Arterien  und 
Venen)  und  perivasculäre  Lymphräume  enthalten ;  die  letzteren  ana- 
stomosiren  mit  den  Knocheucanälchen.  Um  diese  Ä^frers'schen  Canäle 
herum  liegen  nun  Knochenlamellen  in  Röhrenform,  die  „Ht(«;ers'schen 
Lamellen",  auch  „Speciallamellen"  geuannt  (Fig.  362  und  363).  Natür- 
lich lassen  diese,  wenn  sie  auf  einander  geschichtet  werden,  Räume 
zwischen  sich  leer,  wie  etwa  eine  Anzahl  Wasserleitungsröhren  auf  ein- 
ander geschichtet  auch  freie  Räume  zwischen  sich  lassen.  Auch  diese 
Räume  werden  durch  Knochen- 
substauz  ausgefüllt,  „Sehalt- 
lamelien"  oder  „interstitielle" 
Lamellen  (Fig.  363). 

Nun  ist  aber  der  Knorpel 
nicht  die  einzige  Matrix  des 
Knochens.  Ein  anderer  Theil 
geht  unmittelbar  aus  dem  Binde- 
gewebe hervor,  aus  Perichon- 
drium  und  der  Beinhaut ,  dem 
Periost.  Das  Periost  besteht 
aus  einer  äusseren  derbfaserigen 
zellenarmen,  fibrösen  Schicht  und 
einer  inneren,  weicheren,  gefäss- 
und  zellenreicheren,  der  Bil- 
dungs-  od.  Cambiumschicht 
(Fig.  361,7'').  In  dieser  lenken  die 
Aufmerksamkeit  grosse  mehr- 
kernige Zellen  vom  Charakter  der 
Osteoblasten  auf  sich.  Auch  sie 
scheiden  Knochensubstanz  ab  und 
bilden  so  äussere  Deckschicliten  in 
Form  von  cylindrisclien  Röhren, 
die  beim  wachsenden  Knochen 
„perichondraler"  Knochen  ge- 
nannt werden  (Fig.  361,  F-P)^ 
beim  fertigen    heisst    diese  vom 

Periost  gelieferte  Schicht  „äussere  Grundlamelle"  (Fig.  363).  In  Fig.  361 
ist  diese  ])erichondrale  Knochenbildung  dargestellt.  F  das  faserige  Periost, 
nach  innen  immer  /.ellenreicher,  schliesslich  eine  Schicht  Osteoblasten  (Oh') 
und  darunter  der  junge  periostale  Knochen  (p). 

Die  Analogie  im  Aufbau  des  Knochens  mit  dem  gewöhnlichen 
Bindegewebe  liegt  auf  der  Hand  —  zellige  Elemente  mit  Ausläufern, 
hier  Bindegewebskörperchen,  dort  Knochenzellen  und  dazwischen  eine 
fibrilläre  Zwischensubstanz,  die  im  Knochen  imprägnirt  ist  mit  Kalk- 
salzen, die  vermuthiich  chemisch  gebunden ,  nicht  einfach  mechanisch 
abgelagert  sind;  zwischen  diesen  Fasern  oder  Lamellen  in  beiden 
Systemen  mehr  oder  weniger  Kittsubstanz. 


Ob' 


:-£ 


Aus  einem  Längsschnitt  der  ersten  Fing-erphalanx 
eines  4monatl.  menschlichen  Embryo.  20mal  ver- 
grössert.  M  Buchten  des  primordialen  Markraumes, 
gefüllt  mit  Knorpelmarkzellen  und  h  Blutgefässen; 
r  Riesenzelle:  g  verkalkte  Knorpelgrundsubstanz; 
E  junge  enohondrale  Knochensubstanz,  von  der  Seite 
gesehen ,  E'  von  der  Fläche  betrachtet.  Hier  sieht 
man  schon  zackige  Knochenhöhlen  mit  Knochen- 
zellen. Ob  Osteoblasten  noch  wen^g  geordnet ;  P  peri- 
chondraler  Knochen  ;  Ob'  Osteoblasten  schon  zu  einer 
Lage  geordnet.  Die  beiden  obersten  Osteoblasten  X 
sind  schon  zur  Hälfte  von  Kuochensubstanz  umgeben. 
F  Periost.  —  Dar  links  von  p  gelegene  Theil  des 
Knochens  ist  der  vom  Perichondrium  (Periost)  ge- 
lieferte Knochen  (s.  pag.  405).  Der  rechts  von  p  (g) 
ist  durch  Umwandlung  von  Knorpel  entstanden 
(endochondraler  Knochen). 


"Würde    nun  in    dieser -Weise  der  Knochen  weiter    aufgebaut,    so    bekämen 
massive  Körper  aus  lauter  Substantia  compacta    von    überaus   scliworem  Gewichte 

26* 


wir 
für 


404 


VII.  Capitel.   —  Krankheiten   der  Knochen  nnd   Gelenke. 


die  sie  bewegenden  Muskeln  fast  unbewegliche  Massen.  Wie  aus  der  Physik  bekannt  ist, 
ist  es  für  die  Festigkeit  eines  Gebäudes  gar  nicht  nöthig,  dass  es  massiv  ist.  Es  genügt, 
wenn  in  den  Richtungen,  in  welchen  deformirende  Kräfte  einwirken,  Stützpfeiler,  Ver- 
bindungsbälken  und  Di'uckwiderlager  vorhanden  sind,  die  dem  Druck,  Zug  und  der  seit- 
lichen Verschiebung  widerstreben,  gerade  wie  es  für  ein  Haus  genügt,  wenn  es  feste 
äussere  Wände ,  innere  stützende  Säulen  und  sie  verbindende  Querbalken  besitzt.  So 
verfällt  auch  im  Knochen  all  das,  was  nach  statischen  Gesetzen  unnöthig  ist,  der  Auf- 
saugung und  der  sparsam  und  praktisch  arbeitende  Organismus  lässt  nur  die  statisch 
nothwendigen  Theile  bestehen ;  dadurch  entsteht  im  Knochen  jenes  überaus  interessante 
System  von  Knochenbälkchen,  das  an  jedem  durchsägten  Knochen,  namentlich  am  Ober- 
schenkel und  am  Calcaneus  zu  bewundern  ist.  In  zierlichster  Weise  mit  einander  und 
der  Rinde  verbunden,  entsprechen  sie  genau  den  „Zug-  und  Drucklinien",  in  denen  die 
Festigkeit  des  Knochens  beansprucht  wird.  Wie  die  Trajectorien  einer  Krahnconstruction 
schneiden  sich  die  Spongiosabälkchen  unter  rechtem  Winkel  und  laufen  in  rechtem 
Winkel  gegen  die  äussere  Oberfläche  der  Knochen  aus.   „Der  Knochen  ist  aus  körperlich 


Fig.  362. 


Knoclienkörperchen 


Ausläufer  der 
Knoclienkörperchen 


CjL  i^   < 


Havers'sches 
Canälchen 


V^ 


>}'. 


\ 


-   ^-'V^v..     ;r^^^^l-f 


Havers' sehe 
Lamellen 


7     ^^hhf  '^^--^ 


/ 


Knochenkorperclien 


gewordenen  Druck-  und  Zugcurven  aufgebaut"  {Kulmann  und  v.  Meyer).  „Nur  die 
statische  Brauchbarkeit  und  Nothwendigkeit  und  das  statische  Ueberflüssigsein  ent- 
scheiden über  die  Existenz  und  Oertlichkeit  jedes  einzelnen  Knochenpartikelchens  und 
demgemäss  auch  über  die  gesammte  Knochenform"  {Jul.  Wolff,  Langenheck's  Arch.,  42). 
So  hat  der  Calcaneus  eine  „Dachstuhlconstruction"  (H.  v.  Meyer),  der  Wirbelkörper  eine 
„Fachwerkconstruction"  (K.  Bardelehen),  der  Oberschenkel  die  Construction  eines  Krahns 
(H.  V.  Meyer)  u.  s.  w. 

Die  in  dieser  Weise  frei  werdenden  Räume  im  Knochen  nimmt  die  Marksubstanz 
in  Anspruch.  Je  nachdem  wir  weite  zusammenhängende  Räume  haben,  bekommen  wir 
Knochen  mit  weiten  Markhöhlen  —  die  Röhrenknochen  —  oder  solche  mit  markerfülltem, 
kleinerem  Maschenwerk  —  spongiöse  Knochen. 

Das  Mark  ist  im  Wesentlichen  lymphoider  Natur  und  ähnelt  in 
seinem  Aufbau  der  Milz,  der  es  auch  in  functioneller  Hinsicht  nahe 
steht  (Blutbildung).  So  lange  der  Körper  im  Aufbau  begriffen  ist,  finden 
wir  das  rothe  Mark  (lymphoides  Mark).  Ein  massenhaftes  Blutgefäss- 


Bau  des  Knochens.  Knochenmark.  405 

System  durchzieht  ein  feinstes  bindegewebiges  Reticulum,  worin  allerlei 
zellige  Elemente  liegen,  weisse  Blutkörperchen  verschiedener  Art,  rothe  Blut- 
körperchen in  verschiedenen  Graden  der  Umwandlung  und  des  Werdens, 
vielkernige  Riesenzellen  —  Myeloplaxen  - —  daneben  auch  Fettzellen 
in  geringer  Zahl  (s.  Fig.  361,  M,  h,  r  u.  Fig.  364). 

Ist  der  Organismus  fertig,  so  wandelt  sich  das  rothe  Mark  um 
in  gelbes  Mark.  Hier  überwiegt  Fettgewebe  —  grosse  Fettzellen, 
Körnchenzellen  und  Fetttröpfchen  in  das  Reticulum  eingelagert-  daneben 
tinden  sich  noch  die  Elemente  des  rothen  Markes  —  jedoch  an  Zahl 
und  Mächtigkeit  erheblich  reducirt.  Es  ist  überaus  interessant,  dass  das 
gelbe  Mark  —  wenn  uöthig  —  sich  in  rothes  Mark  zurückverwandeln 
kann ;  oder,  was  vielleicht  richtiger  ist ,  das  sich  dann  mächtig  ent- 
wickelnde rothe  Mark  verdrängt  das  gelbe,  und  so  findet  man  rothes 
Mark  z.  B.  bei  Knochenbrüchen  an  der  Stelle  der  Verletzung  wieder.  — 
Ein  Zeichen  schwerer  Entartung  ist  das  Gallertmark  (gelatinöses 
Mark).  Es  handelt  sich  um  eine  schleimige  Entartung  des  gelben  Fett- 


Fig.  363. 


Periost 

Aeussere  Grundlamellen 
^_^,  Havers'sche  Canäle 

— -^  Haveis'sche  Lamellen 


Schaltlamelleu 
Innere  Grundlamellen 

Mark 


Ä     '  -  "^^ 


markes ,  mit  Auftreten  von  Sternzellen ,  schleimiger  Zvvischensubstanz, 
wie  dies  sclion  pag.  47  und  bei  der  Besprechung  des  Lipoma  myxiv 
matoäum  und  des  Myxoms  (pag.  324)  geschildert  ist.  Gallertmark  findet 
sich  gleichzeitig  mit  allgemeinem  Körperschwund,  namentlich  im  Alter. 

Das  Mark  besitzt  gleichfalls  die  Fähigkeit,  Knochen  zu  bilden. 
Wahrscheinlich  entfalten  die  Riesenzellen  des  Markes  die  Thätigkeit 
der  Osteoblasten.  Die  vom  Mark  gebildeten  innersten  Lagen  der  Rinden- 
substanz, der  Substantia  corticalis,  werden  „innere  Grundlamellen'"  ge- 
nannt (s.  Fig.  363). 

Noch  bleibt  die  Bildung  der  grösseren  oder  kleineren  —  Mark- 
räume zu  schildern.  Sie  entstehen  durch  Resorption  von  Knochen- 
substanz und  liegt  hier  gleichfalls  ein  sehr  interessanter  Vorgang  vor 
(Fig.  364  nach  Stölir).  Die  Havers'^ohQw  Canäle  werden  zu  diesem 
Zwecke  ausgeweitet.  Man  findet  in  dem  erweiterten  Raum  allerlei 
zcllige  Elemente,  weisse  Bhitzellcn  u.  s.  w.,  dann  unmittelbar  den  Knochen- 
bälkchen  anliegend  vielkernige  Riesenzellen  —  hier  (Fig.  364,  R)  „Osteo- 
klasten", Knochenzerbrecher  genannt.  —  Wo  sie  —  im  Präparate  — 
ausgefallen  sind  (  Fig.  364,  L^  u.  L),  zeigt  sich  eine,  wie  ausgenagte  Lücke 


406 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Krio(;}icii   und  Gelenke. 


Fig.  364. 

JIL     RL 


.L, 


Aus  einem  Querschnitt  des  Humerus 
einer  neugeborenen  Katze,  240mal  ver- 
grössert.  H  Harers' sches  Canälchen, 
zwei  Gefässe  u.  Markzellen  enthaltend. 
K  Knochen.  L  Hon^ship'sche  Lacunen, 
in  denen  R  Kiesenzellen  (Osteoklasten) 
liegen.     I/,  Leere  Laeune. 


im  Knochenbälkchen  —  die  Howship'aahe  Laeune.  In  welcher  Weise  die 
Aufsaugung-  der  Kalksalze  und  die  Resorption  der  Grundsubstanz  erfolgt, 
ist  noch  nicht  festgestellt.  Die  Einen  denken  an  die  lösende  Wirkung 
der  im  Blute  enthaltenen  Kohlensäure,  Andere  glauben  an  einen  mecha- 
nischen Druck  seitens  der  Osteoklasten 
oder  der  Blutgefässe.  Möglich  wäre  es 
auch,  dass  der  Organismus  sich  der  äther- 
phosphorsauren  Salze ,  die  in  Wasser  lös- 
lich sind,  bediente,  sowohl  um  das  Material 
herbeizuschaffen,  andererseits  auch  wieder 
die  phosphorsauren  Salze  in  ätherphosphor- 
saure  zurückverwandelte,  um  sie  wieder 
abführen  zu  können. 

In  dieser  Weise  wird  der  Knochen 
allmählich  aufgebaut,  umgewandelt  und 
erneuert,  und  dies  ist  auch  im  Wesentlichen 
die  Art  und  Weise,  wie  Störungen  seiner 
Structur  —  seien  sie  nun  durch  Ent- 
zündungen oder  insbesonders  durch  Ver- 
letzung (Fractur)  entstanden  —  wieder 
ausgeglichen  werden.  Es  sind  Processe,  combinirt  aus  Anbildung  an  der 
einen,  Aufsaugung  an  anderen  Stellen,  beherrscht  weniger  durch  Nerven- 
einfluss,  als  durch  die  pag.  404  besprochenen  mechanischen  und  statischen 
Momente,  durch  das  sogenannte  „Transformationsgesetz"  des  Knochens 
(Jul.  Wolf),  oder  das  Gesetz  der  „functionellen  Anpassung"  (Roux)^ 
dass  jede  Function  sich  die  ihr  nothwendige  Form  schafft.  (S.  auch 
bei  Deformitäten.) 

Es  erübrigt  noch  Einiges  hinzuzufügen,  z.  B.  über  die  Bildung 
von  Knochensubstanz  direct  aus  Bindegewebe  —  wie  der  Unter- 
kiefer und  die  Knochen  des  Schädeldaches  entstehen.  Dieser  Process 
ist  nur  wenig  verschieden  von  der  periostalen  Knochenbildung,  die 
pag.  403  geschildert  ist.  Die  reichlich  vorhandenen  Riesenzellen  — 
Osteoblasten  —  veranlassen  eine  Kalkablagerung  in  den  sie  umgebenden 

Bindegewebsfasern  und  scheiden 
zugleich  Grundsubstanz  aus,  die 
gerade  so  verkalkt.  Die  Osteo- 
blasten werden  dann  zu  Knocheu- 
körperchen  u.  s.  f.  Bei  der  Bildung 
von  Periostcallus  bei  Knochen- 
brüchen wird  uns  dieser  Process 
wieder  begegnen  (s.  Fig.  365). 

Das  Periost  steht  ausser- 
dem mit  der  Rindensubstanz  in 
Verbindung  durch  faserige  Aus- 
strahlungen, theils  aus  elastischem, 
theils  aus  fibrillärem  Bindegewebe,  die  in  röhrenförmige  Canäle  der  Com- 
pacta  einstrahlen  {Sharpey' sehe  Fasern).  Diese  finden  sich  nur  in  den 
vom  Periost  gebildeten  Knochenpartien,  fehlen  also  in  den  eigentlichen 
Harers' sahen  Lamellensystemen,  ebenso  in  den  vom  Mark  gebildeten 
Knochentheilen. 


c3' 


CCD 


^ 


S^ 


B 


^) 


B  Bindegewehsbündel  bei  B, 
oh  Osteoblasten. 


Knochenbildung  aus  Bindegewebe  und  durch  Metaplasie.  407 

Schliesslich  ist  noch  der  metaplastische  Typus  der  Knochen- 
bildung- zu  erwähnen.  An  der  Hand  von  Fig\  366  (nach  Stöhr)  lässt 
sich    unmittelbar   der  Uebergang   von    Knorpelzellen    in   Knochenzellen 

und  der  Knorpelgrundsubstanz  in  Knochen- 
^'^-  ^'^^-  grundsubstanz   beobachten.    Unter  patholo- 

~^-~ gischen  Verhältnissen  kommt  dieser  Typus 

,y-  ^^  nicht  so  selten  vor  (Rachitis). 

i'v^      '  ^  r    '  Es  ist  hier  ein  alter  Streit   über  das 

^-^-^r —  \     ="v-^       Knochenwachsthum    zu    berühren.     Lange 

'^21,  '. Zeit  war  die  Theorie  die  herrschende,  dass 

^ : V)  der  Knochen  nur  durch  „Apposition"  wachse, 

"■^^  — Cä:  durch  Auflagerung-  an  den  Epiphysenlinien, 

U;.V^   :^~-^  vom  Periost  und  vom  Mark  aus,  dass  aber 

'"^  der  einmal  fertige  Knochen  unveränderlich 

^^LrfXs^ru^twne'nHwIs:      »^i ,    dass    keinerlei    Einlagerung    neueren 

240mal    vergrössert.     Metaplastischer         GcWCbCS     ZWischcU      diC     alten      Gcwebc     Cr- 
Typus.  CKnorpelsrundsubstanz  direct  n  ■•  ->  ■,      .  -r-i  •        a      -\  i^      ,  • 

übergehend  in  K  Knoohengrundsuh-      lolgc,  dass  kcnic  „Expansiou"  dcs  tcrtigen 

IXnf  ^cTÄerga^ffofrton'      Knochcus  möglich  sei.  Gefolgert  wurde  dies 

Knorpelzellen  zu  Knochenzellen.        namentlich     aus    dcr    angcblichcn    Unver- 

änderlichkeit  zweier  in  bestimmten  Entfer- 
nungen in  den  Knochen  eingetriebener  Löcher  oder  Stifte.  Die  Beob- 
achtungen sind  nicht  übereinstimmend ,  und  es  scheint  heute  die  Auf- 
fassung- sich  anzubahnen  (Strelzoff)^  dass  der  Knochen  immerhin  ein 
bescheidenes  interstitielles  Wachsthum  besitzt,  und  dass  einzelne,  wie 
die  Knochen  des  Schädels,  nicht  an  den  Nähten,  sondern  vorwiegend 
durch  interstitielles  Wachsthum  sich  vergrössern.  Manche  pathologische 
Erscheinungen  —  z.  B.  die  Ausdehnung  der  Knochen  durch  centrale 
Geschwülste  (s.  Sarkome,  pag.  339),  scheinen  auch  nicht  anders,  als 
durch  interstitielles  Wachsthum  erklärt  werden  zu  können. 


Von  den  Entwicklungsstörungen  des  Knochens  kommt 
mangelnde  und  fehlerhafte  Anlage  von  Knochen  nicht  so  selten 
vor.  So  sind  Fälle  bekannt  von  angeborenem  gänzlichem  Mangel  eines 
oder  beider  Schlüsselbeine.  Häufiger  fehlt  von  den  beiden  Vorderarm- 
oder Unterschenkelknochen  der  eine,  so  namentlich  Fibula  oder  Ulna. 
Die  Folge  ist  meist  eine  Verkrümmung  des  Gliedes  durch  Verschiebung 
von  Hand  oder  Fuss  nach  der  Seite,  wo  der  Knochen  fehlt  —  manche 
Fälle  von  angeborenem  Plattfuss,  Klumphand  u.  dergl.  Bei  der  Zerlegung 
findet  man  nur  einen  fibrösen  Strang  an  der  Stelle,  wo  der  Knochen 
liegen  sollte ,  oder  ein  Theil ,  z.  B.  das  obere  Ende  der  Fibula ,  ist  als 
dünner,  nach  der  Mitte  hin  spitz  endender  Knochenstreifen  vorhanden. 
Es  scheint   frühzeitiger  Untergang    der  Ossificationspnnkte   vorzuliegen. 

Bei  anderen  angeborenen  Verkrümmungen,  angeborener 
Kluni})-  und  riattfuss,  vielleicht  auch  angeboicnc  Iliiftverrcnkung, 
ist  die  Anlage  des  Knochens  die  normale;  die  regelrechte  Entwicklung 
wird  jedoch  gehemmt  durch  falsche  Lage  und  Haltung  des  Kindes  in 
der  Gebärmutter  bei  wenig  Fruclitwasser  oder  durch  amniotische  Fäden. 

Die  hantigste  Entwicklungsstörung  des  Knochens  ist  die  Racliitis, 
englische  Krankheit  (rickets),  Zwiewuchs. 


408  ^^^-  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  nnd  Gelenke. 

Die  Rachitis  kommt  in  seltenen  Fällen  während  des  fötalen  Lebens 
vor  (fötale  oder  congenitale  Rachitis)  und  ist  dann  meist  selir  hoch- 
gradig. Am  häufigsten  beginnt  sie  gegen  Ende  des  ersten  Lebensjahres 
oder  im  Laufe  des  zweiten,  um  nach  1 — 3  Jahren  allmählich  wieder  zu 
schwinden.  Sie  entspricht  also  hauptsächlich  der  Periode  des  ersten 
raschen  Wachsthumsschubes.  Das  Vorkommen  der  Spätrachitis,  die 
in  den  späteren  Kinderjahren  oder  in  der  zweiten  Wachsthumsperiode, 
vor  und  während  der  Pubertätsjahre,  auftauchen  soll ,  wird  mit  Recht 
bezweifelt. 

Dem  Deutlichwerden  der  rachitischen  Veränderungen  am  Knochensystem  geht 
meist  eine  Periode  schlechten  Gedeihens  oder  wirklichen  Krankseins  des  K^indes  voraus, 
Masern,  Keucliliusten  u.  dergl.  Häufig  zeigen  sich  vor  und  während  des  Bestehens  der 
Rachitis  Bronchiten  und  Diarrhöen.  Oft  findet  sich  Eachitis  auch  bei  Kindern,  die  nie 
krank  waren ,  aber  unzweckmässig  genährt  (zu  lange  fortgesetzte  Milchnahrung)  oder 
schlecht  gehalten  sind.  Dass  atrophische,  congenital  syphilitische  und  scrophulöse  Kinder 
in  hohem  Grade  zu  Eachitis  disponirt  sind,  ist  natürlich. 

Die  klinischen  Erscheinungen  der  Rachitis  sind  folgende. 
Die  Kinder  nehmen  nicht  mehr  zu ,  sehen  blass  und  elend  aus ,  mit 
altem ,  oft  faltigem  Gesicht ;  Husten  stellt  sich  ein ,  ebenso  Diarrhöen. 
Der  Bauch  treibt  sich  trommeiförmig  auf.  Die  Kinder  werden  mürrisch, 
weigern  sich  zu  gehen  oder  zu  stehen.  Die  Veränderungen  an  den 
Knochen  machen  sich  namentlich  geltend  an  den  Epiphysenlinien; 
hier  quillt  der  Knorpel  vor,  so  dass  die  Epiphysenlinie  als  ein 
etwas  weicherer  gewulsteter  Ring  erscheint,  und  es  oft  aussieht,  als 
ob  über  der  normalen  Epiphyse  mit  ihrem  etwas  dickeren  Gelenktheil 
noch  eine  zweite  Gelenkanschwellung  läge  (daher  „Zwiewuchs").  Dies 
ist  namentlich  deutlich  an  Hand  und  Fussgelenk,  während  sich  im  Knie 
meist  X-Beine  ausbilden.  Die  Ansatzstellen  der  Rippenknorpel  an  die 
Knochen  treten  als  bohneugrosse  Anschwellung  sieht-  und  fühlbar  her- 
vor,  „rachitischer  Rosenkranz". 

Zugleich  zeigen  aber  auch  die  Diaphysen  erhöhte  Biegsamkeit 
und  wachsen  bald  zu  abnormen  Formen  aus.  Die  sonst  nur  leicht  ge- 
schwungene Oberschenkeldiaphyse  kann  zum  völligen  Halbkreis  werden, 
der  Unterschenkel  wird  bogenförmig,  namentlich  nach  auswärts  ge- 
bogen (0-Bein),  oder  schraubenförmig  nach  aussen  gedreht.  Aehnliche 
Verbiegung  zeigt  der  Vorderarm.  Die  Rippen  werden  in  ihrer  Mitte 
eingedrückt  (vermuthlich  durch  den  Druck  der  im  Wickelkissen  gegen 
die  Brust  angelegten  Arme);  damit  tritt  ihr  vorderes  Ende  schnabel- 
förmig nach  vorn  und  natürlich  das  Brustbein  mit.  So  entsteht  die 
rachitische  Hühnerbrust  (Pectus  gallinaceum)  oder  Kielbrust  (P.  ca- 
rinatum).  Die  Wirbelsäule  wird  meist  in  einem  gleichmässigen  Bogen 
nach  der  Seite  getrieben  (rachitische  Scoliose ,  vielleicht  vom  Tragen 
der  Kinder  auf  einem,  dem  linken  Arm);  oft  sind  auch  nur  einzelne  Theile 
der  Wirbelsäule  in  spitzem  Bogen  seitlich  ausgewichen. 

Die  rachitischen  Knochen  zeigen  erhöhte  Brüchigkeit. 
Rachitische  Kinder  brechen  oft  bei  leichtester  Verletzung  die  Knochen 
(Oberschenkel,  Vorderarm,  Schlüsselbein),  doch  brechen  die  Knochen 
meist  nicht  ganz  durch ,  sondern  knicken  nur  ein  —  rachitische  In- 
fractionen.  Die  Heilung  erfolgt  meist  schnell. 

Dann  sind  häufig  Knickungen  in  den  Epiphysenlinien  (ohne 
Verletzungen).  Die  Diaphyse  setzt  sich  oft  in  stumpfem  Winkel  an  die 
Epiphyse  an  (oberes  und  unteres  Ende  der  Tibia). 


Rachitis.  -  409 

Der  Schädel  wird  eckig  und  plump,  oft  förmlich  viereckig 
(Caput  quadratum);  das  Hinterhaupt  wird  —  durch  den  Druck  des 
Lagers  —  flach  und  plattgedrückt,  die  Stirnhöcker  ragen  vor;  die 
Fontanellen  bleiben  lang  offen,  schliesslich  können  die  Schädelknochen 
so  weich  bleiben,  dass  das  Schädeldach  fast  ganz  aus  Bindegewebe  zu 
bestehen  scheint  (Craniotabes). 

Die  Zähne  zeigen  eine  Querrille  zwischen  Hals  und  Rand. 

Die  Gelenkbänder  werden  schlaff  und  gedehnt  (z.  B.  die  Seiten- 
bänder am  Knie)  und  es  entsteht  ein  massiger  Grad  von  vSchlotterge- 
lenk.  Dabei  werden  die  Ansatzstellen  der  übermässig  beanspruchten  Ver- 
stärkungsbänder oft  schmerzhaft  (Knie-  und  Fussgelenk). 

Welche  Form  der  Verkrümmungen  schliesslich  bei  dieser  gestei- 
gerten Modellirbarkeit  der  Knochen  entsteht,  das  hängt  wesentlich 
davon  ab ,  ob  die  Kinder  während  der  Krankheit  mehr  stehen  und 
gehen  (bogenförmige  Krümmungen  der  Diaphysen,  rachitisches  X-  u.  0- 
Bein,  rachitischer  Plattfass,  Scoliosen)  oder  liegen  (Epiphysen-Knickun- 
gen,  Craniotabes). 

Meist  ist  der  Verlauf  der  Rachitis  ein  chronischer,  ein  bis  zwei 
Jahre  und  mehr,  doch  kommt  in  seltenen  Fällen  auch  eine  acute 
Rachitis  (üio7/er'sche,  Barloiv'&che  Krankheit)  {Hirschsprung ^  Jahrb. 
f.  Kinderheilkunde,  95,  Band  41).  Bei  schlecht  genährten  Kindern  unter 
einem  Jahre  entwickeln  sich  schmerzhafte,  tiefliegende  Anschwellungen 
der  Röhrenknochen  (Blutungen  unter  das  Periost).  Daran  schliessen 
sich  Zahnfleischentzündungen,  Schweisse.  profuse  Diarrhöen,  mitunter 
auch  kleine  Blutungen  in  die  Haut  (Petechien),  Schleimhautblutungen 
(ähnlich  dem  Scorbut).  Die  Prognose  dieser  hämorrhagischen  Formen 
ist  schlecht.  Die  Dauer  der  Krankheit  ist  6 — 8  Wochen.  Die  Behand- 
lung ist  antiscorbutische  Ernährung  (s.  ])ag.  388),  viel  Licht  und  Luft. 
Barloic  empfiehlt  frische  Milch,  Kartoffelbrei,  Fleischsaft  (esslöffel weise), 
Saft  von  Trauben,  Apfelsinen,  Citronen  u.  s.  w. 

Die  histologischen  Befunde  bei  Rachitis  weisen  überall 
Störungen  der  Ossificationsvorgänge  auf. 

Vergleicht  man  Fig.  367  (Vergrösserung  ca.  20)  mit  Fig.  362,  so 
werden  die  Unterschiede  sofort  klar  werden.  Die  schöne  Regelmässig- 
keit, das  gleichmässige  Vorschreiten  der  Knorpelumwandlung  und  Knochen- 
bildung ist  verschwunden.  Ueberaus  reichliehe  Gefässschlingen  dringen 
regellos  gegen  den  Knorpel  vor,  die  innerhalb  des  Knorpels  sich  ab- 
spielenden Processe  —  Kerntheilung,  Zellneubildung  und  Umbildung  — 
erfolgen  gleichfalls  nicht  in  normaler  Weise.  Die  Knorpelzellen  liegen 
regellos  durcheinander,  von  scharfer  Richtung  der  Knorpelsäulen  ist 
keine  Rede  mehr.  Ebenso  sind  die  eigentlichen  Ossiflcationsproeesse  in 
Unordnung  gerathen.  Wohl  scheiden  die  Osteoblasten  —  unter  dem 
Einfluss  überreichlicher  Vascularisation  —  Grundsubstanz  in  Massen 
aus,  aber  es  kommt  nicht  zur  Kalkablagerung;  man  hat  „osteoides" 
Gewebe,  aber  ohne  Kalkablagerung.  Knochenknorpcl  ohne  Kalksalze 
und  daher  rührt  die  abnorme  Weichheit  des  rachitischen  Knochen. 
Ganz  in  derselben  Weise  ist  die  jjeriostale  und  perichondrale 
Knochenbildiing  gestört  —  auch  hier  viel  Gefässe  und  osteoides  Ge- 
webe. —  Die  ncugebildeten  Knochenbälkchen  zeigen  nicht  die  regel- 
mässige Anordnunu'.  sondern  sind  in  verschiedenster  Richtung  durch 
einander  geschoben.    Im  Knorpelgewebe  selbst  bilden  sich  Markräume, 


410 


VII.  Caijitel.  —  Krankheiten  der  Knoclien  und  Gelenke. 


V\ 


denn  die  Resorptionsvorgänge  sind,  nach  der  Reichliclikeit  der  jungen 
Gefässe  und  der  Weite  der  Markräume  zu  schliessen,  in  hohem  Grade 
gesteigert ;  ein  Grund  mehr  für  die  Gebrechlichkeit  der  Knochen.  — 
Das  eigentliche  Geschehen  bei  diesen  rachitischen  Veränderungen  ist 
unbekannt.  Die  Einen  beschuldigen  verminderte  KalkaufViahme,  die 
Anderen  vermehrte  Ausscheidung  derselben ,  wieder  Andere  das  Vor- 
handensein einer  Säure  (Milchsäure).    Im  Urin  findet  sich  bei  Rachitis 

keine    constante  Vermehrung 
^'s.  367.  ^jgj.    Kalksalze,     wohl    aber 

\    \\.\l\V\Vv  scheint     mit     dem     Stuhl 

mehr  Kalk  ausgeschieden  zu 
werden. 

Haffenbach,  ebenso  Mis- 
coli  halten  die  Rachitis  für 
eine  Infectionskrankheit. 

Heilt  die  Rachitis,  so 
kommt  es  zur  Verknöcherung 
des  reichlichen  osteoiden  Ge- 
webes ,  und  jetzt  scliiesst 
der  Ossificationsprocess  meist 
über  das  Ziel  hinaus.  Die 
rachitischen  Knochen  werden 
sehr  dick,  plump  und  schwer, 
bekommen  eine  ungewöhnlich 
starke  Rindensubstanz  bei 
engem  Markraum  (Eburneatio 
rachitica)  und  der  Knochen 
bau  bleibt  zeitlebens 
und  plump. 

Bei  der  Behandlung 
der  Rachitis  spielt  die 
Hebung  des  Allgemeinbelin- 
dens  die  Hauptrolle.  Neben 
guter  Ernährung  (Fleisch, 
^I  Eier ,  Milch ,  Bier ,  nicht  zu- 

viel Brot  und  Kartoffeln) 
erreicht  man  am  meisten  mit 
Soolbädern ,  wenn  nöthig 
künstlichen  (1 — 1"5  Kilogrm. 
Viehsalz  oder  Mutterlaugensalz  auf  eine  Kinderbadewanne  =  2 — 3  Pro- 
cent), Seebädern,  Höhenklima  u.  s.  w.,  viel  frischer  Luft  —  Bewegung 
nur  unter  sorgfältiger  Beaufsichtigung,  sonst  viel  Liegen,  um  Verkrüm- 
mungen zu  verhüten.  Man  rege  die  Kinder  nicht  zum  Gehen  oder  Stehen  an. 
Von  Äledicamenten  habe  ich  von  Phosphor  (O'Ol  auf  lOO'O  Ol. 
jecor.  aselli,  einmal  täglich  nat-h  dem  Mittagessen  ein  Kafteelöffel ;  um- 
schütteln!) hin  und  wieder  Gutes,  meist  jedoch  keinen  sichtbaren  Erfolg 
gesehen;  eher  noch  von  Arsenik  (Ac.  arsen.  O'l.  Extr.  Liquir.,  Muc. 
gumm.  arab.  aa.  q.  s.  ut  fiant  pilulae  50,  1—2  Pillen  täglich,  nach 
dem  Essen).  Auch  Eisen  wird  gerühmt  und  Leberthran.  —  Die  Verab- 
reichung von  Kalksalzen  (z.  B.  Conchae  praeparatae,  mehrmals  täglich 
1  Messerspitze  in  Milch  oder  in  der  Suppe)  nützt  nicht  viel. 


grob 


TSa^  '-i-'r.is^'AS'ai' 


iii^. 


-..4^ 


Behandlung  der  Rachitis.  Osteomalacie.  411 

Bei  der  Behandlung  der  Folgen  der  Rachitis,  der  Verkrüm- 
mungen ist  von  der  Maschinenbehandlung  wenig  zu  erwarten.  Ein 
grosser  Theil  der  rachitischen  Verkrümmungen  (0-u.  X-Bein,  Rosenkranz) 
bessert  sich  in  den  nächsten  Jahren  von  selbst.  Bleiben  hochgradige 
Verkrümmungen  stationär,  was  nach  Veit  {Langenheck' s  Arch.,  50)  etwa 
vom  6.  Jahre  ab  der  Fall  ist,  so  ist  nur  die  aseptische  Osteotomie 
am  Platze  (ein  2 — 4  Centimeter  lauger  Weichtheilschnitt  legt  den 
Knochen  bloss,  der  mit  dem  Meisel  zu  Vi  durchtrennt  und  dann  von 
der  Hand  vollends  durchgebrochen  wird.  Die  neu  gewonnene  gute 
StelluDg  wird  durch  einen  Gipsverband  festgehalten).  Auch  die  un- 
blutige Knochenzerbrechung  (Osteoklase)  gibt  gute  Resultate. 


Bei  der  Osteomalacie,  einer  Krankheit,  die  nur  bei  Erwachsenen 
vorkommt,  handelt  es  sich  nicht  um  ein  Weichbleiben  des  nicht  fest 
werdenden  Knochens,  sondern  um  ein  Wiederweichwerden  eines  festen 
Knochens. 

Histologisch  handelt  es  sich  um  ein  rasches  Ueberhandnehmeu  der  Markraum- 
bildung und  eine  Einschmelzung  der  festen  Knochensubstauz.  Das  Mark  ist  im  höchsten 
Grade  hjT)erämisch,  blauroth,  selbst  mit  wirklichen  Blutungen  durchsetzt ;  an  das  Mark- 
gewebe grenzt  osteoide  Substanz,  Knochengewebe  mit  entkalkter  Grundsubstanz  —  ähn- 
lich der  Rachitis,  Kuochenkörperchen  umgeben  von  Grundsubstanz,  aber  ohne  Kalksalze 
und  jenseits  dieser  entkalkten  Schichten  noch  erhaltene  normale  Knochenlamellen.  Es 
scheint  somit,  dass  in  dieser  kalkfreien  Zone  die  Eutkalkung  der  gänzlichen  Resorption 
durch  das  andrängende  Mark  vorausgeht.  Daneben  findet  aber  auch  Neubildung  von 
Knochengewebe  statt,  das  kalklos  bleiben  oder  wieder  kalklos  werden,  aber  auch  kalk- 
haltig sein  kann  (Rihbert).  Man  hat  das  Wesen  der  Osteomalacie  in  der  Lösung  der 
Kalksalze  (Halisteresis)  gesucht.  Wie  diese  erfolgt,  ist  so  wenig  bekannt,  wie  bei  der 
normalen  Knochenresorption  (Milchsäure  und  Kohlensäure?). 

Durch  diese  Steigerung  der  Resorptionsprocesse  wird  die  compicte 
Subi>tanz  aufs  Aeusserste  reducirt;  die  Rinde  wird  zu  einer  dünnrn 
Schale  und  die  Knochen  können  schliesslich  zu  häutigen,  mit  Mark  ge- 
füllten Säcken  werden.  Selbstverständlich  sind  diese  Knochen  äusserst 
biegsam  und  zu  (übrigens  meist  gut  heilenden)  Knochenbrüchen  über- 
aus geneigt  und  so  entstehen  die  furchtbarsten  Verkrümmungen  und 
Veränderungen  der  Körperform.  jMan  spricht  so  von  Osteoraalacia  cer>  a, 
fractiirosa,  fragilis.  (Man  hat  „Guramibecken''.  „Man  kann  die  Becken- 
knochen biegen  und  drehen  wie  eine  Pappscheibe."  Bose^  Chir.  Centralbl., 
95,   16.) 

Die  Osteomalacie  betrifft  meist  schwangere  und  stillende  Weiher 
und  beginnt  dann  in  den  Beckenknochen.  Die  viel  seltenere  extra- 
puerperale Form,  die  auch  Männer  und  alte  Leute  befallen  kann,  nimmt 
ihren  Ausgang  von  der  Wirbelsäule  oder  vom  Brustkorb.  Den  Verbiegungcn, 
die  erst  die  Diagnose  sichern,  gehen  schwere  „rheumatische"  Knochen- 
schmerzen voraus,  die  namentlich  bei  Nacht  heftig  werden.  Nach  einem 
Siechthum  von  Monaten  bis  einigen  Jahren  gehen  die  Kranken  zu 
Grunde.  Die  puer|)erale  Form  kann  mit  dem  Ende  von  Schwanger- 
schaft und  Lactation  aufhijren  und  ausheilen,  um  mit  einer  Conception 
auf's  Neue  hervorzutreten.  Man  hat  mit  gutem  Erfolg  die  Castration 
gemacht  (FehJiufj).  Den  meisten  Kranken  werden  die  durch  die  osteo- 
mahicischc  Beckenverengerung  gesetzten  Geburtshindernisse  verhäng- 
nissvoll (Kaiserschnitt!).  Die  Osteomalacie,  fast  nur  im  Westen  Deutsch- 
lands beobachtet,  ist  in  vielen  Gegenden  gänzlich  ungekannt. 


412  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Atrophie  des  ganzen  Knochennystems  ist  mit  den  ineisten 
Fällen  schweren  Siechthums  verknüpft.  Die  compacte  Substanz  wird  — 
zu  Gunsten  des  Markes  —  rareficirt,  ohne  dass  die  äussere  Form  des 
Knochens  darunter  leidet  (deshalb  „excentrische"  Atrophie,  Osteopo- 
rose, Anostose,  genannt).  Das  Mark  selbst  ist  entweder  stark  fetthaltig, 
häufiger  gelatinös  entartet  (s.  pag.  405).  Die  Folge  ist  dann  erhöbte 
Sprödigkeit  und  Brüchigkeit  des  Knochens  und  Neigung  zu  Spontan- 
fracturen  (s.  pag.  416). 

Man  begegnet  der  allgemeinen  Knochen atrophie  im  hohen  Alter,  bei 
Krebskranken,  schwerer  Syphilis  (in  beiden  letzteren  Fällen  kann 
noch  neben  der  allgemeinen  Atrophie  eine  örtliche  Neigung  zu  Spontan- 
fracturen  bestehen  durch  Krebsmetastasen  oder  Gummiknoten  in  ein- 
zelnen Knochen),  ferner  bei  Tabes  dorsalis  und  Geisteskrankheiten  (Atro- 
■phia  neurotica). 

Durch  Fortfall  der  Schilddrüse  entsteht  Zwergwuchs,  meist  mit  Idiotie  oder 
Cretinismus  (Chondrodystrophia  foetalis  hypoplastica),  durch  v.  Eiseisberg  (Langenheck's 
Arch.,  49)  und  Hofmeister  experimentell  bestätigt. 

Atrophie  einzelner  Knochen  und  der  Knochen  einzelner 
Glieder  ist  ein  häufiges  Vorkommniss.  Meist  handelt  es  sich  um  Körper- 
theile,  die  aus  irgend  einem  Grunde  nicht  mehr  recht  gebraucht  werden. 

Am  häufigsten  sind  es  Erkrankungen  des  Nervensystems, 
namentlich  wenn  sie  den  noch  nicht  völlig  entwickelten  Knochen  betreffen, 
in  erster  Linie  die  „Kinderlähmung"  ,  Poliomyelitis  anterior  acuta. 
Neben  der  Atrophie  und  Lähmung  der  Muskeln ,  die  meist  zuerst  in 
die  Augen  fällt ,  fehlt  fast  nie  die  Atrophie  der  Haut  und  eine  oft 
mehrere  Centimeter  betragende  Verkürzung  und  Verschmächtiguug  der 
Knochen.  Oft  schwinden  die  Erscheinungen  in  den  Weichtheilen  später 
ganz  und  es  bleibt  nur  eine  Verkürzung  der  Knochen  zurück ,  deren 
Ursache  erst  durch  eine  genaue  Anamnese  klar  wird. 

Dann  führen  Gelenkentzündungen  (z.B.  Coxitis)  oft  zur  Atro- 
phie des  ganzen  Gliedes,  wesentlich  durch  die  Gebrauchsstörung. 
Ebenso  wirken  Beschädigungen  der  Epiphysenknorpel,  sei  es 
nun ,  dass  sie  durch  Entzündung  zerstört  werden  (Tuberculose ,  Osteo- 
myelitis), oder  bei  Operationen  an-  oder  ausgeschnitten  wurden  oder 
sonst  Verletzungen  stattgefunden  haben  (traumatische  Epiphysenlösungen). 
Es  können  so  Verkürzungen  bis  zu  15  Centimetern  eintreten.  Diese 
Fälle  von  Inactivitätsatrophie  sind  bei  Kindern  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Behandlung  zugänglich.  Man  muss  auf  jede  Weise  für  aus- 
giebigen Gebrauch  sorgen.  Passende  Stützapparate,  die  das  Gehen 
erleichtern,  Wärme,  Massage,  Elektricität  sind  nützlich. 

Bei  Verkrümmungen  ist  oft  ein  Theil  des  Knochens  im  Wachs- 
thum  zurückgeblieben  (z.  B.  Condylus  externus  femoris  bei  Genu 
valgum) ,  der  andere  hypertrophisch  (Condylus  internus  femoris). 
Nach  Amputationen  atrophirt  der  noch  erhaltene  Rest  des  abgesägten 
Knochens;  so  kann  ein  amputirter  Oberarmknochen  zu  einer  spitz 
endenden  Knochenröhre  werden,  nicht  viel  dicker  als  eine  Fibula. 
Diese  Atrophien  mit  Verschmächtigung  des  ganzen  Knochens  in  Um- 
fang und  Länge    werden  auch    als  concentrische  Atrophien  bezeichnet. 

Schliesslich  habe  ich  Fälle  gesehen,  wo  ohne  jede  nachweisbare  Ursache  oder 
ohne  irgend  eine  sonstige  Anomalie  das  eine  Bein  um  bis  4  Centimeter  zu  kurz  war. 
Bekanntlich  hat  kein  Mensch  zwei  gleichlange  Beine  und  so  mag  der  physiologische 
Unterschied  von  0"5 — 1  Centimeter  auch  einmal  im  angegebenen  Grade  excessiv  werden. 


Atrophie  und  Hypertrophie  der  Knochen. 


413 


Druck  von  Geschwülsten  (Aneurysmen  u.  dergl.)  bringt  locale  Atrophie  der 
Knochen  zuwege  (gewöhnlich  als  Druckusur  bezeichnet)  oder  verbiegt  sie  (z.  B.  das  Sep- 
tum  nariuiu  bei  Polypen).  Selbst  äusserer  Druck  kann  die  Entwicklung  der  Knochen 
beeinträchtigen  (Corset,  schlechtes  Schuhwerk). 


Vorgänge  hypertrophischen  Charakters  kommen  gleich- 
falls vor.  Bald  ist  es  Verminderung  des  dem  Knochen  entgegenwirkenden 
Druckes,  die  ihn  länger  wachsen  lässt,  als  ohne  diese  Schranke, 
wie   der  luxirte  Radius    an  seinem    nun    freien ,    oberen  Ende  sich  um 


Fig.  369. 


mehrere  Centimetcr  verlängern  kann.  Oder  es  ist  vermehrte  Blut- 
zut'uhr  zum  Epiphysenknorpel ,  wie  bei  Osteomyelitis,  wo  ich  erst 
kürzlich  eine  binnen  3  Jahren  entstandene  Verlängerung  der  Tibia  um 
4  Centimetcr  gesehen  (Hdferkh).   Hyjicrtrophirt  von  zwei  parallel  ge- 


414  ^'11.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knoelien  und  Gelenke. 

legenen  Knoelien  (Vorderarm,  Unterschenkel)  der  eine,  so  biegt  er 
sich  zugleich  bog-enförmig.  Diese  letzteren  ,  wie  übrigens  die  meisten 
sogenannten  Knochenhypertrophien  sind  entzündlichen  Ursprunges  fz.  B. 
auch  Pagets  Ostitis  hypertrophica  etc.). 

Zur  Hypertrophie  der  Knochen  sind  auch  manche  Fälle  von 
Riesenwuchs  zu  zählen.  Meist  angeboren,  betreffen  sie  hauptsächlich 
einzelne  Finger  oder  Zehen  (Fig.  368  und  Fig.  360,  Riesenwuchs  der 
I.  u.  11.  Zehe  nach  Albert),  doch  auch  hin  und  wieder  eine  oder  mehrere 
Extremitäten.  Anderemale  ist  enorme  Fettentwicklung  damit  verbunden, 
eine  Art  Lipombildung  (s.  pag.  323)  und  die  Kranken  lassen  sich  schliess- 
lich die  störenden,  zudem  oft  lücerirenden  Anhängsel  amputiren. 

Als  Akromegalie  sind  Fälle  beschrieben,  wo  es  sich  um  eine  beträcht- 
liche Grössenzunahme  der  Hände,  Füsse  und  Gesichtsknochen  ohne  Avesentliche  Bethei- 
ligung der  Weichtheile  handelte.  Man  hat  in  einem  Theil  der  Fälle  Veränderungen  an 
der  Hj'pophysis  cerebri  gefunden  und  deshalb  Füttening  mit  Hypophysenmasse  (1  Ij 
versucht. 


Knochenbrüche. 

Knochenquetschung.  —  Physikalische  Verhältnisse  des  Knochens.  —  Entstehungs- 
weise der  Knochenbrüche.  —  Die  verschiedenen  Bruchformen.  —  Diagnose  der 
Knochenbrüche.  —  Klinischer  Verlauf.  —  Allgemeinerscheinungen  bei  Knochen- 
brüchen.   —    Heilungsweise  der  Knochenbrüche.    —    Callusbildung.    —  Histologie 

derselben. 

Knochenquetschungen  sind  von  den  alten  Aerzten  wegen  der 
Gefahr  der  Pyämie  sehr  gefürchtet  gewesen.  Ist  keine  Wunde  vor- 
handen, so  wird  die  Resorption  des  Blutergusses  durch  Massage,  hydro- 
pathische Umschläge,  später  Bepinselung  mit  Jodtinctur  befördert.  Ist 
eine  Wunde  zugegen,  so  wird  diese  wie  eine  Quetschwunde  (s.  pag.  95) 
antiseptisch  behandelt.  Zu  verhüten  ist,  dass  die  biossliegende  Knochen- 
rinde durch  Vertrocknen  zum  Absterben  kommt  (Trockennekrose),  durch 
feuchte  antiseptische  Umschläge  oder  indem  man  einen  feuchten  Blut- 
schorf C^'cAec^e)  bildet.  Entsteht  nach  einer  subcutanen  Knoehenquetschiing 
später  eine  Verdickung  des  Periosts,  ein  Osteophyt,  so  darf  man  an- 
nehmen, dass  ein  Spaltbruch  des  Knochens  vorlag,  oder  dass  eine  noch 
nicht  ganz  getilgte  Syphilis  vorhanden  ist. 

Auf  Knochenquetschungen  folgt  hin  und  wieder  später  Sarkombildung,  auch  tuber- 
culöse  Knochenentzündung.  Für  den  Gerichtsarzt,  und  für  Unfallversicherungen  ist  es  in 
einem  solchen  Falle  oft  ebenso  schwer,  den  ursächlichen  Zusammenhang  abzulehnen, 
wie  ihn  zu  beiahen. 


Wenn  ein  Knochenbruch  ZU  Stande  kommen  soll,  so  muss 
die  Elasticität  und  Festigkeit  des  Knochens  durch  die  ver- 
letzende Gewalt  überwunden  werden. 

Die  Elasticität  des  Knochens  ist  äusserst  verschieden.  Hier  spielt  das 
Lebensalter  die  wichtigste  EoUe.  Der  Knochen  junger  Kinder  federt  —  gebogen  — 
förmlich  in  seine  normale  Lage  zurück  oder  wird  höchstens  an  einer  Seite  eingebrochen 
(s.  Infractionen).  Mit  zunehmendem  Alter  nimmt  die  Elasticität  ab  und  in  hohem  Alter 
ist  die  Sprödigkeit  der  Knochen  eine  grosse  (vergl.  Atrophie ,  pag.  412).  Yermuthlich 
ist  die  Elasticität  der  Knochen  proportional  dem  procentischen  Verhältniss  der  organi- 
schen Substanz  des  Knochens  zur  anorganischen.  —  F.  r.  Bruns  konnte  den  Schädel  eines 
Erwachsenen  um  1'5  Cm.  verkleinern,  ehe  er  sprang. 


Festigkeit  der  Knochen.  Spontanbrüche.  415 

lieber  die  Festigkeit  der  Knochen  besitzen  wir  genaue  Untersuchungen 
(Rauber,  Messerer).  —  Die  Zugfestigkeit  —  praktisch  bedeutungslos,  da  beim 
Menschen  durch  Zug  wohl  Bandzerreissungen  u.  s.  w.  vorkommen,  aber  keine  Knochen- 
brüche —  beträgt  533  Kgrm.  pro  Qcm.  (am  Humerus) .  d.h.  538  Kgrm.  wären  im 
Stande,  1  Qcm.  Humeriissubstanz  zu  zerreissen.  Eine  Eeihe  anderer  Bestimmungen  er- 
gab 9'25— 12'21  Kilogramm  pro  Quadratmillimeter.  —  Gegen  Druck  ist  der  Knochen 
noch  widerstandsfähiger  (12'56 — 16"8  Kilogramm  pro  Quadratmillimeter).  Die  Druck- 
festigkeit des  Knochens  ist  ungefähr  gleich  der  des  Gusseisens  und  doppelt  so  gi'oss 
wie  die  des  Holzes.  Die  Torsionsfestigkeit  (Drehung  um  die  Längsachse)  beträgt 
ungefähr  8  Kilogramm  (?)   pro  Quadratmillimeter. 

Wie  verschieden  widerstandsfähig  die  Knochen  des  Körpers  gegenüber  äusserer 
Gewalt  sind,  und  wie  verschieden  dieselbe  Kraft  wirkt,  je  nach  der  Richtung,  in  der 
sie  einwirkt,  ersieht  man  aus  folgenden  Zahlen  (nach  P.  Bruns).  Zugleich  geben  die- 
selben einen  Ueberblick  darüber,  welche  Kraft  ungefähr  nöthig  ist,  um  einen  Knochen 
zu  brechen.  (D.  bedeutet  Druck  in  der  Längsachse ,  B.  Biegung ,  T.  Drehung  um  die 
Längsachse,  Torsion.) 

«-'^'a    {   Ji|;:;Ö  lo/g.ö   j         ;,,,,„..c.) 

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™'^ i       =  ?9o  Z.  9    1       *^  ■^^■■^ 

Interessant  ist,  wie  gering  die  brechende  Kraft  zu  sein  braucht,  wenn  sie  drehend 
einwirkt  und  die  durchweg  geringere  Widerstandsfähigkeit  der  —  graciler  gebauten  — 
Weiberknochen.  Auf  den  Querschnitt  berechnet,  ist  das  Festigkeitsmass  des  weiblichen 
Knochens  nicht  kleiner  als  beim  männlichen  Geschlecht. 

Bau,  Form  und  Lage  prädisponirt  einzelne  Knochen  be- 
sonders zu  Brüchen.  So  sind  es  namentlich  winkelige  Biegungen  oder 
bogenförmige  Schwingungen  (Unterkiefer,  Eippen,  Oberscbenkelschaft, 
Schlüsselbein)  oder  winkelige  Achsenknickungen  (Schenkelhals),  die 
gewisse  Knochen  leichter  brechen  lässt,  indem  die  brechende  Gewalt 
den  Winkel  oder  Bogen  zu  vergrössern  oder  zu  verkleinern  strebt  und 
schliesslich  den  Widerstand  des  Knochens  überwindet,  selbst  wenn 
dieser  an  der  betreffenden  Stelle  besonders  kräftig  gebaut  ist  (Adams- 
scher  Bogen  am  Unterkiefer  und  MerkeVscher  Sporn  am  Schenkelhals). 
Vermöge  ihrer  Lage  sind  die  Extremitätenknochen  äusserer  Gewalt 
mehr  ausgesetzt  als  die  des  Rumpfes,  die  Rippen  wieder  mehr  als 
die  Wirbelsäule.  Das  mittlere  Lebensalter  kommt,  obwohl  die 
Knochenfestigkeit  hier  am  grössten  ist,  am  häufigsten  in  die  Lage, 
einen  Knochen  zu  brechen ,  und  die  Männer  wieder  häufiger  als  die 
Frauen.    Die  Ursache  ist  die  Beschäftigungsweise. 

Natürlich  linden  sich  auch  individuelle  Prädispositionen 
zu  Knochenbrüchen.  Momente,  die  die  Festigkeit  des  ganzen  Kuochen- 
systems  herabsetzen,  sind  pag.  412  bei  der  Knochenatrophie  er- 
wähnt (Alter,  Inactivitätsatrophie,  Nervenleiden,  wie  Tabes,  allgemeine 
Paralyse:  Rachitis,  Östeomalacie,  Scorbut,  allgemeine  Sy|)hilis). 

Eine  eigenthümlichc  Form  von  erhöhter  Knochenbrüchigkcit  ist 
die  Fragilitas  ossiuni  idiojiathica  oder  Os tcopsathyrosis,  deren 
Ursachen  unbekannt  sind.     Sie  ist  in  gewissen  Familien  erblich.     Auf 


416  ^11-  CaiJitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

geringfügige  Anlässe  hin  brechen  solche  Individuen  Knochen  ;  die 
Heilung  geht  in  durchaus  normaler  Weise  von  statten.  Ich  habe  selbst 
einen  jungen  Mann  von  23  Jahren  behandelt ,  welcher  bereits  acht 
Brüche  grosser  Knochen  erlitten  hatte,  meist  bei  unbedeutenden  An- 
lässen, Ausgleiten  auf  ebenem  Boden  u.  s.  f.  Sein  Onkel,  ein  rüstiger 
Herr  in  den  Fünfziger-Jahren ,  war  schon  beim  elften  Knochenbruch 
angelangt.  Blanchard  beobachtete  ein  12Y2Jähriges  Mädchen,  das 
bereits  bei  seiner  einundvierzigsten  Fractur  angekommen  war.  Die 
Knochensalze  sind  normal  gefunden ,  man  beschuldigt  eine  krankhafte 
Beschaffenheit  der  organischen  Grundlage  der  Knochen.  fVergl.  Schulze, 
Langenheck' s  Archiv,  47.) 

Oertliche  Erkrankungen  der  Knochen  haben  oft  an  der 
erkrankten  Stelle  eine  Verminderung  der  Widerstandsfähig- 
keit und  damit  erhöhte  Brüchigkeit  zur  Folge  (osteomyelitische  oder 
tuberculöse  Knochenentzündungen ,  syphilitische  Entzündungen  und 
Gummigeschwülste  [neben  der  allgemeinen  Osteoporosis  syphilitica, 
von  der  ich  auch  Fälle  erlebt  habe]).  Ebenso  wirken  Geschwülste  im 
Knochen ,  metastatische  Carcinome ,  Sarkome ,  primäre  Marksarkome, 
Enchondrome,  dann  Echinokokken.  Das  primäre  Carcinom  (oft  sehr  klein) 
sitzt  am  häufigsten  in  der  Brustdrüse,  dann  im  Uterus  oder  Magen.  — 
Oertliche  Atrophie  kann  sich  neben  allgemeiner  bei  demselben  Kranken 
finden. 

Diese  Processe  setzen  die  Knochenfestigkeit  so  sehr  herab,  dass 
oft  die  kleinste  Bewegung,  selbst  ein  Umdrehen  im  Bett,  ein  Husten- 
stoss  einen  Bruch  herbeiführt.  Man  hat  deshalb  diese  Brüche  Spontan- 
fracturen  genannt.  Entsprechender  ist  der  gleichfalls  viel  gebrauchte 
Ausdruck  pathologische  oder  secundäre  Brüche.  Man  hat  an 
diese  Art  von  Brüchen  zu  denken,  wenn  die  vom  Kranken  als  Ursache 
angegebene  verletzende  Gewalt  so  geringfügig  ist,  dass  sie  bei  einem 
Gesunden  keinen  Bruch  erzeugen  könnte. 

Eine  eigenthümliche  Stellung  nehmen  auch  die  spontanen  Epi- 
physenlösungen  ein.  Beim  wachsenden  Knochen  ist  der  Epiphysen- 
knorpel  an  sich  die  schwächste  Stelle ,  und  eine  ziemlich  geringe 
Gewalt  vermag  ihn  zu  lösen.  Der  Epiphysenknorpel  ist  zudem 
eine  zu  Erkrankungen  disponirte  Stelle,  und  leicht  und  häufig 
wird  er  zerstört.  Dann  löst  sich  der  Zusammenhang  zwischen  Epi- 
physe  und  Diaphyse.  Dies  kommt  namentlich  zustande  bei  Osteomye- 
litis, seltener  bei  Tuberculöse.  Dann  findet  sich  bei  hereditärer  Syphilis 
eine  eigenthümliche  entzündliche  Knorpelerweichuug  (Chondritis  syphi- 
litica), die  sich  sogar  zu  förmlicher  Vereiterung  steigern  kann.  Auch 
Scorbut  kann  zur  spontanen  Epiphysenlösung  führen. 

Die  Gewalt,  die  den  Zusammenhang  des  Knochens  auf- 
hebt, wirkt  nur  selten  als  Zug;  häufiger  als  Druck,  indem  der  Knochen 
zwischen  zwei  Flächen  zerdrückt  oder  zerquetscht  wird;  als  Combination 
von  Zug  und  Druck  sind  die  Biegungsbrüche  aufzufassen,  wo  das 
eine  Ende  des  Knochen  unterstützt  und  der  Knochen  unmittelbar  vor  der 
Unterstützungsstelle  (z.  B.  Tischrand)  abgebrochen  wird  oder  in  der 
Mitte  durchgeknickt  wird,  wenn  beide  Enden  unterstützt  und  die  Mitte 
frei  schwebend  belastet  wird.  Schliesslich  entstehen  Brüche  durch 
Drehung  um  die  Längsachse  (Torsion). 


Entstehungsmeclianismus  der  Brüche.  417 

Naeli  der  Entstehungsweise  unterscheiden  wir  directe 
lind  indirecte  Brüche. 

Bei  den  directen  Brüchen  bricht  der  Knochen  unmittelbar  an 
der  Stelle,  wo  die  Gewalt  eingewirkt  hat  (Hufschlag-,  Ueberfahrenwerden 
u.  derg-1.).  Der  Bruchstelle  des  Knochens  entspricht  daher  immer  eine 
grössere  oder  geringere  Verletzung  der  umgebenden  Weichtheile,  die  bis 
zu  einer  völligen  Zertrümmerung  oder  Zerreissung  derselben  und  selbst 
zur  Blosslegung  der  Bruchstelle  gehen  kann.  Wie  wenig  günstig  es  für 
die  Aussichten  der  Wiederherstellung  sein  muss,  wenn  der  zertrümmerte 
Knochen  inmitten  eines  Herdes  gequetschter,  halb  oder  ganz  todter 
Weichtheile  liegt,  liegt  auf  der  Hand.  Auch  der  Knochen  selbst  ist 
lieim  directen  Bruch  seltener  glatt  abgebrochen ,  als  in  eine  grössere 
oder  kleinere  Anzahl  von  Splittern  und  Stücken  zertrümmert. 

Bei  indirecten  Fracturen  hat  die  Gewalt  entfernt  von  der 
Bruchstelle  ihren  Angriffspunkt,  ihre  Wirkung  wird  fortgeleitet  durch 
den  Knochen  oder  auch  Bänder,  Fascien  und  Muskeln.  Der  Angriffs- 
punkt der  Gewalt  kann  von  der  Bruchstelle  ziemlich  weit  entfernt  sein. 
So  bricht  bei  Fall  auf  die  horizontal  ausgestreckte  Hand  mitunter  das 
Schlüsselbein.  Die  Gewalt  pflanzt  sich  durch  die  ganze  obere  Extre- 
mität fort,  die  im  Moment  der  Verletzung  durch  Muskelaction  in  einen 
starren  Stab  verwandelt  ist.  Der  Knochen  bricht  dann  an  der,  ver- 
möge seiner  Form  oder  seines  Baues  schwächsten  Stelle,  z.  B.  das 
Schlüsselbein  an  der  Stelle  seiner  stärksten  Schwingung.  Die  durch 
die  unmittelbare  Einwirkung  der  Gewalt  bedingte  Verletzung  der  Weich- 
theile entspricht  also  nicht  der  Bruchstelle.  Die  Weichtheile  an  dieser 
letzteren  sind  nur  insofern  in  Mitleidenschaft  gezogen ,  als  sie  durch 
den  zerbrochenen  Knochen  verletzt  werden.  Die  Bruchforra  ist  oft  eine 
«infache,  ohne  Splitterung. 

Für  diese  indirecten  Brüche  ist  keineswegs  immer  eine  äussere 
Oewalt  Anlass  der  Fractur,  es  kann  eine  solche  auch  durch  innere 
Gewalt  entstehen,  durch  Muskelzug.  Der  energisch  contrahirte 
Muskel  ist  widerstandsfähiger  als  der  Knochen,  und  dieser  zerreisst; 
meist  sind  es  Knochenfortsätze,  an  denen  starke  Muskeln  sich  ansetzen, 
die  ab-  oder  durchgerissen  werden  —  Patella,  Olekranon,  Tuberculum 
humeri  maj.  u.  min.,  Proc.  posterior  Calcanei,  Proc.  coracoideus  u.  s.  w. ; 
dann  aber  auch  Knochen  in  ihrem  Schaft  —  Humerus,  Femur,  Clavi- 
■cula,  Rippen  (durch  Husten  I). 

Bei  Kiiocheiibriicheu  ist  —  für  die  Aussicliteu  der  Wiederherstellung  —  nicht  blos  die 
Art  und  Intensität  der  verletzenden  Gewalt,  sondern  auch  die  Natur  des  ihr  entgegen- 
wirkenden Widerstandes  zu  beachten.  So  ist  z.B.  beim  Ueberfahren  sehr  wesent- 
lich, wie  die  Unterlage  des  getrotfenen  Körpers  beschallen  ist,  ob  hart  oder  weich.  Am 
schlimmsten  ist  hart  gegen  hart.  So  wird  zwischen  Eisenbahnrad  und  Eisenbahnschiene, 
wie  zwischen  zwei  Scheerenblättern  Alles  ertödtet,  selbst  wenn  Haut,  Fascien  u.  s.  f. 
meclianiscli  noch  zusammenhalten.  Deshalb  sind  auch  die  Pferdebahnüberfahrungen  selbst 
bei  leeren  Wagen  so  scliwer  und  lassen  selten  noch  den  peripheren  Theil  des  Gliedes 
lebendig.  Dagegen  sieht  man  auf  weichem  Feld  bei  beladenem  Erntewagen  oder  schwerem 
■Geschütz  noch  die  Verletzungen  oft  über  Erwarten  gut  enden.  —  Nicht  immer  ist  der 
menschliche  Körper  der  ruhende  und  die  zertrümmernde  Kraft  bewegt  sich  gegen  ihn. 
Häufig  ist  d(!r  Körper  der  bewegte  Tiieil ,  wie  beim  freien  Fall .  und  er  schlägt  gegen 
«inen  ruhenden  Willerstand  auf,  der  Effect  ist  im  Wesentlichen  derselbe.  Auch  hier  ist 
es  ebenso  sehr  zu  beachten,  ob  der  Verletzte  auf  Steine  oder  Sand,  Stroh,  Schnee  u.  dergl., 
auf  eine  glatte  Fläche  oder  eine  scharfe  Kante  aufschlägt. 

Der  Entstehungsmcchanismus  der  Brüche  ist  verschieden 
und  damit  meist   auch  die  Form  derselben,   d.  h.  die  Art   und  Weise, 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  a.  Therapie.  2.  Aufl.  27 


418 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


wie    der  Bruch   den   Knochen    durchsetzt,    die    Anordnung,    Lage   und 
Form  der  Bruchlinien. 

Viele  Brüche  entstehen  durch  Biegung,  indem  z.B.  beim  freien 
Fall  eine  normale  Krümmung  der  Winkelstellung  verstärkt  wird  (Schaft 
des  Femurs ,  Schlüsselbeins ,  Unterkiefers,  Schenkelhals)  oder  über  eine 
Kante  gebogen  wird  (Abknickung).  Oder  ein  Knochen  wird  in  seiner 
Längs-  oder  Querachse  zusammengedrückt  und  zerdrückt  —  Quetschung, 
Zerquetschungsbruch  (Compressionsbruch ,  s.  Fig.  375) ,  schliesslich 
völlig  zertrümmert  —  Zertrümmerungsbruch  (Conquassationsbruch, 
s.  Fig.  377).  Doch  gibt  es  auch  Knochenbrüche  durch  Druck  in 
der  Längsachse,  die  durch  erhebliche,  aber  nicht  so  kolossale  Gewalt 
zustande    kommen.    Hieher   gehören    die    „Einkeilungsbrüche".   Ein 


Fig.  370. 


härterer  Knochen  oder  ein  härterer  Theil  desselben  wird  in  eine 
weichere  Partie  hineingepresst  und  bohrt  sich  in  dieselbe  ein.  Am 
häufigsten  wird  die  schmälere,  aber  durch  ihre  starke  Rindenschale 
festere  Diaphyse  in  die  weichere  und  breitere  Epiphyse  eingekeilt,  so 
namentlich  am  Radius.  Oder  es  keilt  sich  ein  Gelenkkörper  in  den 
anderen  ein,  z.  B.  die  Tibia  in  den  unteren  Gelenktheil  des  Femur. 
Oder  es  werden  weiche  kurze  Knochen  ineinander  hineingepresst  (Wirbel- 
körper durch  hohen  Fall).  Diese  Einkeilung  und  Ineinanderpressuug- 
ist  der  Natur  der  Sache  nach  oft  combinirt  mit  Sprengwirkung. 
Die  Rinde  des  weicheren  Theiles  wird  durch  die  plötzliche  Inhaltsver- 
mehrung  gesprengt.  Eine  Anzahl  von  Spalten  durchsetzen  denselben, 
trennen  auch  einzelne  Theile  ganz  ab.  Ein  schöner  Einkeilungsbruch 
ist  in  Fig.  370  und  371  abgebildet.   Schenkelkopf  und  Hals  sind  in  die 


Verschiecleue  Bruchformen. 


419 


Trochanterpartie  hineingetrieben ,  und  diese  ist  förmlich  auseinander- 
gesprengt, die  G-egend  des  Trochanter  major  ist  nach  oben,  die  des  Tro- 
chanter  minor  nach  unten  verworfen.  Namentlich  deutlich  ist  die  Ein- 
keilnng  auf  dem  Durchschnitt  (Fig.  371). 


Fig.  371. 


Schliesslich  kann   auch   ein   (kleineres)   Stück  aus  dem  Knochen 
heraus-  oder  abgerissen  werden,  Rissbruch,  meist  handelt  es  sich  um 
kleinere  Fortsätze  (Tubercula  u.  dergl.).  —  Dann   haben 
wir  die  durch  Drehung,    Torsion  entstandenen  Brüche.         Fig. 372. 

Eigenartig  ist  die  Entstellungsweise  der  intrauterinen 
oder  angeborenen  Brüche.  Bald  ist  es  eine  während  der 
Schwangerschaft  erlittene  Verletzung  des  Unterleibes  der  Mutter,  bald 
eine  Zerbrechung  durch  die  Contractionen  des  Uterus  während  der 
Geburt.  Am  häufigsten  liegt  eine,  durch  den  Geburtshelfer  während  der 
oft  schwierigen  Geburt  erfolgte  Verletzung  vor.  (Lösung  der  Arme !) 

Der  Entstehungsmechanismus  ist  bei  der  Unter- 
suchung der  Knochenbrüche  wohl  zu  berücksichtigen. 
Denn  je  intensiver  die  Gewalt,  um  so  ungünstiger  sind 
durchschnittlich  die  Aussichten  der  Wiederherstellung. 
Dabei  kommt  es ,  wie  ich  gleich  hier  bemerke ,  ebenso 
sehr,  oft  mehr  auf  den  Grad  der  Verletzung  der  Weich- 
theile  (Gefässc,  Nerven,  Haut)  an,  als  den  des  Knochens. 

Der  Entstchnngsmechanismus  ist  auch  wichtig  für 
die  Beurtheilung  der  Bruch  form.  Diese  zu  kennen, 
äusserst  wichtig  namentlich  für  die  Frage  der  Behandlung. 

Eine  der  häufigsten  Bruchformen  ist  der  Querbruch,  meist  ent- 
standen durch  I>icgung,  direct  oder  indirect.  Eine  gezahnte  Bruclilinie 
(s.  Fig.  ;>72)  durehsefzt  rechtwinklig  den  Knochen,  von  der  Hauptlinic 
gehen  oft  noch  einzelne,  niciit  ganz  durchgehende  Bruchspalten  ab. 

27* 


ist    praktisch 


420 


VII.  Caijitcl.  —  Krankheiten  der  Knoclien  und  Gelenke. 


Der  Scliräghrucb  zeigt  eine  liruchspalte ,  die  mit  der  LängH- 
achse  des  Knochens  einen  spitzen  Winkel  bildet  (beim  Querbrucb  an- 
nähernd   ein   rechter  Winkel).   Fig.  373,  a  u.  &,  Schrägbruch  der  Tibia. 

Der   Entstehungsmechanismus   ist  meist  der  der  Abknickung.     In 
Fig.  373  ist  der  Bruch    so  schräg,    dass  förmliche  Spitzen 
„Flötenschnabel"  —  vorstehen. 


wie  ein 


Fig.  373  a. 


Fig.  373  i. 


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Beim  Spiralbruch  umläuft  die  Bruchlinie  den  Knochen  schrauben- 
förmig. Er  entsteht  indirect  durch  Drehung  um  die  Längsachse,  er  ist 
der^ eigentliche  Torsionsbruch  (s.  Fig.  377). 

Bei  linksspiraliger  Verwindung  entsteht  eine  rechtsspiralige  Bruchlinie  {KrÖlI, 
Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  28). 

Der  'Längsbruch  ist  rein  und  ohne  andere  Bruchlinien  selten. 
Er  kann  direct  entstehen,  z.B.  durch  Schuss,  wobei  von  einem  Loch- 
schuss  Längsbruchlinien  ausstrahlen  (Fig.  373,  a  und  h),  oder  wenn 
zwei  Knochen  gegeneinander  gestaucht  werden,  kann  der  eine  der 
Länge  nach  zerspringen  (Tibiakopf  in  die  Femurcondyleu  eingestaucht 
und  umgekehrt). 


Verschiedene  Bruchformen. 


421 


Abtrennung  kleiner  Knochenstücke  ohne  bestimmte  Bruch- 
linie erfolgt  durch  Abquetschung  und  Abreissung  —  Rissbrüche.  Bald 
sind  es  Muskeln,  bald  auch  gespannte  Bänder.  So  werden  die  Knöchel 
abgerissen  durch  Spannung  der  Seitenbänder  im  Fussgelenk ;  das  untere 
Ende  des  Radius  durch  das  Lig.  carpi  volare  propr. 

Beim  mehrfachen  Bruch  hat  man  mehrere,  oft  unregelmässige 
Bruchspalten.  Sie  entstehen  z.  B.  durch  Zerquetschung.  In  Fig.  375  ist 
ein  Compressionsbruch  eines  Wirbelkörpers  abgebildet  (nach  Albert).  — 
Häufig  werden  durch  diese  mehrfachen  Bruchlinien  ein  oder  mehrere 
Stücke  des  Knochens  ganz  aus  dem  Zusammenhang  mit  dem  übrigen 
Knochen    gelöst   —   Stückbruch.     Bald   sind   es   T-   oder   Y-förmige 


Fig.  374  a. 


Fig.  374  J. 


Bruchlinien,  z.  B.  am  unteren  Gelenktheil  des  Oberarmes  (Fig.  376  nach 
Albert)  oder  Oberschenkels,  die  aus  einem  Längsbruch  durch  Stauchung 
hervorgegangen  sind,  bald  wird  bei  einem  Biegungsbruch  an  der  Con- 
cavität  der  Biegung  ein  keilförmiges  Stück  ganz  herausgeworfen  oder 
bei  einem  Torsionsbruch  ein  oft  rhomboidales  Stück  herausgedreht. 

Von  Doppelbrueh  spricht  man,  wenn  ein  Knochen  an  zwei 
getrennten  Stellen  gebrochen  ist,  so  dass  z.  B.  aus  dem  Oljcrschcnkel- 
schaft  durch  zwei  Querbrüche  ein  grösserer  Tlicil  ganz  herausge- 
brochen ist. 

Bei  Splitter briichen  (Fractura  comminutiva)  ist  der  Knochen 
in    eine    ganze  Anzahl,    oft  mehrere  Dutzende    grösserer  und  kleinerer 


422 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


Stücke  und  Splitter  zertrümmert  (s.  Fig.  377,  Splitterbruch  der  Tibia 
und  Sclirägbruch  der  Fibula  nach  Albert).  Hiezu  gehört  meist  grössere 
Gewalt,  die  als  Quetschung,  Zermalmung  (Fractura  conquassataj,  Ein- 
keilung mit  Sprengwirkung,  Explosion,  Schuss  (namentlich  durch  grobes 
Geschütz)  einwirkt. 

Nebeneinanderliegende  Knochen  (Vorderarm ,  Unterschenkel  und 
Rippen)  brechen  naturgemäss  häufig  miteinander  (mehrfache  Brüche). 
[Fig.  377.] 

Eine  Mittelstellung  zwischen  Knochenbrüchen  und  Verrenkungen 
nehmen  die  traumatischen  Epiphysenlösungen  ein.  Vorwiegend 
auf  indirectem  Wege,  ungefähr  auf  dem  Wege,  wie  sonst  Luxationen 
eintreten,  entstanden,  verhalten  sie  sich  im  Uebrigen  —  als  Aufhebungen 
der  Continuität  des  Knochens,  wesentlich  wie  Knochenbrüche.  (S.  Fig.  378, 
Ablösung  der  unteren  Epiphyse  des  Humerus  nach  Albert.)  Die  Bruch- 
linie   ist  ihnen   durch  Lage  und  Verlauf  des  Epiphysenknorpels  vorge- 


Fig.  376. 


schrieben.  Entsprechend  der  losen  Verbindung  zwischen  Epiphyse  und 
Diaphyse  bedarf  es  meist  nur  geringer  Gewalt,  um  beide  zu  trennen. 
Selbstverständlich  kommen  sie  nur  vor  Beendigung  des  Knochenwachs- 
thums  zu  Beobachtung,  in  der  Kindheit,  Pubertät  und  unmittelbar  nach 
derselben.  In  dieser  Periode  sind  Verrenkungen  seltener,  sie  scheinen 
also  diese  gewissermassen  im  jugendlichen  Alter  zu  vertreten. 

Nicht  immer  durchsetzt  ein  Bruch  den  Knochen  in  seiner  ganzen 
Dicke,  sondern  nur  die  eine  Wand  desselben  —  unvollständige 
Brüche.  Der  Zusammenhang  ist  nirgends  völlig  aufgehoben.  —  Diese 
unvollständigen  Fracturen  entstehen  durch  Knickung,  Eindrückung  oder 
Zusammenpressung.  Knickbrüche  oder  Infractionen  entstehen  durch 
Biegung,  indem  der  Knochen,  z.  B.  ein  langer  Röhrenknochen,  an  der 
concaven  Seite  in  seiner  Rinde  eingebogen,  an  der  stärker  gespannten 
convexen  aber  quer  durchreisst.  Sie  sind  also  unvollständige  Quer- 
brüche. —  Selbstverständlich  kommen  sie  umso  leichter  zustande, 
je  elastischer  der  Knochen  ist ;  also  besonders  bei  Kindern.  Die  beiden 
Stücke  lassen  oft  förmlich  charnierartige  Bewegungen  gegen  einander  zu. 


Diasnose  der  Knochenbrüch©-. 


423 


Bei  platten  Knochen  kommen  in  seltenen  Fällen  gleichfalls  Ein- 
biegungen ohne  Continuitätstrennungen  vor.  So  kann  der  kindliche 
Schädel  durch  das  Promontorium  der  Mutter  oder  die  Zange  des  Ge- 
burtshelfers Einbiegungen  oder  Eindrüekungen  erfahren,  die  meist  sich 
wieder  ausgleichen,  manchmal  aber  auch  das  'ganze  Leben  durch  be- 
stehen. 

Meist  führen  diese  Einbiegungen  zu  Fissuren  oder  Spaltbrüchen. 
Die  Spaltbrüche  stellen  schmale  Bruchspalten  dar,  die  vorwiegend 
an  den  Schädelknochen  sich  finden  und  hier  eigentlich  die  typische 
Fracturform  darstellen.  Ihr  Verlauf  ist  bald  eine  einfache  Längsspalte, 
bald  sternförmig,  Sternbruch,  dessen  radiäre  Strahlen  oft  wieder  durch 
ringförmige  Spalten  verbunden  sind,  so  dass  dadurch  ein  Stück-  oder 
Splitterbruch  entstehen  kann. 

Doch  kommen  Fissuren  auch  an  den  langen  Knochen  vor,  be- 
sonders oft  von  den  Gelenkenden  ausgehend  (s.  Fig.  374).    Ueberhaupt 


gibt  es  wenige  Fracturen ,  wo  nicht  von  der  Hanptbruchspalte  kleine 
Spaltbrüche  in  die  Nachbarschaft  ausstrahlten.  Sicher  sind  Spaltljrüche 
viel  häufiger  als  man  glaubt ,  und  liegen  manchen  Gelenksvcrstau- 
Chungen  und  Knochenqnetschungen  zu  Grunde,  werden  aber  am 
Lebenden  nicht  erkannt,  weil  sie  wenig  markante  klinische  Symptome 
machen. 

Als  unvollständige  Brüche  werden  dann  manche  Formen  von 
Compressionsfracturcn  spongiöser  Knochen  bezeichnet,  wo  die  Masse 
des  Knochens  incinandergekeilt  und  der  Knochen  dadurch  niedriger 
wird  (Wirbelkörper,  Calcaneus). 


lici  Diagnose  der  K noch enbrü che  unterscheidet  man  von 
Alters  her  8nl)jectivc  und  objcctive  Bruclisymptomc. 

Auf  die  subjectiveu  Bruclisymptome,  d.  h.  diejenigen  Er- 
scheinungen,    die    der    Kranke    selbst    angibt,    ist    im  Ganzen    wenig 


424  ^11-  f^'fipitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

ZU  geben.  Manelic  Verletzte  haben  im  Momente  der  Verletzung  das- 
Krachen  des  Knochens  gehört.  Die  Unfähigkeit,  den  Theil,  z.H.  ein 
Bein,  zu  gebrauchen,  zu  gehen,  zu  stehen,  kommt  jeder  stärkeren  Weich- 
theilverletzung  gleichfalls  zu,  ebenso  der  .Schmerz;  doch  verdient  der 
letztere  ,  der  Bruchschmerz,  eine  grössere  Beachtung,  wenn  er  von 
dem  Kranken  ganz  genau  auf  eine  bestimmte  Knochenstelle  localisirt 
wird,  bei  Druck  auf  dieselbe  gesteigert  wird  und  bei  mehrmaliger  Unter- 
suchung immer  an  derselben  Stelle  geklagt  wird.  —  Er  ist  bei  Spalt- 
brüchen  des  Schädels,  aber  auch  anderer  Knochen,  z.  B.  des  Knöchels, 
der  Wirbelkörper,  oft  das  einzige  Zeichen.  Bestätigt  wird  die  Diagnose, 
wenn  sich  später  an  derselben  Stelle  eine  harte  Anschwellung,  der 
Callus,  einstellt.  Der  locale  Bruchschmerz  kann  also  in  manchen  Fällen, 
für  Behandlung  und  Prognose,  dann  auch  bei  gerichtlichen  Fällen 
(Kopfverletzungen)   recht  wichtig  werden. 

Entscheidender  sind  die  „objectiven  Bruchsymptome",  d.h. 
diejenigen  Erscheinungen,  welche  die  objective  Untersuchung  des  Arztes 
klarstellt. 

Nach  kurzer  Befragung  des  Kranken  über  die  Entstehung  des 
Bruches  nimmt  man  zunächst  die  Besichtigung  des  verletzten  Tbeiles 
vor  (Inspection).  Meist  fällt  sofort  eine  Schwellung  auf,  die  sieb 
durch  ihre  blaue  Farbe  als  Bluterguss  erweist.  —  Der  Bluterguss- 
kommt  bei  Brüchen  schon  wenige  Minuten  nach  der  Verletzung  zura 
Vorschein ,  während  er  bei  Verrenkungen  gewöhnlich  erst  am  zweiten 
oder  dritten  Tag  sichtbar  wird. 

Neben  der  Schwellung,  oft  durch  diese  verdeckt,  macht  sich  als 
weiteres  wichtiges  Zeichen  die  Form  Veränderung  des  Theiles, 
die  Difformität,  geltend.  Nur  zum  Theil  ist  sie  durch  den  Bluterguss 
veranlasst,  fast  immer  ist  die  Ursache  eine  Verschiebung  der  Bruch- 
stücke gegeneinander,  die  Dislocation.  Diese  ist  für  viele  Fälle 
pathognomisch ;  \-ve\m  z.  B.  ein  Unterschenkel  zwischen  Knie-  und  Fuss- 
gelenk  eine  winklige  Knickung  zeigt,  so  kann  dies  nur  möglich  sein 
bei  einer  Continuitätstrennung  der  Unterschenkelknochen ,  bei  einer 
Fractur.  Fig.  379  und  380  (nach  Albert)  zeigt  die  charakteristische 
Difformität  bei  Fractur  am  unteren  Ende  des  Radius,  Fig.  379  von  der 
Seite ,  Fig.  380  von  der  Volarseite ,  wo  die  Längsachse  der  oberen 
Extremität  in  der  Form  eines  ~\_  geknickt  ist. 

Dass  die  Stücke  gebrochener  Knochen,  die  „Fragmente",  sich 
verschieben,  ist  bekannt.  Die  Entstehungsweise  der  Dislocation 
ist  eine  verschiedene.  In  den  meisten  Fällen  ist  es  noch  die  Einwirkung'' 
der  verletzenden  Gewalt,  die  die  Bruchstücke  aus  der  Lage  bringt  — 
„primäre  Dislocation".  Aber  auch  nach  dem  Zustandekommen  des 
Bruches  können  eine  Reihe  von  Momenten  die  Lage  der  Fragmente 
gegen  einander  ändern  —  secundäre  Dislocation.  In  erster  Linie 
ist  hier  zu  nennen  die  Schwere,  die  den  frei  gewordenen  peripheren 
Theil  in  seiner  Lage  erheblich  beeinflusst.  So  entsteht  bei  C)berschenkel- 
brüchen  die  Rotation  nach  aussen  erst  durch  die  Schwere,  vermöge 
der  das  seines  Haltes  beraubte  Bein  im  Bette  nach  aussen  sinkt,  so 
dass  es  mit  seiner  ganzen  äussern  Fläche  dem  Bette  platt  aufliegt.  Ein 
anderes  Mal  sind  es  die  durch  die  Schmerzen  zur  Contraction  angeregten 
Muskeln;  die  Verkürzung,  namentlich  die  progressiv  zunehmende  Verldir- 
zung  (intracapsuläre  Schcnkelhalsfracturen,  Brüche  des  Corpus  femoris) 


Dislocation  der  Knochenbrüclie. 


425 


ist  hierauf  zurückzuführen.  Schliesslich  ist  es  oft  die  Hand  des  Arztes 
oder  Pflegers  —  bei  Untersuchungen,  Einrichtungs versuchen,  Lageände- 
rungen (Umbetten),  die  die  Fragmente  verschiebt.  Dass  ein  ungeschickt 
angelegter  Verband  die  Bruchstücke  in  fehlerhafte  Lage  drängt,  ist 
leider  eine  nicht  so  selten  gemachte  Erfahrung. 

Von  Alters  her  unterscheidet  man  vier  Formen  von  Dislocation, 
die  durch  beifolgendes  Schema  klar  werden  (Fig.  381).  —  Die  Ver- 
schiebung ad  axin  ist  vorhanden,  wenn  die  Achsen  der  Bruchstücke 
einen  Winkel  bilden  (Fig.  381,  a  und  Fig.  379).  Die  winkelige  Knickung, 
eine  der  häufigsten  Dislocationen,  ist  oft  eine  Wirkung  der  verletzenden 
Gewalt ;  häutig  ist  sie  secundär  entstanden  durch  das  Ueberwiegen  der 
an  der  einen,  concaven  Seite  angebrachten  Musculatur  (Beugemnsculatur). 
Achsenknickung  findet  sich  namentlich  bei  quer  verlaufenden  Bruch- 
linien ;  es  ist  dabei  massige  Verkürzung  zu  constatiren.  Die  Spitze  des 
Winkels  ist  oft  zu  sehen,  fast  immer  zu  fühlen. 

Fig.  379. 


Fig.  380. 


Bei  der  Verschiebung  nach  der  Seite  (Fig.  381,  h)  ist  die 
Länge  des  Gliedes  unverändert,  nur  der'Dickendurchmesser  ist  vergri  ssert. 
Sie  findet  sich  jedoch  selten  allein,  sondern  fast  immer  in  Verbindung 
mit  Verschiebung  nach  der  Länge.  Diese  häufigste  Dislocation 
kommt  in  verschiedener  Weise  zustande;  bald  gleiten  die  Fragmente 
aneinander  vorüber  (Fig.  381,  b).  Ist  nun  noch  gleichzeitig  Winkelstellung 
da(Di.sl.  ad  axin),  so  kann  man  von  „Reiten"  der  Fragmente  reden  (Chevau- 
chement)  (Fig.  381.  d)  Oder  das  eine  Stück  ist  in  das  andere  eingetrieben 
(„eingekeilt")  (Fig.  381,  e  u.  Fig.  370  u.  371).  —  Die  seltenste  Form  von 
Verschiebung  ad  longitudinem  ist  dann  vorhanden,  wenn  die  Fragmente 
auseinandergerissen  sind  und  klaffen  (Fig  381,  /).  Bei  der  letzteren 
Form  von  Dislocation  kann  eine  —  stets  geringfügige  —  Verlängerung 
durch  die  Messung  sich  nachweisen  lassen.  Bei  den  anderen  (a — e)  ist 
Verkürzung  vorhanden. 

Oft  übersehen,  aber    praktisch 
die    Dislocatio    ad   peripheriam 


doch  von   grosser 
die    Verdreliunir 


Wichtigkeit  ist 
der    Fragmente 


426 


yil.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


gegeneinander,  oder  die  Rotation  derselben  um  die  Längsachse  (vergl. 
Fig.  381,  c).  Länge  und  Breite  des  Gliedes  können  dabei  unverändert 
sein,  aber  der  Achsenverlauf  des  Gliedes  ist  ein  anderer  geworden. 
Bei  Oberschenkelbrüchen  z.  B.  ist  das  obere  Fragment  in  normaler 
Richtung  zum  Becken  geblieben,  das  untere  dagegen  ist  mit  dem  Fusse 
nach  aussen  umgefallen,  hat  sich  nach  aussen  gedreht.  Kniescheibe 
und  grosse  Zehe  sind  nach  aussen  gerichtet,  statt  nach  vorn,  und  der 
Fuss  liegt,  statt  mit  der  Hacke ,   mit  dem  äusseren  Fussrand  in  seiner 

Fig.  381. 


\    a 


Dislocatio  ad  axin. 


Dislocatio  ad  latus  und 
ad  longitudinem. 


Dislocatio  ad  peripheriam 

(Eotation). 


Dislocatio  ad  longitudinem 
und  ad  axin  (Beiten). 


Einkeilung. 


/ 
Diastase. 


ganzen  Länge  auf  dem  Bette  auf.  —  Allein  selten,  findet  sie  sich  oft 
mit  Dislocatio  ad  latus  und  ad  longitudinem.  Sie  ist  fast  immer  secundär 
entstanden  durch  die  Schwere. 

Für  die ,  namentlich  wegen  der  Art  der  Behandlung  so  überaus 
wichtige  Feststellung  der  Dislocation  hat  man ,  um  genaue  Resultate 
zu  erhalten,  stets  noch  die  Messung  zu  Hilfe  zu  nehmen  mit  Hilfe  des 
Messbandes ,  wenn  nöthig  auch  des  Messkreuzes.  In  manchen  Fällen, 
wo  eine  Reihe  anderer  Symptome  fehlen,  z.  B.  bei  eingekeilten  Brüchen, 
gibt  oft  nur  die  Messung  die  Entscheidung. 


Abnorme  Beweglichkeit.  Crepitation.  427 

Die  Dislocatiou  kann  natürlich  fehlen,  bei  unvollständigen 
Brüchen.  Fissuren,  namentlich  des  Schädels ,  Infractionen,  und  ist  bei 
manchen  anderen  Brüchen ,  z.  B.  Compressionsbrüchen  der  Wirbel,  oft 
nicht  nachweisbar. 

Schliesslich  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  in  seltenen  Fällen  Bruch- 
stücke sich  g-anz  umdrehen  können ,  z.  B,  der  abgebrochene  Schenkel- 
kopf so  ,  dass  er  die  Bruchfläche  der  Pfanne  zukehrt.  Ja  sie  können 
selbst  durch  Hautwunden  herausgeschleudert  werden. 

Eine  eigenartige  Form  der  Dislocation  ist  auch  die  Depression 
von  Fragmenten  bei  Schädelbrüchen,  die  Eindrückung  derselben  in  die 
Schädelhöble.  Sie  hat  ein  gewisses  Analogon  in  der  Ineinanderquet- 
schung  spongiöser  Knochen,  von  der  wir  beim  „Compressionsbruch" 
sprachen,  und  die  zu  einer  Abplattung  und  Verbreiterung  derselben 
führen. 

Man  schreitetnun  zurPalpation,  d.h.  zu  einer  schonenden  Betastung 
der  Bruchstelle.  Mau  fasst  das  Glied  ober-  und  unterhalb  der  verletzten 
Stelle  und  macht  leicht  hin  und  her  wiegende ,  drehende  oder  seitlich 
verschiebende  Bewegungen.  Lässt  sich  eine  abnorme  Beweglich- 
keit constatiren,  kann  man  eine  Bewegung  ausführen  an  einer  Stelle, 
wo  normal  keine  Beweglichkeit  ist,  in  der  Strecke  zwischen  2  Gelenken, 
so  ist  damit  die  Diagnose:  Bruch  des  Knochens,  sichergestellt  —  So 
sicher  das  Vorhandensein  dieses  pathognomonischen  Zeichens  für  das 
Vorhandensein  eines  Knochenbruchs  spricht,  so  schliesst  das  Fehlen 
desselben  einen  solchen  keineswegs  aus.  Bei  eingekeilten  Brüchen  können 
die  Bruchstücke  so  fest  ineinander  eingetrieben  sein,  dass  selbst  bei 
ziemlicher  Kraftaufwendiing  (Vorsicht !)  eine  Bewegung  derselben  gegen 
einander  nicht  möglich  ist.  Ebenso  fehlt  abnorme  Beweglichkeit  bei 
Fissuren. 

Bei  diesen  Bewegungsversuchen  wird  man  meist  noch  ein  anderes,  fast 
ebenso  wichtiges  Symptom  des  Knochenbruches  feststellen  können,  die 
„Crepitation",  d.h.  man  fühlt  ein  rauhes  Reiben,  bedingt  durch  das 
Bewegen  der  unregelmässigen,  rauhen  Knochenflächen  gegen  einander. 
Dieses  Reiben  ist  ein  so  scharfes,  dass  man  es  oft  nicht  blos  fühlt, 
sondern  hören  und  Anderen  demonstriren  kann.  Es  ist  zu  unterscheiden 
von  dem  besonders  bei  Gelenkentzündungen  zu  beobachtenden  Knorpel- 
reiben, einem  mehr  trockenen,  schabenden  oder  knarrenden  Geräusch. 
Ein  ganz  weiches  Crepitiren  machen  auch  durch  den  Finger  verschobene 
oder  zerdrückte  Blutgerinnsel,  ein  mehr  knisterndes  Geräusch  in's  Ge- 
webe intiltrirte  und  durch  den  Finger  verschobene  Luft-  und  Gasblasen. 

Auch  dies  Symptom  kann  fehlen,  ohne  dass  deshalb  eine  Fractur 
ausgeschlossen  wäre.  Die  Fragmente  des  Knochens  können  völlig  ausser 
Contact  gekommen  sein,  oder  können  es  sich  Weichtheile,  Muskeln,  Sehnen 
dazwischen  gelagert,  „interponirt"  haben.  —  Oder  die  raulien  P>ruch- 
flächen  sind  durch  Blutgerinnsel  so  eingehüllt,  dass  eine  so  unmittelbare 
Berührung,  wie  sie  zur  Erzeugung  der  Cre])itation  nötliig  ist,  nicht  er- 
folgt. Unvollständige  und  eingekeilte  Fracturen  geben  auch  keine  Crepi- 
tation. 

Durch  eine  A'erwerthung  der  angegebenen  Zciclion  wird  sich  in 
den  meisten  Fällen  die  Diagnose  eines  Kiiochenbruciies  mit  voller 
Sicherheit  machen  lassen.  Doch  gibt  es  Fälle,  wo  man  sie  nur  mit 
einer   gewissen  Wahrscheinlichkeit    machen    kann ,    wo    alle   objectiven 


428  VII-  CJapitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

und  pathognomischen  Symptome  so  wenig  ausgesprochen  sind ,  dass 
man  sich  mit  dem  „fixen  Bruchschmerz"  begnügen  muss  ^gewisse 
Knöchelbrüche).  Man  wird  in  diesem  Fall,  um  Schaden  zu  vermeiden, 
die  Wahrscheinlichkeitsdiagnose  Fractur  stellen  und  als  solche  be- 
handeln. 

Wenn  irgend  möglich,  darf  man  sich  —  wegen  der  Behandlung  — 
nicht  mit  der  Diagnose  Bruch  begnügen,  sondern  soll  auch  die  genaue 
Oertlichkcit  des  Bruches  und  namentlich  die  Form  des  Bruches 
diagnosticiren.  Querbrüche  zeigen  im  Ganzen  weniger  Neigung 
zu  Verkürzung,  die  Bruchflächen  bleiben  meist  zum  Theil  im  Contact, 
zeigen  höchstens  Dislocation  ad  axin  und  latus,  gelegentlich  auch  ad 
peripheriam.  Die  Crepitation  ist  bei  Querbrüchen  oft  sehr  ausgesprochen. 
Bei  Infractionen  lässtsich  Charnierbewegung  constatiren,  Schrägbrüche 
verkürzen  sich  gerne  stark,  da  die  schrägen  Bruchflächen  leicht  anein- 
ander vorübergleiten.  Oft  kann  man  die  Spitzen  der  Fragmente  durch 
die  Haut  hindurch  fühlen.  Die  Beweglichkeit  ist  oft  auffallend  gross, 
ein  förmliches  Schlottern  des  peripheren  Theiles.  Die  Crepitation  ist 
oft  erst  nach  Ausgleichung  der  Verkürzung  nachzuweisen.  —  Stück- 
brüche sind  sehr  beweglich,  meist  ziemlich  stark  dislocirt,  hin  und 
wieder  ist  ein  einzelnes  Stück  zu  fühlen  und  unter  Crepitation  für  sich 
verschieblich.  —  Bei  Splitterbrüchen  ist  stets  sehr  grosse  Beweglich- 
keit, das  Knistern  und  Crepitiren  der  Splitter  in  dem  massigen  Blut- 
coagulum  sofort  wahrzunehmen.  Spaltbrüche  und  Infractionen 
geben  —  ausser  Charnierbewegung  —  nur  localen  Bruchschmerz. 

Die  Diagnose  der  Knochenbrüche,  sowohl  der  frischen,  als  auch 
der  alten ,  und  der  Folgen  von  Brüchen  wird  wesentlich  gefördert  durch 
die  Durchleuchtung  mit  Roentgen-Strahlen. 


Der  klinische  Verlauf  eines  gewöhnlichen  Knochenbruches  ist 
im  Ganzen  ein  einfacher.  Unmittelbar  nach  der  Verletzung  entwickelt 
sich  eine  Schwellung  durch  Bluterguss.  Je  nach  der  Grösse  der  ver- 
letzten Gefässe  und  der  Schwere  der  Quetschung  der  Weichtheile 
nimmt  diese  zu,  bis  zum  2.  oder  3.  Tag,  bleibt  ein  bis  zwei  Tage  auf 
der  Höhe,  um  dann  allmählich  abzunehmen.  Die  anfangs  blaue  Farbe 
wird  braun,  dann  grün,  gelb,  um  oft  erst  nach  Monaten  zu  verblassen 
und  ganz  zu  schwinden  (s.  pag.  93).  Schon  früh  ist  traumatisches 
Oedem  nachzuweisen.  In  dem  Masse ,  als  sich  Schwellung  und  Ver- 
färbung ausbreiten  und  damit  diffuser  werden,  lässt  sich  an  der  Ver- 
letzungsstelle eine  mehr  circumscripte  Schwellung  durchtasten ,  der 
„provisorische  Callus".  Anfangs  knorpelhart,  wird  er  nach  circa  2  bis 
3  Wochen  knochenhart  und  damit  ist  die  knöcherne  Vereinigung  einge- 
leitet. Zugleich  hat  die  abnorme  Beweglichkeit  rasch  abgenommen,  hat 
zunächst  einer  gewissen  Biegbarkeit  Platz  gemacht,  um  dann  gar  nicht 
mehr  nachweisbar  zu  sein.  Die  Schmerzen,  in  den  ersten  Tagen  lebhaft 
und  nicht  so  selten  durch  Muskelzuckungen  ausgelöst  —  werden  in 
der  zweiten  Hälfte  der  ersten  Woche  erträglich  und  melden  sich  später 
nur  noch  bei  Bewegungen.  Crepitation  verschwindet  (unter  normalen 
Verhältnissen)  spätestens  am  Ende  der  ersten  Woche,  oft  schon  am  3. 
oder  4.  Tage. 


Klinischer  Verlauf  der  Knochenbrüclie.  429 

Die  Zeit  der  Consolidatiou,  d.  h.  wo  der  Knochen  wieder 
fest  ist,  ist  verschieden,  je  nach  dem  Alter  und  Kräftezustand  des 
Kranken  und  der  Dicke  des  Knochens  und  schwankt  zwischen  8  bis 
10  Tagen  (Kinderknochen,  Radius  des  Erwachsenen)  bis  6  Wochen 
(Femur  des  Erwachsenen). 

Eine  Reihe  weiterer  Folgen  des  Knochenbruches  schwindet  bald. 
Indem  der  Callus  allmählich  kleiner  wird,  bessert  sich  die  Atrophie  von 
Musculaiur  und  Haut,  die  als  Inactivitätsatrophie  bei  jedem  Bruch  auf- 
tritt, rasch  durch  den  Gebrauch;  ebenso  schwindet  die  Steifigkeit  der 
Muskeln  und  Gelenke.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  Retraction 
der  Muskeln  und  Schrumpfung  der  Gelenkkapsel,  denen  durch  die 
Ruhigstelking  im  Verband  die  nothwendige  Dehnung  gefehlt  hatte.  Auch 
das  noch  einige  Zeit  bestehende  Oedem  der  Weichtheile  verliert  sich 
allmählich.  V2 — 1  Jahr  nach  der  Verletzung  erinnern  höchstens  gelegent- 
liche „rheumatische"  Beschwerden  in  dem  betreffenden  Theil  den  Kranken 
an  den  Vorfall. 

Die  Besonderheiten  in  den  klinischen  Erscheinungen  einiger  Bruch- 
formen seien  hier  noch  kurz  hervorgehoben. 

Die  Gelenkbrüche,  wo  die  in  die  Gelenkkapsel  einbezogenen 
Knochentheile  gebrochen  sind,  werden  complicirt  durch  gleichzeitige 
Gelenkaffectiou."  Stets  ist  ein  geringerer  oder  stärkerer  Bluterguss  in"s 
Gelenk  da  (Hämarthros) ,  der  oft  den  Knochenbruch  fast  verdeckt 
(Kniescheibenbriiche) ,  namentlich  wenn  es  sich  nur  um  in's  Gelenk 
einstrahlende  Fissuren  handelt.  Manchmal  heilt  der  Hämarthros 
dann  ohne  Beschädigung  des  Gelenkes  aus;  sind  aber  umfänglichere 
Verletzungen  und  namentlich  Knochenverschiebungen  innerhalb  des 
Gelenkes,  vielleicht  gar  noch  gleichzeitig  Knochen  Verrenkungen  da  (be- 
sonders häufig  im  Ellbogengelenk),  so  kann  oft  selbst  eine  genaue 
Diagnose  und  sorgfältige  Behandlung  Störungen  des  überaus  feinen 
Gelenkmcchanismus  nicht  verhüten;  es  folgt  eine  Beweglichkeitsbe- 
schränkung des  Gelenkes  oder  eine  schleichende  Gelenkentzündung 
(Arthritis  deformans  traumatica),  im  schlimmsten  Falle  sogar  Verödung 
des  Gelenkes  und  Verlöthung  der  Gelenkflächen  (Ankylose).  Wie  schlecht 
und  unvollständig  Knorpelrisse  heilen,  ist  schon  pag.  82  erwähnt. 

Die  traumatischen  Epiphysenlösungen  entstehen  fast  immer 
indircct.  Eine  Gewalt,  die  beim  Erwachsenen  die  Gelenkkapsel  zerreissen 
und  damit  eine  Verrenkung  erzeugen  würde,  löst  die  lose  Knorpelfuge. 
Für  die  Diagnose  sind  wichtig  das  Alter  (Kinder  und  Jünglinge)  und 
der  einer  Fipiphysenlinie  entsprechende  Sitz  der  Verletzung.  Die 
Blutung  ist  meist  unbedeutend ,  die  Crepitation  eine  eigenthümlich 
weiche  (Knorpelreiben),  die  Beweglichkeit  oft  eine  grosse,  die  Schmerz- 
haftigkeit  gering.  Je  nach  dem  Verhältniss  der  Epiphyse  zum  Gelenk 
ist  eine  Gelenkverletzung  mit  dabei  oder  nicht.  Der  Verlauf  kann  ganz 
einer  gewöhnlichen  Fractur  gleichen,  nur  ist  es  oft  schwer,  die  Frag- 
mente in  der  richtigen  Lage  zu  erhalten.  In  einzelnen  Fällen  ist  im 
weiteren  Verlaufe  schwere  Wachsthumsstörung  eingetreten  (—  15  Cm.), 
selten  ^'erlängerung,  oft  gar  kein  Einfluss  auf  das  Knochen wachsthura 

Die  AUgemeincrsche  inungen  sind  bei  einfjichen  Knochen- 
brüchen meist  gering.  Schlaflosigkeit  von  einigen  Nächten,  Gefühl  von 
Angegritfensein,  bei  starkem  Bluterguss  etwas  aseptisches  Resorptions- 
fieber fs.  pag.  135)  —  39"  Max.     (Müller  fand  nur   3%  der   Fracturen 


430  yil.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

fieberfrei,  Grundler  von  26  25mal  Fieber;  nacb  Deinisch  fiebern  nur 
30 Vo-  Letztere  Angabe  stimmt  ungefähr  mit  meinen  Erfahrungen.) 
Amhrosius  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir,,  Bd.  37)  nimmt  an,  dass  nach 
multiplen  Knochenbrüchen  Kranke  an  diesem  aseptischen  Fracturfieber 
ohne  Infection  zu  Grunde  gehen  können.  Im  Harne  finden  sich  gelegent- 
lich Eiweiss  und  Cylinder,  selten  Fett  (s.  Fettembolie,  pag.  18).  Nur 
alten  und  geschwächten  Leuten  mit  kranken  Lungen  oder  Gefässen 
kann  die  wochenlange  Bettruhe  bei  Fracturen  der  unteren  Extremitäten 
gefährlich  werden ,  sie  bekommen  Bronchitis  und  gehen  an  hypostati- 
scher Pneumonie  zu  Grunde. 

Bierfreund   fand    bei    subcutanen  Fracturen    eine   Abnahme    des 
Hämoglobingehaltes  um  13 — 140/0. 


Die  Heilung  eines  Knochenbruches  beruht  auf  Vorgängen, 
ähnlich  denen  des  normalen  Knochenwachsthums. 

Ein  Theil  derselben  ist  schon  mit  blossem  Auge  wahrzunehmen. 
Wenn  man  einen  Bruch  24 — 36  Stunden  nach  der  Verletzung  —  bei 
Verunglückten  hat  man  ja  oft  Gelegenheit  hiezu  —  freilegt,  so  findet 
man  zunächst  einen  grossen  Quetschungsherd.  Die  Muskeln  sind  aus- 
einander gedrängt,  theilweise  gequetscht  und  zerrissen,  blutig  imbibirt, 
ebenso  ist  es  mit  den  bindegewebigen  Theilen,  Zwischenmuskelbinden, 
Fascien  u.  s.  f.  Zwischen  diesen  auseinandergewühlten  Weichtheilen 
finden  sich  Blutcoagula  in  wechselnder  Menge,  mit  den  gequetschten 
Weichtheilen  stellenweise  innig  verfilzt.  Hebt  man  diese  Coagula 
vorsichtig  heraus .  so  sieht  man  die  Bruchflächen  gleichfalls  dick 
mit  geronnenem  Blute  bedeckt :  abgespült  zeigen  sie  sich  rauh, 
einzelne  Spitzen  ragen  hervor,  das  Periost  ist  zerrissen,  hängt  oft  in 
halb  losen  Fetzen  umher,  zwischen  Rinde  und  Periost  sind  Blutergüsse 
erfolgt.  Grössere  oder  Ideinere  Knochensplitter  hängen  nur  noch  an 
Periostbrücken  oder  sind  ganz  losgelöst.  Auch  die  Markhöhle  ist  durch 
festhaltende  Blutgerinnsel  verstopft.  Arterielle  Gefässe  und  Nerven  sind 
dabei  meist  ziemlich  gut  erhalten  und  ziehen  als  Stränge  durch  den 
Herd  hindurch.  Legt  man  mit  der  Kreissäge  einen  Schnitt  durch  den 
Knochen ,  so  sieht  man  neben  den  schon  von  aussen  sichtbaren ,  oft 
die  ganze  Länge  des  Knochens  durchsetzenden  Spalten  und  Sprüngen, 
die  Markhöhle  weithin  blutig  durchsetzt  und  bei  vielen  Fracturen  fast 
die  ganze  Markhöhle  von  Blutungsherden,  bald  eben  sichtbar,  bald  bis 
Walnussgrösse  wie  gesprenkelt. 

Im  Laufe  der  ersten  Tage  werden  die  flüssigen  Bestandtheile  des 
Blutes  resorbirt ,  der  Blutfarbstoff  fängt  an ,  sich  in  den  benachbarten 
Geweben  zu  vertheilen  und  erzeugt  jene  bekannte  grünliche  Verfärbung 
der  Haut.  Die  Vertheilung  des  Blutfarbstoffes  erfolgt  hauptsächlich  längs 
der  Lymphwege,  die  Lymphdrüsen  schwellen  an  und  sind  auf  dem  Durch- 
schnitt durch  Blutfarbstoff  rothbraun  gefärbt. 

Gegen  Ende  der  ersten  Woche  zeigen  sich  die  scharfen  Knochen- 
ränder abgerundet,  stellenweise  sind  die  Spitzen  wie  weggeschmolzen, 
um  die  Bruchränder  herum  findet  sich  eine  weiche,  mit  dem  Knochen 
verbundene  und  in  ihn  ohne  scharfe  Grenze  übergehende,  sulzige,  grau- 
gelbe Masse,  die  zum  „provisorischen  Callus"  wird.    Auch  die  be- 

I 


Heilung  der  Knochenbrüche.    Callus. 


431 


Fig.  382. 


nachbarten  Weichtheile ,  Muskeln,  Fascien  ii.  s.  f.  sind  an  diese  Masse 
angelöthet  und  stellenweise  drängt  sich  diese  auch  zwischen  dieselben 
ein.  Diese  Masse  ist,  nachdem  die  peripheren  Weichtheile  des  Gliedes 
abgeschwollen,  als  eine  ziemlich  harte,  etwas  druckempfindliche,  spindel- 
förmige Geschwulst  von  aussen  durchzufühlen. 

Die  weiteren  Veränderungen  erfolgen  nun  in  diesem  neuen  Ge- 
bilde. —  Es  wird  härter  und  härter  und  nimmt  schliesslich  das 
Gefiige  und  die  Consistenz  des  Knorpels  an.  Die  Farbe  ist  graugelblich 
bis  gelbröthlich.  Während  sich  diese  Bildung  gegen  die  umgebenden 
Weichtheile  zusehends  schärfer  abgrenzt,  ist  sie  vom  präexistenten 
Knochen  bald  nicht  mehr  scharf  zu  trennen.  Sie  ist  in  die  Markhöhle 
ergossen  und  füllt  diese  beiderseits  einige  Centimeter  lang  aus,  sie  ist 
wie  eine  Kapsel  um  die  äussere  Fläche  des  Knochens  herumgelegt  und 
verliert  sich  ohne  scharfe  Grenze  in  da,s  Periost.  Noch  am  längsten 
bleibt  die  Corticalis  des  alten  Knochens  unterscbeidbar,  aber  auch  sie 
wird  bald  undeutlich  und  wir  haben  nun  eine,  mit  dem  normal  ge- 
bliebenen Knochen  ohne  scharfe  Grenze  verbundene 
spindelförmige  Neubildung  von  knorpeligem  Gefüge 
und  Ansehen ,  die  die  Bruchstelle  überbrückt  oder 
vielmehr  an  ihre  Stelle  getreten  ist.  (S.  Fig.  382, 
provisorischer  Callus.) 

Gegen  Ende  der  2.  Woche  wird  der  Ossi- 
ficationsprocesss  —  mikroskopisch  schon  viel  früher 
nachweisbar  —  makroskopisch  sichtbar.  Kleine 
Knocheninseln  werden  sieht-  und  fühlbar,  die  bald 
zusammenfliessen,  dem  Ganzen  vorerst  ein  streifiges 
Ansehen  verleihen.  Im  Verlauf  einiger  Wochen  — 
bei  verschiedenen  Brüchen  zu  verschiedener  Zeit  — 
haben  wir  eine  etwas  unregelmässige  knöcherne 
Neubildung,  durchweg  von  ungeordneter  Compacta 
gebildet,  die  an  der  Bruchstelle  die  Knochen  ver- 
bindet. Von  aussen  fühlt  man  jetzt  eine  knochen- 
harte, unregelmässige,  leicht  höckerige,  nur  noch 
wenig  druckempfindliche,  spindelförmige  Masse.  Dieselbe  ist  im  Stande, 
den  Leistungen  des  früheren  Knochens  zu  entsprechen.  Der  Kranke 
kann  gehen,  den  Arm  brauchen,  der  Bruch  ist  geheilt. 

Mit  dem  Momente,  wo  der  Knochen  wieder  functionsfähig  wird,  ist 
aber  die  Kette  von  Veränderungen,  die  indem  Callus  —  so  nennen  wir 
diese  Knochenneubildung  —  vorgehen,  keineswegs  zu  Ende.  Zunächst 
spielen  sich  die  an  ihn  angelotheten  Weichtheile,  Muskeln  und  Sehnen  unter 
dem  Einflüsse  des  Gebrauchs  oder  durch  die  Hilfe  des  Arztes  (Massage) 
wieder  los  und  der  Callus  ist  nun  allseitig  frei  und  deutlich  durchzu- 
fühlen, natürlich  entsprechend  kleiner,  da  die  Weichtheile,  die  bisher 
in  ihn  einbezogen  waren,  jetzt  gegen  ihn  verschoben  und  von  ihm  ab- 
gegrenzt werden  können.  Im  Laufe  der  Monate  wird  der  Callus  — 
durch  Resorption  —  kleiner  und  kleiner  und  dabei  nähert  sich  sein 
Gefüge  immer  melir  dem  des  früheren  Knochens  an  dieser  Stelle.  Nach 
einem  Jahre  ungefähr  haben  wir  —  natürlich  nur  bei  normal  geheilten 
Brüchen  —  nur  nocli  einen  niedrigen,  etwas  unregclmässigcn  King  von 
Knochenmasse,  der  dem  Knoelien  an  der  Bruchstelle  umgelegt  ist,  und 
nach  einer  Reihe  von  Jahren  kann  derselbe  soweit  resorbirt  sein,  dass 


432  ^^^-  Oapitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

selbst  nach  Abziehen  des  Periostes  nur  noch  einige  Unregelmässigkeiten 
an  der  Oberfläche  der  ßindensubstanz  zu  finden  sind  und  man  bei  einer 
Section  im  Zweifel  sein  kann,  ob  hier  ein  Bruch  vorlag.  Beim  Durch- 
sägen des  Knochens  sieht  man  allerdings  in  der  Markhöhle  meist  noch 
Veränderungen.  In  früher  Zeit  findet  man  die  Markhöhle  oft  6 — 8  Cm. 
weit  nach  beiden  Richtungen  hin  mit  neugebildeter  Knoehenmasse  er- 
füllt (vergl.  Fig.  373,  h).  Im  Laufe  der  Jahre  wird  auch  dieser  innere 
oder  Markcallus  wieder  resorbirt,  aber  viel  langsamer  als  der  äussere 
Callus,  und  nur  bei  ganz  ideal  geheilten  Brüchen  schreitet  die  Resorp- 
tion so  weit  vor,  dass  es  wieder  zur  Bildung  einer  vollständigen  Mark- 
höhle an  der  Bruchstelle  kommt. 

JuliusWolJf  (s.  pag. 404)  hat  uns  gezeigt,  dass  der  neugebildete  Knochen  genau  sich 
bilde  entsprechend  den  mechanischen  Anforderungen ,  die  bezüglich  Zug-,  Druck-  etc. 
Festigkeit  an  ihn  gestellt  sind,  dass  bei  normal  geheilten  Brüchen  die  Architektonik 
genau  der  früheren  entspreche.  Bei  mit  Verschiebung  geheilten  Brüchen  finden  sich  die 
Knochenbälkchen  schliesslich  den  neuen ,  geänderten  Verhältnissen  von  Druck  und  Zug 
entsprechend  neugebildet;  anderer  „Beanspruchung"   entspricht  nun  anderer  Bau. 

Mikroskopisch  sieht  man  zunächst  natürlich  die  Fracturstelle 
durchsetzt  mit  rothen  Blutkörperchen  und  Gewebstrümmern ,  die  alles 
Uebrige  verdecken.  Aber  schon  am  2.  Tage  lassen  sich  regenerative 
Vorgänge,  zuerst  Gefässerweiterung,  strotzende  Erfüllung  derselben  mit 
Blut  und  dabei  reichliche  Auswanderung  von  Leukocyten  erkennen, 
dann  aber  macht  sich  namentlich  in  der  tiefen  Schicht  des  Periostes 
(Bildungs-  oder  Cambiumschicht,  s.  pag.  403)  Kerntheilung,  Vcrgrösserung 
und  Vermehrung  der  Zellen  geltend,  die  zu  grossen  rundlichen  oder 
eckigen  mehrkernigen  Zellen  auswachsen,  ganz  vom  Charakter  der  Osteo- 
blasten. Ein  Theil  der  Osteoblasten  scheint  sich  aber  auch  aus  den 
Knochenkörperchen  zu  entwickeln  (Fig.  383  z).  Die  Osteoblasten  scheiden 
hier  nun  theils  direct  Grundsubstanz  aus  und  bilden  so  eine  osteoide 
Substanz,  die  später  durch  Einlagerung  von  Kalksalzen  verknöchert 
(analog  der  normalen  Knochenbildung  aus  dem  Periost  oder  der  Bildung 
von  Knochensubstanz  aus  dem  Bindegewebe).  Zu  einem  anderen  Theil 
kommt  es  aber  erst  zur  Bildung  eines  dem  embryonalen  ähnlichen 
Knorpels  und  durch  Vermittlung  dieses  zur  Verknöcherung.  In  den 
von  der  Fractur  entfernteren  Partien  findet  man  den  unmittelbaren 
Uebergang  von  Bindegewebe  in  „osteoides"  Gewebe,  d.  h.  die  Grund- 
substanz ist  faserig  (das  so  gebildete  Knochengewebe  wird  auch  ge- 
flechtartiger Knochen  genannt);  je  näher  der  Bruchstelle,  um  so  homo- 
gener wird  die  Zwiscbensubstanz  und  damit  dem  Knorpel  ähnlicher, 
um  schliesslich  an  der  Bruchstelle  zu  einem  echten  hyalinen,  aber  sehr 
zellenreichen  (embryonalen)  Knorpel  (Fig.  383,  b)  zu  werden. 

Auch  das  Mark  bleibt  nicht  unthätig  (s.  Fig.  383,  M).  Auch  hier 
verdrängt  starke  Gefässüberfüllung  und  Leukocytenauswanderung  rasch 
den  Bluterguss,  zugleich  aber  verschwinden  auch  die  Fettzellen  und 
statt  diesen  findet  sich  bald  das  lymphoide,  rothe  Mark  wieder  mit 
seinem  üppigen  Gefässnetz,  weissen  Blutkörperchen  und  Markzellen 
(vergl.  pag.  404).  Diese  wachsen,  theilen  sich  und  werden  zu  den 
pag.  405  geschilderten  mehrkernigen  Riesenzellen  (Mydoplaxen) ,  die 
auch  hier,  wie  unter  normalen  Verhältnissen,  die  Rolle  der  Osteoblasten 
übernehmen  und  eine  meist  streifige ,  selten  homogene  Grundsubstanz 
bilden,  welche  verknöchert  (Fig.  383,  o). 


Histologie  der  Callusbildung. 


433 


Die  Covticalis  (Fig-.  383  C)  bleibt  verhältnissmässig  lange  imthätig. 
Der  zwischen  den  Briichspalten  sich  findende  Knorpelcalliis  („interme- 
diärer Callus")  rührt  vom  Periost  und  vom  Mark  her.  Die  unmittelbar 
der  Bruchspalte  anliegenden  Schichten  der  Corticalis,  durch  die 
Verletzung-  ertödtet ,  verfallen  der  Resorption  (Fig.  383  a^  necrotische 
Knorpelzellen). 

DieWeiterentwicklung  dieser  Knochenlagen  erfolgt  in  der  pag.  400  ff. 
geschilderten  Weise.     Der  Knorpel  verändert  sich,    v^ie   bei  der  endo- 


Fig.  383. 


c 


1  ^       Ö^L  s 


^^ 


/     1 


d 


hZ^ 


m 


';:;( 


C 


Cr 


M 


cbondralen  Knochenentwicklung,  in  der  bekannten  Weise,  wird  vascu- 
larisirt  und  zum  Knochen  umgewandelt,  ebenso  wird  das  aus  dem 
Periost  hervorgehende  osteoide  Gewebe  in  bleibenden  lamellösen 
Knochen  umgebildet.  Doch  scheinen  die  Processe  bei  der  Callusver- 
knöcherung  nicht  mit  der  schönen  Regelmässigkeit  vor  sich  zu  gehen, 
wie  beim  wachsenden  Knochen,  sondern  regelloser;  es  scheint  hier 
stellenweise  auch  eine  unmittelbare  lvnorpelverknöcherung(ohne  zwischen- 
liegende Vascularisation  11.  s.  wj  auf  metaplastischem  Wege  vorzukommen 
(8.  Fig.  366j. 


Landerer,  ADg.  chir.  Pathologie  n.  Therapie.  2.  Autl. 


28 


434  VII-  Capitel.  —  Krarikheit.on   der  Kiuicluii]   um]   Gelenk*;. 

Fig.  383  (ivdch  Bono7ne)  stellt  eine  Kaninclientihia  ö  Tage  nach  der  Inf'ractioii 
dar.  M  ist  die  Markliäclie,  C  die  Gorticalis,  die  unverletzt  geblieljeu  ist,  in  der  Mitte 
des  Präparates  ein  Querbrucli  der  inneren  Lamellen  der  Kinde  (C\).  Ausserdem  sind  in 
den  oberen  ^,'4  des  Präparats  die  äussere  und  innere  Lamelle  (C  und  6',)  auseinanderge- 
wiclien  (Diastase).  Die  der  Fracturlinie  benaclibarten  Knochenzellen  sind  (z.  B.  bei  o) 
necrosirt,  so  dass  sie  Farbstoif  nicht  mehr  aufnehmen.  Um  die  Fi'acturstelle  hemm, 
z.  B.  bei  b ,  aber  auch  zwischen  C  und  Cj  findet  sich  überaus  zellenreicher  junger 
Knorpel.  Mehr  entfernt  von  der  Fracturstelle  liegen  zahlreiche  Osteoblasten  ("o)  mit 
grossen  polygonalen  Kernen.  Sie  füllen  auch  den  grössten  Theil  der  Diastase  fJjj  zwischen 
inneren  und  äusseren  Lamellen  der  Gorticalis  aus.  Bei  /.;,  k  —  auf  der  Markfläche  der 
Fractur  —  finden  sich  mehrere  neugebihlete  Knochenbälkchen.  z  Knochenzellen  in  Um- 
wandlung zu  Osteoblasten  begriffen. 

Schon  frühe  beginnt  die  Resorption  des  neugebildeten  Callus  — 
gerade  wie  beim  normalen  Knochen  auch  und  in  derselbeii  Weise  (s. 
pag.  405,  Osteoklasten).  Diese  wandelt  den  „provisorischen",  überaus 
massigen,  aber  doch  im  Ganzen  unregelmässig  gebauten  Callus  in  den 
definitiven  um.  Am  frühesten  und  intensivsten  erfolgt  die  Resorption 
an  der  periostalen  Fläche.  Die  tiefsten  Schichten  der  Beinhaut  zeigen 
sich  gefässreich  und  senden  in  die  neugebildeten  Knochenmasseu  hinein 
Gefässschlingen  und  Riesenzellen  (Osteoklasten),  die  tiefe  Recessus  bilden 
(Howshijy Bche  Lacunen,  s.  Fig.  364).  Ebenso  erweitern  sich  aber  auch 
die  Havers'sGhen  Canäle  und  werden  zu  Markräumen. 

Viel  langsamer  geht  die  Resorption  auf  der  Seite  des  Markes  vor 
sich ,  wo  noch  lange  Zeit  eine  schmale  Zone  von  rothem  Mark  dem 
Markcallus  aufliegt.  In  den  meisten  Fällen  verschwindet  der  Markcallus 
nie  wieder  ganz ,  sondern  die  Markhöhle  bleibt  an  dieser  Stelle 
dauernd  verschlossen  (Fig.  373&),  während  der  periostale  Callus  im 
Laufe  der  Jahre  fast  völlig  schwindet.  An  der  Stelle  der  Fractur 
findet  sich  dann  sehr  feste  compacte  Knochensubstanz,  welche  die 
Fracturstelle  fast  fester  verbindet,  als  vorher. 

Behandlung  der  Knochenbriiche. 

Lagerungs-Gips-Zugverbände.  —  Massage.   —  Complicirte  Knochenbrüche.  Verlauf 

und  Behandlungsweise.  —    Folgen    und  üble  Ereignisse  bei  Knochenbrüchen. 

Fehlerhafte  Heilung.  Pseudarthrose.  Gangrän  u.  s.  w. 

Die  Behandlung  der  Knochenbr üche  hat  die  Aufgabe,  den 
verletzten  Knochen  bis  zur  vollendeten  Heilung  in  der  richtigen  Lage 
zu  erhalten  ,  so  dass  derselbe  nach  Form  und  Function  genau  seinem 
früheren  Verhalten  entspricht.  Um  diesen  Zweck  zu  erreichen,  bedienen 
wir  uns  der  verschiedensten  Verbände.  , 

Nur  in  den  seltensten  Fällen  kann  unmittelbar  nach  der  Verletzung 
ein  bis  zum  Abschluss  der  Heilung  bleibender  Verband  angelegt  werden, 
meist  wird  man  zunächst  zu  einem  provisorischen  greifen. 

Der  Verlauf  der  Behandlung  wird  sich  am  besten  an  einigen 
concreten,  häufig  vorkommenden  Bruchformen  schildern  lassen.  Nehmen 
wir  an,  es  läge  bei  einem  vor  einer  Stunde  Verletzten  ein  Unterschenkel- 
bruch vor.  Beim  vorsichtigen  Aufheben  des  Beines  bekommt  man 
etwas  unter  der  Mitte  des  Unterschenkels  eine  deutliche  Winkelbildung 
(Spitze  nach  oben),  auch  ist  durch  die  Haut  das  etwas  vorstehende 
untere  Ende  des  oberen  Fragments  zu  fühlen,  Verkürzung  nicht  nach- 
weisbar, also  nur  etwas  dislocatio  ad  axin  et  longitudinem.  Crepitation 
deutlich.  Es  liegt  vermuthlich  ein  einfacher  Querbruch  des  Unterschenkels 


Fracturverbände.  Laden. 


435 


vor,   mit  nur  wenig-  Neigung-   zur  Verschiebung.  — 'Man  legt  zunächst 
den  ersten  —  provisorischen  — ■  Verband  an. 

Die  Aufgabe  des  ersten  Fracturverbandes  ist  es,  dem' 
gebrochenen  Gliede  eine  sichere  Stütze  zu  gewähren  und 
dabei  der  zu  erwartenden  Schwellung  freien  Spielraum  zu 
lassen.  Jeder  festanliegende,  unnachgiebige  Verband  verbietet  sich  in 
den  ersten  Tagen  durch  die  Eücksicht  auf  die  zu  erwartende  Schwellung 
von  selbst.  —  In  der  Privatprasis  kann  man  sich  solche  provisorische 
Fracturverbände  sehr  einfach  improvisiren.  Eine  Steppdecke,  eine  lose 
gefüllte  Federdecke  wird  von  beiden  Seiten  zusammengerollt;  so  bleibt 
in  der  Mitte  eine  Rinne,  zu  beiden  Seiten  weiche  und  doch  widerstands- 

Fig.  384. 


fällige  Kolleu,  das  Ganze  bildet  eine  Lade,  worin  ein  Bein  oder  ein 
Arm  ganz  behaglich  und  sicher  ruhen  kann.  Einige  darum  geschlun- 
gene ,  mit  Sicherheitsnadeln  festgesteckte  Handtücher  halten  Lade 
und  Bein  zusammen.  —  Sonst  lassen  sich  oft  ans  Pai)pdeckeln,  Dach- 
schindeln. Cigarrcnkistendeckeln,  Baumzweigen  u.  s.  w.,  oder  aus  Stroh- 
bündeln ganz  zweckmässige  Laden  oder  Schienen  improvisiren,  die  auch 
mit  Strohl)ändei-n  befestigt  werden  können  fvergl.  Fig.  252 — 255).  Dass 
man  Seitengewehre.  Säbelscheiden.  Infanteriegevvehre,  Carabiner  u,  s.  w. 
sehr  wojil  als  Schienen  benützen  kann,  indem  man  liein  oder  Arm  dar- 
über und  darunter  mit  Tüchern,  zerrissenen  Hosen  u.  s.  w.  daran  fest- 
bindet, ist  ebenso  l)ekannt.  Im  Hospital  wird  man  eine  solche  Fractur 
in    eine    fMster'achc    T^ade   TFig.  884),    eine    Blcrhholilrinne    (Fig.  385) 

28* 


^36  ^^^-  (Kapitel.  —   Krankheiten  dei'  Knocl)en   und  Gt-lenke. 

legen  oder  lose  auf  einer  Schiene  befestigen.  Das  Publicum  pflegt 
nun  gewöhnlich  nach  Eis  zu  laufen ,  um  die  Schmerzen  zu  lindern 
und  der  Entzündung  vorzubeugen.  Viel  dienlicher  erscheinen  Friessnitz- 
sche  Umschläge ;  die  Schwellung  geht  dabei  rascher  zurück  und  die 
Schmerzen  werden  gleichfalls  gemildert.  —  Zudem  verursachen  Eisum- 
schläge und  auch  Eisbeutel  —  letztere  allerdings  in  geringerem  Grade  — 
hässliche  Nässe  des  Lagers.  Wenn  irgend  möglich,  lege  ich  gleich  am 
ersten  Tage  einen  gut  wattirten  Gipsverband  an  (s.  pag.  289j. 

Ich  schlichte  eine  Tafel  geleimte  (bei  auch  nur  oberflächlichen  Wunden  Desin- 
fection  der  Haut  und  sterile ,  entfettete)  Watte  in  der  Mitte  auseinander,  schneide  sie 
in  10  Cm.  breite  Streifen  und  lege  sie  lose  um  das  Glied.  Diese  daumendicke,  sehr  lose 
Watteunterlage  wird  mit  einigen  losen  Touren  einer  Mullbinde  befestigt,  darüber  kommen 
G-ipsbinden.  Meist  schliesst  man  die  2  benachbarten  Gelenke  mit  ein,  am  Unterschenkel, 
Knie  und  Fuss  bis  zu  den  Zehen ;  am  Vorderarm  Ellbogen  und  Hand.  Am  Eande 
steht  Watte  oder  die  Unteiiagsbinde  fingerbreit  vor,  damit  der  scharfe  Gipsrand  den 
Kranken  nicht  drückt.  In  diesem  wattirten  Gipsverband  fühlen  sich  die  Kranken  meist 
ganz  behaglich.  Die  Schmerzen  lassen  allmählich  nach.  Doch  verlangt  der  Verband 
strenge  Ueb  erwacbung.  Sobald  die  Schmerzen  die  nächsten  Stunden  und  Tage 
bestehen  bleiben  oder  gar  zunehmen,  sobald  Zehen  oder  Finger  blau  werden,  so  muss  der 
Verband  herunter.  Wenn  man  den  Kranken  nicht  selbst  controliren  und  jeder  Zeit 
erreichen  kann  (Landpraxis),  sind  die  Angehörigen  aufs  Strengste  zu  instruiren.  Lieber 
drei  Gipsverbände  unnöthiger  Weise  abreissen,  als  einen  liegen  lassen,  der  herunter  musste ! 
Breiger's  Gipswatte  hat  keine  besonderen  Vorzüge. 

Am  4. —  6.  Tag  bemerkt  man,  dass  der  Verband  loseist  und  man 
nimmt  ihn  ab ;  das  Bein  ist  in  sichtbarer  Abschwellung ,  die  Haut  in 
Runzelung,  Crepitation  oft  schon  verschwunden;  eine  fehlerhafte  Lage 
der  Fragmente  ist  aber  noch  gut  zu  corrigiren.  Während  die  Frag- 
mente in  richtiger  Lage  von  einem  zuverlässigen  Gehilfen  gehalten 
werden  —  denn  dieser  2.  Verband  entscheidet  über  das  Schicksal  des 
Beines  —  legt  man  eine  Unterlagsbinde  an  oder  zieht  einen  Tricot- 
schlauch  über  das  Bein  und  darüber  Gipsbinden.  Auch  jetzt  darf  der 
Verletzte  nach  dem  Anlegen  keine  sich  steigernden  Schmerzen  bekommen. 
In  diesem  Verband  bleibt  der  Kranke  liegen,  bis  die  zur  Heilung  vor- 
aussichtlich nöthige  Zeit  verstrichen  ist. 

Die  langsam  erhärtenden  Verbände  —  Kleister,  Wasserglas  mit  oder  ohne 
Schlemmkreidezusatz ,  Leim,  eignen  sich,  da  sie  erst  nach  Tagen  ganz  hart  werden, 
nicht  für  Knochenbrüche. 

Die  Zeit  der  Heilung  von  Fracturen  wird  meist  zu  lang  angegeben.  Ich  rechne 
für  den  Kadius  8 — 10  Tage,  Vorderarm  2'/2)  Humerus  37.3  Wochen;  Knöchelbruch  2  bis 
27-2  Wochen,  Unterschenkel  2Y2 — 3  Wochen,  Oberschenkel  5 — 6  Wochen  u.  dergl.  Bei 
Kindern  reducirt  sich  die  Zeit  auf  die  Hälfte  bis  ein  Drittel ;  bei  alten  Leuten  sind 
durchschnittlich  1—2  Wochen  zuzurechnen. 

Nach  Abnahme  des  Verbandes  wird  das  Bein  einige  Zeit  zweimal 
täglich  massirt,  dabei  lässt  man  warme  loeale  und  allgemeine  Bäder 
nehmen.  Muskelatrophie  und  Steifigkeit  bessern  sieh  rasch.  Wo  es 
möglich,  ist  eine  Badecur  (Teplitz,  oder  ein  Wildbad  wie  Gastein,  Wild- 
bad im  Schwarzwald  u.  dergl.)  sehr  nützlich. 

Die  „mobilisirende"  Behandlung  der  Fracturen  {Lucas-  Cham- 
pionnüre,  Lander  er ,  Buni  u.  A.)  besteht  in  frühzeitiger  Massage  und 
gymnastischen  Bewegungen.  Sobald  der  Callus  sich  nicht  mehr  ver- 
biegt, wird  der  Verband  gespalten  und  die  mechanische  Behandlung 
(Massage,  passive  und  active  Gymnastik)  beginnt.  Oedem ,  Steifigkeit 
und  Muskelschwäche  werden  hiedurch  rasch  beseitigt. 

In  anderen  Fällen  ist  die  Behandlung  nicht  so  leicht,  namentlich 
wenn  die  Dislocation  eine  beträchtliche  ist.  Dann  ist  es  oft  sehr  schwer, 


Gipsverbände.  Zugverbände.  437 

die  Fragmente  in  die  richtige  Lage  zu  bringen  (Reposition)  und 
schwierig,  sie  in  derselben  zu  erhalten  (Retention). 

Die  Reposition  wird  meist  in  der  Weise  ausgeführt,  dass  das. 
verletzte  Glied  ausgezogen  wird  („Extension")  durch  Zug  in  der  Längsaxe, 
z.  B.  am  Fuss ,  während  zugleich  ein  anderer  Gehilfe  dagegen  zieht, 
z.  B.  am  Oberschenkel  („Contraextension").  Der  Arzt  selbst  schiebt 
dann  die  Bruchenden  in  die  richtige  Lage  (Coaptation).  Während  meist 
das  Einrichten  der  Fractur  bei  einiger  Uebung  sehr  leicht  ist,  können 
sich  doch  mitunter  ziemliche  Schwierigkeiten  einstellen,  so  z.  B.  heftige 
Schmerzen  und  dadurch  veranlasste  Muskelzuckungen  oder  Zwischen- 
lagerungen von  Muskeln  oder  Sehnen  zwischen  die  Bruchenden,  Inter- 
position.  Hier  ist  eine  subcutane  Morphiuminjection  oft  sehr  nützlich, 
und  wenn  diese  nicht  genügt ,  lässt  man  eine  Narkose  folgen ,  in  der 
gleich  der  Verband  angelegt  wird.  Die  Narkose  ist  oft  schon  zur 
Diagnosenstellung  nöthig,  wenn  dieselbe  durch  tiefe  Lage  der  Bruch- 
stücke, starke  Schwellung,  Schmerzhaftigkeit  unmöglich  wird.  Diagnose, 
Reposition  und  Retention  folgen  sich  dann  in  einer  Narkose.  Schwierig- 
keiten anderer  Art  bereiten  eingekeilte  Brüche;  meist  gelingt  es,  bei  An- 
wendung von  Zug  und  Gegenzug  die  Einkeilung  zu  lösen;  ähnlich  ist  es 
bei  stark  gezahnten  Brüchen.  In  manchen  Fällen  von  Einkeilung  (bei 
manchen  Fällen  von  Schenkelhalsbrüchen  s.  Fig.  370)  ist  es  zwecklos, 
die  Lösung  der  Fragmente  mit  aller  Gewalt  erzwingen  zu  wollen,  da  die 
Stellung  der  Fragmente  nachher  oft  nicht  besser  wird ,  als  vorher. 
Sehr  tiefliegende  kleine  Knochen,  z.  B.  Compressionsfracturen  der  Wirbel- 
körper, sind  gleichfalls  der  Reposition  nicht  zugänglich ;  ebenso  sind 
Schädelfracturen  mit  massiger  Impression  nicht  aufzurichten.  Schliess- 
lich können,  ohne  eingreifendere  Massnahmen,  Bruchstücke  auch  dann 
nur  schwer  oder  nicht  coaptirt  werden,  wenn  dieselben  durch  Muskel- 
zug stark  auseinandergezerrt  werden,  die  Stücke  der  Fatella  (Quadriceps), 
des  Olecranon  (Triceps)  u.  a. 

In  vielen  Fällen  fallen  Reposition  und  Retention  zusammen,  d.  h. 
der  Verband  bewirkt  zugleich  die  Coaptation  der  Fragmente.  Diese 
Eigenschaft  haben  in  erster  Linie  die  Zug-  oder  Extensionsverbände. 
Sie  sind  ersonnen,  um  der  bei  manchen  Brüchen  oft  sehr  hartnäckigen 
secundären  Disloeation ,  namentlich  der  durch  Muskelcontraction  und 
Bänderschrumpfung  entstehenden  progressiven  Verkürzung  entgegenzu- 
wirken. Besonders  häutig  trifft  man  diese  bei  Schrägbrüchen  des  Ober- 
schenkels mit  Verkürzungen  um  10  und  12  Cm.  Diejenige  Methode, 
die  sich  hier  des  meisten  Beifalls  erfreut,  ist  die  Gewichtsextension. 
(Vergl.  pag.  297  ff.) 

Einen  einlachen  Extensionsverband  am  01)erarm  zeigt  Fig.  386 
nach  Hamilton. 

Nur  in  seltenen  Fällen  bietet  es  Vortheil,  sich  zur  Extension  ge- 
spannter Gummischläuche  zu  bedienen,  die  allerdings  als  Gegenzug  — 
bei  Extension  am  Beine  wird  eine  Schlinge  unVs  Becken  zwischen  den 
Beinen  durchgezogen  und  am  Kopfende  des  Bettes  befestigt  —  zweck- 
mässig sind. 

Für  Brüche .  mit  wenig  Neigung  zu  Disloeation ,  eingerichtete 
Radiusl)rüche,  Infractionen  oder  Querl)rüche  an  der  oberen  Extremität 
eignen  sich  auch  Schienen  verbände  (vergl.  Fig.  248  ff.),  obwohl  meist 
mitgeschickten  Gi])sverbänden  dasselbe  zu  erreiclicn  ist.  Holzschienen 


438 


VII.  Capitcl.   —   Krankheiten  der  Knochen   and   Gidcnke. 


sind  für  manche  Zwecke  brauchbar ,  so  namentlich  zum  Hochleben 
(Elevation)  bei  starker  Schwellung-  (Suspcnsionsschienenj  oder  um  eine 
scharfe  Supination  des  Vorderarmes  zu  erzielen  (Volkmann'' s  Supina- 
tions  schiene). 

Für  einfache  Brüche  ohne  Neigung  zur  Dislocation  und  zu  provi- 
sorischen Verbänden  eignen  sich  schmale  Schienen  (aus  Dachschindeln, 
Cigarrenbrettchen  u.  s.  f.)  auf  allen  4  Seiten  des  Gliedes  augelegt;  zur 
provisorischen  Lagerung  sind  auch  einfache  Holzrinnen  brauchbar. 
Schmale  dünne  Holzstreifen  auf  Leder  oder  Baumwollstoff  mit  Wasser- 
glas aufgeklebt  (schneidbarer  Schienenstoff  von  Esmarch)  lassen  rasch 
einen  Verband  improvisiren  (vergl.  Fig.  248  ff.).    Im  Ganzen  sind  Holz- 


Fig.  38(5. 


Fig.  387. 


schienen  theuer,  schwer  und  müssen  für  jede  Grösse  einzeln ,  also  in 
grosser  Menge  vorräthig  sein.  Für  die  Privatpraxis  erreicht  man  das- 
selbe mit  Pappschienen. 

Blechschienen,  in  dünnen  Nummern  schneidbar,  eignen  sich,  wohlgepolstert, 
vorzüglich  zu  Lagerungsschienen.  Auch  dickes  Leder  ist,  durch  heisses  Wasser  ge- 
zogen, formbar  und  bei  wenig  Dislocation  zu  brauchen. 

Schliesslich  kann  man  auch  aus  in  Gips  getränkten  Tachstreifen  oder  Hanf- 
und Jutesträhnen,  die  nass  angelegt  werden,  sehr  schön  passende  dauerhafte  Gips- 
schienen erzielen  (vergl.  pag.  294). 

Das  Bestreben,  Patienten  mit  chronischen  Gelenkerkrankuugen  „ambulant"  mit 
„Geh verbänden"  zu  behandeln,  ist  durch  v.  Bardeleben,  Bruns  u.  A.  auch  auf 
die  Knochenbrüche  an  der  unteren  Extremität  übertragen  worden.  Wenn  man  das  Ver- 
fahren nicht  gedankenlos  schematisch  anwendet,  sondern  schwierige  Brüche  mit  starker 
Neigung  zur  Verschiebung  ausschliesst ,  lassen  sich  durch  Vermeidung  längeren  ßett- 
liegens  (hypostatische  Pneumonie!)    besonders   bei    alten  Leuten    und  Trinkern  gute  Er- 


Gehverbände. 


439 


folge  erzielen.  So  ist  es  mir  u.  A.  gelungen ,  bei  einer  82jährigeu  Dame  mit  einem 
am  6.  Tag  angelegten  Schienenhülsenapparat  eine  Schenkellialsfractur  zur  Consolidation 
zu  bringen. 

Das  "Wesentliche  ist  ein  sich  an  den  Sitzknorren  anschliessender  Sitzring,  der 
durch  einen  Gipsverband  (Bardelehen,  Korsch,  Albert)  oder  seitliche  Schienen  (Bruns, 
Liermanii)  getragen  wird.  Ein  einfacher,  auch  für  Gelenkerkrankungen,  Osteotomien  etc. 
brauchbarer  Verband  ist  der  BrMns'sche  Gehverband,  dessen  Bau-  und  Anwendungsweise 
aus  Fig.  387  und  Fig.  388  ohne  Weiteres  hervorgeht. 

Noch  einfacher,  aber  etwas  primitiv  ist  die  von  Braatz  veränderte  alte  Thomas- 
sche  Schiene,  die  man  sich  zur  Noth  selbst  aus  Telegraphendraht  zurechtbiegen  kann 
(Fig.  389). 

Fig.  388.  Fig.  389. 


Ein  brauchbarer  Apparat  ist  auch  der  von  Heusner  angegebene  (Fig.  390).  Der 
fertige  Verband  und  sein  Gebrauch  mit  Hilfe  der  l/e«.s«er'schen  Lanfl)ank  ist  in 
Fig.  391  dargestellt.  —  Wie  der  Kranke  an  Krücken  geht ,  mit  erhöhter  Sohle  (Kork) 
am  gesunden  Bein,  zeigt  Fig.  392. 

Der  Gipsverband  als  Geh  verband  wird  meist  erst,  wenn  die  Schwellung 
im  Eückgang  ist,  also  selten  vor  dem  3.  Tag  angelegt.  Er  wird  als  knapp  anliegender 
Verband  entweder  auf  die  rasirte,  Ijefettetc  Haut  angelegt,  oder  über  einen  ganz  glatt 
liegenden  Tricotschlauch.  Alle  Falten  sind  auf's  Sorgfältigste  zu  vermeiden.  Will  man 
nicht  einen  Sitzring  aus  Metall,  der  auf  das  Tuber  ischii  kommt,  mit  eingip.sen ,  so 
stellt  man  den  Sitzring  aus  einem  etwa  20  Cm.  breiten  (Flanell-)  Gipskataplasma  in 
der  Fig.  393  dargestellten  Weise  her. 

Der  fri'hverband  soll  die  den  Gebrauch  oft  so  lange  störenden  Oedeme ,  Gelenk- 
steifigkeiten  und  Muskelatrophien  verhüten.  3Ian  eiTeicht  dasselbe  auch  mit  früher 
Massage  und  Gymnastik  (s.  pag.  436).  Immerhin  ist  es  zweckmässig,  Patienten  mit  nicht 
zu  schweren  Beinbrüchen  so  bald  als   möglich  im    genau    anliegenden   Gipsverband    auf- 


440 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knoclien  und  Gelenke. 


stehen  zu  lassen.    Ich  habe  beim  Gehverband    melirere  Fälle  von  sehr  verzögerter  Con- 
solidation  und   sogar  von  Wiedererweiehung  des  Gallus  erlebt. 

Trotz  dieser  reichen  Auswahl  von  Verbandniitteln    kommen  doch 
noch  Fälle  in  der  Praxis  vor,  die  eine    andere  Behandlung   verlangen, 


Fig.  390. 


WO   weder   ein    Lagerungsapparat ,    noch    ein    Contentivverband ,    noch 
Extension   die   Fragmente    coaptiren    und    coaptirt    hatten.     In  solchen 


Fig.  391. 


Fällen    bleibt    nichts    übrig,    als    unmittelbar    auf  die  Brucheiiden    ein- 
zuwirken. 

Zwei  solcher  Apparate  verdanken  wir  Malgaigne.  Der  eine,  die  Malffaiffne'sche 
Klammer  (Fig.  395),  zwei  durch  eine  Schraube  verbundene  Krallen  sollen  die  auseinander 
weichenden  Bruchstücke  der  Patella  zusammenziehen.    Ich   habe   denselben  früher  nicht 


Knocheniialit,  Massage  bei  Fracturen. 


441 


ohne  Nutzen  hei  diesen  Brüchen  und  auch  bei  Brüchen  des  Olecranon  verwendet.  Dann 
ist  der  Malgaigne'sc\e  Stachel  (Fig.  394)  zu  nennen,  der  bei  Schrägbrüchen  der  Tibia 
(den    sogenannten  Flötenschnabelbrüchen ,    s.  Fig.  373)   in  das    vorragende   obere  Bruch- 


Fig.  392. 


Fig.  394. 


ende   eingetrieben  wird    und    dasselbe  niedergedrückt  halten  soll.    Selbstverständlich  ist 
dabei  strenge  Antisepsis  (Glühen  der  Instrumente,  Bepuderung  mit  Jodoformpulver)  nöthig. 

Häufiger  greift  man  heute  zur  Knochennalit.  Bei  der  uumittel- 
bareu  Knochennaht  wird  der  Knochen  antiseptisch 
freigelegt,  durch  die  beiden  zu  vereinigenden  Stücke 
mit  dem  Drillbohrer  ein  Loch  gebohrt  und  durch 
die  Löcher  Fäden  (Silber-  oder  Eisendraht,  Seide, 
Silkworm  u.  s.  f.)  gezogen  und  dieselben  fest  ange- 
zogen und  geknotet.  Für  manche  Fälle  ist  die 
mittelbare  ebenso  l)rauchbar,  indem  Fäden  um 
die  Knochen  herumgeführt  werden  oder  durch  be- 
nachbarte Weichtheile  (Sehnen,  Muskeln)  gezogen 
werden  (Patella),  vergl.  i)ag.  27CJ. 

In  seltenen  Fällen  können  die  Knochen  auch 
zusammengenagelt  werden  mit  Fisen- oder  Elfenbein- 
stiften (s.  auch  bei  complicirten  Brüchen). 

Einzelne  Knoehenbrüche  eignen  sich  zur  früh- 
zeitigen   ]\Iassage    ohne  Verband,   namentlich 
die    eingekeilten    Brüche,    wo    eine    Verschiebung 
doch    nicht    erfolgt.    z.B.  eingekeilte   Schenkelhal.sbrüciie ,    eingekeilte 
Radiusbrüche    (die   rejionirl)aren    lasse    ich    erst    acht    Tage   auf   einer 
Pistolenschiene    (Fig.  '2M))    liegen:    bei    diesen    schadet   frühe   Massage 


442  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  iler  Knoclien    und   Gelenke. 

nur).  Ebenso  lassen  sich  bei  Kniescheiben brüchen  gute  Kesultate  durch 
sofortige  Massage,  rasche  Resorption  des  Blutergusses  erreichen. 

Gelenkbrüche  verlangen  frühzeitige  Stellungsänderungen  und 
passive  Bewegungen  (vom  Ende  der  ersten  Woche  anj  und  dann  bald 
Massage,  um  Verlöthungen  innerhalb  des  (lelenkes  und  Steifigkeit  zu 
verhüten.  Die  zweckmässigste  Behandlung  der  Gelenkbrüche  ist  jedoch 
Extension,  wenigstens  in  den  ersten  10 — 14  Tagen. 

Epiphysenlösungen  sind  wie  andere  Brüche  zu  behandeln. 

Bei  Zertrümmerungs brüchen  hat  man  sich  oft  anfangs  auf 
zweckmässige  Lagerung  zu  beschränken  und  es  genügt,  wenn  man  in 
der  zweiten  Woche  einen  exacter  passenden  Verband  anlegt.  Mit  der 
Consolidation  geht  es  hier  viel  langsamer. 

In  der  Behandlung  der  Knochenbrüche  darf  man  sich  keineswegs 
sclavisch  an  bestimmte  Schulregeln  binden,  .leder  einzelne  Fall  fordert 
auch  seine  besondere  individualisircnde  Behandlung.  Das  gesteckte 
Ziel  —  Wiederherstellung  der  normalen  Form  des  Knochens  und  der 
normalen  Gebrauchsfähigkeit  des  Gliedes  —  muss  man  mit  allen  nur 
irgend  verfüg-  und  durchführbaren  Mitteln  zu  erreichen  suchen.  Stets 
ist  während  der  Behandlung  durch  Messung,  Vergleichuug  mit  der  ge- 
sunden Seite,  scharfe  Beobachtung  gewisser  anatomischer  Verhältnisse 
das  Resultat  der  Behandlung  zu  controliren.    —    So  müssen  Spin.  ant. 


sup.  ilei ,  Vorderfläche  der  Patella ,  Crista  tibiae  und  Spatium  interos- 
seum  pedis  primum  in  einer  Linie  liegen;  wenn  nicht,  so  ist  Rotation 
des  Beines  vorhanden.  Der  Epicondjlus  ext.  hum.  muss  gerade  unter 
der  Spitze  des  Acromion  liegen ;  Spitze  des  Olecranon  und  Epicondylus 
int.  und  ext.  müssen  in  einer  Linie  sein  ;  ebenso  Spin.  ant.  ilei  sup.,  Spitze 
des  Tronchanter  und  tuber.  ischii  (Boser-Nelaton'sche  Linie)  u.  dergl.  m. 
Um  die  genaue  Wiederherstellung  der  normalen  anatomischen  Verhält- 
nisse zu  erzielen,  wird  man  so  lange  an  den  Verbänden  ändern  und 
bessern,  bis  das  Ziel  erreicht  ist.  Man  wird  bald  einen  Zugverband 
mit  Schienen  combiniren,  z.B.  bei  Oberscheukelbrüchen  noch  den 
Obersehenkel  schienen ,  einen  nicht  ganz  entsprechenden  Gipsverband 
abnehmen  und  einen  neuen,  besseren  anlegen,  oder  die  Fragmente  mit 
Heftpflaster  zusammenziehen,  ehe  man  einen  Gipsverband  macht;  hier 
noch  einen  Ballen  Holzfaser  einschieben,  dort  etwas  wegnehmen  oder  ab- 
schneiden, um  ein  Bruchstück  noch  etwas  mehr  nach  dieser  oder  jener 
Seite  zu  treiben.  Kurz,  man  darf  nicht  ruhen,  bis  man  die  Ueberzeugung 
hat,  besser  kann  es  nicht  gemacht  werden.  —  In  anderen  Fällen  wieder, 
wo  eine  genaue  Zusammenfügung  nicht  möglich  ist,  bei  eingekeilten 
Fracturen  oder  Abreissung  kleiner  Knochenstückchen ,  auf  die  man 
nicht  einwirken  kann,  z.  B.  Tubercula  humeri  u.  s.  f.,  wird  man  lieber 
auf  genaue  Wiederherstellung  der  Form  und  Lage  verzichten,  aber  um- 
somehr  durch  frühzeitige  Bewegungen,  Massage  u.  dergl.  auf  Herstellung 


Complicirte  Knochenbriiclie.  443 

und  Erhaltung-  einer  möglichst  guten  Function  bedacht  sein.  Keinen 
einzigen  praktischen  Vortheil,  keinen  Fortschritt  der  Technik  darf  man 
sich  entgehen  lassen. 

Da  die  Roentgen-Strahlen  auch  den  Gipsverhand  durchdringen,  so 
ist  in  der  Durchleuchtung  und  Photographie  mit  ßoentgeu-Strahlen  ein 
überaus  geeignetes  Mittel  zur  Controle  der  Lage  der  Bruchstücke  im 
Gipsverband  gegeben. 


Auch  bei  Kuochenbrüchen  begegnen  wir  zahlreichen  Abweichun- 
gen des  Verlaufs  von  der  Norm. 

Eine  der  häufigsten  und  schwersten  Complicationen  der  Knochen- 
brüche ist  das  Vorhandensein  einer  äusseren  Wunde.  Wegen  der 
schweren  Störungen  des  Heilverlaufes,  namentlich  der  sich  hier  über- 
aus häufig  einstellenden  accidentellen  Wuudkrankheiten,  hat  man  diese 
„offenen"  Knochenbrüche  mit  Wunde  als  complicirte  Knochen- 
brüche schlechthin  bezeichnet,  im  Gegensatz  zu  den  subcutanen  oder 
einfachen  Knochenbrüchen. 

Die  Weichtheilwunde  bei  complicirten  Fracturen  entsteht 
meist  zugleich  durch  die  verletzende  Gewalt.  Bei  directen  Brüchen 
wird  Haut  und  Mnsciilatur  mit  zerquetscht  oder  zerrissen ;  bei  indirecten 
ist  die  Verletzung  der  Weichtheile  seltener;  sie  entsteht  hier  dadurch, 
dass  der  Knochen  von  innen  her  die  Weichtheile  durchbohrt  —  Durch- 
stechungsfracturen.  Viel  seltener  entsteht  die  Hautwunde  nicht  im 
Momente  der  Verletzung,  sondern  erst  im  späteren  Verlauf.  Bald  wird 
durch  ungeschickte  Bewegungen  (Delirium  tremens ,  ]\luskelzuckungen 
oder  beim  Transport)  die  Haut  vom  Knochen  durchbohrt ,  oder  der 
dislocirte  Knochen  drückt  von  innen  gegen  die  Haut  an  und  bringt 
sie  durch  Druck  zur  Necrose.  Oder  die  Weichtheile  sind  bei  der  Ver- 
letzung so  gequetscht,  dass  sie  schliesslich  absterben.  Leider  kommt  es 
auch  hin  und  wieder  vor,  dass  ein  schlecht  angelegter,  unnachgiebiger 
Verband  die  Weichtt^eile  necrotisch  macht. 

Die  Gefahr  des  complicirten  Knochenbruches  ist  die  In- 
fection.  In  vorantiseptischer  Zeit  starben  an  den  Folgen  complicirter 
Brüche ,  je  nach  dem  Hospital  und  dessen  Verhältnissen  und  der  Be- 
handlung, 40 — 80%  sämmtlicher  Verletzter;  bei  Schussverletzten  in 
schlechten  Kriegsspitälern  noch  mehr.  —  Dass  offene  Knochenbrüche 
so  leicht  inficirt  werden,  beruht  vor  Allem  auf  zwei  Gründen.  Bei 
den  direct  entstandenen  offenen  Knochenbrüchen  hat  man  unmittelbar 
um  die  Bruchstelle  einen  ausgedehnten  Quetschungsherd  der  Weichtheile, 
und  wie  leicht  diese  halbtodten  zeniuetschten  Weichtheile  inficirt  werden, 
habe  ich  pag.  95  auseinandergesetzt.  Wenn  nun  die  Infection  der 
Weichtheile  erfolgt  ist,  so  ist  die  Gefahr  fiir's  Leben  eine  besonders  grosse, 
da  die  weiten  Gefässe  des  ^larkcs  unmittelbar  in  diese  Jaucheherde 
hineintauchen.  Die  Gefässe  und  Venen  des  Markes  können  nicht  zu- 
sammenfallen und  dadurch  sich  schliessen,  wie  die  Venen  von  Weich- 
tlieilcn,  ihre  Wände  werrlen  in  dem  starren  Knochencylinder  auseinander- 
gehalten. So  liegen  sie  dem  Eindringen  der  Mikroorganismen  offen, 
es  entstehen  Venenentzündungen,  Blutgei-innungen  in  denselben,  citriger 
Zerfall  der  Thromben,  und  damit  ist  der  Pyämie  Thür  und  Thor  ge- 
öffnet (s.  pag.  151,  Entstehungsweise  der  Pyämie).  Diese  Krankheit  war 


444  ^11-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knoclion  und  Gelenke. 

es  denn  haiiptsächlicli,  die  die  Verletzten  mit  offenen  Fraoturen  schaaren- 
weise  dabinraft'te.  Septicämie  war  verhältnissniassig-  selten ;  gelegentlich 
wurde  auch  Gangrene  foudroyante  beobachtet  (pag.  157j.  —  Bei  Durch- 
stechungsfracturen ,  wo  der  Zustand  der  Weichtheile  ein  viel  besserer 
ist,  die  Wunde  auch  kleiner,  sind  die  Aussichten  stets  viel  besser  ge- 
wesen. —  Ebenso  auch  bei  den  Fällen,  wo  die  Wunde  erst  secundär 
in  späterer  Zeit  entsteht,  weil  oft  hier  durch  adhäsive  Entzündung  der 
Weg  in  die  Tiefe  und  zum  Knochenmark  verlegt  ist. 

Die  Diagnose  des  offenen  Knochenbruches  ist  meist  sehr  einfach. 
Man  sieht  die  Wunde,  aus  der  oft  ein  Bruchstück  unmittelbar  zu  Tage 
tritt.  Im  Uebrigen  sind  alle  Zeichen ,  die  für  die  Erkennung  eines 
Knochenbruches  von  Belang  sind,  sehr  deutlich  ausgesprochen. 

Prognose  und  Behandlung  fallen  in  Eins  zusammen.  Ueber 
das  Schicksal  des  Verletzten  entscheidet  allein  die  antiseptische 
Schulung  seines  Arztes.  Geht  eine  complicirte  Fractur  frisch  zu ,  so 
wird  man  —  bei  irgend  erheblicherer  äusserer  Verletzung,  namentlich 
direct  entstandenen  Brüchen  —  wenn  irgend  möglich  den  Kranken 
chloroformiren.  Nun  scheuert  man  die  ganze  Gegend  in  penibelster 
Weise  (vergl.  pag.  198)  ab  und  untersuclit  dann  —  mit  sorgfältigst 
desinficirten  Fingern  —  die  Wundhöhle,  indem  man,  wenn  nöthig,  die 
Haut  genügend  einschneidet.  Man  betastet  die  Bruchenden,  hebt  ganz 
abgelöste  oder  nur  noch  lose  hängende  Knochenscherben ,  Weichtheil- 
fetzen  und  Blutcoagula,  Schmutz  heraus,  wischt  die  Wunde  mit  sterilen 
Tupfern  aus  oder  spült  und  schwemmt  sie  mit  schwachen  antiseptischen 
Lösungen  (Sublimat  1  :  5000)  oder  sterilisirter  Kochsalzlösung  oder 
Tat^e/'scher  Lösung  aus,  dann  fühlt  man  mit  den  Fingern  alle  Buchten 
und  Gänge  der  Wundhöhle  ab  und  legt  an  den  abhängigsten  Stellen 
zahlreiche  fingerdicke  Drains  ein,  indem  man  die  Kornzange  von  innen 
her  gegen  die  Haut  andrängt,  auf  die  Spitze  einschneidet  und  sofort  die 
Röhre  mit  der  zurückgezogenen  Zange  einzieht.  Die  Sorge  für 
freien  Abfluss  der  Secrete  ist  die  Hauptsache.  Nun  umhüllt  man 
die  Wunde  weithin  mit  dicken,  gut  aufsaugenden  antiseptischeu  Polstern 
(Holzstoff)  und  lagert  das  Glied  auf  einer  wasserdichten  Schiene,  z.  B. 
einer  Blechrinne  {Volkmamr&ohe  T-Schiene),  auch  kann  man  sofort 
leichte  Extension  damit  verbinden. 

Der  Kranke  ist  nun  sorgfältig  zu  beobachten,  zweimal  täglich  die 
Temperatur  zu  messen  und  je  nach  dem  Verhalten  und  den  Schmerzen 
wird  der  meist  bald  durchtränkte  Verband  durch  theilweise  Erneuerung 
und  Aufpackung  weiterer  aufsaugender  Stoffe  verstärkt  oder  ganz  ge- 
wechselt. Seltener  Verbandwechsel  ist  für  den  Kranken  angenehm  und 
der  Heilung  des  Bruches  dienlich;  doch  ist  bei  Fieber  jenseits  SS'ö", 
starken  Schmerzen,  üblem  Geruch  des  Verbandes  u.  s.  f.  sofort  zu 
wechseln. 

Bei  glattem  Verlauf  bleibt  die  Temperatur  normal  oder  in  massigen 
Grenzen ,  das  Allgemeinbefinden  gut.  Nach  etwa  8  Tagen  kann  man 
diejenigen  Drains  herausnehmen,  die  wenig  Wundflüssigkeit  entleeren, 
eins  nach  dem  andern.  Zeigt  sich  keine  Entzündung  der  Weichtheile 
und  ist  die  Absonderung  gering,  auch  die  Consolidation  im  Gang,  was 
man  durch  vorsichtige  Bewegungen  feststellt,  so  kann  man  zu  einem 
andern,    die   Fragmente    besser   fixirenden   Verband    übergehen.     Jetzt, 


Complicirte  Knochenbrüche.  lufection.  445 

Daelidem   die  Gefahr   fiir's  Leben    geschwunden   ist,   mnss    man    daran 
denken,  eine  möglichst  exacte  Heilung  zu  bekommen. 

Es  lassen  sich  allerdings  eine  Reihe  von  complicirten  Fracturen 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  auf  derselben  Schiene  behandeln,  wenn 
man  sich  durch  Messung  u.  s.  w.  von  der  guten  Lage  der  Knochen- 
stücke überzeugt.  ]\Ianchmal  muss  man  aber  in  der  2.  oder  3.  Woche 
doch  wechseln,  sei  es  nun ,  dass  man  jetzt  einen  Zugverband  machen 
oder  einen  festen  Contentivverband ,  einen  Gipsverband  anlegen  will. 
Nur  wo  die  Secretion  sehr  gering  ist ,  kann  man  einen  (Jodoform-) 
Dauerverband  anlegen  und  darüber  einen  geschlosseneu  Gipsverband 
anbringen.  Meist  wird  man  zu  einem  gefensterten  oder  unter- 
brochenen Gipsverband  greifen  müssen,  um  Zugang  zu  der  Wunde 
zu  behalten.  (Vergl.  Fig.  200  u.  263.) 

Birclier  legt  Zapfen  in  die  Markhöhle  ein  {Langenheck' s  Arch.,  34);  ebenso 
Senn  (Auuals  of  snrgery,  1893,  Augustnnmmer),  der  auch  Ringe  aus  Thierknochen  aus- 
sägt ,  sie  1  Stunde  lang  kocht ,  in  Sublimatalkohol  aufbewahrt  und  sie  auf  die  Frag- 
mente zu  ihrer  Vereinigung  aufschiebt. 

Die  Heilung  ist  in  Fällen  ohne  Eiterung  dieselbe,  wie  bei  sub- 
cutanen Fracturen,  eine  Art  Heilung  unter  dem  feuchten  Blutschorf 
(s.  pag.  79).  Wo  es  sich  um  die  Ausfüllung  grösserer  Höhlen  unter 
stärkerer  Absonderung  handelt ,  kleiden  sich  diese  mit  Granulationen 
aus;  Periost  und  Mark  machen  die  geschilderten  Veränderungen  durch 
und  bilden  bald  Granulationen ;  bei  der  Rindensubstanz  dauert  es 
mehrere  Wochen,  bis  aus  ihr  Granulationen  hervorspriessen ;  dabei  ver- 
fällt der  der  ßruchspalte  zunächst  liegende  Theil  des  Knochens  der  Re- 
sorption. Die  Granulationen  verknöchern  schon  früh  —  gegen 
Ende  der  ersten  Woche.  Es  kommen  Osteoblasten  zum  Vorschein,  die 
osteoides  Gewebe  produciren,  das  dann  verknöchert  (sog.  geflechtartiger 
Knochen).  Ein  knorpliges  Vorstadium  des  neuen  Knochens  findet  sich 
nicht  bei  der  Entwicklung  aus  Granulationen,  sondern  es  handelt 
sich  lediglich  um  Bildung  von  Knochen  direct  aus  Bindegewebe. 
(S.  Fig.  365.) 

Die  Heilungsdauer  complicirter  Fracturen  beträgt  ungefähr  die 
doppelte  Zeit  gleichartiger  subcutaner  Brüche,  doch  lassen  sich  genaue 
Regeln  — ■  weil  eben  jeder  Fall  anders  ist  —  nicht  geben. 

Complicirte  Fracturen  zeigen  viele  Abweichungen  von  dem  ge- 
schilderten Verlauf;  die  wichtigste  ist  das  Eintreten  von  Infection. 
Sei  es  nun.  dass  sie  schon  inficirt  zugegangen  sind,  oder  dass  die  Anti- 
sepsis misslungen  ist.  Die  klinischen  Erscheinungen,  an  welchen  die  In- 
fection zu  erkennen  ist,  habe  ich  pag.  139  geschildert;  vor  Allem  sind 
Temperatur  und  Puls  erhöht,  der  Kranke  klagt  über  Schmerzen,  zeigt 
Fiebersymi)tome.  Die  Wunde  ist  geröthet,  sehnierzhaft ;  es  ist  eine  reich- 
liche, eitrige  oder  gar  ül)elriechende  Secretion  vorhanden.  Vor  Allem 
ist  jetzt  nach  Eiterverhaltungen  zu  forschen,  jede  Schwellung  und 
Röthung  ist  sorgfältig  zu  untersuchen  und  wenn  daselbst  Fluctuation  vor- 
handen ist  oder  sich  durch  leichten  Druck  auf  die  Stelle  Secret  nach  der 
Wunde  entleeren  lässt,  so  niuss  indicirt  und  drainirt  werden.  Man  darf 
sich  vor  Aveiten  Incisioncn  nicht  scheuen  und  iiiclit  nachlassen,  bis  der 
Kranke  fieberfrei  wird. 

Will  die  Temperatur  nicht  herunter  und  findet  sich  örtlich  durchaus  nichts,  so 
kann  zu  feuchten  antiseptischen  Umschlägen  gegriffen  (Sublimat  1  :  3000)  oder  die  Irri- 


446  VII-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

gatiou  (s.  pag.  186)  mit  essigsaurer  Tlionerde  (2 — 4  Procent),  Chlorwasser  u.  dergl.  ver- 
sucht werden.  Auch  die  Immersion  —  das  ])ermanente  Localbad  (s.  eliendaselbst)  — 
kann  gelegentlicli  Nutzen  bringen. 

Kommt  man  mit  alldem  nicht  zum  Ziel,  zeigt  sich  Keimung  zum 
centralen  Fortschreiten  der  Entzündung  oder  tritt  gar  schwere  progre- 
diente septische  Phlegmone  hinzu,  so  steht  die  Sache  übel.  Nehmen 
dabei  die  Kräfte  des  Kranken  zusehends  ab,  oder  treten  gar  stürmische 
Erscheinungen  von  Sepsis  auf  (hohes  Fieber,  schlechter  Puls,  Kräfte- 
verfall), so  wird  nichts  übrig  bleiben,  als  die  Amputation  hoch  oben  im 
Gesunden.  Zur  Nachbehandlung  empfiehlt  sich  dann  offene  Wundbehand- 
lung (pag.  186)  mehr,  als  eine  doch  aussichtslose  Antisepsis.  Dass  manche 
Kranke  diese  Spätamputation  nicht  mehr  überstehen,  darf  nicht 
Wunder  nehmen. 

Die  Amputation  bei  complicirten  Fracturen  kommt  bei 
sehr  schweren  Fällen  oft  schon  unmittelbar  nach  der  Verletzung  in 
Frage.  Im  Ganzen  kommt  es  fast  mehr  auf  den  Zustand  der  AVeichtheile 
an  (vergl.  pag.  5).  Sind  Puls  und  Nervenleitung  im  peripheren  Stück 
sehr  geschädigt  und  die  Circulation  ungenügend,  so  ist  die  primäre 
Amputation  nicht  zu  umgehen  und  leuchtet  dann  meist  jedem  Laien 
ohne  Weiteres  ein.  In  zweifelhaften  Fällen  kann  ein  guter  und  geübter 
Antiseptiker  —  aber  auch  nur  dieser  —  den  Versuch  der  Erhaltung 
machen  auf  die  Gefahr  hin,  später  doch  noch  wiegen  Gangrän  amputiren 
zu  müssen.  So  lange  die  Sache  aseptisch  bleibt,  ist  ja  die  Gefahr  zu 
beherrschen.  —  Bei  ungenügender  Schulung  und  unter  ungünstigen 
Verhältnissen  (z.  B.  in  überfüllten  Kriegslazarethen)  dürfte  die  primäre 
Amputation  vielleicht  manches  Leben  retten,  das  sonst  der  mangel- 
haften Antisepsis  zum  Opfer  fällt  (s.  Kriegsverletzungen). 

Complicirte  Fracturen  mit  erheblicherer  Eiterung  werden  selten 
ohne  Nekrose  der  Bruchenden  durchkommen.  Die  der  Bruchspalte 
unmittelbar  benachbarten  Theile  der  Rinde  werden  ja  immer  nekrotisch, 
aber  meist  ohne  Bildung  makroskopischer  Splitter  („Sequester")  resor- 
birt.  Unter  dem  Zusammenwirken  umfänglicher  Quetschung  und  bacte- 
rieller  Infection  werden  aber  grössere  Knochenstücke  nekrotisch ,  so 
gross ,  dass  die  Resorptionskraft  der  Granulationen  nicht  genügt ,  sie 
ganz  einzuschmelzen,  sondern  dieselben  müssen  nach  aussen  entleert 
werden.  Es  verfallen  so  bei  stärkerer  Eiterung  nicht  blos  alle  bereits 
durch  die  Verletzung  abgetrennten  Knochensplitter  der  Nekrose  und 
Ausstossung,  sondern  auch  von  den  Bruchenden  oft  Stücke  von  mehreren 
Centimetern  Länge.  Diese  letzteren  müssen  erst  durch  demarkirende 
Granulation  (s.  pag.  42)  im  Laufe  von  Wochen  bis  Monaten  losgelöst 
werden,  ehe  sie  mobil  und  ausgestossen  werden.  Man  hat  an  Sequester- 
bildung zu  denken,  wenn  die  Eiterung  bei  complicirten  Fracturen  auch 
nach  4 — 6  Wochen  nicht  aufhört.  Man  kann  dann  mit  scharfem  Löffel 
nicht  blos  den  nackten  Knochen  unmittelbar  fühlen,  sondern  oft  Dutzende 
von  Sequestern  herausholen.  Grosse  Sequester  verlangen  eine  Erweiterung 
der  Fistelcanäle. 

Natürlich  stört  diese  Sequester bildung  auch  die  Callusbildung 
(s.  bei  Pseudarthrose). 

Bei  aseptischem  Verlauf  und  subcutanen  Fracturen  heilen  abgelöste  Splitter  meist 
anstandslos  wieder  an.  Bildung  von  Sequestern  und  Ausstossung  durch  Eiterung  ist  bei 
subcutanen  Splitterfracturen  eine  extreme  Seltenheit. 


Ueble  Folgen  von  Knoclienbrüchen.  447 

Auch  die  übrigen,  sofort  zu  besprechenden  Störungen  und  Anomalien 
des  Verlaufes  von  Knochenbrüchen  sind  bei  complicirten  Knochenbrllchen 
besonders  häufig. 

Fast  noch  schwerer  als  diese  complicirten  Brüche  sind  die 
complicirten  Gelenkbrüche.  Zu  den  Gefahren  der  complicirten 
Fractur  treten  noch  die  einer  offenen  Gelenkverletzung  und  bei  Infection 
die  einer  Gelenkeiterung  (s.  Gelenkentzündungen).  Peinlichste  Desinfee- 
tion,  ausgiebige  Drainage  sind  angezeigt ;  bei  günstigem  Verlauf  früh- 
zeitige Aenderungen  der  Stellung  und  Massage  (s.  oben).  Auch  hier  ist 
Extension  nützlich.  Wiederherstellung  normaler  Function  ist  nur  in 
einem  Theil  der  Fälle  zu  erwarten. 

Complicirte  Epiphysenlösungen  —  nicht  so  selten  auf  in- 
directem  Wege  entstehend  und  mit  unbedeutender  Verletzung  verbunden  — 
geben  keine  so  üble  Prognose ,  da  die  Markhöhle  nicht  mit  eröffnet 
ist.  Ich  habe  Fälle  tadellos  geheilt  durch  Antisepsis  und  Reposition, 
während  in  anderen  Fällen  die  Epiphyse  ganz  oder  theilweise  resecirt 
wurde,  auch  mit  gutem  Resultat.  Wo  möglich  ist  der  meist  an  der 
Diaphyse  haftende  Epiphysenknorpel  zu  schonen.  Die  Hauptsache  ist 
ebenfalls  sorgfältige  Antisepsis. 

Von  weiteren  Complicationen  der  Knochenbrüche  (vergl. 
hierüber  Fabricius,  Laiigenbeck's  Arch.,  48)  sind  in  erster  Linie  zu  nennen 
Verletzungen  von  Blutgefässen  und  Nerven. 

Die  Verletzung  von  Arterien  kann  in  verschiedenster  Weise 
erfolgen.  Das  Gefäss  wird  einfach  zugedreht  oder  abgerissen  (torquirt) 
und  die  Circulation  unterhalb  kann  in  hohem  Grade  gestört,  selbst 
ganz  aufgehoben  werden  —  und  es  folgt  Gangrän.  Oder  es  kann 
nur  die  Intima  und  Media  zerreissen  (s.  pag.  111,  Fig.  73)  und  die 
Adventitia  erhalten  bleiben ;  auch  hier  folgt  Thrombose.  Dann  kann  das 
Gefäss  durch  einen  Knochensplitter  angespiesst  oder  eingeklemmt  und 
so  verschlossen  w^erden.  Die  hiedurch  bedingte  Gangrän  des  Gliedes 
wird  oft  auf  einen  Kunstfehler  des  Arztes  (zu  enger  Verband)  ge- 
schoben. 

Andere  Male  reisst  das  Gefäss  seitlich  ein,  oder  wird  durch  einen 
Knochensplitter  angespiesst  und  das  Blut  ergiesst  sich  nach  aussen  — 
bei  offenen  Fracturen  —  und  giebt  Anlass  zu  einer  enormen,  oft  tödtlichen 
Blutung.  Oder,  bei  subcutanen  Fracturen,  wühlt  es  sich  in  die  um- 
gebenden Weichtheile  und  bildet  so  eine  grosse  Blutgeschwulst  (Hämatom, 
s.  pag.  100).  die  schliesslich  zu  einem  Aneurysnia  werden  kann  (s.  Gefäss- 
erkrauknngen).  Auch  später  kann  sich  noch  ein  Thrombus  lösen  und 
eine  Blutung  kommen  oder  ein  Aneurysma  entstehen,  Dass  pyämische 
Spätblutungen  auch  bei  inficirten  complicirten  Fracturen  sich  einstellen 
können,  ist  selbstverständlich. 

Die  Verletzung  der  Venen  macht  sich  Ijci  Fracturen  meist 
wenig  bemerklich,  die  Blutung  aus  ihnen  ist  unbedeutend;  ebenso 
werden  wohl  in  allen  Fällen  die  Venen  in  unmittelbarer  Nähe  der  Ver- 
letzung thrombosiren.  Die  .subcutanen  Venen  tlirond)osiren  l)ei  sub- 
cutanen Brüchen  fast  nie,  wohl  aber  sind  Fälle  von  Thrombose 
tiefer  und  grosser  Venen  nicht  so  selten,  namentlich  an  der  unteren 
Extremität  mit  folgendem  hartnäckigem  Oedem,  und  in  einzelnen  Fällen 
ist  auch  schwere,    selbst   tödt liehe  Enibolie    der   Lunirenarteric    als 


448  ^II-  Capitel.   —  Krankheitim  der   Knochen   und  Gelenke. 

Folge  dieser  Thrombosen  (an  den  unteren  Extremitäten;    vorgekommen. 
Alte  Leute  sind  zu  Thrombosen  besonders  disponirt. 

Nervenverletzung-en  können  in  verschiedenster  Weise  bei 
Knochenbrüchen  sich  ereignen.  Bald  wird  der  Xerv  unmittelbar  bei 
der  Verletzung  gequetscht ,  zerquetscht  oder  zerrissen ;  bald  wird  er 
von  scharfen  Knochenspitzen  angespiesst  oder  zwischen  Bruchstücke 
eingeklemmt,  sofort  oder  durch  spätere  Verschiebungen.  Schliesslich 
kann  er  später  durch  den  Callus  oder  Narbenmassen  gedrückt  oder  in 
sie  eingeschlossen  werden.  Besonders  oft  wird  der  N.  radialis  verletzt, 
dann  der  N.  peroneus  und  der  Plexus  axillaris.  —  Die  wesentlichen 
Erscheinungen  sind  motorische  und  sensible  Lähmungen,  die  bald  un- 
mittelbar nach  der  Verletzung  eintreten ,  bald  erst  später.  Bei  An- 
spiessung  der  Nerven  stellen  sich  auch  Schmerzen  und  Krämpfe  ein. 
Die  Behandlung  ist  bei  Krankheiten  der  Nerven  und  pag.  281  be- 
sprochen. 

In  seltenen  Fällen  hat  man  nach  Knochenbrüchen  Atrophie  des  ganzen  verletzten 
Gliedes  beobachtet,  die  vielleicht  mit  einer  Nervenläsion  zusammenhängt. 

Gangrän  des  verletzten  Glliedes  kann  durch  die  erwähnten  Ge- 
fässverletzungen  entstehen.  Es  ist  daher  nach  der  Amputation  eine  ge- 
naue Section  der  Gefässe  nicht  zu  unterlassen ,  um  die  Entstehungs- 
weise aufzudecken  und  die  Unschuld  des  Arztes  nachzuweisen.  Denn 
leider  sind  auch  schon  Fälle  von  Gangrän  durch  einschnürende 
Verbände  vorgekommen,  die  nicht  zur  Zeit  abgenommen  wurden. 

Diesen  Zuständen  steht  nahe  die  ischämische  Muskellähmung. 
Nach  zu  fest  anliegenden  Verbänden  (und,  wie  es  scheint,  auch  nach 
Thrombose  grösserer  arterieller  Gefässe,  die  zu  einer  Verminderung, 
aber  nicht  gänzlichen  Aufhebung  der  Blutzufuhr  führt)  beobachtet  man 
hin  und  wieder  eine  sehr  rasch  sich  entwickelnde  Muskelatrophie,  die 
zu  völligem  Schwund  der  Muskelsubstanz  und  damit  auch  totaler 
Lähmung  führt. 

In  einem  von  mir  beobachteten  Fall  war  in  der  Kindheit  Avegen  Radiusfractur 
ein  zu  enger  Gipsverband  angelegt.  Vier  Finger  breit  unter  dem  Ellbogengelenk  ver- 
schmächtigte  sich  die  Extremität  plötzlich  auf  ein  Drittel  des  Volums  und  war  sämmt- 
liche  Muskelsubstanz  geschwunden;  die  ganz  scharfe  circuläre  Grenze  des  Schwundes 
entsprach  genau  dem  oberen  Rand  des  Gipsverbandes.  —  Die  Entstehiing  ist  wohl  die, 
dass  die  gegen  Anämie  sehr  empfindliche  Muskelsubstauz  zu  Grunde  geht,  während  die 
übrigen  Gewebe  erhalten  bleiben  (Leser,  s.  pag.  8).  Massage  und  Elektricität  sind  zu 
versuchen,  die  Aussichten  sind  jedoch,  wenn  der  Verband  lange  gelegen,  schlecht.  Hilde- 
brandt  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  30)  berichtet  von  einem  durch  sehr  energische 
Massage,  Henle  von  einem  durch  Verkürzung  der  Knochen  geheilten  Fall. 

In  wenigen  Fällen  schwanden  durch  den  Druck  eines  schnürenden  Verbandes  alle 
Gewebe ,  selbst  die  Knochen ,  und  nur  eine  Brücke  aus  Haut ,  Nerven  und  Gefässen 
blieb  übrig. 

Als  seltene  Complication  von  Knochenbrüchen  wäre  noch  Fett- 
embolie  zu  nennen,  die  nach  Zerquetschungsfracturen  fettreicher 
spongiöser  Knochen  eintreten  kann  (vergl.  pag.  18).  Die  klinischen 
Erscheinungen  wären  die  des  Lufthungers  und  folgender  Asphyxie.  Im 
Urin  findet  sich  Fett.  Die  klinische  Diagnose  der  Fettembolien  ist  eine 
sehr  unsichere  und  die  mitgetheilten  Fälle  tödtlieher  Fettembolie  können 
auch  als  Septicämien  oder  Intoxicationen  (Antiseptica !)  aufgefasst 
werden. 

Traumatisches  Emphysem  soll  in  einzelnen  Fällen,  selbst 
ohne  äussere  Wunde,    beobachtet  sein,    auch  ohne  Communication  mit 


Anomalien  der  Callnsbilduug.  Pseudarthrose.  449 

den  Luftwegen,  z.  B.  bei  Unterschenkelbrüchen  (septisches  Emphysem?). 
Bei  Rippenbrüchen ,  Brüchen  des  Nasen-,  Stirn-  und  Oberkieferbeines 
u.  s.  w.  ist  es  nicht  selten  (s.  pag.  128). 

Die  in  gebrochenen  Gliedern  oft  sich  einstellenden  Muskel- 
zuckungen werden  durch  Morphium  subcutan,  am  besten  und  schnellsten 
durch  einen  guten  Verband  beseitigt. 


Verzögerung  der  Callusbildung  ist  nicht  so  selten.  Oder  es 
kommt  gar  nicht  zur  knöchernen  Vereinigung,  man  hat  nur  eine 
bindegewebige  Verbindung  oder  die  Fragmente  bleiben  ausser  aller 
Berührung,   Pseudarthrose  (falsches  Gelenk). 

Alle  diejenigen  Momente,  die  die  Ernährung  des  Knochensystems 
beeinträchtigen  (s.  Atrophie,  pag.  412),  sind  auch  geeignet,  die  Callus- 
bildung zu  verzögern  und  Pseudarthrosenbildung  zu  begünstigen,  wenn- 
gleich letztere  —  das  gänzliche  Ausbleiben  knöcherner  Verbindung  — 
viel  seltener  allgemeinen  Ursachen,  sondern  meist  den  örtlichen 
Verhältnissen  der  Bruchstelle  zuzuschreiben  ist. 

Hohes  Alter  verzögert  meist  die  Callusbildung  und  ist  bisweilen 
auch  Ursache  der  Pseudarthrose. 

Ebenso  habe  ich  bei  Nervenstörungen ,  namentlich  tabischen 
Spontanfracturen,  langwierige,  aber  schliesslich  doch  beseitigte  Callus- 
verzögerung  gesehen ;  ebenso  bei  syphilitischen  Spontanfracturen ,  wo 
erst  die  Diagnose  und  Behandlung  der  —  tertiären  —  Lues  (Jod- 
kali) die  Callusbildung  einleitet.  Dann  sind  Störungen  der  Callus- 
bildung —  selbst  Aufsaugung  von  bereits  in  Entwicklung  begriffenem 
Callus  —  beobachtet  bei  Scorbut,  Diabete's  und  ungenügender  Ernährung 
(in  eingeschlossenen  Festungen,  z.  B.  Metz  1870). 

In  weitaus  den  meisten  Fällen  sind  es  örtliche  Ursachen,  die 
die  Heilung  des  Bruches  verzögern  oder  vereiteln  ;  fast  immer  ist  als 
letzte  Ursache  der  ausbleibenden  knöchernen  Vereinigung  nachzuweisen, 
dass  die  Bruchflächen  gar  nicht  oder  nicht  in  genügendem  Umfang  in 
Berührung  sind,  oder  nicht  fest  und  dauernd  genug  in  Berührung  erhalten 
werden ,  so  dass  eine  Verschmelzung  der  von  beiden  Enden  produ- 
cirten  Callusmassen  nicht  zu  Stande  kommen  kann.  Jedes  Fragment 
schliesst  dann  seine  Markhöhle  durch  Markcallus ,  rundet  sich  durch 
neugebildete  Knochenmasse  ab  und  ist  mit  dem  anderen  Fragment  gar 
nicht  oder  durch  eine  fibröse  Zwischensubstanz  verbunden ,  nur  selten 
l)il(let  sich  ein  neues  Gelenk  mit  einer  Art  Synovialhöhle. 

Bald  ist  die  Eigenthümlichkeit  der  Bruch  form  die  Ursache; 
so  geben  sehr  schräge  Brüche,  namentlich  wenn  nicht  genügend  extendirt 
wird ,  oft  sehr  ungenügende  Heilresultate ,  weil  die  Bruchflächen  von 
einander  abgleiten  ;  ebenso  kilnncn  Splitterbrüche  gelegentlich  nicht  zur 
knöchernen  Vereinigung  kommen  ;  dann  ist  die  Pseudarthrose  bei  solchen 
Brüchen,  wo  die  Fragmente  weitauseinanderweichcn  —  Patellar- 
fractur,  Bruch  des  Olecranon  —  ein  nur  durch  grosse  Sorgfalt  des 
Arztes  zu  vermeidendes  häufiges  Vorkommiiiss  (vergl.  Fig.  381./").  Ferner 
kann  die  zur  Heilung  nothwendige  Berührung  der  Bruchflächen  aus- 
bleiben, wenn  andere  Gewebe  sich  Zwischenlagern  —  Interposition  von 

Landerer,   AUg.  chir.  Patliolog'o  u.  Therapie.  2.  Aufl.  29 


450  ^11-  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Muskeln,  Sehnen,  Nerven,  bald  schon  im  Moment  der  Verletzung,  bald 
erst  später  (secundär).  Sorgfältige  Coaptation ,  eventuell  in  Narcose, 
kommen  dieser  Störung  zuvor.  Man  hat  bei  frischen  Fracturen  an  Inter- 
position  zu  denken,  wenn  bei  deutlicher  abnormer  Beweglichkeit  die 
Crepitation  fehlt  oder  die  leicht  in  Berührung  zu  bringenden  Fragmente 
immer  wieder  federnd  abweichen.  Sie  ist  nach  meinen  Erfahrungen 
seltener,  als  angenommen  wird.  Dass  ein  massiger  Bluterguss  als  Inter- 
ponens  wirken  kann ,  ist  nach  meiner  Erfahrung  durchaus  unwahr- 
scheinlich. Von  Kniescheibe,  Olecranon,  Proc.  coronoideus  ulnae  u.  dergl. 
kleinen  Fortsätzen  abgesehen,  finden  sich  Pseudarthrosen  bei  den  langen 
Knochen  am  häutigsten  am  Oberarm,  dann  am  Oberschenkelschaft.  Die 
Prädisposition  dieser  Knochen  zu  fehlerhafter  Vereinigung  hat  man  auf 
Interposition  geschoben  —  der  langen  Muskeln  namentlich.  Die  Fälle 
dieser  Art,  die  ich  gesehen,  wiesen  entschieden  auf  ungenügende 
Feststellung  der  Bruchstücke  während  der  Behandlung.  So 
waren  z.  B.  in  einem  Fall  von  Querbruch  des  Humerusschaftes  weder 
Schulter-,  noch  Ellbogengelenk  fixirt  gewesen,  sondern  nur  ein  paar 
kurze  Schindeln  um  die  Bruchstelle  gebunden  gewesen.  —  Delirium 
tremens  wirkt  gleichfalls  begünstigend  wegen  der  Schwierigkeit  guter 
Fixation. 

Complicirte  Fracturen  zeigen  eine  erhöhte  Anzahl  von  Pseud- 
arthrosen. Verständlich  ist  die  Störung  der  Vereinigung,  wenn  umfäng- 
liche Stücke  des  Knochens  verloren  gehen,  so  dass  die  Entfernung 
beider  Callusmassen  zu  gross  ist,  um  überbrückt  werden  zu  können, 
namentlich  wenn  etwa  ein  interponirtes  nekrotisches  Knochenstück  die 
in  diesem  Fall  äusserst  erwünschte  Retraction  der  Weichtheile  hindert. 
Die  Schrumpfung  der  Weichtheile  bringt  oft  die  Knochen  noch  in  Be- 
rührung, selbst  bei  umfänglicher  Knochennecrose. 

Schliesslich  bleibt  in  einer  grossen  Anzahl  von  Spontanfraeturen 
die  Vereinigung  aus,  sei  es,  dass  ein  entzündlicher  Process  —  Osteo- 
myelitis —  die  Regeneration  stört,  oder  ein  Gumma  u.  dergl.  Bricht  der 
Knochen  an  der  Stelle  eines  Sarkoms  oder  metastatischen  Carcinoms, 
so  bleibt  jede  Andeutung  einer  Heilung  aus. 

Die  Diagnose  macht  mau,  wenn  man  bei  der  Abnahme  des 
Verbands  zur  richtigen  Zeit  an  der  Bruchstelle  noch  wiegende  Bewe- 
gungen der  Bruchstücke  gegen  einander  ausführen  kann  (verzögerte 
Callusbildung)  oder  die  Fragmente  deutlich  ohne  Crepitiren  gegen 
einander  verschieben  kann.  Bei  tief  liegenden  Knochen  (Oberschenkel) 
ist  man  oft  im  Zweifel ;  hier  führt  bei  mehrmaligen  Messungen  an  ver- 
schiedenen Tagen  zunehmende  Verkürzung  auf  die  Diagnose.  Die  Ver- 
letzten haben  meist  selbst  das  Gefühl,  dass  die  Sache  nicht  in  Ord- 
nung ist. 

Fig.  396  ist  eine  Pseudarthrose  bei  Schrägbruch  des  Hnmerus  mit 
starker  Dislocatio  ad  longitudinem  und  Bildung  gelenkartiger  Spalten 
nach  Albert. 

Beider  Behandlung  der  Pseudarthrose  ist  stets  die  Ursache 
der  nicht  erfolgten  Vereinigung  zu  ergründen  (allgemeine  oder  locale 
Gründe  und  welche);  (s.  oben). 

Wo  die  Bruchflächen  ausser  Contact  gekommen  sind, 
müssen  sie  in  Berührung  gebracht  werden.  Wo  die  Bruchstücke 
ganz     aneinander    vorbeigeglitten    sind    (Schrägbrüche    des    Oberarms 


Behandlung  der  Pseudartlirose. 


451 


Fig.  396. 


[s.  Fig.  396]  und  Oberschenkels  mit  starker  Verkürzung)  ist  Extension 
und  zugleich  Fixation  mit  Schienen  zu  machen ,  ein  anderes  Mal 
sind  annähernde  Verbände  zu  machen ,  mit  Binden ,  Heftpflasterstreifen 
(Kniescheibenbrüche).  In  anderen  Fällen  kann  ein  exact  angelegter 
Gripsverband,  der  mehrere  Wochen  liegt,  bei  verzögerter  Callusbildung 
Hilfe  bringen. 

Eine  Reihe  Verfahren  streben  vermehrte  Blut  zufuhr  zu  der 
Bruchstelle  an,  sei  es  nun,  dass  sie  functionelle  oder  entzündliche, 
arterielle  oder  venöse  Hyperämie  erzeugen  wollen.  Bald  genügt  es,  die 
Bruchflächen  öfters  energisch  gegeneinander  zu  reiben  und  zu  bewegen, 
darauf  wieder  einen  Contentivverband  anzulegen.  Mir  hat  kräftige  Massage 
des  Callus  oft  raschen  Erfolg  gebracht.  Helferich  hat  temporäre,  selbst 
Tage  dauernde  elastische  Abschnürung  angewandt,  die  durch  einen 
nicht  zu  fest  liegenden  Kautschukriug  venöse  Stauung  erzielte.  Andere 
bedienen  sich  der  Esmarch'schen  Einwicklung,  wo  die  nachfolgende 
Hyperämie  (pag.  113)  wirksam  wird.  Das  Einfachste  und  Erfolgreichste 
ist  es ,  wenn  das  betreffende  Glied  —  z.  B.  an  der 
unteren  Extremität  —  durch  einen  knapp  anliegenden 
Gehverband  oder  in  schwereren  Fällen  durch  einen 
Schieneuhülsenapparat  (Tutor)  vor  der  Verbiegung  ge- 
schützt, zum  Gehen  benutzt  wird.  Diese  functionelle 
Hyperämie  wirkt  mitunter  sehr  rasch. 

Entzündungserregende  Verfahren  (Injectionen  in 
die  Zwischenmasse  von  Jodtinctur,  Milchsäure,  Carbol- 
säure  u.  s.  f.)  sind  wenig  empfehlenswerth.  Besser  ist 
Elektropunctur  oder  Ignipunctur  (mit  dem  Fistel- 
brenner von  Paquelin),  oder  das  Eintreiben  von  ver- 
goldeten Nadeln,  gutgeglühten  Eisennägeln,  Elfenbein- 
stiften u.  s.  f.  Diese  Stifte  werden  bald  nur  in  die 
Zwischensubstanz  eingebracht,  bald  werden  sie  zum 
wirklichen  Zusammennageln  der  Fragmente  benützt, 
wozu  auch  Stahlschrauben  verwendet  sind.  Von  diesem 
Verfahren  ist  nur  noch  ein  Schritt  zur  zweckmässigsten 
Behandlung  hartnäckiger  Pseudarthrosen,  zur  Freilegung 
der  Fragmente ,  Resection  der  Zwischensubstanz ,  An- 
frischen der  Bruchenden  und  Vereinigung  derselben 
durch  Zusammennageln  oder  Knochen  naht.  Auch  das  Einpflanzen  von 
frischen  Knochenstückchen  (von  Kindern  durch  keilförmige  Osteotomie 
gewonnen)  ist  in  einzelnen  Fällen  von  Erfolg  gewesen.  Oder  man  hat 
ein  Knochenende  zugespitzt  in  die  Markhöhle  des  andern  —  nach  vor- 
ausgegangener Resection  der  Bruchenden  —  eingetrieben ,  oder  beide 
Markhölilcn  durch  einen  Knochenstift  (von  der  Rinde  eines  Thierknochens) 
vereinigt ,  auch  sind  Periostlappen  durch  Verschiebung  zwisclien  die 
Bruchenden  eingelegt  worden.  W.Müller  (Chir.  Centralbl.,  1895,  46) 
schlägt  einen  Ilauti)eriostlappen  über  die  Pseudarthrose  weg. 

Die  innere  Beliandlung  von  verzögerter  Callusbildung  mit  Phosphor,  Arsenik 
u.  s.  f.  hat  bei  local  bedingter  Pseudarthrose  keine  Erfolge  gegeben;  bei  Sj-philis  dagegen 
ist  die  antisvphilitische  Behandlung  das  einzig  Richtige;  bei  schwächenden  Krankheiten 
die  Besserung  der  Ernährung  und  des  Allgemeinbefindens. 

l)oi  verzögerter  Callusbildung  kommt  man  mit  dem  Gebrauch  des 
Glieds  in  schützendem  Verband  meist  zum  Ziel.  Bei  alten  bindegewebigen 

29* 


452  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Pseudarthrosen    halte    man    sich  mit    den  kleinen   Mittelchen   nicht    zu 
lange  auf,  sondern  schreite  sofort  zur  Resection  und  Knochennaht. 

Immerhin  bleiben  einzelne  Fälle,  wo  auch  damit  kein  Erfolg  er- 
zielt wird  und  man  die  Patienten  ungeheilt  mit  einem  gut  gearbeiteten 
Stützapparat  sofort  entlassen  muss. 

Mangelhafte  Festigkeit  des  Callas,  die  zu  einer  zweiten  Fractur  im  Callus  Anlass 
giebt,  ist  recht  selten.  Es  handelt  sich  meist  um  Fälle,  wo  ein  Glied  —  namentlich  ein 
Bein  —  zu  früh  wieder  in  Gebrauch  genommen  wurde  (Geisteskranke).  Der  zweite  Bruch 
heilt  meist  sehr  schnell. 

Was  uns  sonst  noch  von  Abnormitäten  des  Callus  interessirt,  sind 
schlechte  Form  desselben,  d.h.  Verheilung  der  Fragmente  in 
falscher  Stellung  (Difformität  des  Callus  und  übermässige 
Entwicklung  desselben  (Callus  luxurians). 

Die  Begriffe  über  fehlerhafte  Fracturh eilung  sind  sehr  ver- 
schieden und  zeigen  sich  manche  Aerzte ,  was  die  Heilungsresultate 
ihrer  Praxis  betrifft,  in  dieser  Hinsicht  überaus  bescheiden.  Man 
kann  es  erleben,  dass  dieselben  Verkürzungen  um  4 — 5  Cm.  als  tadellose 
Heilungen  bezeichnen  und  z.  B.  dem  Verletzten  jeden  Anspruch  auf  In- 
validenrente absprechen.  Sobald  bei  einer  Fractur,  was  normale  Lage 
u.  s.  f.  betrifft,  etwas  nicht  normal  erscheint ,  nimmt  man  den  Verband 
ab  und  sieht  nach.  Ich  scheue  mich  gar  nicht,  in  der  zweiten,  selbst 
dritten  Woche  den  bereits  in  Entwicklung  begriffenen  Callus  nochmals 
mit  den  Händen  zurechtzubiegen  oder  zu  zerbrechen  —  Reinfraction 
des  Callus  —  und  in  guter  Stellung  zu  verbinden;  namentlich  bei  un- 
ruhigen Kindern  wird  man  öfters  dazu  genöthigt. 

Die  Folgen  deformer  Heilung  (Winkelstellungen,  erhebliche  Verkürzungen  u.  s.  w.) 
können  ganz  verschieden  sein.  Wahrend  oft  eine  beträchtliche  Verkürzung  des  Ober- 
schenkels durch  einen  hohen  Absatz  ganz  ausgeglichen  werden  kann,  können  an  anderen 
Stellen  kleine  Formabweichungen  recht  störend  sein.  Eine  unbedeutende  Knickung  und 
Callusdeformität  am  unteren  Ende  des  Radius  kann  einen  Ciavier-  oder  Violinvirtuosen 
brotlos  machen ;  einer  Axenknickung  des  Unterschenkels  —  nach  Knöchelbruch  —  folgt 
eine  traumatische  Plattfussstellung,  die  jeden,  der  in  seinem  Beruf  viel  gehen  muss, 
dienstuntauglich  macht  u.  s.  w. 

Ist  die  Periode  vorbei,  wo  die  Reinfraction  des  Callus  noch  Hilfe 
bringen  kann ,  oder  das  manuelle  Zerbrechen  des  Callus  möglich  ist 
(Kinder),  so  bessern  Prothesen  und  bei  Patienten,  die  eine  Operation 
ablehnen ,  Massage  manche  Beschwerden  (Radiusfracturen).  Meist 
bleibt  nichts  übrig,  als  den  Knochen  wieder  zu  zerbrechen  —  Osteo- 
klase.  Wo  die  Kraft  der  Hände  nicht  ausreicht,  werden  —  natürlich 
in  Narcose  —  eigene  Maschinen  hiezu  angewandt,  z.  B.  der  Dys- 
morphosteopalinklast  (Bizzoli)  und  seine  Modificationen.  Durch  Lorenz 
ist  der  Osteoklast  so  weit  verbessert,  dass  seine  Wirkung  eine  sichere, 
örtlich  genau  beschränkte  ist  und  unangenehme  Nebenwirkungen 
(Bänderzerrelssungen,  Gelenklockei-ungen)  vermieden  werden  können. 
Ebenso  empfiehlt  Helferich  (Münch.  med.  Wochenschr.,  1892,  12)  die 
frühzeitige  Osteoklase  mit  dem  Osteoklasten.  Trotzdem  halten  die 
meisten  Chirurgen  an  der  Osteotomie  fest,  die  ich  pag.  411  geschildert. 
Ein  kleiner  Haut-  und  Weichtheilschnitt  erlaubt  den  Meissel  gerade  an 
der  Stelle  anzusetzen ,  wo  der  Knochen  durchgetrennt  werden  soll. 
Allerdings  ist  die  Durchmeisselung  eines  difformen  Callus  oft  ein  recht 
saueres  Stück  Arbeit,  bis  man  schliesslich  den  Rest  mit  den  Händen 
vollends  durchbrechen  kann.  Noch  mühsamer  wird  es,  wenn  man   noch 


Calluswucherung.  Callusverschmelzung.  45  3 

ganze  Stücke  herausmeisseln  mnss  (keilförmige  Osteotomie).  Schede 
eraptielilt  nach  der  Osteotomie  forcirte  Extension  (am  Oberschenkel 
15  Kgrm.  und  mehr). 

In  seltenen  Fällen  —  bei  starken  Verkürzungen  der  unteren  Extremität  — ■ 
liat  man  auch  das  gesunde  Bein  künstlicli  gebrochen  und  in  gleicher  Verkürzung  heilen 
lassen ,  um  so  beide  Beine  gleich  lang  zu  bekommen  und  damit  das  Hinken  und  die 
schiefe  Körperhaltung  zu  beseitigen. 

In  einer  Reihe  von  Fällen,  z.  B.  Beckenfractiiren,  aber  auch  hoch- 
sitzenden Oberschenkelbrüchen ,  muss  sich  der  Kranke  schliesslich  in 
seine  Beschwerden  ergeben,  da  die  Operation  in  ihren  Erfolgen  unsicher 
und  dabei  nicht  ganz  ungefährlich  ist. 

Ein  nicht  so  seltenes  übles  Ereigniss  ist  die  Callusverschmel- 
zung zweier  nebeneinander  liegenden  Knochen.  Am  Unterschenkel, 
den  Rippen  ohne  grosse  Bedeutung,  ist  sie  dagegen  von  unangenehmen 
Folgen  bei  den  Vorderarmknochen  (Fig.  397,  Callusverschmelzung  der 
Yorderarmkuocheu  nach  Albert).  Es  w^erden  dadurch  die  Pro-  und  Supina- 
tionsbewegungen  aufgehoben  und  damit  die  Gebrauchsfähigkeit  der 
Hand  erheblich  herabgesetzt.  Diese  Callusverschmelzung  von  Radius  und 

Fig.  397. 


Ulna  tritt  leicht  ein,  wenn  Unterarmbrüche  in  Pronation  verbunden 
werden,  wo  die  Knochen  sich  kreuzen.  Werden  sie  in  völliger  Supi- 
nation  gelagert  (die  Hohlhand  sieht  nach  oben),  so  ist  sie  nicht  möglich. 
Operative  Entfernung  der  knJtchernen  Zwischenmasse,  wenn  nöthig  auch 
Durchmeisselung  beider  Knochen  und  Fixation  in  guter  Stellung  (Knochen- 
naht) sind  in  schwereren  Fällen  angezeigt. 

Die  Calluswucherung  —  Callus  Inxurians  —  findet  sich  nament- 
lich bei  complicirten  Fracturen  mit  Bildung  zahlreicher  Sequester,  wo 
die  anhaltende  Entzündung  zur  Production  grosser  Knochenmassen  führt. 
Verlöthung  mit  benachbarten  Knochen.  Ankylose  naheligender  Gelenke 
u.  s.  f.  sind  die  lästigen  Folgen.  Sind  die  Se(iuester  entfernt,  so  verkleinert 
sich  —  durch  Massage  begünstigt  —  auch  allmählich  der  Callus.  Auch 
hier  kann  eine  operative  Entfernung  der  Calhismasscn  sich  nöthig 
machen. 

Einige  Falle  sind  beobachtet,  wo  im  Callus  sich  Encliondrom,  Osteum  oder  Osteo- 
sarkom entwickelt  hat  (vei'gl.  Haberern,  Langenheck' s  Arch.  \'^). 

Die  übrigen  Folgen  von  Brüchen:  Gelenksteifigkcit,  Muskelschwund 
u.  s.  f.  sind  pag.  429  erwähnt  und  werden  wir  sie  bei  den  betreifenden 
Capitcln  noch  berühren. 


454  VI^-  Capitel.  —  Ki^ankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


Verletzungen  der  Gelenke. 

Zur  Anatomie  und  Physiologie  der  Gelenke.  — Verstauchungen.  —  Verrenkungen. 
Entstehungsweise.  Verlauf.    Diagnose.    Behandlung.    Folgen.   —   Complicirte    Luxa- 
tionen   und    Gelenkwunden.    Nearthrose.    Habituelle    Luxationen.    —    Pathologische 
Verrenkungen.  Angeborene  Verrenkungen. 

Manche  Gelenke  zeigen  Knorpel  als  Verbindungsniasse  zweier 
Knochen —  Synchondrosen  (z.  B.  kSynchondrosis  sacro-iliaca).  Durch 
centrale  Erweichung  und  eine  Art  Auffaserung  kann  eine,  ringsum 
von  Knorpelgewebe  umschlossene  centrale  Höhle  entstehen,  und  damit 
ist  die  Möglichkeit  einer  allerdings  unbedeutenden  gegenseitigen  Ver- 
schiebung gegeben  —  Halb g denke  Luschka' s  (Symphysis  pubis).  In 
anderen  Fällen  ist  eine  bindegewebige  Masse  das  Verbindende  — 
Syndesmosen  (Schädelnähte).  —  Die  freien  und  echten  Gelenke  — 
Diarthrosen  —  zeigen  dagegen  deutlich  getrennte,  hyaline  Knorpel- 
flächen, frei  aneinander  gleitend.  Die  Verbindung  der  Knochen  besorgen 
die  bindegewebigen  Theile,  die  Gelenk-(Synovial-)  Kapsel  und  die 
Gelenkbänder,  die  in  einzelnen  Gelenken  (Schultergelenk)  auch  noch 
der  Beihilfe  der  periarticulären  Muskeln  zur  Sicherung  des  Contactes 
bedürfen. 

Der  Gelenkknorpel,  ein  Kest  des  alten  hyalinen  Knorpels,  ist  endothelfrei,  nur 
an  Stellen,  wo  Druck  auf  den  Knorpel  nicht  einwirkt,  findet  sich  Endothel.  Die  Grund- 
substanz besteht  aus  theils  netzförmig,  theils  schichtförmig  angeordneten  Fasern  und 
Lamellen  (Tilhnanns). 

Die  Gelenkkapsel,  eine  aus  Bindegewebszügen  mit  zahlreichem  elastischen  Gewebe 
bestehende  Membran  —  das  metamorphosirte  Periost  —  ist  auf  der  Innenseite  von 
der  Synovial membran  bedeckt,  einer  gefässreichen  Bindegewebsschicht,  welche  nach 
innen  mit  einem,  meist  einschichtigen  Endothel  bedeckt  ist.  Nach  Braun  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  39)  trägt  die  Synovialis  kein  richtiges  Endothel,  sondern  zeigt  nur 
eine  Intima  aus  dicht  zusammengefügten  Bindegewebszellen.  Die  Synovialmembran 
sendet  nach  dem  Inneren  des  Gelenks  zottenartige  Fortsätze  aus  —  die  stärkeren  ge- 
fässhaltig,  die  dünneren  oft  gefässlos  —  Synovialzotten;  neben  weichem,  saftreichem 
Bindegewebe  halten  dieselben  oft  Fett  in  grosser  Menge.  Diese  Fettmassen  (Appendices) 
haben  an  Stellen,  wo  die  Gelenkflächen  nicht  congruent  sind,  als  veränderliche  Zwischen- 
polster den  Contact  der  Gelenkflächen  und  damit  den  genauen  Schluss  der  Gelenke  zu 
sichern  (Knie-  und  Fussgelenk).  Andere  Zotten  zeigen  partielle  schleimige  Metamorphose 
ihres  Bindegewebes.  Auch  Knorpel  findet  sich  in  manchen  Zotten. 

Lymphge fasse  enthält  die  Synovialmembran  in  ziemlicher  Menge.  Und  es  ist 
die  Gelenkspalte  anzusehen  als  eine  „von  freien  bindegewebigen  Flächen  begrenzte  Ge- 
websspalte"  (Braun). 

Die  Synovia  (Gelenkschmiere)  unterscheidet  sich  von  den  übrigen  Gewebs- 
flüssigkeiten durch  ihren  hohen  Mucingehalt.  Sie  ist  bei  anhaltender  Bewegung  des- 
Gelenks concentrirter  als  in  Ruhe.  FrericJis  fand  beim  Ochsen  in  Euhe  96  Procent 
Wasser,  0"2  Procent  Mucin,  1'5  Procent  Eiweiss  und  1  Procent  Aschenbestandtheile, 
bei  anhaltender  Bewegung  94  Procent  Wasser,  05  Procent  Mucin,  3'5  Procent  Eiweiss 
und  bei  1  Procent  Aschenbestandtheilen.  Die  Synovia  enthält  eine  ziemliche  Menge  von 
Protoplasmakörnchen,  wahrscheinlich  Abkömmlinge  zerfallender  Zellen. 

Die  Gelenkhöhle  steht  in  einem  ziemlich  regen  Stoifaustausch  mit  dem  Lymph- 
und  Blutgefässsystem.  Wird  Zinnoberemulsion  in  das  Gelenk  eingespritzt,  so  findet  sich 
dieselbe  nach  24  Stunden  nicht  blos  in  den  Zellen  der  Synovialis,  der  Umgebung  derselben, 
sondern  auch  bereits  in  den,  zum  Gelenk  gehörigen  Lymphdrüsen.  Bewegung  beschleunigt 
diesen  Vorgang,  noch  mehr  Massage.  In's  Kniegelenk  gespritzte  Tusche  fand  sich  in 
diesem  Falle  schon  nach  8  Minuten  in  den  Inguinaldrüsen.  Farbstoffe,  in's  Gelenk  ge- 
bracht, dringen  zunächst  in  das  intercelluläre  Gewebe,  und  gehen  dann  zum  Theil 
in  die  Lymphgefässe ,  zum  Theil  werden  sie  vo»  Bindegewebszellen  und  Leukocyten 
aufgenommen,  zum  Theil  bleiben  sie  liegen  und  werden  in  ein  Fibrinnetz  eingeschlossen. 
Aehnlich  ergeht  es  mit  Blut;  ein  Rest  bleibt  als  Fibrinmasse  liegen  und  ist  schon 
nach  3  Tagen  mit  Endothelbelag  versehen  {Riedel,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  12).  — 


Verstaiichung  der  Gelenke.  455 

Die  Lymphgefässe  communiciren  nicht  offen  mit  dem  Gelenk  und  lassen  sich  vom  Ge- 
lenk aus  nicht  injiciren  (Braun). 

Die  Gelenkbänder  bestehen  aus  sehr  straften  Bindegewebszügen,  ohne  elasti- 
sche Beimischungen.  Sie  dienen  nicht  allein  zur  festen  Zusammenjochung  (Verstärkungs- 
bänder) der  Knochen,  sondern  haben  auch  auf  die  Function  oft  den  wichtigsten  Einfluss, 
indem  sie  Bewegungen,  die  nach  der  Configuration  der  knorpeligen  Fläche  möglich  wären, 
durch  ihre  Spannung  ausschliessen  (Hemmungsbänder). 

Werden  Gelenke  Monate  lang  immobilisirt  (Reylier),  so  erhält  sich  der  Knorpel 
nur  an  den  Stellen,  wo  Gegendruck  stattfindet,  Knorpel  auf  Knorpel  drückt.  An  druck- 
freien Stellen  wuchert  Endothel  und  dann  Sjmovialis  über  den  Knorpel  weg ,  der 
zum  Theil  verschwindet  und  dem  Bindegewebe  Platz  macht.  Die  Kapsel  selbst  schrumpft 
und  verdickt  sich. 

Diese  Vorgänge  sind  nicht  als  entzündliche  aufzufassen,  da  alle  Zeichen  von 
Entzündung  fehlen,  sondern  als  metaplastische,  unter  dem  Einfluss  veränderter  Function, 
oder  —  wie  hier  —  Ausfall  der  Function. 

Die  Verletzuüg-en  der  Gelenke  bestehen  fast  ausschliesslich 
in  gewaltsamer  Dehnung  oder  Verdrehung*  der  Gelenke  und  dadurch 
gesetzten  Zerreissungen  oder  Zerquetschungen  der  Gelenkbänder  und 
Verletzungen  von  Blutgefässen.  Mehr  als  die  Störung  in  den  Rand- 
apparaten fällt  im  Anfang  der  Bluterguss  in's  Gelenk  (Hämar- 
thros)  in  die  Augen.  Ausser  der  Gelenkquetschung,  die  selten  rein 
vorkommt,  ist  es  hauptsächlich  die  Gelenk  Verstauchung  oder  Dis- 
torsion,  die  hiezu  Anlass  gibt. 

Unter  diesem  etwas  weiten  klinischen  Begriff  verstehen  wir  eine  Verletzung  des 
Gelenkes,  die  dadurch  zustande  kommt,  dass  eine  äussere  Gewalt  die  Gelenkkörper  in 
einer,  durch  den  Bau  des  Gelenkes  verbotenen  Eichtung  oder  in  den  gestatteten  Eich- 
tungen über  das  zulässige  Mass  hinausbewegt,  dass  die  Bänder  des  Gelenkes  gedehnt, 
gezerrt,  zerrissen  werden,  die  Gelenkkörper  von  einander  abgezogen  werden,  ohne 
dauernd  ihre  Berührung  aufzugeben.  Durch  das  Klaffen  der  Gelenkkörper  soll  in  die, 
dadurch  unter  geringerem  Druck  gesetzte  Gelenkhöhle  eine  Blutung  ex  vacuo  erfolgen. 
Der  Bluterguss  in's  Gelenk  wächst  meist  noch  einige  Stunden  nach  der  Verletzung,  um 
dann  stationär  zu  bleiben ;  die  Kapsel  ist  dabei  durch  den  vermehrten  Inhalt  aufge- 
trieben, an  den  schwachen  Stellen  namentlich  findet  sich  Vorwölbuug.  Man  fühlt  die 
erhöhte  Spannung.  Das  Gelenk  ist  besonders  bei  Bewegungen  sehr  schmerzhaft,  seine 
Gebrauchsfähigkeit  erheblich  reducirt. 

Blutergüsse  in's  Gelenk  (Hämarthros)  verdanken  ihren  Ursprung 
auch  oft  der  Verletzung,  dem  Bruch  benachbarter  Knochen  (nament- 
lich Längsfissuren  durch  Stauchung  der  Gelenkkörper  gegeneinander) 
und  dem  Einfliessen  des  Blutes  aus  diesen  in  das  Gelenkinnere.  Mäch- 
tige Blutergüsse  in  die  Gelenke  auf  ganz  geringfügige  Einwirkungen 
hin  finden  sich  bei  Blutern. 

Das  weitere  Schicksal  eines  Blutergusses  in's  Gelenk  hängt  vom  Verhalten  des 
Arztes  ab.  Sich  selbst  überlassen  oder  exspectativ  behandelt,  macht  derselbe  diejenigen 
Verändeningen  durch,  die  subcutane,  in  die  Gewebsmaschen  abgesetzte  Blutergüsse  er- 
leiden. Zunächst  gerinnt  das  Blut  nach  wenigen  Stunden  (Riedel),  oft  erst  nach  zwei- 
bis  dreimal  24  Stunden  und  noch  später  (Volktnann).  Die  flüssigen  Bestandtheile  des 
Ergusses  werden  rasch  aufgesaugt:  die  köi-perlichen  dagegen,  die  rothen  und  weissen 
Blutzellen,  das  Fibrin,  sehr  langsam.  (S.  pag.  15  und  94.)  In  den  Blut-  und  Fibrin- 
kuclien  herein  entwickelt  sicli  junges  Bindegewebe,  das  zu  Verdickungen  und  Ver- 
lötlinngen  der  Kapsel  führt,  zu  Auflagerungen  und  Eauhigkeiten  auf  den  Gelenk- 
knorpeln. Die  Kapsel  und  Gelenkbänder  schrumpfen  bei  der  lange  dauernden  Buhe  des 
Gelenkes,  dadurcli  wird  das  Gelenk  in  seiner  Function  in  hohem  Grade  geschädigt  und 
nicht  blos  für  Tage  oder  Wochen,  selbst  für  Monate  und  Jahre.  Das  Gelenk  ist  „steif" 
und  das  Glied  ist  oft  viel  länger  in  seinem  Gebrauch  gestört,  als  nach  einem  Knochen- 
hruch.  Ja,  es  sind  selbst  völlige  Verlöthungen  des  Gelenkes  (Ankylosen)  vorgekommen 
(  ]'olkmann)  nach  einer  einfaclien  Verstmichung.  Diesen  Verlauf  hat  man  zu  erwarten, 
wenn  man  eine  Distorsion  nach  der  früheren  !Metiiode  mit  Eulie,  Eis,  immobilisirenden 
Verbänden,  inditt'erenten  Salben  und  Umschlägen  beliandelt. 


456  ^^^-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Geh^nke. 

Die  erste  Pflicht  ist,  das  Blut  aus  dem  Gelenk  so  rasch 
als  möglich  wegzuschaffen. 

Das  radicalste  Verfahren  ist  die  Entleerung  des  Blutes  durch 
aseptische  Function  des  Gelenkes  mit  einem  dicken  Troicart  und 
vorsichtiges  Auspressen  und  Ausstreichen  des  Blutes  durch  die  Canüle. 
Nach  dem  zweiten  Tag  sind  die  Chancen,  dass  das  Blut  noch  flüssig  ist, 
sehr  gering.  Von  geronnenem  Blut  bringt  man  selbst  durch  den  dicksten 
Troicart  so  gut  wie  nichts  heraus.  Eine  nachherige  antiseptische  Aus- 
waschung  des  Gelenkes  ist  unnöthig. 

Meist  wird  man  auf  die  Function  verzichten  zu  Gunsten  der  fast 
ebenso  schnell  wirkenden  Massage  des  Gelenkes,  die  gerade  hier 
vortreffliche  Resultate  liefert. 

Man  beginnt  mit  leichtem  centripetalem  Streichen  des  Gelenks  und  des  jenseits 
gelegenen  Körperabschnittes,  z.  B.  des  Oberschenkels  bei  Affection  des  Knies  (vergl. 
Fig.  290) ;  vorerst  so  schwach,  dass  es  dem  Kranken  nur  geringe  Schmerzen  macht. 
Nach  einigen  Minuten  stumpft  sich  die  Empfindlichkeit  ab  und  man  kann  nun  stärker 
drücken  und  massiren,  circa  74  Stunde  lang.  Das  nächstemal  kann  man  schon  inten- 
siver massiren.  Wo  man  raschen  Erfolg  wünscht,  kann  täglich  2- — 3mal  masslrt  werden. 

In  den  Zwischenzeiten  packt  man  das  Gelenk  in  einen  hydropathischen  Umschlag. 
Nur  wenn  der  Kranke  sehr  heftige  Schmerzen  hat,  ist  Eis  zulässig.  Vom  dritten  Tag 
ab  kommt  neben  dem  Streichen  und  Kneten  noch  Klopfen  der  Muskeln  hinzu. 

Während  des  Massiren s  sucht  man  die  Diagnose  zu  vervollstän- 
digen durch  genaue,  oft  wiederholte  Betastung,  passive  Bewegungen. 
Constante  Schmerzpunkte,  eine  Rinne  im  Knochen,  später  eine  dem 
sich  bildenden  Callus  entsprechende  lineare,  harte  Anschwellung  weisen 
auf  einen  Spaltbruch  (Fissur)  im  Knochen  hin.  Abnorme  Seitenbe- 
wegung, auffallende  Leichtbeweglichkeit  des  Gelenks  sind  Zeichen  von 
Zerreissung  eines  für  den  Gelenkmechanismus  wichtigen  Bandes,  so 
namentlich  der  Seitenbänder  im  Knie-  oder  Fussgelenk.  In  diesem 
Falle  ist  das  Gelenk  für  14  Tage  in  einem  leichten  Gipsverband  ruhig 
zu  stellen  und  später  auch,  wenn  man  die  Massage  aufgenommen  hat, 
durch  einen  bei  Tage  zu  tragenden  gespaltenen  Wasserglas-Schlemm- 
kreideverband zu  schützen.  Nicht  erkannt,  geben  solche  Bandzerreis- 
sungen  functionsunfähige  Schlottergelenke,  an  denen  nachträglich  wenig 
mehr  zu  bessern  ist. 

Auch  die  Eesiduen  früherer  Verstauchungen,  die  gar  nicht,  oder  nur 
ungenügend  behandelt  waren,  sind  ebenso  zu  behandeln.  Energische  Massage  mit  kräfti- 
gem Eeiben  und  Kneten  der  verdickten  Kapsel,  kräftiges  Klopfen  der  oft  atrophischen 
Muskeln  sind  geboten. 

Unterstützen  kann  man  hier  die  Massage  durch  Priessnitz' sehe  Umschläge,  warme 
Vollbäder,  Dampfbäder,  Douchen  aufs  Gelenk  u.  s.  w.  Vermögende  Kranke  finden  in 
Teplitz,  Wildbad  i.  Schwarzwald ,  Wildbad-Gastein ,  Wiesbaden,  Baden-Baden  Besse- 
rung und  Heilung.  Auch  örtliche  Sand-  (Köstritz  i.  Th.)  und  Moorbäder  bringen 
Nutzen  ;  ebenso  können  die  gymnastischen  Institute  (Baden-Baden,  Berlin  u.  s.  f.)  mit 
Nutzen  besucht  werden. 

In  seltenen  Fällen  schliessen  sich  bei  scrophulösen  Kindern  an  Gelenkquetschungen 
und  Verstauchungen  scrophulöse  Gelenkentzündungen  an.  Es  gut  daher  bei  solchen 
Kindern  immer  etwas  Vorsicht  in  der  Prognose. 

Die  Verstauchung  entsteht  meist  durch  eine  vorübergehende  ge- 
waltsame Entfernung  der  Gelenkkörper  von  einander  und  man  hat  sie 
deshalb  —  entschieden  zu  eng  —  auch  als  eine  „Luxatio  sponte  reposita" 
definirt.  —  Bei  der  wirklichen  Verrenkung  oder  Luxation  sind 
die  Gelenkkörper  dauernd  ausser  Berührung  gesetzt.  Sind  sie 
völlig  ausser  jedem  Contact,   so  ist  die  Luxation  eine  vollständige 


Verrenkungen.  Entstehuugsweise.  457 

(Luxatio  completa) ;  berühren  sie  sich  noch  theilweise,  so  sprechen  wir 
von  unvollständiger  Luxation  (Luxatio  incompleta). 

Während  wir  die  Verschiebungen  der  Gelenkkörper  in  den  wirk- 
lichen Gelenken  (Arthrodien)  als  Verrenkungen  bezeichnen,  werden  die 
Verschiebungen  in  den  Syndesmosen  und  Halbgelenken  (Symphysis 
pubis.   sacroiliaca  u.  a.  m.)  als  Diastasen  benannt. 

Die  Verrenkungen  entstehen  grösstentheils  durch  Ein- 
wirkung äusserer  Gewalt,  doch  gibt  es  auch,  wie  bei  den  Knochen- 
briichen,  solche,  die  anderen  Momenten  ihre  Entstehung  verdanken  und 
die  wir  als  pathologische,  secundäre  oder  spontane  bezeichnen. 
Eine  weitere  Gruppe  sind  ferner  die  congenitulen  oder  angeborenen. 

Die  Verrenkungen  sind  viel  seltener  als  die  Knoclieubrüche,  auf  8  Fracturen 
kommt  erst  eine  Luxation.  Die  Häufigkeit  der  Luxationen  ist  auch  ungemein  ver- 
schieden in  verschiedenen  Lebensaltern ;  bei  Kindern  und  Greisen  findet  man  nur  selten 
eine  Luxation.  Bei  Kindern  löst  sich  die  Epiphyse  ab,  wo  der  Erwachsene  eine  Ver- 
renkung erleiden  würde ;  denn  der  Zusammenhang  zwischen  Epiphyse  und  Diaphyse  ist 
viel  weniger  fest  und  widerstandsfähig  als  die  Gelenkbänder  und  -kapsei.  Im  höheren 
Alter  dagegen  ist  wieder  der  Knochen  so  spröde  und  brüchig,  dass  er  viel  eher  zer- 
bricht, als  die  Gelenkbänder  zerreissen.  Dieselbe  Gewalteinwirkung  wird  also  beim  kräfti- 
gen Mann  z.  B.  eine  Schulterverrenkung  erzeugen,  beim  Greise  vielleicht  einen  Bruch 
im  anatomischen  oder  chirurgischen  Hals  des  Humerus ;  beim  Kinde  löst  sich  die  obere 
Humerusepiphyse  ab  oder  das  Schlüsselbein  erleidet  eine  Einknickuug  (Infraction). 

Das  weibliche  Geschlecht  weist  auch  viel  weniger  Verrenkungen  auf,  weil  es 
vermöge  seiner  Lebensweise  seltener  Verletzungen  ausgesetzt  ist. 

Die  verschiedenen  Gelenke  des  Körpers  zeigen  gleichfalls  grosse  Verschiedenheit 
in  der  Häufigkeit  der  Luxationen.  Je  freier  ein  Gelenk,  je  kleiner  die  Pfanne  im  Ver- 
hältniss  zum  Kopf,  um  so  leichter  gleitet  derselbe  aus  der  Verbindung  mit  der  Pfanne 
heraus.  Je  oberiiächlicher  und  damit  äusserer  Gewalt  exponirter  ein  Gelenk  Hegt,  um 
so  disponirter  ist  es  zu  einer  Verrenkung.  So  fallen  92  Procent  aller  Luxationen  auf 
die  obere  Extremität  und  nicht  weniger  als  51"7  Procent  auf  das  Schultergelenk.  Ihm 
folgt  das  Ellbogengelenk  mit  27  Procent.  —  Die  unteren  Extremitäten  weisen  nur 
5  Procent,  der  Stamm  mit  dem  Kopf  (Unterkiefer)  2"8  Procent  auf. 

Die  Gewalteinwirkungen,  wodurch  Verrenkungen  herbeigeführt 
werden,  classificiren  war  bei  den  Knochenbrüchen  in  äussere  und 
innere  (Muskelwirkung)  und  dann  wieder  in  directe,  unmittelbar 
am  Gelenk  angreifende  und  in  in  directe,  mittelbar  aufs  Gelenk 
wirkende  Gewalten. 

Nur  selten  und  viel  seltener  als  Knochenbrüche  entstehen  Ver- 
renkungen durch  directe  äussere  Gewalt  ein  Wirkung.  So  kommt  es 
vor,  dass  eine  von  vorn  wirkende  Gewalt  (Stoss,  Schlag)  den  Kopf 
des  Humerus  direct  aus  der  Pfanne  heraus,  nach  hinten  schiebt. 

Gewöhnlich  wirkt  die  Gewalt  entfernt  vom  Gelenk  ein  und  überträgt  auf  das 
Glied  entweder  eine  Bewegung,  die  der  Mechanismus  des  betreffenden  Gelenkes  nicht 
gestattet,  z.  B.  seitliche  Bewegungen  in  Ginglymusgelenken,  im  Ellbogengelenk.  Die 
diese  Bewegung  hindernden  Kapseltheile,  z.  B.  ein  Seiteiiband,  werden  zerrissen  und 
indem  die  Gewalt  weiter  einwirkt,  kann  sie  nun  die  Gelenkkörper,  deren  Verbindung 
gelockert  oder  zum  Theil  aufgehoben  ist,  von  einander  entfernen.  Oder  eine  im  Gelenk- 
mechanismus an  sich  gestattete  Bewegung  wird  durch  die  Gewalt  über  die  normalen 
Grenzen  des  Gelenkes,  über  die  Hemmungen  in  Knociien  oder  Bändern  hinausgeführt  — 
übermässige  Streckungen,  Beugungen,  Drehungen  u.  A.  m.  Auch  hier  werden  zunächst 
die  Bänder  und  die  Kapsel  an  der  entgegengesetzten  Seite  zenissen  und  dann  die 
Ivnochen  übereinander  und  von  einander  weggeschoben. 

Eine  sehr  häufige  Entstehnngsweiso  von  Luxationen  ist,  dass  der  Kopf  von  der 
Pfanne  weggehebelt  wird.  Sie  i.st  typisch  für  eine  grosse  Anzahl  SchultiTverreii- 
kungen.  Der  Arm  wird  im  Schultergelenk  erhoben,  bis  der  Humeruskopf  mit  seiner 
Tuberkelpartie  an  das  Akromion  anstösst.  Wirkt  die  Gewalt  in  dieser  Richtung  weiter, 
so  stemmt  .sich  der  Kopf  fest  an"s  Akromion  an,  dieses  bildet  einen  Unterstützungspunkt, 
ein  Hypomochlion  eines  zweiarmigen  Hebels,  dessen  kurzer  Arm  der  Kopf,  dessen  langer 


458  VII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Arm  der  übrige  Theil  des  Humenis  von  den  Tubercula  bis  zum  unteren  Gelenkende 
bildet.  An  diesem  langen  Arm  wird  der  Humeruskoi>f  herausgehebelt  aus  der  Pfanne 
und  der  Kopf  durch  die  Kapsel,  am  vorderen  oder  hinteren  unteren  Theil  derselben 
hindurchgestossen.  —  Ein  anderesmal  kann  sich  der  Knochen  um  einen  anderen 
ünterstützungspunkt  drehen,  der  durch,  im  betreffenden  Moment  contrahirte  Muskeln 
gegeben  ist.  Hier  kann  äussere  Gewalt  und  innerer  Muskelzug  zusammenwirken.  So 
ist  oft  der  Oberarm  in  der  Gegend  des  Ansatzes  des  Mm.  pectoralis  maj.  und  latissimus 
dorsi  gegen  den  Leib  angezogen  gehalten.  Wird  nun  der  untere  Theil  des  Armes  durch 
eine  äussere  Gewalt  vom  Leib  abgehoben,  so  dreht  sich  der  Knochen  um  die  Ansatz- 
stelle der  Muskeln  und  der  obere  Theil  wird  aus  der  Pfanne  herausgehebelt. 

Oder  es  wird  dem  betreffenden  Theil,  z  B.  dem  Oberarm,  durch  übermässige 
Muskelaction  eine  sehr  weitgehende  Bewegung  ertheilt.  —  Wird  diese  nicht  zur  richtigen 
Zeit  gehemmt,  z.  B.  durch  Auftreffen  der  Hand  auf  ein  bestimmtes  Ziel,  einen  bestimmten 
Widerstand,  so  kann  auch  der  Humeruskopf  aus  der  Pfanne  herausgeschleudert  werden. 
So  hat  man  beim  Schlagen  der  Tiefquart,  namentlich  wenn  sie  nicht  parirt  ist,  Schulter- 
luxation  beobachtet;  in  diesem  Fall  ist  also  allein  die  Muskelaction  die  Ursache  ge- 
wesen. Verrenkungen  durch  Mus'kelthätigkeit  finden  sich  übrigens  häufiger  bei  gewissen 
pathologischen  Zuständen,  wo  heftige  ungeordnete,  vom  Willen  unabhängige  Muskel- 
zusammenziehungen erfolgen,  als  bei  gewollten  Bewegungen :  bei  allen  Krampfzustän- 
den —  hysterischen,  epileptischen,  eklamptischen,  urämischen  Krämpfen,  dann  bei  Tetanus, 
Strychninvergiftung  u.  A.  m.  —  Bei  anderen  Gelenken  sind  die  Entstehungsmechanismen 
der  Verrenkungen  verschieden ;  lassen  sich  doch  aber  mutatis  mutandis  auf  diese  Grund- 
typen zurückführen. 

Benannt  werden  die  Luxationen  in  der  Weise,  dass  man  den 
peripheren  Knochen  als  den  liixirten  bezeichnet  —  also  eine 
Verrenkung  im  Schultergelenk  heisst  eine  Verrenkung-  des  Oberarmes 
gegen  das  Schulterblatt;  im  Ellbogengelenk  eine  Verrenkung  des 
Vorderarmes  gegen  den  Oberarm.  —  Doch  spricht  man  auch  von  Ver- 
renkungen im  Schulter-,  Hüft-,  Ellbogengelenk  u.  s.  w.  —  Nur  beim 
Schulterblatt  macht  der  Gebrauch  eine  Ausnahme ;  man  spricht  nicht 
von  Verrenkungen  des  Schulterblattes  gegen  das  Schlüsselbein,  wie  es 
logisch  richtig  wäre,  sondern  von  Verrenkungen  des  Schlüsselbeines 
am  äusseren  Ende,  d.  h.  gegen  das  Schulterblatt.  Bei  Wirbelver- 
renkungen gilt  der  obere  als  der  verrenkte.  Auch  luxiren  die  Rippen 
gegen  das  Brustbein,  nicht  umgekehrt. 

Damit  der  Kopf  die  Pfanne  verlassen  kann,  muss,  bei  normalem 
Gelenk,  die  Kapsel  zerrissen  werden.  Dieselbe  wird  über  dem  an- 
drängenden Kopf  gedehnt  und  zerplatzt.  Der  Kapsel riss,  in  erster 
Linie  von  der  Richtung  der  Gewalt  abhängig,  bevorzugt  doch  die 
dünnen  Stellen  der  Gelenkkapsel;  sehr  widerstandsfähige  Stellen  der- 
selben, namentlich  wo  starke  Bänder  angebracht  sind,  z.  B,  das  Lig. 
ileofemorale  sive  Bertini  werden  nur  bei  ganz  exorbitanter  Gewaltein- 
wirkung zerrissen.  Und  auch  dann  wird  in  den  meisten  Fällen  eher 
das  Stück  Knochen,  wo  das  Band  (oder  ein  Muskel)  ansetzt,  abgerissen, 
als  das  Band  zerrissen.  So  bricht  eher  die  Spitze  des  Malleolus  internus, 
als  dass  das  Lig.  deltoides  abreisst.  Am  häufigsten  ist  der  Kapselriss 
ein  Längsspalt,  und  der  Kopf  sieht  wie  ein  Knopf  aus  dem  Knopfloch 
heraus.  Anderemale  ist  die  Kapsel  nicht  nur  der  Länge  nach  ein- 
gerissen, sie  ist  auch  ein  Stück  weit  an  ihrem  Ansatz  abgerissen  und 
der  Riss  hat  die  Form  eines  L  oder  ±.  Wieder  anderemale  ist  es 
ein  Querspalt,  der  die  Kapsel  auf  eine  ziemliche  Strecke  von  ihrer 
Ansatzstelle  trennt,  selten  handelt  es  sich  um  eine  ringförmige  Ab- 
trennung. 

Nur  im  Kiefergelenk  erfolgen  die  Luxationen  ohne  Kapselriss,  da  die  Kapsel  ge- 
nügenden Spielraum  zur  „Abwickelung"  der  Gelenkflächen  von  einander  darbietet. 


Anatomie  der  Verrenkungen. 


459 


Ist  nun  der  Kopf  aus  der  Kapsel  ausgetreten,  so  bohrt  er  sieh 
in  die  umgebenden  Weich theile,  meist  die  Muskeln,  ein  (siehe  Fig.  398), 
in  der  Richtung  der  austreibenden  Gewalt.  —  Diese  Stellung,  die  er 
unmittelbar  durch  die  Gewalteinwirkung  angewiesen  bekommt,  nennen 
wir  die  primäre  Stellung  des  Kopfes.  Er  bleibt  aber  meist  nicht 
in  derselben  stehen,  allerlei  Momente  sind  im  Stande,  seine  Lage  weiter 
zu  ändern.  Zunächst  die  Schwere,  So  steht  der  Arm  z.  B.  unmittelbar 
nach  dem  Austritt  des  Humeruskopfes  aus  dem  Schultergelenk  in  die 
Achselhöhle  meist  stark  vom  Leibe  abducirt  oder  gar  senkrecht  nach 
oben     erhoben    (Luxatio    erecta).     Naturgemäss    wird    derselbe,     der 


Fig. 398. 


Schwere  folgend,  allmählich  so  weit  als  möglich  an  den  Leib  hcra1)sinken 
und  damit  muss  sich  die  Stellung  des  Kopfes  ändern.  —  Oder  der 
Kranke  will  das  betreffende  Glied  bewegen  und  die  Muskelaction  drängt 
den  Kopf  in  eine  neue  secundäre  Stellung.  So  tritt  der  Humerus- 
kopf  später,  indem  der  Arm  gegen  den  Leib  herabsinkt,  aus  der 
Achselhöhle  unter  den  Pioc.  coracoideus;  die  Luxatio  axillaris  wird 
zur  subcoracoidea.  Schliesslich  sind  es  oft  Versuche,  die  Luxation  ein- 
zurichten, die  den  Kopf,  statt  ihn  in  die  Pfanne  zurückzuführen,  weiter 
disloc'iren. 

Die  Stellung  des  K()])fes  dient  zur  Boiennung  der  Luxa- 
tion. Ist  der  Kopf  aus  dem  Schultcrgelenk  ausgetreten  nach  vorn 
(Luxatio  humeri  anterior)   oder  nach   hinten  (posterior)   und  unterhalb 


460  ^^^-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Kj'oclien   und   Gelouke. 

des  Proc.  coracoideus  oder  dem  Sclilüsselbein  zu  fühlen,  so  hat  man 
eine  Luxatio  humeri  (anterior)  subcoracoidea,  Bubclavicuiaris.  Im  Hüft- 
gelenk eine  Lux.  femoris  iliaca,  ischiadica  u.  s,  w.,  eine  Lux.  cubiti 
anterior,  posterior,  lateralis;  eine  Luxatio  manus  volaris  und  dorsalis 
u.  s.  w. 

Das  Verhalten  von  Knochen  und  Weichtheilen  wird  aus  Fig.  398  deutlich 
—  a  der  nach  der  Achselhöhle  dislocirte  Kopf ,  b  die  leere  Pfanne  des  Schulter- 
blattes, i  Stücke  der  zerrissenen  Kapsel.  Aus  dem  M.  pectoralis  major  Ck,lc)  ist  ein 
grosses  Fenster  ausgeschnitten,  um  die  Gegend  zugänglich  zu  machen ;  der  Muse,  pec- 
toralis minor  (f)  ist  bei  Seite  gezogen,  g  Caput  breve  M.  bicipitis,  dessen  langer  Kopf, 
oder  vielmehr  dessen  mit  der  Gelenkkapsel  verbundene  Sehne  mit  dem  Kopf  zusammen 
dislocirt  ist ;  l  Serratus  anticus  major.  Der  Kopf  a  ist  zwischen  die  Gefässe  und  Nerven 
der  Achselhöhle  hineingetrieben.  Arteria  axillaris  (c)  mit  A.  subcapillaris  (e),  Vena 
axillaris  (d)  und  Plexus  axillaris  (h).  Dass  in  diesen  verzogenen  und  gedrückten  Ge- 
fässen  und  Nerven  Blutbewegung  und  Nervenleitung  gestört  und  geschädigt  sind,  zeigt 
die  bildliche  Darstellung  unmittelbar. 

Bei  Luxationen  ist  der  Kopf  in  seiner  neuen  Stellung  gewöhnlich 
ziemlich  fest  fixirt,  durch  Spannung  der  Muskeln  und  der  erhaltenen 
Bänder  und  Kapseltheile.  Nur  in  den  seltensten  Fällen  sind  auch  die 
stärkeren  Kapselpartien  oder  gar  die  ganze  Kapsel  abgerissen.  Solche 
Luxationen,  die  man  mit  Bigelow  irreguläre  oder  atypische  Luxa- 
tionen nennen  kann,  zeigen  oft  grosse  Beweglichkeit  des  Kopfes;  zu 
ihrem  Zustandekommen  gehören  aber  so  kolossale  Gewalteinwirkungen, 
dass  neben  den  übrigen  schweren  Verletzungen  die  Luxation  häufig 
sehr   in  den  Hintergrund  tritt. 

Bei  den  gewöhnlichen  Luxationen  resultirt  aus  der  Feststellung 
durch  übermässig  gespannte  Bänder  und  Muskeln  die  als  charakte- 
ristisch für  Luxationen  angegebene  „federnde  Fixation"  des  betreffen- 
den Gliedes ,  dass  das  Glied ,  z.  B.  der  Arm ,  der  vom  Rumpf  ab- 
ducirt  gehalten  wird,  nach  jedem  Versuch,  ihn  an  den  Leib  anzulegen, 
in  seine  alte  pathologische  Lage  zurückfedert  —  im  Gegensatz  zu  den 
Knochenbrüchen,  wo  die  Fragmente  meist  leicht  beweglich  sind. 

Die  feste  Fixation  des  Kopfes  ist  auch  die  Ursache  der  für 
Luxation  charakteristischen,  ungemein  heftigen,  andauernden  und  quälen- 
den Schmerzen. 

Bald  drückt  der  Kopf  unmittelbar  auf  die  Nerven  —  so  der 
Humeruskopf  auf  die  Nerven  des  Plexus  axillaris  (siehe  Fig.  398). 
Oder  diese  sind  über  einen  Gelenktheil  straff  weggespannt  ,  z.  B.  bei 
Ellbogenluxationen  über  die  Pars  condyloidea  des  Humerus.  Auch  die 
Circulation  in  dem  betreffenden  Gliede  kann  in  dieser  selben  Weise 
in  hohem  Grade  gestört  werden.  So  stellt  bei  Schulterluxationen  sich 
sehr  bald  Oedem  des  Armes  und  selbst  Cyanose  ein.  Bei  Kniever- 
renkungen kann  es  sogar  zur  Gangrän  des  peripheren  Theils  kommen, 
indem  die  Art.  poplitea  so  straff  über  den  hintern  Rand  der  dislocirten 
Tibia  weggespannt  ist,  dass  kein  Tropfen  Blut  mehr  durch  kann.  In 
den  schlimmsten  Fällen  sind  Gefässe  und  Nerven  nicht  nur  durch  den 
austretenden  Kopf  gedrückt,  sondern  völlig  zerrissen  worden.  Hier  sind 
natürlich  die  schwersten  Folgen  für  das  Leben  des  verletzten  Gliedes 
unausbleiblich. 

Für  die  Diagnose  der  Luxation  legen  wir,  wie  bei  den 
Knochenbrüchen  auf  die  subjectiven  Symptome,  die  eigenen  Be- 
obachtungen und  Empfindungen  des  Verletzten  weniger  Werth.  Manche 
Kranken  geben  an,  gefühlt  zuhaben,  wie  „die  Kugel  herausschlüpfte" ; 


Diagnose  der  Verrenkungen.  461 

dann  klagen  sie  anhaltenden  heftigen  Schmerz,  namentlich  oft  kehren 
die  Klagen  über  Taubheit,  Ameisenkriechen,  Kälte  in  den  peripheren 
Theilen  wieder.  Ferner  ist  natürlich  die  Gebrauchsfähigkeit  in  hohem 
Grade  gestört,  meist  ganz  aufgehoben. 

Unter  den  objectiven  Zeichen  ist  das  wichtigste  Zeichen  der 
Nachweis  der  Leere  der  Pfanne  und  des  Kopfes  an  anderer 
Stelle.  Hier  ein  Zuviel,  dort  ein  Zuwenig.  Bald  ist  mehr  das  eine, 
bald  das  andere  Symptom  der  Erkenntniss  zugänglicher.  So  genügt  beim 
Schultergelenk  oft  schon  der  Anblick  der  fehlenden  Schulterwölbung, 
um  das  Leersein  der  Pfanne  zu  erkennen  und  ein  Griff  unter  das 
Akroraion  bestätigt  die  Diagnose  sofort.  —  Siehe  Fig.  399,  Luxatio 
humeri  subcoracoidea  (nach  Albert)  —  die  Abflachung  der  Schulter, 
die  Grube  unter  dem  Akromion  und  die  Vorwölbung  unter  dem  Proc. 
corac.  sind  charakteristisch.  Auch  der  Kopf  sieht  oder  fühlt  sich  leicht 
durch,  wenn  er  nicht,  wie  in  seltenen  Fällen,  zwischen  die  Rippen  ein- 
getrieben und  so  der  Wahrnehmung  entrückt  ist.  Beim  Hüftgelenk  macht 
es  schon  geringe  Schwellung  unmöglich,  das  Leersein  der  Pfanne  zu 
fühlen,  dagegen  ist  der  Schenkelkopf  meist  deutlich  an  anomaler  Stelle 
zu  entdecken ,  ein  anderesmal  ist  auch  er  durch  Weichtheile  und 
Schwellung  überdeckt. 

Ferner  ist  auf  die  veränderte  Stellung  des  Gliedes  zu 
achten  und  hiebe!  besonders  der  Axenverlauf  des  Glieds  zu  berück- 
sichtigen. Folgt  man  auf  der  gesunden  Seite  der  Axe  des  Oberarms  oder 
des  Oberschenkels  vom  Ellbogen  oder  Knie  nach  aufwärts,  so  führt  die 
Verlängerung  derselben  gerade  auf  das  Schulter-  oder  Hüftgelenk  zu; 
bei  Luxation  dagegen  am  Gelenk  vorbei  an  die  Stelle  ,  wo  genaues 
Untersuchen  dann  meist  den  Kopf  entdeckt  —  Proc.  coracoideus,  Fossa 
iliaca.  (Siehe  Fig.  399  und  Fig.  402.)  Genau  zu  wissen,  wo  der  Kopf 
steht,  ist  natürlich  für  die  Behandlung,  die  Zurückführung  desselben 
in's  Gelenk,  höchst  wichtig.  Die  abnorme  Stellung  bietet  bei  Luxation 
insofern  noch  eine  besondere  Eigenthümlichkeit,  als  das  Glied  in  der 
falschen  Stellung  federnd  fixirt  ist  (siehe  oben)  und  bei  jedem 
Versuch,  dem  Glied  eine  andere  Lage  zu  geben,  in  diese  Stellung 
zurückschnellt.  Bei  Fracturen  ist  die  falsche  Stellung  —  von  einge- 
keilten Fracturen  abgesehen  —  bekanntlich  nicht  fixirt,  im  Gegen- 
theil,  es  ist  meist  sehr  leicht,  Stellungsveränderungen  vorzunehmen. 

Zur  Inspection  und  Palpation  tritt  nun  noch  die  genaue  Messung; 
doch  gibt  diese  selten  die  Entscheidung,  denn  bei  Luxationen  kommt 
sowohl  Verlängerung  als  Verkürzung  und  gleiches  Mass  beider  Seiten 
vor.  Die  Fiinctionsstörungen  sind  bei  Luxationen,  so  lange  sie  frisch 
sind,  häufig  stärker  als  bei  Brüchen;  ebenso  die  Schmerzen,  die  auch 
andei'cr  Art  sind  (siehe  oben),  meist  nach  der  Peripherie  ausstrahlend. 
Der  Bluterguss  ist  bei  manchen  Luxationen  unbedeutend  und  kommt 
oft  erst  am  2.  oder  3.  Tage  aus  der  Tiefe  an  die  Oberfläche. 

So  kinderleiclit  manche  Verrenkungen  zu  diagnosticiren  sind,  so  schwierig  ist  in 
anderen  Fällen  die  differentielle  Diagnose.  Von  V  erstau  ch  ung  die  Verrenkung 
zu  unterscheiden,  wird  meist  keine  Mühe  machen,  das  gegenseitige  Verhältniss  der  Gelenk- 
körper ist  nicht  geändert,  eine  Fixation  in  falscher  Stellung  nicht  vorhanden.  —  Schwie- 
riger ist  oft  die  Abtrennung  von  Brüchen  in  der  Nähe  der  G  elenk  en  den  und 
Epiphysenlösungen,  z.  B.  am  oberen  Ende  des  Humerus.  Das  obere  Ende  des  Schaftes 
stellt  sich  bei  Brüchen  mit  Vorliebe  unter  den  Processus  coracoideus,  wo  ja  auch  der 
verrenkte  Öchulterkopf  so  häufig  steht.  3Ian  findet  au  dieser  Stelle  einen  harten  Körper 


462 


VII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knocljen  und  Gelenke. 


und  ist  geneigt,  den  häufigsten  Fall  anzunehmen,  eine  Luxatio  huincri  subcoracoidea.  — 
Die  weitere  Untersuchung  klärt  jedoch  den  Irrthum  auf.  Man  greift  untor's  Akromion, 
die  Pfanne  ist  nicht  leer,  sondern  der  Kopf  an  seinem  richtigen  Platze.  Man  misst 
und  findet  eine  erhebliche  Verkürzung ;  auch  ist  der  Arm  keineswegs  fixirt,  ein  massiger 

Fig.  399. 


Zug  bringt  ihn  an  seinen  früheren  Ort,  vielleicht  unter  Crepitation  und  die  Verkürzung 
ist  ausgeglichen.  Lässt  man  mit  dem  Zuge  nach,  so  gleitet  der  gebrochene  Knochen  so- 
fort in  seine  Lage  unterhalb  des  Proc.  coracoideus  zurück.  Es  ist  gerade  dieses  Ver- 
halten ein  überaus  wichtiges  diagnostisches  Merkmal  zwischen  Fractur  und  Luxation.  — 
Bei  Fracturen  gelingt  es  meist  sehr  leicht,  die  Dislocation  durch  Zug  zu  beseitigen  und 
die  normale  Form  und  Haltung   herbeizuführen.    Sofort  mit   dem  Nachlassen  des  Zuges 


Behandlung  der  Verrenkungen.  463 

stellt  sich  jedoch  die  falsche  Stellung  wieder  her.  Bei  Luxationen  ist  gerade  das  Gegen- 
theil  der  Fall.  Hier  gelingt  es  nur  sehr  schwer  —  und  meist  nur  durch  complicir- 
tere  Bewegungen  —  die  normale  Lage  der  Knochen  wieder  herbeizuführen.  Ist  sie  aber 
einmal  erzielt,  dann  stellt  sich  auch  die  Dislocation  nicht  so  leicht  wieder  ein. 

Ein  anderesmal  findet  man  unterhalb  des  Akromion  eine  Delle,  man  glaubt 
Leerheit  der  Schultei-pfanne  und  damit  eine  Luxation  annehmen  zu  müssen,  oder  weun 
man  nicht  ganz  so  tief  eingreifen  kann,  wie  sonst  bei  Luxatio  humeri,  an  eine  unvoll- 
ständige Luxation,  vielleicht  nach  der  Achselhöhle  hin.  Man  wird  noch  bestärkt  in 
dieser  Auffassung,  denn  die  Entfernung  von  der  Spitze  des  Akromion  zum  Epicondylus 
externus  humeri  ist  vergrössert.  Man  hat  also  eine  Verlängerung  wie  bei  Luxatio  axil- 
laris ;  dazu  steht  der  Arm  etwas  vom  Leibe  ab.  In  der  Achselhöhle  ist  ein  knöcherner 
Tumor  zu  fühlen,  der  sich  aber  doch  nicht  so  scharf  wie  der  freie  Humeruskopf  anfühlt. 
Aber  es  fehlt  die  federnde  Feststellung  des  Oberarms,  und  wenn  man  nun  den  Arm 
mühelos  in  die  Höhe  schiebt,  so  stellt  sich  sofort  die  Wölbung  der  Schulter  wieder  her 
und  zugleich  fühlt  man  Crepitation.  Sofort,  nachdem  man  losgelassen,  sinkt  der  Arm 
wieder  herab  in  die  alte  Stellung  —  es  ist  eine  Fractur  des  Schulterblatthalses,  der 
mit  sammt  dem  Oberarm  • —  der  Schwere  folgend  —  herabsinkt. 

Aehnliche  Schwierigkeiten  der  Diag-nose  findet  man  bei  Gelenk- 
brüchen, denn  oft  verschiebt  sich  das  abgebrochene  Stück  des  Gelenk- 
theiles  zusammen  mit  dem  peripheren  Theil  des  Gliedes,  so  z.  B,  der 
R-adius  mit  der  abgebrochenen  Eminentia  capitata  humeri  und  die 
Stellung  ist  dann  einer  Luxation  des  Radius  sehr  ähnlich.  Bei  Fracturen 
hat  man  meist  die  grössere  Beweglichkeit  und  der  Nachweis  von  Cre- 
pitation dient  der  Diagnose.  Ist  aber  dabei  ein  grosser  Bluterguss  in 
und  um's  Gelenk,  so  kann  die  Diagnose  fast  unmöglich  werden. 

Oft  sind  jedoch  Brüche  an  den  Gelenktheilen  mehr  zufällige  Be- 
gleiter der  Verrenkung  und  diese  ist  die  Hauptsache.  So  brechen  bei 
Schulterverrenkungen  die  Tubercula  humeri  ab.  Man  hat  dann  bei 
einer  scheinbar  typischen  Schulter-Luxation  Crepitation, 
namentlich  bei  Rotation.  Oder  bei  Luxationen  im  Fussgelenk  bricht 
ein  Knöchel  ab.  Auch  diese  scheinbar  wenig  bedeutsamen  Nebenver- 
letzungen dürfen  nicht  übersehen  werden;  sie  trüben  die  Prognose, 
bezüglich  der  späteren  Gebrauchsfähigkeit  wesentlich,  besonders  bei 
älteren  Leuten. 

Die  Complication  schwerer  Gelenkbrüche  mit  Verrenkung  im  be- 
troffenen Gelenk  ist  meist  die  Folge  sehr  heftiger  Gewalteinwirkungen. 
Die  Verletzung,  auch  der  Weichtheile,  der  Bluterguss,  die  Circulations- 
störung  sind  beträchtlich.  Eine  genaue  Diagnose  ist  dadurch  meist 
schwer,  die  Prognose  eine  trübe.  Oft  ist  Narkose  zur  Diagnose  nöthig, 
die  auch  für  die  Einrichtung  nothig  wird.  Dass  auch  hier  die  Durch- 
leuchtung mit  Roentgenstrahlen  die  Diagnose  oft  sehr  fördert,  ist  selbst- 
verständlich. 

Für  die  Behandlung  ist  die  Hauptaufgabe  die  Einrichtung 
der  Verrenkung,  die  Reposition  oder  Reduction  des  ausgetre- 
tenen Gelenkkörpers  in  die  Gelenkhöhle.  Hier  gilt  als  erste  Regel  der 
Grundsatz  —  dass  der  Kopf  auf  demselben  Wege  in  die  Ge- 
lenkhöhle zurückgeführt  werden  muss,  auf  dem  er  ausge- 
treten ist.  Das  ist  sehr  häufig  leichter  gesagt,  als  gethan.  Die  Fest- 
stellung des  Austrittsmechanismus  ist  oft  sehr  schwierig. 

Aus  den  Angaben  der  Patienten  ist  selten  Viel  zu  entnehmen. 
Zudem  findet  man  den  Kopf  fast  nie  mehr  in  der  Primärstellung 
(s.  obenj.  So  Ijleibt  gewJ'dmlieh  nichts  übrig,  als  die  für  jede  Luxations- 
form  erprobten  X'erfahrcn  duichzuprobiren  und  dabei  von  den  ein- 
fachsten und  leichtesten  zu  den  complicirtcren  überzugehen. 


464 


Vir.  Capitel.  —  Krankheiton  der  Knochen  und  Gelenke. 


Im  grossen  Ganzen  handelt  es  sich  meist  darum  —  zuerst  den 
Kopf  aus  seiner  neuen  Lage  frei  zu  machen.  So  leicht  dies  oft  bei 
frischen  Verrenkungen  ist,  so  schwierig  kann  es  bei  veralteten  Ver- 
renkungen sein,  wo  eine  längere  Frist  —  Wochen  bis  Monate  —  ver- 
flossen ist,  und  der  Kopf  durch  straffes  neugebildetes  Bindegewebe  in 
seinem  abnormen  Lager  fest  angelöthet  ist.  Zum  Freimachen  des  Kopfes 
bedienen  wir  uns  drehender  (Rotations-)  Bewegungen  und  —  namentlich 
bei  nicht  mehr  frischen  Fällen  —  des  Zuges  (Extensionsmethodenj.  Manch- 
mal hört  man  die  Adhäsionen  unter  deutlichem  Krachen  zerreissen. 
Dann  sucht  man  den  Kopf  der  Pfanne  gegenüber  zu  stellen,  meist 
auch    durch   hebelnde    Bewegungen, 


wobei 


sich 


man  sicn  eines  möglichst 
langen  Hebelarmes  bedient  —  den 
Arm  am  Ellbogen,  den  Femur  am 
Knie  u.  s.  w.  anfasst.  Schlüpft  der 
Kopf  nicht  schon  bei  dieser  Bewe- 
gung —  die  oft  mit  einem  gewissen 
Schwung  zu  machen  ist  (Werfen  des 
Armes),  in  die  Pfanne,  so  kann 
dies  noch  durch  unmittelbaren  Druck 
auf  den  Kopf  in  der  Richtung  der 
Pfanne,  directes  Hineinschieben  in 
das  Gelenk  seitens  eines  Assistenten 
unterstützt  werden.  Selbstverständlich 


Fig.  400. 


ist  der  Knochen,  gegen  den  die  Luxation  erfolgt  ist  (Schulterblatt, 
Becken),  in  schwereren  Fällen  durch  einen  Assistenten  zu  flxiren 
(s.  Fig.  400,  Einrichtung  einer  Luxatio  cubiti  posterior). 

Dass  die  Einrichtung  gelungen,  erkennt  man  bei  frischen 
Luxationen  oft  an  einem  deutlich  hörbaren  Schnappen;  die  normale 
Form  des  Gelenkes,  die  Contouren  der  Muskeln,  der  Verlauf  von  Haut- 
falten ist  wieder  hergestellt  und  auch  die  Function  ist  sofort  wieder 
eine  annähernd  normale  ;  Bewegungen  im  Gelenk  sind  activ  und  passiv 
leicht  und  glatt  auszuführen. 

Die  Retention  ist  bei  eingerichteten  Luxationen  meist  sehr  ein- 
fasch;    ein  Tragetuch    (Mitella)    bei    Schulterluxationen,    ein    Handtuch 


Einrichtung  der  Ven'enkungen.  465 

um  die  Knie  bei  Hüftverrenkung',  ein  leichter  Schienenverband  und 
ein  Nichtgebrauch  des  Gelenkes  von  1 — -2  Wochen  genügt  meist.  Zweck- 
mässig ist  Massage  (vorsichtig-,  von  2 — 3  Tag*  an,  zunächst  nur  Streich- 
massage). 

Leichte  spielende  Bewegungen  erreichen  selbst  bei  nicht  chloro- 
formirten  Patienten  mehr,  als  derbes  gewaltsames  Herumzerreu.  Oft 
genügt  einfacher  Zug  (hintere  Ellbogen-  und  Schultergelenksluxationen) 
oder  leichte  Hebelbewegungen  ohne  Assistenz,  Veraltete  Luxationen 
verlangen  zur  Loslösung  der  Adhäsionen  mehr  Kraft,  doch  ist  es  selbst 
bei  genügender  Vorsicht  vorgekommen,  dass  bei  den  nöthigen  Rotations- 
bewegungen statt  der  Lösung  der  Adhäsionen  der  chirurgische  Hals 
des  Oberarmes  (vermuthlich  durch  Nichtgebrauch  atrophisch  geworden) 
abbrach.  Wenn  es  soweit  gekommen  ist,  dass  vier  am  Vorderarm  vor- 
gespannte Assistenten  den  Arm  im  Ellbogengelenk  ganz  ausrissen,  so 
kann  man  solche  Rohheit  nur  bedauern. 

Andere  Male  bedarf  es  oft  vieler  Mühe  und  complicirter  Griffe, 
so  z.  B.  gerade  bei  der  Ellbogenluxation  oft  starker  Ueberstreckung, 
dann  Extension,  schliesslich  kräftiger  Beugung,  wozu  manchmal  eigene 
Schlingen  u.  s.  f.  ganz  praktisch  sind  (s.  Fig.  400,  Einrichtung  einer 
hinteren  Ellbogenluxation  nach  Albert). 

Der  häufigste  Grund,  warum  es  bei  Luxationen  nicht  geht,  ist 
active  Muskelspannung  wegen  der  starken  Schmerzen.  Sie  wird 
ausgeschaltet  durch  Narkose. 

Bei  Luxationen  sind  viele  Chloroform-Unglücksfälle  vorgekommen.  Die  Patienten, 
meist  Arbeiter  und  oft  Trinker,  müssen  sehr  tief  chloroformirt  werden,  um  die  Muskel- 
spannung ganz  zu  beseitigen.  Halb  narkotisirte  —  im  Stadium  excitationis  —  reponii'en 
sich  schlechter,  als  ganz  Unbetäubte.  Ich  empfehle  hiefür  besonders  die  Morphium- 
Atropin-Chloroformnarkose  (s.  pag.  243) ,  Aethernarkose  gibt  meist  nicht  die  genügende 
Muskelerschlaffung. 

Die  Narkose  hilft  meist  auch  die  Spannung  der  erhaltenen 
Kapseltheile,   Bänder  und  Sehnen  (s.  Fig.  398)  leichter  überwinden. 

Oft  gelingt  es  wohl,  den  Kopf  frei  zu  bekommen  und  der  Pfanne 
gegenüber  zu  stellen,  aber  er  schlüpft  nicht  hinein,  sondern  gleitet  so- 
fort wieder  ab.  Hier  ist  entweder  der  Kapselriss  zu  klein,  der 
oft  knopflochartig  den  Hals  des  Gelenktheiles  unischliesst  —  ein  paar 
kräftige  Tractionen  oder  Rotationen  erweitern  ihn.  Oder  es  schiebt  sich 
etwas  zwischen  Kopf  und  Pfanne,  es  findet  eine  Interposition  statt  — 
bald  ist  es  die  Kapsel,  oder  eine  Sehne,  z.  B.  die  Bicepssehne  (siehe 
Fig.  398j,  oder  ein  Muskel  oder  ein  Stückchen  Knochen  —  bei  gleich- 
zeitiger Gelenkfractur  (ein  Stückchen  von  der  Cavitas  glenoidea  sca- 
pulae  oder  das  Tiiberculum  maj.  u.  s.  f.);  hier  helfen  oft  .schiebende 
Bewegungen  oder  spielende  Rotationen.  Ist  die  Luxation  schon  alt  und 
sind  die  Theile  verwachsen,  z.  B.  der  über  die  Cavitas  glenoidalis 
herübergespannte  Theil  der  Kapsel  mit  der  Pfannenfläche  verlöthet,  so 
ist  nicht  viel  zu  machen,  es  ist  dann  keine  Gelenkhöhle  mehr  da,  in 
die  der  Kopf  zurückgeführt  werden  könnte.  Die  Luxation  ist  irre- 
ponibel,  d.  h.  ohne  operativen  Eingriff  (s.  pag.  466). 

Je  älter  die  Luxation  ist,  um  so  schlechter  sind  die  Aussichten 
für  die  Reposition,  die  deshalb  stets  sofort  zu  machen  ist.  Manciic 
Luxation  —  z.  B.  gewisse  Formen  von  Ellbogeniuxationen  —  sind 
schon  nach  wenigen  Wochen  veraltet,  d.  h.  irreponibel.  Andere  bleiben 
lange   reponibel.    So    sind   Schulter-  und  Hüftverrenkungen    noch    nach 

Landerer,  AUg.  chir.  Pattologie  u.  Therapie.  2.  Aufl.  ^Q 


4-6(5  VII.  Gapitel.   —  Kraiiklieiton  der  Kiifjclion  und  Oolcnke. 

1—2  Jahren  mit  Glück  reponirt  worden.  Die  Schwierigkeiten  in  der 
Behandlung  beruhen  in  der  festen  Anlöthung  des  Kopfes.  Wo  es  iiir-ht 
direct  gelingt,  die  Adhäsionen  zu  lösen  (in  Narkose),  kann  mitunter 
eine  vorausgeschickte  Behandlung  mit  Gewichtsextension  fs.  ])ag  riOOff.) 
und  Massage  die  Einrichtung  vorbereiten. 

Kommt  man  mit  allem  dem  nicht  zum  Ziel,  so  bleibt  nur  die 
blutige  Eröffnung  und  Reposition,  die  unter  antiseptischen  Cautelen 
auch  bei  frischen  Verrenkungen  gute  Resultate  gibt  {Schede,  Lanfjenheeh's 
Archiv,  43).  Gelingt  sie  nicht,  so  bleibt  nur  die  Resection  des  Kopfes 
oder  des  ganzen  Gelenkes.  Frühzeitige  Stell angsänderungen  sind  während 
der  Nachbehandlung  nöthig,  um  Ankylose  zu  verhüten. 

Sonstige  Unfälle  und  Neben  Verletzungen  sind  bei  Luxationen 
seltener  als  bei  Brüchen.  Allerdings  sind  Gefässe  und  Nerven  auch 
hier  mancherlei  Insulten  ausgesetzt.  Quetschungen  der  Gefässe,  arte- 
rieller und  venöser,  mit  folgender  Thrombose,  oder  subcutane  Zerreis- 
sungen  mit  Bildung  von  Hämatomen  und  Aneurysmen  kommen  nicht 
nur  unmittelbar  bei  der  Verletzung  vor;  auch  bei  Repositionsversuchen 
kann  eine  bindegewebig  an  falscher  Stelle  angelöthete  Arterie  abgerissen 
werden  (A.  circumflexa  humeri,  selbst  A.  oder  V.  axillaris).  Wie  sehr 
die  Gefässe  gefährdet  sind,  geht  aus  Fig.  398  hervor,  wo  der  Humerus- 
kopf  denselben  unmittelbar  aufliegt.  Diese  Gefässverletzungen  können 
zur  Gangrän  des  peripheren  Theiles  führen.  Diese  kann  bei  nicht 
eingerichteter  Luxation  auch  so  entstehen,  dass  die  Hauptarterie  com- 
primirt  wird,  z,  B.  die  A.  poplitea  so  straff  über  die  hintere  Kante  der 
Tibia  —  bei  Luxation  im  Knie  nach  hinten  —  gespannt  wird,  dass 
die  Circulation    unmöglich  wird. 

Auch  die  Nervenverletzungen  können  primäre  sein,  die  im 
Augenblick  der  Verletzung  deutlich  werden  und  durch  diese  bedingt 
sind  —  Zerreissungen,  Quetschungen,  Erschütterungen  und  secundäre, 
die  erst  allmählich  —  in  Lähmungen  motorischer  und  sensibler  Art  — 
sich  bemerklich  machen.  Oder  der  Nerv  wird  später  von  der  neuen 
Bindegewebswucherung  eingeschlossen  und,  wenn  diese  schrumpft,  com- 
prirairt. 

Auch  IZwiselieugelenkknorpel  —  im  Knie  —  können  sicli  verschieben.  Der 
Mechanismus  ist  noch  nicht  recht  klar;  kräftige  Beugungen  und  Streckungen  reponiren 
sie  meist. 

Offene  oder  complicirte  Luxationen  sind  seltene  Verletzun- 
gen. Aehnlich  wie  bei  Durchstechungsfracturen  zerreisst  der  Kopf 
nicht  blos  die  Kapsel,  sondern  dringt  zwischen  den  übrigen  Weichtheilen 
bis  zur  Haut  und  durchbricht  diese  schlitzförmig,  die  sich  oft  knopfloch- 
artig eng  um  ihn  zusammenschliesst.  Dadurch  wird  die  Infection  der 
tiefen  Theile  oft  vermieden  und  es  gelingt,  nach  peinlichster  Reinigung 
der  Umgebung  und  des  vorliegenden  Knochens  und  unter  vorsichtigen 
Einschnitten  von  Haut  und  Umgebung  mit  geknöpftem  Messer,  die 
Luxation  zu  reponiren.  Das  Gelenk  wird  vorsichtig  ausgewischt  oder 
mit  dünner  Sublimatlösung  ausgeM'asehen  und  einige  kurze  Drains  in 
das.  Gelenk  eingeschoben  (nicht  durch  dasselbe  durchgezogen).  Bleibt 
die  Sache  aseptisch,  so  sind  die  Drains  sobald  als  möglich  zu  ent- 
fernen, bei  unbedeutender  Secretion  schon  beim  ersten  Verbandwechsel, 
und  frühzeitige  passive  Bewegungen  auszuführen.  Die  Erfolge  sind  bei 
aseptischem  Verlauf  vorzügliche. 


Complicirte  VeiTenkimgen.  Gelenkwunclen. 


467 


Fig.  401. 


Geht  die  Luxation  bereits  inficirt  zu  oder  missglückt  die  Anti- 
sepsis, so  ist- bei  sorgfältiger  Desinfection,  mit  grossen,  das  Gelenk  breit 
eröffnenden  Schnitten  und  ausgiebiger  Drainage  die  Behandlung  inticirter 
Wunden  (siehe  pag.  283)  einzuleiten.  Wendet  sich  der  Process  nicht 
rasch  zum  Bessern,  sinkt  die  Temperatur  niclit  und  tritt  nicht,  bei  Hoch- 
lagerung des  Theiles,  rasche  Abschwellung  ein,  so  ist  die  schleunige 
Resection  des  Gelenkes  (siehe  pag.  264)  mit  grossen  klaffenden  Schnitten 
nicht  mehr  zu  umgehen,  um  noch  Schlimmeres  (Pyämie !)  zu  vermeiden. 
Im  äussersten  Fall,  wenn  der  Process  central  fortschreitet,  kann  Ampu- 
tation in  Frage  kommen.  Bei  gleichzeitiger  Zersplitterung  der  Knochen 
oder  starker  offener  Weichtheilverletzung  kann  schon  primär  Resection 
oder  Amputation  angezeigt  sein. 

Im  Gesagten  ist  auch  die  Behandlung  offener  Gelenk- 
wnndeu  enthalten.  Ist  die  Wunde, 
Stich-  oder  Hiebwunde,  nur  klein, 
so  wird  die  Diagnose  durch  das 
bei  Bewegungen  verstärkte  Aus- 
fli essen  der  schleimigen  Synovia 
gestützt.  Bei  kleinen ,  nicht  ver- 
unreinigten Wunden  genügt  anti- 
septische Reinigung  der  Wunde 
und  Einschieben  eines  Drains  bis 
ins  Gelenk,  im  üebrigen  Naht. 
Sobald  Infection  sich  offenbart, 
sind  die  eben  geschilderten  ein- 
greifenderen Verfahren  geboten.  Auf 
die  weiteren  Erscheinungen  der 
nun  sich  entwickchiden  eitrigen 
Gelenkentzündung  kommen  wir  bei 
Geleukeiteruugen    wieder    zurück. 

Gelingt  die  Reposition  einer 
Luxation  nicht  oder  wird  sie  nicht 
gemacht,  weil  die  Diagnose  nicht 
gestellt  war,  so  bildet  sich  an  der 
Stelle,  wo  der  Kopf  nun  steht,  ein 
neues  Gelenk  (Nearthrose),  und 
das  alte  verödet. 

Die  makroskopischen  Verhältnisse, 
wie  sie  sich  nun  entwickeln,  lassen  sich  aus 

Fig.  401,  einer  nicht  reponirten  Luxatio  praescapularis.  erkennen.  Von  der  Schulter- 
pfanne (a)  ist  der  Knorpel  last  ganz  verschwunden,  nur  in  den  mittleren  und  unteren 
Theilen  sind  noch  Reste  übrig  geblieben.  Der  obere  Theil  ist  raulv,  wie  eine  gewöhnliche 
Knochenfläche,  die  ganze  Pars  gienoidalis  scajjulae  ist  verschmälert,  an  ihrer  Vorder- 
seite hat  sich  eine  Schliimäche  (b)  gebildet,  theils  aus  glattgeschlitlencm,  elfenbein- 
artigem comi)actem  Knochen  bestehend,  zum  Theil  aber  auch  mit  Knorpel  bedeckt.  — 
Es  ist  hier  niciit  nur  Knochen  weggeschliffen,  im  hinteren  Theil  (d)  hat  Neuljildung 
von  Knochengewebe  in  (iestalt  mehrerer  Blättchen  und  Säulen  stattgefunden,  so  dass  hier 
sich  eine  wirkliche  pfannenartige  Höhlung  bildet.  An  der  Unterfläche  des  Akromion  hat 
sich  gleichfalls  eine  neue  Gelenktläche  (c)  gebildet.  Auch  der  Kopf  verändert  sich  den 
neuen  Verhältnissen  entsprechend  ;  hier  z.  B.,  da  die  Hebung  des  Armes  ausgeschlossen  ist, 
nimmt  er  mehr  Cylinderform  an.  Manche  durch  Luxation  ganz  druckfrei  gewordene  Gelenk- 
kinper,  wie  das  Cai)itulum  radii.  hypertrophiren  zu  langen,   walzenförmigen  Fortsätzen. 

Mikroskopisch  finden  sich  lUick- und  Anbiidungsprocesse  nebeneinander.  Der 
Gelenkknorpel  vi-rwäch-st  zum  Tlieil  mit  der  Synovialmembran  und  wird  dann  von  jungem 

30* 


468  "^^I-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Bindegewebe    über-   und   später    durchwachsen  (siehe   pag.  455  bei    Immobilisirung    der 
Gelenke). 

An  der  Stelle  neuen  Druckes  findet  Knochenanbildung  statt,  indem  sich  osteoides 
Gewebe  bildet  und  verknöchert.  Auch  Knorpel  bildet  sich  neu,  doch  kein  echter  Hyalin- 
knorpel,  sondern  Knorpel  mit  unregelmässiger  Grundsubstanz  —  Netz-  und  Faserknorpel. 
Das  neugebildete  Bindegewebe  zeigt  eine  Art  paralleler  Schichtung  und  gewinnt  dadurch 
das  Ansehen  einer  Gelenkkapsel. 

Ein  solches  neues  Gelenk  kann  innerhalb  gewisser  Grenzen 
leistungsfähig  sein.  Schmerz  und  Schwellung  sind  natürlich  längst  ver- 
schwunden. Die  nicht  mehr  gebrauchten  Muskeln  atrophiren  binde- 
gewebig. 

Manche  Luxationen  neigen  sehr  zu  Rückfällen.  Es  gibt  Leute, 
die  sich  ein  Gelenk,  namentlich  das  Schultergelenk,  sechzig-  bis  hundert- 
mal verrenken,  bei  geringster  Gelegenheit.  Die  Ursache  ist  unvoll- 
ständige Heilung  einer  ersten  traumatischen  Luxation.  Bald  ist  wegen 
nicht  genügender  Schonung  der  Kapselriss  nicht  geheilt,  ein  anderesmal 
scheint  eine  Erweiterung  der  Kapsel  vorzuliegen;  so  findet  sich  habi- 
tuelle Luxation  nach  Humerusverrenkungen,  wo  die  Tubercula  humeri 
abgerissen  und  nicht  wieder  angeheilt  sind. 

Zur  Behandlung  sind  öftere  subcutane,  paraarticuläre  Injectionen 
von  Jodtinctur  empfohlen,  doch  ohne  dauernden  Erfolg.  Ich  habe  zwei- 
mal von  einen  Resectionsschnitt  das  Gelenk  freigelegt,  und  die  er- 
vreiterte  Kapsel  durch  Exeision  verkleinert,  mit  gutem  Erfolg;  ebenso 
Steinthal. 

Auch  willkürliche  Luxationen  kommen  vor.  Ich  behandelte  — 
wegen  anderen  Leidens  —  einen  stämmigen  Arbeiter,  der  mit  einer 
kräftigen  Einwärtsrollung  und  gleichzeitiger  leichter  Beugung  den 
Schenkelkopf  auf  die  hintere  Darmbeinfläche  luxirte.  Ein  Ruck  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  und  der  Kopf  schlüpfte  mit  einem  hörbaren 
Schnappen  in  die  Pfanne  zurück.  Meist  sind  keine  Traumen  voran- 
gegangen und  die  Entstehungsweise  ist  unbekannt.  Es  scheinen  Deh- 
nungen der  Kapsel  vorzuliegen. 

Spontane,  secundäre,  pathologische  Luxationen  sind 
solche,  wo  die  Verschiebung  der  Gelenkkörper  weniger  durch  eine  Ver- 
letzung als  durch  eine  abnorme  Beschaffenheit  des  Gelenks  bedingt  ist. 
Volkmann  unterschied  drei  Gruppen  —  die  Distensionsluxationen, 
wo  die  Verschiebung  der  Gelenkkörper  erfolgt  durch  Ausdehnung  und 
Ausweitung  der  Gelenkkapsel.  Meist  sind  es  seröse,  seltener  eiterige 
Gelenkentzündungen,  wo  ein  beträchtlicher  Erguss  die  Kapsel  ballonartig 
auftreibt;  es  handelt  sich  meist  um  metastatische  Processe  bei  schweren 
Infectionskrankheiten  —  Pocken,  Typhus,  Scharlach,  Masern,  Diphtherie 
u.  s.  f.,  auch  bei  Pyämie  und  fieberhaften  Wochenbetten.  Von  chronischen 
Krankheiten  kommt  tuberculöser  Hydrops  in  Betracht.  Eine  ungeschickte 
Bewegung  hebelt  den  Kopf  über  den  Pfannenrand  weg;  die  bett- 
lägerigen und  meist  benommenen  Patienten  merken  nichts  davon ;  so 
wird  keine  Reposition  vorgenommen;  wenn  dann  die  Kranken  auf- 
stehen, ist  der  Kopf  längst  in  der  neuen  Stellung  festgewachsen.  In 
frischen  Fällen  kann  die  Reposition  gelingen,  in  älteren  (siehe  Behand- 
lung veralteter  Luxationen)  führt  hin  und  wieder  Gewichtsextension 
zum  Ziel,  meist  ist  Gelenkschnitt  oder  Resection  nöthig. 

Die  nach  Muskellähmungen  und  Banderschlaffungen  eintretenden 
Dislocationen  in  den  Gelenken  sind  seltener  vollständige  Verrenkungen, 


Pathologische  und  angeborene  Luxationen. 


469 


meist  unvollständig-,   „Subluxationen".  Am  bekanntesten  ist  das  Herab- 
sinken des  Humeruskopfes  bei  Deltoideuslähmung. 

Bei  den  Destructions-Luxationen  sind  die  Gelenkkörper  und 
Kapselbänder  so  zerstört,  dass  die  Gelenkflächen  aneinander  vorbei- 
gleiten können.  Die  häufigste  Ursache  ist  tuberculöse  Zerstörung  der 
Gelenke  (siehe  dort).  Bald  ist  vorwiegend  die  Kapsel  zerstört  und  der 
Kopf  kann  bei  einer  derben  Bewegung  plötzlich  austreten,  z.  B.  bei 
der  tuberculösen  Spontanluxation  im  Hüftgelenk.  Oder  die  Pfanne  wird 
(durch  Druck  und  Schwund)  ausgeweitet  (siehe    ebendaselbst)  und  der 

Fig.  402. 


\ 


GesUssform  bei  doppelseitiger  congenitaler 
Hüft  Verrenkung. 


Kopf  aleitet  in  der  erweiterten  Pfanne  nach  oben  —  Pfannenwanderung. 
Oder  der  Kopf  kann  so  klein  werden  (Resorption),  dass  dadurch  der 
Schaft  beweglicli  wird.  (Die  tuberculöse  Epiphysenlösung  siehe  ebenda.) 
Sell)stverständlicli  kfinnen  alle  drei  Arten  von  Vcrändeningen  neben- 
einander bestehen  und  zugleich  wirksam  werden.  Gewaltsame  Repo- 
sitiousversnchc  sind  zu  widei'rathen  ;  alhuähliche  Gowiclitsexteiision  mit 
folgendem  tixirenden  Verlnuid  oder  die  Resection  sind  angezeigt.  Xan 
anderen  Krankheiten  konnnen  Osteomyelitis  und  I'yämie  in  Betracht.  — 
Die  Hpoud\k)listlies>is  —  das  Abgleiten  der  Lendenwirbelsäule  vom  Kreuz- 
bein in's  Ijccken  hinein  —  scheint    eher   traumatischer  Natur    zu  sein. 


470  ^^I-  Capitel.   —  Kraiiklieiteii   do'  Kuodien  und  Gdeiike. 

Bei  den  Deformations-Luxationen  bandelt  es  sich  nicht  um 
eiterige  Zerstörung-,  sondern  um  alimähliche  Abschleifung  der  Gelenk- 
flächen ,  wobei  dann  der  Gelenkkopf  ganz  oder  theilweise  gegen  die 
Gelenkfläche  sich  verschieben  kann.  Sie  kommt  namentlich  bei  Arthritis 
deformans  vor  (s.  dort). 

Bei  den  angeborenen  Luxationen  scheint  es  sich  um  eine 
Hemmungsbildung  der  Pfanne  zu  handeln.  Sie  kommen  besonders  am 
Hüftgelenk  vor ,  und  zwar  vorzugsweise  bei  Mädchen.  Die  Ursache 
der  mangelhaften  Entwicklung  der  Pfanne  suchen  die  Einen  (GrawHz) 
in  frühzeitigem  Untergang  des  Y-Knorpels  (des  Wachsthumknorpels 
der  Pfanne).  Andere  (Roser)  glauben,  dass  bei  starker  Adduction  der 
Beine  (vor  der  Brust  in  Beugung  gekreuzt)  der  ausweitende  Druck  des 
Schenkel kopfes  in  der  Pfanne  fehle  und  so  diese  im  Wachsthura  zurück- 
bleibe. Die  Form  des  Gelenks  gibt  Fig.  402  nach  Albert.  An  Schulter, 
Ellbogen,  Hand,  Knie-  und  Fussgelenk  sind  gleichfalls  angeborene  Ver- 
renkungen beobachtet  (zum  Theil  bei  auch  sonst  missbildeten  Früchten). 
Unblutige  Einrichtungen  (Lorenz)  geben  durchschnittlich  bessere  Erfolge 
als  die  blutige  Reposition  (Hoffa).  Häufig  muss  man  sich  mit  Appa- 
raten begnügen. 


Schussverletzungen. 

Entstehungsweise    und  Theorie    der  Schussverletzungen.    —   Weichtheilschüsse.  — 
Knochenschüsse.  —  Diagnose.   —   Behandlung.  —  Statistik. 

Von  den  Kriegsverletzungen  haben  wir  der  Säbelwunden  bereits 
bei  den  Hieb-  und  Schnittwunden  pag.  88  gedacht.  Ebenso  haben 
Stichwunden,  wie  sie  als  Lanzen-  oder  Bajonnettstiche  vorkommen, 
schon  pag.  90  Erwähnung  gefunden.  Die  Verletzungen  durch  blanke 
Waffen  treten  in  den  modernen  Kriegen  an  Bedeutung  immer  mehr 
zurück.  Im  Feldzug  1870/71  betrugen  die  Hiebwunden  nur  O'ßVo,  die 
Stichwunden  l'o7o,  darunter  Bajonnettstichwunden  0'7°/o  (v.  Fetzer, 
Rückblick,  Deutsche  Aerztezeitung,   1895). 

Die  Schussverletzungen  kommen  zustande  durch  Handfeuer- 
waffen und  grobes  Geschütz.  Von  den  Schussverletzungen  waren 
91"6Vo  durch  Gewehrprojectile,  8'4o/o  durch  Artilleriegeschosse  bedingt. 

Die  Lehre  von  den  Schussverletzungen  ist  im  letzten  Jahrzehnt 
eine  andere  geworden  durch  die  Fortschritte  der  Technik,  die  Ein- 
führung des  kleincalibrigen  Infanteriegewehrs,  des  Stahlmantelgeschosses 
statt  des  Weichbleigeschosses  und  des  rauchschwachen  Schiesspulvers 
(aus  Schiessbaumwolle  etc.).  Die  Erfahrungen  früherer  Feldzüge  werden 
daher  für  künftige  nicht  durchaus  giltig  bleiben,  um  so  weniger,  als 
die  antiseptische  und  aseptische  Wundbehandlung  ihre  Probe  im  Felde  — 
wenigstens  in  grossen  Verhältnissen  —  noch  nicht  abgelegt  hat. 

Die  neu  eingeführten  Stahlmantelgeschosse  mit  Bleikern  sollen 
vor  dem  bisherigen  Weichbleigeschoss  den  Vorzug  haben,  dass  sie  am 
(festen,  knöchernen)  Ziel  sich  nicht  defqrmiren ,  d.h.  nicht  splittern 
und  durch  die  umhergestreuten  Splitter  explosive  Wirkung  ausüben. 
Die  Deformirung  des  Weichbleies  wurde  theils  als  mechanische  Zer- 
trümmerung (Reger)  aufgefasst,  wie  der  Stein  au  hartem  Ziel  zerspringt, 
theils  als  Schmelzwirkung.  Dass  Blei  weich  wird  beim  Aufschlagen  auf 


Sclmäsveiietzuugen.  Geseliosswii'kuug.  471 

harte  Ziele,  dass  die  lebendige  Kraft  des  Geschosses  sich  umsetzen 
kann  in  Wärme,  die  ein  Metall  von  niedrigem  Schmelzpunkt  weich 
und  formbar  machen  kann,  ist  nicht  zu  bezweifehi.  Ich  habe  u.  A.  eine 
Revolverkugel,  die  einen  genauen  Abguss  einer  Zahnalveole  darstellt; 
die  Kugel  war  wie  hineingeprägt  in  das  Zahnfach. 

Auch  der  Bleikern  des  Mantelgeschosses  kann  zum  Schmelzen 
kommen. 

Das  rauchschwache  Pulver  verleiht  dem  Stahlmantelgeschoss  eine 
sehr  viel  grössere  lebendige  Kraft,  infolgedessen  trägt  es  weiter,  hat 
eine  gleichmässigere ,  rasantere  Flugbahn  (das  Projectil  „flattert" 
weniger)  und  hat  eine  viel  grössere  Durchschlagskraft. 

Das  Mausergewehr  trug  etwa  3000  Meter  bei  einer  Anfangsge- 
schwindigkeit von  etwa  500  Meter  (pro  Secunde),  das  Chassepotgewehr 
etwa  ebensoweit;  die  modernen  Kleincalibergewehre  sollen  5—6000  Meter 
tragen.  Während  das  alte  Mausergewehr  ein  Caliber  von  11  Mm.  hatte,  hat 
das  jetzige  deutsche  Magazingewehr  ein  Caliber  von  nur  7'9  Mm.  und  es 
geht  das  Bestreben  der  deutschen,  sowie  fremder  Armeeleitungen  dahin, 
das  Caliber  noch  weiter  auf  6-5,  selbst  auf  5  Cm.  herabzudrlicken. 

Die  Durchschlagskraft  des  modernen  Mantelgeschosses  ist  eine 
enorme.  Es  geht  auf  eine  Entfernung  von  600  M.  noch  durch  drei  hinterein- 
andergestellte  Leichen  hindurch  (Demosthene).  Selbst  mit  abgebrochener 
Ladung  geht  es  noch  auf  2000  M.  glatt  durch  den  menschlichen  Körper 
hindurch 7p.  Bruns).  Es  durchschlägt  60  Cm.  dicke  Holzplanken  u.  s.  w. 

WasserscMsse,  wie  sie  oft  die  Selbstmörder  verwendeu,  wo  statt  der  Kugel  eine 
Wasserscliicht  zwischen  zwei  Pfropfen  eingefügt  wird,  haben  durch  die  Verdampfung 
des  Wassers  und  die  dadurch  entwickelten  unter  hohem  Druck  stehenden  Gasmassen 
fürchterliche  explosive  Wirkung.  Bei  Schüssen  in  den  Mund  wird  gewöhnlich  der  Schädel 
in  tausend  Fetzen  zerrissen. 

Auch  die  Form  des  Geschosses  ist  nicht  ohne  Einfluss.  Die  alten  kugel- 
förmigen Pi-ojectile  wurden  viel  mehr  durch  den  Widerstand  der  Luft  beeinllusst,  als 
die  modernen  cylindrischen  oder  konischen ,  welche  sich  mit  ihrem  vorderen  zuge- 
spitzten Ende  und  vermöge  der  ihnen  durch  die  Züge  des  Laufes  ertheilteu  Rotation 
um  ihre  Längsaxe  eine  sehr  gleichmässige  Bahn  durch  die  Luft  bohren  (.,rasante  Flug- 
bahn"). Ohne  diese  Eotation  „flattern"  die  Geschosse  namentlich  glatter  Gewehre  hin 
and  her  und  können  sich  sogar  in  der  Luft  überschlagen  und  mit  ihrer  breiten  Fläche 
auftreffen. 

Die  Folgen  der  Schussverletzungen  sind  abhängig  von  der  Be- 
schaffenheit des  Ziels.  Je  weicher  das  Ziel,  um  so  grösser  durch- 
schnittlieh die  Zerstörung  und  damit  der  Schusscanal.  Kocher  hat  durch 
treffliche  Experimente  erwiesen,  dass,  je  mehr  das  Ziel  in  seinem  Aggregat- 
zustand sich  dem  Charakter  der  Flüssigkeit  nähert,  um  so  mehr  sich 
Seitenwirkungen  des  Geschosses  geltend  machen,  die  darauf 
beruhen,  dass  der  Druck  sich  nach  den  Gesetzen  der  Hydraulik  nach 
allen  Richtungen  hin  glcichniässig  fortsetzt.  Diese  „hydraulische  Pressung" 
macht  sich  namentlich  geltend  in  mit  weichem  Inhalt  gefüllten  Ka|)seln, 
wie  Schädel  und  Knochen.  Diese  werden  (»ft  durch  Schü.'^se  fr»rmlich 
zersi)rengt.  Doch  gilt  diese  Auffassung  auch  für  weiche  und  wasser- 
haltige Gewebe,  wie  die  Muskeln. 

Elastische  Gewebe,  wie  die  Haut,  werden  durch  den  Andrang 
des  Geschosses  erst  gedehnt,  dann  schliesslich  nur  mit  einem  Schlitz, 
der  kleiner  ist   als  das  Geschoss.  durchri.sson. 

Je  härter  das  Ziel,  um  so  eher  wird  die  Kugel  deformirt,  um  so 
mehr    kommt    es    zu    umfänglichen  Zerreissungen.    Man    bekommt   des- 


472  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

halb  in  den  Weichtheilen  viel  mehr  glatte  röhrenförmige  Schusscanäle ; 
in  den  Knochen  nur  selten  reine  Lochschüsse ,  viel  mehr  ausgedehnte 
Zersplitterungen. 

Auch  auf  den  Winkel,  in  dem  das  Geschoss  auftrifft,  kommt 
es  an.  Trifft  die  Kugel  rechtwinklig  auf,  so  macht  sie  —  selbst  im 
Knochen  —  meist  glatte  Lochschüsse.  Schlägt  sie  unter  einem  stumpfen 
Winkel  auf,  so  folgen  Zersplitterungen,  oft  auch  förmliche  Abreissungen 
einzelner  Theile. 

Ganz  besonders  entscheidend  aber  ist  die  lebendige  Kraft, 
mit  der  das  Projectil  einwirkt;  hiefür  ist  zunächst  wichtig  die 
grössere  oder  kleinere  Percussionskraft  des  Gewehres,  Dann  aber  kommt 
es  hier  namentlich  auf  die  Entfernung  an,  aus  der  der  Schuss  abge- 
geben ist.  Je  längeren  Weg  die  Kugel  beim  Auftrefifen  aufs  Ziel  bereits 
zurückgelegt  hat ,  um  so  mehr  lebendige  Kraft  ist  durch  den  Wider- 
stand  der  Luft  verzehrt ,    mit   um  so  geringerer  Kraft  schlägt  sie  auf. 

Man  hat  für  das  alte Weichbleigeschoss  4  Zonen  unterschieden.  Bei  Schüssen 
aus  nächster  Nähe  (bis  zu  20  Schritt)  lässt  sich  meist  eine  glatte,  der  Grösse  des 
Projectils  entsprechende  Einschussöffnung  beobachten;  die  Ausschussöffnung  ist  dagegen 
um's  Vielfache  grösser;  der  Schusscanal  ist  ein  Aveiter  Trichter,  dessen  schmale  Spitze 
der  Einschuss  ist.  Die  Wirkung  ist  eine  explosionsartige.  Ob  es  sich  hier  um 
hydraulische  Pressung  (Kochet^)  oder  Schmelzung  (Busch)  handelt,  so  dass  die  Kugel- 
spUtter  dann  wie  eine  sich  kegelförmig  zerstreuende  Schrotladung  -wirkten,  ist  nicht 
sicher  erledigt.  Man  hat  auch  daran  gedacht,  dass  der  Kugel  eine  Schicht  Luft  voran- 
gehe, welche  innerhalb  des  Körpers  dann  explosiv  wirke.  Diese  Ansicht  ist  dann  in's 
Gebiet  der  Fabel  verwiesen.  Doch  hat  in  neuester  Zeit  Mach  einen  der  Kugel  voraus- 
gehenden Luftwirbel  auf  dem  Wege  der  Momentphotographie  nachgewiesen. 

Dann  kommt  als  2.  Zone  die  der  Loch  eisenschüsse ,  wo  das  Projectil  mit 
intensiver  lebendiger  Kraft  einwirkt.  Diese  Zone  ging  nach  Langenbeck's  Schätzungen 
bis  zu  ungefähr  400  Schritt  Entfernung.  Die  Kugel  durchdringt  vermöge  ihrer  hohen 
Geschwindigkeit  die  Gewebe  glatt  und  scharf,  ohne  die  Umgebung  wesentlich  zu  er- 
schüttern oder  zu  zersplittern.  Es  entstehen  AVunden ,  so  scharfrandig ,  wie  mit  dem 
Locheisen  geschlagen. 

In  der  3.  Zone,  jenseits  400  Schritt,  finden  sich  Schüsse  mit  mittlerer  Ge- 
schwindigkeit des  Geschosses;  oder  solche,  wo  dieses  unter  einem  stumpfen  Winkel  — 
dann  also  nur  mit  einem  Theil  seiner  lebendigen  Kraft  —  einwirkt.  Hier,  wo  die  Bahn 
des  Geschosses  nicht  mehr  eine  so  rasante  ist,  wo  Seitenbewegungen,  Flattern  u.  s.  w. 
regelmässig  mitwirken ,  hat  man  grössere  Zerstörungen  mit  unregelmässigen  Schuss- 
canälen ,  seitlichen  Ablenkungen  der  Geschosse  („Deviationen")  durch  Knochen  oder 
gespannte  Fascien,  Splitterungen  durch  seitliches  oder  tangentiales  Auftreffen  und  bei 
weichen  Geschossen  Deformirungen  des  Geschosses  mit  ihren  Folgen,  Zerreissungen, 
Zerquetschungen  und  Zersplitterungen.  In  diese  Zone  fallen  im  Felde  die  meisten 
Verletzungen. 

In  der  letzten  Zone,  wo  die  lebendige  Kraft  des  Geschosses  im  Erlöschen 
ist,  handelt  es  sich  meist  nur  noch  um  stumpfe  Quetschungen  und  Erschütterungen  der 
Gewebe,  ohne  wii'kliche  Wunden.  Das  Geschoss  ist  matt  und  macht  nur  noch  Prell- 
schüsse. Geschosse,  Avelche  schon  anderwärts  aufgeschlagen  (Mauern  u.  s.  f.)  und  seit- 
lich abgelenkt  sind,  machen  auch  oft  (aber  keineswegs  immer)  Prellungen  (Ricochet- 
schüsse). 

Die  Ergebnisse  von  P.  Bt^uns  (u.  A.  Langenbeck's  Archiv,  44),  die  mit  ..abge- 
brochener" verringerter  Pulverladung  gewonnen  waren,  hatten  zu  der  Annahme  geführt, 
dass  das  mit  erheblich  grösserer  lebendiger  Kraft  wirkende  Hartgeschoss  (Mantel- 
geschoss)  mehr  Lochschüsse  mit  engem  Schusscanal  ohne  oder  mit  geringer  Spreng- 
Avirkung,  dass  es  mehr  einfache  glatt  heilende  Schusscanäle  mache  und  somit  humaner 
sei.  Die  neueren  Untersuchungen  von  v.  Coler,  Kocher,  Demosfene,  Schjerning  u.  A. 
haben  diese  Ansicht  nicht  bestätigt.  Einige  von  mir  beobachtete  Schüsse  aus  nächster 
Nähe  (Selbstmörder)  schienen  durch  ihre  enge  Ein-  und  Ausschussöffnung  und  glatte 
Heilung  die  Bruns'sc\\&  Ansicht  zu  bestätigen  ,  ebenso  fand  Tharra  (vergl.  Chir. 
Centralbl.,  1895,  Nr.  20)  im  chilenischen  Bürgerkriege  meist  saubere  glatte  Schuss- 
canäle; in  den  Ep:phj'sen  oft  reine  Lochschüsse,    sehr  wenig  Verletzungen    der  grossen 


Verletzangen  durch  grobes  (Tescliütz.  478 

Arterien  und  selir  wenig  primäre  und  secundäre  Blutungen.  Aelnilich  spricht  sich 
Bohoscieivicz  aus  (Wiener  med.  Presse.  1892,  Nr.  35)  über  die  Wirkungen  des  Mann- 
lichergewehrs  (8  Mm.)  in  der  Nähe. 

Nach  Hahart  (Wiener  med.  Presse,  1892,  Nr.  29)  sind  auch  beim  Mannlicher- 
gewehr  4  Zonen  zu  unterscheiden :  die  erste  bie  500  M.  mit  explosiver  Wirkung,  die 
zweite  bis  1200  M.  mit  glattwandigen  Lochschüssen,  die  dritte  bis  1800  M.  mit  Split- 
terung und  Zerreissungen .  die  vierte  bis  2600  M.  mit  Fissuren  im  Knochen  oder 
Erschütterung  des  Knochens,   Weichtheilwunden  u.  dergl. 

Die  umfassendsten  Studien  über  die  Wirkung  des  modernen  Kleincalibergewehres  hat 
^oc/«er  angestellt  (1895).  Neben  der  Durchschlagswirkung  (in  der  Richtung  der  Bewegung 
des  Geschosses)  ist  zu  beachten  die  Seitenwirkung  (senkrecht  hierauf).  Die  Seitenwirkung, 
die  zur  Sprengung  führen  kann,  ist  in  ihrer  Wirkung  abhängig  von  der  physikalischen 
Beschaffenheit  des  Ziels;  die  Sprengung  fehlt  eigenilich  nur  bei  elastischen  Geweben. 
Je  härter  und  spröder,  um  so  grösser  die  Sprengwirkung,  die  Splitterung.  Doch  erhält 
man  auch  in  sehr  wasserhaltigen  Zielen  (Muskeln)  Sprengwirkung.  Die  Deformation 
des  Geschosses  ist  zur  Sprengwirkung  ganz  unnöthig.  Jedeufalls  ist  ein  nicht  deformi- 
rendes  Geschoss  hnraaner.  Verstärkung  des  Mantels  und  Verkleinerung  des  Calibers 
werden  die  Sprengwirkung  weiter  vermindern.  —  Kocher  erhielt  bei  Schüssen  in  mit 
Wasser  gefüllte  Granaten  einen  Druck  im  Wasser  von  42(!)  Atmosphären. 

Die  Verletzungen  durch  grobes  Geschütz  unterscheiden  sich 
in  manchen  Punkten  von  denen  durch  das  Kleingewehr. 

Die  Granaten  sind  Hohlgeschossc  aus  gusseisernem  Mantel,  die. 
mit  Sprengladung  gefüllt,  in  eine  Anzahl  Splitter  zerspringen.  Die 
Shrapnels  enthalten  Bleikugeln,  Sprengladung  und  Zünder;  sie  platzen 
vor  dem  Feinde  und  überstreuen  ihn  mit  Bleikugeln,  deren  Wirkung 
der  von  Infanterjegcschossen  analog  ist.  Kartätschen,  von  der  Artillerie 
beim  Nahkampf  abgegeben,  streuen  Zink-  oder  Eisenkugeln  gegen  den 
Feind.  Aehnlich  wirken  die  Mitrailleusen. 

Die  Granatsplitter  machen,  schon  wegen  ihrer  Grösse  und  unregel- 
niässigen  Form,  umfangreichere  und  ungleichmässige  Verletzungen.  Matt 
und  breit  aufschlagend,  können  sie,  oft  sogar  ohne  äussere  Wunde, 
den  getroffenen  Körpertheil  zu  Mus  und  Brei  zerquetschen  oder  sie 
reissen  grosse,  weite  und  buchtige  Wunden  oder  trennen  Glieder  selbst 
ganz  ab.  Im  Ganzen  kann  man  sagen,  dass  die  Verletzungen  durch 
grobes  Geschütz  sich  —  wegen  ausgedehnter  tiefer  und  innerer  Ver- 
änderungen —  meist  schliesslich  als  schwerer  herausstellen,  als  der 
erste  Eindruck  glauben  macht.  Auch  umfängliche  Abwälzungen ,  z.  B. 
der  Haut   von   der  Fascie  (Decollement)    kommen    vor   (siehe  pag.  97). 

Schrotschüsse,  wobei  die  aus  kleinsten  Kugeln  bestehende  Ladung 
von  der  Mündung  an  kegelf<)rmig  auseinandergestreut  wird,  machen 
nur  aus  nächster  Nähe  (Selbstmörder)  umfangreiche  Zerstörungen. 
Schon  bei  20  Schritt  Entfernung  durchdringen  sie  kaum  noch  Kleidung 
und  Haut. 


Von  den  \\'ciclithcil Verletzungen  sind  zunächst  die  der  Haut 
zu  erwähnen. 

Die  Trell schlisse  der  Haut  machen  eine  Quetschung  mit  Blut- 
unterlaufung  In  schwereren  Fällen  kann  es  zu  einem  bedeutenden 
subcutanen  Blutcrguss  kommen.  Die  geciuetschte  Partie  wird  oft  nekrotisch 
und  verfällt  dann .  wenn  Infection  durch  aseptische  Behandlung  ver- 
mieden wird,  (lein  irockenen  Brand  (Mumitication.  siehe  pag.  42).  Nach 
einigen  Wocln-n  löst  sich  der  Schorf  und  eine,  oft  recht  derbe  Narbe 
bleibt  zurück.  l'ritVt  das  Geschoss  unter  einem  sehr  stumpfen  Winkel 
oder  tan":cntial  auf.  so  entstehen  St  rc'l'sch  iissc  mit  r  in  ncnfiirmigen 


474  ^I^-  Capitel.  —   KraiiklieitcH  dej'  Kiioclicu  uiiil  Gelenkt. 

Wunden.  Es  können  so  auch  Stücke  ^-anz  abgerissen  werden  oder 
lappentormige  Wunden  (sielie  pag-.  88j  sich  bihlen.  Durclidringt  das 
Geschoss  die  Haut,  so  kann  es  einen  unter  der  Haut  hinhiufeiidcn  Canal 
bilden,  der  nicht  in  die  Tiefe  dringt,  Haarseilschuss  oder  Ringel-, 
Contourschuss ,  wenn  der  Schuss  einen  Knochen  oder  den  Thorax, 
Hals  u.  s.  f.  eine  Strecke  weit  umkreist  und  dann  die  Kugel  liegen 
bleibt  oder  austritt. 

In  weitaus  den  meisten  Fällen  dringt  die  Kugel  in  die  Tiefe  und 
tritt  auf  der  andern  Seite  des  Körpers  wieder  aus.  Man  hat  einen 
perforirenden    Schusscanal    mit    Eingangs-   und    Ausgangs  Öffnung. 

Die  Frage  über  die  unterscheidenden  MerkmalederEin-undAusgangsüffnung 
ist  viel  erörtert  worden.  Sie  ist  für  den  Gericlitsarzt  wichtiger  als  für  den  Militärarzt  und  die 
Behandlung.  Im  Allgemeinen  ist  die  Eingangsöffnung  die  grössere  und  mehr  gequetscht, 
während  die  Ausgangsöfihung  kleiner  und  mehr  eine  Risswunde  ist.  An  der  Eintritts- 
stelle wird  die  Haut  gegen  die  Unterlage  (Knochen,  gespannte  Fascie)  contundirt ;  am 
Ausgang  wird  die  Haut  von  der  Kugel  zeltförmig  ausgestülpt  und  an  der  Spitze  des 
Kegels  durchrissen.  Ist  die  Kugel  deformirt  oder  werden  Knochenstücke  mit  heraus- 
gerissen, so  kann  die  Ausgangsöffnung  auch  eine  grössere,  uuregelmässige,  oft  stern- 
förmige Eisswunde  sein.  Der  Entstehungsweise  entsprechend  kann  die  Eingangsöffnung 
vertieft,  die  Ausgangswunde  kegelförmig  ausgebuchtet  sein.  Bei  Naheschüssen  (Selbst- 
mörder) ist  die  Umgebung  des  Einschusses  verbrannt,  geschwärzt  oder  sind  gar  Pulver- 
körnchen eingetrieben. 

Fehlt  die  Austrittsöfifnung,  so  spricht  man  von  blinden  Schuss- 
canälen.  Während  ein  solcher  Canal  das  eine  Mal  ausser  der  Kugel 
noch  Fetzen  der  Kleidung,  Montourstücke  u.  s.  w.  enthält,  kann  ein 
anderes  Mal  die  Kugel  herausgefallen  oder  durch  die  nicht  zerrissene, 
nur  eingestülpte  Kleidung  (bei  matten  Schüssen)  wieder  herausge- 
zogen sein. 

Hat  der  Schuss  die  Haut  durchdrungen,  so  macht  er  oft  im 
lockeren  Unterhautzellgewebe  ziemlich  ausgedehnte  Zerreissungen, 
selbst  taschenartige  Ablösungen  (oder  Haarseilschüsse).  In  die  Fascien 
tritt  er  meist  mit  sehr  kleinem  spaltförmigem  Riss  ein ,  den  man  oft 
bei  der  Untersuchung  mit  dem  Finger  nur  schwer  findet.  Im  weichen 
Muskel  sind  die  Zerstörungen  wieder  umfänglicher,  und  wenn  der 
Muskel  im  Zustande  der  Contraction  getroffen  war,  kann  der  Verlauf 
des  Canals  ein  sehr  unregelmässiger,  treppenförmiger,  scheinbar  unter- 
brochener sein.  Gefässe  und  Nerven  können  einer  matten  Kugel 
ausweichen ;  eine  Kugel  mit  mittlerer  lebendiger  Kraft  zerreisst  sie, 
indem  es  die  Gefässwand  zugleich  quetscht  und  zusammenrollt ,  so 
dass  das  Lumen  zunächst  verlegt  wird.  Dies  ist  auch  der  Grund, 
warum  die  meisten  Schusswunden  zu  Anfang  so  wenig  bluten ,  weil 
die  Gefässlumina  zugepresst  werden.  Selbstverständlich  i^ann  eine  solche 
Gefässwand  später  nekrotisch  werden  und  dann  die  Blutung  eintreten, 
wenn  nicht  Verlöthung  einstweilen  eingetreten  (secundäre  Blutungen). 
Die  häufigsten  Spätblutungen  bei  Schüssen  beruhen  aber  auf  Infection, 
wo  die  verletzte  Wand  durch  Mikroorganismen  erweicht  wird  und  die 
grösste  Zahl  der  Blutungen  ist  pyämischer  Natur  (siehe  pag.  152).  Kugeln 
mit  sehr  grosser  lebendiger  Kraft  (moderne  Kleincaliberprojectile) 
können  Gefässe  fast  so  scharf  durchtrennen ,  wie  ein  Messer  —  hier 
kann  die  Blutung  dann  enorm  werden.  Die  Annahme  Kocher's  u.  A., 
dass  das  Kleinkalibergeschoss  vermöge  seiner  kolossalen  Geschwindig- 
keit die  Arterien  häufiger  verletzen  werde,  weil  sie  ihm  nicht  mehr 
ausweichen  kiJnnen,  steht  mit  den  praktisclien  Erfihnmgen  (sielie  pag.  472, 


Weichtlieilschüsse.  Kuoclienschüsse. 


475 


Fig. 403 


Ybarm)  nicht  im  Einklang'.  Sehnen  weichen  meist  den  Kugeln  aus 
oder  lenken  sie  ab;  hin  und  wieder  werden  sie  auch  an  der  Insertion 
abgerissen. 

Erreicht  das  Geschoss  den  Knochen,  so  kann  es  zunächst  bei 
einer  Knochenquetschung  —  mit  oder  ohne  sichtbaren  Eindruck 
in  der  Rinde  —  bewenden.  Dabei  hat  allerdings  meist  zugleich  eine 
Erschütterung  des  Knochens  stattgefunden  und  das  Mark  ist  von 
grösseren  oder  kleineren  Blutergüssen  durchsetzt.  Bei  aseptischem  Ver- 
lauf kann  die  Sache  mit  einer  geringfügigen  Periostitis  ossificans 
traumatica,  die  einen  kleinen  Callus  erzeugt,  abgethan  sein;  kommt 
Infection  hinzu ,  so  verfällt  das  durch  die 
Verletzung  halb  abgetödtete  Knochenmark 
sehr  leicht  der  Infection ,  es  folgt  eine 
schwere  diffuse  eitrige  Osteomyelitis  und 
wenn  der  Eiter  nicht  zeitig  x4.bfluss  be- 
kommt, kann  das  ganze  Glied  verloren 
gehen  (Amputation)  oder  gar  das  Leben 
durch  Pyämie  bedroht  sein. 

Manchmal  läuft  die  Kugel  auch  am 
Knochen  entlang  und  hinterlässt  eine 
Seh  u  SS  rinne.  Oder  die  Kugel  dringt  in 
den  Knochen  ein,  macht  einen  Lochschuss 
und  bleibt  darin  stecken  (blinder  Schuss- 
canal).  Meist  gehen  von  der  Einschuss- 
ötiuung  eine  Anzahl  Fissuren  aus.  Ein 
solcher  Fall  (Lochschuss  der  Tibia)  ist  in 
Fig.  403  abgebildet.  Sehr  hübsch  sind  die 
in  der  Markhöhle  eingedrückten  Splitter 
der  Rinde  zu  sehen. 

Ein  anderes  Mal  macht  die  Kugel 
einen  penetrirenden  Lochschuss  ohne 
Splitterung;  ein  glatter  Canal  durchsetzt 
den  Knochen. 

In  weitaus  den  meisten  Fällen  jedoch 
gellt  es  bei  Knocheiischüssen  nicht  ohne 
ausgedehnte  Fissuren  und  grössere  oder 
kleinere  Splitterungen  ab.  Bald  wird 
durch  die  Kugel ,  namentlich  wenn  sie 
seitlich  aufschlägt,  ein  Stück  vom  Knochen 
abgcsidittert  (zum  Beispiel  ein  Condylus), 
ohne  dass  dabei  die  Continuität  des  Knochens  unterbrochen  wird. 
Häutiger  entsteht  eine  wirkliehe  Aufhebung  des  Zusannnenhanges,  eine 
Schussfractur.  Die  Schussfracturen  zeigen  im  grossen  Ganzen  den 
Charakter  complicirter  Facturen  (siehe  i)ag.  443).  Seltener  handelt  es 
sich  um  einen  einfachen  (^nerbrncli.  meist  sind  es  Stück-,  noch  häufiger 
Splitterbrüche,  oft  förmliche  Zertriinnncrungen  des  ganzen  getroffenen 
Knochens.  Die  Verletzung  der  Weiclitlieile  steht  dabei  oft  gar  nicht 
im  \erliältniss  zu  der  des  Knochens;  ein  einfacher  riUn-enförmiger 
Schusscanal  der  Weiclitlieile  kann  mit  einer  totalen  Zersjilittening  eines 
ganzen  Ritlircnkiiocliens  verknüpft  sein.  Ebenso  kann  das  Scli;i(h'l(lach 
in  liniidcrt  Stücke  zersprungen  und  dabei  nur  eine  unbedeutende  Haut- 


476  V^I-  Capitel.   —  Kranklieiten  der  Knoclieii   und  Gelenke. 

wunde  vorhanden  sein.  Doch  kann  es  sich  auch  oft  umgekehrt  verhalten, 
w^ie  wir  das  schon  bei  den  complicirten  Fracturen  pag.  446  crwälinten, 
dass  das  Schicksal  eines  Gliedes  oft  mehr  durch  umfängliche  Weichtheil- 
verletzungen  (Gefässe,  Nerven,  Gefahr  der  Gangrän)  bedroht  wird,  als 
durch  den  Zustand  des  Knochens. 

Besonders  schwer  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  Gelenk- 
schüssen. Zwar  kann  eine  Kugel  selbst  durch's  Kniegelenk  (in  Beugung) 
in  seltenen  Fällen  ohne  Knochenverletzung  schlüpfen.  Meist  aber  ent- 
stehen umfangreiche  Zerstörungen  und  Absplitterungen  an  den  Gelenk- 
körpern. Natürlich  kommt  es  sogleich  zu  einem  Bluterguss  in's  Gelenk 
und  in  vielen  Fällen  später  auch  zur  Gelenkeiterung  (s.  complicirte  Ge- 
lenkfracturen  (pag,  467)  und  Gelenkeiterungen). 

Der  Behandlung  der  Sehusswunden  muss  eine  möglichst  genaue 
Diagnose  zu  Grunde  liegen.  Hier  gilt  jedoch  als  oberste  Regel,  an 
einer  frischen  Schusswunde  sowenig  als  möglich  mit  Finger 
oder  Sonde  zu  manipuliren.  Man  ist  nur  zu  einer  solchen  Unter- 
suchung berechtigt,  wenn  man  einen  weiteren  Eingriif  (Incision 
einer  Secretverhaltung  u.  dergl.)  unmittelbar  darauf  zu  gründen  hat 
oder  wenn  eine  sichtbare  Gefahr  des  Verletzten  zum  Eingreifen 
drängt.  Fehlen  irgendwie  bedrohliche  Erscheinungen  (Fieber,  Eiterver- 
haltung, beginnende  Blutungen  u.  s.  w.) ,  so  ist  die  Sondirung  ver- 
boten. Eine  Finger-  oder  Sondenuntersuchung  ist  als  ein 
verantwortungsvoller  Eingriff  anzusehen  und  selbstverständ- 
lich nur  unter  allen  antiseptischen  Cautelen  auszuführen. 
Am  besten  schliesst  man  die  etwa  nöthige  Operation  sofort  an.  —  Was 
wir  bei  der  Beurtheilung  einer  Schusswunde  wissen  möchten ,  ist  zu- 
nächst Verlauf  des  Schusscanals  und  Ausdehnung  der  Verletzungen 
in  der  Tiefe  und  zweitens,  ob  Fremdkörper  (Kugel,  Kleidungsstücke) 
im  Schusscanal  stecken.  Die  mit  Recht  verpönte  Sondenuntersuchung 
würde  meist  nur  ein  ungenügendes  Resultat  ergeben.  Man  kommt 
in's  Unterhautzellgewebe,  aber  —  da  der  Schusscanal  keine  gleich- 
massige  Röhre  ist  —  oft  nicht  durch  den  engen  Fascienschlitz  in  die 
Tiefe.  Man  hat  so  gut  wie  nichts  erfahren,  aber  vielleicht  die  Wunde 
beim  Sondiren  inficirt  und  den  Kranken  allen  Gefahren  der  Infection 
(Eiterung,  Pyämie)  ausgesetzt. 

Wüsste  man  stets,  in  welcher  Körperhaltung  der  Verletzte 
den  Schuss  erhalten,  so  Hesse  sich  der  oft  ganz  wunderbare  Ver- 
lauf des  Schusses  schon  eher  berechnen.  Man  muss  stets  daran  denken, 
dass  ein  Schuss  im  Liegen,  in  gebückter  Stellung,  im  Anschlag,  im 
Stehen,  ganz  verschiedene  Schusscanäle  machen  muss,  bei  gleicher 
Einschussstelle  (siehe  pag.  89  bei  Stichverletzungen). 

Die  Diagnose  von  Verletzungen  innerer  Organe  —  Gehirn, 
Lunge,  Herz,  Eingeweide  des  Unterleibes  u.  s.  f.  —  macht  man  ans  der 
Lage  des  Ein-  und  Ausschusses  und  den  eintretenden  Störungen  seitens  des 
betreffenden  Organs  (Blutspucken,  Athemnoth,  Peritonitis,  Blutharnen, 
Dämpfnngserscheinungen  der  betreffenden  Gegenden  u.  s  w.) ,  wobei 
man  sich  stets  daran  erinnern  mnss ,  dass  der  wirkliche  Schusscanal 
keineswegs  immer  die  geradlinige  Verbindung  von  Ein-  und  Ausschuss 
ist  (Contourschüsse).  Für  die  Erkennung  von  Knochenverletzungen,  d.  h. 
Fracturen,  gelten  alle  (pag.  423  ff.)  mitgetheilten  Normen. 


Verlauf  der  Schusswuudeu.  477 

Perforirende  Schüsse,  mit  Ein-  und  Ausschuss ,  werden  natürlich 
seltener  Fremdkörper  enthalten,  als  blinde  Schusscanäle.  Doch  auch 
aus  diesen  kann  das  Projectil  von  selbst  wieder  ausgetreten  sein.  Wichtig 
ist ,  sich  die  Kleidung  des  Verletzten  genau  anzusehen ;  zeigt  diese 
nur  schlitzförmige  Löcher,  so  ist  vermuthlich  nichts  davon  in  der 
Wunde ;  finden  sich  grössere  Substanzverluste ,  so  ist  es  eher  wahr- 
scheinlich, dass  etwas  von  den  Kleidern  mit  hineingerissen  ist. 

Für  die  Behandlung  der  Schusswunden  ist  das  ^±  und  Cl 
peinlichste  Antisepsis.  Im  Uebrigen  gilt  die  Regel:  Nimmer  zu  viel. 
Allzugrosse  Geschäftigkeit  würde  dem  Verletzten  mehr  schaden  als  nutzen. 

Ueber  den  pathologiscli-anatomischen  Charakter  der  Schusswaiiden  ist  viel  ge- 
stritten worden.  Es  ist  bekannt,  dass  man  bis  Ambroise  Pare  die  Schusswanden  für 
vergiftet  hielt  und  mit  kochendem  Oel  ausbrannte.  Nachher  rechnete  man  die  Schuss- 
wnnden  zu  den  Brandwunden;  heutzutage  rechnet  man  die  Schusswunden  zu  den 
Eissquetschwunden  und  gelten  für  sie  daher  auch  die  pag.  95  aufgestellten  Eegeln. 

Der  Verlauf  der  Wunde  ist  nun  wesentlich  von  dem  Grade  der 
Quetschung  abhängig.  Bei  manchen  Wunden  ist  sie  so  gering,  dass  sie 
glatt ,  wie  Schnittwunden ,  per  primam  intentionem  heilen.  Die  ge- 
quetschten Theile  verfallen  der  Resorption ,  die  ja  auch  die  schmale 
Quetschungsschicht  bei  Schnittwunden  aufsaugt  (siehe  pag.  69).  Bei 
umfänglicheren  Quetschungen  kann  natürlich  Abstossung  nicht  ausbleiben, 
doch  darf  es  auch  hier  nicht  zur  Infection  und  zur  Abstossung  mit 
Eiterung  kommen,  sondern  nur  zum  aseptischen  Brand  und  zur  asep- 
tischen Abstossung.  Dies  zu  erreichen  ist  die  Aufgabe  des  Arztes. 

Nur  ein  Theil  der  Schusswunden  —  wo  sehr  viel  Fremdkörper, 
Kleidungsstücke,  Erde  u.  s.  f.  darin  sind  ~  sind  vom  Anfang  an  als 
inficirt  zu  betrachten,  die  Kugel  selbst  ist  nicht  als  Infectionsträger 
anzusehen.  Die  Wunden  der  Selbstmörder,  welche  die  Pistole  meist 
auf  die  nackte  Haut  setzen,  sind  fast  immer  aseptisch.  Es  ist  also 
eine  Desinfection  des  Schusscanals  in  seiner  ganzen  Länge  durch  forcirte 
antiseptische  Einspritzungen  ebenso  unnöthig  wie  aussichtslos  (vergl. 
pag.  209).  Es  genügt  nach  sorgfältiger  Reinigung  der  Umgebung,  die 
Wunde  mit  einem  dauerhaften  Antisepticum  zu  decken,  am  besten  mit 
Jodoformpulver  zu  bestreuen  und  einen  antiseptischen  Deckverband  — 
Jodoform-  oder  Sublimatgaze  —  darüber  gut  zu  befestigen.  Ein  beträcht- 
licher Theil  der  Schusswunden  heilt  unter  dem  Schorf,  glatt, 
ohne  weitere  Störungen,  im  Verlauf  von  4 — 6  Wochen.  Ist  der  Schusscanal 
weifer  und  der  Verdacht  auf  einen  Fremdkörper  etc.  vorhanden,  so 
schiebt  man  ein  Drainrohr  so  weit  ein,  als  es  ohne  Gewalt  geht,  und 
verfährt  im  Uebrigen  ebenso.  Die  Schusswunden  zu  nähen  (Langcnbuch) 
dürfte  kaum  Vortheile  bieten ;  der  aseptische  Occlusionsverband  schützt 
die  Wunde  so  sicher  wie  die  Naht  und  führt  nicht  zur  Vcrhaltung  von 
Wundfilissigkeiten.  c.  Ben/tnaiiu  und  Bet/her  haben  im  letzten  russisch- 
türkischen Krieg  auch  sehr  gute  Heilungen  unter  dem  feuchten  Blut- 
schorf gesehen. 

Die  Extraction  der  Kugel  unmittelbar  nach  der  Verletzung  ist 
nur  dann  gestattet,  wenn  dieselbe  ohne  grösseren  Eingriff  und  leicht 
entfernt  werden  kann.  Auf  keinen  Fall  darf  zu  diesem  Zweck 
die  Wunde  der  Gefaiir  einer  Infection  ausgesetzt  werden. 
Aber  auch  in  inficirten  —  z.  B.  mit  Koth  Ijeschmutzten  Wunden  darf 
nicht  umhergewühlt  werden,  um  die  Kugel  zu  suchen.    In  erster  Linie 


478  ^11-  Capitel.   —  Krankheiteji  der  Knochen  und  Gelenke. 

ist  die  Wunde  aseptisch  zu  machen  (ver^l.  pa^'.  208 j.  —  Bliitung-en.  die 
übrigens  bei  Schuss wunden  namentlich  im  Anfang  nicht  sehr  liäufig 
sind,  verlangen  Compression  oder  Unterbindung  mit  Freilegung  des 
Gefässes  (siehe  pag.  100).  Fracturen  müssen  geschient  und  gelagert 
werden  (siehe  pag.  434)  u.  s.  w.  Die  Vorschriften  über  die  Behandlung 
innerer  Verletzungen  sind  in  der  speciellen  Chirurgie  nachzusehen. 

Der  Schmerz  ist  bei  Schussverletzungen  im  Anfang  oft  auffallend 
gering.  Im  Gegen  theil,  es  ist  oft  rings  um  die  Schuss  wunde  herum  ein 
Bezirk ,  wo  Schmerz-  und  Tastempfindung  fast  ganz  aufgehoben  sind 
(„localer  Wundstupor").  Bei  Verletzungen  von  Nerven,  Gelenken  u.  s.  f. 
kann  eine  Morphiuminjection  nöthig  werden.  —  Zustände  von  Shock 
sind  bei  Schussverletzungen,  namentlich  bei  solchen  durch  grobes  Geschütz, 
nicht  selten  (pag.  127  ff.). 

Störungen  des  Wundverlaufes  sind  bei  Schussverletzungen 
überaus  häufig.  Diese  sind  seltener  bei  den  Friedensverletzungen  ,  die 
von  Anfang  an  in  genügender  Behandlung  und  guter  Pflege  sind  und 
meist  glatt  heilen,  als  bei  den  Kriegsverletzungen,  wo  in  dem  Gedränge 
der  Schlachten  Mittel  und  Kräfte  des  ärztlichen  Personals  oft  den  auf 
sie  einstürmenden  Anforderungen  nicht  gewachsen  sind.  Es  sind  im 
Wesentlichen  all  diejenigen  Störungen,  die  bei  den  Quetschwunden 
pag.  96  ff.  und    den    complicirten  Fracturen    pag.  443    geschildert  sind. 

Die  Verletzung  grosser  Gefässe  kann,  wenn  die  gequetschte  Ge- 
fässwand  nekrotisch  wird,  zu  schweren  Blutungen  führen;  oder  es 
kommt  zur  Thrombose  der  Gefässe  und  damit  unter  Umständen  zur 
Gangrän.  —  Häufig  werden  hartnäckige  Oedeme  beobachtet. 

Die  meisten  Abweichungen  von  dem  normalen  Verlauf  beruhen 
auf  Infection. 

Zunächst  kann  —  statt  der  Heilung  unter  dem  Schorf,  die  die 
ideale  Heilungsweise  der  Schusswunde  ist  —  Eiterung  eintreten. 
Beschränkt  sich  die  Eiterung  auf  den  Schusscanal,  ohne  dass  die  um- 
gebenden Weichtheile  wesentlich  entzündet  sind,"  so  wird  der  Canal  — 
vielleicht  nachdem  einige  necrotische  Fascienfetzen  u.  dergl.  abgestossen 
sind,  sich  auch  schliessen,  aber  statt  in  4 — 6  Wochen  in  3 — 4  Monaten. 
Besteht  die  Eiterung  längere  Zeit  fort,  schiessen  namentlich  an  der  Fistel- 
öffnung üppig  wuchernde  knopfförmig  vorragende  Granulationen  an,  so 
kann  man  mit  ziemlicher  Gewjssheit  annehmen,  dass  ein  Fremd- 
körper —  Kugel,  Kleidungsstück,  ein  Stück  todter  Knochen  (Sequester) 
darin  steckt.  Es  können  aber  nicht  blos  Kugeln  (namentlich  Schrot-  und. 
Revolverkugeln)  einheilen ,  auch  Monturstücke  heilen  mitunter  ein.  So 
konnte  ich  beobachten,  wie  ein  Stück  einer,  allerdings  fast  neuen 
Tuchhose  in  einer  Wunde  des  Bauches  neben  der  Blase  (Duellver- 
letzung) allmählich  von  Granulationen  durch w^achsen  wurde  und  einheilte. 
Da  der  Fetzen  leichtem  Zug  nicht  folgte,  Hess  ich  ihn  sitzen,  um  nicht 
etwa  wichtige  Verlöthungen  zu  zerreissen. 

Die  Annalime,  dass  die  Kugel  diu-cli  die  Hitze  steril  werde,  ist  widerlegt 
(M.  Fränhel,  PfiM).  Mit  Staphylokokken  inficirte  Kugeln  inficiren  regelmässig  die 
Gelatine,  die  von  ihnen  durchschossen  wird.  Auf  den  menschlichen  Körper  lassen  sich 
diese  Versuche  jedoch  nicht  ohne  Weiteres  übertragen.  M.  Fränkel  sah  mit  Staphylokokken 
inficirte  Stoffstückchen ,  Pfuhl  Stücke  von  getragenen  Soldatenkleidern  reactionslos  ein- 
heilen. Zum  Zustandekommen  von  Eiterung  scheinen  also  grössere  todte  Winkel  nöthig 
zu  sein.  (Vergl.  pag.  29  und  pag.  30.)  Nach  Karlinshi  (Centralbl.  f.  Bacteriol.,  1895, 
Nr.  4)  soll  das  alte  Weichblei  mehr  grössere  Fetzen   in  die  Wunde   hineinreissen ,    das 


Störungen  der  Heilung  bei  SchussAVundeii.  479 

Mantelgeschoss  den  ganzen  Schusscanal  mit  feinsten  (zur  Einheilung  mehr  geeigneten) 
Fasern  austapeziren.  Die  Vermuthung,  dass  Kleiderfetzen  in  die  Wunde  hereingerissen 
sind,  zwingt  also  nicht  dazu,  eine  frische  Schusswunde  als  inficirt  anzusehen  und  zu 
behandeln  (d.  h.  zu  erweitern).  —  Bleivergiftung  durch  eine  im  Knochen  stecken 
gebliebene,  in  kleine  Stücke  zersprengte  Kugel  hat  Küster  {Langenbeck's  Archiv, 
Bd.  43)  gesehen. 

Diese  längere  Zeit  eiternden  Fälle  sind  nun  diejenigen ,  wo  das 
Suchen  nach  der  Kugel  etc.  in  der  That  angezeigt  ist.  Ausser  den 
gewöhnlichen,  natürlich  stets  gut  desinficirten  Knopfsonden  wurde  hier 
viel  die  Nelaton^(^\\Q,  Kugelsonde  verwandt  —  eine  silberne  Sonde 
mit  einem  Porcellanknöpfchen  an  der  Spitze,  das  bei  Berührung  mit 
Blei  einen  grauen  Strich  erhält.  Complicirter  sind  die  elektrischen 
Kugelsncher  (Favre,  Bendorfer ,  Liebreich,  Wilde).  Das  beste  Mittel 
ist  der  gut  desinficirte  Finger,  wobei  man  eine  Erweiterung  des 
Canals  mit  geknöpftem  Messer,  so  dass  er  für  den  Finger  durchgängig 
wird,  nicht  zu  scheuen  braucht.  Findet  man  die  Kugel  in  der  Tiefe, 
so  wird  sie  am  besten  mit  der  amerikanischen  Kugelzange  ge- 
fasst  —  einer  sehr  schmalen  langarmigen  Zange,  deren  beiden  Enden 
sich  zu  hakenförmigen  Spitzen  umbiegen.  Häufig  genügt  auch  eine 
lange,  gut  geriefte  Kornzange.  Bei  dieser  Spätextra ction  braucht  man 
namentlich  an  den  Extremitäten  seitliche  Einschnitte  nicht  zu  scheuen, 
ebenso  ist  es  oft  nüthig,  die  etwa  im  Knochen  sitzende  Kugel  auszu- 
meisseln  und  hiezu  natürlich  den  Knochen  genügend  freizulegen  (in 
EsmarcJi' scher  Blutleere). 

Ist  die  Kugel  irgendwo,  entfernt  von  der  Wunde  unter  der  Haut 
deutlich  zu  fühlen,  so  kann  auf  dieselbe  eingeschnitten  und  sie  heraus- 
geholt werden.  Hier,  bei  den  Schussverletzungen,  feiert  die  BoentgerrschQ 
Entdeckung  ihre  grössten  Triumphe.  Selbst  im  Schädelinnern  gelingt 
es,  mit  Koentgenstrahlen  Kugeln  sichtbar  zu  machen.  Wo  man  über  die 
Tiefe,  in  der  die  Kugel  liegt,  durch  eine  Photographie  nicht  in's  Klare 
kommt,  empfiehlt  es  sich,  in  einer  zweiten .  auf  der  ersten  senkrecht 
stehenden  Ebene  nochmal  zu  durchleuchten  oder  zu  photographiren. 
Fig.  404  zeigt  eine  Kugel  nach  innen  vom  Oberarmkopf  in  der  Gegend 
der  Achselfalte  (zehnjähriger  Knabe). 

Häufig  beschränkt  sich  die  Eiterung  nicht  auf  den  Schusscanal, 
sondern  sie  nimmt  —  namentlich  bei  ausgedehnten  Quetschungen,  Zer- 
rcissungen  und  Knochenzertrümmerungen  —  von  Anfang  an  einen  mehr 
dilfusen  Charakter  an.  Die  ganze  Gegend ,  selbst  das  ganze  Glied 
schwillt  an  und  es  können  sich  die  bösartigsten  Formen  der  infectiösen 
Wundinfection  anschliessen,  wie  sie  pag.  96  geschildert  sind.  Dabei 
leidet  natürlich  das  Allgemeinbefinden,  Fieber  u.  s.  w.  treten  ein. 

Noch  verhältnissmässig  ungefährlich,  obgleich  oft  nur  die  Einleitung 
zu  schweren  Processen ,  sind  die  E i  t  e  r v  e  r h  a  1 1  u  n  g  e n  und  E  i  t  e r- 
senkungcn.  Oft  verlöthet  die  Schussöffhung  schnell,  während  in  der 
Tiefe  sich  Eiterung  entwickelt.  Die  Wunde  röthct  sich,  wird  schmerz- 
haft, schwillt  an.  es  tritt  Fiel)er  auf.  Der  Wundcanal  ist  zu  öffnen  und 
zu  drainiren  oder  auf  die  Verhaltung  einzuschneiden.  (Schnitt  durch 
die  Haut,  Eingehen  mit  spitzer  Kornzange  [siehe  pag.  96]  und  reichlich 
zu  drainiren.)  Der  Kranke  ist  s(»  lange  scharf  zu  hcol)a('htcn.  bis  die 
Temperatur  normal  ist.  I^eider  schlicsst  sich  an  solche  Fälle,  namentlich 
wenn  der   KniK-hen    und    die  Markhiihle    desselljcn    verletzt  ist.    häufig 


480 


vir.  Capitel.  —  Krankliuitcu  dor  Krjachi.'ii   und  Gidunkc. 


eitrige  Knochcnmarksentziindung-  (Osteomyelitis  purulcnta.  siehe  dort) 
an  und  an  diese  Pyämie,  deren  Erscheinungen  ich  pag.  150  geschildert. 

Andere  Male,  besonders  bei  Verletzungen  durch  grobes  Geschütz, 
führen  progressive  brandige  Processe,  Gangrene  foudroyante 
(pag.  157)  in  wenigen  Tagen  zum  Tode. 

Septikämie  ist  viel  seltener  als  Pyämie,  der  der  Löwenantlieil 
der  Todesfälle  bei  Kriegsverletzten  /ufällt. 


Fig.  404. 


Von  selteneren  Wundcomplicationen  sind  subcutanes  Emphysem 
(pag.  128),  Fettembolie,  Tetanus  zu  nennen. 

Delirium  tremens  (siehe  pag.  129)  ist  bei  den  meist  jugendliclien 
Soldaten  selten,  und  wird  eher  einmal  bei  älteren  Ofticicren  beobachtet. 
Dagegen  scheinen  Zustände  vorübergehender  geistiger  Störung,  welche 
an  das  Delirium  nervosum  gemahnen,  infolge  der  nervösen  Erregung 
der  Schlacht  schon  eher  beobachtet  zu  werden  (vergl.  pag.  132\ 


Statistik  über  Sclmssveiietzungen.  481 

Es  sei  hier  noch  etwas  Statistik  aus  dem  Feldzug  1870/71  mitgetheilt 
(nach  V.  Fetzer,  Eückblick,  Deutsche  Aerztezeitung,  1895). 

Von  98.233  ärztlich  behandelten  Verwundeten  fielen  96.437  auf  Schusswunden. 
Von  51.047  Verwundeten,  über  die  genaue  Angaben  gemacht  sind,  sind  9737  gestorben. 
Bei  2007  dieser  Gestorbeneu  ist  eine  accidentelle  Wundkrankheit  als  Todesursache  ver- 
merkt. —  An  Wundrose  erkrankt  sind  470,  davon  gestorben  87.  An  Hospitalbrand  und 
Wunddiphtherie  sind  erkrankt  206  mit  50  Todesfällen  (=  257o)-  Grangrene  foudroyante 
(acutes  Oedem)  ist  in  24  Fällen  beobachtet  mit  2  Fällen  von  Genesung.  An  Pyämie 
und  Septikämie  sind  1810  erkrankt,  davon  sind  48  geheilt  (Mortalität  97"47o)-  Diese 
Zahlen  dürften  wohl  alle  zu  niedrig  sein.  An  Wundstarrkrampf  erkrankten  350 ;  genesen 
sind  31  :=  8'87o-  Nur  0"37o  der  Verwundeten  erkrankten  an  Tetanus  (Krimkrieg  0  217o, 
amerikanischer  Secessionskrieg  0'137o)  italienischer  Krieg  von  1859  0'97o)-  Das  Zu- 
rückbleiben von  Fremdkörpern  in  der  Wunde  wirkte  begünstigend.  19'47o  d^i'  Tetanus- 
fälle betrafen  Granatschuss Verletzungen. 

5121  grössere  Operationen  wurden  wegen  Verwundungen  ausgeführt  (4009  an 
Deutschen,  1112  an  Franzosen),  darunter  3747  Amputationen  und  Esarticulationen  mit 
50'37i  Heilungen  (44'87o  Ausgang  unbekannt).  Die  Sterblichkeit  betrug  bei  Exarticulationen 
im  Handgelenk  007o!  Ellbogen  607oi  Schultergelenk  46'4''/o ;  Amputationen  im  Vorder- 
arm 36"37oi  ™  Oberarm  34'l*'/„.  —  Die  Esarticulation  im  Hüftgelenk  gab  1007o  Sterb- 
lichkeit, Knie  41'27o.  Fussgelenk  467o-  Die  Amputation  im  Oberschenkel  hatte  (1436  (!)- 
mal  ausgeführt)  65'57o)  i™  Unterschenkel  41"37o)  ™  Fuss  23'17o  Mortalität. 

1082  Gelenkresectionen  ergaben  o8'27o  Genesung,  40'37o  Sterblichkeit  (Rest 
unbekannt).  Von  den  Schultergelenksresecirten  genasen  56'67oi  Ellbogen  70'17o)  Hand- 
gelenk 69'47o ;  dagegen  starben  bei  Hüftgelenksresection  92'77o)  Knie  81'77oi  Fuss- 
gelenk 38'57o)  Mittelfuss  12'5°/o.  Die  häufigste  Todesursache  war  die  Pyämie. 

Unterbindungen  der  grossen  Ge fasse  wurden  509  Mal  gemacht; 
258mal  die  A.  femoralis  (Mortalität  78'37c).  81mal  die  Brachialis  (Mortalität  12'57o) 
31mal  die  Subclavia  (Mortalität  77'57o)i  28mal  die  Axillaris,  27mal  die  Carotis,  23mal 
die  Uiaca  (Mortalität  95'77o)-  i^ie  Gesammtmortalität  betrug  62"77o  (meist  Pyämie). 

Transfusion  wurde  15mal  gemacht.  Genesungsziffer  3  =  207o  i  Tracheotomie 
14(^?)mal  mit  28'67o  Genesenen. 

Auf  Verbandplätzen  und  in  Feldlazarethen  wurden  2941,  in  Kriegs-,  Cantonne- 
ments-  etc.  Lazarethen  471,  im  Ganzen  auf  dem  Kriegsschauplatz  3654  grössere  Operationen 
(Mortalität  41'77o)  gemacht,  in  Lazarethen  ^des  Inlands  nur  1505  (Mortalität  40"57o)- 
Die  Gesammtzahl  der  6661  operirten  Verwundeten  (4398  Deutsche ,  1263  Franzosen) 
ergab  eine  Mortalität  von  46"57n' 

Die  Zahl  der  den  Lazarethen  zugehenden  innerlich  Kranken  betrug  480.035, 
d.  h.  das  Fünffache  der  Verwundeten,  mit  einer  Sterblichkeit  von  14.904  Mann.  In 
andern  Kriegen  war  das  Verhältniss  ein  viel  ungünstigeres. 

Im  Felde  dürfte  die  Thätigkeit  des  unmittelbar  hinter  oder  in  der  Gefechtslinie 
befindlichen  Truppenarztes  eine  möglichst  beschränkte  sein  und  sich  nur  auf  Fälle 
directer  Lebensgefahr  —  Kehlkopfschüsse,  starke  Blutungen  —  beschränken.  Zum  Ver- 
binden hat  er  weder  Zeit  noch  Material.  Auf  den  Noth-  oder  Truppenverband- 
plätzen werden  die  Krauken  sortirt ,  die  transportabeln  mit  einem  antiseptischen 
Occlusiv verband  versehen  (Jodoform ,  Sublimatgaze) ,  dann  dringliche  Operationen 
(Tracheotomie ,  Unterbindung ,  Entfernung  von  Projectilen ,  die  in  lebenswichtigen 
Theilen  stecken  u.  s.  w.),  Morphiuminjectionen  u.  s.  f.  gemacht.  Auf  den  Hauptver- 
bandplätzen werden  die  Verwundeten  in  definitiver  Weise  fertig  gemacht;  schwere 
Knochenbriiche  antiseptisch  verbunden  und  geschient,  so  dass  sie  transportfähig  werden  ; 
grosse  Operationen  vorgenommen  u.  s.  w.  Von  hier  gehen  die  Kranken  in  die  F  e  1  d- 
und  Reservelazarethe  über.  Die  enorme  Tragweite  der  Kleincalibergascliosse ,  die 
Massenhaftigkeit  des  Kleiugewehrfeuers  (Magazingewehr)  wird  die  Verwendung  des 
Arztes  in  der  Gefechtslinie  wesentlich  modificiren  müssen,  um  eine  nutzlose  Vergeudung 
des  Sanitätspersonals  zu  verhüten. 


Lanil.-rer,   Allg.  chir.  PathoJoi^io   u.  Tli.-raiu.-.   Li.  Aul.  31 


482  ^1^-  (Kapitel.  —  Krankheiten  der  Knoclien   und   Gelenke. 


Entzündung,  Eiterung  und  Necrose  der  Knochen. 

Allgemeines  über  Entzündungserscheinungen  am  Knochen,  Periostitis  und  Osteo- 
myelitis. —  Osteomyelitis  infectiosa  (Necrose).  —  Klinische  Erscheinungen.  — 
Entstehungsweise  und  Verlauf.  —  Behandlung  (Necrotomie).  —  Der  Knochen- 
abscess.  —  Rotz  und  Actinomycosis.  —  Phosphornecrose  und  Perlmutterostitis.  — ■ 
Syphilis  der  Knochen.  —  Osteosclerosis  progressiva  idiopathica. 

Die  Entzündungen  der  Knochen  erfolgen  und  verlaufen  im 
Grossen  und  Ganzen  nach  denselben  Gesetzen,  wie  die  Entzündungen 
der  Weichtheile.  Aber  die  physikalischen  Eigenschaften  des  Knochen- 
gewebes imd  die  Langsamkeit  des  Stoffwechsels  im  Knochengewebe, 
besonders  in  der  Compacta ,  lassen  dieselben  besonders  makroskopisch 
oft  wesentlich  verschieden  erscheinen.  Eigenartig  ist  den  Knochen- 
entzündungen, dass  bei  ihnen  bald  der  degenerative,  bald  der  regene- 
rative Charakter  einzelner  Entzündungsformen  besonders  augenfällig  ist. 
So  haben  wir  Entzündungen,  die  zu  deutlicher  Einschmelzung  und  damit 
erheblicher  Verdünnung  u.  s.  f.  des  Knochens  führen  —  Ostitis  rare- 
faciens,  Osteoporosis  u.  s.  f.,  selbst  direct  Gewebstod  —  Knochen- 
necrose  veranlassen,  und  andererseits  wieder  solche,  wo  progressive  Pro- 
cesse  in  scheinbar  einseitiger  Weise  »vorwalten,  wo  es  zu  Auflagerungen 
auf  den  Knochen,  Verdickung  der  Compacta,  Knochenproduction  seitens 
des  Markes  unter  Verkleinerung  der  Markhöhle  (Ostitis  ossificans, 
Osteosclerosis)  kommt,  so  dass  die  Vorgänge  eher  den  Eindruck  einer 
(entzündlichen)  Hypertrophie  machen.  —  Vielfach  finden  wir,  wie  beim 
normalen  Knochenwachsthum  ,  Einschmelzung  und  Neubildung  neben- 
einander, was  ganz  besonders  deutlich  bei  der  Osteomyelitis  infectiosa 
oder  Necrose  (i.  e.  S.)  zu  beobachten  ist.  Die  Art  und  Weise,  wie  diese 
Vorgänge  erfolgen,  ist  —  von  einer  gewissen  Unregelmässigkeit  der 
Neubildung  abgesehen  (siehe  Callus  und  Rachitis)  —  dieselbe,  wie 
bei  dem  normalen  Werden  des  Knochens;  Resorption,  Neubildung  von 
osteoidem  Gewebe  und  Verknöcherung  vollziehen  sich  in  derselben 
Weise  bei  den  Entzündungen  wie  bei  der  normalen  Knochenentwicklung. 

Die  Knochenentzündungen  erfolgen ,  wie  andere  Entzündungen, 
durch  die  Einwirkung  mechanischer,  chemischer  und  belebter  (bacte- 
ri eller)  Entzündungserreger. 

Eigenthümlich  ist,  dass  gewisse  chemisclie  Agentien  (Phosplior,  auch  Arsen) 
in  geriagen  Mengen  die  Production  von  Knochengewebe  fördern  (Wegner) ,  in 
grossen  dagegen  direct  den  Tod  des  Elnochens  herbeiführen  (Phosphornecrose  der  Streich- 
hölzchenarbeiter). Bis  zu  einem  gewissen  Grad  kommt  dies  auch  bei  bacteriellen  Ent- 
zündungen vor,  so  führt  Syphilis  in  milderen  Fällen  zur  Verdickung  der  Knochen,  in 
schweren  dagegen  zur  Verschwärung,  zur  syphilitischen  Knochennecrose. 

Vielleicht,  dass  in  einem  Fall  die  zerstörende  AVirkung  des  Eutzündungserregers 
überwiegt  (rareficirende  Ostitis),  im  andern  Fall  dagegen  die  als  Folge  eintretende 
entzündliche  Hyperämie  und  damit  vornehmlich  die  regenerativ-productive  Seite  der 
Entzündung  wirksam  wird. 

Wie  wir  dies  bei  den  Gelenken  wieder  finden  werden,  sind  die 
Knochenentzündungen  nach  anatomischen  und  nach  ätio- 
logischen   Gesichtspunkten    zu    trennen. 

Vom  anatomischen  Standpunkte  aus  unterscheiden  wir 
eine  Entzündung  der  Beinhaut  —  Periostitis,  des  Markes  —  Osteo- 
myelitis, des  eigentlichen  Knochengewebes   —   Ostitis,    wobei   man 


Knocheuentzündung.   Verschiedene  Formen.  483 

schliesslich  noch  von  einer  Entzündung  des  ganzen  Knochens    —  Pan- 
ostitis  —  reden  könnte. 

Wenn  eine  Periostitis  wolil  ohne  Osteomyelitis  und  diese  zur  Notli  ohne  erstere 
bestehen  kann,  so  ist  doch  das  compacte  Knochengewebe  der  ßindensubstanz  eigentlich 
immer  mit  betheiligt,  da  es  mit  seiner  Ernährung  in  der  äusseren  Schicht  auf  die 
Beinhaut,  in  seiner  inneren  auf  das  Markgewebe  angewiesen  ist.  Bei  den  meisten  Knochen- 
erkrankungen —  von  einigen  oberflächlichen  Periostiten  abgesehen  —  sind  alle  3  Be- 
standtheile  des  Knochens  betheiligt,  meist  allerdings  in  verschiedenem  Masse. 

Die  hj^perämische  Periostitis  findet  sich  als  Anfangsstadium  der  meisten 
schweren  Formen,  ebenso  im  Umkreis  derselben  und  als  Abortivform  dieser  (Osteo- 
myelitis, Phosphornecrose  u.  s.  f.),  auch  nach  mechanischen  Verletzungen  leichterer  Art 
(Periostquetschuug).  Das  Periost  ist  verdickt,  sehr  blut-  und  saftreich  (ödematös)  und 
leichter  von  der  Rinde  abziehbar. 

In  einem  Theil  der  Fälle  schliesst  sich  an  sie  eine  Production  jungen  Knochen- 
gewebes (von  der  tiefen  Canibiumschicht  aus,  durch  Osteoblastenbildung  u.  s.  f.,  siehe 
pag.  403)  an,  —  Periostitis  ossificans.  Die  neugebildeten,  oft  recht  unregel- 
mässigen Knochenmassen  heissen  Osteophyten,  auch  Exostosen  oder  Hyper- 
ostosen; sie  erscheinen  bald  als  spitze  Stalaktiten,  bald  als  unregelmässige  knotige 
oder  warzenförmige  Auflagerungen  auf  der  Oberfläche  des  Knochens. 

Ein  andermal  kommt  es  statt  neuen  Knochengewebes  zur  Bildung  massenhaften 
schwieligen  Bindegewebes  —  Periostitis  fibrös a.  Dies  ist  namentlich  der  Fall, 
wenn  nicht  der  Knochen  der  primär  erkrankte  ist ,  sondern  eine  Entzündung  von  den 
benachbarten  Weichtheilen  auf  das  Periost  übergreift  —  z.  B.  bei  alten,  unmittelbar 
dem  Knochen  aufsitzenden  Unterschenkelgeschwüren. 

Oder  die  hyperämische  Periostitis  wird  zur  eitrigen  —  Periostitis  purulenta. 
Unter  der  Beinhaut  sammelt  sich  Eiter  in  Form  einer  vorragenden  Beule  an.  Häufig, 
doch  keineswegs  immer  verfällt  dabei  die  vom  Periost  ernährte  äusserste  Rindenschicht 
der  Necrose.  Die  eitrige  Periostitis  macht  sich  in  ihren  acuten  Stadien  klinisch  als 
schmerzhafte  Vorwölbung  der  Beinhaut  bemerklich,  meist  mit  Fiebererscheiuungen.  Der 
häufigste  Ausgang  ist  Durchbruch  des  Eiters  nach  aussen,  womit  die  Sache  beendet 
sein  kann ,  wenn  es  nicht  zur  Bildung  von  grösseren  abgestorbenen  Knochenstücken 
(Sequestern,  siehe  unten)  kommt.  Eine  leichte  Vertiefung  im  Knochen  kann  zurück- 
bleiben, oft  bleibt  auch  nichts  am  Knochen  mehr  zu  bemerken.  Ein  anderesmal  kann 
der  Eiter  liegen  bleiben,  sich  eindicken,  von  neugebildeten  Knochenschalen  bedeckt  und 
abgekapselt  werden,  bis  durch  eine  Verletzung  u.  dergl.  der  Process  auf's  Neue  ange- 
facht wird. 

Die  Behandlung  besprechen  wir  bei  den  einzelnen  Krankheitsformen. 

Auch  eine  Periostitis  serosa  oder  albuminosa  oder  seromucinosa 
mit  Bildung  schleimigen  klaren  Secrets  ist  beobachtet  worden.  Zuerst  beschrieben  von 
Ollier,  ist  sie  in  neuerer  Zeit  besonders  von  Garre  (Beitr.  z.  kl.  Chir.  93)  [37  Fälle]  von 
Schlange,  Schranh  {Langenb.  Arch.,  46),  Grimm  (ebenda,  48),  Riedinger  (Chir. 
Congr.  94)  behandelt  worden.  Ein  Drittel  der  Fälle  ist  osteomyelitischen  Ursprungs 
(Garre) ,  die  anderen  sind  syphilitischen ,  tubercnlösen ,  typhösen  etc.  Ursprungs. 
Man  hat  bis  tjOO  Ccm.  entleert  (Schlange).  —  Die  käsige  Periostitis  gehört  zu  der 
Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke  (s.  dort). 

Am  Knochenmark  finden  sich  dieselben  Entzündungsformen.  Osteomyelitis 
hyperaemica  kommt  unter  denselben  Verhältnissen  vor,  wie  die  Periostitis.  Trau- 
matisch (Fracturen)  oder  bei  acuten  (Osteomyelitis  infectiosa)  und  chronischen  Infectionen; 
dann  im  Umkreise  schwerer  (besonders  eitriger)  Entzündungsherde.  Auch  sie  geht  häufig 
über  in  Osteomyelitis  ossificans.  Diese  Eigenschaft  des  Marks,  Knochen  zu 
bilden,  haben  wir  schon  l)ei  der  Heilung  der  Knochenbrüchc  kennen  gelernt.  Sie  kommt 
jedoch  auch  bei  anderen  Entzündungsformen  vor  (Syphilis,  Osteosclerosis  u.  s.  f.)  und 
führt  zur  Verengerung  des  Markcanals.  In  Verbindung  mit  Periostitis  ossificans  kann 
diese  Form  der  Osteomyelitis  zu  einer  enormen  Verdickung  des  Knochens  führen,  so 
dass  grosse  Röhrenknochen  in  ihrer  ganzen  Dicke  fast  nur  aus  einer  elfenbeinartigen 
Compacta  bestehen,  an  der  sogar  der  Meissel  des  Chirurgen  vergeblich  arbeitet,  E  b  u  r- 
neation.  —  Die  schwerste  Entzündnngsform  des  Knochenmarks  ist  die  Osteo- 
myelitis purulenta.  Bald  ist  das  Mark  durchsetzt  von  kleineren  grüngell)en  Eiter- 
herden; das  Markgewebe  ist  an  diesen  Stellen  zerfallen  und  zu  schmierigem  Brei  um- 
gewandelt. Ein  anderes  Mal  ist  der  ganze  Markcylinder  zu  einer  schmutzig  graugrünen 
jauchigen    Ma.sse    verändert.     Die    O.steomyelitis    purulenta    —    wohl    stets    bacterieller 

31* 


4^4  VII.  Cajjitel.  —  Krankheiten  dei-  Knochen  und  Gelenke. 

Natur  —  entsteht  entweder  auf  emboliscliem  Wege  (siehe  Osteomyelitis  infectiosaj  oder 
durch  unmittelbare  Uebertragung  von  Mikroorganismen  auf  dem  Wege  der  Verletzung 
(complicirte  Fracturen,  Schussverletzungen,  Amputationen  u.  s.  w.).  Der  Verlauf  dieser 
eitrigen  Osteomyeliten  ist  (s.  unten)  ein  äusserst  schwerer;  stets  findet  eine  massenhafte 
Eesorption  septischer  Stoffe  statt,  und  wenn  nicht  zur  richtigen  Zeit  noch  der  Eiter 
nach  aussen  entleert  Avird ,  sind  schwere  Allgemeinerscheinungen,  namentlich  Pyämie 
und  Sepsis,  nicht  zu  vermeiden.  Genaueres  über  diesen  Process,  seine  Folgen  u.  s.  av. 
sind  pag.  485  ff.  angegeben. 

Jauchige  und  brandige  Osteomyeliten  finden  sich  bei  Wunden,  welche  in  dieser 
Weise  verändert  sind. 

Die  vermuthlich  metaplastischen  Umwandlungen  des  Marks,  des  gelben 
in  rothes,  lymphoides  und  umgekehrt,  die  gallertige  Entartung,  Processe,  welche  auch 
bei  den  Entzündungen  gelegentlich  eine  Eolle  spielen ,  sind  pag.  405  bereits  erörtert. 
Die  tuberculösen  Processe  im  Knochenmark  siehe  unten. 

Am  leichtesten  verständlich  werden  die  klinischen  und  anato- 
mischen Erscheinungen  der  acuten  Knochenentzündungen  durch  eingehen- 
dere Schilderung  der  acuten  infectiösen  Osteomyelitis,  früher 
auch  Necrosis    ossium  genannt. 

Die  Osteomyelitis  befällt  fast  nur  Leute  in  der  Wachsthumsperiode, 
mit  besonderer  Vorliebe  das  10. — 20.  Jahr,  d.  h.  die  Z'eit  besonders 
intensiven  Knochenwachsthums.  Aeltere  Leute,  deren  Knochcnwachsthum 
ganz  aufgehört  hat,  werden  sehr  selten  davon  befallen. 

Mitten  in  voller  Gesundheit,  meist  nachdem  eine  leichte  Verletzung, 
eine  Quetschung  vorausgegangen,  bricht  die  Krankheit  aus,  oft  mit 
einem  Schüttelfrost.  Die  Kranken  empfinden  dabei  meist  einen  rasch 
auftretenden  heftigen  Schmerz,  z.  B.  im  Bein.  An  diesen  ganz  acuten 
Anfang  schliesst  sich  sofort  ein  schweres  Kranksein,  mit  hohem  Fieber 
und  beträchtlicher  Störung  des  Allgemeinbefindens.  In  leichteren  Fällen, 
WO  das  Bewusstsein  erhalten  bleibt,  wird  die  Aufmerksamkeit  des 
Arztes  durch  die  Schmerzen  in  den  Gliedern,  über  welche  die  Kranken 
klagen,  namentlich  wenn  sie  auf  eine  bestimmte  Stelle  localisirt  sind, 
sofort  auf  die  Möglichkeit  einer  Osteomyelitis  hingelenkt.  In  den  schweren 
Fällen  dagegen  liegen  die  Kranken  oft  eine  Woche  ohne  klares  Be- 
wusstsein in  einem  schweren  „typhösen"  Fieber  (40°  und  darüber). 
Die  Krankheit  hat  dann  viel  Aehnlichkeit  mit  einem  Typhus  abdomi- 
nalis ,  und  es  ist  oft  fast  unmöglich ,  die  differentielle  Diagnose  zu 
machen.  Sie  ist  deshalb  auch  „Typhe  des  os"  genannt  worden.  Das 
Alter  ist  natürlich  diagnostisch  wichtig.  Am  Ende  der  ersten  Woche 
weisen  die  Schmerzen ,  wenn  das  Bewusstsein  zurückkehrt ,  oder  eine 
teigige  Anschwellung  irgend  eines  Röhrenknochens  auf  das  Vorhanden- 
sein eines  Knochenleidens  hin  und  die  Diagnose  ist  damit  klar.  Gerade 
bei  den  schweren  Formen  handelt  es  sich  jedoch  selten  nur  um  eine 
einzige  Localisation,  man  findet  zahlreiche  erkrankte  Stellen,  theils  den 
Diaphysen  langer  Knochen  entsprechend,  z,  B.  der  Tibia,  theils  den 
Epiphysenlinien.  Dann  entwickeln  sich  auch  Gelenkergüsse  und  Eite- 
rungen —  Osteomyelitis  multiplex.  Mit  der  Ausbildung  örtlicher  Pro- 
cesse wird  jedoch  in  diesen  Fällen  multipler  Osteomyelitis  der  Zustand 
kaum  weniger  schwer,  die  Kranken  sind  vielleicht  zeitweise  bei  sich, 
aber  das  Fieber  bleibt  hoch  (39 — 40")  und  die  Kranken  kommen 
immer  mehr  herunter.  Oft  schliessen  sich  innere  Metastasen  an,  Pleu- 
riten,  Pericarditen,  dann  hypostatische  Pneumonien  oder  ausgedehnte 
Eiterungen,  so  dass  das  Krankheitsbild  von  dem  der  Pj^ämie  nun  nicht 
mehr  zu  unterscheiden  ist.  Schliesslich  gehen  die  Kranken  3  bis 
6  Wochen    nach  Beginn,    oft  auch  früher,  an  Erschöpfung   zu  Grunde. 


Osteomyelitis  infectiosa.  Verlauf.  485 

Wo  der  Process  sich  nur  au  weuigen  oder  gar  nur  an  einer 
Stelle ,  etwa  der  Diaphyse  der  Tibia ,  localisirt  und  dementsprechend 
das  Allgemeinbefinden  nicht  so  schwer  gestört  ist,  dass  der  Kranke 
zu  Grunde  geht,  ist  der  örtliche  Verlauf  des  Leidens  sehr  schön 
zu  verfolgen.  Den  Schmerzen  und  der  Druckempfindlichkeit,  die  der 
Kranke  von  Anfang  an  der  betreffenden  Stelle  empfand ,  folgt  eine 
bleiche,  teigige,  ödematöse  Anschwellung,  mit  Ausdehnung  der  Haut- 
venen. Unter  heftigen,  tiefen,  bohrenden  Schmerzen  und  continuirlichem 
Fieber  röthet  sich  die  Anschwellung  allmählich.  Man  hat  tiefe  Fluctuation. 
•Erfolgt  kein  Einschnitt,  so  bricht  der  Abscess  Ende  der  2.  Woche 
•durch.  Es  entleert  sich  ein  dicker,  rahmiger,  fast  ausnahmslos  fett- 
tropfenhaltiger  Eiter  in  gross-en  Mengen  (oft  '/a  Liter  und  mehr).  In 
der  Tiefe  des  Abscesses  sieht  man,  bei  genügend  weiter  Oeffnung,  den 
Schaft  des  Knochens  vom  Periost  enblösst,  nackt  und  weiss  daliegen.  Ist 
dies  die  einzige  Localisation,  so  fällt  mit  der  Eröffnung  des  Abscesses  die 
Temperatur  ab  und  die  Kranken,  an  sich  meist  gesunde,  junge  Menschen, 
«rholen  sich  bei  kaum  zu  befriedigendem  Appetit  schnell.  Die  Schwel- 
lung und  Infiltration  der  Weichtheile  schwindet  rasch,  doch  bleibt  eine 
spindelförmige  Anschwellung  des  Knochens  zurück,  am  dicksten  an 
der  Stelle  des  Aufbruchs,  sich  nach  den  Gelenkenden  allmälich  ver- 
schmächtigend  (vergl.  Fig.  405). 

I^leibt  der  Kranke  sich  selbst  tiberlassen,  so  ändert  sich  nun  oft 
Monate,  selbst  Jahre  lang  nicht  viel.  Aus  einer  oder  mehreren  Oeffuungen 
(Fisteln)  fliesst  Eiter  ab,  der  Knochen  bleibt  verdickt,  doch  lernen  die 
Kranken  allmählich  ihre  Glieder  wieder  gebrauchen  und  gehen  umher. 
Gelegentlich  bilden  sich  erneute  Anschwellungen  durch  Eiterverhaltungen 
oder  es  stossen  sich  kleine  Knochensplitt'rchen  ab,  die  durch  den  Druck 
der  hinter  ihnen  wachsenden  Granulationen  oder  durch  Bewegungen 
allmählich  herausgeschoben  werden.  Doch  kommt  es  nur  bei  sehr  geringer 
Ausdehnung  des  Processes  auf  diesem  Wege  zur  Spontanheilung.  Meist 
ist  operative  Hilfe  nöthig,  wenn  sich  die  Eiterung  nicht  jahrelang  hin- 
ziehen soll. 

Die  acute  Osteomyelitis  ist  eine  Eiterkokkeninfection  der  "Wachsthumsperiode  mit 
Localisation  in  Knochen  und  Gelenken. 

Die  Bacferiologieder  Osteom  yelitisist  viel  erforscht ;  überwiegend  häufig 
■wurde  Staphylococcus  s^efunden,  aureus  und  albus  {Bosetihach,  Becker,  Kraske, 
Lannelonr/ue  und  Acliard,  Rodet  und  Courniont  u.  A.  m.).  Seltener  fanden  sich  Strepto- 
kokken (Lerer,  Lannelongiie).   Ullmaim  fand  Pneumokokken  (V). 

Lannelonyue  bekam  bei  intravenöser  Injection  von  Staphylokokken  bei  alten 
Thieren  keine  Knochenherde,  sondern  Septicopyämie,  ebenso  erhielt  er  diese  bei  grossen 
Dosen  (0"5  Ccm.  einer  Bouilloncuitur) ,  bei  Ol— 0'2  Gern,  kam  es  zu  Knochenlierden. 
Lexer  (Langenheck'' s  Archiv,  48)  bekam  am  häufigsten  die  Eiterung  im  juxtaepii)hysäreu 
Theil  der  Diaphysen  (oberes  Hnmerus-  und  Tibiaende.  unteres  Ende  des  Femur), 
secundär  kamen  Epiphysenlösungen  und  Gelenkaffectionen.  Stets  waren  Niereiaprocesse 
vorhanden. 

Als  Eingangspforten  der  Kokken  sind  erwiesen  Darm ,  Lunge  (Kraske), 
Schleimhäute,  Tonsillen  (Jiusrhke ,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  38),  Wunden,  selbst 
die  unverletzte  Haut  {Jordan,  Beitr.  z.  klin.  Chir.  JO);  begünstigend  wirkt  z.  B.  Furnn- 
culose  (Küster,  Langcnherk's  Archiv,  48),  überhaupt  schmutzige  Verhältnisse.  (Ueber- 
wiegen  der  Osteomyelitis  Ixd  der  ländlichen  Bevölkerung.)  —  Die  Uebertragung  erfolgt  auf  dem 
"Wege  derEmbolie.  In  den  Krei.slauf  eingebrachte  feinste  körperliche  Elemente,  Zinnober- 
körnchen, Milchkügelchen,  Bacterien  u.  dergl.  lagern  sich  nach  den  Untersuchungen  von 
CohnJieiin,  Schiillcr,  hütiniei/cr,  Wi/ssokoivifsrh  bei  jungen  Thieren  besonders  in  den 
Epiphysenpartien,  ebenso  an  sonst  entzUndet«'n  oder  ge(iuetschten  Stellen  ab  (Srliüllerj. 
deshalb  wirkt  die  dem  Ausbruch  der  Osteomyelitis  häufig  vorausgehende  Quetschung 
prädisponirend  und  die  Localisation  der  Kokken  bestimmend. 


486 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenkt 


Dieser  Pathogenese  entspricht  die  xjathologische  Anatomie  der  Osteo- 
myelitis. Wo  die  Mikroorganismen  im  Markgewebe  sich  weiterentwickeln,  veranla.ssen 
sie  wie  anderwärts  Nekrose  der  umgebenden  Theile ,  an  die  sich  dann  Eiterung  an- 
schliesst.  Hat  man  Gelegenheit,  in  einem  so  frühen  Stadium  sich  durch  einen  Längs- 
schnitt durch  den  Knochen  Einblick  in  den  Process  im  Innern  zu  verschaffen,  so  sieht 
man  entweder  eine  Anzahl  erbsen-  bis  klein apfelgrosser  Herde  zerstreut,  die  gegen  das 
rothe  Mark  sich  durch  eine  gelbe  Farbe  abheben  und  sich  als  erweicht  und  eiterdurch- 
setzt erweisen,  oder  man  findet  einen  grossen  Herd,  vielleicht  durch  den  Zusammenfiuss 
kleinerer  entstanden.  Das  Mark  ist  leichter  eindrückbar  an  diesen  Stellen,  eine  fett- 
haltige eitrige  Flüssigkeit  fiiesst  von  denselben  ab,  die  Eindensubstanz  dieser  Gegend 
ist  blasser  und  das  Periost  darüber  etwas  geschwollen  und  injicirt.  Der  weitere 
Verlauf  des  Processes  ist  nun  von  dem  bei  ähnlichen  Vorgängen  in  anderen  Geweben, 
z.  B.  bei  Furunkeln  der  Haut,  nicht  wesentlich  verschieden,  sondern  nur  durch  die 
Eigenartigkeit  des  Knochens  modiflcirt.  Wenn  der  Process  überhaupt  sich  begrenzt 
und  das  Leben  erhalten  bleibt ,  so  wird  der  Zusammenhang  zwischen  Lebendem  und 
Todtem  gelöst,  und  zwar  durch  demarkirende  Eiterung  und  Granulation;  natürlich 
erfolgt  dieser  Vorgang  im  Knochen  langsamer,  als  in  Weichtheilen.  Der  entzündliche 
Erguss  ist  im  Innern  des  Knochens  eingeschlossen,  wo  ein  Ausweichen,  eine  Dehnung 
nicht  möglich  ist ,  er  steht  daher  unter  hohem  Druck ,  infolgedessen  die  heftigen 
tiefen  Schmerzen  im  Knochen  und  der  massenhafte  Uebertritt  pyogener  Stoffe  in  die 
Blutbahn ,    der  anhaltende    schwere  Allgemeinzustand    und    das    hohe    Fieber.     Da    die- 


Fig.  405. 


Venen  des  Knochens  nicht  zusammenfallen  und  so  sich  verschliessen  können ,  ist  die- 
Gefahr  einer  Phlebitis  mit  Bildung  inficirter  Thromben  und  damit  der  Embolie  und  Pyämi& 
besonders  nahegerückt.  Schliesslich  bricht  der  Eiter  durch  und  entleert  sich  nach  aussen, 
leichter  der  unter  dem  Periost  angesammelte,  als  der  in  der  Markhöhle.  Erfolgt  die  Ent- 
leerung desselben  vollständig,  so  ist  damit  die  Resorption  fiebererregender  Stoffe  aufgehoben,, 
das  Fieber  verschwindet  und  das  Allgemeinbefinden  bessert  sich  rasch.  Man  hat  nun  ein& 
von  Granulationen  ausgekleidete  Höhle,  worin  ein  mehr  oder  weniger  grosses  Stück 
todten  Knochens  liegt  (vergl.  Fig.  405).  Die  weiteren  Veränderungen  bieten  nichts  Be- 
sonderes. Durch  demarkirende  Granulation  wird  allmählich  das  Todte  vom  Lebenden, 
getrennt.  Das  todte  Knochenstück  wird  Sequester  genannt.  Wir  nennen  ihn  einen 
totaleU;  wenn  er  die  ganze  Peripherie  des  Knochens  enthält,  oder  wenn  er  die  Dia- 
physe  in  ihrer  ganzen  Länge  darstellt  (siehe  Fig.  407,  Totalsequester  der  Tibia  und 
Fig.  406,  Totalsequester  der  Fibula).  Auch  der  Sequester  bleibt  nicht  so,  wie  er  im 
Momente  des  Absterbens  gewesen.  Der  Theil  von  ihm,  der  der  Marksubstanz  an- 
gehörte ,  wird  allmählich  durch  die  andrängenden  Granulationen  resorbirt,  so  dass  er 
schliesslich  nur  noch  aus  Rindensubstanz  besteht.  Ebenso  werden  die  Spongiosabälkchen^ 
die  namentlich  in  der  Nähe  der  Epiphysenlinie  der  Innenfläche  oft  noch  anhaften, 
allmählich  aufgesaugt.  Dann  werden  die  Randpartien,  wo  die  Lösung  erfolgte,  gleichfalls 
von  den  Granulationen  angenagt  und  ausgefressen ,  so  dass  die  Sequester  bei  Osteo- 
myelitis dadurch  jene  eigenartigen  zugeschärften  und  ausgenagten  Ränder  erhalten, 
die  in  Fig.  406  und  407  zu  erkennen  sind. 

Die  Höhle,  worin    der   todte  Knochen  liegt,    heisst    die    Todten- 
lade   (Necrotheke,    v£x.p6;  todt,   O")^/.-/]    die  Lade),    Von  dem  erhaltenen 


Patliologische  Anatomie  der  Osteomyelitis. 


487 


Fig.  407. 


Theil  des  Markes  sowohl,  wie  vom  Periost  aus  findet,  wie  so  häufig 
bei  Knochenentzündungen  (vergl.  pag.  482),  Knochenneubildung  statt 
und  so  liegt  schliesslich  der  Sequester  rings  in  knöcherner  Höhle  ein- 
geschlossen, die  nur  durch  die  den  Eiter  nach  aussen  leitenden  Fisteln, 
die  „Cloaken",  mit  der  Oberfläche  in  Communication  steht.  Fig.  405, 
Necrose  derTibia,  schematisch.  Der  (weiss  gehaltene)  Rindensequester 
liegt  in  einer  von  Granu- 
Fig.  406.  lationen  ausgekleideten 
Höhle ,  von  dieser  führen 
2  Gänge  (Cloaken)  den 
Eiter  nach  aussen ,  der 
Knochen  ist  —  der  Aus- 
dehnung des  Sequesters 
entsprechend  —  aufge- 
trieben. Die  Knochen- 
schicht ,  die  ihn  deckt 
(zwischen  den  Cloaken), 
ist  vom  Periost  neuge- 
bildet. Die  Knochenneu- 
hildnng  bildet  so  eine 
nenc  tragfähige  Knochen- 
hülsc  um  den  todten 
Knoclien  und  es  wird  ein 
oft  überreichlicher  Ersatz 
für  das  Verlorene  gebildet. 

Das  Präparat  (Fig.  407) 
ist  durch  Amputation  des  Ober- 
schenkels (wegen  Vereiterung 
des  Kniegelenkes)  gewonnen, 
4  Wochen  nachdem  die  Ent- 
fernung des  Sequesters  vorge- 
nommen war.  Die  Todtenlade 
hat  sich  in  dieser  Zeit  bereits 
soweit  verkleinert ,  durch  Ossi- 
tication  der  Granulationen,  dass 
der  Sequester  nicht  mehr  in 
derselben  Platz  hat.  Sehr  deut- 
lich ist  auch  die  Unregel- 
mässigkeit der  neuen  Knochen- 
bildungen, e  e  die  obere,  g  g  die 
untere  Epiphj-senlinie.  A^on  a  h 
und  c  (l  geht  eine  Bruchspalte  durch  (Öpontan- 
t'ractur  der  Todtenlade  infolge  der  enormen 
Rarefaction  des  Knochens),  die  mit  Verkürzung 
von  «  bis  h  und  c  bis  d  geheilt  ist.  //Cloaken, 
7t  ein  weiterer  kleiner  Sequester,  bei  der  Ope- 
ration übersehen  (=  h  in  Fig.  408  J5). 

In  manchen  Fällen  bildet  sich  in  einem 
Knochen,  besonders  oft  im  Humerus,  eine 
Reihe  kleiner  Herde,  wo  nur  kleinste  nadelformige  Sequester  sich  bilden  —  Osteo- 
myelitis disseminata.  Dann  gibt  es  auch  Abortivform  en,  wo  es  nicht  bis  zur 
Eiterung  kommt,  sondern  sich  nur  schmerzhafte  Anschwellungen  einzelner  Knociien- 
partii-n,  z.  H.  der  Epiphj'.senlinien,  oft  mit  leichten  Gelenkschwellungen  einstellen,  die 
nach  einigen  Wochen  spontan  zurückgehen.  Hieher  dürfte  wohl  auch  da.s  sogenannte 
Waclistliumsfiebcr  zu  rechnen  sein.  Es  kommt  auch  mitunter  nur  zu  einer  O.ssification 
und  P.ildung  reichlicher  compacter  Substanz  (Garre).  (Ueber  Ostitis  albuminosa  siehe 
pag.  4S.^.   ebenso  übei'   Knocheiiabscess  pag.  491.) 


488 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knoclien   und   Gelenk» 


Die  infectiöse  Osteomyelitis  weist  in  ihrem  Verlaufe  nicht  selten 
wichtige  Complicationen  auf. 

Häufig  sind  die  osteomyelitischen  Gelenkaffectionen.  .Schon 
zu  Anfang'  hat  man  oft  neben  den  Weichtheilschwellungen  leiclite, 
anscheinend  seröse  Gelenkergüsse,  die  meist  mit  der  Eröffnung  der 
Abscesse  rückgängig  werden.  Die  in  späterer  Periode  auftretenden  da- 
gegen sind  ernster  Natur.  Sie  kommen  namentlich  dann  zur  Entwicklung, 
wenn  die  Eiferung  sich  bis  zur  Epiphysengrenze  erstreckte  und  ent- 
stehen   durch    Fortsetzuno;    der 


B 


\ 


'^'      ■  Entzüjndung  auf  diese.  Schliess- 

lich wird  die  Epiphyse  durch- 
brochen und  der  Eiter  dringt 
in's  Gelenk  ein ,  die  Folge  ist 
eine  Gelenkeiterung  mit  all 
den  schweren  Folgen ,  die  ich 
pag.  467  geschildert  habe.  In 
Fig.  408  ist  ein  solcher  Ein- 
bruch des  Eiters  durch  die  Epi- 
physe abgebildet.  (Derselbe  Fall 
wie  in  Fig.  407.  A  Gelenkfläche 
der  Tibia  von  oben  gesehen. 
Bei  a  die  Perforationsstelle  ;  der 
Knorpel  der  Gelenkfläche  ist 
ganz  zerstört,  ß  die  untere  Epiphysenfläche  derselben  Tibia ,  bei  a^ 
a  Perforationsstellen,    darin    der  Sequester  /?). 

Die  in  den  Spätstadien  der  Osteomyelitis  auftretenden  Gelenk- 
eiterungen sind  oft  auch  metastatischer,  d.  b.  pyämischer  Natur. 

Geht  der  Process  bis  zur  Epiphysenlinie,  so  wird  nicht  selten 
der  Epiphysenknorpel  zerstört  und  es  kommt  zur  (spontanen,  secun- 
dären,  pathologischen,  entzündlichen)  Epiphysenlösung  (s.  pag.  416). 
Fig.  408  B  ist  eine  spontane  Epiphysenlösung  (in  Entwicklung  begriffen). 
Ist  der  Sequester  ein  totaler,  so  fällt  die  Production  eines  neuen 
Knochens  oft  ungenügend  und  spärlich  aus,  vergl.  Fig.  407,  da  in  diesem 

Fall  der  ganze  Markcylinder 
^'^•*09-  zerstört    ist,    das  Mark  sich 

also  nicht  an  der  Neubildung 
betheiligen  kann  und  diese 
ganz  dem  Periost  zufällt. 
Beim  Versuch,  die  Extremität 
zu  gebrauchen,  bricht  diese 
dünne  Schale  oft  durch,  und 
es  kommt  dann  zur  Spon- 
tanfractur  der  Todtenlade  (Fig.  407  a  ^,  cd).  Nicht  so  selten  folgt 
diesen  Fracturen  und   Infractionen  Pseudarthrose. 

Die  Diagnose  der  Osteomyelitis  ergiebt  sich  eigentlich  aus  dem  Gesagten 
von  selbst,  da  der  Verlauf  meist  ein  typischer  ist.  Doch  giebt  es  Fälle,  die  namentlich 
dem  Anfänger  Schwierigkeiten  machen  und  ihn  zwischen  Osteomyelitis  und  tuberculöser 
Knocheneiterung  (siehe  dort)  schwanken  lassen.  In  beiden  Fällen  hat  man  zum 
Knochen  führende  Fisteln,  die  schon  seit  längerer  Zeit  absondern.  Zur  differentiellen 
Diagnose  dienen  folgende  Momente.  Zunächst  der  Beginn  des  Leidens,  bei  der  Osteomyelitis 
ganz  acut,  bei  der  Tuberculose  äusserst  langsam  und  schleichend  ;  ebenso  ist  der  Ver- 
lauf bei   jener  rasch,    mit   baldigem  Aufbruch,     meist   unter    heftigen    Schmerzen    und 


Diagnose,  Prognose,  EeLar.clIung  der  Ostecmj-elitis.  489 

Fiebererscheinuugeu.  Bei  der  Tuberculose  ist  die  Entwicklung  eine  verschleppte  und 
ziemlicli  sclimerzlose.  Osteomyelitis  befällt  meist  junge  Leute  von  gesunder  Constitution, 
die  tuberculose  Ostitis  dagegen  Kinder,  welche  auch  sonst  kränklich,  scrophulös  oder 
tuberculös  sind.  Die  Osteomyelitis  sitzt  mit  Vorliebe  im  Schaft  langer  Röhrenknochen  ; 
die  Tuberculose  mehr  im  spongiösen  Knochen  ;  an  den  Röhrenknochen  daher  besonders 
in  der  Epiphyse.  Die  Absonderung  ist  bei  Osteomyelitis  ein  dicker  rahmiger  gelber 
Eiter,  bei  Tuberculose  eine  dünne  graue  Jauche.  Die  sichtbaren  Granulationen  sind  bei 
Osteomyelitis  gesund  und  frisch  scharlachroth,  bei  Tuberculose  grau,  schlaff  und  wäs- 
serig.' Auch  die  Form  des  Sequesters  ist  in  beiden  Fällen  ganz  verschieden.  In  Fig.  409 
sind  1  Sequester  von  Osteomyelitis  (Necrose)  —  flache  Rindensequester  mit  ihren  zu- 
geschärften, ausgezackten  Rändern ;  2  von  complicirter  Fractur.  Diese  sind  nur  an  der 
einen  Seite,  wo  sie  durch  demarkirende  Granulation  gelöst  sind,  scharfrandig,  die 
andere,  der  Fracturstelle  zugekehrte  Fläche  ist  dick  und  kantig,  genau  so,  wie  sie 
durch  den  Bruch  entstanden  ist;  3  von  Tuberculose;  diese  sind  rundlich,  warzig,  oft 
maulbeerartig  und  werden  von  sclerosirter  Spongiosa  gebildet  (siehe  Tuberculose  der 
Knochen). 

Die  Prognose  der  Osteomyelitis  steht  im  geraden  Verhältnisse 
zur  Ausdehnung  des  Processes;  je  mehr  Punkte  befallen  sind  und  je 
grösser  die  erkrankten  Knochenpartien ,  um  so  ungünstiger  sind  die 
Aussichten.  Bei  nur  einer  einzigen  Localisation  dürfte  selten  ein  Exitus 
letalis  eintreten:  Osteomyelitis  multiplex  dagegen  endet  häufig  tödtlich. 

Kleinere  Sequester  können  von  selbst  ausgestossen  werden  und 
so  heilt  hin  und  wieder  namentlich  die  Osteomyelitis  mit  vielen  kleineu 
Herden  spontan  aus.  Kleine  Sequester  können  auch  ganz  resorbirt 
werden  und  manche  alten  jahrelang  bestehenden  Abscesse,  die  den 
klinischen  Verlauf  der  Osteomyelitis  zeigen,  in  denen  aber  keine  Se- 
quester gefunden  werden,  müssen  so  erklärt  werden.  Beobachtet  sind 
solche  Abscesse,  die  bis  zu  27  Jahren  seit  dem  Beginn  des  Leidens 
mehr  oder  weniger  latent  bestanden  haben  und  wo  die  Kokken  virulent 
waren.  {Garre,  Elirich,  Münch.  med.  Wochenschr.  1896,  Nr.  31.) 

Für  gewöhnlich  verlangt  die  Necrose  Kunsthilfe,  die  Sequestro- 
tomie,  Necrotomie  (Necrothecotomie).  In  den  letzten  Jahren  sind 
bei  Osteomyelitis  die  an  sich  zweckmässigen  Früh  Operationen  viel 
empfohlen  und  ausgeführt  worden.  Sobald  die  Diagnose  feststeht  (hohes 
Fieber,  constante  örtliche  Schmerzhaftigkeit,  septische  Erscheinungen,  wird 
in  Blutleere  (ohne  centripetale  Entwicklung,  pag.  114)  auf  den  Knochen 
eingeschnitten.  Sulzige  öclematöse  Beschaffenheit  des  Periosts  ist  ein  wich- 
tiger Fingerzeig,  doch  soll  man  auch  bei  normalem  Periost  den  Knochen 
eröffnen  {Thelen,  Langenheck's  Archiv,  38).  Zur  Eröffnung  des  Knochens 
kann  man  sich  des  Trepans  bedienen  und  zwischen  '2  Trepanlöchern 
die  Knochenbrücke  mit  Knochenscheere,  Hohlmeisselzange  oder  Schräg- 
meissel  wegbrechen  oder  man  meisselt  sofort  mit  dem  Mei^sel  den  Knochen. 
2.  B.  die  Vorderflache  des  Schienbeins  auf.  Die  Ocffnungen  im  Knochen 
sollen  nicht  zu  klein  sein.  Von  hier  wird  nun  das  Mark,  womöglich 
ganz,  wo  dies  nicht  angeht  wenigstens  das  Kranke  bis  in's  Gesunde 
hinein  mit  dem  Löffel  entfernt,  nachher  lose  Jodoformgazetaniponade. 
Hc'idenliaJn  {L(()ujcrilr(k's  Archiv,  Pjd.  48j  glaubt,  dass  sich  so  in  einem 
Tlieil  der  Fälle  umfängliche  Xecrose  verhüten  und  der  Process  wesent- 
lich abkürzen  lasse.  l)ocli  ergab  die  Discusion  auf  dem  Chirurgen- 
congress  1894.  dass  auch  die  Frühoperation  keine  Sicherheit  gegen 
Necrose  und  Todesfälle  gil)t. 

Bei  der  Spätoperation,  der  eigentlichen  Necro- oder  Sequestro- 
tomie,  pflegte  man  bisher  zu  warten,  bis  der  Secpiester  gel()st  i.st. 
was  bei  grossen   Knochen.   Fcmur.  Tibin  etwa  3  Monate,  bei  kleineren 


490  ^^^-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Kiioclioii  und  Gelenke. 

mindestens  6  Wochen  in  Anspruch  nimmt.  Man  führt  über  den  Knochen 
einen  Längsschnitt,  der  am  besten  einige  Fisteln  verbindet,  hebelt  Wcich- 
theile  und  Periost  mit  dem  Schabeisen  (Fig.  19--jtf)  vom  Knochen  ab  und 
schlägt  nun  mit  dem  Meissel  in  der  Richtung,  in  welcher  eine  eingelegte 
Sonde  den  Sequester  zeigt,  eine  Rinne  in  die  Knochenlade  und  legt 
den  Sequester  völlig  frei  (sieha  Fig.  407  von  vorne  frei  gemeisselte 
Sequesterlade  der  Tibia).  Der  Sequester  wird  herausgehoben  und  alle 
vorspringenden  Knochenkanten  mit  Meissel  oder  Hohlmeisselzange  ent- 
fernt, die  ganze  Lade  aufs  Sorgfältigste  mit  dem  scharfen  Liiffel  aus- 
gekratzt. Nirgends  darf  mehr  eine  Bucht  im  Knochen  zurückbleiben, 
die  nicht  ausgemeisselt  und  ausgeschabt  wäre ,  ebensowenig  darf  von 
den  inficirten  Granulationen  etwas  sitzen  bleiben.  Die  Höhle  wird  nun 
mit  Sublimatlösuug  ausgeschwemmt  und  mit  Sublimatgazebäuschchen 
sorgfältig  ausgerieben.  Dann  werden  die  Weichtheile  möglichst  in  die 
Rinne  eingepflanzt,  so  dass  sie  p  p.  i.  mit  dem  Knochen  vorlöthen 
können.  Dieses  ganze  Verfahren  wird  durch  die  Esmarch'sche  Blutleere 
wesentlich  unterstützt. 

In  manchen  Fällen  lässt  sich  die  Heilung  unter  dem  feuchten  Blutschorf  (Schede) 
erzielen  und  wird  damit  eine  ei'hebliche  Abkürzung  der  sonst  nach  Monaten  zu  schätzen- 
den Heilungsdauer  erzielt.  Die  Wunde  wird  mit  Protectif  silk  bedeckt  und  läuft  nach  Ab- 
nahme der  elastischen  Binde  mit  Blut  voll.  Dieses  gerinnt  und  wird  nachher,  wie  bei 
der  Organisation  des  rothen  Thrombus  (pag.  16  und  Fig.  2),  von  jungem  Bindegewebe 
durchwachsen. 

Die  tiefe  Knochenhöhle  braucht  natürlich  sehr  lange,  3—6  Monate, 
bis  sie  durch  Granulationen  ausgeftUlt  ist  und  diese  verknöchert  sind  (vergl. 
pag.  440,  Complicirte  Fracturen).  Die  verschiedensten  Vorschläge  sind 
gemacht  worden,  diesen  langwierigen  Process  abzukürzen,  durch  die 
verschiedensten  Arten  der  Knochenplastik  (pag.  277).  Man  hat  die 
Seitenwände  der  Todtenlade  erniedrigt  und  über  den  Rand  weg  recht- 
eckige Periostweichtheillappen,  mit  dem  Raspatorium  abgelöst  und  durch 
Seitenschnitte  beweglich  gemacht,  in  die  Rinne  eingepflanzt  und  dort 
festgenagelt  (v.  Esmarch,  Neuber)  —  Ueberdaehungsmethode.  Ich  habe 
mehrmals  (am  Schienbein)  die  Seitenwände  oben  und  unten  mit  dem 
Meissel  eingekerbt,  stumpf  in  die  Höhle  hineingepresst  (durch  Infraction) 
und  durch  starke  Silberdrähte  zusammengezogen.  Bier  hat  bei  seiner 
osteoplastischen  Necrotomie  (Lanf/enheck' s  Archiv,  Bd.  43)  das  Dach 
der  Todtenlade  mit  3  die  3  Seiten  eines  Rechtecks  umziehenden  Weieh- 
theilknochenschnitten  (mit  dem  Meissel)  umzogen,  die  4.  (eine  lange)  Seiten- 
wand eingebrochen,  diesen  grossen  Weichtheilknochenlappen  wie  einen 
Deckel  zurückgeklappt  und  nach  Entfernung  der  Sequester  und  Reinigung 
der  Höhle  den  Lappen  in  den  Defect  eingepflanzt.  Oder  es  werden  gestielte, 
zungenförmige  Knochenweichtheillappen  eingepflanzt  (Lappenmethode).  — 
Andere  haben  versucht,  die  Höhle  mit  fremdem,  todtem,  plastischem 
Material  auszufüllen,  Blut  (Schede),  sterilisirtem  Gipsbrei,  Kupferamalgam 
(Plombirung  des  Knochens)  Catgut,  in  Jodoformäther  sterilisirtem 
Fibrin,  Guttapercha  (nach  Art  der  Zahnplombeu).  Neuber  {Langen- 
beck's  Archiv,  51,  3  Lit.)  giesst  Jodoformkleister  ein  (10  Grm.  Weizen- 
stärke mit  möglichst  wenig  Wasser  angerührt,  200  Gem.  kochend- 
heisse  2%  Carbollösung,  abgekühlt,  10  Grm.  Jodoformpulver). 

Bei  allen  diesen  Verfahren  ist  die  Hauptsache  die  Erzielung 
völliger  Asepsis  der  Höhle  durch  peinliches  Auslötfeln  jeder  kleinsten 
Bucht,  Ausreiben    mit  Gaze   und  Auswischen  mit  17oo  Sublimatlösung. 


Knocheuabscess.  Phosphornekrose.  491 

Ich  fülle  die  Höhle,  soweit  sie  sich  nicht  plastisch  verkleinern  lässt, 
mit  Knochensalzen  (siehe  pag.  248).  Die  Knochensalze  haben  den  Vor- 
theil,  dass  sie  die  Secrete  nicht  zurückhalten  und  auch,  wenn  die  Asepsis 
misslingt,  später  hei  Nachlass  der  Secretion  und  auch  mehrmals  ein- 
gebracht werden  können.  Die  Heilung  geht  hiebei  entschieden  schneller. 

In  die  Gruppe  dieser  Processe  gehört  auch  eine  seltene  Er- 
krankung, die  früher  vielfach  literarisch  erörtert  wurde,  der  Knocheu- 
abscess, ein  Eiterherd  im  Innern  des  Knochens.  Die  klinischen  Sym- 
ptome bestehen  in  tiefem ,  dumpfem ,  remittirendem  Schmerz ,  mit 
Fiebererscheinungen  u.  s.  f.  Es  sind  unter  diesem  Namen  früher  ent- 
schieden ätiologisch  ziemlich  differente  Krankheiten  zusammengefasst 
worden,  bald  kleine  osteomyelitische  Herde,  wo  die  kleinen  Sequester 
resorbirt  sind  und  nur  der  dicke  Eiter  übrig  geblieben,  Processe,  die 
sich  durch  Jahrzehnte  verschleppen  können  (siehe  pag.  489) ,  dann 
pyämische  Metastasen ,  tuberculöse  Knochenvereiterungen ,  vielleicht 
auch  syphilitische  Processe.  Die  Behandlung  besteht  in  der  Freilegung, 
Auskratzung  und  Ausfüllung  in  der  bei  der  Necrotomie  beschriebenen 
Weise. 

Als  Spätfolgen  der  Osteomyelitis  treten  in  einem  Theil  der 
Fälle  (Affection  des  Epiphysenknorpels)  Wachsthumsstörungen  auf, 
öfters  Verkürzungen,  mitunter  aber  auch  Verlängerungen,  zum  Theil 
mit  bogenförmiger  Verbiegung  (Helferich).  Helferich  {LanyenheclS s 
Archiv,  Bd.  36)  suchte  mangelhafte  Ladenbildung  infolge  ungenügender 
Knochenanbildung,  ebenso  wie  Pseudarthrose  und  verlangsamte  Callus- 
bildung  durch  künstliche  Stauungshyperämie  zu  bekämpfen  (eine  ela- 
stische Binde  wird  so  umgelegt ,  dass  venöse  Stauung  entsteht ,  aber 
der  Puls  nicht  unterdrückt  wird). 

Von  weiteren  Infectionskrankheiten  wären  noch  zu  nennen  der  Rotz,  welcher 
namentlich  eitrige  Periostiten  macht  (vergl.  pag.166)  and  die  Actinomycosis  (pag.  170), 
die  gleichfalls  zu  einer  Verschwärung  des  Knochens,  vom  Periost  nach  der  Markhöhle 
hin  führt.  Sie  findet  sich  namentlich  an  Unterkiefer,  Rippen  und  Wirbelsäule.  —  Dass 
auch  die  Pyämie  eitrige  Periostiten  und  Osteomyeliten  macht,  habe  ich  schon  mehrfach 
erwähnt.  Osteomj^elitis  nach  Pocken  beschreibt  67^^■«r^■  (Wiener  med.  Presse,  1892, 
Nr.  47),  Knochenentzündungen  und  Eiterungen  bei  Influenza  (?)  Frank  (Langen- 
iecfc's  Archiv,  Bd.  49).  Eigenthümliche  Knocheuentzündungen  macht  auch  der  Typ  hu  s- 
bacillus  (Klemm,  Lanr/enbecJc's  Archiv,  Bd.  46— 48).  In  der  Reconvalescenzperiode 
kommt  es  zu  Schwellung,  Schmerzhaftigkeit  (besonders  an  den  Knorpelknochenfugen  der 
Rippen)  mit  Fieber.  Meist  kommt  es  zur  Resorption,  wobei  eine  Verdickung  zurück- 
bleibt, oder  es  kommt  zur  Verkäsung  (der  Typhusbacillus  ist  hier  von  Paget,  Filrhringer 
nachgewiesen),  oder  zur  Verflüssigung,  wobei  sicli  jedoch  kein  richtiger  Eiter,  sondern 
eine  syrupartige,  rüthlich  gelbe,  klare,  fadenziehende  Flüssigkeit  bildet.  Schliesslich  kann 
es  auch  durch  Mischinfection  zu  richtiger  Osteomyelitis  mit  Sequesterbiklung  kommen. 
Auch  septisches  Emphysem  ist  dabei  beobachtet.  Aehnlich  sind  die  Erfahrungen  von 
Wijssokowiisch  und  fJiqjonl ,  während  Del  Vecch/o  und  Parasaiidalo  auf  Grund  von 
klinischen  und  experimentellen  Beobachtungen  leugnen,  dass  der  Typliusbacilius  über- 
haupt Eiterungen  machen  könne. 

Eine  eigenthümliche  Form  von  l^criostitis  und  Necrosenbildung 
findet  sich  bei  Arbeitern,  die  viel  mit  Phosphordämpfen  zu  thun  haben 
(Zündholzfabriken;  nur  beim  weissen  Phosphor  beobachtet)  —  Phos- 
phornecrosc.  Dass  Plio.sjthor  in  geringen  Mengen,  innerlich  gegeben, 
die  Ossification  fiirdcrt.  hat  Wifpur  nachgewiesen,  und  ist  daraufhin  die 
Behandlung  von  Rachitis  (siehe  pag.  4l<>)  und  Pseudartlirosen  mit  Phos- 
phor gegründet  vvordin.  Bei  Arbeitern,  namentlich  solchen,  die  defecte 
Zälinc  haben,  entwickeln  sich  unter  dem  Einfluss  der  Dämpfe  zunächst 


492  ^11-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knoelieii  und  Gelenke. 

Periostiten  an  den  Kiefern,  unter  Zahnschmerzen,  Ausfall  der  Zähne  u.  a.  \v. 
Die  Kiefer  verdicken  sich  zunächst  durch  periostitische  Auflagerungen 
in  hohem  Grade;  dazu  kommen  Schleimhautverschwärungen.  Erst  später 
und  nicht  immer  kommt  es  zur  Necrose  des  alten  Knochens,  tlieilweise 
oder  ganz;  es  entsteht  dann  eine  Trennung  zwischen  diesen  neuen  peri- 
ostitischen Auflagerungen  (der  „Lade")  und  dem  necrotischen  Knochen, 
und  nach  einer  Reihe  von  Monaten  kann  dieser  ausgezogen  werden. 
Das  Unterscheidende  gegenüber  der  infectiösen  Osteomyelitis  und 
Necrose  besteht  darin,  dass  die  —  vom  Periost  gelieferte  —  Lade 
schon  vorher  fertig  ist,  ehe  der  alte  Knochen  abstirbt.  —  Wird  die 
Regeneration  abgewartet  und  dann  der  todte  Knochen  schonend  heraus- 
gehobelt und  gezogen,  so  kann  der  Ersatz  ein  recht  vollständiger  sein. — 
Selbstverständlich  müssen  die  Leute  ihre  Beschäftigung  aufgeben.  Xach 
Jost  (Beitr.  z.  klin.  Chir.,  Bd.  12,  Heft  2)  beginnt  die  Krankheit  durch- 
schnittlich 8V4  Monate  nach  dem  Beginn  der  Arbeit  in  den  Fabriken 
und  dauert  7^4  Monate.  Die  Sterblichkeit  beträgt  im  Ganzen  21-43%, 
bei  den  Operirten  15-5"/o ;  bei  Necrose  des  Unterkiefers  ist  die  Mor- 
talität 11 0/0,  des  Oberkiefers  33 Vo-  Er  sowohl  wie  Häckel  (Langen- 
becFs  Archiv,  Bd.  39)  empfehlen  die  Frühresection  im  Gesunden,  wenn 
EÖthig  mit  Resectionen  einer  Kieferhälfte;  die  Todesfälle  durch  sep- 
tische Aspirationspneumonien,  durch  Uebergreifen  auf  die  Schädelbasis 
und  folgende  septische  Meningitis  werden  so  vermieden.  Thiersch  u.  A. 
hatten  die  subosteophytäre  Resection  (intermediäre  Periode)  empfohlen, 
wegen  besserer  Regeneration. 

Bei  Perlmutterdrechslern  kommen,  so  lange  dieselben  noch  in  der  Wachs- 
thumsperiode  stehen,  schmerzhafte  Anschwellungen  und  Verdickungen  der  Diaphysen  in 
der  Epiphysengegend  vor,  die  auch  zu  harten  periostitischen  Auflagerungen  führen 
können  (recidivirende  Perlmutterostitis).  Man  vermuthet  (Gussenbauer),  dass  es  sich,  um 
embolische  Verschleppung  von  Perlmutterstaub  aus  den  Lungen  und  dadurch  bedingte 
Entzündungen  handelt.  Es  ist  dies  insofern  interessant,  als  aus  dieser  Thatsache  hervor- 
geht, dass  kleinste  corpusculäre  Elemente  durch  die  Lungen  aufgenommen  und  nach  den 
Knochengefässen  geschleppt  werden  können.  (Vergi.  pag.  485.)  Wird  die  Beschäftigung 
ausgesetzt,  so  schwinden  die  Erscheinungen,  um  bei  Wiederaufnahme  derselben  wieder 
aufzutreten. 

Die  Syphilis  der  Knochen  liefert  ein  recht  vielfarbiges  klinisches 
Bild.  Oft  erscheint  sie  nur  in  Gestalt  herumziehender,  namentlich  nächt- 
licher, anscheinend  „rheumatischer"  Schmerzen,  ohne  bestimmte  Locali- 
sation.  Häufiger  macht  sie  Localisationen,  und  zwar  Entzündungen  ver- 
schiedenen Grades.  Bald  handelt  es  sieh  um  syphilitische  Periostitis 
ossificans.  Hauptsächlich  an  oft  mechanisch  insultirten  Stellen,  wie 
der  Crista  tibiae,  entwickeln  sich  kleine  höckerige  Auflagerungen,  ein 
anderesmal  kann  es  jedoch  auch  zu  ziemlich  umfänglichen  Verdickungen 
des  Knochens  kommen,  die  recht  schmerzhaft  sind,  sowohl  bei  Berüh- 
rungen und  Bewegungen,  als  auch  spontan,  namentlich  in  der  Bett- 
wärme (Dolores  nocturni  osteocopi).  Die  Haut  darüber  röthet  sich  meist 
nicht,  aber  die  betreffenden  Drüsen  schwellen  an. 

Schwerer  ist  die  Bildung  von  Gummata,  die  wir  sowohl  im 
Periost,  als  auch,  aber  seltener,  in  den  tieferen  Schichten  des  Knochens 
antreffen  können.  Auch  hier  treibt  sich  der  Knochen  auf,  bald  mit,  bald 
ohne  Schmerzen ;  aber  die  Anschwellung  fühlt  sich  nicht  knochenhart 
an,  wie  die  Periostitis,  sondern  anfangs  teigig,  bald  deutlich  fluctuirend. 
Selbstverständlich  können  die  leichteren  Formen  der  Periostitis  in   die 


Sj'philis  der  Knochen.  Osteosclerosis  idiopatliica. 


49^ 


gummöse  Form  übergelieu.  Tritt  üuü  die  richtige  Behandlung  ein  (Jodkali 
oder  Quecksilber,  s.  pag.  181),  so  kann  der  ganze  Inhalt  des  Gumma 
sich  resorhiren,  und  an  seiner  Stelle  bleibt  meist  ein  deutlicher  Defect. 
(Spontanfracturen  können  auch  an  diesen  Stellen  eintreten,  s.  pag.  416.) 
Andernfalls  bricht  das  Gumma  schliesslich  auf  und  entleert  seinen 
schleimigen  Inhalt,  oft  mit  nekrotischen  Fetzen  untermischt.  Meist  kommt 
nun  Eiterung  hinzu,  und  damit  kommt  es  zu  weiterem  Absterben  des 
Knochens.  Es  können  sich  so  grosse  Flächen  des  Knochens  abstossen 
(exfoliiren).  Diese  Form  trifft  man  hin  umi  wieder  an  der  Clavicula, 
ganz  besonders  aber  am  Schädel.  Ein  derartiger,  sehr  vorgeschrittener 
Fall  ist  in  Fig  410  (gummöse  Ostitis  des  Stirnbeins  mit  Nekrose  nach 
Albert)  dargestellt.  Kleinere  Knochen,   wie  die  Nasenbeine,  die  Nasen- 

Fig.  410. 


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niuscheln  u.  s.  f.,  können  ganz  verloren  gehen  und  dadurch  das  Gerüst 
der  Xrtse  in  bekannter  Weise  einsinken  (syphilitische  Sattelnase). 

Antisyphilitische  Behandlung,  nanicntlich  Jodkali  sistirt  den  Process 
ziemlich  prompt;  da  jedoch  die  Regeneration  des  Knochens  oft  ungenügend 
ausfällt  oder  überhaupt  ganz  ausbleibt,  sind  grössere  oder  kleinere  Defecte 
des  Knochens  zu  erwarten.  —  Die  Sequester  lassen  sicli  meist  ohne 
viel  Mühe  mit  Zangen  ausziehen. 

Schliesslich  wäre  noch  eine  eigenartige  Erkrankung  zu  nennen,  über  deren  Ent- 
stehung wir  noch  im  Unklaren  sind,  die  idiopatiiische  Osteosclerosis  {Paffet). 
Es  handelt  sich  hier  —  manchmal  geht  ein  Trauma  voraus  —  um  eine  unaufhaltsame 
Verdickung  und  Verhärtung  (Eburneation)  der  Schädelknochcn,  sowohl  vom  Periost,  als 
vom  Mark  (l)iploe)  ausgehend,  die  schliesslich  zur  Verengerung  der  Kopfliohlen  (Schädel- 
und    Augenhöhlen  u.  s.  w.)    führt    und    damit   die   schwersten     functionellen     Störungen 


494 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gehjnke. 


(Epilepsie,  Idiotie  u.  s.f.)  herbeiführt.  Fig.  411  ist  die  Hälfte  eines  Schädeldaches,  welches 
ungefähr  auf  das  Fünffache  des  Normalen  verdickt  ist.  —  Eine  Therapie  giebt  es  nicht; 
antisyphilitische  Behandlung,  an  die  man  zunächst  denken  möchte,  ist  nutzlos.  Gilles 
de  la  Tourette  und  Marinesco  (Centralbl.  für  Pathologie  etc.,  18i).5,  Nr.  23)  fanden 
Verminderung  der  organischen  Substanz  des  Knochens  und  Rückenmarksveränderungen. 


Horsleij  (Practitioner,  95,  1)  hat  solche  Fälle ,  die  er  Leontiasis  ossiam  nennt, 
wegen  Trigeminusneuralgie  operirt,  der  Knochen  erwies  sich  als  sehr  gefässreich,  tiefroth 
und  überaus  porös. 

Als  Osteoarthropathie  pneumique  sind  eigenthümliche  Knochenverdickungen  bei 
chronischen  Lungenaifectionen ,  Emphysem ,  Bronchitis  u.  dergl.  beschrieben,  Trommel- 
schlägelflnger  u.  dergl.  (vergl.  H.  Schmidt,  Münch.  Med.  Wochenschr.,  1892.  Nr.  86). 


Gelenkentzündungen. 

Anatomische  Formen  der  Gelenkentzündungen,  hyperämische ,  seröse,  eitrige, 
adhäsive,  deformirende  Form.  —  Diagnose  und  Untersuchungsmethode 
der  Gelenkentzündungen.  —  Entstehungsweise  der  Gelenkentzündungen.  — 
Allgemeine  Therapie  derselben.  —  Die  einzelnen  Gelenkentzündungen  in 
ätiologischer  Beziehung:  Bacterielle  Entzündungen,  metastatische  Ent- 
zündungen, acuter  Gelenkrheumatismus,  Gelenkeiterungen,  syphilitische  Gelenk- 
erkrankungen. —  Constitutionelle  Gelenkentzündungen:  Gicht,  Hämophilie, 
Scorbut,  Blei.  —  Arthritis  deformans,  chronischer  Rheumatismus  und  neuroparalytische 
Entartungen.  —   Gelenkneurose  und  freie  Gelenkkörper. 

Bei  Gelenkentzündungen  ist  nicht  nur  eine  anatomische, 
sondern  auch  eine  ätiologische  Diagnose  zu  machen.  Es  genügt 
nicht,  zu  wissen,  in  diesem  Gelenk  ist  Serum,  in  jenem  Eiter;  man 
muss  auch  die  Ursache  kennen,  die  der  Gelenkerkrankung  zu  Grunde 
liegt;  nur  dann  kann  man  die  einzig  berechtigte,  die  ätiologische  Therapie 
einleiten.  —  Die  Entzündungen  der  Gelenke  weichen  nach  Ursache, 
Entstehung  und  Form  von  den  pag.  28  geschilderten  Typen  nicht 
wesentlich  ab.  In  erster  Linie  spielen  sich  dieselben  in  der  Sjnovial- 
membran  ab,  und  die  leichteren  Formen  beschränken  sich  auf  diese. 
Der  Gelenkknorpel  erkrankt  erst  secundär.  Der  Knochen  wird  eigentlich 
nur  von  den  schwersten,  mit  tiefgehenden  Zerstörungen  verknüpften 
Entzündungsformen  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Häufig  genug  ist  aber 
der  Verlauf  ein  umgekehrter;  der  Knochen  ist  der  zuerst  erkrankte, 
und  von  ihm  setzt  sich  die  Entzündung  erst  secundär  auf  das  Gelenk 
fort  (z.  B.  tuberculöse  Knochen-  und  Gelenkleiden). 

Betrachten  wir  zunächst  die  anatomischen  Formen  von  Ge- 
lenkentzündungen. 

Die  hyperämische  Gelenkentzündung  bildet  oft  nur  das 
Anfangsstadium  schwerer,  z.  B.  eitriger  Formen ;  allein,  als  selbststän- 
dige   Erkrankung   kommt    sie  wohl    nur    beim    acuten    polyarticulären 


Verschiedene    anatomische  Formen  der  Gelenkentzündung.  495 

Gelenkrheumatismus  vor.  Die  Synovialisgefässe  sind  strotzend  erweitert, 
die  Membran  erscheint  roth ,  ihre  Oberfläche  ist  etwas  uneben ,  wie 
sammtartig;  zellige  Inliltration  und  Froliferation  der  Synovialis-Zellen 
ist  vorhanden ;  die  Synovia  ist  in  geringem  Grade  vermehrt.  Meist 
wird  über  grosse  Schmerzhaftigkeit  geklagt,  sowohl  spontan,  als  nament- 
lich bei  Bewegungen.  Die  bedeckende  Haut  ist  gespannt  und  etwas 
geschwollen,  oft  bläulichroth.  —  Die  hyperämische  Entzündung  geht 
zurück  oder  in  adhäsive  Formen  (acuter  Gelenkrheumatismus)  oder  in 
seröse  und  eitrige  Entzündungen  über. 

Hämorrhagische  Gelenkentzündungen  finden  sich  —  von  Ver- 
letzungen abgesehen  —  bei  hämorrhagischer  Diathese,  weniger  häufig 
bei  Scorbut,  als  bei  Bluterkrankheit  (Hämophilie).  Meist  ohne  Vor- 
boten erfolgt  eine  Anfiillung  des  Gelenks  mit  Blut.  Man  hat  eine  weiche, 
undeutliche  Fluctuation,  die  mit  dem  Gerinnen  des  Blutes  noch  undeut- 
licher wird,  nach  einigen  Tagen  erscheint  der  Blutfarbstoff  unter  der 
Haut.  Die  Prognose  dieser  Gelenksentzündungen  ist  schlecht,  sie  sind 
therapeutisch  fast  ein  noli  me  tangere  (nur  Priessiiitz'' sehe  Umschläge  und 
Fixation)  und  enden  nur  zu  leicht  mit  Ankylose,  indem  die  Coagula 
mit  jungem  Bindegewebe  durchwachsen  werden  und  dieses  neue  fibröse 
Gewebe  die  Gelenkflächen  aneinander  festlöthet.  W\  Koch  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.,  1889)  fand  Knorpeldefecte ,  die  er  als  Inactivitäts- 
atrophie  auffasst,  während  Landotv  {Langenbeck' s  Archiv,  Bd.  47)  sie 
durch  die  Fibrineinlagerungen  wie  bei  Tuberculose  erklärt. 

Die  traumatischen  Blutergüsse  im  Gelenk  haben  wir  schon  pag.  455 
besprochen. 

Bei  der  serösen  Gelenkentzündung  ist  das  Gelenk  durch 
reichliche,  oft  trübflockige  Synovia  aufgetrieben.  Bei  der  acuten 
Form  ist  die  Synovialis  gleichfalls  injicirt,  geschwollen  und  serös 
durchtränkt,  bei  der  chronischen  ist  sie  meist  schwielig  verdickt, 
rauh  und  aofgefasert  an  ihrer  Innenfläche.  Die  acute  macht  Schmerzen 
und  erhebliche  Gebrauchsstörung,  die  chronische  verursacht  —  ausser 
leichterer  Ermüdung  —  meist  wenig  Beschwerden.  Die  bedeckende 
Haut  bleibt  hier  ziemlich  unverändert. 

Die  eitrige  Gelenkentzündung  ist  stets  mit  äusserst  lebhaften 
Entzündungs-Erscheinungen  verbunden.  Zunäclist  ist  die  Synovialis  in 
hohem  Grade  verändert,  die  Endothclien  werden  abgestossen,  das  Ge- 
webe der  Synovialis  ist  von  massenhaften  weissen  Blutzellen  durchsetzt 
(citrige  Infiltration)  und  kann  sich  schliesslich  in  eine  Art  Granulations- 
gewel)e  umwandeln.  Die  Knorpel  trüben  sich .  auch  in  ihnen  finden 
sich  zelligc  Einlagerungen,  die  Knor])elzellen  proliferiren,  die  Grund- 
substanz wird  streifig,  fasert  sich  auf,  schliesslich  geht  der  Knorpel 
tlieils  in  Form  von  mikroskopischem  Detritus  zu  Grunde,  theils  st(>sst 
er  sich  in  grösseren  Fetzen  ab,  die  frei  im  Gelenk  schwimmen  (Knorpel- 
geschwüre). Dadurch  wird  nun  auch  der  Knochen  freigelegt  und  er- 
griffen, und  es  entwickeln  sich  in  iliin,  namentlich  in  der  Spongiosa 
der  Gclcnkundcn,  eitrige ,  osteoniyelitisartige  Ent/iindungen  .  die  zum 
Zerfall  und  damit  zur  tlieilweisen  Zersti)ruiig  der  Geii'nkköri)er  führen.  — 
Der  Gelenkinhalt  l)esteht  anfangs  noch  aus  grünlichgelber  trüber  Synovia, 
bald  wird  er  zu  einem  dicken  Eiter,  in  den  schlininistcn  Fällen  kann 
das  Secret  ein  hämorrhagisch -Jauchiges  werden,  und  fehlen  «lann 
auch    meist    umrängliche.    diplithcritisartige  Nekrosen  an    den    (ieh-nk- 


496  "^I^-  Oapitel.  —   Kranklieiten  der  Knocln;)]   uiül  Gidenke. 

flächen,  namentlich  der  Synovialis,  nicht.  —  Bei  schweren,  be- 
sonders längere  Zeit  anhaltenden  Gelenkeiteriingen  werden  auch  die 
Gelenkbänder  eitrig  infiltrirt  und  erweicht,  ebenso  auch  das  periarti- 
culäre  Gewebe.  Die  Kapsel  wird  ballonartig  aufgetrieben  und  platzt, 
der  Eiter  tritt  in's  umgebende  Gewebe,  macht  hier  periarticuläre 
Abscesse  und  bricht  schliesslich,  bald  nachdem  er  noch  weite  Senkungen 
veranlasst,  bald  ziemlich  direct  nach  aussen  durch.  Auch  Subluxationen 
entwickeln  sich  durch  die  Bändererweichung. 

Klinisch  macht  sich  die  eitrige  Gelenkentzündung  durch  schwere 
Erscheinungen  bemerklich.  Rasch  ansteigendes  Fieber  von  dem  Charakter 
eines  ernsten  ßesorptionsfiebers  und  heftige  Schmerzen  leiten  die  Scene 
ein.  Rasch  treibt  sich  das  Gelenk  auf  und  wird  activ  unbeweglich. 
Die  Haut  wird  heiss,  röthet  sich,  erweiterte  Hautvenen  werden  bemerk- 
lich, kurz  alle  Zeichen  eines  Abscesses  stellen  sich  ein.  Häufig,  aber 
nicht  immer,  geht  das  Gelenk  auch  in  bestimmte  pathologische  Stel- 
lungen über  (s.  pag.  499). 

Die  Gefahren  der  Gelenkeiterung  sind  gross.  Ein  Theil  der  Kranken 
erliegt  der  schweren  Allgemeinerkrankung.  Auch  Pyämie  ist  im  An- 
schluss  an  eitrige  Gelenkentzündung  nicht  selten.  Mit  dem  Aufbruch 
kann  das  Fieber  nachlassen,  Neigung  zu  Rückfällen  des  Fiebers  durch 
Eiterverhaltungen  bleibt  aber  immer ,  so  lange  nicht  für  ganz  freien 
Abfluss  des  Eiters  gesorgt  ist. 

Bei  den  leichteren  (mehr  katarrhalischen)  Formen  erzielt  man 
nicht  so  selten  eine  Restitutio  ad  integrum ;  bei  den  schweren  dagegen 
wird  man  nur  in  einem  kleinen  Theil  der  Fälle  ohne  Beschränkung 
der  Beweglichkeit  durchkommen ,  oft  muss  man  mit  Ankylose  noch 
recht  zufrieden  sein  und  sich  freuen  ,  wenn  es  nicht  zur  Amputation 
kommt. 

Die  adhäsive  Gelenkentzündung  findet  sich  als  Ausgang 
einer  ganzen  Anzahl  von  Gelenkentzündungen.  Ihr  Wesen  besteht  in 
der  Bildung  von  Adhäsionen  zwischen  den  im  Gelenk  verbundenen 
Knochen  und  dadurch  gesetzter  Beeinträchtigung,  selbst  Aufüebimg  der 
Beweglichkeit  (Ankylose). 

Diese  Form  zeigt  die  verschiedensten  Grade.  Den  leichtesten 
beobachtet  man  bei  lange  Zeit  immobilisirten  Gelenken,  kranken  und 
gesunden.  Diese  Vorgänge  sind  schon  pag.  455  geschildert.  Der  Knorpel, 
so  weit  er  nicht  mit  anderen  Knorpeln  in  Berührung  steht,  verschwindet 
allmählich  und  wandelt  sich  (metaplastisch)  zu  Bindegewebe  um  oder 
wird  von  Endothel  und  jungem  Bindegewebe  überwachsen.  Dieses 
Bindegewebe  verlöthet  dann  wieder  miteinander,  so  dass  der  freie  Raum 
des  Gelenks  erheblich  eingeengt  wird.  Kapsel  und  Bänder  schrumpfen 
und  verdicken  sich  und  lassen  die  Faltung  und  Dehnung  u.  s.  w., 
die  bei  Bewegungen  nöthig  sind,  nicht  mehr  zu.  Solche  Formen 
finden  sich  namentlich  nach  der  hyperämischen  Entzündung,  als  Aus- 
gang des  Rheumatismus  polyarticularis  acutus. 

Den  schweren  Formen  geht  zumeist  eine  Zerstörung  des  Knorpels 
(durch  Eiterung,  Tuberculose  u.  s.  f.)  voraus  und  es  bildet  sich  dann 
eine  mehr  oder  weniger  straffe  bindegewebige  Narbe  zwischen  den 
Gelenktheilen.  Eine  Knorpelverlöthung  kommt  in  irgendwie  umfäng- 
licherem Masse  nicht  vor.  Dagegen  ist  es  natürlich  sehr  leicht  möglich, 
dass  die  von  ihrem  Knorpel  entblössten  und  mit  Granulationen  bedeckten 


Verschiedene  anatomisclie  Formen  der  Gelenkentzündung.  497 

Enochenflächen  durch  Verknöclierimg  der  Granulationen  (siehe  pag.  445) 
eine  knöcherne  Verbindung  eingehen. 

Diese  Formen  kann  man  schon  zu  den  ankylosir enden  rechnen. 
Bei  den  Ankylosen  kommen  wir  nochmals  hierauf  zurück. 

Die  deformirenden  Gelenkentzündungen  haben  unter  den 
Entzündungen  der  Weichtheile  keine  Vorbilder. 

Wie  der  Name  sagt,  sind  sie  ausgezeichnet  durch  Formveränderungen  der  Gelenk- 
körper und  Bandapparate.  Da  die  meisten  Gelenke  fast  völlige  Congruenz  der  Gelenk- 
flachen  für  das  feine  Spiel  ihrer  Bewegungen  voraussetzen,  bedingen  schon  leichte  Form- 
abweichungeu  erhebliche  Störungen  der  Function.  Knorpel  und  Knochen  sind  für  ihre  Er- 
nährung auf  einen  gewissen  Druck  und  Wechsel  der  Belastung  angewiesen.  Sobald  sie  durch 
eine  auch  nur  geringe  Verschiebung  oder  Veränderung  der  Gelenkflächen  ganz  ausser 
Beruhigung  kommen  oder  an  einzelneu  Stellen  einer  zu  starken  und  zu  liäutigen  Be- 
lastung ausgesetzt  oder  durch  Eauhigkeiten  abgeschliffen  werden,  stellen  sich  in  ihnen 
anatomische  Veränderungen  ein,  die  ihrerseits  wieder  zu  weiteren  Störungen  der  Gelenk- 
bewegung und  somit  zu  neuen  Veränderungen  führen  werden.  So  ist  es  erklärlich, 
dass  diese  Formen  der  deformirenden  Gelenkentzündungen  so  selten  stationär  bleiben, 
sondern  meist  laugsam  fortschreitend  sind. 

Das  Wesen  der  Formveränderung  besteht  meist  nicht  in  rein 
atrophischen  Processen,  sondern  in  einem  eigenartigen  Ineinandergreifen 
von  Anbildung  und  Rückbildung.  Knorpel  und  Knochen  schwinden  an 
einer  Stelle  und  werden  wie  weggeschlitfen ,  wobei  sich  der  Knochen 
an  den  Schliffflächen  oft  zu  Elfenbeinhärte  verdickt.  An  einer  benach- 
barten Stelle  bilden  sich  dagegen  oft  massige  und  störende,  unregel- 
mässige neue  Knochenmassen ,  so  dass  schliesshch  von  Congruenz  der 
Gelenkflächen  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann.  Diese  scheinbar  so 
verschiedenen  Processe  auf  eine  einzige  bedingende  Ursache  zurückzu- 
führen, ist  uns  zur  Zeit  noch  unmöglich.  —  Auch  die  bindegewebigen 
Theile  des  Gelenkes  betheiligen  sich  an  diesen  Processen,  häufig  aller- 
dings nur  durch  Schrumpfung  infolge  mangelnder  Bewegung. 

Die  angegebene  Entstehungsweise  mag  namentlich  der  trauma- 
tischen deformirenden  Gelenkentzündung  zukommen,  wo  sich 
an  eine  oft  geringfügige  Beschädigung  eines  Gelenks  langsam  zu- 
nehmende ,  schliesslich  hochgradige  anatomische  Veränderungen  an- 
schliessen.  Sie  ist  meist  monarticulär.  Am  hochgradigsten  sind  diese  Ver- 
änderungen bei  der  eigentlichen  Arthritis  deformans  s.  Malum  senile. 

Eine  seltene  Form  —  meist  zur  Arthritis  deformans  gehörig,  aber 
auch  bei  Syphilis  und  gelegentlich  als  frühes  Stadium  der  Gelenktiiljer- 
culose  vorkommend  —  ist  die  Arthritis  villosa.  Es  bilden  sich  durch 
Hypertrophie  der  Zotten  polypöse,  oft  dünn  gestielte  Wucherungen,  in 
denen  es  sogar  zur  Knorpel-  und  Knochenbildung  und  durch  Absciniürung 
der  Stiele  zur  Bildung  freier  Gelenkkörper  kommen  kann.  Auch  als  End- 
stadium heilender  Gelenktuberculose  bei  Zimmtsäurebehandlung  habe  ich 
sie  mitunter  gesehen.  Die  tuberculösen  Zotten  enthalten  typische  Rieseii- 
zellen  (siehe  pag.  176).  —  Bei  Betastung  des  Gelenks  fühlt  man  die 
harten  Zotten  sich  verschieben.  Durch  Einklemmung  der  Zotten  und 
freien  Körper  können  sehr  heftige  plötzliche  Schmerzen  entstehen. 
(Siehe  auch  bei   „Freien  Gelenkkürpcrn".) 

Diese  verschiedenen  anatomischen  Formen  kommen  keineswegs 
immer  rein  vor. 


Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  n.  Therapie.  2.  Aufl.  32 


498 


Vn.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


Für  dieDiagnosederGelenkerkrankungenist  stets  ein  bestimmter  regel- 
mässiger G-ang  der  Untersuchung  einzuhalten. 

Eine  genaue  Aufnahme  der  Anamnese  und  des  Allgemeinzustandes  ist 
unerlässlich.  Der  Nachweis  anderer  Krankheitserscheinungen,  wie  Zeichen  von  Tuber- 
cnlose,  Syphilis,  Gicht  u.  dergl.,  bringt  oft  sofort  Licht  in  die  Diagnose.  Selbst  auf 
scheinbar  unbedeutende  Kleinigkeiten,  wie  Gonorrhoen ,  ist  zu  achten.  Lebensweise  und 
Beschäftigung  sind  auch  nicht  ohne  Interesse  (Blei). 

Man  beginnt  nun,  nachdem  man  sich  über  den  bisherigen  Verlauf  des  Leidens, 
Schmerzen ,  Veränderung  der  Gebrauchsfähigkeit ,  etwaige  Verletzungen  u.  s.  f.  unter- 
richtet hat,  mit  der  Inspection  des  Gelenkes.  Man  muss  dabei  immer  die  normalen 
Formen  des  betreffenden  Gelenks  im  Auge  behalten.  Im  Anfang,  wo  man  noch  nicht 
geübt  ist,  vergleicht  man  stets  mit  dem  gleichfalls  entblössten  gesunden  Gelenk  der 
anderen  Seite. 

Häufig  fällt  zunächst  eine  Formänderung  oder  Schwellung  des  Gelenks  auf. 
Man  möge  hiebei  u.  A.  die  angefügten  3  Figuren  (nach  Albert)  vergleichen  :     Fig.  412 


Fig.  412. 


Kg.  413. 


Fig.  414. 


normales  Kniegelenk,  Fig.  413  seröser  Erguss  im  Gelenk,  Fig.  414  tuberculöse  (scrophu- 
löse)  Kniegelenkentzündung.  Entspricht  die  Anschwellung  genau  den  Grenzen  der  Ge- 
lenkkapsel, wie  in  Fig.  413 ,  so  hat  man  es  jedenfalls  nur  mit  einer  einfachen  Auf- 
treibung und  Ausdehnung  des  Gelenks  durch  Flüssigkeit  (Serum,  Blut)  zu  thun.  Lassen 
sich  jedoch  die  Contouren  des  Gelenks  nicht  mehr  so  scharf  erkennen ,  sondern  sind 
verwischt  und  ist  die  Schwellung  selbst  nicht  so  scharf  abgegrenzt,  sondern  diffus,  wie 
in  Fig.  414 ,  so  ist  dies  noch  kein  Zeichen ,  dass  das  Gelenk  nicht  erkrankt  ist, 
sondern  dass  ausser  dem  Gelenkapparat  selbst  noch  die  umgebenden  Gewebe  mit  entzündet 
und  geschwollen  sind.  Selbstverständlich  sind  solche  Stellen,  die  besonders  stark  ge- 
schwollen sind,  der  obere  Recessus  im  Knie  (Fig.  413) ,  oder  eine  isolirte  Auftreibung 
eines  einzelnen  Gelenktheils ,  z.  B.  des  Condylus  internus  femoris  (Fig.  414) ,  besonders 
zu  beachten. 

Beschaffenheit  und  Farbe  der  Haut  und  der  umgebenden  "Weichtheile  ist 
nicht  ausser  Acht  zu  lassen;  ob  die  Contouren  der  Muskeln,  Sehnen  und  Bänder  in 
normaler  Weise  hervortreten ;  ob  die  Haut  unverändert  (chronische  seröse  Entzündungen), 
blass  und  von  ektatischen  Venen  durchzogen  (Tumor  albus ,  i.  e.  scrophulöse  Entzün- 
dung) ,  roth  (Eiterung)  oder  atrophisch  ist  (gewisse  chronische  deformirende  Entzün- 
dungen u.  s.  w.). 

Die  wichtigsten  Aufschlüsse  gibt  die  Palpation.  Die  Untersuchung  bei  Gelenk- 
leiden muss  so  schonend  als  möglich  sein,  alle  rohen  und  stossweisen  Bewegungen  und 


Untersuchung  der  Gelenkentzündungen.  499 

Erschütterungen  sind  zu  vermeiden.  Bei  der  Palpation  ist  zu  beachten  der  Zustand  der 
Haut  und  der  umgebenden  Weichtheile,  die  periarticulären  Muskeln  (Hüfte)  durch 
leichtes  Hin-  und  Herschieben  und  Abtasten  zwischen  den  Fingern.  Dann  betastet  man 
die  Kapsel.  Ist  dieselbe  fühlbar  aufgetrieben,  so  prüft  man  auf  Fluctuation  (siehe 
pag.  '61)  (Serum,  Eiter,  Blut).  Ist  das  Gelenk  erfüllt  mit  Granulationen  (granulirende 
oder  tuberculöse  Gelenkentzündung  =  Gelenkschwamm),  so  erhält  man  das  Gefühl  teigiger, 
schwammiger  Consistenz. 

Nun  sind  die  Knochen ,  die  im  Gelenk  verbunden  sind ,  zu  betasten ,  möglichst 
genau,  unter  steter  Vergleichung  mit  den  normalen  Verhältnissen;  keine  Anftreibung 
oder  Vertiefung  darf  der  Untersuchung  entgehen;  ganz  besonders  ist  auf  fixe  and 
circumscripte  Schmerz-  und  Druckpunkte  zu  achten  (Tuberculöse,  Lues),  die 
auf  eine  im  Innern  des  Knochens  sich  abspielende  Entzündung  hinweisen.  Meist  ist  in 
diesem  Falle  das  Knochenleiden  das  Primäre,  das  Gelenkleiden  das  Secundäre. 

Sowohl  durch  Inspection  als  Palpation  sind  etwaige  Stellungsänderungen 
der  Knochen  im  Gelenk  festzustellen.  Viele  Gelenkentzündungen  führen  zu  be- 
stimmten entzündlichen  Gelenkstellungen.  Am  ausgesprochensten  sind  die- 
selben bei  den  tuberculösen  Gelenkentzündungen ,  während  sie  bei  chronischen  serösen 
Entzündungen  oft  ganz  fehlen.  Jedes  ki'anke  Gelenk  hat  seine  eigene  Stellung;  im 
Hüftgelenk  erfolgt  leichte  Beugung  und  Eotation  nach  aussen ;  das  Knie  flectirt  sich : 
das  Fussgelenk  weist  Plantarflexion  auf;  das  Handgelenk  Palmarliexion ;  im  Ellbogen- 
gelenk tritt  Neigung  zur  Beugung  und  etwas  Pronation  auf,  das  Schultergelenk  zeigt 
leichte  Abductiou  und  sinkt  meist  der  Schwere  folgend  herunter. 

Die  Ents  t  ehungsweis  e  dieser  entzündlichen  Gelenkstellungen  ist 
noch  nicht  ganz  klar  gestellt.  Bonnet  hat  darauf  hingewiesen,  dass  diese  Stellungen  meist 
diejenigen  sind,  in  welchen  das  Gelenk  am  meisten  Flüssigkeit  zu  fassen  vermag;  doch  trifft 
dies  gerade  für  manche  Anfangsformen  tuberculöser  Gelenkaffectionen  nicht  zu,  wo  der  Er- 
guss  minimal  und  die  abnorme  Stellung  oft  gerade  sehr  ausgesprochen  ist.  Nach  Lücke 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  21)  gilt  die  Bonnefsche  Theorie  nur  für  die  acuten  Synoviten, 
nicht  aber  für  die  chronischen  (?).  Es  ist  Zweckmässigkeit  dabei  im  Spiel  und  "Willkür  (?). 
Die  Beugemuskeln  sollen  günstiger  ernährt  sein  als  die  Strecker,  die  deshalb  auch 
früher  und  stärker  atrophiren.  —  Die  Anfangsstellungen  sind  z.  Th.  gewollt  und  ge- 
wählt wegen  geringerer  Schmerzhaftigkeit,  die  Spätstellungen  sind  Folgen  von  Atrophien 
(z.B.  der  Strecker)  und  Contracturen  der  weniger  atrophischen  Muskeln,  der  Beuger; 
diese  Stellungen  werden  in  der  Narkose  nicht  mehr  ganz  geändert  (ohne  gewaltsame 
Zerreissungen).  Die  Schlussstellungen  sind  Folgen  der  Destruction  der  Gelenkkörper  oder 
narbiger  Schrumpfungen.  —  Die  Muskelatrophien  sind  reflectorische  (Duchenne). 

Diese  falschen  Stellungen  sind  nach  Winkelgraden  genau  abzumessen ,  behufs 
späterer  Vergleichung. 

Anzuschliessen  ist  die  Messung  mit  dem  Messband.  Die  Differenzen  des  Um- 
fangs  der  gesunden  und  kranken  Seite  (in  mehreren  Ebenen)  sind  zu  notiren.  Auch  Be- 
stimmung  der   Durchmesser   mit  dem   Tasterzirkel  kann   gelegentlich  von  Vortheil  sein. 

Dann  schreitet  man  zur  Prüfung  der  Be  we  glichkeit.  Zuerst  ist  die  active 
Beweglichkeit  festzustellen,  d.h.  das  Mass  von  Bewegung,  das  der  Kranke  selbst 
mit  dem  betreffenden  Glied  noch  ausführen  kann.  Gewöhnlich  ist  dieselbe  herabgesetzt, 
durch  Erguss  in  das  Gelenk,  Veränderungen  der  Geleukflächen,  am  meisten  durch  die 
Schmerzen.  Die  passive  Beweglichkeit  ist  der  Grad  von  Beweglichkeit,  die 
der  Arzt  mit  seiner  Hand  dem  Gelenk  ertheilen  kann.  Man  prüfe  hier  methodisch, 
Flexion  und  Extension;  Abduction  und  Adduction;  Rotation.  Die  Einschränkung  der- 
selben, besonders  die  Unmöglichkeit,  extreme  Bewegungen  auszuführen,  ist  eines  der 
frühesten  und  deshalb  wichtigsten  Symptome  chronischer,  namentlich  tuberculöser  Ge- 
lenkentzündungen. Erschlafft  der  Kranke,  wegen  Schmerzen  die  Muskeln  nicht  völlig, 
so  dass  eine  genügende  Vorstellung  von  dem  Grade  der  Bewegnngseinschränkung  nicht 
zu  gewinnen  ist,  so  kann  die  Narcose  angezeigt  sein. 

Zum  Schluss  prüft  man,  ob  das  Gelenk  Bewegungen  in  abnormen  Rich- 
tungen gestattet,  wie  Knie  oder  Ellbogen  seitliche  Bewegungen.  Es  ist  dann  Zer- 
störung oder  Verletzung  des  Bandapparates  oder  Dehnung  desselben  anzunehmen. 

Während  man  diese  Bewegungen  im  Gelenk  ausführt  oder  ausführen  lässt,  kann 
man  oft  noch  andere  Wahrnelmiungen  machen.  Oft  fühlt  man  —  mitunter  ist  es  sogar 
zu  hören  —  wenn  man  die  Hand  aufs  Gelenk  legt,  ein  Knarren,  wenn  die  Gelenk- 
körper rauh  geworden  sind,  bei  deforniirenden  Entzündungen  —  oder  ein  Reiben  — 
ein  weiches  durch  Blutgerinnsel,  ein  rauhes,  der  Crepitation  bei  Knochenbrüchen 
ähnliches,  wenn  die  Knochenflächen  von  Knorpel  entblösst  sind  (citrige.  tuberculöse 
Entzündungen)  oder  nach  Geienkfracturen. 

82* 


500  Vn.  Capitel.  —  Ki'ankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Scliliesslicli  drückt  man  noch  die  Knochen  (sanft!)  gegen  einander  an.  Manchmal 
—  z.  B.  wenn  man  den  Trochanter  in  die  Hüftpfanne  drückt  oder  die  Wirbelsäule 
zwischen  Kopf  und  Gesäss  zusammendrückt  —  klagt  der  Kranke  über  Schmerz,  und 
dieses  Symptom  kann,  besonders  wenn  es  regelmässig  zu  beobachten  ist,  sehr  wichtig  sein. 

Die  Schmerzen,  die  bei  den  Entzündungen  der  Gelenke  auftreten,  sind 
äusserst  verschieden.  (S.  die  einzelnen  Formen.)  Durchschnittlich  werden  die  Schmerzen 
bei  den  bacteriellen  Gelenkentzündungen  umso  heftiger,  je  mehr  das  Gelenk  gebraucht 
wird.  Bei  traumatischen  Formen  ist  es  oft  umgekehrt;  wenn  die  Kranken  im  Gang 
sind ,  lassen  die  Schmerzen  nach  und  kehren  wieder  beim  Uebergang  von  längerer 
Ruhe  (Murgens)  zur  Bewegung.  Dasselbe  Verhältniss  findet  man  oft  bei  den  Function s- 
störungen.  Bei  jenen  nimmt  die  Gebrauchsfähigkeit  rasch  ab,  mindestens  tritt  bald 
Ermüdung  auf.  Bei  diesen  ist  oft  gerade  ein  vernünftiger  Gebrauch  das  beste  Heilmittel. 


Die  Entstehungsweise  der  Gelenkaffectionen  ist  eine 
ziemlich  mannigfaltige. 

Verletzungen  spielen  eine  wichtige  Rolle,  theils  indem  die 
Gelenkhöhle  durch  eine  äussere  Wunde  eröffnet  wird  und  dadurch 
Gelegenheit  zu  Einwanderung  von  Mikroorganismen  gegeben  ist.  (Vergl. 
pag.  467 ,  Gelenkwunden.)  Oder  eine  bedeutendere  Verletzung ,  ein 
Knochenbruch,  eine  Verrenkung  (vergl.  namentlich  unter  Gelenkbrüchen) 
gibt  Anlass  zu  einer  Gelenkentzündung,  z.  B.  der  traumatischen  defor- 
mirenden  Gelenkentzündung.  —  Aber  auch  kleinere  Verletzungen  — 
extreme  Bewegungen,  Verstauchungen  u.  s.  f.  —  spielen  eine  Rolle, 
indem  sie  z.  B.  für  metastatische  bacterielle  Entzündungen  eine  Prädi- 
lectionsstelle,  einen  Locus  minoris  resistentiae  schaffen  (vergl.  Schüller, 
pag.  485).  Dann  sind  kleinere  Verletzungen  häufig  der  Anlass  zur 
Verschlimmerung  oder  Wiederkehr  vorher  bestandener  Gelenkentzün- 
dungen (scrophulöse  Gelenkleiden). 

Die  bacteriellen  Gelenkentzündungen  bilden  den  grössten 
Theil  der  Gelenkentzündungen.  Nur  selten  ist  eine  in's  Gelenk  pene- 
trirende  äussere  Wunde  die  Eingangspforte  für  die  Mikroorganismen. 
Ebenso  selten  ist  es  die  Fortpflanzung  entzündlicher  Processe  von  den 
Weichtheilen ,  doch  kann  z.  B.  eine  über  ein  Gelenk  wegziehende 
Wundrose  eine  Gelenkentzündung  veranlassen.  Weitaus  die  meisten 
Gelenkentzündungen  entstehen  auf  embolischem,  metastatischem 
Wege  (s.  pag.  61).  Die  Gelenkhöhlen  sind  weite  Gewebsspalten, 
worin  die  Mikroorganismen  sich  viel  ungestörter  entwickeln  können, 
weil  sie  nicht  wie  im  Innern  des  Gewebes  den  Kampf  mit  den  dort 
vorhandenen  Zellen  zu  bestehen  haben.  Die  Gelenkhöhlen  sind  in  dieser 
Hinsicht  todte  Räume  (siehe  pag.  29). 

Ein  anderer  Theil  der  Gelenkentzündungen  ist  Constitution  eil  er 
Natur,  d.  h.  sie  sind  Theilerscheinungen  allgemeiner  Störungen  des 
Stoffwechsels,  wie  der  Gicht,  der  hämorrhagischen  Diathese,  der  Hämo- 
philie u.  s.  f.  —  Ihnen  nahe  stehen  die  auf  Intoxicationen  be- 
ruhenden —  z.  B.  bei  chronischer  Bleivergiftung. 

Diesen  constitutionellen  Formen  dürften  nahestehen  gewisse  defor- 
mirende  und  auch  chronisch-rheumatische  Formen,  die  zum  Theil  auch 
auf  chronischen  Infectionen  oder  Stoffwechselanomalien  beruhen  mögen. 
Dazu  kämen  dann  noch  die  neuroparalytischen  Gelenkentzün- 
dungen. 

Erkältungen  spielen  wohl  mehr  als  Gelegenheitsursache  bei 
vorhandener  Disposition  mit  und  tragen  zur  Verschlimmerung  vorhan- 
dener Entzündungen  bei. 


Allgemeine  Behandlung  der  Gelenkentzündungen.  501 

Nie  soll  man  sich  in  praxi  beriüiigen ,  ehe  die  Ursache  einer 
Gelenkentzündung-  völlig  durchsichtig  geworden  ist.  Nur  dann  ist 
man  im  Stande,  die  einzig  richtige,  die  ätiologische  Therapie  ein- 
zuschlagen. 

Will  man  allgemeine  Regeln  für  die  Behandlung  der  Ge- 
lenkentzündungen aufstellen,  so  muss  man  vor  Allem  das  Ziel,  das 
zu  erreichen  ist,  klar  in's  Auge  fassen.  Das  kranke  Gelenk  soll  mög- 
lichst zur  Norm  zurückgeführt  werden;  wo  aber  das  Leben  durch  die 
Gelenkentzündung  (schwere  eitrige  Formen)  gefährdet  ist,  muss  in 
erster  Linie  —  im  Fall  der  Noth  selbst  auf  Kosten  des  Gelenks  — 
die  Gefahr  für's  Leben  bekämpft  werden. 

Zunächst  ist  in  den  Fällen,  die  auf  einer  Allgemeinerkrankung 
beruhen,  auch  sofort  die  Allgemeinbehandlung  einzuleiten.  Ich 
denke  hier  zunächst  an  die  Allgemeinbehandlung  der  Syphilis,  Tuber- 
culose,  Gicht  u.  s.  w. 

Neben  dieser  Allgemeinbehandlung  hat  die  örtliche  Behand- 
lung einherzugehen. 

Eine  grosse  Anzahl  von  Fällen,  vor  Allem  die  bacteriellen ,  ver- 
langen in  erster  Linie  Ruhe,  sie  werden  durch  Bewegung  und  Ge- 
brauch sofort  schlimmer.  Bettruhe  genügt  bei  Patienten  mit  Gelenk- 
affectionen  der  unteren  Extremitäten  nicht,  die  Gelenke  müssen  festge- 
stellt werden.  Hiezu  bedient  man  sich  der  Schienen.  So  sind  Blech-,  Holz- 
oder mit  Guttaperchapapier  überzogene  Pappschienen  (vergl.  pag.  286) 
ganz  zweckmässig  für  Fälle,  wo  öfter  etwas  am  Gelenk  vorzunehmen 
ist,  z.  B.  Priessnitz' iiche  Umschläge  zu  machen  sind.  Sonst  empfehlen 
sich  Kapseln  aus  Gips,  Wasserglas,  Kleisterbinden,  die  bei 
starker  Schwellung  und  Schmerzhaftigkeit  noch  mit  Watte  ausgepolstert 
werden.  Zweckmässig  ist  es  auch ,  die  Kapseln  der  Länge  nach  zu 
spalten,  so  dass  sie  abgenommen  und  das  Glied  nach  Belieben  besichtigt 
werden  kann;  hin  und  wieder  sind  auch  gefensterte  Verbände  zu 
brauchen.  Die  einfache  Lagerung  auf  Kissen  und  Polstern  u.  dergl. 
leistet  nie  dasselbe,  wie  ein  guter  Fixationsverband ,  da  die  Kranken 
namentlich  im  Schlaf  doch  Bewegungen  mit  den  Gliedern  ausführen.  — 
Die  Fixationsverbände  sind  in  der  Stellung  anzulegen,  in 
der  das  Gelenk  für  den  Fall,  dass  es  steif  würde,  am 
brauchbarsten  ist.  Dies  ist  eine  Grundregel,  von  der  man  nie  ohne 
zwingenden  Grund  abgehen  soll.  Ein  im  Knie  rechtwinklig  gebeugtes 
Bein,  ein  im  Ellbogen  gestreckt  steif  gewordener  Arm  sind  nahezu 
unbrauchbar.  Es  sind  zu  stellen:  die  Hüfte  in  mittlerer  Streckung,  das 
Knie  gestreckt  oder,  noch  besser,  in  Beugung  von  ITö";  das  Fussgelenk 
rechtwinklig  zum  l'ntcrschenkel.  Der  Oberarm  soll  im  Schultergelenk 
senkrecht  herabhängen ;  das  Ellbogcngclenk  steht  in  Bcugimg  von  80", 
in  einer  Mittelstellung  zwischen  Pro-  und  Supination.  den  Daumen  nach 
oben,  die  Handfläche  dem  Körper  zugewendet ;  das  Handgelenk  ist  am 
brauchbarsten  in  Mittelstellung  zwischen  Plantar-  und  Dorsalflexion 
(»der  bessei-  etwas  dorsal  ilectirt. 

Für  viele  (lelcnkentzündungen  sind  Zugvcrliii  ndc  (permanente 
Extension.  Distraction )  sehr  zweckmässig,  indem  sie  das  (üied 
allmählich  in  seine  normale  Lage  zurückführen  und  den  Druck  der 
Gelenkk<irper  gegen  einander  aufheben,  (^\'rgl.  pag.  HUO IV.  und  Tuber- 
culose  der  Knochen  und   (!elenke.) 


502 


VJI.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


Fig.  415. 


In  vielen  Fällen  sind  tragbare  Apparate  nüt/lich;  nicht  in 
dem  floriden  Stadium  der  Entzündung,  wohl  aber  als  Schutz,  wenn 
diese  so  ziemlich  abgelaufen  ist.  Manche  derselben  sind  sehr  brauchbar, 

wie  die  Stützapparate  am 
Bein,  welche  im  Gehen  ge- 
statten, Hüft-  oder  Knie- 
gelenk zu  extendiren  und 
den  Stoss  des  Bodens  direct 
aufs  Becken  übertragen, 
so  dass  die  Gelenke  der 
unteren  Extremität  vor 
jeder  Stauchung  geschützt 
sind.  In  den  meisten  Fällen 
ziehe  ich  einfache  Wasser- 
glas- u.  s.  w.  Kapseln  vor. 
Meine  Erfahrungen  drän- 
gen immer  mehr  zu  der 
Ueberzeugung ,  dass  man 
mit  gut  sitzenden  Ruh-, 
d.  h.  Fixationsverbänden. 
mehr  erreicht,  als  mit 
Distractions-,  d.  h.  Zugver- 
bänden (vergl.  Knochen- 
tuberculose).  Fig.  415  gibt 
einen  portativen  extendi- 
renden  Gehapparat  nach 
Taijlor-  Wolf.  Der  Patient 
sitzt  mit  dem  Tuber  ischii 
auf  einem  Sitzring.  Das 
Bein  wird  gegen  das 
Sohlenstück  des  Appa- 
rates extendirt.  Ebenso 
zweckmässig  sind  die  bei 
der  Fracturbehandlung, 
pag.  438  ff.,  besprochenen 
Gehverbände,  sei's  nun 
dass  man  Gipsgehverbände 
oder  die  Apparate  von 
Bruns,  Liermann,  Heuss- 
ner  u.  A.  anwenden  will. 
Bei  leichten  Fällen  ist 
eine  Lederkappe  (z.  B. 
Kniekappe)  ganz  zweck- 
mässig, um  den  Patienten 
zu  hindern ,  extreme  Be- 
wegungen mit  dem  Bein 
auszuführen.  Eine  gut  um- 
gelegte Flanellbinde  thut  jedoch  dieselben  Dienste  und  ist  reinlicher. 
Zu  diesen  prophylactischen  Verfahren  treten  andere,  die  mehr  direct 
auf  das  erkrankte  Gelenk  einwirken,  bald  auf  die  Haut  und  mittelbar  durch 
diese  aufs  Gelenk,  bald  solche,  die  unmittelbar  das  Gelenk  selbst  angreifen. 


Allgemeine  Behandlung  der  Gelenkentzündungen.  503 

Von  den  äusseren  Mitteln  ist  eines  der  wichtigsten  und  oft 
recht  nützlichen  Agentien  das  Wasser.  Kalte,  oft  gewechselte  Umschläge, 
ebenso  Eisblasen  lindern  wohl  die  Schmerzen;  einen  Einfluss  auf  den 
Verlauf  habe  ich  nicht  feststellen  können.  Dagegen  sind  Priessnitz^&che 
Umschläge  (4 — Sfacher  Mull,  darüber  Guttaperchapapier,  Watte  und 
eine  Binde,  alle  3 — 6  Stunden  gewechselt)  eines  der  wirksamsten  Heil- 
mittel, besonders  in  subacuten  und  chronischen  Fällen.  Der  Reinlichkeit 
halber  lasse  ich  sie  mit  ganz  dünnen  Sublimatlösungen  (1 :  5000  bis 
1:10.000)  oder  Salicyllösungen  (1:300)  machen.  Dann  ist  das  ganze 
hydropathische  Verfahren  sehr  werthvoll,  namentlich  für  chronische 
Fälle,  besonders  in  Gestalt  von  Douchen  ;  kalten ,  aber  auch  warmen, 
die  mit  ziemlicher  Gewalt  auf  das  Gelenk  einwirken  (Strahldouchen). 
Auch  Wechsel  kalter  und  warmer  Douchen  (schottische  Douchen) 
sind ,  wenn  man  nur  vorsichtig  damit  beginnt ,  oft  von  grossem 
Nutzen.  Ebenso  sind  hydropathische  Packungen  des  ganzen  Körpers  — 
ein  nasses  Laken  und  darüber  wollene  Teppiche,  bis  tüchtige  Schweiss- 
bildung  eintritt  —  oft  zu  empfehlen;  desgleichen  Dampfbäder.  Ueber- 
haupt  sind  allen  Gelenkleidenden  häufig  wiederholte  warme  Bäder  nütz- 
lich. Von  Bädern  eignen  sich  besonders  Thermen  und  Kochsalz- 
thermen —  Teplitz,  Wildbad.  Gastein,  Baden-Baden,  Wiesbaden  u.  dergl. 
—  Ferner  sind  oft  überaus  wirksam  Moorbäder,  allgemein  oder  in 
Form  von  örtlichen  Umschlägen;  ebenso  heisse  Sandbäder  (Köstritz) 
und  Schwefelbäder,  Schwefelschlammbäder. 

Die  äusserliche  Anwendung  von  Medicamenten  hat  deut- 
liche Wirkungen  selten  aufzuweisen.  Doch  kann  man  in  manchem 
chronischen  Fall  gelegentlich  auf  eine  Ichthyolsalbe  (1  Ichthyol  :  1  bis 
3  Theilen  Lanolin)  oder  einen  tüchtigen  Jodanstrich  zurückgreifen ; 
die  Schmerzhaftigkeit  wird  doch  öfters  dadurch  vermindert.  Die  Appli- 
cation der  Glühhitze  hat  mir  auch  in  einzelnen  Fällen  Dienste  gethan 
und  fehlt  dieser  Medication  nach  den  Experimenten  von  Grawitz  auch 
eine  gewisse  theoretische  Begründung  nicht.  —  Auch  Einreibung  mit 
grauer  Quecksilbersalbe  (Ung.  cinereum),  Jodsalbe ,  ist  mitunter  nicht 
ohne  Erfolg. 

Von  weiteren  örtlichen  Eingi-iffen  wäre  noch  zu  nennen  die  Compression,  die 
sich  namentlich  gegen  seröse  Ergüsse  richtet.  Am  energischsten  wirkt  die  Schwamm- 
compression. Die  Gegend  der  Gefässe  wird  gut  gepolstert  und  mit  einer  Holz- 
oder starken  Pappschiene  geschützt;  dann  werden  um  das  ganze  Gelenk  trockene 
Schwämmchen,  etwa  hühnereigross  herumgepackt  und  mit  fest  angezogenen  Binden 
befestigt.  Die  Wirkung  ist  stärker,  wenn  die  Schwämme  nachträglich  befeuchtet  werden. 
Beständige  Aufsicht  i.st  natürlich  nöthig.  Ganz  beträchtliche  Ergüsse  können  so  oft  in 
wenigen  Stunden  völlig  verschwinden ;  leider  kehren  sie  meist  rasch  wieder. 

Grossartige  Resultate  gibt  in  vielen  Fällen  die  Massage  der 
Gelenke.  Die  Fälle  sind  mit  Vorsicht  und  Sachkcnntniss  auszu- 
wählen. Ausgeschlossen  von  der  Massagebehandlung  sind  alle 
frischen  bactcriellcn  Entzündungen.  Hier  würden  durch  die 
Massage  die  Mikroorganismen  erst  recht  in  die  ("irculation  eingepresst 
und  örtlich  die  Entzündung  wesentlich  verschlimmert.  Die  Praxis  wider- 
spricht den  l''xi)erinienten  Kap2)eh'r's\  dass  bei  Gelenkentzündungen,  die 
an  Tiiieren  durch  Streptococceninjectionen  erzeugt  waren,  die  Massage 
nicht  schädlich  war.  Angezeigt  ist  die  Massage  besonders  bei  traumati- 


504 


VIJ.  Capitel.   —  Krankheiten  der  KnocliO)   und  ()i;l(;rike. 


Fig.  41G. 


sehen    Formen ,    dann   aber   auch    in    den  »Spätformen    anderer  Entzün- 
dungen ;  ebenso  bei  den  adhäsiven  und  deformirenden  Formen. 

Die  Massage  wird  im  "Wesentlichen  so  ausgeführt,  wie  ich  dies  X'ag.  308  geschildert 
habe.  Man  beginnt  mit  leichtem  centripetalem  Streichen,  das  man  allmählicli  ver- 
stärkt; dann  kann  auch  noch  ein  Kneten  der  Kapsel  und  ein  Hin-  und  Herschieben 
derselben  auf  dem  Knochen  folgen.  Sind  die  Muskeln  atrophisch, 
so  werden  diese  geklopft  (Tapotement,  siehe  pag.  305),  die  Gelenk- 
gegend selbst  darf  nicht  geklopft  werden.  Dann  werden  noch 
passive  Bewegungen  hinzugefügt,  indem  ruhige  Bewegungen 
die  Excursionen  des  kranken  Gelenks  zu  vergrössem  suchen. 

In  den  Fällen ,  wo  Massage  und  passive  Be- 
wegung sich  erfolgreich  erweist,  wird  die  Heilung 
meist  erheblich  gefördert  durch  einen  massigen,  öfters 
wiederholten,  aber  nie  zu  lange  fortgesetzten  Gebrauch. 
In  chronischen  Fällen ,  sowie  in  der  Nachbehandlung 
abgelaufener  acuter  Entzündungen  ist  ebenfalls  zweck- 
mässig die  Gymnastik,  sowohl  manuelle  als  maschi- 
nelle (pag.  306).  Sie  dient  zur  Beseitigung  der  Gelenk- 
steifigkeiten,  sowie  der  so  oft  zurückbleibenden  Muskel- 
atrophien. 

Von  operativen  Eingriffen  sind  in  erster  Linie 
zu  nennen  Einspritzungen  in's  Gelenk.  Hauptsäch- 
lich kommen  sie  für  die  Behandlung  der  tuberculösen 
Gelenkerkrankungen  in  Betracht.  Sonst  bringt  die  In- 
jection  von  Jodtinctur  gelegentlich  zweifellosen  Nutzen 
bei  chronischem  Hydrops  genu  (mehrmals  wiederholt 
1  Grm.).  Es  entsteht  Entzündung  der  Synovialis  und 
infolge  davon  Resorption  des  Ergusses 
Fig.  417.  (siehe  pag.  40).    Carbolinjectionen  (3  bis 

A  ^Vo)  werden  gelegentlich  gerühmt,  ebenso 

Sublimatinjectionen    (1  :  1000  in   gonor- 
rhoische Gelenke).  Eine  hiezu  geeignete 
bö  11  Spritze  gibt  Fig.  416  nach  SchüIIer. 

Die  Function  des  Gelenks,  die 
unter  strengster  Asepsis  ausgeführt  wird, 
hat  nur  bei  flüssigen  Ergüssen,  Blut  (siehe 
pag.  456),  Serum  oder  Eiter,  Sinn.    Zur 


Fig.  418. 


Function  der  Gelenke  können  wir  uns  des  Troicarts,  einer  Hohlröhre 
mit  darin  gleitendem  stechendem  Stilet  bedienen  (Fig.  417).  Die 
Anwendung  zeigt  Fig.  418.  Nachdem  der  Troicart  an  einer  vor- 
gebuchteten Stelle  des  Gelenks  eingestochen  ist,  zieht  man  das  Stilet 
heraus  und  lässt  die  Flüssigkeit  durch  die  Canüle  ablaufen.  Für  Gelenk- 


Operative  Eingriife  bei  Gelenkentzünduugen. 


505 


Fig.  419. 


Fig.  420. 


punctionen  weniger  geeignet,  als  zur  Ablassiing  grösserer  Flüssigkeits- 
mengen (Pleuritis,  Ascites)  sind  die  Troicarts  mit  seitlichem  Abfluss 
(Fig.  419)  nach  Fräntzel,  Thompson  u.  A.  Wo  die  Flüssigkeit  zu  dick 
ist,  kann  man  sich  auch  des  Aspirators  bedienen  —  eine  Spritze  mit 
IV2 flach  durchbohrtem  Hahn,  mit  der  man  Flüssigkeit  ansaugen  und 
seitlich  —  nach  Drehung  des  Hahns  um  1  R.  wieder  ausspritzen  kann 
(Fig.  420),  Aspirator  nach  Dieulafoy-Potain. 

Allein  gibt  die  Function  nur  vorübergehende  Erleichterung;  in 
den  meisten  Fällen  wird  sie  mit  der  Auswaschung  des  Gelenks 
durch  die  Troicartcanüle  verbunden.  Nachdem  die  Flüssigkeit  abge- 
laufen ist,  lässt  man  irgend  eine 
antiseptische  Flüssigkeit  oder 
sterilisirte,  O'TYo  Kochsalzlösung 
unter  geringem  Druck  in's  Ge- 
lenk einlaufen,  wieder  austreten 
und  wiederholt  dies ,  wenn 
nöthig,  bis  die  Flüssigkeit  klar 
abläuft.  Leichte  Bewegungen 
des  Gelenks  vertheilen  dieselbe 
im  Gelenk.  Hiezu  eignen  sich 
Carbollösung  3 — 5%,  Sublimat- 
lösung (1  :  3000  bis  1  :  1000) 
{Hager,  Deutsche  Zeitschrift  für 
Chir.,  Nr.  27) ,  Salicylborlösung 
(l'O  Ac.  salic. ,  6"0  Ac.  boric, 
300'0  Wasser)  oder  eine  ganz 
dünne  Jod-Jodkaliumlösung  (1"0 
Jod.  pur. .  2"0  Kai.  jod. ,  Aq. 
dest.  100-0). 

Bei  eitrigen  Ergüssen  kann 
man  gleich  durch  die  Troicart- 
canüle ein  Drainrohr  einschieben 
und  so  die  Drainage  des  Ge- 
lenks anschliessen.  Doch  ge- 
nügt selten  ein  Drain,  meist 
muss  man  noch  an  einer  oder 
mehreren  anderen  Stellen  Drain- 
röhren   einlegen,      die     jedoch 

nur  wenig  in's  Innere  des  Gelenks  hereinragen  dürfen  und  deshalb 
—  kurz  wie  sie  sind,  anzunähen  sind.  Grosse  lange  Drainröhren  quer 
durch  "'s  Gelenk  zu  ziehen,  empfiehlt  sich  weniger. 

Die  Oetthungen  für  Drainröhren  und  Eiter  müssen  gross  und  weit 
sein  und  an  den  tiefsten  Punkten  des  Gelenkes  liegen.  Damit  ist  nur 
ein  Schritt  zur  breiten  Eröffnung  des  Gelenkes,  die  mit  mehreren 
seitlichen  und  liinteren  Schnitten  hauptsächlich  bei  septischen  und 
jauchigen  Processen  angezeigt  ist.  An  sie  kann  in  seltenen  Fällen 
die  i)ermanentc  Irrigation  des  Gelenkes  (mit  Chlorwasser,  essigsaurer 
Thonerde  2 — 4%)  angeschlossen  werden  (vergl.  pag.  187). 

In  noch  schwereren  Fällen  kann  zur  atypischen  oder  typischen 
Resection  Tvergl.  pag.  2G4j    geschritten  werden    müssen.    Wenn  diese 


506  \ll.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  fielenke. 

genügenden  Erfolg   nicht  mehr   gibt,    bleibt   als  Letztes  nur   nocli    die 
Amputation. 

Die  einzelnen  Formen  der  Gelenkentzündungen  sind  nun 
nach  ihrer  Aetiologie  kurz  zu  schildern. 

Betrachten  wir  zunächst  die  metastatischen  bacteriellen 
Entzündungen.  —  Gelenkentzündungen  kommen  bei  fast  allen 
acuten  Infectionskrankheiten  vor;  es  sind  hier  zu  nennen  die 
acuten  Exantheme,  Masern,  Scharlach,  Pocken;  dann  aber  auch  Pneumonie, 
Typhus,  Diphtherie,  Keuchhusten,  Erysipel  u.  s.  f.,  natürlich  auch  die 
septischen  Processe,  wie  Parotitis  epidemica  (Mumps),  Osteomyelitis, 
Pyämie ,  Septicämie ,  dann  Rotz ,  Malaria ;  schliesslich  noch  die  Ent- 
zündungen des  Urogenitalcanals ,  Tripper,  chronischer  eitriger  Catarrh 
der  Blase  und  der  Niere.  Selbst  nach  Einführung  von  Kathetern  und 
anderen  Instrumenten  in  die  Harnröhre  sind  Gelenkentzündungen  be- 
obachtet. Die  metastatischen  Gelenkentzündungen  setzen  meist  als  acute 
seröse  Ergüsse  ein  und  können  auf  diesem  Stadium  bleiben  und 
abheilen.  Oder  sie  werden  eitrig,  indem  sich  das  Secret  trübt,  Flocken 
abgesetzt  werden;  schliesslich  erfüllt  ein  grünlichgelber  Eiter  das  Ge- 
lenk. Die  Spannung  dieser  Ergüsse  ist  meist  eine  geringe  und  die 
Schmerzen  unbedeutend,  so  dass  sie  besonders  bei  benommenen  Kranken 
und  in  tief  gelegenen  Gelenken  (Hüfte)  oft  übersehen  werden.  Der 
Knorpel  bleibt  meist  intact.  Nicht  selten  bilden  sich  Spontanluxationen 
aus  (vergl.  pag.  468). 

Ein  grosser  Theil  dieser  Gelenkergüsse  resorbirt  sich  von  selbst. 
Die  Resorption  wird  unterstützt  durch  PriessnUz'' sehe  Umschläge  mit 
dünnsten  Sublimatlösungen  (1:10.000 — 1:20.000).  Im  Nothfall  wäre 
eine  Punction  des  Gelenks  mit  dem  Troicart,  Ablassen  des  Secrets 
und  Ausspülen  mit  Sublimatlösung  (1 :  5000 — 1  -.2000)  angezeigt.  Drainage 
oder  breite  Eröffnung  des  Gelenks  dürfte  nur  selten  nöthig  werden. 
(Die  schweren  eitrigen  Formen  s.  pag.  507.)  Die  anfangs  zurück- 
bleibenden Beweglichkeitsstörungen  verschwinden  oft  wieder  unter 
feuchten  Umschlägen.  Nachdem  alle  entzündlichen  Erscheinungen  ver- 
schwunden sind,  ist  Massage  erlaubt.  Doch  kommt  auch  Verlöthung 
der  Gelenkkörper  und  Ankylose  vor. 

Etwas  abweichend  von  diesem  Verlauf  ist  der  der  gonorrhoischen 
Gelenkaffectionen. 

Die  Annahme,  dass  die  gonorrhoischen  Gelenkentzündungen  nur  zufällige  Com- 
plicationen  mit  acutem  Gelenkrheumatismus  seien,  ist  durch  den  wiederholten  Nachweis 
von  Gonokokken  im  Eiter  der  Gelenke  widerlegt.  Der  Tripperrheumatismus  verläuft 
meist  —  nicht  immer  —  ohne  Fieber,  befällt  gewöhnlich  nur  1  Gelenk  (Knie-,  Puss-, 
Handgelenk  etc.) ,  zeigt  ziemlich  reichlichen  Erguss ,  gewöhnlich  seröser  Natur.  Doch 
kann  dieser  auch  eine  trüb-flockige ,  selbst  grünlich-eitrige  Beschaffenheit  annehmen. 
Weitere  Metastasen  der  Gonorrhoe  sind  Sehnenscheiden- ,  Schleimbeutelentzündungen, 
Augen affectionen.  Bei  Tripperrheumatismus  ist  Salicylsäure  innerlich  einflusslos.  Der 
Verfall  ist  ein  ziemlich  chronischer,  sich  oft  über  Monate  hinziehender.  Trippergelenk- 
affectionen  recidiviren  oft  pünktlich  mit  jedem  neuen  Tripper. 

Die  Behandlung  des  „Tripperrheumatismus"  besteht  in  Feststellung 
und  Friessnitz' wallen  Umschlägen  (Sublimatlösung),  daneben  Jodkali  inner- 
lich, l'öGrm.  täglich  (von  SchüUer  sehr  gelobt,  Aerztl.  Praktiker  1896, 
Nr.  17).  Genügt  dies  nicht,  so  sind  Function  und  Auswaschung  mit  P/oo  Subli- 
matlösung oder  1%  Salicyl-Borsäurelösung    zu   empfehlen.    Chronische 


Gelenkentzündungen  bei  Infectionskrankheiten.  507 

Fälle  werden  durch,  wenn  nöthig-,  wiederholte  Injectionen  von  Jodoform- 
glycerin  (1:9)  schliesslich  geheilt  (s.  Tuberculose  der  .Knochen).  Trip- 
perrheumatismus führt  zu  schweren  Gelenksteifigkeiten,  die  oft  erst  im 
Laufe  von  Jahren  allmählich  schwinden.  Eine  energische  örtliche  Be- 
handlung der  Gonorrhoe  ist  in  dieser  Zeit  nicht  angezeigt.  Man  be- 
schränkt sich  auf  Mineralwässer  u.  dergl.  (Wildunger  Wasser) ;  höchstens 
die  Balsamica  (Copaivabalsam,  Sandelöl,  Cubeben)  sind  gestattet.  Die 
gonorrhoische  Gelenkentzündung  befällt  mit  Vorliebe  schwächliche,  be- 
sonders scrophulöse  Männer;  bei  Weibern  ist  sie  sehr  selten. 

Beim  acuten  polyarticulären  Gelenk rheumatismus  werden  rasch 
nach  einander  mehrere,  oft  fast  alle  Gelenke  des  Körpers  befallen  in  Form  hyperämischer, 
äusserst  schmerzhafter  Arthriten.  Daneben  sind  Complicationen  seitens  des  Herzens 
(Endocarditen ,  Pericarditen)  ziemlich  häufig.  Die  Temperatur  ist  regelmässig  erhöht, 
39 — 40°.  In  seltenen  Fällen  kommt  es  zu  enorm  hohen  Fiebersteigerungen,  42 — 43° 
(Hyperpja'exien),  die  dann  meist  das  ungünstige  Ende  einleiten.  Der  Ausgang  der 
Gelenkentzündungen  ist  gewöhnlich  Rückkehr  zur  Norm ;  grössere  flüssige  Ergüsse 
kommen  nur  sehr  selten  vor;  Eiterung  (leichtere  Formen  ohne  Zerstörungen  im  Gelenk) 
ist  sehr  selten.  Dagegen  kommt  es  oft  vor,  dass  einzelne  Gelenke  „steif"  werden,  d.  h. 
die  Kapsel  schrumpft  und  es  bilden  sich  Adhäsionen  zwischen  den  Gelenkflächen.  — 
Die  Behandlung  besteht  in  Salicylsäure  (resp.  Natr.  salicyl.  bis  lO'O  tägl.),  Antipyrin 
(circa  5  Gramm)  und  anderen  Mitteln  dieser  Gruppe ,  Phenacetin ,  Salipj'rin.  Schmerz- 
lindernd kann  örtlich  Eis,  Ol.  chloroformii,  Ol.  Hyoscyami  wirken.  Ziemssen  gibt  eine 
Salicylsalbe  (1  Ac.  salicyl.,  4  Lanolin,  5  Ol.  chloroformii).  Die  Krankheit  neigt  sehr  zu 
Rückfällen.  Die  zurückbleibenden  Gelenksteifigkeiten  werden  durch  warme  Bäder  (Nau- 
heim, AViesbaden  u.  dergl.)  günstig  beeinflusst.  Erst  in  den  späten  Stadien  sind  Massage 
und  passive  Bewegung  am  Platze. 

Leichte,  rasch  vorübergehende  G  elenkaffectionen  finden  sich  häufig  neben 
Hautaff  ection  en,  z.B.  beim  Erythema  nodosum ,  der  Poliosis  rheumatica  u.  dergl. 
Auch  diese  Processe  scheinen  auf  infectiöser  Basis  zu  beruhen. 

Die  eitrigen  Arthriten  haben  wir  schon  bei  den  Gelenkwunden, 
pag.  487,  erwähnt.  Für  die  Praxis  sind  zwei  Formen  zu  unterscheiden.  Bei 
der  leichteren,  die  Volhuann  als  „catarrhalische"  bezeichnet,  handelt 
es  sich  um  einen  meist  dünnen  serös-eitrigen  Erguss  ohne  wesentliche  Be- 
schädigung von  Synovialis,  Knorpel  u,  s.  f.,  mit  nur  massiger  Störung 
des  Allgemeinbefindens  und  im  Ganzen  geringen  örtlichen  Erschei- 
nungen. Hyperämie  der  Haut,  Schwellung  und  Spannung  des  Ergusses, 
sowie  Schmerzhaftigkeit  bleiben  in  massigen  Grenzen.  Hier  genügt  oft 
die  exspectative  Behandlung,  besser  ist  auch  hier  antiseptische  Function 
und  Auswaschung.  Hieher  gehört  eine  grosse  Anzahl  der  metastatischen 
Gelenkentzündungen.  Die  Aussichten  sind  in  diesen  Fällen  nicht  so 
schlecht;  ein  grosser  Procentsatz  behält  schliesslich  ein  fast  normales 
Gelenk. 

In  den  schweren  Fällen  —  bei  Gelenk  wunden,  durch  Einbruch 
osteomyelitischer  Eiterungen  in's  Gelenk,  verjauchte  fungöse  Processe 
u.  (iergl.  —  lassen  sich  bald  Zeichen  schwerer  Veränderungen  an  den 
Gelenkkörpern  —  Zerstörung  der  Bänder,  Crepitation  durch  Knorpel- 
zerfall u.  s.  w.,  deutlich  erkennen.  Hier  sind  energisches  Eingreifen, 
breite  Incisionen,  Auswaschungen,  Drainage,  partielle  und  totale  Re- 
section  dringend  angezeigt  (vergl.  pag.  505).  Der  günstigste  Ausgang 
ist  Ank3'l'>se ,  und  ist  dem  Gelenk  diejenige  Stellung  zu  geben ,  bei 
welcher  es  nachher  am  brauchbarsten  ist  (siehe  pag.  499). 

Von  chronischen  bacteriellen  Gelenkentzündungen  sind 
besonders  zu  beachten  die  syphilitischen  und  tuberculösen.  Die  letzteren, 
überaus  wichtigen  und  häutigen  Vorgänge  finden  im  nächsten  Abschnitt 
gesonderte  Besprechung. 


508  VII-  Capitcl.  —  Krankheiten  der  Knoclien  und  Gelenke. 

DieSyphilis  dcrGelenke (vergl . Schüller,  Langenbeck's Arch . 28) 
tritt  in  den  mannigfaltigsten  Formen  auf  und  ist  entscliieden  viel  häu- 
figer, als  meist  angenommen  wird.  In  der  Eruptionsperiode  der  .Syphilis 
(siehe  pag.  180)  treten  leichte,  massig  schmerzhafte  seröse  Ergüsse  auf, 
die  oft  schon  von  selbst  und  unter  antisyphilitischer  Behandlung  immer 
rasch  schwinden ;  manchesmal  handelt  es  sich  auch  nur  um  rheumatoide 
Gelenkschmerzen. 

Anders  verhalten  sich  die  in  Spätperioden  bei  Erwachsenen 
auftretenden  Gelenkaffectionen.  —  Meist  ziemlich  schnell  entwickeln 
sich  stark  gespannte  seröse  Ergüsse,  mit  oft  auffallend  grosser  Schmerz- 
haftigkeit ,  namentlich  bei  Nacht.  Die  Gebrauchsfähigkeit  ist  nicht 
immer  den  Schmerzen  entsprechend  gestört,  doch  waren  meine  sämmt- 
lichen  beobachteten  Fälle  (meist  Knie)  genöthigt,  zu  Bett  zu  liegen. 
Oft  fühlt  man  auch  bei  genauer  Betastung  der  Knochen  eine  besonders 
schmerzhafte  Stelle ,  die  zugleich  etwas  aufgetrieben  ist ,  aber  nicht 
so  weich,  wie  bei  Tuberculose  —  eine  syphilitische  Periostitis, 
von  der  der  Process  ausgegangen  ist.  Andere  Male  findet  sich  eine 
elastische  fluctuirende  Geschwulst  im  Knochen  —  eine  syphilitische 
Gummigeschwulst,  und  diese  ist  als  Ausgangspunkt  anzusehen.  Die 
Kapsel  verdickt  sich  und  an  der  Innenseite  entstehen  Zotten  (Arthritis 
villosa);  der  Inhalt  des  Gelenks  ist  ein  trübes  Serum.  Ist  ein  Gumma 
in 's  Gelenk  durchgebrochen ,  so  kann  der  Inhalt  auch  ein  schleimig- 
eitriger werden.  In  einzelneu  Fällen  ist  auch  Fieber  beobachtet.  Wird 
der  Fall  nicht  erkannt,  so  kann  es  sogar  zum  Aufbruch  kommen  und 
es  entleert  sich  dann  aus  den  Fisteln  eine  schmieriggraue,  nicht  eigent- 
lich eiterartige  Flüssigkeit. 

Die  Diagnose  wird  wohl  durch  das  Geständniss,  dass  der  Kranke 
syphilitisch  angesteckt  war ,  aber  keineswegs  immer  durch  den  Nach- 
weis anderer  syphilitischer  Erscheinungen  unterstützt.  Man  wird  zur 
Diagnose  geführt  durch  das  charakteristische  örtliche  Verhalten, 
den  stark  gespannten ,  brettharten  Erguss ,  wie  er  weder  bei  ander- 
weitigem chronischem  Hydrops,  noch  durch  Tuberculose  erzeugt  wird 
und  die  heftigen,  namentlich  Nachts  sich  steigernden  Schmerzen.  Die 
antisyphilitische  Behandlung  (Jodkali  und  Quecksilber)  bestätigt  die 
Diagnose.  Doch  schwinden  die  Erscheinungen  meist  ziemlich  langsam 
und  sind  hier  Bäder  —  namentlich  Schwefelbäder  (künstliche  oder 
Aachen,  Baden  in  der  Schweiz  u.  s.  w.)  sehr  dienlich.  Auch  Massage 
ist  in  der  Periode  der  Reconvalescenz  förderlich. 

An  solchen  Gelenken  finden  sich  oft  im  Knorpel  silberglänzende, 
strahlig  vertiefte  Narben  —  die  Reste  von  Gummiknoten.  —  Selbst 
fistulös  gewordene,  erheblich  veränderte  Gelenke  heilen  oft  noch  mit 
unerwartet  guter  Function  aus;  doch  kommen  bei  ganz  vernachlässigten 
Fällen  auch  Zerstörungen  der  Gelenke  vor,  die  an  die  tuberculose 
Caries  erinnern.  Hier  kann  es  schliesslich  zur  Ankylose  kommen. 

Bei  hereditär  syphilitischen  Kindern  kommen  Gelenkent- 
zündungen ziemlich  häufig  vor  (siehe  Güterbock,  Langenbeck''s  Arch.  23 
und  32,  Lit.;  Heubner^  Virchow's  Arch.,  Bd.  84).  Bei  allen  Gelenkent- 
zündungen von  Kindern  in  den  ersten  Lebenswochen  muss  man  an  die 
Möglichkeit  einer  Gelenksyphilis  denken.  Die  eine  Form,  die  man  häufig 
in  grossen  Städten  bei  unehelichen  Kindern  zu  sehen  bekommt,  sind 
rasch  sich  entwickelnde  Ergüsse,  mit  starker  Röthung  der  Haut.    Die- 


Syphilis  und  Giclit  der  Gelenke. 


509 


selben  können  eitrig  werden  und  durchbrechen.  Wenn  sie  nicht  schon 
antisyphilitischer  Behandlung  und  Priessnitz'' sehen  Umschlägen  (mit 
Sublimatlösung)  weichen ,  so  heilen  sie ,  incidirt  und  drainirt ,  meist 
glatt  und  rasch.  —  Eine  andere  Form  ist  ein  Gelenkerguss,  der  sich 
an  die  syphilitische  Osteochondritis,  die  Entzündung  und  Ent- 
artung des  Epiphysenknorpels  anschliesst.  Der  Epiphysenknorpel  ist 
dabei  oft  ringförmig  aufgetrieben  (SchüUer).  Auch  hier  kann  es  zur 
Eiterung  und  zur  eitrigen  Epiphysenablösung  kommen.  Die  Gelenke 
können  schliesslich  in  leidlichem  Zustand  ausheilen,  doch  dürfte  wohl 
nur  ein  kleiner  Theil  der  schwer  syphilitischen  Kinder  überhaupt 
dauernd  erhalten  bleiben.  Die  antisyphilitische  Behandlung  kleiner 
Kinder  kann  in  kleinen  Gaben  Calomel  (0"0025 ,  mehrmals  täglich), 
Sublimatbädern  (1 — 2  Grm.  pro  Bad),  später  Jodeisensyrup  (3mal  täglich 
10—15  Tropfen)  bestehen.  Auch  eine  vorsichtige  Schmiercur  (0*3— 0"5  Grm. 


^^->  t  >^^  er 


graue  Salbe  jeden  zweiten  Tag)  ist  mitunter  sichtlich  erfolgreich.  Schliess- 
lich können  bei  hereditär  syphilitischen  Kindern  auch  ähnliche  Formen 
vorkommen,  wie  bei  Erwachsenen. 

Von  den  auf  Constitutionsanomalien  beruhenden  Gelenk- 
aff ectionen  ist  in  erster  Linie  zu  nennen  die  gichtische  Gelenk- 
entzündung (Arthritis  uratica). 

Bei  der  Gicht,  finden  sich  bekanntlich  nekrotische  Herde  (Ebstein),  vorzüglich  in 
an  sich  schon  schlecht  genährten  Geweben,  wie  Knorpeln,  Bändern  u.  s.  f.  In  diesen 
nekrotischen  Herden  lagern  sich  die  krystallinischen  Nadeln  der  Harnsäure  und  harn- 
sauren Salze  ab.  Fig.  421  zeigt  einen  Durchschnitt  durch  ein  Gichtgelenk  (milssigen 
Grades).  Die  Gelenkknorpel  sind  durchsetzt  mit  den  scharfen  Xadeln  der  Harnsäure; 
ein  ebensolcher  Herd  mit  büschellörmigen  Krystallon  liegt  im  Markgewebe  der  Spongiosa 
des  Gelenkkörijcrs  (rechts  im  Prä])arat).  —  Ob  diese  örtlichen  Nekrosen  bedingt  sind 
durch  die  ätzende  Wirkung  der  harnsauren  Salze  (Ebstein,)  oder  sicli  —  unabhängig 
von  diesen  durch  eine  Anomalie  des  Stoffwechsels  bilden  und  die  Ablagerung  der  Urate 
erst  secundär  erfolgt  ('Caniuni),  ist  nicht  ausgemacht.  —  Es  scheint,  dass  die  Gicht 
sich  besonders  bei  Leuten  entwickelt ,  die  eine  sehr  säurereiche  Kost  (überwiegend 
Fleisch)   geniessen  und  daliei   schwere   ßiere   (Porter)    und    schwere  Weine    (Rothweine, 


510  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und   Gelenke. 

Portweine  u.  dergl.)  trinken  (Arthritis  divitum).  Erblichkeit  spielt  eine  grosse  Rolle.  Bei 
uns  in  Deutschland  kommt  die  Giclit  jedoch  nicht  blos  bei  reichen  Lebemännern,  sondern 
auch  bei  der  arbeitenden  Classe  vor. 

Die  Gicht  setzt  meist  anfallsweise  ein,  und  zwar  fast  immer  im 
Metacarpopbalangealgelenk  der  grossen  Zehe.  Gewöhnlich  geht  ge- 
störtes Wohlbefinden,  Dyspesie  u.  s.  w.  einige  Zeit  voraus.  In  der  Nacht 
bricht  plötzlich  ein  äusserst  empfindlicher  Schmerzanfall  aus  (Podagra, 
Zipperlein).  Die  Haut  über  dem  Gelenk  schwillt,  nimmt  eine  bläulich- 
rothe  Farbe  mit  Venenectasien  an;  spontan  und  bei  Berührung  sind 
die  quälendsten  Schmerzen  zugegen.  Nach  einigen  Tagen  lässt  die 
Schwellung  nach,  die  Haut  blättert  sich  ab,  aber  das  Gelenk  wird 
nicht  wieder  ganz  normal.  Oft  schon  nach  der  ersten,  sicher  aber  nach 
mehreren  Attaken  verdickt  sich  das  Gelenk,  es  bilden  sich  harte, 
trockene,  mit  dem  Finger  eindrückbare  Knoten  —  aus  Harnsäure  be- 
stehend (Tophi  uratici).  Nach  einem  Intervall  von  mehreren  Monaten 
kommt  der  zweite  Anfall  u.  s.  w.  Bald  tritt  in  den  Pausen  keine  völlige 
Intermission  mehr  ein,  sondern  nur  eine  Remission,  die  Gicht  wird 
chronisch.  Und  nun  kommen  auch  andere  Gelenke  daran,  die  Finger 
(Chiragra)  und  namentlich  auch  das  Kniegelenk.  Die  Schwellungen  in 
diesem  Spätstadium  der  Gicht  sind  nicht  mehr  blos  Harnsäureinfarcte  in 
Knorpeln,  Bändern  und  Kapseln,  sondern  jetzt  kommen  auch  überaus 
langwierige ,  aber  zeitweise  wenig  empfindliche  seröse  Ergüsse.  Auch 
die  Wirbelsäule  wird  jetzt  mitunter  befallen. 

In  einem  Theil  der  Fälle  schliessen  sich  Endarteriitis  chronica 
(Atherom  der  Arterien)  mit  Apoplexien  im  Gehirn ,  Nierengicht  mit 
Ausgang  in  Schrumpfniere  an  und  führen  den  Tod  herbei. 

Die  Behandlung  des  einzelnen  Gichtanfalles  besteht  in  Verab- 
reichung von  Vinum  colchici  in  dreisten  Gaben  (bis  80  Tropfen  täglich) 
(der  bekannte  Liqueur  Laville  besteht  grösstentheils  aus  Zeitlosenextract), 
Morphium,  örtlich  feuchten  Umschlägen  und  Fixation  in  gut  wattirten 
Pappkapseln.  Ueber  die  Wirksamkeit  der  sogenannten  Specifica,  Pipe- 
racin,  Citronensäurecur  u.  s.  w.  sind  die  Ansichten  sehr  getheilt. 

Für  die  Behandlung  des  Grundleidens  sind  hauptsächlich  diäte- 
tische Regeln  massgebend.  Ersatz  der  schweren  Getränke  durch 
leichte  Weissweine  mit  Zusatz  von  Mineralwässern  (Salvator,  Biliner 
Wasser)  oder  noch  besser  völlige  Enthaltung;  dann  die  lithion- 
haltigen  Mineralwässer  (Kronenquelle ,  Assmannshausen  u.  dergl.)  sind 
zweckmässig.  Ueber  die  einzuhaltende  Diät  gehen  die  Ansichten 
auseinander;  in  neuester  Zeit  wird  von  Vielen  fast  ausschliessliche 
Fleischdiät  empfohlen,  von  Anderen  rein  vegetarische  Kost.  Die 
Hauptsache  ist  grösste  Massigkeit ,  meine  Kranken  haben  sich 
bei  massigem  Fleischgenuss ,  viel  Vegetabilien ,  wenig  Wein  und 
völligem  Verbot  des  Biers  und  viel  körperlicher  Bewegung  wohl  be- 
funden. So  lange  die  Kranken  sich  nicht  bewegen  können,  ist  Massage 
des  ganzen  Körpers,  anfangs  mit  Freilassung,  später  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  kranken  Gelenke  und  energische  Massage 
des  Bauches  zu  empfehlen,  dann  schwedische  Heilgymnastik,  Bewegung, 
Holzsägen  und  -hacken ,  weite  Spaziergänge ,  Reiten  auf  harten 
Trabern  u.  dergl.  Energische  Wasserbehandlung  in  Gestalt  von  Dampf- 
bädern ,  kalten  Einpackungen ,  örtlich  Priesstiitz' sehen  Umschlägen  ist 
gleichfalls  werthvoll,  ebenso  mitunter  Zittmami'sohes  Decoct.  Energie  und 


Arthritis  deformans.  511 

Geduld  des  Patienten  wie  des  Arztes  sind  unerlässlich.  Curen  in  Wiesbaden, 
Teplitz,  Baden-Baden  n.  dergl.  wirken  unterstützend;  fette  Arthritiker 
finden  auch  in  Orten  wie  Tarasp ,  Kissingen ,  Marienbad  Besserung. 
Sehr  chronische  Geleukergüsse  können  mit  Compression  oder  Function 
behandelt  werden.  Die  Excision  der  Gichtknoten  ist  zwecklos. 

Die  Gelenkaffectionen  der  Hämophilen  bestehen  oft  in 
nur  leisen  Gelenkschmerzen  (rheumatischer  Art),  denen  vermuthlich 
kleine  Blutungen  in  die  Synovialis  zu  Grunde  liegen.  In  seltenen  Fällen 
kommt  es  zu  grossen  Blutergüssen,  die  meist  mit  Verlöthung  des  Ge- 
lenks enden.  Nicht  so  selten  finden  sich  gleichzeitig  grosse  Muskel- 
blutungen, die  gleichfalls  in  Atrophie  ausgehen,  so  dass  schwere 
dauernde  Störungen  daraus  resultiren.  Ruhe,  Feststellung  und  feuchte 
Umschläge  sind  die  —  ziemlich  ohnmächtigen  Behelfe  der  Therapie.  — 
Auch  bei  Scorbut  und  hämorrhagischer  Diathese  kommen  Ge- 
lenkblutungen vor,  die  jedoch  —  für  das  befallene  Gelenk  —  eine 
weniger  ungünstige  Prognose  geben. 

Von  den  bei  Vergiftungen  mit  schweren  Metallen  vorkommenden 
Gelenkentzündungen  hat  eigentlich  nur  die  Bleigicht  grössere  prak- 
tische Bedeutung.  Sie  findet  sich  bei  Leuten,  die  viel  mit  Blei  zu  thun 
haben,  Schriftsetzern,  Buchdruckern  u.  dergl. ;  die  Erscheinungen  haben 
manche  Aehnlichkeit  mit  der  echten  Gicht,  namentlich  den  Gelenk- 
affectionen bei  der  chronischen  Gicht,  doch  sind  die  —  meist  das  Knie 
betreffenden  —  Ergüsse  stärker  gespannt  und  schmerzhafter  als  bei 
der  echten  Gicht,  Häufig  findet  sich  gleichzeitig  Bleikolik  und  ein  grau- 
schwarzer Bleisaum  am  Zahnfleisch.  Die  Behandlung  besteht  in  Jodkali 
innerlich  (das  Blei  wird  als  Jodblei  leichter  ausgeschieden),  energischer 
Balneotherapie  (Dampfbäder),  Priessnifz'' sehen  Umschlägen  und  Massage. 
Wenn  möglich  ist  die  Beschäftigung  auszusetzen. 

Die  deformirenden  und  atrophischen  Formen  der  Ge- 
lenkentzündungen  sind  ätiologisch  noch  keineswegs  klargestellt. 

Noch  am  leichtesten  verständlich  ist  die  Arthritis  deformans 
traumatica.  Sie  ist  monarticulär,  d.  h.  sie  befällt  nur  ein  einziges 
Gelenk.  Die  Verletzung,  die  den  Process  einleitet ,  ist  bald  nur  eine 
leichtere  Quetschung  oder  Verstauchung,  ein  anderesmal  eine  schwere 
Gelenkverletzung  (Gelenkbruch,  Luxation  mit  Fractur  u.  dergl.).  Daran 
schliesst  sich  nun ,  oft  unmittelbar ,  oft  erst  nach  Jahren ,  schleichend 
sich  entwickelnd,  eine  zunehmende  Functionsstörung  des  Gelenks ;  die 
Formen  desselben  werden  unregelmässig,  an  der  einen  Stelle  schwindet 
der  Knorpel  und  schleift  sich  der  Knochen  ab ,  an  einer  anderen 
kommt  es  zur  Auflagerung  von  Osteophyten  und  zur  Verdickung  und 
Verhärtung  des  Knochens  (Sclerosc  und  Eburneation).  Natürlich  ent- 
steht im  Gelenk  Reiben,  Knarren  und  Crepitiren ;  die  Bewegung  zwischen 
den  nicht  mehr  congruenten  Gelenkflächen  wird  immer  mehr  beschränkt 
und  schliesslich  kann  es  bei  diesen  traumatischen  Formen  sogar  zur 
Ankylose  kommen. 

Aelinliche  Veränderungen,  aber  in  vielen  Gelenken,  finden  sich  bei 
der  typischen  Arthritis  deformans.  Diese  sich  ziemlicli  schleichend 
entwickelnde  Krankheit  ist  in  ihrer  Aetiologie  noch  dunkel ;  sie  befällt 
meist  Männer  von  der  zweiten  Hälfte  des  Lebens  ab  ;  äussere  Anlässe, 
Beschäftigungs-  und  Lebensweise  spielen  anscheinend  keine  Rolle,  eher 
noch  die  Erblichkeit. 


512 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knoelien  und  Gelenke. 


Die  Krankheit  beginnt  mit  einem  Gefühl  der  Steifigkeit,  namentlich 
des  Morgens.  Wenn  die  Kranken  einige  Zeit  in  Bewegung  sind,  werden 
die  Glieder  wieder  gelenkig,  um  nach  längerer  Ruhe  wieder  steif  zu 
werden.  Bald  jedoch  lassen  wirkliche  Veränderungen  an  den  Gelenken 
keinen  Zweifel  mehr  an  der  Diagnose.  Die  Gelenkkörper  werden  plump 
und  breit;  das  Knie  verbreitert  sich  auf  das  Anderthalbfache,  die  Ge- 
lenkfläche der  Tibia  wird  napfförmig  ausgehöhlt.  Die  Ränder  dieses 
vom  Knorpel  entblössten  Gelenktellers  sind  mit  Knochenwucherungen 
—  tropfsteinartigen  Osteophyten  —  besetzt.  Der  zugehörige  Gelenktheil 
des  Femur  wird  walzenförmig  abgeschliffen,  seitlich  sind  die  Ränder 
wie  umgekrempelt  u.  s.  f.  Dabei  wird  die  Stellung  der  Knochen  gegen- 
einander auch  eine  andere,  meist  entwickelt  sich  ausgesprochene  0-Bein- 
stellung ,   Streckung  und  Beugung  werden    eingeschränkt ;    doch   ist  es 

Fig.  422. 


eine  alte  Erfahrung,  dass  die  Gelenke  bei  Arthritis  deformans  nie 
völlig  obliteriren.  Ein  Rest  von  Beweglichkeit  bleibt  immer  noch  zurück. 
Häufig  kommt  es  sogar  zur  Bildung  von  Schlottergelenken.  —  Noch 
charakteristischer  sind  die  Veränderungen  am  Hüftgelenk.  Hier  fallen 
Abduction  und  Adduction,  sowie  Rotation  bald  fort,  und  der  Ober- 
schenkelkopf,  der  nur  noch  in  der  Richtung  von  Beugung  und  Streckung 
bewegt  wird,  wird  fast  zu  einer  quergestellten  Walze  abgeschliffen.  — 
Bei  Arthritis  deformans  wird  überhaupt  der  Charakter  der  Gelenke 
oft  ein  völlig  anderer,  Arthrodien  (Hüfte)  werden  zu  Ginglymusgelenken ; 
während  einaxige  Gelenke  oft  mehr  Freiheiten  bekommen,  als  sie  bis- 
her besassen  (Knie,  Ellbogen).  In  späteren  Stadien  geht  die  Destruction 
noch  weiter,  so  dass  die  merkwürdigsten  Formen  entstehen ;  der  Ober- 
schenkelkopf kann  Hut-,  Pilzform  u.  s.  f.  bekommen  (Fig.  422).  Dem 
entsprechend  wird  natürlich  auch  die  Functionsfähigkeit  der  Gelenke 
hochgradig  gestört. 


Arthritis  deformans.  —  Chronischer  Gelenkrheumatismus.  513 

Der  Verlauf  der  Arthritis  deformans  ist  fast  unaufhaltsam.  Die 
Versehlimmerung-en  erfolgen  gewöhnlich  schubweise,  oft  nach 
Ueberanstrengung-en  und  Verletzungen,  in  Gestalt  entzündlicher  Attaken, 
öfters  mit  serösen  Ergüssen  und  Exacerbation  der  Schmerzen,  die  sonst 
bei  dieser  Krankheit  gering  sind. 

Anatomisch  stellt  sich  in  frühen  Fällen  zunächst  eine  Degeneration  des  Knorpels 
ein,  die  Grundsubstanz  wird  faserig,  die  Knorpelzellen  vermehren  sich ;  bald  fasert  sich 
die  Grundsubstanz  auf,  so  dass  die  Oberfläche  des  Knorpels  förmlich  zottig  wird;  die 
Knorpelkapseln  brechen  auf,  und  so  geht  der  Knorpel  allmählich  zu  Grunde.  Der 
nun  nackt  zu  Tage  tretende  Knochen  wird  glattgeschliffen,  so  dass  er  wie  mattes 
Porzellan  erscheint;  er  wird  zugleich  sehr  hart  durch  entzündliche  Sclerosirung.  Die 
Wucherungen  an  den  Eaudtheilen  beruhen  gleichfalls  auf  entzündlicher  Osteophyt- 
bildung.  —  Diese  Abscheuerung  oder  Abmahlung  der  Gelenkflächen  schreitet  nun  fort, 
in  gleicher  Weise  aber  auch  die  Anbildung  verdichteten  Knochengewebes. 

Die  Diagnose  des  Leidens  ergibt  sich  aus  dem  Vorhergehen- 
den von  selbst.  Die  Functionsstörungen ,  die  Formveränderungen ,  das 
Crepitiren  u.  s.  f.,  das  Alter  der  Kranken  lassen  die  Diagnose  des  Leidens 
stets  mit  Leichtigkeit  machen. 

Die  Behandlung  des  Leidens  ist  nicht  ganz  so  aussichtslos,  wie 
man  vielleicht  denken  möchte.  Normale  Gelenkformen  lassen  sich 
natürlich  nicht  wieder  erzielen,  aber  der  Gang  des  Leidens  lässt  sich 
mindestens  sehr  verzögern.  —  Innerlich  hat  mir  Arsenik  (O'Ol  und 
mehr  pro  die)  oft  zweifellose  Resultate  gegeben,  nur  rauss  der  Gebrauch 
mindestens  V*  Jahr  fortgesetzt  werden.  Oertlieh  empfiehlt  sich  Massage, 
mit  passiven  Bewegungen,  wobei  an  freiliegenden  Gelenken  (Knie) 
besonders  die  vorragenden  und  störenden  Osteophyten  darangenommen 
werden.  Dann  sind  Moorumschläge  oder  Moorbäder  oft  zweckmässig; 
gelegentlich  auch  heisse  Sandbäder.  Kälte  bekömmt  den  Kranken 
schlecht.  Massige,  oft  wiederholte  Bewegungen  sind  äusserst  nützlich, 
sonst  rosten  die  Gelenke  förmlich  ein.  Ueberanstrengungen  .sind  sehr 
schädlich.  Eine  massige  Lebensweise  scheint  gleichfalls  nützlich.  Die 
operative  Inangriffnahme  (Resection  und  Abmeisselung  der  Rauhig- 
keiten) hat  zum  Theile  günstige  Ergebnisse  geliefert  {W.  Müller, 
Langenheck' s  Archiv,  Bd.  47,  Riedel  u.  A.).  Mir  haben  sich  entlastende 
Schienenhülsenapparate  meist  gut  bewährt. 

Ob  man  ausser  der  typischen  Arthritis  deformans  noch  eine  eigene  senile  Gelenk- 
entartung —  Malum  senile  —  annehmen  soll,  scheint  fraglich.  Es  handelt  sich 
wohl  mehr  um  sehr  hochgradige  Deformationen,  namentlich  der  Hüfte,  daher  auch  Malum 
senile  coxae  genannt,  bei  Arthritis  deformans.  Entsprechend  der  Atrophie  aller  Organe 
im  Alter  ist  die  Atrophie  hier  über  die  Regeneration  überwiegend,  so  dass  im  Laufe 
der  Jahre  der  ganze  Schenkelkopf  und  Schenkelhals  allmählich  weggeschliffen  werden 
und  die  Trochanterpartie  unmittelbar  der  Pfanne  ansteht. 

Eine  Krankheit,  die  mit  Unrecht  mit  der  Arthritis  deformans  zu- 
sammengeworfen wird,  ist  der  chronische  Gelenkrheumatismus.  — 
Die  Veranlassung  dieses  Leidens  sind  häufig  wiederholte  Erkältungen 
und  Diirchnässungen  (Wäscherinnen ,  Jäger ,  Landbriefträger ,  alte 
Soldaten  u.  s.  f.).  Aus  acutem  Gelenkrheumatismus  scheint  er  auch  in 
einzelnen  Fällen  hervorgehen  zu  können.  Auch  Erblichkeit  scheint  in 
Betracht  zu  kommen. 

Die  anatomischen  Verhältnisse  sind  andere  als  bei  der 
Arthritis  deformans  (vergl.  SchiUlcr ,  Lanfjrnbcrk's  Archiv,  Bd.  45).  Zu- 
nächst sind  Schrnmpfnngsprocesse  an  Kapseln  und  Bändern  vorhanden, 
die  die  Beweglichkeit   der    Gelenke    herabsetzen    und    schliesslich  auf- 

Landercr,   Allg.  chir.  Pathologie   u.  Thorapip.   2.  Aufl.  33 


514  "^I-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

heben.  Dann  aber  stellen  sich  auch  adhäsive  Processe  ein,  welche  die 
Gelenke  verlöthen.  Der  chronische  Gelenkrheumatismus  zeigt  eine  grosse 
Neigung  zur  Ankylosenbildung  und  ist  daher  auch  als  Arthritis  rheu- 
matica  chronica  ankylopoetica  bezeichnet  worden.  Wucherungsvorgänge 
zeigt  der  Knochen  nicht,  wohl  aber  hat  man  Wucherungen  der  Gelenk- 
zotten und  entzündliche  Verdickung  und  Schrumpfung  der  Kapsel.  Auch 
die  Haut  wird  dünn,  blass,  welk,  kalt  und  cyanotisch;  ebenso  hat 
man  schon  in  frühen  Stadien  Paresen  und  später  deutliche  Atrophien 
der  Muskeln.  Die  Gelenke  stehen  daher  schliesslich  in  den  merk- 
würdigsten Stellungen  still,  so  dass  der  Körper  in  der  wunderbarsten 
Weise  verdreht  und  verzogen  wird.  Liegen,  Sitzen,  Stehen  sind  oft 
kaum  mehr  möglich,  wie  auch  die  Zufuhr  der  Speise  mit  den  Händen, 
Essen  und  Kauen  allmählich  unmöglich  werden.  —  Die  Gelenke  sind 
oft  schon  spontan  schmerzhaft,  meist  aber  sind  Bewegungen  excessiv 
empfindlich,  so  dass  die  Kranken  auf  jeden  Bewegungsversuch  ver- 
zichten, und  hiedurch  wird  die  Sache  erst  recht  schlimm. 

Die  Behandlung  gibt  im  Ganzen  wenig  Erfolge.  Das  Beweglich- 
machen der  Gelenke  ist  —  wenn  langsam  und  allmählich  gemacht  — ■ 
äusserst  zeitraubend.  Ein  plötzliches  gewaltsames  Mobilisiren  der  Ge- 
lenke erfordert  Narcose.  Doch  geht  das  Gewonnene  meist  wieder  ver- 
loren. Massage  ist  nur  sehr  vorsichtig  zu  machen ;  jedoch  in  dem 
Anfangsstadium  oft  erfolgreich.  —  Warme  Bäder  (Wildbad,  Wiesbaden, 
auch  Teplitz  u.  s.  f.)  sind  meist  nützlich,  ferner  Sool-  und  Schwitz- 
bäder, schottische  Douchen  u.  s.  w.,  ebenso  Moor-  und  heisse  Sand- 
bäder. —  Von  innerlichen  Mitteln  helfen  Salicylsäure  und  seine  Deri- 
vate, Salipyrin,  Phenacetin,  Antipyrin  etc.,  oft  über  besonders  schmerz- 
hafte Perioden  weg;  der  andauernde  Gebrauch,  der  empfohlen  wird,  ver- 
langt Vorsicht  (Nieren,  Herz !).  Auch  Arsen  ist  oft  von  Erfolg  begleitet, 
seltener  Jod.  Auch  Injection  von  2''/o  sterilisirter  Salicylborsäurelösung 
und  3Vo  Jodoformglycerin  wird  empfohlen,  ebenso  Arthrektomie  (Aus- 
schneidung der  Gelenkkapsel)  mit  folgender  Bäderbehandlung.  SchüUcr 
hält  den  chronischen  Rheumatismus  für  infectiöser  Natur  und  gibt  an 
(Berliner  med.  Ges.,  12.  H.  1896),  durch  Injection  von  Rheumatismus- 
bacillen  chronischen  Gelenkrheumatismus  erzeugt  zu  haben.  Zöge- 
Manteuffel  {Langenheck' s  Archiv,  Bd.  45)  weist  auf  die  Bedeutung  von 
Arteriosclerose  durch  Wucherung  der  Intima  für  rheumatische  Zustände 
hin.  (Vergl.  Muskelrheumatismus.) 

Bei  den  neuroparalytischen  Gelenkentzündungen  kommt 
die  Aufhebung  des  Nerveneinflusses  nicht  als  Erreger  der  Entzündung 
in  Betracht,  wohl  aber  modificirt  sie  die  Entzündung  wesentlich  und 
beeinflusst  namentlich  die  Ausgänge  in  ungünstiger  Weise  (vergl. 
pag.  35).  Die  neuroparalytischen  GelenkaflFectionen  kommen  selten 
nach  Nervendurchschneidungen,  häufig  dagegen  bei  Tabes  dorsalis  vor, 
in  deren  Verlauf  wir  sie  zwar  nicht  als  regelmässige,  aber  doch  als 
häufige  und  typische  Theilerscheinungen  beobachten  —  tabische 
Gelenkaffectionen. 

Im  Anschluss  an  eine  leichte  Verletzung,  die  bei  einem  Gesunden 
in  wenigen  Tagen  zurückgegangen  wäre,  kommt  es  —  oft  in  wenigen 
Stunden  zu  einer  —  ballonartigen  Auftreibung  eines  Gelenks  durch  blutig 
serösen  Erguss,  dabei  ist  das  Gelenk  so  gut  wie  gar  nicht  schmerz- 
haft  und  die  Kranken  werden  auf  die  Gelenkaflfection   meist  nur  zu- 


Arthropathia  tabica. 


515 


fällig  oder  durch  die  Unsicherheit  der  Bewegungen  aufmerksam.  Die 
Spannung  der  Kapsel  ist  gering ;  die  Haut  normal,  etwas  gespannt 
und  eher  blässer.  Häufig  kommen  gleichzeitig  ausgedehnte  Oedeme  der 
bedeckenden  Weichtheile,  selbst  harte  Infiltrate  vor.  Von  Arthritis  de- 
formans  unterscheidet  sich  der  Process  durch  die  Schmerzlosigkeit,  die 
dazu  hinleitet,  die  übrigen  für  Tabes  entscheidenden  Symptome  (Anäs- 
thesien und  Parästhesieu,  Coordinationsstörungen,  schwankender  Gang^ 
fehlende  Sehnenreflexe,  lancinirende  Schmerzen  etc.)  festzustellen.  Auch 
das  rasche  Kommen  und  Gehen  des  Ergusses  ist  wichtig.  Für  die  Behand- 
lung empfehlen  sich  Massage  und  Pnessmfe'sche  Umschläge;  dabei  ist  ein 
Schutzverband,  eine  Kniekappe  u.  dergl.  oder  ein  entlastender  Schienen- 
hülsenapparat  anzulegen  und  die  Bewegung  einzuschränken.  Ein  Jodan- 
strich, eine  Ichthyolsalbe  u.  dergl.  (1:1  —  1:2)  können  versucht  werden. 
Nachdem    der    Erguss    beliebig   lange,    oft   Monate   durch,    bestanden, 

Fig.  423. 


verschwindet  er  — ■  von  der  Behandlung  ziemlich  unabhängig  —  ent- 
weder allmählich,  oder  ziemlich  rasch.  Das  Gelenk  kann  —  von  einer 
gevvissen  Lockerung  des  Bandapparates  abgesehen  —  annähernd  wieder 
normal  erscheinen.  Doch  neigt  der  Process  sehr  zu  örtlichen  Recidiven. 
Diese  Form  hat  man  als  benigne  Form  bezeichnet. 

Bei  den  malignen  Fällen  tritt  rasch  die  Deformation  der 
Gelenkkörper  in  den  Vordergrund,  in  einer  Weise,  dass  man  die  tabischen 
Arthriten  mit  der  Arthritis  deformans  glaubte  zusammenwerfen  zu 
dürfen.  Sie  unterscheiden  sich  aber  von  dieser  neben  den  genannten 
Sympton)en  der  Tabes  durch  die  IJapidität  der  Zersti)rungen  —  binnen 
wenigen  Monaten  können  grosse  Partien  der  Gelenkkör|)er  der  Re- 
sorption verfallen.  Fig.  428.  tabischcs  lliifti;('lenk,  wo  von  Koj)f  und 
Hals  des  Fcmur,  von  der  Pfanne  des  Hüftbeines  so  gnt  wie  nichts 
mehr  übrig  ist;  der  Rest  des  Femur  und  die  Beckenknochen  sind  in 
eine  osteo])orotische.  zerfressene  Masse  verwandelt.  Bei  der  Entstellung 
dieser  enormen  Dcfecte    scheinen  Verletzungen    der  Gelenke,  intraarti- 

33* 


516  VII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

culäre  Fracturen  und  Absprengungen  wesentlich  betlieiligt  zu  sein.  Die 
anästhetischen  Kranken  werden  nicht,  wie  Gesunde,  durch  die  Schmerzen 
zur  Schonung-  gezwungen  und  so  werden  diese  verletzten  und  durch 
die  Störung  ihrer  Nerven  wenig  widerstandsfähigen  Knochen  allmählich 
durch  den  Gebrauch  förmlich  zermahlen,  abgekratzt  und  ausgefahren. 
Ausser  einem  ziemlichen  Grad  von  Schlottergelenk  hat  man  meist 
Crepitation ;  kann  intraarticuläre  freie  Körper  u.  s.  w.  hin-  und  her- 
schieben. Die  Anbildung  und  Sclerose,  die  man  bei  der  Arthritis  defor- 
mans  fast  ausnahmslos  findet,  fehlt  bei  Tabes  fast  ganz,  und  während 
die  Gelenke  bei  Tabes  zusehends  schlottriger  werden,  schränkt  sich 
bei  Arthritis  deformans  die  Bewegungsgrösse  immer  mehr  ein. 

Die  Behandlung  besteht  zunächst  in  Anlegung  von  Schutz- 
apparaten, welche  die  Bewegungen  einschränken  und  die  Gelenke 
stützen.  In  den  schwersten  Fällen,  wo  —  meist  im  Anschluss  an  eine 
äussere  Verletzung  —  es  zur  Eiterung  kommt,  ist  Incision  und  Drainage 
nöthig.  In  einzelnen  Fällen  ist  die  Resection  mit  Erzielung  einer 
ankylotischen  Verbindung  gemacht  worden.  Die  Ergebnisse  haben 
nicht  befriedigt.  Aeussersten  Falls  kann  auch  die  Amputation  in  Frage 
kommen.  (Vergl.  Czerny ,  Langenheck' s  Archiv,  Bd.  34,  Rotter,  ebenda, 
Bd.  36.) 

An  den  oberen  Extremitäten  kommen  den  tabischen  ähnliche  Gelenkaffectionen 
vor  bei  Syringomyelie  (Höhlenbildung  im  Rückenmark  mit  Anästhesie,  Analgesie, 
Störung  des  Temperatursinns  an  der  Brust,  Muskelatrophien,  sj^mmetrischen  Contracturen, 
Neigung  zu  symmetrischer  Gangrän  u.  s.  w.)  (yergl.  Petersen,  hang enb eck' s  Archiv,  Bd.  39). 

Auch  die  Osteochondritis  dissecans  (siehe  pag.  517)  gehört  zur  Arthritis 
deformans. 

Die  Gelenkneurosen  gemessen  heutzutage  weniger  Popularität  als  früher. 
Man  versteht  darunter  Zustände  von  oft  extremer  Schmerzhaftigkeit  einzelner 
Gelenke  ohne  nachweisbare  anatomische  Ursache.  Zur  Diagnose  gehört  nervöse  Bean- 
lagung  des  betreffenden  Individuums  —  Hysterie,  Hypochondrie  u.  dergl.  Die  Diagnose 
des  Leidens  ist  also  nur  möglich  durch  Ausschliessung  anderer  —  anatomischer  Gelenk- 
erkrankungen und,  wie  schwer  das  ist,  eine  beginnende  tuberculöse  u.  s.  w.  Erkrankung 
mit  Sicherheit  auszuschliessen,  ist  klar.  Ich  bin  in  der  Diagnose  „Gelenkneurose"  äusserst 
zurückhaltend  geworden,  seit  ich  2  Fälle  von  Gelenkneurose  des  Hüftgelenks  —  mehr- 
fach in  Narcose  untersucht  und  von  einer  Reihe  von  Aerzten  als  „typische  Neurosen" 
anerkannt  —  einige  Jahre  später  wieder  sah  mit  Ankylose  im  Hüftgelenk  in  typischer 
Adduction,  Flexion  und  EinwärtsroUung. 

Die  Behandlung  besteht  in  Massage  oder  Elektricität  (constanter  Strom) ;  im 
Uebrigen  Allgemeinbehandlung  (Kaltwassercur,  Seebäder,  Eisen).  Sie  ist  bei  hysterischen 
jungen  Damen  meist  von  Erfolg,  wenn  auch  Recidive  vorkommen. 

Schliesslich  wäre  noch  der  freien  Gelenk körper  (Corpora 
libera  articulorum,  Gelenkmäuse,  Mures  articulorum)  zu  gedenken.  Die 
klinischen  Erscheinungen  derselben  sind  höchst  eigenartig.  Ein  für  ge- 
wöhnlich schmerzfreies  und  brauchbares  Gelenk  steht  plötzlich  in 
irgend  einer  Stellung  fest,  unter  sehr  heftigem  Schmerz  —  der  freie 
Gelenkkörper  hat  sich  zwischen  den  Gelenktheilen  eingeklemmt.  Nach 
einer  energischen  Bewegung  ist  das  Gelenk  ebenso  plötzlich  wieder 
völlig  frei,  der  Schmerz  verschwunden,  der  freie  Körper  ist  flott  ge- 
worden, bei  Seite  geschoben  und  ruht  nun  unschädlich  vielleicht  in 
irgend  einer  Falte  der  Synovialis.  —  Entzündungserscheinungen  fehlen 
am  Gelenk. 

Die  anatomische  Untersuchung  der  durch  Verletzung  (Ab- 
sprengung  aus  dem  Knochen)  entstandenen  freien  Gelenkkörper  ergibt 
meist  bohnen-  oder  mandelförmige  flachgeschliffene  Körper,  aus  Knorpel- 


Freie  Gelenkkörper. 


517 


Fig.  424. 


oder  Küochensubstanz,  die  entweder  frei  sind  oder  an  einem  kürzeren 
oder  längeren  ( —  3  Cm.)  Stiel  hängen.  Fig.  424,  Gelenkkörper  eines 
14jälirigen  Bauernknechtes  (der  durch  ein  Trauma  abgesprengte  Epi- 
condylus  externus  humeri).  Der  napf- 
förraige  Körper  ist  noch  durchaus 
knorpelig,  wie  auf  dem  Durchschnitt 
zu  sehen  ist.  Er  wurde  durch  Schnitt 
aus  dem  Gelenk  gewonnen.  Volle 
Wiederherstellung  der  Function. 

In  anderen  Fällen  sind  freie 
Gelenkkörper  Theilerscheinungen  der 
Arthritis  deformans  und  der  neuro- 
paralytischen  Gelenkentzündungen.  Bei 

jener  ist  die  ganze  Kapsel  besetzt  mit  aus  Synovialzotten  hervor- 
gegangenen gestielten  knorpel-  und  knochenhaltigen ,  unregelmässigen, 
maulbeerartigen  bis  walnussgrossen  Körpern.  (Lit.  über  freie  Gelenk- 
körper, Bealf  Deutsche   Zeitschr.  f.  Chirurgie,  Bd.  38.) 

Ein  Theil  der  freien  Gelenkkörper  entstellt  aucli  durch  die  von  König  (Deutsche 
Zeitschr.  für  Chii-.,  Bd.  27)  zuerst  beschriebene  Osteochondritis  dissecans  (vergl.  Staffel, 
Langenheck's  Archiv,  Bd.  48),  wobei  neben  Sclerosenerscheinungen  und  Zottenwucherung 
und  serösem  Erguss  der  Gelenkkopf  fast  ganz  zum  Schwund  kommt  und  Reste  von 
ihm  als  freie  Gelenkkörper  zurückbleiben.  Barth,  Chir.  Congr.  1896,  lehnt  die  Osteo- 
chondritis dissecans  als  eigene  Krankheit  ab. 

Die  Behandlung  der  freien  Gelenkkörper  ist  eine  sehr  einfache. 
Der  freie  Körper  wird  gut  fixirt ,  dass  er  nicht  entschlüpfen  kann ; 
sämmtliche  Weichtheile  werden  mit  einem  Schnitt  gespalten  und  die 
andere  Hand  drängt  den  Körper  heraus.  Sofortige  tiefe  Naht  schliesst 
die  ganze  Wunde.  Locale  Anästhesie  genügt.  Bei  Arthritis  deformans 
habe  ich  das  Gelenk  mit  kleinem  Schnitt  geöffnet^  die  Zotten  und 
Gelenkkörper  mit  Pincette  und  Scheere  abgetragen,  die  ganze  Synovialis 
kräftig  abgekratzt,  circa  1  Grm.  Jodoform  eingebracht  und  das  Gelenk 
durch  Naht  geschlossen.  Die  Erfolge  waren  sehr  gut  und  anscheinend 
dauernd. 


Die  Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke. 

Vorkommen  der  Tuberculose.  —  Der  klinische  Verlauf  der  tuberculösen  Knochen- 

und     Gelenkleiden.     —    Pathogenese    und    pathologische    Anatomie     derselben.    — 

Therapie.  —   Conservative  und  operative  Behandlung.  —  Prognose. 

Die  Tuberculose  ist  zur  Zeit  die  mörderischeste  aller  Krankheiten. 
Etwa  18'^  „  aller  Todesfälle  werden  auf  Lungentnberculose  zurück- 
geführt ,  dabei  sind  andere  Tuberculosen  in  inneren  Organen  (Darm, 
Harnorganc,  Gehirn  etc.j  nicht  mitgerechnet,  ebensowenig  die  Fälle 
von  Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke.  Dass  auch  diese  keine 
kleine  Summe  ausmachen,  ist  aus  der  Statistik  von  Dcnime  über  die 
Häutigkeit  des  Vorkoiiinicns  der  Tuberculose  iin  Kindesalter  zu  ent- 
nehmen, ilienach  kamen  auf  Knochen  und  (Jelenke  42'5ö/o ,  periphere 
Lymphdrüsen  35'8'%,  Lungen  lO'G",,,,  Darm  3-5''/o,  Haut  2-6%,  Nerven- 
centren  GöVo,  Geschlechtsorgane  0'5"/o5  Nieren  0"4°/o.  lieber  Bacterio- 
logie  und  Histologie  der  'J'uberculose  sind  pag.  175  tt".  nachzusehen,  dort 
ist  auch  die  Frage  der  Kjblifhkeit  der  Tuberculose   schon    besprochen. 


513  VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Ueber  die  Erblichkeit  bei  Tuberculose  vorgl.  Laser,  Deutsche  med.  Wochenschr., 
18'J6,  31,  Lit.  Er  fand  bei  32-4— o8'97o  aller  untersuchten  Kinder  geschwollene  Hals- 
drüsen. (Hie  mögen  aber  nicht  alle  tuberculös  sein.)  Starck  (Münchener  med.  Wochenschr., 
1896,  7)  fand  in  cariösen  Zähnen  zahlreiche  Tuberkelbacillen  und  in  417o  von  tuber- 
Gulösen  Halsdrüsen  Zusammenhang  mit  Caries  der  Zähne.  Strauss  fand  von  29  Fällen 
9mal  Tuberkelbacillen  im  Nasenschleim  gesunder  Personen  fWärter),  die  mit  Tuberculosen 
zusammen  waren. 

Die  Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke  ist  seit  den 
ältesten  Zeiten  bekannt,  aber  unter  anderen  Namen  —  Arthrocace, 
Arthralgia,  Caries,  Knochenfrass,  Glied-  oder  Gelenkschwamni  (Fungus), 
Tumor  albus  (White  swelling)  u.  s.  w.  Noch  bis  in  die  jetzige  Zeit  wird 
festgehalten  die  Bezeichnung  —  scrophulöse  oder  fungöse  Gelenkleiden. 
Die  Erkenntniss,  dass  diese  überaus  häufigen  und  gefiirchteten  Affec- 
tionen  der  Tuberculose  zuzuzählen  sind,  wurde  vorbereitet  durch  die 
Arbeiten  von  Köster,  Friedländer  und  Volkmann ;  endgiltig  entschieden 
wurde  die  Sache  durch  Robert  Koch.  Ueber  die  Geschichte  der  chirur- 
gischen Tuberculose  ist  u.  A.  zu  vergleiclien  Köniffs  Vortrag  auf  dem 
Chirurgencongress  1896. 

Bleiben  wir  zunächst  bei  den  klinischen  Erscheinungen  der 
Krankheit.  Sie  ist  vorwiegend,  doch  keineswegs  ausschliesslich  eine 
Krankheit  des  Kindesalters.  Nur  selten  werden  ganz  gesunde  Kinder 
befallen,  meist  haben  die  Kinder  schon  andere  Erscheinungen  von  Scro- 
phulöse (vergl.  pag.  177)  durchgemacht.  Eine  schwerere  Krankheit,  Ma- 
sern, Scharlach,  Lungenentzündung,  Keuchhusten  u.  dergl.  geht  mit- 
unter den  ersten  Erscheinungen  voraus. 

Fast  regelmässig  wird  —  als  Vorläufer  der  Erkrankung  —  eine  an 
sich  leichte  Verletzung,  ein  Fall  auf  die  betreffende  Gegend  u.  dergl. 
angegeben.  Unter  den  unscheinbarsten  Erscheinungen  und  überaus  lang- 
sam entwickelt  sich  nun  das  Leiden.  Die  kranke  Extremität  wird 
zunächst  nur  leichter  müde  und  wird  „geschont".  Kann  das  Kind  ruhen 
oder  ganz  liegen,  so  ist  nach  wenig  Tagen  die  kleine  Unpässlichkeit 
vorüber.  Es  können  Wochen,  Monate  ohne  Beschwerde  verlaufen. 
Dann  wiederholt  sich,  nach  einer  stärkeren  Anstrengung  vielleicht,  der- 
selbe Vorfall  u.  s.  w.  Dieses  Stadium  prodromorum  kann  sich  über 
Monate,  selbst  Jahre  hinziehen.  Allmählich  aber  werden  die  Erscheinun- 
gen deutlicher,  es  treten  wirkliche  Schmerzen  auf,  die  Kinder  brauchen 
die  betreffende  Extremität  fast  gar  nicht  mehr.  Dabei  wird  das  All- 
gemeinbefinden weniger  gut,  die  Kinder  werden  bleich,  die  Entwicklung 
steht  still.  In  diesem  Stadium  kann  der  aufmerksame  Untersucher  schon 
wirkliche  Veränderungen  feststellen.  Die  active  und  passive  Beweg- 
lichkeit in  dem  betreifenden  Gelenk  ist  beschränkt.  Die  Kinder  bevor- 
zugen eine  bestimmte  Stellung,  meist  eine  leichte  Beugung.  Andrücken 
der  Gelenkkörper  gegeneinander  wird  unangenehm  empfunden.  Schwel- 
lung und  Ausdehnung  der  Kapsel  fehlt  häufig  noch  ganz;  dagegen  sind 
die  Lymphdrüsen  der  betreffenden  Seite  mitunter  etwas  grösser  als  der 
anderen  Seite,  selten  druckempfindlich.  Bei  sorgfältiger  Abtastung  der 
Knochen,  die  das  Gelenk  bilden,  findet  man  bisweilen  eine  Stelle,  die 
auf  Druck  ziemlich  schmerzhaft  ist.  Vielleicht  ist  auch  etwas  teigige 
Schwellung  darüber.  Dieser  „Druckpunkt"  ist  sehr  wichtig. 

Nun  werden  die  Zeichen  der  Gelenkerkrankung  von  Woche  zu 
Woche  deutlicher.  Die  Schmerzen  werden  heftiger,  die  Kinder  werden 
durch  sie   Nachts   aus   dem  Schlafe  geweckt.     Das  Glied  wird  immer 


Klinischer  Vei'lauf  der  Knoclientuberculose. 


519 


Fig.  425. 


weniger  gebraucht.  Jeden  Versuch,  dasselbe  zu  bewegen,  begleiten 
Schmerzäusserungen.  Auch  örtlich  werden  die  Veränderungen  zusehends 
deutlicher.  Die  falsche  Stellung  wird 
ausgesprochener;  das  Glied  in  die 
richtige  Stellung  zurückzuführen, 
wird  schwierig,  schliesslich  unmög- 
lich und  ist  äusserst  schmerzhaft. 
Die  Grelenkgegend  schwillt  an,  nicht 
blos  die  Kapsel ,  die  ausgedehnt 
ist,  sondern  auch  die  umgebenden 
Weichtheile  sind  infiltrirt.  Die  Haut 
ist  meist  ödematös,  aber  eher  bleich 
(Tumor  albus).  Häufig  schimmert  ein 
Netz  erweiterter  Venen  durch  die 
Haut,  Diese  Schwellung  deckt  die 
normalen  Formen  der  Gelenkgegend 
völlig  zu,  und  dieselbe  ist  in  eine 
unförmliche,  oft  von  vorne  nach  hinten 
etwas  abgeplattete  Masse  verwandelt. 
Freiliegende  Gelenke  —  Hand,  Ell- 
bogen, Knie,  Fuss  nehmen  oft  Spindel- 
form an.  In  die  Umgebung  verliert 
sich    die  Anschwellung   ohne    scharfe 

Grenzen.     Belastung  der  Gelenkkörper    oder  Andrücken  gegeneinander 
ist  sehr  schmerzhaft. 

In  Fig.  425  (nach  Albert)  ist  Stellungsänderung  des  Hüftgelenks 
bei  Coxitis  abgebildet.  Man  sieht  zugleich  die  dififuse  Schwellung  der 
Hüftgelenkgegend.  Untersucht  man  das  Gelenk  in  Narkose,  so  sind  die 
Bewegungen  erheblich  freier,  bleiben  aber  beschränkt;  Zeichen  von 
Zerstörung  der  Gelenkkörper  fehlen. 

Diese  Periode  kann  man  —  nach  dem  Stadium  prodromorum  — 
I.  Stadium  oder  Stadium  manifestationis  nennen  (entzündliches 
Stadium). 

An  anderen  Gelenken  als  dem  Hüftgelenk,  z.  ß.  dem  Kniegelenk, 
ist  in  diesem  Stadium  häufig  ein  anderes  Bild  zu  constatiren.  Es  findet 
sich  ein  Hydrops  tuberculosus.  Höchstens  bei  Erwachsenen  (wenn 
eine  reine  Synovialistuberculose  vorliegt)  kann  derselbe  mit  einem 
andersartigen  Hydrops  verwechselt  werden.  Bei  Kindern  fehlen  ausser 
dem  serösen  Erguss  die  teigige  Schwellung  der  Weichtheile,  Druck- 
punkte oder  Auftreibungen  der  Knochen  nicht. 

Fig.  426 — 428  geben  die  Unterschiede  eines  normalen  Knies,  eines 
mit  Hydrops  und  eines  mit  Knochentuberculose,  Knochenherd  im  Condylus 
internus. 

Der  weitere  Verlauf  ist  nun  —  in  den  unaufhaltsam  fortschreitenden 
Fällen  —  gekennzeichnet  durcli  immer  mehr  hervortretende  Zeichen 
der  Zerstörung  (Stadium  destructionis)  an  den  Knoclien  und  Band- 
apparaten. Eine  Rückführung  in  die  normale  Stellung  ist  ganz  uniii()glich, 
meist  spannen  sich  Stränge  dem  Versuche  entgegen  (geschrumpfte  oder 
gespannte  Fascienstreifen  oder  bindegewebig  entartete  Muskeln).  Active 
Bewegung  im  CJelenk  ist  so  gut  wie  ganz  ausgeschlossen,  die  passive 
gering,  der  Kranke   stellt   das  Gelenk   ganz    ausser  Dienst    und   sucht 


520 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen   und  Gelenke, 


die  nöthigen  Bewegungen  in  anderen  Gelenken  auszuführen  —  so  be- 
wegen Kranke  mit  Hüftgelenkentzündung  ihr  Hüftgelenk  nur  scheinbar, 
in  Wahrheit  sind  es  die  oft  abnorm  beweglich  gewordenen  Gelenke 
des  Beckens  und  der  unteren  Wirbelsäule,  in  denen  Beugung  und 
Streckung  u.s.  f.  erfolgen.  Hieran  schliessen  sich  wirkliche  Verschiebungen 


Fig.  426. 


Fig.  427. 


Fig.  428. 


1. 


I 


Ä» 


Normales  Kniegelenk. 


Mit  Flüssigkeit  stark  gefülltes  Kniegelenk. 


Knietuberculose  mit  Herd 
im  Condylus  internus. 


der  Knochen  im  Gelenk,  die  man  unmittelbar  an  der  falschen  Stellung  der 
Knochen  zu  einander  erkennen  kann  oder  an  der  Veränderung  gewisser 
Knochenlinien  (Ellbogenlinie,  i?05er'sche  Linie  u.  dergl.  vergl.  pag.  442). 
Die  Verschiebungen  beruhen  auf  Ausweitungen  der  Kapsel  oder  Zer- 
störung der  Pfanne  mit  sogenannter  Pfannen  Wanderung  oder  secun- 
därer  (pathologischer)  Luxationsstellung  oder  auch  auf  Lösungen  in  den 


Klinischer  Vei'lauf  der  Knochen-  und  Gelenktuberculose.  521 

Epiphysenlinien  und  Verschiebungen  der  Diaphyse  gegen  die  Epiphyse 
(vergl.  pag.  416  und  pag.  468).  Bei  einer  Untersuchung,  namentlich 
in  Narkose,  fühlt  man  nicht  so  selten  Reiben  (Crepitation)  im  Gelenk. 
Der  übrige,  namentlich  periphere  Theil  des  erkrankten  Glieds  atrophirt 
mehr  oder  weniger  stark.  —  Das  Allgemeinbefinden  leidet  sehr,  die 
Kinder  machen  einen  kranken  Eindruck;  Schlaf  und  Appetit  sind  selten 
mehr  in  Ordnung.  Geringe  Temperatursteigerungen  des  Abends  sind 
häufig.  Die  Kinder  schreien  oft  Nachts  im  Schlafe  auf.  Bierfreund 
{Langenheck's  Arch.,  41)  fand  bei  Tuberculosen  (chir.  Tub.)  im  Mittel 
einen  Hämoglobingehalt  von  63°  o»  selten  über  65°/o,  herunter  bis  40%. 

Der  weitere  Verlauf  ist  nun  ein  verschiedener,  je  nachdem 
die  Krankheit  sich  noch  zum  Guten  wendet  oder  weitere  schwere  Ver- 
änderungen, namentlich  Eiterung,  sich  einstellen. 

Zur  Heilung  kann  sich  die  Krankheit  in  jedem  Stadium  wenden; 
umso  leichter,  je  früher  die  Periode  der  Krankheit  noch  ist.  Nicht  jede 
tuberculöse  Gelenkerkrankung  muss  immer  in  das  zweite  Stadium  über- 
gehen. Das  zweite  Stadium  ist  aber  derjenige  Zeitabschnitt,  jenseits  dessen 
Heilungen  schwieriger  und  seltener  sind;  je  weiter  die  Zerstörung  vor- 
schreitet, umso  ungünstiger  werden  die  Aussichten. 

Im  günstigen  Falle  gehen  die  Erscheinungen  allmählich  zurück, 
die  Schmerzen  lassen  —  zunächst  zeitweise  —  nach ;  die  Anschwellung 
nimmt  nicht  mehr  zu ,  bleibt  wochenlang  stationär ,  dann  fangen  die 
Theile  an  lockerer  und  verschieblicher  zu  werden  und  endlich  merkt 
man  deutliche  Volumsabnahme.  Die  normalen  Hautfalten  und  Muskel- 
contouren  kehren  zurück.  Die  Kinder  schonen  das  Gelenk  nicht  mehr 
so  ängstlich  und  fangen  an,  das  Glied  wieder  etwas  zu  brauchen.  In 
vorgeschrittenen  Fällen  bleibt  jedoch  die  falsche  Stellung  fixirt  und  es 
bleibt  somit  eine  Ankylose  zurück.  Die  das  Gelenk  umgebenden  Muskeln 
und  Fascien  fühlen  sich  gleichfalls  geschrumpft  und  verkürzt  an. 

Im  ungünstigen  Fall  schliesst  sich  an  dieses  Stadium  der  Schwel- 
lung das  der  Eiterung  und  daran  meist  der  Aufbruch  nach  aussen 
an.  —  Die  Schmerzen  werden  heftiger,  die  Temperatur  wird  unregel- 
mässig; die  Abendtemperatureu  sind  meist  etwas  erhöht,  38 — 39".  Die 
bisher  ziemlich  difi'use  Schwellung  fängt  an  sich  auf  einen  Punkt  zu 
concentriren,  der  sich  halbkugelförmig  vorwölbt.  Jetzt  lässt  sich  Fluctua- 
tion  in  der  Tiefe  erkennen.  Auch  in  dieser  Periode  kann  noch  eine 
Aufsaugung  des  Eiters  erfolgen.  Meist  aber  tritt  derselbe  immer  näher 
an  die  Oberfläche  heran ;  die  Fluctuation  wird  nun  sehr  deutlich,  die 
Haut  röthet  sich  jedoch  nicht,  sondern  ist  wegen  der  starken  Dehnung 
oft  geradezu  anämisch ;  die  Betastung  des  Abscesses  selbst  ist  meist 
so  gut  wie  unempfindlich.  Man  hat  das  typische  Bild  des  „kalten 
Abscesses".  Bleibt  die  Sache  sich  selbst  überlassen,  so  hebt  sich 
schliesslich  eine  Stelle  spitz  vor,  die  Haut  verdünnt  sich  und  der  Abscess 
bricht  durch. 

Der  Eiter  dieser  chronischen  tuberculösen  Abscesse  ist  eigenartig.  Er  hat  ein 
sehr  dünnes  Serum,  ist  viel  dünner  als  gewöhnlicher,  auf  dem  Wege  acuter  Entzündung 
entstandener.  In  ihm  schwimmen  dicke,  käsige  Fetzen  und  Krümel  —  geronnenem  Casein 
ähnlich  —  (daher  der  Eiter  auch  grumös  genannt,  von  gruma,  Krümel).  Lässt  man 
den  Eiter  in  einem  Becherglas  absitzen,  so  bekommt  man  oben  ein  dünnes,  oft  fast 
durchsichtiges  Sernm,  unten  eine  Schicht  dicker,  flockiger  Massen.  Ganz  frisch  entleert 
enthält  die  Flüssigkeit  meist  keine  Kokken,  doch  sind  auch  Tuberkelbacillen  nur  aus- 
nahmsweise darin  zu  finden.   Doch  gelingt  es  durch  intravenöse  Injectionen  des  Eiters, 


522  ^I-f-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Tuberculose  bei  Thieren  zu  erzielen,  auch  habe  ich  einmal  eine  Cultur  daraus  züchten 
können.  Er  hält  jedenfalls  Sporen  in  Menge.  —  Intacte  weisse  Blutkörperchen  sind 
nur  in  geringer  Zahl  vorhanden,  dagegen  viel  Detritus,  Kömchenhaufen  und  einzelne 
Körnchen. 

Für  das  weitere  Schicksal  ist  es  entscheidend,  ob  die  Wunde 
aseptisch  bleibt  oder  Eitererreger  hinzutreten.  Bleibt  die  Wunde  asep- 
tisch, so  sondert  sie  meist  eine  dünne,  geruchlose,  fast  seröse,  eiweiss- 
ähnliche  Flüssigkeit,  oft  in  grossen  Mengen  ab,  die  in  den  Verband- 
stoffen wenig  färbende,  graue  Flecken  hinterlässt.  —  Die  Möglich- 
keit bleibt  hier  nicht  ausgeschlossen,  dass  nach  Wochen  bis  Monaten, 
vielleicht  nach  Ausstossung  eines  kleinen  nekrotischen  Knochenstück- 
chens die  Fistel  ausheilt  —  dauernd  oder  um  nach  Monaten  wieder 
vorübergehend  aufzubrechen.  Für  den  Process  in  der  Tiefe  ist  —  mit 
dem  Aufbruch  des  Abscesses  —  oft  ein  sichtlicher  Nachlass  der  Er- 
scheinungen gegeben  und  es  kann  auf  diesem  Wege  zur  Ausheilung 
kommen.  Auch  das  Allgemeinbefinden  bessert  sich  einigermassen.  Doch 
bleiben  die  Temperaturen  unregelmässig. 

Wird  jedoch  die  Wunde  von  aussen  „septisch"  inficirt  (es  sind 
die  gewöhnlichen  Eiterpilze,  die  auf  die  offene  Wunde  übertragen 
werden) ,  so  ändert  sich  die  Scene  in  ungünstiger  Weise.  Die  Wund- 
ränder und  die  Umgebung  röthen  sieh,  der  Eiter  wird  zu  missfärbiger 
Jauche ,  stinkt  abscheulich ,  die  Granulationen  zerfallen  zu  einer  grau- 
grünen Masse.  Das  Allgemeinbefinden  wird  in  schwerster  Weise  verändert. 
Vor  Allem  stellt  sich  ein  regelmässiges  Fieber  ein  —  niedere,  fast  nor- 
male Morgentemperaturen  mit  hohen  Abendtemperaturen  (39'0 — 40'0"). 
Dieses  Fieber  hält  ununterbrochen  an  über  Wochen  und  Monate  und 
die  Kranken  zehren  sich  — ■-  wie  Schwindsüchtige  im  letzten  Stadium  — 
sichtbar  auf,  Febris  hectica. 

Nun  treten  auch  Zeichen  der  Erkrankung  der  übrigen  Organe  her- 
vor; nicht  so  selten  bronchitische  und  pneumonische  Processe  tuber- 
culöser  Natur,  dann  namentlich  Amyloiderkrankungen,  die  sich  in  Ver- 
grösserung  der  Leber  und  Milz  manifestiren  —  Albuminurie,  schwere 
Diarrhoen  mit  Appetitlosigkeit ,  Zeichen  von  tuberculöser  Meningitis 
u.  dergl.  —  und  schliesslich  führt  die  eine  oder  andere  dieser  Erkran- 
kungen das  Ende  unmittelbar  herbei. 

In  der  Praxis  sind  die  einzelnen  Fälle  unendlich  verschieden. 
Von  einem  typischen  Verlauf  kann  schon  insofern  keine  Rede 
sein,  als  der  Process  in  jeder  Phase  stillstehen  und  zur  Heilung  sich 
wendei)  kann.  Ebenso  ist  es  für  das  ganze  Bild  von  ausschlaggebender 
Bedeutung,  ob  eines  der  grossen  Gelenke  (Hüft-,  Kniegelenk)  oder  ein 
kleines  Fingergelenk  (Spina  ventosa)  ergriffen  ist.  Andererseits  ist 
es  ebenso  klar,  dass  manche  Fälle,  ohne  irgendwelche  Zeichen  von 
Eiterung,  in  jeder  Phase  der  Krankheit  an  innerer  Tuberculose  zu  Grunde 
gehen  können.  Bei  Kindern  macht  namentlich  oft  eine  rasch  sich  ent- 
wickelnde tuberculose  Hirnhautentzündung  ein  schnelles  Ende. 

Wichtig  für  das  Verständniss  dieser  Processe  ist  die  Kenntniss 
der  Pathogenese  und  pathologischen  Anatomie  der  Knochen- 
und  Gelenktuberculose. 

Die  tuberculösen  Knochenerkrankungen  entstehen,  wie  pag.  117 
gesagt,  durch  Embolie.  Der  primäre  Herd,  von  dem  die  Bacillen  ent- 
nommen werden,  sind  meist  innere  Tuberculosen. 


Pathogenese  der  Knochentuberculose. 


523 


In  ungefähr  150  Fällen  fungöser  Erkrankungen,  deren  Sectionsberichte  ich  in  dem 
Archiv  des  Leipziger  städtischen  Krankenhauses  durchging,  habe  ich  nur  in  seltensten 
Fällen  ausdrücklich  als  älter  hervorgehobene  tuberculöse  Affectionen  innerer  Organe,  nament- 
lich der  Bronchialdrüsen,  vermisst.  Diese  Beobachtung  ist  auch  therapeutisch  nicht  ohne 
Bedeutung. 

Dass  die  Tuberkelbacillen  sich  gerade  an  den  spongiösen  Theilen  der  Knochen 
ablagern,  daran  scheint  die  in  dem  Kindesalter  sehr  reichliche  Vascularisation  dieser 
Stellen,  verbunden  mit  der  Langsamkeit  der  Circulation  daselbst,  Schuld  za  sein.  Ferner 
machte  Schfdler  die  interessante  Beobachtung,  dass  besonders  an  entzündeten  und  ver- 
letzten Stellen,  wo  der  Kreislauf  verlangsamt  ist,  sowohl  feinste  körperliche  Massen, 
als  auch  Bacterien  besonders  reichlich  aus  den  Gefässen  in  die  Gewebe  übertreten.  — 
Die  fast  immer  den  tuberculösen  Localisationen  vorausgehende  Verletzung  (s.  oben)  ge- 
winnt im  Hinblick  hierauf  an  Interesse,  weil  sie  es  ist,  die  den  Ort  der  Localisation 
der  im  Blut  ki-eisenden  Bacillen  oder  Sporen  bestimmt.  W.  Müller  (Deutsche  Zeitschr. 
f  Chir. ,  25)  gelang  es  durch  Injection  tuberculösen  Eiters  in  die  A.  nutritia,  typische, 
keilförmige,  tuberculöse  Herde  im  Knochen  zu  erzeugen. 

An  den  betreffenden  Stellen  entsteht  nun  die  geschilderte  tuber- 
culöse Entzündung-  mit  Bildung  nekrobiotischer  Herde,  andererseits  von 
Grranulationen,  denen  der  Knochen  zum  Opfer  fällt.  Der  Zerfall  erfolgt 
bald  unmittelbar,  indem  die  Knochensubstanz  durch  gefässhaltiges  junges 
Bindegewebe    aufgezehrt   wird ;  ein  anderes  Mal  erfolgt  erst  eine  sklero- 


Fig.  429. 


sirende  Ostitis  und  der    so  verhärtete  Knochen   verfällt    dann  meist  in 
grösseren  makroskopischen  Stückchen  (Sequester)  der  Nekrose. 

Diese  tuberculösen  Knochensequester  sind  um-egelmässig  geformte  plumpe  Knochen- 
stückchen ,  von  meist  warziger  abgerundeter  Oberfläche ,  die  hin  und  wieder  ihre 
Entstehung  aus  verdickter  spongiöser  Substanz  noch  erkennen  lassen.  Sie  sind  —  bei 
geringer  Uebung  —  auf  den  ersten  Blick  zu  unterscheiden  von  den  flachen  schalenför- 
migen Osteomj^elitisseqnesfern  (3),  mit  ihren  scharfen,  verdünnten,  ausgefressenen  Rändern, 
die  ausschliesslich  aus  Rindensubstanz  bestehen.  Sie  sind  oft  so  klein ,  dass  sie  z.  B. 
in  ausgeschabten  Granulationen  eingeschlossen,  sich  wie  Sandkörnchen  zwischen  den 
Fingern  anfühlen  (Fig.  429,  1). 

Diese  tuberculösen  Herde  liegen  meist  vorerst  ziemlich  central  im 
Epiphysentheil  des  Knochens.  Doch  findet  sich  an  demselben  schon 
etwas  Auftreibung,  z.  B.  eines  Condylus  femoris  (s.  Fig.  430).  Häufig 
lässt  sich  auch  an  demselben  eine  circumscripte  Anschwellung  nach- 
weisen,  die  als  „fixer  Schmerzpunkt"  klinisch  festgestellt  werden 
kann.  In  einzelnen  Fallen  kann  der  entzündliche  Process  nun  nach  der 
Rinde  hin  fortschreiten,  diese  durchbrechen  und  unter  Bildung  eines  para- 
articulären  Abscesses  sich  darstellen.  In  diesem  Fall  kann  das  Gelenk 
ganz  un])etheiligt  bleiben.  Vergl.  Fig.  431  nach  Volbnann,  tuberculöser 
Herd  im  Selienkclhals  mit  4  tuberculösen  Se(|uestern,  Fntlcerung  nach 
aussen  unter  Freibleiben  des  Hüftgelenks. 

Weitaus  häufiger  schreitet  der  Process  dem  Saftstrom  folgend 
nacii  dem  Gelenk  hin  fort,  erreicht  den  Gelenkknorpel,  hebt  ihn  ab  oder 


524 


VII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


durchbricht  ihn  und  bricht  in's  Gelenk  ein.  An  diese  Infection  des  Ge- 
lenks schliesst  sich  nun  eine  Entzündung;  desselben  an,  die  verschieden 
erscheinen  kann.  Bald  bildet  sich  ein  seröser  Erguss,  so  dass  das  Ge- 
lenkleiden oft  zunächst  als  Hydrops  articuli  aufgefasst  werden  mag; 
bald  kommt  es  daneben  noch  zu  einer  Wucherung  der  Gelenkzotten 
(Arthritis  villosa).  Weitaus  am  häufigsten  kommt  es  zur  Bildung  von 
Granulationen  von  den  Synovialhäuten  aus,  aber  auch  von  den  Knochen- 
flächen, von  denen  der  Gelenkknorpel  theilweise  eingeschmolzen, 
„usurirt"  ,  theilweise  abgehoben  wird.  Allmählich  verwandelt  sich 
die  ganze  Gelenkhöhle  in  eine  grosse  Granulationshöhle.  Diese  Granu- 
lationen sind  von  der  bekannten  Beschaffenheit  —  blass  grauröthlich, 
hin  und  wieder  mit  deutlichen  hirsekorngrossen  Knötchen  besetzt.  Vergl. 
Fig.  432,  eine  tuberculöse  Abscessmembran,  aus  einem  grossen  pericoxi- 
tischen  Abscess  herausgeholt. 

Diese  Veränderungen  würden  etwa  dem  I.  klinischen  Stadium 
entsprechen. 

Die  Verhältnisse  in  einem  solchen  Gelenk  zeigt  Fig.  433  (nach  einem  Spiritus- 
präparat), Durchschnitt  durch  Schenkel-  und  Hüftpfanne  bei  Coxitis  (natürliche  Grösse). 
Der  Trochanter  major  ist  noch  zum  Theil  knorpelig.  Der  Epiphysenknorpel  des  Schenkel- 

Fig.  431.  Fig.  432, 


kopfes  ist  in  seinem  oberen  Theile  d  noch  ziemlich  normal.  In  der  Mitte  des  Schenkel- 
kopfes, welcher  im  Ganzen  schon  etwas  erweicht  und  in  seiner  Form  verändert,  platt- 
gedrückt ist,  findet  sich  ein  tuberculöser  Herd.  Nach  abwärts  davon  liegt. ein  kegel- 
förmiger tuberculöser  Sequester  c,  der  im  Leben  durch  seine  graugelbe  Farbe  scharf 
absticht  gegen  die  noch  lebende  gelbröthliche  Spongiosa.  Er  wird  vom  übrigen  Knochen 
durch  Granulationen  abgetrennt.  Vom  Epiphysenknorpel  ist  in  seiner  unteren  Hälfte 
nur  noch  ein  schmaler  Saum  erhalten.  Der  Gelenkknorpel  h,  b  ist  fast  überall  durch 
Granulationen  von  der  Spongiosa  abgehoben.  —  Der  Punkt,  wo  der  Process  in's  Gelenk 
eingebrochen  ist,  befindet  sich  vermuthlich  unten  an  der  Stelle  des  tuberculösen  Sequesters. 
Im  Uebrigen  ist  das  Gelenk  ausgefüllt  von  dicken  Granulationswülsten  (a),  der  Gelenk- 
knorpel der  Pfanne  ist  ganz  verschwunden.  Der  Hüftknochen  zeigt  in  seinem  oberen 
Theile  bereits  Defecte  (Caries).  Die  Gelenkkapsel  ist  in  ihrem  unteren  Theile  noch  so 
ziemlich  erhalten,  der  obere  Theil  dagegen  zerstört. 

Es  ist  ohneweiters  verständlich,  dass  diese  in  weiche  Granu- 
lationen umgewandelten  Gewebe  jedem  Druck  erliegen  müssen  —  die 
ergriffenen  Theile  verfallen  daher  der  Zerstörung;  ganze  Knochen- 
flächen —  namentlich  wo  ein  stärkerer  Gegendruck  seitens  des  gegenüber- 
liegenden Gelenkkörpers  stattfindet,  verfallen  der  Druckresorption;  so 
die  hintere  Fläche  der  Condylen  des  Femur  bei  Gonitis,  der  obere, 
am  meisten  gedrückte  Rand  der  Hüftgelenkpfanne  bei  Coxitis.  Der 
ganze  Gelenkkopf  z.  B.  des  Femur  kann  eingeschmolzen  werden  (vergl. 
Fig.  434  nach  Albert). 


Pathologische  Anatomie  der  Knochentuberculose, 


525 


Eine  eigenthtimliche  Rolle  in  der  Entstehung  der  tuberculösen  Gelenkentzündungen 
-weist  Köniff  (Chir.  Centralbl.,  1894,  Nr.  22;  Ueber  Kniegelenktuberculose,  Monographie,  und 

Fig.  433. 


Fig.  434. 


Laudow,  Langenbeck's  Archiv ,  Bd.  47)  dem  Faserstoif  zu.  In  frühen  Stadien  der 
Gelenktuberculose  sollen  Faserstoffgerinnsel  sich  an  typischen  Stellen  niederschlagen  und 
dadurch  die  Beschränkung  der  Beweglichkeit 
herbeifühi'en.  Diese  Fibringerinnsel  sollen  zum 
Theile  organisirt  und  zu  Granulationen  wer- 
den {?).  Im  Gegensatz  hiezu  lässt  Schucliardt 
das  Fibrin  und  die  Reiskörperchen ,  die  man 
bei  der  Arthritis  villosa  (S.  pag.  497)  tuber- 
culosa  antrifit,  durch  Coagulationsnekrose  der 
innersten  Schichten  der  Synovialis  entstehen. 
Goldmann  hält  sie  für  fibrinös  entartete 
Granulation. 

Diese  Zerstörungen  müssen  na- 
türlich die  Function  und  Form  des 
Gelenkes  in  hohem  Grade  beeinträch- 
tigen. Werden  ein  Theil  der  Gelenk- 
körper und  zugleich  die  Gelenkbänder 
zerstört,  so  können  sich  die  Knochen 
gegeneinander  zum  Theil  verschieben, 
und  es  entsteht  eine  unvollkommene 
Luxation,  eine  Subluxation,  und 
zwar  eine  pathologische  oder  Destruc- 
tionsubluxation  (vergl.  Fig.  435,  Luxa- 
tion der  Hüfte). 

Oder     wenn    eine    Stelle      der 
Pfanne ,    z.  B.  der    obere    Rand    der 
Hüftgelenkpfanne,  beständigen  Druck  vom  Oberschenkelkopf  aushalten 
muss  und    dadurch  resorbirt  (usurirt)  wird,    so  weitet  sich  die  Pfanne 


526 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 


in  dieser  Richtung  aus,  und  es  erfolgt  so  eine  Erweiterung  und  schliess- 
lich eine  Art  Verlagerung  der  Pfanne,  die  man  Pfannen  Wanderung 
nennt  (s.  Fig.  436,  nach  Albert).  Ein  anderesmal  löst  sich  die  Verbin- 
dung im  Knochen  selbst,  z.  B.  wenn  der  Process  die  ganze  Epiphysen- 
linie  durchsetzt,  und  dann  hat  man  eine  pathologische  Fractur 
oder  eine  secundäre  Epiphysenlösung.  —  Verschieden  ist  hiebei  die 
Menge  von  Flüssigkeit,  die  in  der  Gelenkhöhle  angesammelt  ist.  Fehlt 
sie  ganz  und  finden,  fast  ohne  entzündliche  Erscheinungen,  vorwiegend 
Einschmelzungsprocesse  statt,  so  haben  wir  Caries  sicca,  namentlich 
häufig  am  Schultergelenk,  wo  oft  der  ganze  Kopf  fast  symptomlos 
in  dieser  Weise  verzehrt  wird. 

Ist  die  Menge  Flüssigkeit    sehr   gross ,    die  Kapsel   stark   ausge- 
dehnt,   so  wird   nicht    selten   durch   eine    brüske  Bewegung    der  Kopf 


Fig. 435. 


Fig.  436. 


Über  den  Pfannenrand  weggehebelt,  da  er  innerhalb  der  weiten  Kapsel 
Spielraum  genug  hat,  und  bleibt  jenseits  des  Pfannenrandes  liegen. 
Man  hat  dann  eine  wirkliche  pathologische  Luxation  (vergl. 
pag.  468). 

Die  Erweichung  der  Gelenkkapsel  und  -bänder  lässt  die  "Ver- 
schiebung der  Knochen  leicht  zu  Stande  kommen.  Sammelt  sich  jedoch 
eine  grössere  Menge  Flüssigkeit  im  Gelenk  unter  einem  gewissen  Druck 
an,  so  wird  die  erweichte  Kapsel  —  meist  an  den  an  sich  dünnsten 
Stellen  —  leicht  durchbrochen,  der  Eiter  verbreitet  sich  im  umgebenden 
Gewebe,  das  seinerseits  wieder  inficirt  und  entzündet  wird,  und  es 
entsteht  der  periarticuläre  Abscess.  Dieser  bricht  meist  nach  aussen 
durch  und  hinterlässt  Fistein.  Werden  diese  inficirt,  so  verjauchen 
Gewebe,  Weichtheile  und  Knochen  und  zerfallen  eiterig. 


Behandlung  der  Knochentuberculose.  527 

Heilen  kann  der  Process  in  jedem  Augenblick,  indem  die  Granu- 
lation in  Narbe  übergeht  (vergl.  Fig.  176).  Allerdings  erfolgt  dieser 
Process  schwierig  und  langsam.  Von  einem  Knochen  zum  anderen 
spannen  sich  dann  straffe  Narbenstränge,  welche  die  Knochen  in  dieser 
—  oft  falschen  —  Stellung  fixiren,  und  es  kommt  zur  Ausheilung  durch 
Ankylose.  Da  diese  Granulationen  und  Narben  —  zwischen  Knochen 
gelegen  —  verknöchern  können,  kann  die  fibröse  schliesslich  zur 
knöchernen  Ankylose  werden. 

Nocli  4 — 5  Jahre  nach  abgeheilter  Gelenktuberculose  habe  ich  bei  der  Operation  der 
Ankylose  noch  Grannlationsherde  —  mit  Kiesenzellen  und  Bacillen  —  innerhalb  der 
fibrösen  Massen  gefunden  und  selbst  so  Reinfection  der  Wunde  gesehen  —  ein  Beweis, 
wie  langsam  die  Heilung  erfolgt  und  eine  Mahnung  zur  Vorsicht. 

Bei  der  Diagnose  kann  eigentlich  nur  eine  Verwechslung  mit  den  Folgezu- 
ständen der  Osteomyelitis  in  Frage  kommen.  Folgende  Zusammenstellung  wird  fast  immer 
leicht  über  die  Schwierigkeiten  hinweghelfen. 

Osteomyelitis  .  Tuberculose 

Träger  meist  gesund  meist  deutlich  scrophulös 

Anfang  plötzlich  unmerklich 

Verlauf  schwere  fieberhafte  AUge-  langsam,    ohne    auffallende   Er- 

meinerkrankung,     dann    Ge-  scheinungen,  zunehmender 

sundheit  Verfall 

vorwiegender  Sitz  Diaphysen  langer  Knochen        kurze  Knochen   und    spongiöser 

Theil  langer  Knochen 
Secretion  dicker  rahmiger  Eiter  dünne  seröse  Flüssigkeit 

Granulationen  gesund,  üppig  bleich  und  schwammig,  manch- 

mal Knochensand 
ausgestossene  Sequester         spitze  Rindensequester  abgerundete   Spongiosasequester. 

Mitunter  mag  es  wichtig  sein,  die  differentielle  Diagnose  zwischen  der  osteogenen 
und  der  synovialen  Form  der  Gelenktuberculose  zu  machen.  Bei  Kindern  ist 
die  Gelenktuberculose  fast  ausnahmslos  osteogen.  Bei  Erwachsenen  mag  vielleicht  die 
Hälfte  der  Fälle  in  der  SjTiovialis  beginnen,  es  sind  dies  namentlich  diejenigen,  welche 
unter  dem  Bilde  eines  Hydrops  oder  einer  zottigen  Gelenkentzündung  beginnen.  Fixe 
Schmerzpunkte  an  den  Knochen  sprechen  natürlich  für  osteogenen  Ursprung. 

Die  differentielle  Diagnose  gegenüber  syphilitischen  und  gonorrhoischen  Gelenk- 
leiden s.  pag.  506  und  508.  Dass  auch  in  den  Diaphysen  Tuberculose  nicht  so  selten 
vorkommt,  haben  Eeichel  {Langenheck's  Archiv,  Bd.  43)  und   Garre  nachgemesen. 

Die  Behandlung  muss  eine  zweifache  sein,  eine  allgemeine  und 
eine  örtliche. 

Zunächst  ist  die  Scrophulose  energisch  zu  behandeln  (pag.  178). 
Zweckmässige  Ernährung  (Fleisch,  Eier,  Fette,  malzreiche  Biere),  viel 
frische  Luft  bei  geringer  geistiger  Anstrengung  sind  geboten.  Wo  es  die 
Verhältnisse  gestatten,  schickt  man  die  Kinder  in  Soolbäder  oder  an  die 
See,  wobei  die  Luft  (Xordseeluft)  fast  Avichtiger  ist  als  die  Bäder.  Wo 
kalte  Seebäder  zu  angreifend  sind,  können  warme  genommen  werden. 
Sonst  sind  auch  künstliche  Soolbäder  oft  wirksam  (1 — IV2  Kgr. 
auf  die  Kinderbadewanne,  Erwachsene  4 — 6  Kgr.).  Von  Medicamenten 
kann  Arsen  gegeben  werden  (z.  B.  Ac.  ars.  0"1,  Extr.  et  pulv.  Li(inir. 
q.  s.,  ut  fiant  pilulae  #  f)0  1 — 3  Pillen,  je  eine  Pille  eine  Stunde  nach 
dem  Essen  zu  nehmen;  die  Pille  enthält  2  Mgrm.).  Gelegentlich  fuge 
ich  noch  1 — 2  Grra.  Cliininuia  sulfnricum  hinzu  oder  gebe  das  letztere 
als  Tinct.  Cliin.  compos.  auch  allein.  Sonst  erfreuen  sich  noch  Leberthran 
und  .Malzpräparate  eines  gewissen  Rufes.  Man  erzielt  hiedurch  oft  eine 
erfreuliche  (lewichtsznnahmc. 

Der  Jahrzehntelange  Streit  über  die  iM'tliche  Behandlung  der 
Knoclien-  und  Gelenk tul)er('nl()sen  beginnt  sich  allinälilicli.  liaiipt- 


528  ^I-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

sächlich  durch  die  Bemühungen  von  P.  Bruns,  zu  Gunsten  der  conser- 
•vativen  Behandlung  zu  entscheiden.  Die  Anfang  der  80er  Jahre  durch 
Volkmann  vertretene  rein  operative  Behandlung  hat  in  letzter  Linie  zu 
ungenügende  Ergebnisse  gezeitigt.  Ganz  besonders  rauss  die  sogenannte 
Frühresection  —  jede  Knochen-  und  Gelenktuberculose  sofort  der  Re- 
section,  sogar  der  typischen  Resection  zu  unterziehen  —  als  Verirrung 
angesehen  werden.  Auch  der  Einwand  Biedel's^  dass  er  bei  83%  seinei' 
resecirten  Fälle  Sequester  gefunden  habe,  kann  nicht  zu  Gunsten  der 
operativen  Behandlung  angeführt  werden,  seit  wir  wissen  (vergl.  Osteo- 
plastik, pag.  278),  dass  implantirte  todtcKnochenstUcke  einheilen,  so  lange 
Infection  mit  Eiterkokken  fehlt.  Schliesslich  darf  nicht  vergessen  werden, 
dass  man  durch  Resection  wohl  eine  örtliche  Heilung  der  Tuberculose  — 
in  einem  Theil  der  Fälle  —  erreichen  kann,  nicht  aber  eine  Heilung 
der  stets  vorhandenen  inneren  tuberculösen  Processe,  so  wenig  man  eine 
Syphilis  heilt  durch  Exstirpation  eines  Gummas.  Dass  es  keine  primäre 
Gelenktuberculose  gibt ,  d.  h. ,  wo  diese  der  einzige  und  primäre  Herd 
im  ganzen  Körper  ist,  dürfte  heute  wohl  Jedermann  zugeben. 

Nehmen  wir  an ,  es  sei  ein  noch  nicht  zu  vorgeschrittener  Fall 
von  Gelenktuberculose  —  eine  Hüft-  oder  Kniegelenkentzündung  — 
zugegangen,  so  wäre  die  örtliche  Behandlung  etwa  in  folgender  Weise  zu 
leiten.  Ein  Theil  der  Chirurgen  beginnt  mit  der  Distraction  des 
Gelenks,  d.  h.  der  Anlegung  eines  Extensionsverbands  mit  Gegenzügen 
nach  Art  der  in  Fig.  273  bis  283  und  pag.  300  ff.  angegebenen  Ver- 
bände. Die  angewandten  Gewichte  betragen  2 — 8  Pfund  (bei  Kindern). 

Die  Wirkung  der  Distraction  auf  die  Gelenke  ist  namentlich  durch  Riedel  studirt 
worden.  Die  Gelenkflächen  weichen  um  einige  Millimeter  auseinander ,  und  der  gegen- 
seitige Druck  der  Gelenkkörper  aufeinander  wird  aufgehoben.  Dies  ist  sehr  wichtig 
bei  entzündlicher  Erweichung  der  Knochen,  denn  dadurch  wird  der  gegenseitigen  Druck- 
nsur  vorgebeugt.  Andererseits  steigt  der  intraarticuläre  Druck  und  dadurch  wird  der 
Durchbruch  der  Kapsel  und  die  Bildung  periarticulärer  Abscesse  begünstigt.  Ich  habe 
bei  den  von  mir  und  Andern  mit  Extension,  besonders  mit  lange  fortgesetzter  Exten- 
sion behandelten  Kindern  einen  so  auffallend  hohen  Procentsatz  von  Eiterungen  gesehen, 
dass  ich  dies  unmöglich  als  Zufall  ansehen  kann.  Dass  die  Extension  nicht  ganz  gleich- 
giltig  ist,  geht  daraus  hervor ,  dass  meist  mit  Beginn  der  Extension  die  Abendtempera- 
turen einige  Tage  lang  erhöht  sind. 

Wo  man  Distraction  machen  will,  macht  man  sie  am  besten  nicht 
mit  einem  festliegenden  Heftpflasterverband,  sondern  mit  einer  abnehm- 
baren schnürbaren  Extensionsgamasche  oder  Extensionsstrumpf.  So 
lassen  sich  Soolbäder  (drei-  bis  siebenmal  die  Woche)  nebenher  machen. 
Auf  das  kranke  Gelenk  selbst  kommt  ein  Priesswife'scher  Umschlag 
mit  Wasser  oder  noch  besser  mit  dünner  Soole.  Diese  Behandlung  ist 
mindestens  6—8  Wochen  streng  durchzuführen.  Zeigt  die  Untersuchung 
sämmtliche  Bewegungen  im  Gelenk  so  ziemlich  frei  und  schmerzlos,  so 
kann  das  Kind  mit  einem  tragbaren  Extensionsverband,  z.  B.  einer  Taylor- 
TFbZ^schen  Schiene  (Fig.  415),  oder  auch  mit  einem  einfachen  fixirenden 
Schienenverband  (z.  B.  Thomasschiene)  vorsichtig  ausser  Bett  und  an 
die  Luft  gebracht  werden.  —  Klagt  das  Kind  über  Schmerzen,  so  hilft 
oft  ein  kräftiger  Anstrich  mit  Jodtinctur  (neben  sonstiger  Behandlung) ; 
auch  eine  Eisblase  kann  gelegentlich,  aber  nur  so  lange,  als  dringend 
nöthig,  aufgelegt  werden.  Eine  Ichthyolsalbe  u.  dergl.  kann  man,  um 
die  Zeit  auszufüllen,  gleichfalls  gelegentlich  anwenden.  —  Im  günstig- 
sten Falle  ist  strenge  Schonung  des  Beines  auf  mindestens  ein  halbes 
Jahr  anzuordnen. 


Behandlung  der  Knochen-  und  Geleuktuberculose.  529 

Ich  komme  aus  den  oben  angeführten  Gründen  von  Jahr  zu  Jahr 
mehr  von  der  Exteusionsbehandlung  zurück  und  M^ende  sie  nur  an, 
weich  —  vor  der  Anlegung  fester  Verbände —  eine  Stellungscorrectur  ohne 
Narkose  erzielen  will.  Das  regelmässige  Verfahren  ist  die  Anlegung 
distrahirender  erhärtender  Verbände  in  Narkose,  In  tiefer 
Narkose  wird  die  falsche  Stellung  vorsichtig  und  laugsam  corrigirt, 
dann  in  kräftiger  Extension  ein  Gipsverband  von  den  Zehen  bis  zum 
Becken  geletg  (vergl.  Fig.  262).  Bei  stärkerer  Schwellung  wird  zunächst 
ein  wattirter  Gipsverband  am  geeignetsten  sein;  nach  3  bis  4  Wochen 
kann  man  zu  einem  etwas  knapper  angelegten  (mit  Tricot-  oder 
Flanellunterlage)  übergehen,  der  auch  wieder  6  Wochen  liegen  kann. 
Die  Schmerzen  sind  meist  momentan  beseitigt.  Gelingt  die  Correctur 
der  falschen  Stellung  nicht  gleich  mit  dem  ersten  Verband,  dann  viel- 
leicht mit  dem  dritten  und  vierten.  Später  spaltet  man  den  Verband 
(Fig.  268),  so  dass  er  an-  und  abgelegt  werden  kann  und  lässt  das 
Kind  jetzt  wieder  fleissig  baden. 

Von  Massage  fiingöser  Gelenke  habe  ich  —  trotz  sorgfältiger  und  vorsichtiger 
Versuche  —  nur  Schlechtes  gesehen. 

Für  die  tuberculösen  Erkrankungen  an  den  untern  Extremitäten 
ist  durch  die  Geh  verbände,  wodurch  das  schwächende  lange  Bett- 
liegen vermieden  wird,  ein  grosser  Fortschritt  erzielt.  Die  Verbände 
werden  —  meist  in  Narkose  —  in  der  bei  Knochenbrüchen  pag.  438  fl'., 
sowie  pag.  501  skizzirten  Weise  angelegt  in  leichter  Distraction.  Die 
Correctur  falscher  Stellungen  soll  hiebei  nicht  auf  einmal  in  zu  gewalt- 
samer Weise  ausgeführt  werden  (Eiterung!),  sondern  lieber  in  mehreren 
Sitzungen.  Die  Gehverbände  können  sowohl  bei  nicht  operirten  Patien- 
ten als  nach  Resectionen  angewandt  werden ;  in  Form  von  Gipsverbänden 
(Fig.  393)  oder  als  Schienen  von  Bruns  (Fig.  387 ,  388) ,  Heussner 
(Fig.  390,  391)  u.  A. 

Unter  dieser  Behandlung  wird  man  einen  Theil  der  Fälle  aus- 
heilen sehen ;  die  frischen  mit  fast  normalem  Gelenk,  ältere  und  hart- 
näckigere mit  beschränkter  oder  aufgehobener  Beweglichkeit  (Ankylose). 
Doch  hat  man  im  Auge  zu  behalten,  dass  die  tuberculösen  Gelenk- 
leiden häufig  wiederkehren.  Scheinbare  Heilungen  sind  oft  nur  jahre- 
lange Stillstände  des  Processes. 

Von  weiteren  Behandlungsmethoden  sind  zu  nennen  die  Injec- 
tionsverfahren. 

Zuerst  hat  Hüter  die  intraarticulilre  und  parossale  Injection  ausgebildet.  Er 
bediente  sich  3"/oiger  Carbollösungen  und  spritzte  in  einer  Sitzung  bis  3  Pravazsch.e 
Spritzen  iu's  Grelenk,  an  den  Knochen,  oder  wenn  derselbe  erweicht  war,  in  den  Knochen 
herein.  Die  Erfolge  sind  sehr  vorübergehend.  Die  Injectionen  mit  phosphorsaurem 
Calcium  (Kolischer)  sind  wegen  ihrer  schweren  örtlichen  und  allgemeinen  Folgen 
längst  verlassen. 

Mehr  Erfolg  geben  die  Jodoform  injectionen  in  tuberculöse 
Herde  und  Gelenke,  die  wir  Heussner,  P.  Bruns,  SchüUer  (mit  Guajacol) 
verdanken.  Ihre  Ergebnisse  finden  allerdings  zur  Zeit  nicht  mehr  die 
gleiche  Anerkennung  wie  vor  .Inhren.  Trendcfcnhiirf/  hat  beim  Hand- 
gelenk 60"/q  Erfolge ,  licim  Ellbogen  37%,    Knie  und  Fuss  33o/o- 

Bruns  (Lantjenhec/c's  Archiv,  Bd.  40)  injicirt  in  tuberculöse  Herde 
2 — 4 — 6  Gern,  alle  8  Tage,  in  tuberculöse  Abscessc  alle  2 — 4  Wochen 
10 — 20 — 30  Ccm.  einer  10 — 20Voigen  Schüttelmixtur  in  (V2  Stunde  lang 
sterilisirtem)  Glycerin  oder  Oel.  Schiillcr  setzt  einer  10 — löo/oigen  Jodo- 

La  n  dl' r  1- r  ,   A  llff.  cliir.  l'atlioloific  u.  Tlicrapii".  2. Aufl.  34 


530 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gehsnke. 


formemulsion  0"5  oder  l%Guajacol  hinzu  und  gibt  nebenher  Guajacol 
innerlich  in  der  für  Lungentuberculose  vorgeschriebenen  Form.  Man 
hat  bei  der  Jodoforminjection  weniger  darauf  zu  achten,  die  tuber- 
culösen  Gelenke  mit  Jodoformemulsion  zu  füllen ,  als  in  die  kranken 
Knochenherde  einzudringen.  Hiezu  eignet  sich  unter  Anderem  gut  die 
kräftige  Hohlnadel  mit  Stilet  nach  SchüUer  (Fig.  43 7 j ,  auf  die  eine 
gut  sterilisirbare  Spritze,  etwa  die  von  Windler  (Fig.  438)  passt.  Die 
Stellen,  wo  man  am  besten  in  die  Gelenke  eindringt,  sind  in  Fig.  439 — 443 
nach  SchüUer  und  Krause  {Lang enh eck' s  Archiv,  Bd.  41)  dargestellt; 
meist  lässt  man  sich  durch  die  Schwellung  leiten. 

Abscesse  werden  mit  dem  Troicart  oder  der  Hohlnadel  punctirt,  so- 
weit möglich  entleert  und  dann  mit  Jodoformemulsion  eingespritzt  (Bruns, 
s.  oben),  oder  mit  S^/oiger  sterilisirter  Borsäurelösung  ausgewaschen,  bis 
die  Flüssigkeit  klar  abläuft  und  dann  Jodoformemulsion  eingebracht. 
Billroth  spaltet  den  Abscess  —  wenn  möglich  —  breit,  räumt  ihn  aus, 


Fig.  437. 


Fig. 439. 


Fig.  438. 


näht  ihn  zu  und  füllt  mit  Jodoformemulsion.  SchüUer  injicirt  nach  der 
Exstirpation  der  Abscesswände  Jodoform  in  die  Umgebung. 

Die  Jodoforminjectionen  sind  nicht  ohne  unangenehme  Folgen.  Die 
Schmerzen  sind  meist  heftig  (Eisblase ,  Morphium) ,  auch  tritt  meist 
Temperatursteigerung  (oft  über  39")  für  mehrere  Tage  ein.  Die  Gefahren 
der  Jodoformintoxication  (s.  pag.  191)  scheinen  zwar  gering,  da  das 
Jodoform  aus  tuberculösen  Herden  sehr  langsam  resorbirt  wird,  wenigstens 
habe  ich  es  noch  nach  einem  halben  Jahre  bei  der  Eröffnung  nachweisen 
können. 

Durchaus  unerlaubt  ist  die  Verwendung  von  Glycerin 
zur  Herstellung  von  Emulsionen  zur  parenchymatösen  Injection. 
Schellenberg  {Lcmgenheck's  Archiv,  Bd.  49)  hat  schwere  Intoxicationen 
(Hämaturie ,  Cjlinder  im  Harn)  und  bei  Verwendung  von  60 — 65  Grm. 
sogar  den  Tod  gesehen.  Ebenso  habe  ich  eine  peracute  und  zwei  sub- 
acute tödtliche  Nephriten  gesehen.  Schellenherg  hält  nur  10  Gern,  für 
erlaubt.  —  Ich  verwende  nur  noch  sterilisirte  Kochsalzlösung  (oder 
Wasser,  SchüUer-).  Schellenherg  nimmt  eine  entzündungserregende  Wir- 
kung des  Glycerins  an. 


Behandlung  der  Knochen-  und  Gelenktuberculose. 


531 


Fig.  440. 


Ebenso  wie  Stubenrauch  (s.  pag.  192)  schlägt  Haassler  (Langen- 
beck's  Archiv,  Bd.  50)  die  aiitibacterielle  Wirkung  des  Jodoforms  nicht 
hoch  an,  sondern  führt  die  Erfolge  auf  eine  die  Knochenregeneration 
anregende  Wirkung  desselben  zurlick. 

Die  Behandlung  der  Gelenktuberculose  mit  Stauungshyperämie 
nach  Bier  (Langetiheck's  Archiv,  Bd.  48)  geht  in  Anlehnung  an  ähnliche  Experimente 
Helferich's  zur  Vermehrung  des  Knochenwachsthums  (pag.  491)  von  dem  Gedanken  aus, 
dass  bei  Herzfehlem  mit  Stauung  es  in  den  Lungen  fast  nie  zur  Entwicklung  von 
Tuberculose  kommt.  Man  wickelt  das  Glied  bis  unterhalb  des  Herdes  mit  Binde  fest 
ein  und  legt  dann  über  dem  Herd  eine  elastische  Binde  so  um,  dass  der  Puls  nicht 
verschwindet,  aber  Stauung  und  straifes  Oedem  sich  bildet.  Die  Binde  ist  mehrmals 
des  Tages  an  anderer  Stelle  wieder  anzulegen  und  soll  besonders  auch  des  Nachts  ge- 
tragen werden.  Tuberculosen  leichteren  Grades  bessern  sich  dabei,  namentlich  wird  die 
Beweglichkeit  eine  freiere.  In  den 
meisten  Fällen  kann  das  Verfahren 
wegen  Schmerzhaftigkeit  nicht  durch- 
geführt werden.  Ausserdem  wird  die  — 
doch  immer  unerwünschte  —  Äbscess- 
bildung  dadurch  sehr  gefördert,  so  dass 
diese  dann  geöffnet  oder  mit  Jodoform 
injicirt  werden  müssen.  Bei  fistulösen 
Processen  stört  die  enorme  Secretion 
sehr.  —  Das  Verfahren  wird  wenig 
mehr  geübt. 

Die  Application  der  Glüh- 
hitze war  früher  viel  im  Gebrauch. 
Mir  ist  eine  Eeihe  alter  fungöser 
Knochenleiden ,  namentlich  Coxiten, 
aber  auch  einzelne  Spondyliten ,  vor- 
gekommen, die  vor  Jahrzehnten  ge- 
brannt und  dauernd  geheilt  geblieben 
sind.  Die  ganze  Gegend  des  Gelenks 
wird  dabei  mit  dem  Glüheisen  oder 
der  Piatina  caudens  (dem  Flach- 
brenner) oberflächlich,  d.  h.  bis  in's 
Unterhautzellgewebe  gebrannt.  —  In 
neuerer  Zeit  hat  man  mehr  die 
Ignipunctur  angewandt,  d.  h.  den 
Stich-  oder  Fistelbrenner  des  Pacquelin 
tief  eingesenkt.  Auch  damit  sind  Er- 
folge erzielt  (Kocher,   Genzmer). 

Wegen  der  operativen 
Behandlung  bei  Knochen- 
und  Gelenktuberculose  ist  zum  Theil  auf  pag.  504 ff",  zu  verweisen. 

Die  verhältnissmässig  unschuldigen  Auswaschungen  tuberculöser 
Gelenke  mit  SVoi&er  Carbollösung  —  es  eignet  sich  nur  der  Hydrops 
tuberculosus,  also  nur  gutartige  Anfangsformen  —  sind  neuerdings  (chir. 
Congress,  1896)  von  König  wieder  lobend  hervorgehoben  worden. 

Ueber  die  Indicationen  zum  operativen  Eingreifen  sind  die 
meisten  Chirurgen  insofern  einig,  als  sie  mit  F.  Briins  (Chir.  Congress 
1894)  sagen:  „Die  Resection  tritt  erst  in  ihre  Rechte,  wenn  die  con- 
servative  Behandlung  niclit  zum  Ziel  führt."  Die  typischen,  viel  vom 
Knochen  opfernden  Rcsectionen  (s.  pag.  264  ff.)  w'crdcn  heute  wenig  ge- 
übt bei  Tubcrcuhjse;  ein  Theil  der  Cliirurgcn  begnügt  sicli  mit  Spaltung 
und  Auskratzung  der  tubcrculöscn  Abscesse,  Frcilegung  und  Ausschabung 
der  tuberculösen  Knochenherde,  Spaltung  der  Fisteln;  wenn  nöthig, 
schreitet  man  auch  zur  breiten  Eröffnung  der  Gelenke  mit  typischen 
Resectionsschnitten  (Arthrotomiej,  trägt  die  in  tuberculi»sc  Granulation 


532 


VII.  Oajjitel.  —  Krankheiten   der  Knoclieii   und  Gelenke. 


umgewandelte  Öynovialmembran  iriit  Schere  oder  Messer  und  Piriectte 
möglichst  im  Gesunden  ab  (Arthrectomie),  entfernt  die  kranken  Partien 
im  Knochen  mit  Löffel  oder  Hammer  und  Meissel  bis  in's  Gesunde. 
Die  Wunde  wird  mit  Jodoformpulver  dünn  ausgepudert,  drainirt  und 
mit  Jodoformgaze  verbunden.  —  Die  rein  aseptische  Behandlung  tuber- 
culöser  Wunden,  wobei  man  Defecte  in  Knochen  und  Weichtheilen  mit 
Blut  volllaufen  lässt  und  (nach  Schede)  zur  Heilung  unter  dem  feuchten 
Bluischorf  bringen  will,  ist  weniger  geeignet  und  disponirt  entschieden 
zu  örtlichen  Recidiven  der  Tuberculose.  Bei  offenen  Tuberculosen  sind 
die  Ergebnisse  geradezu  schlecht  zu  nennen.  —  Gelagert  werden  die 
operirten  Glieder  zunächst  auf  Schienen  oder  in  gefensterten  und  unter- 
brochenen Gipsverbänden  (vergl.  pag.  268).  Nur  wo  wenig  Absonde- 
ruug  zu  erwarten  ist,  kann  ein  geschlossener  Gipsverband  angelegt 
werden,  der  nachher   gespalten  und   als  Kapsel   benützt  werden  kann. 

Fig.  442. 


Epic.  int. 


Epic.  ext. 


Cap.  rSaii 


Olecr. 


Gelenkraum 


Linkes  Ellenbogengelenk. 


Die  nach  der  Operation  häufig  zurückbleibenden  Fisteln  werden 
ausgekratzt  oder  mit  Jodoformäther  (1 : 9)  oder  Perubalsamäther  (1  :  4) 
ausgespritzt,  mit  dem  Höllensteinstift  öfters  geätzt,  bis  sie  sich  ein- 
ziehen und  mit  derber  Narbe  ausheilen. 

Auch  in  der  Nachbehandlung  der  atypischen  und  typischen  Re- 
sectionen  wird  vom  Geh  verband  mit  Nutzen  ausgiebiger  Gebrauch 
gemacht. 

Die  statistischen  Erhebungen  sprechen  nicht  zu  Gunsten  der  Resectiouen. 
So  fand  Albrecht  für  die  Coxitis  eine  Gesammtmortalität  von  507o  i  ^ie  mit  Resection  Be- 
handelten zeigten  eine  Mortalität  von  77"/,,.  Am  Knie  ergab  sich  eine  Gesammtmortalität 
von  43°/o ;  die  conservativ  Behandelten  ergaben  36"67o ,  die  Eesecirten  57"17o- 

Nach  Bruns  (Chir.  Congr.  1894)  kommt  es  in  Vs  der  Fälle  bei  Coxitis  nicht  zur 
Eiterung,  in  7.3  (?)  tritt  Eiterung  ein.  Die  conservative  I^ehaudlung  gibt  557o  Heilungen. 
Der  Tod  tritt  im  Ganzen  in  407o  ^in.  König  {Langenheck's  Archiv,  Bd.  44)  gibt  197o 
Todesfälle  im  unmittelbaren  Anschluss  an  die  Hüftresection  an.  Sasse  {LangenhecTc's 
Archiv,  Bd.  51)  berichtet  aus  v.  Bergmann' s  Klinik  über  114  Fälle  von  Coxitis,  hievon 
starben  21  Fälle  (lömal  Meningitis,   .3mal  Jodoform intoxication) ;  52  heilten  ohne  Fistel. 


Operative  Behandlung  der  Knocheutuberculose. 


Die  functionellen  Ergebnisse  der  Resecirten  waren  ungünstiger  als  der  conservativ  Be- 
handelten. Sasse  empfiehlt  gleichfalls  die  conservative  Behandlung.  Wartmann  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  24)  berichtet  über  225  (!)  Todesfälle  bei  837  Eesectionen,  darunter 
26  Fälle  von  Miliartuberculose,  die  er  auf  Inoculation  während  der  Operation  zurück- 
führt. Aus  Btllrotli's  Klinik  berichtet  TJiaitsiiig  {Langenhech's  Archiv,  Bd.  46).  In  dem 
Zeitraum  1881 — 1891  starben  von  den  Fällen  von  Coxitis  ohne  Eiterung  127o,  geheilt 
wurden  70"87oi  uugeheilt  blieben  17'2''/o ;  von  den  Fällen  mit  Eiterung  starben  25"6%, 
geheilt  wurden  34'9''  „,  ungeheilt  blieben  39'5'Vo- 

Die  Todesursache  der  Resecirten  ist  meist  Erscliöpfiing-  durcb 
die  lange  Eiterung  und  Amyloidentartung.  Bei  den  Operirten  ist  all- 
gemeine Miliartuberculose  be- 

Fig.  443. 


sonders  häutig,  sonst  bei 
Kindern  auch  tuberculöse 
Meningitis. 

Man  hat  dieselbe  als  Impf- 
tuberculose  aufgefasst,  indem  bei 
der  Operation  in  die  frischen  Wunden 
tuberculöses  Material  eingeimpft 
wii'd.  Von  den  Kranken  König's 
waren  von  den  Eeseciii;en  in  den 
ersten  4  Jahren  21'57o  ^n  Tuber- 
culöse gestorben;  von  den  nicht 
Operirten  erst  in  16  Jahren  27''/q.  — 
Die  statistischen  Erhebungen  stimmen 
insofern  alle  nicht ,  als  unter  den 
conservativ  Behandelten  die  grosse 
Mehrzahl  der  leichten  Fälle  einge- 
schlossen ist,  während  die  Operirten 
vorwiegend  schwerere  Fälle  betreifen. 

Oertliche  Rückfälle  der 
tuberculijsen  Entzündung  mit 
Bildung  langdauernder  Fisteln 
u.  s.  f.  sind  bei  Resectionen 
die  Regel.  Und  die  Heilung 
tritt  meist,  wenn  überhaupt, 
erst  nach  öfteren  Xachope- 
rationen  (Auskratzungen  der 
Fistelgänge  u.  s.  w.)  ein. 

Mit  der  Eröffnung  chro- 
nischer, sogenannter  kalter 
Abscessc  braucht  man  sich  nicht  zu  beeilen.  Manche  heilen  nach  Injection 
von  Jodoformemulsion  (1  Jodoform:  9  Theilen  Olivenöl,  Wasser  oder  Gly- 
ceriu  circa  10 — 60Grm.),  indem  sie  nach  Monaten  zu  schrumpfen  anfangen 
(Spondylitis).  Ueber  Glycerin  s.  pag.  530.  Manche  resorbircn  sich  auch 
von  selbst  in  Gipsverbänden.  In  manchen  Fällen  hat  mir  das  Aus- 
waschen mit  Pernbalsamäther  gute  Dienste  gethan.  Wieder  andere 
bleiben  Jahre  lang  fistulös:  bleibt  die  Wunde  aseptisch,  so  kann  es 
noch  zur  Ausheilung  kommen.    Oft  tritt  mittlci'weile  Exitus  ein. 

In  Fällen  hochgradiger  Zerstörung,  l)ildung  schwerer  Subluxations- 
stelliing.  n)it  ausgedehnter  Fistelbildung,  hohem  Fieber,  Verjauchung 
mit  raschem  Kräfteverfall,  kann  —  besonders  in  höherem  Alter  (jen- 
seits der  40er  Jahre)  —  die  Amputation  (siehe  pag.  253)  nothwendig 
werden. 

Meine  Dcliamlliuig  der  tuberculöseu  kimclien-  und  Gelenkerkran- 
kunffcn  besteht    in    der  Anwcnduni:-    der   a-eschiiderten    Hilfsmittel    der 


I 


Linkes  Schultergelenk;   Skelettheile  stark 
hervorgehoben.     Einstichstellen. 


534  ^^1-  CapiM.  —  KranklKiitcn  der  Kiioclii:ii    und   (jühtnki:. 

conservativen  Behandlung  und  der  Verwendung  von  Zimmtsäure- 
präparaten.  Um  gleichzeitig  die  innern  und  localen  Herde  zu  be- 
seitigen, wird  zimmtsaures  Natron  in  Dosen  von  Ol  Mgrrn.  bis  1  Dgrm, 
intravenös  (oder  bei  Kindern  glutäal)  injicirt.  Die  Herde  werden  mit 
zimmtsaurem  Natron  local  injicirt.  Abscesse  werden  punctirt,  zum  Theil 
auch  mit  in  sterilisirter  Kochsalzlösung  aufgeschwemmter  Zimmtsäure- 
lösung  injicirt,  tuberculöse  Wunden  mit  Zimmtsäure  bepudert  u.  s.  w. 
Septisch  inficirte,  hochfieberhafte  Processe  werden  breit  eröffnet,  aus- 
giebig drainirt,  ausgeschabt  etc.  Die  Heilungen   betragen  über  90'^  o- 

Die  Prognose  der  tuberculösen  Leiden  ist  schwer  zu  stellen. 
Immer  ist  die  Dauer  nach  Jahren  zu  bemessen.  Sehr  getrübt  wird 
die  Prognose  durch  das  Eintreten  von  Eiterung.  Nichteiterige  Coxiten 
zeigen  nach  Billroth  eine  Mortalität  von  llVoi  eiterige  von  56Vo-  Here- 
ditäre Belastung  trübt  die  Prognose  gleichfalls,  ebenso  ungünstige 
äussere  Verhältnisse. 

Verkrümmungen  und  Orthopädie. 

Allgemeines.  Klumpfuss,  angeborener  und  erworbener.  Plattfuss,  Spitz-  und  Hacken- 
fuss.  Knieverkrümmungen.  Skoliose.  Schiefhals.  Andere  Verkrümmungen.  —  Anky- 
lose und  Schlottergelenk.   —  Die  Neubildungen  der  Knochen  und   Gelenke. 

Unter  Verkrümmungen,  Deformitäten  (Difformitäten)  verstehen 
wir  Formabweichungen  des  menschlichen  Körpers. 

Die  Ursachen  der  Verkrümmungen  sind  mannigfaltige.  — 
Selten  handelt  es  sich  um  Vitia  primae  formationis,  Störungen  der  frühesten 
Entwicklungen  (analog  den  i?ow.r sehen  Experimenten,  vergl.  pag.  311). 
sie  führen  eher  zur  Bildung  wirklicher  Missbildungen  (vergl.  auch 
pag.  355,  Teratome). 

Die  Missbildungen  entstehen  meist  als  totale  Hemmungsbildungen ,  d.  h.  die 
normaler  Weise  zu  bestimmten  Zeiten  sich  vollziehende  Schliessung  von  Spalten,  Ver- 
einigung von  Wülsten  oder  Fortsätzen  kommt  nicht  zustande  —  congenitale  Spaltbil- 
dungen —  wie  Hasenscharten ,  Blasenektopie,  Nabelschnurbrüche ,  Meningocelen  u.  s.  w. 

Ein  grosser  Theil  der  orthopädischen  Leiden  ist  ange- 
boren. Bald  kommt  die  embryonale  Anlage  eines  Theils  nicht  zustande 
oder  geht  früh  wieder  zu  Grunde;  in  dieser  Weise  entsteht  angeborner 
Mangel  eines  oder  beider  Schlüsselbeine,  eines  Theils  der  Tibia,  Fibula, 
des  Radius  und  dergl.  Oder  im  Uterus  wirken  äussere  Ursachen  auf 
den  Fötus  hemmend  oder  verkrümmend  ein;  so  entstehen  angeborene 
Klumpfiisse  zum  Theile  durch  enge  Umschliessung  der  Theile  seitens 
des  Uterus  bei  zu  wenig  Fruchtwasser.  Noch  häufiger  sind  abnorme 
Verwachsungen  mit  dem  Amnion  zu  beschuldigen ,  oder  amniotische 
Fäden,  die  durch  ihren  Zug  die  normale  Entwicklung  eines  Theils  hindern 
oder  durch  Umschntirung  einzelne  Theile  zur  Verkümmerung,  selbst  zum 
völligen  Schwund  bringen  können.  So  erklärt  man  die  Selbstamputation 
von  Fingern,  Zehen,  selbst  ganzer  Extremitäten.  —  Auch  Verletzungen 
des  Eies  und  des  Fötus  können  zu  Verkrümmungen,  z.  B.  durch 
intrauterine  Knochenbrüche,  fuhren.  Ebenso  können  Missbildungen  die 
Folgen  von  intrauterinen  Erkrankungen  des  Fötus  sein,  namentlich  von 
fötaler  Rachitis  (pag.  408)  und  fötaler  Syphilis. 

Während  der  Geburt  erworben  werden  Verkrümmungen 
durch  Verletzungen  (Knochenbrüche),  besonders  während  schwerer  Ent- 
bindungen. 


Verkrümmungen.  Allgemeines.  535 

Bei  den  postfötal  erworbenen  Deformitäten  spielen  verschie- 
dene Ursachen  mit.  Bei  den  myog;enen  und  neurogenen  Verkrüm- 
mungen handelt  es  sich  meist  um  Lähmungen  bestimmter  Muskel- 
gruppen. Die  häufigste  Ursache  dieser  Lähmungen  ist  die  „essentielle" 
Kinderlähmung  —  Poliomyelitis  anterior  acuta  (siehe  Muskelkrankheiten). 
Infolge  davon  kommt  es  theils  durch  die  Schrumpfung  der  nicht  ge- 
lähmten Antagonisten ,  theils  durch  die  nun  in  abnormer  Weise  ein- 
wirkende Schwere  (Voihmmn)  zu  Verkrümmungen  (paralytische  Ver- 
krümmungen). 

Die  grösste  Rolle  in  der  Entstehung  der  Verkrümmungen  spielt 
aber  die  Schwere  —  Belastungsdeformitäten.  Die  Schwere, 
d.  h.  die  Belastung  kann  in  verschiedener  Weise  zur  Ausbildung 
von  Verkrümraungen  fahren.  Sie  kommt  wenig  oder  fast  gar  nicht 
als  ursächliches  Moment  in  Betracht  bei  der  —  nicht  belasteten  — 
obern  Extremität,  umsomehr  bei  der  untern  Extremität  und  der 
Wirbelsäule.  Werden  z.  B.  die  untern  Extremitäten  im  Wachsthumsalter 
wie  in  der  Pubertätszeit  zu  lange  belastet  durch  langes  und  häufiges 
Stehen  (Kellner,  Kaufmannslehrlinge  u.  dergl.),  so  wird  das  Fussgewölbe 
allmählich  abgeflacht,  es  kommt  zum  Plattfuss  (Pes  valgus  acquisitus), 
ebenso  kann  der  normal  etwa  175°  betragende ,  nach  aussen  offene 
Winkel  zwischen  Unter-  und  Oberschenkel  immer  kleiner  werden ,  es 
kommt  zum  X-Bein  (Genu  valgum,  Bäckerbein).  Hier  handelt  es  sich 
gewissermasssen  um  Üebertreibung  physiologischer  Vorgänge,  es  kann 
aber  durch  die  Schwere  auch  zur  allmählichen  Fixirung  falscher  Körper- 
haltungen kommen,  die  zunächst  aus  Bequemlichkeit  oder  Ermüdung 
eingenommen  werden.  So  entsteht  durch  die  besonders  in  der  Schule 
oft  eingehaltene  seitliche  Einknickung  des  Rumpfes  beim  Sitzen  die 
seitliche  Rückgratsverkrümmung,  die  habituelle  Skoliose. 

Wieder  andere  Verkrümmungen  entstehen  auf  entzündlichem 
Wege,  d.  h.  durch  Narbenschrum))fung  (vergl.  pag.  88).  Diese  Ursache 
liegt  vielen  im  späteren  Leben  erworbenen  Gelenksverkrümmungen  zu 
Grunde,  ebenso  manchen  Formen  von  Rückgratsverkrümmungen  als 
Folge  schrumpfender  Rippenfellergüsse  mit  Schwielen-  und  Schwarten- 
bildung. —  Bei  der  Besprechung  einzelner  wichtigerer  Formen  ist  noch 
dies  und  jenes  ursächliche  Moment  nachzutragen ,  ebenso  auch  die 
wichtig.>;tcn  Punkte  der  Behandlung. 

Der  Klumpfuss,  Pes  varus,  ist  eine  eigenthümliehe  Zusammen- 
krüinmuug  des  Fusses,  wobei  derselbe  zugleich  in  starker  Supinations- 
stellung  sich  befindet,  so  dass  der  Kranke  mit  dem  äusseren  Fussrand, 
oder  selbst  dem  Fussrücken  statt  der  Fusssohle  auftritt  (vergl.  Fig.  444 
und  Fig.  445  nach  Allxrt). 

Die  in  Fig.  444  und  445  abgebildeten  Füsse  sind  aiigel)orene 
Klumpfüsse (Pes  varus congenitus).  Jedes  neugeborene  Kind  hat  eine  An- 
deutung von  Klumpfuss,  d.  h.  einen  stark  gewölbten  Fnss,  dessen  Sohlen- 
fläche mehr  nach  einwärts  als  gerade  nach  abwärts  sieht,  und  erst 
wenn  es  anfängt  zu  gehen,  wird  das  Gewölbe  des  Fusses  durch  die  auf 
ihm  ruhende  Last  des  Körpers  niedergetreten  und  langgedriickt  und  der 
Fuss  bekommt  die  Form ,  die  wir  als  die  normale  Fussform  des  Er- 
wachsenen anzusehen  gewohnt  sind.  Die  Klumpfüssigkeit  ist  also  nur 
eine  l'ebertreibung  der  physiologischen  Fussform  des  Neugeborenen.  Der 
Grund  der  KlumpfnsslüUlung  wird  theils  darin   gesucht ,  dass  während 


5;',6 


VII.  Capitcl.  —  Kraiiklieitoii   dor   Ktmclien    iiikI  Gcloikf-, 


der  Schwangerschaft  zu  wenig  Fruchtwasser  vorhanden  ist,  tlieils  in 
Feststellung  des  Fusses  durch  amniotische  Fäden.  Der  angeborene 
Klumpfuss  ist  in  seiner  falschen  Stellung  durch  die  zu  kurz  gewachsenen 
Sehnen  und  Bänder  fest  fixirt,  er  ist  eine  „Oontractur",  im  Gegensatz 
zum  erworbenen  oder  paralytischen  Klumpfuss,  wo  man  ein 
übermässig  bewegliches   Fussgelenk,    ein   „Schlottergelenk"   hat. 

Dieser  ist  fast  ausnahmslos  die  Folge  der  Kinderlähmung  —  Poliomyelitis  anterior 
acuta.  —  An  solchen  gelähmten  Füssen  entstehen  häufig  im  Laufe  der  Zeit  Deformitäten 
verschiedener  Art.  Sind  die  Zehenstrecker  gelähmt  oder  paretisch  und  liegt  das  Kind, 
weil  es  noch  nicht  laufen  gelernt  hat,  zu  Bett,  so  sinkt  allmählich  die  Fassspitze  herab, 
der  eigenen  Schwere  folgend  und  durch  die  Schwere  des  auf  ihr  liegenden  Deckbettes 
niedergedrückt.  Der  Fuss  krümmt  sich  allmählich  zusammen  und  wird  zum  Klumpfuss, 
doch  ist  er  meist  noch  mehr  ausgehöhlt  und  die  Fussspitze  noch  mehr  gesenkt,  als  beim 
angeborenen  Klumpfuss  (Pes  varo-equinus  excavatus  paralyticus).  Wird  der  halbgelähmte 
Fuss  von  älteren  Kindern  zum  Gehen  benützt,  so  bildet  sich  kein  Klumpfuss  aus,  im 
Gegentheil,  der  ziemlich  haltlose  und  übermässig  bewegliche  Fuss  wird  durch  die  Körper- 
schwere nieder-  und  flachgetreten,  es  entsteht  ein  paralytischer  Plattfuss  (s.  unten). 
Allmählich  wachsen    dann    die  AVeichtheile  und  Knochen  auch  in    diesen  Fällen    in    die 


t 


falsche  Stellung  hinein,  so  dass  diese  dann  auch  —  bis  zu  einem  gewissen  Grade  —  fixirt 
wird.  Sind  die  Strecker  intact  und  die  Beuger  gelähmt,  so  entsteht  gewöhnlich  gar 
keine  Deformität. 

Die  differentielle  Diagnose  zwischen  Pes  varus  congenitus  und  paralj^ticus  ist 
nicht  schwer.  Einmal  ist  die  Anamnese  zu  beachten ,  ob  angeboren  oder  erst  in  den 
ersten  Lebensjahren  erworben ;  dann  ist  der  angeborene  Klumpfuss  im  Fussgelenk  ge- 
wöhnlich sehr  fest  gestellt  ;  beim  paralytischen  ist  fast  immer  Schlottergelenk  da. 
Fasst  man  den  Unterschenkel  und  sucht  den  Fuss  zu  schütteln ,  so  flattert  er  beim 
paralytischen  förmlich  hin  und  her ;  beim  angeborenen  steht  das  Fussgelenk  fest. 
Schliesslich  kommt  noch  die  elektrische  Untersuchung  der  Muskeln  zu  Hilfe. 

An  der  Behandlung  des  Klumpfusses  lassen  sich  verschiedene 
orthopädische  Methoden  studiren.  Nur  in  leichten  Fällen  gelingt  es, 
durch  häufiges  Herüberdrehen  des  Fusses  mit  den  Händen  in  die 
normale  Form,  diese  allmählich  dauernd  zu  erzielen  („Manipulation"). 
Wirksamer  ist  das  gewaltsame  Redressement. 

Man  macht  dasselbe  in  Narkose,  legt  in  möglichst  corrigirter  Stellung  einen  Wasser- 
glasschlemmkreideverband an  und  darüber  einen  Gipsverband.  Ehe  dieser  trocknet, 
wird  die  Correction  noch  verstärkt.  Der  Gipsverband  kann  nachher  abgenommen  werden- 
und  das  Kind  soll  nun  6 — 8  AVochen  in  dem  Wasserglasstiefel  gehen  (Julius  Wolff). 
Dann  kommt  ein  n«uer  Verband,  der  in  noch  stärker  corrigirter,  womöglich  übercorrigirter 


Klumpfuss. 


537 


Stellung  angelegt  wird  u.  s.  w.  Die  Dauer  der  Behandlung  beträgt  3 — 8  Monate.  Dann 
sind  Knochen  und  Weicbtheile  der  neuen  Form  entsprechend  gewachsen  und  dieselben 
können  des  Verbandes  ganz  entbehren,  oder  man  lässt  noch  einige  Zeit  einen  Schienen- 
schuh tragen,  der  der  Klumpfussstellung  entgegenwirkt  {Scarpa' scher  Schuh).  Fig.  446 
und  447  geben  einen  für  die  Nachbehandlung  des  Klumpfusses  von  V.  v.  Brims  an- 
gegebenen Verband. 

Lorenz  hat  das  Verfahren  verbessert,  indem  er,  was  übrigens  vor  ihm  schon  von 
Anderen  geübt  wurde,  nicht  plötzlich  redressirt,  sondern  im  Verlaufe  von  einer  halben  Stunde 
und  mehr  den  Fuss  durch  oft  wiederholte  Manipulation  ohne  grosse  Gewalt  allmählich  in 
die  normale  Stellung  überführt  —  modellirendes  Eedressement.  Mitunter  fügt  man  dem 
Eedressement  die  subcutane  Durchschneidung  der  stark  gespannten  Achillessehne  hinzu. 
Bei  sehr  stark  deformirten  Füssen  und  älteren  Kindern  kann  man  noch  weiterer  ein- 
greifender Operationen  bedürfen.  Sehr  gute  Dienste  hat  mir  der  grosse  Weichtheilschnitt 
von  Pliclps  gethan,  indem  die  Weich theile  der  Fusssohle,  namentlich  die  geschrumpfte 
Aponeurosis  plantaris  und  die  kurzen  Sohlenmuskeln  mit  einem  schrägen  von  dem  inneren 
nach  dem  äusseren  Fussrand  bis  auf  die  Knochen  geführten  Schnitt  durchtrennt  werden 
und  sobald  als  möglich  dann  die  orthopädische  Behandlung  aufgenommen  wird. 


Fig.  446. 


Fig.  447. 


Die  Zahl  der  bei  Klumpfuss  vorgeschlagenen  und  ausgeführten  Operationen  an 
den  Knochen  des  Fusses  und  Unterschenkels  ist  eine  sehr  grosse.  Bald  wurde  der  Fuss 
in  der  Hölie  des  Naviculare,  bald  der  Unterschenkel  über  dem  Fussgelenk  linear  durcli- 
meisselt,  um  dann  das  Kcdressement  auszuführen,  bald  an  diesen  Stellen  Knochenkeilc 
herausgenommen  oder  einzelne  Knochen  (Talus,  Würfelbein,  Kahnbein)  ganz  oder  theil- 
weise  (Talushals)  entfernt.  In  allen  Fällen  ist  die  orthopädische  Nachbehandlung  für 
den  endlichen  Erfolg  mindestens  eljcnso  wiclitig  wie  die  Operation. 

Paralytische  Klumpfüsse  massigen  Grades  werden  oft  durch  Massage  und  elektrisclie 
Behandlung  der  befallenen  Muskeln  wesentlich  gebessert. 

Gewissermassen  das  Gegenstück  dos  Klumpfusses  ist  der  l'latt- 
fass  (Pes  valgus). 

Das  Kind  wird  mit  einer  leichten  Klumpfu.ssstellung  geboren  und  diese  Form  geht 
durch  allmähliches  Niedertreten  des  .spitzen  Fussgewölbes  durch  die  Körperlast  in  die 
gewöhnliche,  etwas  flachere  Fussfonn  über.  Schies.st  diese  Abflaehung  durch  zu  lange 
und  zu  liäufigr  Belastung  in  der  Wachsthumsperiode  über  das  Ziel  hinaus,  wird  das 
Gewölbe  übermässig  in  die  Länge  gezogen  und  zugleich  niedergedrückt,  so  entsteht  ein 
Plattfnss.    Die  Ausbildung  des  Plattfusses    i.st   also  nur  eine  Steigerung   einer   physiohi- 


538 


VII.  (japitel.  —  Kranklioiteii  der  Kiioi;l]<;ii   ujkJ   Gelunkt;. 


gischen  Umbildung  des  Pusses.  —  Fig.  448  nach  Albert  stellt  einen  Plattfuss  massigen 
Grades  dar.    Das  Os  naviculare  (a)    ist  Ms    zum   Boden    herabgotreten ,    ihm   folgt   das 


Fig.  449. 


Capitulum  tali  (b)  und  in  schlimmsten  Fällen  kann  sogar  der  Malleolus  internus  (e) 
mit  der  Bodenfläche  in  Berührung  kommen.  Der  Plattfuss  zeigt  also  äussersten  Grad  vo|i 
Pronationsstellung. 

Die   Diagnose   des  Plattfusses   wird   erleichtert   durch  Sohlenabdrücke,  gewonnen 
durch  Auftreten  auf  ein  mit  Terpentinöl   oder  Campherspiritus  berusstes  Blatt.  Fig.  449 
gibt  den   Abdruck    eines    normalen    und    eines 
Plattfusses.  Mit  1%  Schellacklösung  kann  der 
Abdruck  fixirt  werden. 

Die  Beschwerden  des  Plattfusses  be- 
stehen meist  nur  in  schneller  Ermüdung  und 
verminderter  Leistungsfähigkeit.  Doch  finden 
sich  bei  jungen  Leuten,  die  viel  zu  stehen 
haben,  oft  Plattfüsse,  die  so  schmerzhaft  sind, 
dass  Gehen  und  Stehen  unmöglich  Avird  — 
Pes  valgus  dolorosus,  inflammatorius,  Tarsalgia 
adolescentium.  In  schweren  Fällen  hat  man 
auch  tonische  Contracturen   der  Muskeln   und  ^^ 

hiedurch  Fixation  des  Fusses  in  dieser  falschen 
Lage  („contracter"  Plattfuss).  Es  entwickeln 
sich  unerträgliche  Schmerzen  am  Ansätze  der 
Aponeurosis  plantaris ,  an  der  Tuberositas 
calcanei ,  an  den  Köpfchen  der  Mittelfass- 
knochen ,  dem  äusseren  Knöchel ,  seltener  am 
Fussrücken.     Ich  habe  alle  diese  Fälle  durch  ' 

energische  Massage,  namentlich  Tapotement  der 
das  Fussgewölbe    stützenden  Muskeln   geheilt,  ^*^^^^' 

und  dies  ist  auch  der  Grund,  weshalb  ich  an-  — 

nehme ,  dass  die  Musculatur  —  durch  ver- 
minderte Functionsfähigkeit  oder  übermässige  Beanspruchung  —  bei  der  Entstehung  des 
Plattfusses  eine  Eolle  spielt.  Im  Uebrigen  werden  keilförmige  Einlagen  in  den  Schuh, 
die  das  innere  Fussgewölbe  heben  sollen,  verwandt.  Hin  und  wieder  wurde  auch  ein 
Keil  aus  dem  inneren  Fussrand  herausgeholt  (Ogston)  oder  der  Unterschenkel  über  den 
Knöcheln  durchgemeisselt  und  das  Fussgewölbe  so  wieder  gewölbter  gemacht.  Die  Eesultate 
sind  zum  Theil  gute  gewesen.  Vom  gewaltsamen  Eedressement  und  Fixirung  dieser 
Stellung  in  erhärtenden  Verbänden  habe  ich  keine  dauernden  Erfolge  gesehen.  Auch 
durch  schlecht  geheilte  Knöchelbrüche  entstehen  Plattfüsse  (traumatischer  Plattfuss). 


Plattfuss.   Spitzfuss.  Hackenfuss. 


539 


All  diese  Plattfüsse  sind  erworbene  (acquisitus) ,  doch  gibt  es  auch  einen  a  n- 
geborenen  Plattfuss,  der  in  derselben  "Weise  wie  der  erworbene  Klumpfuss  durch 
fehlerhafte  Haltung  des  Kindes  in  utero  entsteht.  Den  paralytischen  Plattfuss  habe 
ich  schon  pag.  5B6  erwähnt. 

Schliesslich  sind  zwei  Verkrüramungen  des  Fasses  zu  er- 
wähnen, die  jedoch  viel  seltener  sind,  der  Spitzfuss  und  der  Haken- 
fuss.  Beim  Spitzfuss  (Pes  equinus,  s.  Fig.  450  nach  Älhert)  tritt  der 
Kranke  mit  der  Fussspitze  auf.  Die  Ursache  ist  meist  Schrumpfung  der 
Wadenmusculatur  bei  Lähmung  der  Dorsalflexoren  (Pes  varo-equinus 
paralj'ticus,  s.  pag.  526).  Hin  und  wieder  hilft  Tenotomie  der  Achilles- 
sehne und  ein  passender  Schienenschuh.  Fig.  451  ist  ein  Schienenschuh 
zur  Hebung  der  Fussspitze  bei  Spitzfuss  (nach  Bauer),  vgl.  auch  Fig.  284. 

Der  Hackenfuss  (Pes  calcaneus,  s.  Fig.  452  nach  Älhert)  kommt 
theils    angeboren    vor  (s.  angeborene  Klump-  und  Plattfüsse),    bald   er- 


Fig.  451. 


worhen  durch  narbige  Schrumpfung  auf  dem  Fussrücken  oder  durch 
Liiimiung  der  Wadenmusculatur.  Der  Kranke  tritt  auf  der  Hacke  auf. 
Meist  genügen  Bandagen,  die  den  Fuss  gegen  die  Sohle  (des  Schuhes) 
hinziehen. 

Die  Verkrümmungen  im  Knie  führen  meist  zu  einer  (seitlichen) 
Winkelbildung  zwischen  Ober-  und  Unterschenkel.  Ist  der  Winkel  nach 
aussen  offen,  so  sjjricht  man  von  Genu  valgum  (X-Bein);  im  anderen 
Falle  von  Genu  varum  (0-Bein). 

Ober-  und  Unterschenkel  sind  —  normaler  Weise  —  unter  einem  nach  aussen 
ofl'enen  Winkel  von  172  bis  178"  miteinander  verbunden.  Die  Folge  davon  ist,  dass  die 
Schwerlinio  des  Beines  etwas  näher  dem  Condylus  femoris  externus  liegt  als  dem 
internus.  Ist  nun  der  Knochen  weicli  und  der  Oberkörper  schwer,  wie  dies  ■/..  IJ.  bei 
vielen  rachitischen  Kindern  zutrifft,  oder  wird  das  Bein  durch  langes  Stehen  während 
dei-  WachsthuniS])eriodi'  bei  gewissen  Berufsclasseu  (Commis,  Kellner,  Schriftsetzerlehi- 
liugen  u.  s.  w.)  besonders  oft  und  lang  belastet ,  so  bleibt  der  stärker  gedriickte 
Condylus  ext.    im  AVaclisthum    zurück,  es   entsteht  ein  Genu  valgum   (vergl.  Fig.  453); 


540 


VII.  Capite].  —  Kraiiklicitoji  dw  Kiiocln;ji   und   GcJcukf: 


Fig.  453. 


der  Condylus  iat.  liyportropliirt,  doch  betrifft  diese  Hypertrophie  des  Condylus  int.  nur 
den  vorderen,  im  Stehen  der  Tibia  zi;gewendeten  Theil  des  Knochens,  die  hintere  Partie 
bleibt  unverändert ;  deshalb  verschwindet  auch  die  Winkelstellung  zwischen  Ober-  und 
Unterschenkel,  sobald  der  Unterschenkel  gebeugt  wii'd.  Wie  schon  angedeutet,  sind  zwei 
Formen  von  Genu  valgum  zu  unterscheiden ,  das  Genu  valgum  infantum  s.  rachiticum 
(bis  zum  6 — 7.  Jahr)  und  Genu  valgum  adolescentium  staticum  (von  der  Pubertät  an). 
Entsprechend  der  Entstehungsweise  ist  das  X-Bein  häufig  mit  Plattfuss  combinirt. 

Das  X-Bein  ist  —  von  der  Hässlichkeit  abgesehen  —  viel  weniger 
leistungsfähig;  Schmerzpunkte  finden  sich  an  den  Ansatzpunkten  der 
Seitenbänder  im  Knie  und  am  äusseren  Knöchel. 

Für  das  Genu  valgum  infantum  genügt  orthopädische  Behandlung. 
Gegen  eine  äussere  Stahlschiene,  vom  Becken  bis  zum  Schuh  herab- 
gehend, wird  das  Knie  mit  einer 
Lederkappe  angezogen  und  damit 
nach  aussen  gezogen.  Oder  ein 
elastischer  Zugstreifen ,  mit  Heft- 
pflaster am  Ober-  und  Unterschenkel 
befestigt,  zieht  das  Knie  nach  innen. 
Beispiele  solcher  Verbände  sind 
Fig.  285  und  Fig.  454 — 455. 

Das  Genu  valgum  adolescen- 
tium ist  durch  orthopädische  Ma- 
schinen U.S.  f.  nicht  mehr  wesentlich 
zu  beeinflussen.  Das  operative 
Verfahren  von  Ogston^  der  von 
einer  kleinen  Stichwunde  aus  den 
Condylus  fem.  int.  schräg  absägte 
und  dann  am  Femur  in  die  Höhe 
schob  und  dort  anheilen  Hess,  er- 
freut sich  heute  weniger  der  Be- 
liebtheit, als  die  Methode  von  Mac 
E'wen ,  die  Osteotomie  des  Ober- 
schenkels. Etwas  über  dem  Con- 
dylus internus  wird  von  einem 
5  Cm.  langen  Schnitt  aus  der  Ober- 
schenkel durchgemeisselt  und  das 
Knie  unter  vorsichtigem  Einbrechen 
einer  noch  stehenden  Knochen- 
brücke am  äusseren  Theil  des  Femur,  gerade  gestellt.  Das  Kniegelenk 
bleibt  hiebei  ganz  unberührt  und  dies  ist  der  grosse  Vorzug  dieses 
Verfahrens. 

Beim  Genu  varum  (0-Bein)  ist  umgekehrt  der  Condylus  exter- 
nus  femoris  hypertrophisch.  Dasselbe  ist  meist  durch  Rachitis  bedingt. 
Das  Genu  varum  rachiticum  der  Kinder  verwächst  sich  häufig  ganz 
von  selbst  oder  unter  Beihilfe  orthopädischer  Apparate,  ähnlich  denen 
bei  Genu  valgum.  Ist  das  Genu  varum  bei  Erwachsenen  hochgradig, 
so  ist  Osteotomie  nöthig. 

Bei  der  angeborenen  Hüft  Verrenkung  bleibt  durch  frühzeitige 
Verknöcherung  des  Wachsthumsknorpels  die  Hüftpfanne  in  ihrer  Ent- 
wicklung zurück.  Infolgedessen  bat  der  Schenkelkopf  keinen  Raum  mehr 
in  der  Pfanne  und  tritt  unter  Erweiterung  der  Gelenkkapsel  aus.  meist 
nach    oben    auf    das   Darmbein    (Luxatio    iliaca).    Infolge    der    losen 


Kiiieverbiegungen. 


541 


Befestigung  des  Kopfes  am  Darmbein  und  der  Atrophie  der  kleinen 
Gesässmuskeln  (Trendelenhurg)  entsteht  ein  hässlicher,  watschelnder 
Entengang,  Verkürzung  und  Deformität  (vergl.  Fig.  402).  Die  blutige 
Zurüekführung  des  Kopfes  in  die  Pfanne  nach  Hoffa  hat  nur  in  einem 
kleinen  Theil  der  Fälle  gute  Resultate  ergeben.  Man  macht  heute  bei 
Kindern  unter  6  Jahren  den  Versuch  der  unblutigen  Einrenkung  (Lorenz) 
und  hält  die  gewonnene  Stellung  durch  portative  Verbände  fest.  Andern- 
falls begnügt  man  sich  mit  Apparaten. 

Die  Ursache  vieler  Verkrümmungen  der  unteren  Extremität  ist 
ferner'  die  Rachitis.  Ausser  den  bereits  besprochenen  veranlasst  sie 
namentlich  häutig  Verbiegungen  der  Diaphysen ;  der  Oberschenkel  kann 
zu  einem  förmlichen  Halbkreis  werden.  Am  Unterschenkel  finden  sich  Ein- 
knickungen  in  den  Epiphysen  und  der  Schaft  nimmt  oft  eine  eigenthüm- 


Fig.  455  &. 


m   ^^ 


Innere  Schiene  bei  Genu  valgum. 


Aeussere  Schiene  bei  Genu  valguin. 


liehe,  fast  korkzieherartig  gewundene  Form  an.  Doch  kommen  auch  hier 
bogenförmige  Auskrümraungen  vor.  Pag.  408  sind  auch  noch  die  kiel- 
förmige  Verbiegung  des  Thorax  (Hühnerbrust,  Pectus  carinatum)  er- 
wähnt; ebenso  die  eigenthündiche  Plumpheit  des  Schädels  —  Caput 
quadratum  —  beides  Thcilerscheinungen  der  Rachitis. 

Vielleicht  hängt  auch  mit  Rachitis  zusammen  die  Coxa  vara.  Der  Schenkelhals 
steht  zum  Schaft  in  einem  kleinereu  Winkel  als  normal  (bis  unter  1  R)  und  ist  seitlich 
abgeknickt.  Die  Folge  ist  Verkürzung,  Beschränkung  der  Einwärtsrollung  und  Einschrän- 
kung der  lieweglichkeit. 

Die  Verkrümmungen  der  oberen  Extremität  sind  viel  seltener 
als  die  der  unteren.  Hier  fehlt  das  Moment,  das  an  der  unteren  Extre- 
mität in  so  hohem  Grade  die  Verbiegung  begünstigt,  die  Belastung 
durch  die  Scliwcre.  Fast  innner  liandclt  es  sich  um  W'achsthumsstr»- 
rungen  durcli  Beschädigung  der  Epij)liysenknorpel.  Häufig  sind  diesel- 


542 


VII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Kriociieii   und  Gelenke. 


ben  aucli  mit  Bildung-  von  Sclilottergelenken  und  atropliisclien  Zuständen 
der  Musculatur  verknüpft  und  führen  dadurch  zu  Functionsstöi-ungen. 
Kräftigung  durch  Massage,  stützende  Apparate  sind  zweckmässig. 

Am  Rumpf  ist  die  wichtigste  Verkrümmung  die  seitliche  Rück- 
gratsverbiegung, die  Skoliose. 

Die  Form  und  die  unmittelbaren  Folgen  der  seitlichen  Rückgrats- 
verkrümmung zeigen  Fig.  456  und  Fig.  457  (nach  Albert),  rechtseitige 
Verkrümmung  der  Brustwirbelsäule.  Die  Brustwirbelsäule  ist  stärker  nach 
rechts  ausgebogen,  infolgedessen  sind  Lenden-  und  Halswirbelsäule 
nach  links  ausgewichen,  man  nennt  dies  compensirende  Skoliosen,  weil 
ohne  diese  Gegenkrümmung  der  Kopf  nicht  mehr  seine  mediane  Lage 


Fig.  456. 


Fig.  457. 


innehalten  könnte.  Die  ganze  Wirbelsäule  macht  so  den  Eindruck  einer 
mehrfachen  Krümmung,  einer  schlangenartigen  Verbiegung  —  Scoliosis 
multiplex  oder  serpentina.  An  der  Seite,  die  der  Convexität  der  Krüm- 
mung entspricht,  also  hier  nach  rechts,  werden  dadurch  die  Rippen  aus- 
einander gefaltet,  auf  dei-  concaven  Seite  zusammengeschoben  wie  ein 
stärker  und  ein  weniger  stark  auseinander  gefalteter  Fächer.  Daher 
wird  die  convexe  Brustseite  länger,  weiter  und  höher,  und  damit  tritt 
auch  das  rechte  Schulterblatt  mehr  in  die  Höhe  —  hohe  Schulter. 
Auch  die  betreifende  Hüfte  tritt  meist  höher  —  hohe  Hüfte. 

Die  Deformität  entwickelt  sich  sehr  langsam  und  schleichend.  Anfangs  handelt 
es  sich  mehr  um  falsche  Haltung,  daher  das  Ganze  auch  Scoliosis  habitualis  ge- 
nannt wird.  In  diesem  ersten  („mobilen")  Stadium  verschwindet  die  Verbiegung  sofort 
mit  dem  Aufhören  der  Belastung  der  Wirbelsäule,  d.  h.  beim  Liegen,  im  Hang,  selbst  schon 


Rückgratsverkrümmungen.  543 

im  Voruüberbiegeu.  Bald  jedoch  gleicht  sich  die  Verbieguug  bei  Aufhören  der  Belastung 
nur  noch  zum  Theil  aus  (II.  Stadium)  und  im  dritten  Stadium  ist  eine  Veränderung 
durch  nichts  mehr  herbeizuführen  (III.  Stadium  oder  Stadium  der  Fixation).  Diesen  Ver- 
hältnissen entsprechend  lässt  sich  im  I.  Stadium  eine  anatomische  Veränderung  an  den 
Knochen  noch  nicht  nachweisen.  Bald  jedoch  stellt  sich  ein  falsches  "Wachsthum  sämmt- 
licher  Knochen  des  Thorax  ein,  die  Wirbelkörper  werden  auf  der  convexen  Seite  höher, 
auf  der  coucaven  niedriger,  die  Eippen  der  convexen  Seite  länger,  auch  das  Sternum 
verbiegt  sich.  Selbstverständlich  werden  in  diesen  hochgradigen  Fällen  auch  die  ßrust- 
eingeweide  (Herz  und  Lunge)  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  verschoben. 

Die  Skoliose  wird  heute  als  eine  „Belastungsdeformität"  (s.  pag.  535)  bezeichnet, 
auch  als  Ermüdungs-,  Schuldeformität  u.  s.  w. 

Für  die  diff erentielle  Diagnose  sind  verschiedene  ähnliche  Processe  im  Auge 
zu  behalten.  Zunächst  ist  die  habituelle  Skoliose  zu  trennen  von  der  narbigen  (z.  B.  durch 
Verbrennungen),  der  durch  innere  Schrumpfungsprocesse  (Empyem  der  Rippenfellhöhle, 
Lungenschrumpfungen  u.  s.  f.)  bedingten,  dann  von  der  „statischen",  die  bedingt 
ist  durch  angleiche  Länge  der  Beine.  Dann  ist  die  „Totalskoliose"  der  kleinen 
Kinder  ein  anderer  Process.  Diese  entwickelt  sich  in  den  ersten  Lebensjahren,  ehe  die 
Wii'belsäule  ihre  phj'siologischen  Krümmungen  erhalten  hat ,  und  bildet  einen  einzigen 
Bogen  —  meist  nach  links  vom  Atlas  bis  zum  letzten  Lendenwirbel  herab  (im  Gegen- 
satz zur  Scoliosis  multiplex).  —  Die  rachitische  Skoliose  macht  oft  ziemlich  spitz- 
winklige seitliche  Ausbiegungen  kleinerer  Abschnitte  der  Wirbelsäule. 

Scharf  ist  die  Skoliose  zu  trennen  von  der  Spondylitis.  Die  Spondylitis  ist 
eine  tuberculöse  Erweichung  und  Vereiterung  der  Wirbelkörper.  Infolge  der  auf  den 
erweichten  Wirbeln  ruhenden  Last  des  Oberkörpers  sinken  dieselben  ein  und  bilden, 
indem  die  meist  nicht  veränderten  Dornfortsätze  nach  hinten  hinausgetrieben  werden,  einen 
spitz  nach  hinten  vorragenden  Buckel  (Kyphose).  Die  Spondylitis  betrift't  im  Gegensatz 
zur  Skoliosis  nie  die  ganze  Wirbelsäule,  sondern  nur  einzelne  Wirbel  (2—10),  und  diese 
lassen  die  Zeichen  der  Entzündung  nicht  verkennen;  es  fehlen  nicht  örtliche  Schmerzen, 
Schmerz  bei  Bewegung  der  Wirbelsäule  und  Zeichen  von  Entzündung  oder  Degeneration 
des  meist  mit  entzündeten  Rückenmarks  (Lähmungen  der  unteren  Extremitäten,  der 
Blase,  des  Mastdarmes ;  Anästhesie  und  Parästhesie,  Erhöhung  der  Reflexe).  In  späteren 
Stadien  treten  noch  die  schon  geschilderten  tuberculösen  Abscesse  hinzu ,  die  oft  weite 
Wege  machen  und  unter  dem  Poiqiarf  sehen  Band,  an  der  Hinterfläche  des  Beckens,  der 
Oberschenkel,  am  Rücken  zu  Tage  treten. 

Von  sonstigen  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  wäre  noch  zu  nennen  die  Alt  er  s- 
kyphose.  AVenn  die  Musculatur  anfängt,  schwach  zu  werden,  so  schwindet  die  straffe, 
gerade ,  militärische  Haltung  immer  mehr,  erst  der  Kopf,  dann  der  Rumpf  sinken  nach 
vorne  über  und  man  hat  eine  runde  Kj^phose,  namentlich  in  Brust-  und  Halswirbelsäule. 
Bei  schwächlichen  Personen  kommt  dieser  „runde  Rücken"  oft  schon  in  frühen  Jahren, 
ebenso  bei  Leuten,  die  viel  Lasten  auf  dem  Rücken  tragen  (Sackträgerkyphose). 

Bei  der  Beb  and  hing;  der  Skoliose  sind  zAinächst  die  fast  immer 
vorhandene  Blutarm iith  und  Scliwäcblichkeit  der  Kinder  zu  bekämpfen. 
Friscbe  Luft  und  kräftige  Krnäbrung ,  mögliebst  wenig  geistige  An- 
strengung, Einschränkung  oder  Einstellung  des  Schulbesuches.  Die  Kinder 
sollen  so  wenig  als  möglich  sitzen  oder  stehen,  sondern  umherlaufen 
oder  liegen.  Bei  der  örtlichen  Behandlung  sind  in  den  ersten  Stadien 
diejenigen  Verfahren  am  erfolgreichsten ,  welche  die  Musculatur  des 
Rückens  zu  kräftigen  bestrebt  sind  —  Massage  und  Gymnastik.  Später 
kommen  dann  auch  redressirende  Apparate  u.  s.  f.  in  Frage,  von  denen 
das  in  corrigirter  Stellung  angelegte  abnehmbare  Gips-  oder  Leder- 
corset  fvergl.  Fig.  272)  entschieden  das  Beste  ist.  Doch  sind  Corsets, 
Stützapparate  erst  dann  zu  verwenden,  wenn  die  Skoliose  schon  vor- 
geschritten ist  und  CS  sich  eigentlich  nur  darum  handelt,  eine  Ver- 
schlimmerung zu  verhüten. 

Am  oberen  Ende  der  llal,swirl)elsäule  tindet  sich  der  Schiefhals 
(Caput  obstipum).  Es  handelt  sich  dal)ei  um  eine  Verkürzung  des  M. 
sternoeleido-mastoideus  (in  Fig.  458  nach  Albert  des  linken).  Derselbe 
ist  entweder  zu  kurz  gewachsen  (Prfrrst)/)  durch  falsche  Haltung  des 
Fötus  in   utero,    wie  der  angel)orene  Klumpfuss.    (Jder  der  Muskel   ist 


544 


VII.  Cdpitol.  —  Kranklieiten  der  Knochen   und  Gelenke. 


während  der  Geburt  zerrissen  und  nachher  narbif^-  g-eschrumpftf?).  Häufig 
ist  die  betreffende  Gesichtshälfte  auch  in  der  Entwickhing  zurückgeblieben. 
Die  Behandlung  beginnt  am  besten  mit  einer  subcutanen  oder  oWenen  fFolk- 


Fig.  458. 


mann)  Durchschneidung  des  Muskels  oberhalb  seines  Ansatzes  (Tenotomie 
mit  feinem  Sichelmesser).  Auch  die  Exstirpation  des  Muskels  wird  em- 
pfohlen (Mikulicz).  Nachher  lässt  man  eine  steife  Cravatte  tragen  oder 
den  Kopf  an  einem  Suspensionsapparat  (Minerva)  in  die  Höhe  und  ge- 
rade ziehen. 


Ankylose  nennen  wir  Aufhebung  der  freien  Beweglichkeit  in 
einem  Gelenk  (Steifheit).  Der  Name  kommt  von  äv/.ulo;  (Winkel)  und 
bedeutet  eigentlich  Feststellung  im  Winkel.  Uneigentlich  gebraucht  man 
auch  den  Ausdruck  „gestreckte  Ankylose",  d.  h.  Feststellung  in  gestreckter 
Stellung. 

Man  hat  die  Ankylosen  in  echte  und  in  falsche  eingetheilt  (A.  vera  und  spuria). 
Bei  der  echten  sitzt  das  Bewegungshindemiss  im  Gelenk  selbst,  bei  der  unechten  ist 
die  Schrumpfung  und  Starrheit  der  umgebenden  Weichtheile  die  Ursache.  Die  Ursachen, 
die  eine  Ankylosis  spuria  bedingen  können,  sind  natürlich  sehi-  verschiedener  Art. 
Bald  ist  es  die  Haut;  hier  kommen  namentlich  umfängliche  Narbenschi'ump fangen,  be- 
sonders nach  Verbrennungen,  in  Betracht.  Ein  anderesmal  sind  es  Fascien,  die  durch 
ihre  Verkürzung  die  Beweglichkeit  eines  Gelenkes  hindern.  Noch  häufiger  handelt  es 
sich  um  Muskelleiden,  „Contracturen".  Und  zwar  sind  es  bald  chronische  Contrac- 
tionszustände.  meist  durch  Nervenleiden  bedingt  (Spasmen,  Myotonia  congenita  u.  s.  f.), 
bald  narbige  Schrumpfungen,  im  Anschluss  an  chronische  Muskelentzündung,  oder  noch 
häufiger  durch  Eiterung  veranlasst.  So  entsteht  oft  nach  Phlegmone  des  Vorderarmes, 
durch  eiterigen  Zerfall  von  Muskeln  und  nachherige  Schrumpfung  von  Muskeln ,  Sehnen 


Ankylose.  545 

und  Fascien,  Contracturstelluug  der  Hand.  Jedoch  auch  Nervenlähmungeu  haben, 
indem  sie  zur  Lähmung  und  Schrumpfung  der  Muskehi  führen ,  Contracturstellungeu 
zur  Folge. 

Die  Diagnose  ist  zum  Theil  durch  unmittelbare  Besichtigung  (z.  B.  der  Narben) 
und  die  Anamnese  (vorausgegangene  Eiterungen,  Lähmungen  u.  s.  f.)  zu  machen;  oft 
sind  auch  elektrische  Untersuchung  und  Narkose  uöthig.  Die  Beweglichkeit  ist  bei  An- 
kylosis  spuria  oft  nur  in  einzelneu  Eichtungen  —  gerade  im  Sinne  des  Hindernisses  — 
beschränkt. 

Die  Schrumpfung  der  Weichtheile  beschäftigt  uns  übrigens  oft  als  unan- 
genehme Beigabe  wahrer  Ankylosen.  "Wenn  diese  behoben  sind,  z.  B.  durch  eine  Osteo- 
tomie (siehe  unten),  so  kann  es  vorkommen,  dass  die  im  Laufe  der  Jahre  auf's  Aeusserste 
geschrumpften  Weichtheile  einer  Aenderung  der  Stellung  hartnäckigen  Widerstand  ent- 
gegensetzen. Es  bedarf  dann  oft  methodischer  Behandlung  derselben  —  G-ewichtstension, 
gewaltsamer  Dehnungen  in  Narkose,  Durchschneidung  einzelner  Stränge,  Massage  u.  s.  f. 
Die  Weichtheile  machen  so  oft  mehr  Mühe  als  die  eigentliche  Ankylose. 

Man  unterscheidet  eine  fibröse,  knorpelige  und  knöcherne 
Ankylose,  je  nachdem  die  Vereinigung  der  beiden  Knochen  eine  bindege- 
webige, knorpelige  oder  wirklich  knöcherne  ist.  Die  knorpelige  ist  ohne 
Weiteres  zu  streichen,  denn  die  Gelenkknorpel  verlöthen  nicht  mitein- 
ander, da  dies  die  Eigenartigkeit  ihres  Gewebes  und  ihres  Stoffwechsels 
verhindert,  es  handelt  sich  hier  nur  um  fibröse  Verlöthung  mit  Knorpel- 
resten dazwischen. 

Viele  Ankylosen  sind  überhaupt  nur  scheinbare,  namentlich  die 
fibrösen,  es  handelt  sich  nur  um  Schrumpfung  der  Bänder  und  Kapsel, 
die  die  active  Behandlang  unmöglich  machen. 

Es  ist  —  wegen  Behandlung  und  Prognose  des  Falles  — 
wichtig,  in  jedem  einzelnen  Falle  sich  genau  darüber  klar  zu  werden, 
welcher  Art  die  Ankylose  ist.  Manchmal  hilft  die  Anamnese  mit;  acuter 
Gelenlsj-heumatismus  macht  z.  B.  meist  nur  Kapselschrumpfungen;  bei 
schwerer  Eiterung  und  Tuberculose  handelt  es  sich  häufig,  aber 
keineswegs  immer  um  knöcherne  Vereinigung.  Lässt  sich  eine  auch  nur 
ganz  leichte  Bewegung  im  Gelenk  ausführen,  so  hegt  eine  fibröse 
Ankylose  vor.  Dann  misst  man  den  Winkel  und  die  Entfernung  zweier 
Punkte  (z.  B.  Spitze  des  Trochanter  maj.  und  Mall,  ext.)  genau  und 
legt  einen  Extensionsverband  mit  starker  Belastung  (20 — 25  Pfund, 
s.  pag,  300  ff.)  an.  Streckt  sich  der  Winkel  einigermassen,  dann  ist  die 
Prognose  günstiger.  Entweder  gelingt  es  mit  fortgesetzter  Extension 
(und  Gegenextensionj,  das  Gelenk  allmählich  zu  strecken  oder  man  streckt 
es  in  Narkose.  In  tiefer  Betäubung  wird  das  Gelenk  —  langsam,  ab- 
satzweise, nicht  plötzlich  —  gestreckt  und  zugleich  der  Winkel  nieder- 
gedrückt; ein  ruhiger  Druck  ist  nöthig.  plötzliches  gewaltsames  Reissen 
zerbricht  oft  den  Knochen.  Dann  wird  zunächst  ein  wattirter  Gipsver- 
))and  angelegt.  Meist  ist  später  das  Verfahren  zu  wiederholen. 

Von  den  Apparaten  zur  Streckung  der  Ankylosen,  deren  Anlegung 
den  Kranken  selbst  überlassen  bleibt,  ist  nicht  viel  zu  halten.  Sobald 
die  Sache  etwas  schmerzt,  werden  die  Schrauben  nachgelassen  und 
man  erreicht  fast  nie  ein  l)ciVic(ligcndcs  Resultat.  Fig.  4ö9  nach  CoH'ui 
stellt  einen  A])parat  zur  Streckung  der  Knieankylosc  dar.  Zweckmässiger 
sind  portative  Apparate.  Ein  praktischer  Apparat  zur  Streckung  der 
Knieankylosc  ist  der  von  Bidder  angegebene  (Fig.  460).  Ein  Apparat 
für  Fingerstreckung  (nach  (iolchicivsld)  ist  in  Fig.  461  abgebildet  (nach 
Wolznidorff). 

KnJtcherne  Ankylosen  verlangen  nur  dann  einen  Eingriff,  wenn 
das  (ielenk  in   gebruuclisuntäbigcr  Stellung  feststeht,  z.  V>.  der  Arm    im 

Landerer,  AUg.  chir.  Pathologie  u.  Therapie.  2.  Aufl.  35 


546 


VII.  Capitel.  —  Kranklieitc»  der  Knochen  und  Gelenke. 


Ellbogen  g-estreckt,  das  Knie  gebeugt ;  oder  wenn  ein  bewegliches  Gelenk 
erzielt  werden  soll.  Die  Stelle  der  Ankylose  wird  mit  einem  bogenför- 
migen oder  linearen  Schnitt  freigelegt  und  mit  Säge  oder  Meissel  ein 
keilförmiges  Stück  entfernt,   bis  dem  Gliede  die  normale  Stellung  ge- 


Fig.  459. 


geben  werden  kann  (keilförmige  Osteotomie).  Nachher  werden  die 
getrennten  Knochen  durch  einen  Schienen-  oder  Gipsverband  oder  durch 
Zusammennageln  oder  Knochennaht  vereinigt.  Zweckmässiger  ist  die  von 


Helferich  angegebene  bogenförmige  Durchsägung  mit  feiner  Säge, 
ähnlich  Fig.  196;  die  beiden  Knochen  lassen  sich  dann  gleitend  überein- 
ander verschieben  und  es  fällt  vom  Knochen  nichts  oder  fast  nichts  weg. 


Fig.  461. 


Das  Redressement  force,  Brisement  force,  das  gewaltsame  Strecken 
oder  Brechen  ankylotischer  Gelenke  empfiehlt  sich  bei  knöchernen  An- 
kylosen nicht.  Gewöhnlich  bricht  es  anderswo  im  Knochen,  aber  gerade 
nicht  im  Gelenk ;  es  entstehen  Epiphysenlösungen,  Brüche  der  Diaphysen 
u.  s.  f.  und  Bildung  hässlicherBajonnettstellungen,  Schlottergelenkbildung 
und  dergleichen. 


Beliaudluna-  der  Ankvlose.  ScUottero-elenk. 


547 


Bei  den  Residuen  tnberculöser  Gelenkerkrankungen  muss  jede 
Spur  von  Schmerz  und  Entzündung-  seit  Jahren  versehwunden  sein. 
Sonst  facht  man  durch  Redressement  force  und  auch  durch  Osteotomie 
die  Tuberculose  auf's  Neue  an. 

Interessant  ist  die  Beobachtung  von  Roitx,  dass  bei  winkligen  knöchernen  Aukj'- 
losen  sich  die  ganze  Architektur  der  Knochen,  die  Eichtung  der  Knochenbälkchen  der  ver- 
änderten Beanspruchung  entsprechend,  umbildet  (fuuctionelle  Anpassung,  vergi.  pag.  404). 

Schwieriger  ist  oft  die  Herstellung  fis. 462 

beweglicher  Gelenke  bei  Ankylose 
und  Gelenksteitigkeit.  Handelt  es  sich  nur 
um  Kapsel-  und  Bänderschrumpfung  oder 
fibröse  Ankylose,  so  kann  durch  ausdauernde 
mechanische  Behandlung  —  Massage,  active 
und'passive  Gymnastik,  maschinelle  (Zaiider- 
sche)  Gymnastik  (vergl.  pag.  306  ff.)  oft  ein 
guter  Erfolg  erreicht  werden.  Fig.  462  gibt 
Albers''  Verband  zur  Beseitigung  von  Steifig- 
keiten im  Kniegelenk  durch  elastischen 
Zug.  Auch  die  Kr ukenherf^' sehen  Pendel- 
apparate sind  oft  von  Nutzen.  Bei  der 
knöchernen  Ankylose  ist  an  der  untern 
Extremität  ein  bewegliches  Gelenk  selten 
von  Nutzen ,  weil  es  nicht  die  nöthige 
Festigkeit  bietet,  wohl  aber  ist  ein  solches 
an  der  obern  Extremität  von  Werth.  Hier 
wird  zunächst  die  Resection  des  Gelenks 
gemacht  (pag.  264  ff).  Schon  vom  1.  Ver- 
bandwechsel ab  werden  Stellungsäoderungen 
vorgenommen  und  von  der  2.  Woche  an 
passive  und  bald  active  Bewegungen.  Aber 
auch  hier  geht  der  Erfolg  später  oft  verloren, 
indem  es  wieder  zu  Ankylose  oder  zu 
Schlottergelenkbildung  kommt.  Das  Einlegen 
todten  Materials  (Silberblech,  Celluloid  u.  s.w.) 
gibt  keinen  Erfolg;  Helfer  ich  hat  einmal 
am  Kiefergelenk  mit  gutem  Erfolg  ein 
Stück  lebenden  M.  temporalis  zwischen  die 
Knochenflächen  eingeheilt. 

Schlottergelenk  ist  eine  Lockerung 
in  der  Gelenkverbindung  zweier  Knochen. 
Das  Gelenk  gestattet  Bewegungen  in  weiterem 
Tnifang  als  normal,  oder  in  Richtungen,  in  denen  es  sonst  Bewegungen 
überhaupt  nicht  zulässt.  So  können  in  Ginglymusgelenken  (Knie,  Ell- 
bogen) ausser  Beugung  und  Streckung  auch  seitliche  Ikwegungen  aus- 
geführt werden.  Die  Festigkeit  des  Gelenkes  ist  herabgesetzt,  die  Be- 
wegungen des  betretenden  Gliedes  sind  unsicher  und  kraftlos  oder 
können  sogar  —  bei  gänzlicher  Haltlosigkeit  des  Gelenkes  —  ganz  un- 
möglich sein. 

Die  Ursachen  der  Schloltergelenkbildung  liegen  theils  im  Ge- 
lenk selbst,  theils  in  den  dazugehörigen  Weichtheilen  (Muskeln  und 
Nervten).  So  können  Ergüsse  in  die  GelcnkhiUile,  welche    die  Kapsel 

35* 


548  VII-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

dehnen  und  die  Bänder  zur  Erschlaffung  bringen,  zum  Schlottcrgelenk 
führen  (z.B.neuroparalytische  Gelenkentzündungcnj.  Häufiger  sind  es  Ver- 
letzungen, die  durch  Zerreissung  von  Bändern  und  Kapseltheilen  zum 
Schlottergelenk  führen,  z.  B.  Zerreissung  eines  .Seitenbandes  im  Knie- 
oder Ellbogengelenk,  u.  s.  w.  Auch  schwere  Verrenkungen  mit  ausge- 
dehnten Bandzerreissungen  lassen  oft  ein  Schlottergelenk  zurück.  Dann 
führt  Rachitis  zu  Schlottergelenken  massigen  Grades,  indem  die  Bänder 
gedehnt  werden. 

Für  manche  Gelenke  führt  auch  die  Lähmung  der  zum  Gelenk 
gehörigen  Muskeln  zum  Schlottergelenk.  Es  sind  dies  solche  Gelenke, 
wo  die  Muskelspannung  für  den  Contact  und  festen  Schluss  der  Ge- 
lenkflächen unerlässlich  ist  —  in  erster  Linie  gilt  dies  für  das  Schulter- 
gelenk. Wird  der  Deltoideus  gelähmt,  so  sinkt  der  Oberarm  am  Schulter- 
blatt herunter,  es  entsteht  eine  Subluxationsstellung  und  zugleich  Schlot- 
tergelenk. —  Lähmung  der  Unterschenkelmuskeln  führt  zum  Schlottern 
des  Fussgelenkes  (s.  pag.  536,  paralytischer  Klumpfuss). 

Die  Behandlung  des  Schlottergelenkes  ist  verschieden,  je  nach 
der  Ursache.  Muskellähmungen  u.  s.  f.  sind  als  solche  zu  behandeln 
(s.  pag.  550).  Li  vielen  Fällen  bessert  Massage  sowohl  des  Gelenkes, 
als  auch  namentlich  der  zugehörigen  Muskeln  (durch  Klopfen,  siehe 
pag.  303)  den  Zustand  insofern,  als  dadurch  doch  eine  Festerstellung  des 
Gelenkes  erreicht  wird.  Im  Uebrigen  sind  Wassergiaskapseln,  Schutz-  und 
Stützverbände  (Tutoren)  angezeigt.  Die  Einspritzung  schrumpfender 
und  entzündungserregender  Mittel  in  die  Umgebung  der  Kapsel,  wie 
Jodtinctur  u.  dergl,  gibt  keinen  dauernden  Erfolg.  In  manchen  Fallen 
ist  die  Arthrodesis  (r^sco, binden)  angezeigt  (vergl.  Zinsmeister,  Deutsche 
Zeitschrift  für  Chirurgie,  Band  26).  Das  Gelenk  wird  eröffnet  mit  einem 
Resectionsschnitt  (pag.  264),  die  Knochenflächen  werden  durch  energi- 
sches Abtragen  des  Knorpels  angefrischt  und  vernäht  oder  mit  Schlingen 
von  Draht  miteinander  verknüpft.  Die  Operation  ist  nur  da  angezeigt, 
wo  die  zu  erwartende  Ankylose  eine  bessere  Gebrauchsfähigkeit  der 
Extremität  zulässt  als  ein  Schlottergelenk. 


Die  Neubildungen  der  Knochen  und  Gelenke  haben  wir 
zwar  schon  pag.  324  f.  erwähnt ,  doch  seien  hier  noch  einige  praktisch 
wichtige  Bemerkungen  angefügt. 

Von  gutartigen  Geschwülsten  kommen  am  Knochen  namentlich 
Osteome,  Enchondrome  und  Gefässgeschwülste  vor;  von  bösartigen  die 
Sarkome  und  metastatische  Carcinorae.  Leicht  ausschälbare,  oft  wie 
in  Nischen  im  Knochen  lose  liegende  Epithelialcarcinome ,  früher  als 
primäre  Knochenkrebse  geführt,  sind  wohl  ausnahmslos  metastatiecher 
Natur,  nur  findet  man  das  primäre  Carcinoma  oft  nicht.  Dann  sind  noch 
die  Parasiten  zu  erwähnen  ,  besonders  die  Echinokokken  (siehe  Fischer, 
Deutsche  Zeitschr.  i.  Chirurgie,  Band  32),  von  chronischen  Entzündungs- 
processen  sind  Lues  und  Tuberculose  zu  nennen.  Das  Lipoma  arbo- 
rescens  ist  pag.  323  erwähnt. 

Die  differentielle  Diagnose  der  Knochenaffectionen  ist  namentlich  im  An- 
fang, so  lange  die  Symptome  noch  unklar  sind,  besonders  wenn  der  Knochen  tief  liegt, 
oft  recht  schwer,  häufig  unmöglich.  So  kann  z.  B.  eine  harte  Anschwellung  des  Unter- 
kieferperiosts eine  gewöhnliche  Parulis,  ausgehend  von  schlechten  Zähnen,  sein,  ebenso 
aber  auch  eine  tuberculose  oder  syphilitische  Periostitis,  je  nachdem  sonst  Erscheinungen 


Neubildungen  der  Knochen.  Muskelveiietzungen.  549 

dieser  oder  jeuer  chrouisclieu  Infectionskrankheit  an  dem  betreifenden  Kranken  zu  finden 
sind.  Es  kann  sich  aber  auch  um  ein  centrales  Sarkom  oder  ein  periostales  Sarkom 
(Epulis)  handeln.  Für  letzteres  würde  langsames  Wacbsthum  und  gänzliche  Schmerz- 
losigkeit  sprechen. 

Tiefliegende,  namentlich  centrale  Osteosarkome  (Markschwämme  u.  s.  w.)  machen 
anfangs  ganz  verschwommene  Symptome.  Die  Schmerzen,  die  dumpfe ,  tiefe  Spannung 
werden  als  rheumatisch  gedeutet ;  wenn  dann  der  Knochen  anfängt  zu  schwellen,  denkt 
man  an  tuberculöse  oder  syphilitische  Ostitis  oder  Periostitis.  Kommt  schliesslich  die 
weiche,  schwammige  Geschwulst  bis  zur  Oberfläche,  so  ist  allerdings  die  Diagnose  klar. 
Spontanfracturen  klären  oft  die  Diagnose  früher  auf.  Echinokokken  lassen  sich  oft 
schwer  von  erweichten  Enchondromeu  unterscheiden;  denn  die  Anamnese  ist  auch  nicht 
immer  sicher. 

Schliesslich  ist  noch  des  Knochenaneurysma  zu  gedenken.  Vermuthlicli  handelt 
es  sich  um  eine  Gefässgeschwulst,  die  im  Innern  des  Knochens  entstanden,  allmählich 
denselben  zur  Resorption  bringt  und  nun  eine  tiefliegende,  pulsirende  und  schwirrende 
Geschwulst  darstellt.  In  dem  Stadium ,  wo  die  Geschwulst  erkannt  wird ,  ist  die 
Resorption  der  Knochen  Substanz  meist  so  weit  vorgeschritten,  dass  die  Erhaltung  des 
Knochens  keinen  praktischen  Werth  mehr  hat.  Die  Amputation  ist  daher  angezeigt. 
Oeliler  (Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie,  Band  37)  hält  das  Knochenaneurysma  über- 
haupt  für  ein  centrales  gefässreiches  Osteosarkom. 

Auch  chronische  Knochenabscesse  (vergl.  pag.  491)  können  gelegentlich  eine 
Knochengeschwulst  voi'täuschen. 


Krankheiten  der  Muskeln,  Sehnen  und  Schleimbeutel. 

Wunden  und  Zerreissungen  von  Muskeln.  —  Muskelatrophien.  Lipomatose  und 
Pseudohypertrophie.  Entzündungen.  Muskelrheumatismen.  Functionsanomalien  und 
Contractur.  Myositis  ossificans.  Neubildungen.  —  Sehnenwunden  und  Sehnennaht. 
Verrenkungen  der  Sehnen.  Sehnenscheidenentzündungen.  —  Krankheiten  der 
Schleimbeutel.    Hygrom  und  Ganglion.  Krankheiten  der  Fascien. 

Die  Wunden  der  Muskeln  und  die  Art  und  Weise  ihrer  Re- 
generation sind  schon  pag.  82  besprochen.  Muskelquetschungen  und 
Zerreissungen  sind  bei  irgend  schweren  Verletzungen,  schweren  Quet- 
schungen (pag.  93) ,  complicirten  (pag.  443)  und  nicht  complicirten 
Fractiiren  sehr  häufig.  Als  einzige  Verletzung  sind  die  subcutanen  Zer- 
reissungen von  gesunden  Muskeln  nicht  gerade  oft  beobachtet.  Sie 
entstehen  durch  sehr  energische  oder  krampfhafte  >[uskei zusammen- 
ziehungen. So  zerreisst  der  M.  quadriceps  femoris  über  dem  Knie,  wenn 
Jemand  —  hinten  überfallend  —  sich  aufrecht  erhalten  will,  doch 
kann  hiebei  auch  die  Patella  quer  durchreissen,  Oder  der  Biceps 
l)rachii  zerreisst  ])ei  einem  energischen  Wurf.  Fast  häufiger  kommt  es 
Ijei  denselben  Anlässen  zu  einer  Zerreissung  der  Sehne  oder  zu  einer 
Abreissung  derselben  von  ihrem  Muskelbauch  oder  ihrer  Ansatzstelle. 
Ein  plötzlicher  Schmerz,  oft  auch  ein  Krachen  wird  empfunden ;  die 
Function  des  Muskels  ist  aufgehoben;  ein  weicher,  oft  etwas  crepi- 
tirender  und  ziemlich  empfindlicher  Bluterguss  bezeichnet  die  Stelle. 

Für  die  Behandlung  ist  Ruhe  nöthig  (mit  Fnrssnitz'^Q\\QW.  Um- 
schlägen). Das  ergossene  Blut  wird  durch  Massage  entfernt.  Ziendich 
rasch  regenerirt  sich  der  zerrissene  Muskel ,  stets  wuchert  Bindege- 
webe in  den  Muskelriss  hinein  und  es  entsteht  eine  Art  traumatischer 
Tnscri))tio  tcndinea.  die,  wenn,  sie  nicht  zu  breit  ist,  die  Function  des 
.Muskels  wenig  st<")rt. 

Die  Xaiit  des  gerissenen  Muskels  ist  nur  selten,  eigentlicli  nur 
bei  alten,  mit  breiter  bindegewebiger  Zwisclicnsubstanz  geheilten  Rissen 
und    liei  wirklicher  Functionsstörung   nöthig.     Die   Stelle   wird   freige- 


550  ^^^-  Capitel.   —  Ki'ankheiten  der  Kiioclicii  und  Gelenke. 

legt,  die  Zwisehensubstanz  exstirpirt  und  die  angefri.sclit.en  Muskel  wun- 
den durch  verlorene  Nähte  aneinander  geheftet.  Nach  Maydl  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  17  u.  18,  Lit.)  kommt  es  nach  Muskelzcrreissungen 
nie  zur  Verkürzung  des  Muskels  (wichtig  für  die  Entstehung  des 
Sehiefhalses,  pag.  544). 

Als  spontane  Muskelrupturen  bezeichnen  wir  —  in  Analogie  mit  den 
spontanen  Fracturen  —  solche  Fälle,  wo  auf  eine  an  sich  geringfügige  Verletzung  hin  der 
kranke  und  erweichte  Muskel  zerreisst.  Fast  immer  ist  es  der  wachsig  entartete  Muse. 
rectus  abdominis  bei  Typhus  abdominalis,  der  zerreisst.  Ein  Blutergnss  bezeichnet  die 
Stelle.  Ruhe  ist  das  Beste.  Heilt  der  Typhus ,  so  heilt  meist  auch  der  Muskelriss  ohne 
besondere  Folgen.  Selten  kommt  es  zur  Eiterung  (vergl.  pag.  491). 

Bei  Hämophilie  finden  sich  grosse  Muskelblutungen,  die  zur  schwieligen 
Entartung  und  zu  unheilbaren  Contracturen  führen.    Ruhe  ist  das  einzig  Richtige. 

Gleichfalls  auf  traumatischem  Wege  entsteht  die  Muskelhernie. 
Die  den  Muskel  einschliessende  Fascie  platzt  oder  wird  zerquetscht 
und  bei  jeder  Muskelzusammenziehung  tritt  ein  Wulst  von  Musculatur 
geschwulstartig  aus  dem  Riss  heraus.  Ich  habe  Muskelhernien  nament- 
lich an  den  Adductoren  und  am  Vorderarm  beobachtet.  Machen  sie 
wirkliche  Beschwerden,  so  wird  der  Fascienriss  vernäht. 

Sehr  ausgedehnt  ist  das  Gebiet  der  Muskelatrophien. 

Atrophie  durch  Nichtgebrauch  beobachtet  man  regelmässig 
unter  der  Einwirkung  von  Gipsverbänden ,  sei's  nun ,  dass  dieselben 
wegen  Knoehenbrüchen  oder  wegen  Gelenkleiden  angelegt  wurden,  aber 
auch  als  Folge  von  Gelenkleiden,  wo  nie  ein  erhärtender  Verband  ange- 
legt war,  wenn  die  Function  des  Gliedes  dabei  wesentlich  beeinträchtigt 
war.  Noch  ausgesprochener  ist  die  Atrophie  bei  Ankj^osen. 

Mikroskopisch  findet  man  die  einzelnen  Fasern  nur  sehr  verschmächtigt,  auf 
die  Hälfte  oder  gar  ein  Viertel  ihrer  Breite  reducirt ,  ohne  eine  wesentliche  Structur- 
anomalie  zu  zeigen ,  oder  ihre  Anzahl  ist  vermindert.  Andere  Male  sind  die  Fasern 
trüb,  wie  bestäubt,  ihre  Querstreifung  undeutlich ;  anscheinend  sind  dies  feinste  Eiweiss- 
gerinnungen,  wie  bei  parenchymatöser  Degeneration ;  bald  zeigt  sich  wirklicher  Zerfall 
in  den  Fasern,  oder  dieselben  sind  mit  feinsten  Fettkörnchen  durchsetzt,  die  schliesslich 
zu  förmlichen  Fetttropfen  zusammenfliessen  können.  Dabei  nimmt  das  Bindegewebe  zu, 
die  Muskelscheiden  sind  verbreitert,  und  es  zeigt  sich  Einlagerung  von  Rundzelleu. 
Diese  Formen  von  Atrophie  stehen  der  chronischen  Entzündung  sehr  nahe.  —  Aeussersten 
Falles  können  die  Fasern  so  gut  wie  ganz  verschwinden,  und  man  hat  nur  noch  die 
leeren  Schläuche  ,  die  zum  Theil  mit  Fett  erfüllt  sind.  Doch  bleiben  die  Muskelkerne 
lange  erhalten  und  von  ihnen  aus  scheint  selbst  noch  nach  langer  Zeit  —  wenn  die 
Ursache  der  Atrophie,  z.  B.  eine  Nervendurchschneidung,  behoben  werden  kann  —  eine 
Regeneration  möglich  zu  sein.  In  manchen  Fällen,  z.  B.  nach  Nervendurchschneidung, 
kann  man  von  einer  wirklichen  bindegewebigen  Atrophie  reden ,  indem  an  Stelle  der 
schwindenden  echten  Muskelfaser  Bindegewebsneubildung  tritt.  Dieses  Bindegewebe 
schrumpft  schliesslich  und  führt  damit  zu  einer  dauernden  Verkürzung  des  Muskels  — 
zur  Contractur.  Makroskopisch  erscheint  ein  atrophischer  Muskel  neben  der 
Abnahme  seines  Querdurchschnittes  blasser,  gelblich,  bald  gelb  gestreift,  bald  gespren- 
kelt ;  schliesslich  nimmt  er  ein  fettähnliches  Aussehen  an. 

Die  wachsige  Entartung  der  Muskeln  kommt  bei  schweren  Infectionskrankheiten, 
namentlich  Typhus  abdominalis  vor  und  disponirt  zu  Spontanrupturen. 

Selbst  nach  leichten  Gelenkdistorsionen  entwickeln  sich  oft  hart- 
näckige Muskelatrophien,  besonders  der  Streckmuskeln;  diese  „arthro- 
pathischen"  Muskelatrophien  werden  bald  als  Inactivitätsatrophie  erklärt, 
bald  als  Myositen  mit  secundärer  Atrophie  (Strümpell),  oder  als  reflectorisch 
bedingt (^Fw/^^icm;  Charcot),  wobei  Charcot  besonders  daraufhinweist,  dass 
die  Nerven  der  Gelenkkapseln  auch  die  Streckmuskeln  versorgen. 

Die  ischämischen  Muskellähmungen  sin§  pag.  8  und  448  be- 
sprochen, die  nach  Umschnürung  mit  der  Efiniarch' sehen  Binde  pag.  114. 


Muskelatrophien.  551 

Die  Muskelatropliien  durch  Nervenverletzuiigeu  sind 
daran  zu  erkennen,  dass  genau  die  von  bestimmten  Nerven  oder  Ner- 
venästen versorgten  Muslveln  gelähmt  werden ,  entarten  und  meist 
narbig  schrumpfen.  Sie  kommen  nicht  blos  bei  Nervendurchschuei- 
dungeu,  Quetschungen  der  Nerven,  Einschliessungen  in  Callusmassen, 
entzündlichen  Schwielen,  Druck  durch  Geschwülste  u.  s.  f.  vor.  Auch 
bei  subcutanen  Fracturen  wird  oft  ein  Nerv  zerrissen  und  die  Schuld 
der  später  sich  kundgebenden  Lähmung  dem  Arzte  beigemessen.  Die 
einzig  richtige  Behandlung  ist  Wiederherstellung  der  Nervenleitung  durch 
Nervennaht  oder  Freimachung  der  eingeklemmten  Nerven  (Neurolyse, 
s.  Krankheiten  der  Nerven). 

Die  nach  Knochenbrüchen  u.  s.  w.  zurückbleibende  Muskelsteifigkeit  beruht 
auf  Schrumpfung  der  Muskeln  und  Sehnen.  Energische  Dehnungen  und  Massage  der 
Muskeln  beseitigen  das  Uebel  meist  rasch. 

Die  essentielle  Kinderlähmung  oder  Poliomyelitis  an- 
terior acuta  (vielleicht  eine  acute  Infection)  befällt  unter  schweren 
Erscheinungen  —  Fieber  mit  Erbrechen,  Bewusstlosigkeit,  Krämpfen  — 
Kinder  bis  zum  zehnten  Jahr,  am  häutigsten  im  zweiten  bis  fünften 
Jahr.  Kommen  die  Kinder  zum  Bewusstsein,  so  werden  ausgedehnte 
Lähmungen,  bisweilen  aller  4  Extremitäten  bemerklich.  Auch  im  Ge- 
biete der  Hirunerven  kommen  Lähmungen  vor  (Strümpell).  Ein  grosser 
Theil  dieser  Lähmungen  schwindet  wieder,  aber  in  gewissen  Muskel- 
gruppen —  von  verschiedener  Anzahl  und  Ausdehnung  —  bleibt  die 
Lähmung  und  diese  verfallen  in  den  nächsten  Monaten  der  Atrophie. 
Die  Muskeln  fühlen  sich  dann  als  schmale  weiche  Bänder  an,  die  Re- 
liefs und  Contouren  derselben  verschwinden. 

In  ii'gendwie  höheren  Graden  ist  eine  Atrophie  der  betroffenen  Extremität  im 
Ganzen  nicht  zu  verkennen,  die  Knochen  sind  verkürzt  und  verdünnt,  die  Gelenke 
schlatf,  auch  Haut  und  Gefässe  sind  zweifellos  abnorm.  Sind,  wie  so  häufig,  bestimmte 
Muskelgruppen  schwerer  betrofl'en,  als  andere,  so  wachsen  diese  letztern  —  der  Dehnung 
entbehrend  —  zu  kurz,  sie  ., verkürzen  sich  nutritiv",  sie  können  sich  so  scheinbar  im 
Zustand  der  Verkürzung  oder  der  Contractur  befinden  und  dadurch  wachsen  die  Gelenke 
allmählich  in  eine  falsche  Stellung  hinein  (vergl.  die  Entstehung  des  paralytischen  Klump- 
fusses  pag.  .536).  Siehe  dort  auch  die  Diagnose. 

Anatomisch  findet  man  Degeneration  der  grossen  Ganglienzellen  in  den  Vorder- 
hörnern des  Rückenmarks.  Diese  scheinen  die  nutritiven  Centren  zu  enthalten  nicht  nur 
für  die  Muskeln,  sondern  auch  für  die  Knochen  und  Gelenke. 

Ein  Theil  der  poliomyelitischen  Atrophien  bessert  sich,  wie  ge- 
sagt, etwa  bis  zu  einem  halben  Jahre  auffällig,  dann  hört  die  Besse- 
rung auf  und  der  Zustand  bleibt  stationär.  Doch  kann  durch  energische 
Massage,  Warmhalten  der  Glieder,  Gymnastik,  Elektricität  noch  Man- 
ches erreicht  werden.  Besonders  wichtig  ist  ein  energisches  Klopfen 
der  Musculatur  (vergl.  pag.  803tf.j. 

Sobald  als  möglich  sind  die  Glieder,  wenn  möglich  durch  Maschinen 
gestützt,  in  Gebrauch  zu  nclimcn. 

Bei  der  progressiven  ]\[uskel  atroph  ic  findet  sich  Verschmächtigung  der 
Muskelfasern,  selbst  bis  auf  ein  Zehntel  ihres  Volumens.  Ein  Theil  sclieint  auch  ganz 
zu  Grunde  zu  gehen.  Man  sieht  diese  Krankheit  besonders  an  den  Muskeln  des  Daumen- 
ballens, dann  den  Interossei,  Kleinfingerballen  u.  s.  w.  beginnen.  Der  Verlauf  ist  überaus 
chronisch,  in  Jahren  und  .Tahrzehnten  sich  langsam  ausbreitend.  Die  rohe  Kraft  der 
Muskeln  vermindert  sich  entsprechend  dem  Grade  der  Atrophie.  Verzögernd  wirken 
elfktrisclie  Behandlung  und  Massage. 

Die  juvenile  Form  (Erb)  beginnt,  auf  hereditärer  Grundlage  beruhend,  meist 
an  den  Muskeln  des  Oberarmes,  geht  dann  auf  den  Rumpf,  Hals  u.  s.  w.  über.  Ihr 
Verlauf  ist  ein  viel  rascherer. 


552  "^I^-  Capitol.  —   Kiunkheitci]   ilar  Kiioclion   uud  Gelenke. 

Bei  der  Lipomatosis  musculor  um  oder  Pseu  dohypertr  o]j  li  io  handelt 
es  sich  um  enorme  Fettentwicklung  im  Muskel.  JJie  Sarcolemmschläuche  sind  von 
Fettzellen  erfüllt  und  der  grösste  Theil  der  Fasern  ist  geschwundeu.  Aeusserlicli  seheint 
der  Muskel  enorm  verdickt  und  machen  die  betreffenden  Körpertheile,  z.  B.  die  Waden, 
den  Eindruck  von  geradezu  athletischer  Entwicklung.  Die  rohe  'Kraft  ist  aber  erheblich 
reducirt,  ja  kann  so  gesunken  sein,  dass  die  Kranken  sich  nicht  einmal  me-hr  aufrecht 
halten  können.  Vorwiegend  Kinder  sind  betroffen.  Eine  erfolgreiche  Behandlung  dieser 
seltenen  Krankheit  gibt  es  nicht. 

Als  Myotonia  congenita  (Thomsen'sc'he  Krankheit)  wird  eine  bei  zu  früh 
geborenen  Kindern  sich  entwickelnde  und  unaufhaltsam  fortschreitende  Muskelsteifigkeit 
bezeichnet,  wobei  schliesslich  fast  jede  active  Bewegung  durch  die  bretthart  gespannten 
Muskeln  unmöglich  gemacht  wird.  Als  Folge  kommt  es  zu  allerhand  Verbiegungen, 
X-Beinen,  Klumpfüssen,  scheinbaren  Ankylosen.  Elektricität,  Massage,  warme  Bäder 
werden  angewandt,  aber  ohne  Erfolg 

Die  echte  Muskelhypertrophie  existirt  —  ausser  am  Herzen  —  höchstens 
als  ein  massiger  Grad  von  Arbeitshypertrophie.  Doch  ist  Makrochilie  durch  Muskel- 
hypertrophie beobachtet.  (Eikenbusch,  Beitr.  z.  Chir.,  Bd.  11.) 

Acute  Entzündungen  der  Muskeln  sind  meist  fortgesetzte 
und  bilden  eitrige  und  jauchige  Myositen  bei  Phlegmone  und  progre- 
dienter Gangrän  gewöhnliche  Vorkommnisse,  z.  B.  bei  Phlegmonen  des 
Vorderarmes.  Die  metastatischen  Muskelabscesse  sind  ziemlich  constante 
Theilerseheinungen  der  Pyämie.  Doch  sind  in  seltenen  Fällen  auch 
idiopathische  Muskelabscesse  aus  unbekannter  Ursache  beobachtet. 
{Walther,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  25.) 

Die  Ausgänge  bestehen  meist  in  eitriger  Einsclimelzung  und  ne- 
krotischen Ausstossungen  einzelner  Muskelpartien  oder  ganzer  Muskeln. 
Der  dadurch  bedingte  Ausfall  der  Function,  die  Bildung  von  Xarben 
und  Contracturen  sind  dann  sehr  unangenehme  Folgezustände,  z.  B.  der 
Vorderarmphlegmonen,  wo  sie  zu  Verkrümmung  und  Steifigkeit  von 
Fingern  führen  (s.  auch  eitrige  Sehnenscheidenentzündung). 

Auch  Rotzabscesse  finden  sich  in  der  Musculatur. 

Die  Tuberculose  der  Muskeln  ist  fortgesetzt  häufig,  z.  B.  von 
den  Wirbelkörpern  auf  den  M.  psoas.  Isolirte  Tuberkelmetastaseu  in 
den  Muskeln  sind  selten.  Ueber  hämatogene  Muskeltuberculose  —  ver- 
wechselt mit  Grumma,  Echinococcus,  Geschwülsten,  Aktinomykose, 
rheumatischen  Schwielen  (s.  unten)  u.  dergl.  —  berichten  Lanz  und  de 
Quervain  in  LangenbecFs  Arch.,  46  (Lit.). 

Syphilis  der  Muskeln  ist  nicht  so  selten.  Bald  handelt  es 
sich  um  diffuse,  langsam  kommende  Infiltrationen  mit  massigen  Schmer- 
zen. Die  Gebrauchsstörung  ist  dagegen  meist  beträchtlicb.  In  anderen 
Fällen  kommt  es  zur  Bildung  von  Gummigeschwülsten,  rundlichen,, 
schmerzlosen,  sarkomähnlichen  (pag.  555)  Anschwellungen.  Denkt  man 
bei  Zeiten  an  die  richtige  Diagnose,  so  hilft  Jodkali  schnell.  Anderen- 
falls entstehen  Schwielen  im  Muskel,  oder  das  Gumma  zerfällt  und  es 
kommt  zu  fistulöser  Absonderung. 

Der  acute  Muskelrheumatismus  beginnt  plötzlich,  oft  nach 
einer  plötzlichen  ungeschickten  Bewegung  und  besteht  in  überaus  hef- 
tiger Empfindlichkeit  der  befallenen  Muskelgruppe,  spontan,  namentlich 
auch  bei  Berührungen  und  Bewegungen  Auch  die  Fascie  ist  oft 
empfindlich  (Fascia  lumbodorsalis).  Der  Muskel  fühlt  sich  hart,  wie 
contrahirt  an.  Schwitzen,  Massage,  starke  Bewegung;  örtlich  Senfteige, 
eine  Morphiuminjection,  Ung.  Ichthyoli  u.  s.  f.  sind  dienlich.  Der  acute 
Muskelrheumatismus  hat  seinen  Sitz  namentlich  in  den  Rückenmuskeln 
(Lumbago,  Hexenschuss),  aber  auch  in  den  Hals-  und  Kopfmuskeln 
(gewisse  Formen  von  Migräne). 


Muskelrheumatismus.  553 

Ob  es  sich  hier  um  wirkliche  Entzündung  handelt  (etwa  HA'perämie  und  seröse 
Durchtränkung  oder  iim  partielle  Gerinnungen  des  Myosins  durch  Erkältung,  vorüber- 
gehenden Krampf  der  Gefässe  u.  s.  w.,  also  Störungen  ähnlich  den  ischämischen,  ist 
noch  ganz  unsicher.  Zöge-Mant euffel  und  Thoma  denken  bei  den  arteriosklerotischen 
Formen  (pag.  514)  au  eine  übermässige  Inanspruchnahme  der  Media  der  Arterien  durch 
wiederholte  Erkältungen.  Thatsache  ist,  dass  der  Muskelrheumatismus  häufig  an  Erkäl- 
tungen sich  auschliesst,  der  acute  an  einmalige  bestimmte,  der  chronische  an  oft  wieder- 
holte Durchnässungen. 

Beim  chronischen  Muskelrheiimatismus  klagen  die  Kranken 
über  herumziehende  Schmerzen  in  den  verschiedensten  Muskeln,  welche 
die  Bewegung  derselben  in  hohem  Grade  erschweren,  so  dass  bald 
diese,  bald  jene  Bewegung  (Rockanziehen,  Armheben  u.  s.  f.)  äusserst 
schmerzhaft  und  fast  unmöglich  wird.  Die  Schmei'zen  sind  nachts  oft 
so  heftig,  dass  die  Kranken  im  Schlafe  gestört  sind.  Die  Schwerbeweg- 
lichkeit ist  nach  längerer  Ruhe  am  grössten.  Oft  wird  auch  über 
Schmerzen  in  den  Gelenken  geklagt,  ohne  dass  an  diesen  Verände- 
rungen wie  beim  chronischen  Gelenkrheumatismus,  nachzuweisen  wären. 
(Nach  Rohin  sind  nur  die  Gelenke  befallen.)  Ebenso  lässt  sich  an  den 
befallenen  Muskeln  nichts  finden  als  Druckempfindlichkeit.  Auch  hier 
spielen  chronische  Erkältungen  eine  Hauptrolle  und  ist  der  chronische 
Muskelrheumatismus  in  der  hart  arbeitenden,  allen  Unbilden  der 
Witterung  ausgesetzten  Bevölkerungsciasse  am  häufigsten.  Doch  darf 
man  nicht  vergessen,  dass  diese  Krankheit,  weil  sie  jedes  objectiven 
äusseren  Zeichens  entbehrt,  auch  mit  besonderer  Vorliebe  von  arbeits- 
losen Subjecten  simulirt  wird. 

Die  Behandlung  des  Muskelrheuraatismus  besteht  in  Schwitzcuren : 
Dampfbäder  oder  feuchte  Einpackungen  mit  Trinken  von  schweiss- 
treibenden  Thees  (Lindenblüthen ,  Flieder),  Maceration  von  4  Grm. 
Jaborandi  auf  lO'O  Spir.  u.  1500  Aqua  (Rohin)^  Schwefelbädern  u.  s.  f., 
dann  Massage  und  Elektricität,  methodischer  Heilgymnastik;  örtlich 
bei  festsitzendem  Rheumatismus  Ichthyolsalben  mit  dicker  Wattepackung, 
Kampherspiritus,  Chloroformöl,  Senfpapier ;  im  schlinmisten  Falle  eine 
Morpliiuminjection. 

Mit  der  Bequemlichkeitsdiagnose  .,chronischer  Rheumatismus"  werden  oft  grobe 
Verstösse  begangen.  Hier  zeigt  sich  das  Bischen  Rheumatismus,  mit  welcher  Diagnose 
Hausarzt  und  Patient  jahrelang  befriedigt  operirten,  als  eine  vorgeschrittene  Tabes  und 
die  rheumatischen  Beschwerden  sind  nichts  als  die  bekannten  lancinirenden  Schmerzen 
bei  Tabes.  Ein  anderesmal  kommt  eine  schleichend  sich  entwickelnde  Nierenaffection  zu 
Tage.  z.  B.  bei  chronischer  Lumbago.  Oder  es  sind  syphilitische  Beschwerden,  die  auf 
Jodkali  verschwinden.  Vielfach  sclieinen  rheumatische  Beschwerden  auch  bei  Queck- 
silbennissbrauch  aufzutreten.  Auch  Bleivergiftung  kann  Ursache  sein.  Dann  habe  ich 
bei  Tuberculosen  in  früh.en  Stadien  rheumatische  Beschwerden  beobachtet  u.  s.  w.  Die 
Diagnose  chronischer  Rheumatismus  ist  nur  dann  gestattet,  wenn  alle  andern  ernsten 
Leiden  mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  können. 

In  einzelnen  Fällen  sollen  sich  an  chronisch-rheumatische  Zustände 
ansehliessen  die  BiUlung  harter  bindegewel)iger  Stränge  im  Muskel, 
als  Folgezustand  chronischer  Entzündung  — -  die  rheumatische 
Schwiele.  Der  Muskel  ist  dabei  meist  auch  im  Uebrigen  entartet, 
wenig  functionsfäliig  und  durchzogen  von  harten,  unnachgiebigen  Strän- 
gen. In  manchen  Fällen  dürfte  die  Ursache  dieses  Entzündungs  und 
Sclirumpfungsprocesses  wohl  weniger  das  Rheuma  sein,  als  die  Syi)hilis 
(syithilitisehe  Schwiele  |s.  pag.  552]).  Ausser  diesen  Arten  von 
Schwielenbildung  kommen  aber  auch  noch  andere  Formen  vor,  z.  V*. 
traumatische  (?)  (vergl.  pag.  550). 


554 


VII.  Capitel.  —  Krankhcitfjii  der  Kiioohcii   und  Gelenki. 


Daucnide  Verkiir/ungen  der  Muskeln  nennt  man  Contrae- 
turen.  Die  Ursaelie  kann  eine  sehr  verscliiedene  sein.  Bald  ist  der  Muskel 
von  Anfang-  an  zu  kurz  gewachsen,  wie  beinn  angeborenen  Klumpfuss 
(s.  pag-.  536),  bald  wächst  er  allmählicli  zu  kurz,  weil  die  nothwendige 
Dehnung  durch  die  Antagonisten  fehlt,  z.  B.  beim  paralytischen  Klump- 
fuss (s.  pag.  536);  er  „verkürzt  sich  nutritiv".  Ein  anderes  Mal  ver-. 
kürzt  er  sich  allmählich,  wenn  die  Gelenke,  zu  denen  er  gehört,  ankylo- 
siren,  z.  B.  bei  den  fortgeschrittenen  Fällen  von  Scoliosis,  Coxitis  u.  s.  f. 
Schliesslich  beruhen  Contracturen  als  tonische  Muskelzusammen- 
ziehungen   auf   nervösen    Einflüssen    (Hysterie,    Tetanus,    Vergiftungen 

(Strychnin)  u.  dergl.).    Für    die 
Fig.  463.  Therapie  ist  es  natürlich  wichtig, 

zu  erkennen ,  ob  dieselbe  eine 
primäre  ist,  z.  B.  durch  Schrum- 
pfungsprocesse  im  Muskel  selbst, 
oder  eine  secundäre,  infolge  von 
Ursachen ,  welche  ausserhalb 
liegen.  Ausser  Beseitigung  des 
Grundleidens  sind  meist  Massage 
und  elektrische  Behandlung  an- 
gezeigt. 

Die  Function sstörungen 
der  Muskeln  bezeichnen  wir 
als  Paralyse  (Lähmung),  wenn 
die  Function  völlig  aufgehoben, 
als  P  a  r  e  s  e ,  wenn  sie  nur  herab- 
gesetzt ist.  Seltener  sind  es  pri- 
märe Erkrankungen  der  Muskel- 
substanz selbst,  Entzündungen, 
Entartungen  ,  Atrophien ,  Neo- 
plasmen u.  s.  w. ,  welche  die 
Function  beeinträchtigen ,  als 
Störungen  des  Nerveneinflusses, 
und  diese  wieder  sitzen  seltener 
in  den  peripheren  Nerven  (s. 
Krankheiten  der  Nerven) ,  als 
in  den  nervösen  Centren.  Letz- 
tere fallen  ganz  in  das  Gebiet 
der  inneren  Medicin. 

Die  Fälle  von  übermässiger  Thätigkeit  der  Muskeln  (Krämpfe,  Hyper- 
kinesen)  gehören  gleichfalls  nicht  in  das  Gebiet  der  Chirurgie.  Die  dauernde 
(„tonische")  Contraction  der  Muskeln  beobachtet  man  z.  B.  im  Tetanus,  vorübergehende 
(„klonische")    Zuckungen  hin  und  wieder   bei  Nervenaffectionen  (Tic  convulsif  u.  a.  m.). 

Bei  der  Myositis  ossificans  entwickeln  sich  in  den  Muskeln 
unter  entzündlichen  Erscheinungen  knöcherne  Stränge,  die  schliesslich 
einen  grossen  Theil  der  Gelenke  steif  stellen  und  dadurch  grosse  Un- 
behilflichkeit  herbeifüren  können.  In  Fig.  463  ist  ein  Fall  von  Myo- 
sitis ossificans  nach  Helferich  dargestellt.  Man  sieht  die  Platten  und 
Stränge,  die  über  den  Rücken  weglaufen,  das  linke  Ellbogengelenk  ist 
ankylotisch.  In  fast  sämmtlichen  Fällen  sind  Ossificationsdefecte  an  der 
grossen  Zehe  gefunden  worden. 


Myositis  ossificans.  Sehuenveiietzuugen.  555 

Lexer  (Langenhecl-'s  Archiv,  Bd.  50)  unterscheidet  ein  entzündliches  Stadium 
mit  teigiger  Schwellung,  ein  zweites  der  bindegewebigen  Induration,  ein  drittes  mit 
Verknöchei'ung  der  Schwielen.  Der  Process  beginnt  mit  Zellenwucherung  im  intermus- 
culären  Bindegewebe,  die  Zellen  gehen  über  in  grosse  runde  Zellen  und  diese  in  Knorpel- 
zellen, die  Yerknöcherung  erfolgt  nach  dem  periostalen  (pag.  403)  und  endochondralen 
(pag.  400)  Typus. 

Die  Behandlung  ist  machtlos. 

Primäre  Bildung  echter  Gesehwülste  findet  sich  im  Muskel 
selten  (ßhabdomyome ,  siehe  pag.  327,  Leiomyome  pag.  328).  Lipome, 
Endoehondrome,  Hämatolymphangiome  (Bitschl,  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  15) 
u.  dergl.  sollen  in  vereinzelten  Fällen  beobachtet  worden  sein.  Secundär 
finden  sich  in  den  Muskeln  Sarkome  und  Carcinome ,  die  sich  un- 
mittelbar per  continuitatem,  z.  B.  von  der  Brustdrüse  in  den  M.  pecto- 
ralis  major  herein,  von  den  Lippen  in  die  Gesichtsmuskeln  (s.  Fig.  339) 
fortgesetzt  haben. 

Primäre  Muskelsarkome  sind  beobachtet,  häufiger  als  Spindel- 
zellen- denn  als  Rundzellensarkome,  v.  Esmarch  räth,  bei  jedem  primär 
im  quergestreiften  Muskel  sich  findenden  Tumor  zuerst  an  Syphilis  zu 
denken. 

Die  Muskeln  sind  nicht  selten  der  Sitz  von  Parasiten,  z.  B. 
der  Muskeltrichine.  Auch  der  Cysticercus  bildet  hier  seine  kugligen, 
fluctuirenden,  mit  Syphilomen,  Sarkomen  u.  dergl.  verwechselten  Ge- 
schwülstchen. Auch  Echinokokken  kommen  vor  (s.  pag.  355). 


Verletzungen  der  Sehnen  sind  häufig  genug.  Wir  durch- 
schneiden sie  (Tenotomie)  offen  oder  von  einer  kleinen  Wunde  aus  mit 
einem  Sichelmesserchen  (subcutane  Tenotomie),  um  geschrumpfte  Sehnen 
und  Muskeln  sich  verlängern  zu  lassen  (zu  orthopädischen  Zwecken, 
s.  Klumpfussbehandlung).  Auch  bei  zufälligen  Verletzungen  (Säbel- 
wunden,  Schnittwunden  an  der  Hand)  sind  Sehnendurch schnei- 
dungen häufig.  Es  ist  ein  grober  Fehler,  dieselben  zu  übersehen  und 
nicht  sofort  wieder  zu  vereinigen.  Die  Gefahr  liegt  nahe  genug,  da 
die  Sehnen  vermöge  der  elastischen  Spannung  der  Muskeln  sich  so- 
fort zurückziehen,  oft  bis  zu  10  Cm.  und  daher  die  durchschnittenen 
Stüm])fe  nicht  immer  in  der  Wunde  unmittelbar  zu  sehen  sind.  Natür- 
lich fällt  die  Function  des  Muskels  aus,  wenn  die  Sehne  entfernt  von 
ihrem  Ansatzpunkte  anwächst.  Die  Folgen  sind  gerade  an  den  Fingern 
höchst  störend.  Die  Sehnenstümpfe  müssen  vernäht  werden.  Ueber 
Sehnen-  und  Muskelnaht  sind  pag.  278  ff.  zu  vergleichen. 

Bei  Quetschungen  und  Zerreissungen  werden  sehr  häufig  die 
Sehnen  gequetscht  und  in  grösserem  Umfange  blossgelegt,  beson- 
ders bei  Maschinenverletzungen  der  Hand.  Ausser  sorgfältigster  Anti- 
septis  oder  Asepsis  müssen  die  Sehnen  vor  Vertrocknung  bewahrt  werden, 
sonst  sterben  sie  ab.  Gelingt  es  nicht,  sie  durch  Hautverschiebuug  und 
Situationsnähte  (pag.  274)  zu  decken ,  so  eignet  sich  zum  Schutz 
der  freien  Sehne  der  feuchte  Blutschorf  C/SV^fv/r;  vortrefflich.  Man  lässt 
etwas  Blut  über  den  Sehnen  stehen  und  gerinnen  und  schützt  dasselbe 
(durch  l'rotectif  ,silk)  vor  dem  Verdunsten.  Dann  bleibt  die  Sehne  meist 
erhalten. 

Sehnenzerreissungen  und  -abreissungen  von  ihrer  Ansatz- 
stelle oder  vom  Muskel  sind    nicht    gerade    häufig.  Die  Entstehung   ist 


556  VII.  Capitel.   —  Krankheiten   dei'  Kiioelien  und  Oelenke. 

wie  bei  den  Muskclnipturen  eine  heftige  Muskclzusainrnenzieliiing.  Docli 
kommen  —  gerade  wie  an  den  Muskeln  —  aiicli  spontane  Rupturen 
vor,  bei  chronischer  Erweichung  der  Sehnen  fTuberculose,  Lues  u.  s.  f.). 
So  wird  durch  übermässigen  Gebrauch  die  Sehne  des  M.  extensor  pol- 
licis  longus  bei  Trommeln  mitunter  erweicht,  aufgefasert  und  reisst 
schliesslich  durch  —  mit  Unrecht  so  genannte  Trommlerlähmung  (Dibm, 
Naturf.-Vers.  1 895).  Das  II.  Glied  des  Daumens  steht  dann  in  dauernder 
Beugestellung.  Sonst  betrifft  die  Sehnenzerreissung  hauptsächlich  die 
Sehne  des  langen  Fingerstreckers,  die  vom  Nagelglied  abreisst.  dann 
die  Achillessehne,  selten  reisst  das  Lig.  patellae  von  der  Tuberositas 
tibiae  ab.  Die  Function  des  Muskels  ist  plötzlich  aufgehoben;  an  der 
Stelle  der  Ruptur  findet  man  eine  auffallende  Leere;    meist  fühlt  man 

auch    das    centrale  Ende.     Der  Blut- 

Fig.  iu.  erguss    ist    unbedeutend.     Die  einzig 

richtige  Behandlung  ist,  einzuschneiden 

I  Ig       und  die  Sehne  an  ihrer  Insertionsstelle 

I  \Mi        anzunähen  oder ,  wo  dies  nicht  geht, 

1   |l|        mit  vergoldetem  Nagel  anzunageln. 

Verrenkungen  der  Sehnen 
kommen  in  seltenen  Fällen  vor.  In 
starker  Beugestellung  des  Fusses  (hohe 
Absätze!)  können  die  Peronealsehnen 
bei  einer  heftigen  ungeschickten  Be- 
wegung nach  vorn  vor  den  Malleolus 
externus  rutschen  und  lassen  sich 
hier  als  drehrunde  harte  Stränge 
fühlen;  hinter  dem  Knöchel  ist  dann 
eine  abnorm  tiefe  Grrube.  Die  Sehnen 
lassen  sich  meist  leicht  wieder  zurück- 
schieben (s.  Fig.  464,  Verrenkung  der 
Sehne  des  Peroneus  longus  nach  Albert).  Ob  die  Sehne  des  Biceps 
brachii  sich  —  ohne  Schulterluxation  —  aus  ihrem  Sulcus  intertubercu- 
laris  luxiren  kann,  ist  noch  fraglich.  Die  Sehnentransplantation  ist 
pag.  280  erwähnt. 


Die  Krankheiten  der  Sehnenscheiden  haben  vermöge  der  Ana- 
logie des  Baues  und  der  Function  eine  sehr  grosse  Aehnlichkeit  mit 
den  Affectionen  der  Gelenke,  sowohl  in  ihrer  Entstehungsgeschichte, 
als  in  ihren  anatomischen  Formen  und  ihrem  Verlauf. 

Die  eigentlichen  Entzündungen  der  Sehnenscheiden  und 
Sehnen,  Tendinovaginitis,  sind  wie  die  Grclenkleiden  metastatisch 
oder  per  contiguitatem  fortgesetzt. 

Acute  ser Öse  S  e  h  n  e  n  s  c  h  e  i  d  e  n  e  n  t  z  ü  n  d  u  n  g  findet  sich  namentlich 
bei  Gonorrhoe.  Man  hat  eine  längliche,  dem  Verlauf  der  Sehne  ent- 
sprechende, meist  nicht  geröthete  Anschwellung  und  bei  der  Bewegung 
derselben  Schmerz.  Feuchte  Wärme,  Ruhe,  ein  kräftiger  Jodanstrich^ 
Jodkali  innerlich  sind  angezeigt. 

Häufig  geht  die  acute  über  in  die  chronische  Form,  den  Hydrops 
der  Sehnenscheiden.  Diese  meist  sehr  langweiligen  Formen  finden 
sich   namentlich    an   den    Beugern     der   Finger   und"  erzeugen    hier  oft 


Sehnensclieideuentzimdungen.  557 

grosse  Geschwülste.  Sie  können  bei  längerem  Bestand  zu  tief  greifenden 
und  nur  langsam  sich  wieder  ausgleichenden  anatomischen  Verände- 
rungen führen,  Verdickungen  der  Scheide,  Rauhigkeiten,  zottigen  Wuche- 
rungen, die  sich  schliesslich  stielen  und  sogar  durch  Abschnürungen 
zu  freien  Körpern  werden  können  (Reiskörperchen).  Die  Behandlung 
ist  der  der  sofort  zu  besprechenden  Glanglien  analog. 

Ob  auch  durch  Ueberanstrengung  acute  seröse  Sehnenscheiden- 
entzündungen entstehen ,  ist  fraglich.  Bei  einer  Form  der  Sehnen- 
scheidenentzündung dürfte  diese  Entstehungsweise  —  infolge  über- 
mässiger und  ungewohnter  Anstrengung ,  wie  Rudern  u.  s.  f.  ■ —  fest- 
stehen, bei  der  Tendinovaginitis  crepitans.  Bei  jeder  Bewegung 
der  Sehne  hat  man  ein  oft  weithin  hörbares,  bei  aufgelegtem  Finger 
leicht  fühlbares  Knarren.  Ob  es  sich  um  eine  abnorme  Trockenheit 
der  Sehnenscheide,  Blutergüsse,  Fibrinauflagerungen  wie  bei  der  Pleuritis 
sicca  handelt,  lässt  sich  nicht  sagen,  da  Sectionsbefunde ,  soviel  mir 
bekannt,  nicht  vorliegen.  Massage  und  feuchte  Wärme  beseitigen  das 
Uebel  in  einigen  Tagen. 

Eitrige  Sehnenscheidenentzündungen  findet  man  häufig  an 
der  Hand  beim  Panaritium  tendinosum.  Von  der  Stelle  der  Ver- 
letzung aus  bricht  die  Eiterung  in  die  Sehnenscheide  ein  und  mau  hat 
rothe  schmerzhafte  fluctuirende  Streifen  längs  der  Sehne.  Nur  früh- 
zeitige ausgiebige  Incision  und  Drainage  wird  die  Hauptgefahr,  das 
Absterben  der  Sehne  und  die  dadurch  bedingte  Fingersteiiigkeit,  ver- 
meiden lassen.  Das  Absterben  der  Sehnen  zieht  den  Process,  z.  B.  bei 
Panaritien.  sehr  in  die  Länge.  Bei  der  Langsamkeit  der  gewebs- 
bildenden  Vorgänge  in  der  Sehne  dauert  es  immer  2 — 3  Wochen,  bis  ein 
necrotisches  Sehnenstück  durch  demarkirende  Granulation  losgestossen 
ist  und  entfernt  werden  kann. 

Die  Sehnenscheiden  sind  überhaupt  häufig  die  Wege,  in  denen 
der  Eiter  wandert,  nicht  nur  der  Schwere  folgend  (Senkungen),  son- 
dern auch  —  durch  active  Bewegungen  —  derselben  entgegen.  Sie 
sind  daher  bei  allen  eitrigen  Processen,  namentlich  grösseren  Phleg- 
monen, aber  auch  Gelenkvereiterungen,  inficirten  Quetschungen  stets 
scharf  im  Auge  zu  behalten  und  nöthigenfalls  frühzeitig  zu  eröffnen. 

Die  tuberculöse  Sehnenscheidenentzündung  ist  meist  eine 
fortgesetzte  und  neben  der  primären  Knochen-  und  Gelenktuberculose,  von 
der  aus  die  Tuberculöse  auf  die  Sehnenscheide  übergegriffen  hat,  nur 
ein  nebensächlicher  Process,  jedoch  wohl  zu  beachten,  da  gerade  in 
den  Sehnenscheiden  der  tuberculöse  Vorgang  sich  oft  weiter  erstreckt, 
als  in  den  übrigen  Weichtheilen  und  diese  daher  bei  operativen  Ein- 
griffen besonders  sorgfältig  zu  berücksichtigen  sind.  —  Die  primäre 
Tuberculöse  der  Sehnenscheiden  ist  ein  seltener  Process.  Unter 
geringfügigen  Beschwerden  schwellen  die  Sehnenscheiden ,  z.  B.  der 
Finger,  zu  langen  cylindrischen ,  wenig  schmerzhaften,  teigigen  Ge- 
schwülsten heran,  die  .schliesslich  an  dieser  oder  jener  Stelle  fistulös 
aufbrechen .  (dnie  damit  wesentlich  abzuschwellen.  Spaltet  man  die 
Selinensclieiden  der  Länge  nach ,  so  finden  sich  dieselben  ausgefüllt 
von  bleichen  Granulations wülsten,  die  sich  oft  von  der  Sehnenscheide 
und  Sehne  noch  zicndich  leicht  abschälen  lassen ,  wie  isolirte  Ge- 
schwülste. Leider  genügt  selbst  die  sorgfältigste  Entfernung  des  Kranken 
niclit    immer,    um    Recidive    zu    verhindern    und   hat   man    sich   daher 


558  ^^^-  '^'iipitül.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

schon  7A\Y  Amputation  entschlossen.  Ich  habe  mit  innerer  und  örtlicher 
Anwendung  der  Zimmtsäure  auch  hier  sehr  gute  Ergebnisse  gehabt. 

Chronische  Entzündungen  der  Sehnen  und  Sehnen- 
scheiden kommen  vor,  bald  nach  Verletzungen,  bald  nach  andauern- 
den Bewegungen.  Die  Sehne  verliert  dadurch  ihre  glatte  Oberfläche 
und  cylindrische  Form ,  sie  bekommt  Einschnürungen  und  Anschwel- 
lungen. Ebenso  zeigt  aber  auch  die  Sehnenscheide  oft  Stenosen  und 
so  kommt  es  dann  zu  Störungen  der  Beweglichkeit.  Die  Sehne  gleitet 
nicht  mehr  glatt  und  leicht  in  ihrer  Synovialscheide  hin  und  her,  son- 
dern muss  mit  einem  kräftigen  Ruck  durch  die  verengte  Stelle  durch- 
gezogen werden  („schnellender"  Finger). 

Primäre  Neubildungen  der  Sehnen  und  Sehnenscheiden  kommen 
sehr  selten  vor.  In  den  Sehnenscheiden  findet  sich  gelegentlich  ein 
Lipoma  arborescens  als  schmerzlose,  weiche,  langgestreckte  Geschwulst. 
SencUer  hat  Fibrome  beobachtet  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  26). 

Die  Krankheiten  der  Schleimbeutel  sind  im  Ganzen  nicht 
gerade  häufig.  Sie  verhalten  sich  wesentlich  wie  grössere  Lymph- 
spalten und  ihre  Krankheiten  sind  dementsprechend  theilweise  secun- 
där  (s.  dort).  Bekanntlich  bilden  sich  an  Stellen ,  die  viel  gedrückt 
und  verschoben  werden,  auch  im  späteren  Leben  noch  supernumeräre 
neue  Schleimbeutel. 

Nach  Schuchardt  {Langen'bec¥s  Archiv,  Bd.  40)  handelt  es  sich  hiebei  nicht 
um  einfache  Spaltbildung  im  Bindegewebe ,  sondern  zunächst  um  entzündliche  Gewebs- 
neubildung  mit  Exsudation  und  späterer  Einschmelzung  der  Zwischenwände. 

Die  acuten  Entzündungen  der  Schleimbeutel  finden  sich 
namentlich  an  den  Bursae  praepatellares  und  an  der  Bursa  mucosa 
pro  olecrano.  Sie  sind  bacterieller  Natur.  Die  Eingangspforte  der  Bac- 
terien  ist  keineswegs  immer  eine  Verletzung  des  Sehleimbeutels  selbst, 
sondern  es  können  solche  von  entfernten  Punkten  (Zehen,  Finger)  mit 
dem  Lymphstrom  nach  dem  Schleimbeutel  getragen  werden  und  finden 
dort  einen  günstigen  Boden.  Der  Schleimbeutel  schwillt  an  zu  einer 
gespannten,  deutlich  fluctuirenden  schmerzhaften  Halbkugel,  mit  frischer 
Röthung  der  Haut.  In  diesem  Stadium  bringen  oft  feuchte  Sublimat- 
umschläge und  Ruhe  die  Entzündung  noch  zur  Resorption.  Steigern 
sich  Schmerzen,  Schwellung  und  Fieber,  so  ist  eine  Incision  mit  aus- 
giebiger Drainage  dringend  angezeigt. 

Die  chronische  seröse  Entzündung  der  Schleimbeutel 
nennen  wir  Hygrom.  Die  Wand  des  Schleimbeutels  ist  verdickt,  oft 
bis  über  5  Mm. ,  und  besteht  aus  derbem  concentrisch  geschichtetem 
fibrösem  Gewebe.  Auf  der  Innenfläche  finden  sich  papilläre  Wuche- 
rungen, die  zu  gestielten,  festen,  langen  Polypen  von  derber  Beschaffen- 
heit auswachsen.  Dieselben  können  sich  abschnüren  und  schwimmen 
dann  als  freie  Körper  —  von  der  Form  von  Pflanzen-  (Gurken-) 
Kernen  —  in  der  Flüssigkeit  umher  —  Reiskörper,  Corpora  oryzoidea. 
Schmerzen  macht  das  Hygrom  nur  bei  derber  Berührung  und  mecha- 
nischer Misshandlung  (Knien  auf  einem  Hygroma  praepatellare,  Scheuer- 
weiber, Zimmerleute  u.  s.  w.).  Häufig  entzündet  sich  hiebei  der  Balg. — • 
Die  Diagnose  stellt  man  aus  der  anatomischen  Lage  an  Stellen, 
wo  sich  regelmässig  Schleimbeutel  finden ;  im  Uebrigen  hat  das  Hygrom 
ganz  die  Eigenschaften  echter  Cysten. 


Hygi'om.  Ganglion.  Ki'aukheiteu  der  Fascien.  559 

Man  kann  die  Hygrome  exstirpiren.  Bei  messerscheuen  Patienten 
mache  ich  Einspritzungen  von  Chlorzink  (circa  1  Ccm.  einer  O^l^/o 
Lösung  mehrmals).  Das  Verfahren  ist  wenig  schmerzhaft  und  der  Beutel 
schrumpft  ohne  Narbe. 

Secundäre  Tuberculose  der  Schleimbeutel  findet  sich  hin  und 
wieder  bei  Tuberculose  der  Knochen  und  Gelenke.  Ranke  beschreibt 
Myxome.  Sarkome  und  Angiome  der  Schleimbeutel  (Langenheck's  Archiv, 
Bd.  33).' 

Das  Ganglion  oder  Ueberbein  erscheint  als  eine  hernien-  (bruch-) 
artige  Ausstülpung  der  Sehnenscheide  und  man  hat  z.  B.  auf  dem 
Handrücken,  von  einer  Streckersehne  ausgehend,  eine  rundliche,  harte 
(etwas  verschiebliche)  und  mit  der  Bewegung  der  Sehne  sich  ver- 
schiebende Geschwulst  von  Nussgrösse,  bei  Druck  und  spontan  nicht 
besonders  schmerzhaft,  von  normaler,  nicht  gerötheter,  höchstens  etwas 
verdünnter  Haut  bedeckt.  Das  Ganglion  enthält  eine  zäh  -  gallertige, 
dickflüssige  Masse,  die  sich  durch  die  Canüle  einer  Pra^^a2;'schen  Spritze 
meist  nicht  entleeren  lässt.  An  der  Wand  stehen  mitunter  Zotten 
an,  die  sich  auch  zu  freien  Körpern  abschnüren  (Reiskörner,  Corpora 
oryzoidea).  Mit  der  Sehne  oder  dem  Gelenk  communicirt  der  Balg 
seltener  breit ,  als  durch  einen  dünnen ,  oft  strangförmig  ausgezogenen 
Stiel,  häufig  gar  nicht. 

LedderJiose  (Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  37,  Lit.)  und  Falkson  {Lang enh eck' s 
Archiv,  Bd.  32)  lehnen  die  bisherige  Ansicht,  dass  die  Ganglien  durch  herniöse  Ausstülpung 
der  Wand  von  Sehnenscheiden  und  Gelenkkapseln  entstehen,  schlechthin  ah  und  lassen 
dieselben  sogar  unabhängig  von  diesen  Geweben  (Falkson)  als  echte  Neubildungen  im 
paratendinösen  und  paraarticulären  Gewebe  entstehen.  Anfangs  raehrkammerig,  fliessen 
sie  zu  einer  Cyste  zusammen  und  platzen  schliesslich  spontan  oder  durch  Trauma 
(Ledderhose).  Für  die  acut  entstehenden  Ganglien  dürfte  diese  Theorie  nicht  zu  halten 
sein.  —  Die  Eeiskörperchen  sind  keineswegs  immer  tuberculös ,  sie  sind  die  Folgen 
einer  Gewebsdegeneration,  nicht  einer  Gerinnung  (Goldmann,  Beitr.  z.  klin.  Chir.,  Bd.  15). 

In  frischen  Fällen  hilft  Massage,  besonders  Drücken,  Reiben  und 
Kneten.  Die  Exstirpation  gibt  hässliche  Narben  (Handrücken  junger 
Damen  I),  Synechien  der  Sehnenscheiden  und  schützt  nicht  gegen  Re- 
cidive.  Ich  bevorzuge  z.  Z.  die  (mehrmalige)  Injection  von  O'l — 0'5  Ccm. 
einer  O'lVoigen  Chlorzinklösung,  wenn  nöthig  nach  Einspritzung  einer 
2<'/oigen  Cocainlösung.  Das  Ganglion  schrumpft  in  2 — 4  Wochen. 


Erkrankungen  der  Fascien  sind  selten.  Blutarm  und  aus 
äusserst  derl)em,  widerstandstähigem  Gewebe  l)estehend ,  widerstehen 
sie  mechanischen  und  ehemischen  Einwirkungen  besonders  energisch. 
Dem  Andrängen  von  Geschwülsten  und  Eiterungen  u.  s.  f  gegenüber 
bleiben  sie  lange  intact.  Doch  werden  sie  schliesslich  durchbrochen 
oder  verfallen  —  in  Eiterungen  —  der  Nekrose.  Es  dauert  dann 
Wochen  bis  Monate,  bis  die  todten  Fascienfetzen  durch  demarkirende 
Granulation  abgestossen  werden,  gerade  wie  bei  Sehnen.  Die  einzige, 
einigcrmassen  selbständige  Erkrank ungsform  von  Fascien  ist  ihre 
Schrumpfung  (Retraction).  Sie  findet  sich  —  indem  an  Stelle  des 
elastischen  Gewebes  schrumpfendes  Bindegewebe  tritt  —  als  selbstän- 
diges Leiden  an  der  Fascia  palmaris  { Unjuc/trorso-he  Fingercontractur). 
Anhaltende  active  Krüiiiniinig  der  Finger  scheint  als  l'rsaohe  mitzu- 
wirken.   Bei    subcutanen    Zerrcissungen    der  Apoiieurosis   jjlantaris  hat 


560  "^11-  C!apitel.   —  Kraiiklioituii   der  Kiioolicn  und  Gelenko. 

Ledderhose  (Chiv.  Coiigr.  1894)  äliuJicIic  Knoten  gesehen,  wie  bei  der 
Duput/tren' sehen  Contractur.  Als  Theilersclicinung  lindet  sich  die  Faseien- 
schriimpfiing  bei  manchen  anderen  Leiden ,  so  schrumpft  die  Fascia 
lata  femoris  im  Endstadium  der  Coxitis ;  die  Fascia  plantaris  bei 
Klumpfuss  u.  s.  w.  Dass  der  „Muskelrheumatismus"  sich  auch  in  Fascien 
(Fascia  lumbodorsalis,  Lig.  ilio-tibiae  oder  Maissiaf acher  Streifen)  loca- 
lisiren  kann,  haben  wir  pag.  552  erwähnt. 


Krankheiten  der  Nerven. 

Verletzungen    der    Nerven.     —    Neuritis    und  Neuralgie.    —    Die  Operationen    an 

Nerven:    Nervendehnung,    Nervenlösung,    Neurotomie  und  Neurectomie,    Neurex- 

ärese.  Nervennaht  und  Nervenplastik.  —  Neubildungen. 

Ob  es  eine  Erschütterung  peripherer  Nerven  gibt  mit 
vorübergehender  Functionslähmung  —  analog  der  Erschütterung  des 
Gehirns  und  Rückenmarks  —  ist  nicht  sichergestellt.  Vielleicht  mag 
der  örtliche  Wundstupor  bei  Schussverletzungen ,  die  auffallende 
Empfindungslosigkeit  der  betroffenen  Theile  unmittelbar  nach  einer 
Schussverletzung  als  solche  aufzufassen  sein  (vergl.  pag.  478).  —  Ein 
kurzer  Stoss  auf  einen  gemischten  Nerven  ruft  die  von  dem  Stoss 
auf  den  Ulnaris  (dem  sogenannten  „Mäuschen")  bekannten  Erschei- 
nungen hervor  —  von  der  Druckstelle  ausstrahlende ,  excentrisch  pro- 
jicirte  Schmerzen,  kurz  dauernde  Schwäche  oder  Lähmung  der  betref- 
fenden Muskeln;  binnen  wenigen  Minuten  ist  Alles  vorüber.  Länger 
dauernder  localisirter  Druck  auf  einen  Nervenstamm  kann  zu  einer 
völligen  Durchquetschung  der  Nervenfasern  an  der  betreffenden  Stelle 
und  damit  zu  den  auch  sonst  beobachteten  Folgen  der  Quertrennung 
eines  Nerven ,  zur  Degeneration  des  peripheren  Stückes  führen ;  doch 
tritt  die  Eegeneration  meist,  allerdings  erst  nach  einer  Reihe  von 
Monaten,  ein. 

Solche,  im  Verlaufe  von  Stunden  eintretenden  langsamen  Durchquetschungen  der 
Nerven  treten  z.  B.  ein  bei  Betrunkenen,  die  im  Schlafe  mit  dem  Oberarm  auf  einer 
scharfen  Stuhlkante  den  N.  radialis  der  Compression  aussetzen  u.  dergl.  Manche  ..rheu- 
matische" Lähmung  mag  in  Wirklichkeit  auf  eine  Compression  des  Nerven  im  Schlafe 
oder  sonst  eine  ungeschickte  Lage  und  Haltung  zurückzuführen  sein. 

Eine  einmalige  starke  Contusion  eines  Nerven  führt  zu  einem 
Bluterguss  in  die  Substanz  desselben.  Dadurch  können  zunächst  die 
Erscheinungen  erhöhter  Haut-  und  Muskelreizbarkeit,  später  Lähmungs- 
erscheinungen bedingt  sein ,  die  mit  der  Resorption  des  Blutergusses 
schwinden,  wenn  nicht  die  Durchtrennung  einer  Anzahl  Nervenfasern 
sich  nun  geltend  macht.  Eine  der  folgenschwersten  stumpfen  Beschä- 
digungen eines  Nerven  ist  die  bei  Knochenbrüchen  mitunter 
vorkommende.  Fast  typisch  hiefür  ist  die  Verletzung  des  N.  radialis 
bei  Brüchen  der  Diaphyse  des  Humerus.  Bald  handelt  es  sich  um 
acute  Quetschung  im  Momente  der  Verletzung,  dann  ist  die  Sensibilität 
und  Motilität  unmittelbar  oder  wenigstens  schon  einige  Tage  nach  dem 
Unfälle  aufgehoben.  Leider  unterlässt  man  es  häufig,  in  der  Sorge  um 
den  Verband,  sofort  die  Nervenleitung  zu  prüfen  und  man  ist  dann 
kaum  im  Stande,  die  differentielle  Diagnose  gegenüber  der  zweiten 
Form  zu  machen,  wo  der  Nerv  langsam  an  den  Callus  angelöthet  und 


Nervenveiietzungen.  561 

in  ihn  eingeschlossen  wird.  Die  Schmerzen  sind  in  diesem  Fall  unge- 
mein heftig  und  werden  bis  in  die  Finger  ausstrahlend  empfunden. 
Die  erste  Form  ist  häufiger  bei  directen  Brüchen ,  wo  eine  unmittel- 
bare Quetschung  des  Nerven  stattgefunden ,  die  zweite  kommt  auch 
bei  indirecten  vor;  doch  kann  auch  an  die  Nervenquetschung  später 
die  Umklammerung  des  Nerven  sich  anschliessen. 

In  beiden  Fällen  wird  man  nach  Abnahme  des  Verbandes  durch 
die  Radialislähmung  unangenehm  überrascht.  Die  Prognose  dieser  Ver- 
letzungen ist  keine  gute.  Wenn  Massage  den  vielleicht  nur  oberfläch- 
lich an  den  Callus  angelötheten  Nerven  nicht  freizumachen  vermag, 
bleibt  nur  die  blutige  Aufsuchung  übrig.  Der  Nerv  wird  freigelegt  und 
freigemeisselt ,  dann  legt  man  den  Nerven  bei  Seite  und  fixirt  ihn  in 
den  Weichtheilen ,  in  einiger  Entfernung  vom  Callus  mit  einigen  ver- 
lorenenNähten  —  Nervenlösung,  Neurolyse  (vergl.  Neugebauer^  Beitr. 
z.  klin.  Chir.,  Bd.  15).  Selbst  in  diesen  verhältnissmässig  günstigen 
Fällen  kommt  es  nicht  immer  zur  Wiederherstellung  der  Function,  oft  — 
namentlich  wenn  die  Fractur  eine  complicirte  und  der  Nerv  ganz  durch- 
rissen war  —  findet  man  das  eine  oder  andere  Ende  in  dem  schwieligen 
Gewebe  nicht.  Man  kann  dann  das  periphere  Stück  in  einen  andern 
Nerven  einzupflanzen  suchen  (Nervenpfropfung ,  pag.  281).  Auch  in 
Weichtheilnarben  können  Nerven  eingeklemmt  sein  und  schwere  Stö- 
rungen machen.  Es  können  refiectorische  Krämpfe  einzelner  Körpertheile, 
z.  B.  des  Armes,  eintreten,  aber  auch  allgemeine  Convulsionen  mit 
Verlust  des  Bewusstseins  (refiectorische  Epilepsie).  Auch  hier  muss  der 
Nerv  auf  blutigem  Wege  befreit  werden ,  wenn  nicht  Massage  hilft. 
Schlimmsten  Falles  ist  die  Durchschneidung  hier  das  kleinere  Uebel. 

Furchtbare  Schmerzen  macht  die  Umklammerung  von  Nerven- 
stämmen durch  Neubildungen.  Hier  besteht  meist  zugleich  Anästhesie. 
Am  bekanntesten  sind  die  kaum  zu  ertragenden  Schmerzen ,  wenn 
der  Plexus  axillaris  von  krebsigen  Achsellymphdrüsen  (nach  Carcinoma 
mammae)  eingeschlossen  wird,  oder  bei  Wirbelkrebsen,  wo  die  aus 
dem  Rückgratscanal  austretenden  Nerven  comprimirt  werden  (Anaesthesia 
dolorosa). 

Gegen  Dehnung,  Zerrung,  Ab-  und  Ausreissen  sind  gesunde 
Nerven  äusserst  widerstandsfähig ;  bei  Eisenbahnverletzungen  hängt  oft 
die  sonst  ganz  abgefahrene  Extremität  nur  noch  an  ein  paar  Haut- 
brücken und  den  Nervenstämmen.  Doch  soll  der  an  den  Humeruskopf 
angelöthete  Plexus  brachialis  bei  der  Reposition  veralteter  Luxationen 
gelegentlich  abgerissen  worden  sein. 

Luxation  beider  Nn.  ulnares  ist  bei  flachem  Sulcus  ulnaris  von  Schilling 
(Münchn.  Med.  Wochschr.,  92,  38)  beobachtet  (Section). 

Die  Durchtrennung  von  Nervenfasern  oder  ganzen  Ner- 
venstämmen hat  —  nach  einem  kurzen  lebhaften  Schmerz  —  immer 
zunächst  gänzlichen  Ausfall  der  Empfindung  und  Bewegung  der  inner- 
virten  Theile  zur  Folge. 

Die  Heilung  erfolgt  selbst  bei  sofortiger  genauer  Zusammenfügung 
beider  Enden  erst  im  Laufe  von  Wochen  und  Monaten.  Die  Regene- 
rationsvorgänge sind  pag.  83  besprochen. 

Die  immediata  reunio  der  Nerven,  welche  einige  Chirurgen  (Gluck)  beobachtet 
haben  wollen  —  so  dass  schon  24  Stunden  nach  einer  Radialisdurchschneidung  im 
ganzen  Gebiete  des  Nerven  normale  Empfindung  gefunden  wird  —  ist   eine  Tauschung. 

Landerer,   Allg.  chir.  Pathologie  u.  Therapie,  2.  Aufl.  36 


562  VII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

Es  kann  als  Regel  ohne  Ausnahme  gelten,  dass  die  Heilung  des  Nerven  nur  jjer  secun- 
dam  eintritt,  und  dass  nie  die  charakteristischen  Erscheinungen  aus?j]eiben,  die  im 
Wesentlichen  bestehen  in  der  Atrophie  des  peripheren  Endes  und  einer  allerdings 
weniger  in  die  Augen  fallenden  Verdickung  des  centralen  Endstückes  (s.  pag.  83  fi'.). 
Die  physiologischen  Erscheinungen  nach  einer  Nervendurchschneidung  bestehen 
neben  Empfindungslähmung  in  zunächst  erhöhter  EiTegbarkeit  der  Muskeln,  die  sich 
bis  zu  klonischen  und  tonischen  Contractionen  steigern  kann.  Noch  einige  Tage  (4 — 10, 
Ärloing)  bleibt  der  Muskel  vom  Nerven  aus  erregbar,  bald  erlischt  dieses  Phänomen. 
Auch  die  Erregbarkeit  des  Muskels  gegen  den  unmittelbar  appliciiien  inducirten  Strom 
nimmt  —  nach  einer  kurzen  Steigerung  —  gleichfalls  bis  zum  Verschwinden  ab.  Die 
galvanische  Erregbarkeit  des  Muskels  selbst  dagegen  nimmt  zu  und  ist  schliesslich  die 
einzig  vorhandene  elektrische  Reaction  des  jetzt  degenerirten  Muskels  (Entartungs- 
reaetion).  Zu  gleicher  Zeit  können  sich  auch  „trophische"  Störungen  im  Gebiete  des 
durchschnittenen  Nerven  einstellen,  Unregelmässigkeiten  der  Circulation,  Stauung, 
Kältegefühl,  selbst  Oedeme,  zögernd  verlaufende  Entzündungen  u.  dergl.  Auch  andere 
trophische  Störungen  können  sich  einfinden,  Anomalien  der  Schweisssecretion,  des  Haar- 
wuchses, Exantheme  (Herpes  zoster)  u.  s.  f.  Aber  nicht  blos  die  Weichtheile,  selbst  der 
Knochen  kann  atrophiren.  Häufig  finden  sich  Muskelcontracturen. 

Die  Neuritis  oder  echte  Entzündung-  eines  Nerven  in  seinem 
Verlauf  kommt  dem  Chirurgen  selten  vor. 

Die  Symptome  sind  Schmerzen,  erhöhte  sensible  und  motorische 
Erregbarkeit.  Zum  Unterschied  von  der  Neuralgie  sind  die  Schmerzen 
continuirlich ,  nicht  anfallsweise ,  und  es  sind  nicht  nur  bestimmte 
Punkte  des  Nerven  (Points  douloureux  der  Neuralgie)  auf  Druck  em- 
pfindlich, sondern  der  Nerv  in  seinem  ganzen  Verlauf.  Bei  oberflächlich 
liegenden  Nerven  kann  man  den  geschwollenen,  schmerzhaften  Strang 
durch  die  Haut  hindurchfühlen.  Fremdkörper  im  Nervenstamm  können 
Neuritis  herbeiführen.  Sie  sind  natürlich  zu  entfernen.  Jodanstrich, 
Blutegel,  Eis,  Elektricität  u.  dergl.,  ebenso  forcirte  Compressiou  (s. 
unten)  werden  angewandt.  Schliesslich  kann  man  zur  unblutigen  oder 
blutigen  Dehnung  schreiten. 

Worauf  der  Nervenschmerz,  die  Neuralgie,  in  letzter  Linie 
beruht,  ist  unbekannt.  Wir  diagnosticiren  sie,  wenn  im  Gebiete  eines 
bestimmten  Nerven  —  z.  B.  eines  Trigeminusastes,  des  Ischiadicus  — 
anfallsweise  Schmerzen  auftreten.  Hyperämien  und  Secretionsanomalien 
(Schweisse,  Thränenträufeln)  begleiten  mitunter  die  Anfälle.  Am  Ver- 
laufe des  Nerven  hat  man  bisher  —  makroskopisch  und  mikrosko- 
pisch —  nichts  Abnormes  mit  Sicherheit  nachgewiesen.  Fast  pathogno- 
monisch  ist  es  für  die  Neuralgie,  dass  gewisse  Punkte  auf  Druck  be- 
sonders schmerzhaft  sind  (Points  douloureux).  Sie  finden  sich  vor- 
wiegend da,  wo  die  Nerven  eine  enge  Stelle  zu  passiren  haben,  am 
Durchtritt  durch  einen  Knochencanal ,  eine  Fascie,  einen  Muskel 
u.  dergl.  Ein  Theil  der  Neuralgien  scheint  seinen  Sitz  im  Verlauf  der 
Nerven  zu  haben  (periphere  Neuralgie),  ein  anderer  in  den  Wurzeln 
oder  Centren  derselben  (centrale  Neuralgie).  Manche  Fälle  sind  zweifel- 
los die  Folgen  von  Infectionen :  Malaria,  Syphilis,  Tripper  oder  lutoxi- 
cationen  (Quecksilber  u.  s.  f.). 

Hilft  die  Behandlung  des  Grund  leidens  nichts  —  Chinin  in  grossen 
Dosen  (2—5  Grm.)  scheint  oft  auch  bei  nicht  mit  Malaria  zusammenhän- 
genden Neuralgien  zu  nützen  — ,  so  ist  zunächst  auf  den  Rath  von 
Gussenbauer,  v.  Esmarch  eine  sehr  energische  Abführcur  (mehrmals  jeden 
2.  Tag  IVg — 2  Esslöffel  Ol.  Ricini)  zu  versuchen.  Ich  habe  eine  ganze 
Anzahl  zur  Operation  geschickter  Neuralgien  so  geheilt.    Mitunter  hilft 


Operationen  an  den  Nerven.  563 

Massage,  namentlich  Tapotement.  Zweifellose  Erfolge  gibt  mitunter  die 
forcirte,  nm*  einige  Secunden  dauernde  Compression  des  Nerven,  der 
Points  douloureux  gegen  eine  feste  Unterlage  (Knochen)  (Delorme).  Ein- 
spritzungen in  die  Nähe  des  Nerven  von  Morphium,  Cocain,  Kochsalz- 
lösung, salzsauren  Salzen  (Schleich),  Osmiumsäure,  Chloroform  u.  dergl. 
geben  vorübergehende,  selten  dauernde  Erfolge.  Schliesslich  bleiben 
gegen  das  überaus  quälende  Leiden,  das  die  Kranken  nicht  selten  zum 
Selbstmord  getrieben  hat,  nur  noch  blutige  Eingriffe,  die  Nervendehnung, 
-durchschneidung  oder  -resection,  oder  -exärese  übrig. 

Eigentiich  angezeigt  sind  Nervendurchsclineidungen  nur  bei  peripheren  Neural- 
gien, wo  man  hoffen  kann,  den  Sitz  des  Leidens  za  entfernen.  Doch  sind  sie  auch  bei 
centralen  nicht  ohne  allen  Sinn.  Durch  die  Aufhebung  der  Leitung  werden  die  peri- 
pheren Eeize  aufgehoben,  die  oft  den  Anfall  einleiten. 

Die  Nervendehnung  ist  durch  Nussbaum  gelegentlich  einer  Operation  ent- 
deckt und  ausgebildet  worden.  Der  Nerv  wird  auf  dem  kürzesten  und  schonendsten 
Wege  frei  gelegt,  mit  flachen  Messerzügen  oder  dem  Finger  auf  1 — 2  Cm.  frei  gelegt, 
dann  schiebt  man  den  Finger  —  besser,  als  einen  Haken  —  unter  und  zieht  den  Nerven 
an ,  nach  beiden  Eichtungen  hin  dehnend.  Die  Nerven  halten  in  dieser  Beziehung 
ziemlich  viel  aus.  Die  unmittelbaren  functionellen  Folgen  sind  vorübergehende  Lähmung 
und  folgende  Muskelschwäche,  massige  Schmerzen  und  Gefühl  der  Schwere  und  Taub- 
heit, die  sich  jedoch  im  Verlauf  von  wenigen  Tagen  verlieren.  Mikroskopisch  hat  man 
an  gedehnten  Nerven  Hyperämien  tind  Zerfall  der  Markscheiden  beobachtet. 

Die  Nervendehnung  wird  wegen  ihrer  fast  regelmässigen  Misserfolge  heute  nur 
sehr-  selten  angewandt.  Vielleicht  bei  Neuralgien  gemischter  Nerven,  z.  B.  Ischias,  wo 
man  die  Durchschneidung  scheut,  mag  sie  als  eine  im  Grunde  doch  ungefährliche  und 
unschädliche  Operation  immer  versucht  werden,  dann  bei  Krämpfen  peripheren  Ur- 
sprungs, Eeflexepilepsien  u.  s.  f. 

Die  unblutige  Dehnung  ist  nur  am  Ischiadicus  gemacht  worden.  Sie  besteht 
in  einer  gewaltsamen  Ueberbeugung  im  Hüftgelenk  bei  gestreckten  Knien.  Als  unschäd- 
licher Eingriff  kann  sie  gemacht  und  wiederholt  werden ,  ist  auch  bei  Ischias  nicht 
ohne  Erfolg. 

Die  Nervendurchschneidung  und  die  Nervenresection 
(Neurectoniie,  Herausschneiden  eines  Stückes  aus  dem  Nerven)  sind 
heute  so  ziemlich  verlassen  zu  Gunsten  der  Neur exärese  (Thiersch). 
Der  freigelegte  Nervenstamm  wird  mit  einer  Zange  —  der  Köberle'schen 
pag.  56  ähnlich,  aber  das  Maul  längsgerieft  —  fest  gefasst  und  indem 
man  die  Zange  langsam  um  ihre  Längsaxe  dreht,  aufgewickelt.  Schliess- 
lich reisst  er  an  beiden  Enden  ab  und  man  hat ,  um  die  Zange  ge- 
wickelt, ein  oft  10 — 12  Cm,  langes  Stück  herausgedreht.  Es  gelingt 
so,  nicht  nur  ein  grosses  Stück  vom  Stamm,  sondern  auch  die  Ver- 
ästelungen  bis  in  die  feinsten  Fäden  herauszuholen. 

Keines  der  Verfahren  schützt  sicher  vor  Recidiven,  da  eben 
manche  Neuralgien  central  bedingt  sind. 

Nervennaht  und  Nervenplastik  sind  pag.  281  besprochen. 
Es  sind  hierüber  noch  Etzold,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.,  Bd.  29, 
Alhrcchf,  ebenda ,  Bd.  26  (Lit.),  Tillmanns^  Lawjenheck' s  Arch.,  Bd.  32 
zu  vergleichen. 

Der  verschiedenen  Arten  der  für  den  Chirurgen  wichtigen  Nerven- 
lähmungen ist  pag.  551,  554,  8,  448,   114  gedacht. 

Die  Neubildungen  der  Nerven  haben  wir  schon  erwähnt  (pag.  297 
u.  328):  die  echten  Neuromc,  die  falschen  oder  Neurofibrome.  Zu 
letzteren  sind  auch  die  kolbigen  Anschwelhingen  zu  rechnen,  die  in 
seltenen  Fällen  bei  Amputationen  ül)er  der  Durchschneidungsstelle  ent- 

36* 


564  ^^^-  Capitel.  —  Krankheiten  der  Knochen  und  Gelenke. 

stehen  —  „Amputationsneurome".  Sie  bestehen  aus  vielfach  ge- 
wundenen Nervenfasern  und  Bindegewebe  und  scheinen  auf  entzünd- 
lichem Wege  zu  entstehen.  Ihre  Verhütung  ist  pag.  256  besprochen. 

Auch  des  Tuberculura  dolorosum  (pag.  352)  und  der  plexiformen 
Rankenneurome  haben  wir  pag.  297  gedacht. 

Als  Elephantiasis  nervorum  congenita  beschreibt  ßruns  fChir. 
Centralbl.,  1895,  8)    grosse  Neurofibrome  an   den  Nerven  des  Stammes. 

Von  bösartigen  Geschwülsten  kommt  das  Sarkom  hin  und  wieder 
primär  an  den  Nerven  vor,  das  Carcinom  nur  fortgesetzt. 


VIII.  Capitel. 
Krauklieiten  der  Blutgefässe. 


Krankheiten    der    Arterien.    —    Atherom.    —  Aneurysmen.   —    Verschiedene 
Formen    und    Behandlung.    Krankheiten  der  Venen.    Phlebitis.    Venenerweite- 
rungen   (Varicositäten). 

Die  Verletzungen  der  Arterien,  die  Bildung  des  Verschlusses 
und  des  Collateralkreislaufes  sind  schon  pag.  110  ff.  besprochen. 

Die  Wände  einer  Arterie  bestehen  aus  Intima  —  einer  Endothelschicht  (Fig.  465 
nach  Schenh),  die  auf  elastischen  Membranen  ruht,  einer  Media,  die  an  den  grössten 
Arterien  aus  elastischem  Gewebe ,  an  den  übrigen  aus  ringförmig  und  längsgelagerten 
glatten  Muskelfasern  besteht.  Darauf  folgt  die  Adventitia,  innen  festeres,  nach  aussen 
lockeres,  fibrilläres  und  elastisches  Bindegewebe.  Die  Entartungen  spielen  sich  theils  in 
der  Intima ,  theils  in  der  Media  ab ;  die  Adventitia  kommt  hiefür  kaum  in  Betracht. 
Fig.  466  Ä,  Arterienquerschnitt ,  das  Lumen  mit  Blutkörperchen  gefüllt,  a  die  gefaltete 
Intima,  h  Media,  c  Adventitia.  B  Querschnitt  einer  Vene,  Benennungen  dieselben. 

Fig.  465. 


Acute  Entzündung  der  Arterien  ist  sehr  selten.  Die  Arterien, 
im  Besitze  einer  eigenen,  von  der  Umgebung  ziemlich  unabhängigen 
Gefässversorgung  (der  Vasa  vasorum)  ziehen  oft  intact  durch  grosse 
Abscesshijhlen,  durch  Lungencavernen  u.  s.  f.  hindurch,  Fig.  467  zeigt 
eine  Arterienwand  im  Zustande  eiteriger  Infilti-ation  (nach  Marchand). 

Dagegen  sind  die  Arterien  ziemlich  häufig  Entartungen  ihrer 
Wände  unterworfen.  Die  Ursachen  der  Arterienentartung  sind  zum  Theile 
mechanische.  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um  häufig  wiederholte, 
dauernde  oder  vorübergehende  Steigerungen  des  Blutdruckes,  wie  sie 
z.  B.  schwere  Beschäftigungen  mit  sich  bringen,  oder  wie  sie  der  Alkohol- 
genuss  herbeiführt,  oder  manche  andere  Erkrankungen,  z.B.  Nieren- 
schrumpfungen. 

Die  Elasticität  der  Arterienwände  wird  dadurch  übermässig  oft  und  übermässig 
stark  in  Anspruch  genommen,  sie  werden  überdehnt  und  verfallen  der  Entartung.  Diese 


566 


VIII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  Blutgefässe. 


beginnt  daher  und  findet  sich  am  ausgesprochensten  an  solchen  Stellen ,  wo  der 
Blutdruck  besonders  ungebrochen  und  stark  einwirkt,  z.B.  an  Krümmungen,  wo 
die  Arterienwand  dem  Blutstrom  eine  andere  Richtung  giebt,  wie  dem  Arcus  aortae 
u.  s.  f.  Ferner  entartet  die  Arterienwand  in  Fällen,  wo  die  Ernährung  überhaupt  leidet, 
bei  Carcinom,  im  Alter  u.  s.  f.  Unter  den  chronischen  Infectionskrankheiten  ist  es 
namentlich  die  Syphilis,  die  Arterienentartung  macht.  Im  Fieber  ist  die  Dehnbarkeit  der 
Arterienwände  sofort  erheblich  erhöht,  ohne  nachweisbare  Structurändernngen  (lioy). 


Fig.  466. 


.^Ä 


B 


mm 


'  Intima  gefaltet 


-'-    Media,  dicker 
I    als  in  der  Vene 


Adventitia 


— Adventitia 


Die  chronischen  Entartungen  der  Arterien  be  stehen  zunächst  meist 
in  fettiger  Entartung  von  Intima  und  Media.  Die  Zellen,  Fasern 
und  Membranen  sind  von  feinsten  Fetttröpfch  en  durchtränkt ,  die 
die  Structur  zum  Theile  verdecken.  Neben  der  Verfettung  oder  im  An- 
schluss  an  sie   findet   sich  Verkalkung.    Auch   sie  kann    Intima  und 


Fig.  467. 


a 


a  Adventitia ,  stark  inflltrirt.  m  Media ,  mit  theilweise  erhaltenen  länglichen  Muskelkernen, 
zahlreichen  Zerfallsformen  und  Kernen  von  Lymphkörperchen ,  welche  nach  der  Färbung 
(Hämatoxylin)  als  dunkle  Punkte  hervortreten,  h  Starke  eiterige  Infiltration  unter  der  ah- 
gehobenen  Elaslica,  an  deren  Innenfläche  ebenfalls  Anhäufungen  von  Kundzellen  und  Zerfalls- 

producten  (c). 

Media  zugleich  betreffen.  Diese  Vorgänge  werden  deutlich  aus  Fig.  468 
nach  Marchand. 

Am  ausgesprochensten  sind  diese  Entartungserscheinungen  bei 
dem  allgemeinen  Arterienatherom  (Arteriosklerosis).  Es  ist  dies 
eine  vorwiegend  im  Alter  auftretende  Entartung  des  ganzen  Arterien- 
systems. Bei  Potatorium,  Syphilis  u.dgl.  tritt  sie  aber  auch  schon 
früher  ein. 


Entzündungen  und  Entartungen  der  Arterien. 


567 


Das  Primäre  und  die  für  die  Blutcirculation  wichtigste  Erscheinung  ist  der 
Elasticitätsverlust  der  Arterien ;  die  Folge  davon  ist  erhöhte  Arbeitsleistung  und  damit 
Schwächung  und  Entartung  des  Herzmuskels.  Atherom  steigert  daher  die  G-efahren  des 
Bhitverlustes,  der  Narkose,  der  Operationen,  überhaupt  jedes  schwereren  Processes  er- 
heblich. Dieses  Leiden  verdient  daher  die  Aufmerksamkeit  des  praktischen  Chirurgen 
in  hohem  Grade. 

Oertlich  finden  sich  in  der  Intima  Verdickungen ,  theüs  durch  Wucherung  der 
Zellen  bedingt,  theils  durch  fettige  Entartung ;  die  Fetttröpfchen  können  schliesslich  zu 
einem  förmlichen  Brei  zusammeniii essen.  Der  Herd  kann  nach  dem  Gefässlumen  hin 
durchbrechen  und  lässt  nun  eine  endothelfreie  Lücke  zurück  („atheromatöses  Geschwür"). 
Auf    diesem    können   sich   Fibrinablagerungen    bilden ,    die   wieder    z.u  Embolis  u.  s.  w. 

Fig.  468. 


A  Längsschnitt,  B  Querschnitt  der  Arterie. 
an  verkalkte  Stellen  der  Media,  6// erhaltene  Muskelfasern,  in  ^  quergeschnitten,  in  ö  längs- 
getroffen, c  Adventitia,  d  elastische  Membran  der  Intima,  «Verdickungen  der  Intima.  Vergr,  15. 


werden  können.  Ein  anderes  Mal  findet  sich  Infiltration  mit  Rundzellen  und  Wuche- 
rungsprocesse.  Regelmässig  kommt  es  in  den  späteren  Stadien  zu  Verkalkung  der  Intima 
in  Gestalt  weisser,  glänzender  Platten. 

Auch  die  Media  ist  der  Sitz  von  Ernährungsstörungen,  die  Kerne  der  Muskel- 
fasern sind   weniger  deutlich,   auch  sie  entarten    fettig  und  Verkalkung   stellt  sich  ein. 

Stets  ist  die  physikalische  Festigiteit  der  Arterie  vermindert;  sie 
buchtet  sich  unter  dem  auf  ihr  lastenden  Druck  des  iJlutes  aus  und 
bricht  schliesslich  durch.  Starrheit  und  Brüchigkeit  sind  somit  lie- 
zeichnend  für  atheromatöse  Arterien.  Die  Folgen  .sind  Neigung  zur 
Arterienerweiterung  fAneurysnuibildung,  örtlicher  und  allgemeiner),  vgl. 
Fig.  469,  und  zur  spontanen  Gefäs.sruptur,  der  Bildung  von  Apoplexien 
(namentlich  im  Gehirn).  Aber  auch  ohne  diese  P^rschcinungcn  ist  der 
Atheromkranke  bei  Blutverlust,   Narkose  u.  dergl.  mehr  gefährdet,  weil 


568 


VIII.  Capitel.  —  Krariklieiten  der  Blutgefässe. 


das  starre  Gefässsystein  sich  Veränderungen  der  Blutmenge  fvergl, 
pag.  119  bei  Blutung)  nicht  mehr  anzupassen  vermag  und  meist  auch 
der  Herzmuskel  entartet  ist. 

Die  Syphilis  der  Arterien  macht  ähnliche  Veränderungen. 

Die  Verkalkung  tritt  liier  zurück  ,  aber  die  Media  ist  gleichfalls  ausgedehnter 
Entartung  unterworfen  (vergl.  Fig.  470).  Hier  treten  die  Wucherungsprocesse  in  der 
Intima  besondei's  hervor ,  in  einem  Masse ,  dass  das  Lumen  hochgradig  verengt  und 
selbst  durch  neugebildete  Falten  und  Septa  in  verschiedene  Eöhren  und  Abtheilungen 
getheilt  werden  kann.  Auch  pflegt  die  Adventitia  stark  ergriffen  zu  sein ,  verdickt, 
gequollen,  mit  weissen  Blutzellen  durchsetzt.  An  einzelnen  Stellen  (Fig.  470,  g)  kann  es 
zu  förmlichen  gummösen  Processen  kommen.  Auch  die  Gefässsyphilis  disponirt  zu  Rup- 
turen und  zu  Blutungen. 

Diese  Wucherungsprocesse  der  Intima  sind  auch  ohne 
Ruptur  oder  Erweiterung  des  Gefässes  von  grösster  Wichtigkeit  für 
die  Ernährung  des  betreffenden  Organs,  indem  sie  das  Gefäss  verengen 
und  so  die  Blutzufuhr  herabsetzen.  An  manchen  Stellen  (Gehirn,  Herz) 
können    sie    schliesslich    zur    totalen  Anämie   und   damit    zu    schweren 

Fig.  469 


-  _.  _  l 


Arterie   mit  beginnender  Aneiirysmabildung  und  Einlagerung  einer  glänzenden  gelben  skleroti- 
schen Platte  in  der  Intima  x.  i  Lymphscheide  mit  Kernen.   «Adventitia.  «iMuscularis,  in  der 
>Iitte^verdünnt  und  geschwunden,  i  die  längsstreiflge  Intima. 

Störungen  führen  (Hirnerweichung,  plötzlicher  Herzstillstand).  Man  hat 
diese  Vorgänge  auch  als  Endarteriitis  obliterans  bezeichnet.  Sie 
kommt  nicht  blos  bei  Syphilis  vor,  auch  in  Carcinomen  (vergl.  z.B. 
Fig.  339  &),  wo  eine  deutlich  verdickte  Arterie  in  einer  carcinomatösen 
Stelle  zu  sehen  ist.  Auf  die  Bedeutung  der  Angiosklerose,  Endarteriitis 
sclerotica,  für  die  Entstehung  von  Spontangangrän  hat  besonders  Zöge- 
Manteuffel  aufmerksam  gemacht. 

Aehnliche  Vorgänge  kommen  auch  physiologisch  vor.  So  liegen  sie  dem  Verschluss 
des  Ductus  arteriosus  Botalli  und  der  Nabelarterie  zu  Grunde;  der  Verschluss  unter- 
bundener Gefässe  (pag.  110)  ist  in  letzter  Linie  nichts  anderes.  Ebenso  verdickt  sich 
in  unterbundenen  Gefässen  (z.  B.  bei  Amputationen)  die  Intima  der  zuführenden  Arterie 
soweit,  als  die  Menge  des  circulirenden  Blutes  vermindert  ist  (Thoma). 

Diese  Entartungen  der  Arterienwand  sind  eine  der  Ursachen  der 
Arteriener  Weiterungen,   der  Aneurysmen  (ävsupuo),  erweitern). 

Die  Eintheilung  der  Aneurysmen  leidet  noch  an  einer  gewissen  Unklarheit.  Man 
spricht  von  einem  Aneurysma  verum,  wenn  alle  Arterienhäute  gleichmässig  ausgebuchtet  sind, 
von  einem  Aneurysma  spurium,  wenn  dasselbe  durch  Berstung  sämmtlicher  Häute  und 
Ergiessung  des  Blutes  in  die  Umgebung  entsteht.  In  diesem  Falle  kann  dann  die  Hülle 
des  Sackes  von  dem  umgebenden  Gewebe  gebildet  sein,  oder  es  kann  die  Adventitia 
erhalten    sein   und   das    Blut   sich   zwischen    die    Arterienwände    einwühlen    (A.  mixtum 


Atherom.    Syphilis  der  Arterien.   Aneurysmen. 


569 


od«r  dissecans).  Die  Einwühlung  des  Blutes  in  die  Umgebung  ohne  scharfe  Abgrenzung 
(Aneurysma  spurium  diffusum)  ist  weiter  nichts  als  ein  anderer  Name  für  einen  Blut- 
erguss.  Grenzt  sich  der  Bluterguss  ab  und  bleibt  der  Inhalt  des  neugebildeten  Sackes 
in  offener  Verbindung  mit  dem  Lumen  des  Gefässes  (Stichverletzungen),  so  gewinnt  die 
so  entstehende  Geschwulst  (das  Aneurysma  spurium  circumscriptum)  durchaus  den 
klinischen  Charakter  eines  Aneurysma.  An  alten  Aneurysmen  ist  überhaupt  nichts  mehr 
von  der  ursprünglichen  Gefässstructur  zu  erkennen  als  Intima  und  Adventitia,  welche 
ja  doch  zum  grössten  Theile  neugebildet  sind,  und  die  Unterscheidung  zwischen  echtem 
und  unechtem  Anemysma  fällt  von  selbst  weg. 

Das  Aneurysma  ist  bald  spin-  Fig.  470. 

delförmig  (verg-1.  Fig.  471),  ein 
anderes  Mal  ist  es  sackförmig-  und 
sitzt  mit  einem  relativ  schmalen 
Stiel  der  Arterie  auf  (s.  Fig.  472). 

Das  nicht  traumatische  „spon- 
tane" x4neurysma  kommt  fast  nur  in 
gewissen  Bezirken  (deutsche  Küs- 
ten, England,  Nordamerika  u.  s.  f.) 
vor  und  besonders  bei  der  hart 
arbeitenden  Bevölkerung  (Schiffs- 
volk). Harte  Arbeit,  Alkoholmiss- 
brauch und  Syphilis  scheinen  die 
wesentlichen  Ursachen  zu  bilden, 
wie  sie  auch  die  Degeneration  der 
Gefässwand  bedingen. 

Besonders  disponirt  sind  Stel- 
leu, wo  die  Arterie  bei  Bewegungen 
vielfachen  mechanischen  Insulten 
ausgesetzt  ist.  Weitaus  am  häufig- 
sten ist  deshalb  das  Aneurysma  an 
der  A.  poplitea,  die  bei  starker 
Beugung  geschlängelt  und  com- 
primirt  wird ;  dann  kommt  die  Cru- 
ralis  und  Carotis.  Das  traumatische 
Aneurysma  (A.  spurium)  ist  ein  ab- 
gekapselter Bluterguss,  der  mit  dem 
verletzten  Gefäss  in  offener  Ver- 
bindung geblieben  ist  und  Blut  in 
theilweise  noch  flüssigem  Zustand 
enthält. 

Klinisch  stellt  sich  das  Aneu- 
rysma dar  als  circurascripte  harte 
Geschwulst ,  im  Verlaufe  einer  be- 
kannten Arterie  gelegen.  Nicht  alle 
Aneurysmen  pulsiren,  wie  auch  nicht  immer  ein  diffuses  Geräusch  mit 
dem  Stetlioskop  zu  hfiren  ist.  Meist  ist  peripher  von  der  Geschwulst 
der  Puls  auf  der  kranken  Seite  schwächer  als  auf  der  gesunden. 
Druck  auf  die  Gescliwulst  lässt  den  Puls  kleiner  werden  oder  ver- 
•schwinden.  In  manchen  Fällen  sind  Abscesse,  weiche  Sarkome,  Ljanph- 
drüsenknoten  u.  dergl.  schon  mit  Aneurysmen  verwechselt  worden. 
Auch  eine  Probepunction  führt  nicht  immer  zum  Aufschluss.  Die 
übrigen    Erscheinuniren    sind    häufig   gering  —  verminderte   Lcistungs- 


Zwei  kleinere  Gehirnarterien,  Aeste  der  Art.  basi- 
laris,    mit    syphilitischer  Endarteriitis   im   Quer- 
schnitt. Das  Lumen  läer  grösseren  ist  durch  Binde- 
gewehswuchsrungen  in  mehrere  Abtheilungen  zer- 
legt, -welche  mit  deutlichem  Endothel  ausgekleidet 
sind  und  zum  Theil  Keste  von  Thromben  enthalten. 
Das  Lumen  der  kleineren  Arterie  ist  verengt  durch 
die  allseitig  verdickte  Intima. 
«Adventitia,    sehr   stark    mit  Lymphkörperchen 
iniiltrirt,  am  stärksten  in  der  Gegend  der  Ver- 
bindung beider  Gefässe ;  links  findet  sich   eine 
feinkörnige  käsige  Einlagerung  j,  in  deren  Um- 
gebung   einzelne  Kiesenzellen  r   und  dicht  ge- 
drängte Lymphkörperchen. 
mMuscularis,    durch   die  nach  innen  fortschrei- 
tende Infiltration  vielfach  undeutlich. 
/  M.  fenestrata,  gefaltet,  ebenfalls  durch  Lymph- 
körperchen zum  Theile  verdeckt. 
i  Die   sehr   verdickte ,    aus  fibrillärem   Bindege- 
webe   und    spindelförmigen  Zellen  bestehende 
Intima ;  in  derselben  Anhäufungen  von  Rund- 
zellen   und    Beste    von  Blutpigment  h.    (Nach 
Marchand.) 


570 


VIII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Blutgefässe. 


fähigkeit,  allerlei  vasomotorische  Störunj^-en.  Die  ausstrahlenden  Sehmerzen 
durch  Druck  auf  benachbarte  Nervenstämme  sind  mitunter  beträchtlich. 
Aneurysmen  auf  atheromatöser  Grundlage  sind  nur  mit  grosser 
Vorsicht  anzugreifen,  im  übrigen  gestaltet  sich  die  Behandlung  der 
Aneurysmen  verschieden ,  je  nachdem  die  Geschwulst  äusseren  Ein- 
griffen leicht  zugänglich  ist  oder  nicht  (innere  A.).  Für  letztere  muss 
man  sich  daher  oft  mit  inneren   Mitteln  begnügen. 

Eines  alten,  nicht  unverdienten  Eufs  erfreuen  sich  die  Vorschriften  von  Valsalva 
—  im  Wesentlichen  handelt  es  sich  um  eine  Entziehungscur  — ,  knappe  Diät,  Abführ- 
mittel, Aderlässe,  Ruhe  sollen  den  Blutdruck  zum  Sinken  bringen  und  die  Gerinnung.s- 
fähigkeit  des  Blutes  steigern.  Modificirt  und  durch  Weglassen  der  Aderlässe  verbessert, 
ist  das  Verfahren  durch  Tuffnell.  Er  legt  den  Hauptwerth  auf  monatelange,  absolut 
strenge  Bettruhe  und  knappe  Diät  (300  Grm.  feste  Speisen,  200  Flüssigkeit).  In  einer 
ziemlichen  Anzahl  von  Fällen  sind  Besserungen,  selbst  Heilungen  erzielt  worden.  — 
Gleichfalls  gute  Erfolge  sind  von  der  Behandlung  mit  Jodkalium  berichtet  (Xelaton, 
Balfour).  Es  sind  grosse  Dosen  (3—5  Grm.  täglich)  nöthig  und  Ausdauer  im  Gebrauch 
(12  Monate  Minimum,  am  besten  mehrere  Jahre  lang).  Dadurch  soll  eine  fibröse  Ver- 
dickung der  Wand  angeregt  werden ;  mitunter  war  sogar  die  Wand  verkalkt.  Doch  hat 
das  Verfahren  auch  oft  im  Stich  gelassen;  —  die  neuralgischen  Beschwerden  werden 
allerdings  meist  gelindert  und  dies  ist  schon  ein  Vortheil. 


Fig. 471. 


Vier  Aneurysmata  fusif.  nach  Monro :  a  A.  poplit.  geöffnet,  Ih  Aa.  femoral.,  c  A.  inguin. 

Die  Galvanopunctur  und  Einführung  von  Fremdkörpern  bezwecken 
Gerinnung.  Diese  —  in  ihrer  Wirkung  unsicheren  und  nie  ganz  ungefährlichen  —  Ver- 
fahren eignen  sich  nur  für  sackförmige ,  der  Arterie  seitlich  aufsitzende  Aneurj'smen, 
während  die  vorher  angeführten  auch  für  spindelförmige  Erweiterungen  des  Kolas  sich 
anwenden  lassen.  Es  gehören  hieher  das  Einschieben  von  Uhrfedern  (Baccelli),  fil  de 
florence  (Schrötter) ,  Silberdraht  (Loreta) ,  Pferdehaaren  u.  s.  f.  durch  Troicart- 
canülen;  die  Acupunctur  ist  von  Macewen  neuerdings  wieder  empfohlen,  die  Nadeln 
(Va — IVs  M™-  dick)  bleiben  einige  Stunden  bis  48  Stunden  liegen.  Die  Galvanopunctur 
ist  von  Ciniselli  ausgebildet;  2 — 6  Nadeln  werden  in  das  Aneurj^sma  eingestochen  und 
mit  dem  positiven  Pol  verbunden.  Der  negative  Pol  wird  am  besten  als  Platte  aussen 
auf  die  Haut  gesetzt.  Das  Einführen  beider  Pole  in  das  Aneurysma  soll  einen  festeren 
Thrombus  geben,  als  der  positive,  allein  die  Gefahr  der  Emboüe  ist  eine  grössere,  doch 
soll  dieselbe  bei  vorsichtigem  Verfahren  nicht  zu  fürchten  sein.  Nachher  kommt  eine 
Eisblase  auf  das  Aneurysma.  Unter  Umständen  wird  das  Verfahren  nach  3 — 4  Wochen 
wiederholt.  Die  Elektrolyse  ist  bisher  erfolglos  gewesen.  —  Die  Einspritzung  von  Ergotin 
in  die  Umgebung  des  Aneurysmas  (Langenhech)  setzt  die  Anwesenheit  contractions- 
fähiger  organischer  Musculatur  in  der  Wand  des  Sacks  voraus  und  diese  ist  meist  nicht 
vorhanden.  Die  Erfolge  sind  daher  keine  befriedigenden  gewesen.  Lannelongue  (Therap. 
Wochenschr.,  1896,  3)  spritzt  3—4  Tropfen  lOVoiger  Chlorzinklösung  in  die  Nachbar- 
schaft des  Aneurysmas.  —  Das  Einspritzen  gerinnungserregender  Substanzen ,  z.  B. 
Liquor  ferri  sesquichlorati,  ist  höchstens  zulässig,  wenn  es  gelingt,  die  Mündungen  des 
Aneurysma  temporär,  d.  h.  für  Stunden,  sicher  zu  schliessen.  Sonst  ist  die  Gefahr  von 
Gangrän  und  Embolien  nicht  ausgeschlossen.  Ausserdem  ist  die  Wirkung  eine  höchst 
unsichere. 

Sehr  ausgebildet  sind  in  neuester  Zeit  die  Compressions ver- 
fahren.   Theils  wird   der   zuführende  Arterienstamm,    theils    der  Sack 


Beliaudluug  der  Aneurysmen. 


571 


selbst  compiimivt.  Sie  bezwecken,  durch  Verlangsamung  des  Blutstromes 
und  Verminderung  des  Binnendrucks  ein  Zusammenfallen  des  Sackes 
und  eine  verscbliessende  Thrombose  des  Blutes  in  demselben  herbei- 
zuführen. 

Die  Compression  der  zuführenden  Arterie  erfolgt  durch  Fing  er- 
druck —  durch  Stunden  bis  Tage  lang.  Oder  man  stemmt  eine  ge- 
polsterte Stange  zwischen  einen  über  das  Bett  gestellten  Galgen  oder 
die    Zimmerdecke    und  Fig.  472. 

die  Arterie  (Esm.arch\s 
Stangendruck).  ^47- 
cock  füllte  einen  ver- 
korkten Trichter  mit 
Schrot  (6-5  Pfd.)  und 
Hess  ihn  auf  der  Arterie 
fixiren.  Die  Tourniquets 
(pag.  115)  sind  sehr 
schmerzhaft  und  werden 
schlecht  ertragen. 

Sie  sind  aucli  nicht 
ohne  Gefahr.  So  ist  z.  ß.  ein 
Pat.  von  Brijant,  hei  dem 
die  Bauchaorta  unterhalb 
eines  Aneurysmas  mit  dem 
Z/is^er'schen  Compressorium 
comprimirt  worden  war,  an 
Darmgangrän  gestorben;  in 
einem  gleichen  Fall  führte 
eine  Perforation  in's  retro- 
peritoneale  Zellgewebe  den 
Tod  herbei. 

Ebenfalls  sehr 
schmerzhaft  u.  schlecht 
ertragen  wird  die  for- 
cirte  Beugung  der  Ex- 
tremitäten ,  die  ja 
auch  die  grossen  Ar- 
terien schliesst  (vergl. 
Fig.68ff.)Ausder  5i>/- 
ro^/i'schen  Klinik  sind 
vor  einigen  Jahren  sehr 
günstige  Erfolge  mit- 
getheilt  von  der  elasti- 
schen Ein  Wicklung, 
mit  Fingercompression  in  den  Pausen  combinirt  (Gersumj).  Es  wird 
zu  diesem  Zweck  die  Extremität  von  ihrer  Spitze  an  bis  zum 
Aneurysma  langsam  eingewickelt.  Die  Binde  überbrückt  den  Sack 
oder,  wenn  er  stark  gespannt  ist,  wird  sie,  damit  er  nicht  platzt,  leicht 
darüber  weggeführt  und  am  oberen  Pol  der  Geschwulst  wird  die  Ex- 
tremität abgeschnürt.  Das  Blut  im  Aneurysma  stockt  und  soll  gerinnen. 
Löst  man  die  Einwicklung,  die  bis  2\2  Stunden  dauern  kann,  so  wird 
die  Arterie  mit  dem  Finger  comprimirt.  Stellt  sich  der  Puls  im  Aneu- 
rysma wieder  ein,  so  kann  nach  V2 — 1  Stunde  eine  zweite  Einwicklung 
folgen,   (icrsinnj   hat  in  einem  Fall    im  Ganzen  8  Stunden  40  Minuten 


1      \\\ 


Aneurysma  der  A.  feitioralis.    Die  Sackwandung  nur  aus 

Advcntitia  a   und  Intima  b   bestehend.    Die   Muscularis  c 

nur    als  liest   an    der    Communicationsüffnung    vorhanden 

(Weher). 


572  VIII.  Capitel.  —  Krankheiten  der  Blutgefässe. 

abwechselnd  comprirairt  und  eingewickelt.  Die  Heilung  wird  so  mit- 
unter in  Einer  Sitzung  erzielt.  Die  Schmerzen  werden  durch  Morphium 
oder  Chloroform  bekämpft.  Die  directe  Compression  des  Sackes  mit 
Schrotbeuteln  (John  Wood)  u.s.  f.,  bis  die  Pulsation  im  Sacke  aufhört, 
führt  selten  zum  Ziel,  kann  aber  eine  andere  Therapie  unterstützen.  Das 
Auflegen  von  Eisbeuteln  hat  nur  palliative  Wirkung  (Aortenaneurysmen). 

Die  Operationsmethoden  reichen  bis  in 's  Alterthum  zurück. 
Die  Methode  des  Anüjllus  (3.  Jahrhundert  nach  Chr.)  besteht  in  der 
Unterbindung  dicht  ober-  und  unterhalb  des  Sackes,  Eröffnen  und  Aus- 
räumen desselben.  Während  die  zuführende  Arterie  comprimirt  ist,  wird 
der  Sack  eröffnet,  ausgeräumt,  die  zuführende  Arterie  aufgesucht,  unter- 
bunden, ebenso  das  abführende  Gefäss.  Der  Sack  wird  mit  Jodoform- 
gaze ausgestopft  und  schrumpft  durch  Granulation.  Die  Gefahr  der 
Nachblutung  ist  gross  —  wegen  der  Collateralen,  die  vielleicht  gerade 
vom  Aneurysma  abgehen  und  meist  ist  die  Arterienwand  so  nahe 
dem  Aneurysma,  wo  sie  unterbunden  wird,  auch  nicht  völlig  ge- 
sund. Die  vor  Antyllus  geübte  Methode  (M.  des  Philagrius)  exstirpirte  so- 
gleich den  ganzen  Sack  —  ein  Verfahren ,  das  unter  Verwerthung  der 
elastischen  Abschnürung  nach  v.  Esmarch,  mit  sorgfältigster  Unterbindung 
aller  Collateralen  und  womöglich  exacter  Naht  und  unter  dem  Schutze 
der  Asepsis  heutzutage  als  das  Normalverfahren  angesehen  werden 
muss.  Nur  wo  es  nicht  auszuführen  ist,  kann  das  Verfahren  von 
Hunter  —  Unterbindung  am  Ort  der  Wahl,  zwischen  dem  Herzen  und 
dem  Aneurysma,  an  einer  Stelle,  wo  gesunde  Arterienwand  zu  erwarten 
ist,  gemacht  werden.  Es  ist  leichter  auszuführen ;  der  gewünschte  Zweck, 
die  Coagulation  des  Blutes  im  Aneurysma,  bleibt  bei  genügend  offener 
Collateralbahn  jedoch  häufig  aus.  Gangrän  ist  nur  selten  bei  der 
Hunter'' sehen  Methode  eingetreten. 

Auf  anderem  Wege  suchten  Brasdor-  Wardrop  Gerinnung  im  Aneu- 
rysma zu  erzielen,  indem  sie  die  Arterie  zwischen  Aneurysma  und 
Peripherie  unterbanden.  Die  Erfolge  sind  noch  viel  unsicherer  als  bei 
anderen  Metboden,  doch  ist  die  Methode  bei  gewissen  Aneurysmen  — 
Anonyma ,  Arcus  aortae ,  Aorta  abdominalis  —  die  einzig  mögliche. 
Vergl.  Rosenstein,  Langenheck's  Archiv,  34. 

Eine  eigenthümliche  Art  von  Gefässgeschwülsten  ist  das  Aneu- 
rysma cirso'ideum  oder  Angioma  arteriale  racemosum  (Ranken- 
angiom).  Stamm  und  sämmtliche  Aeste  einer  Arterie  (meist  A.  occi- 
pitalis  oder  temporalis)  —  sind  aufs  äusserste  erweitert  und  in  geschlän- 
gelte Gefässe  umgewandelt,  die,  knäuelförmig  an  einander  gereiht, 
ziemlich  grosse,  flache,  unregelmässig  bucklige  Geschwülste  bilden  und 
so  das  ganze  Hinterhaupt,  die  Stirne  einnehmen  können  (vergl.  Fig.  473 
Aneurysma  cirsoideum  der  Occipitalis  nach  Kümmel). 

Dieses  Aneurysma  ist  nach  dem  Typus  der  Teleangiectasie  gebaut ,  nur  sind 
die  Gefässe  statt  Capillaren  Arterien ,  das  Zwischengewebe  reichlicher,  die  Wände  im 
Zustande  der  Degeneration  und  Earefaction,  an  anderen  Stellen  wieder  durch  Auflage- 
rung neuen  Bindegewebes  verdickt.  Im  Innern  können,  durch  Schwund  der  Zwischen- 
wände, grössere  ein-  oder  mehrkammerige  Eäume  entstehen.  Die  Haut  über  der  Ge- 
schwulst verdünnt  sich,  doch  wird  der  Knochen  gewöhnlich  nicht  angegriffen.  Das  Aneu- 
rysma cirsoides  scheint  aus  einer  Teleangiectasie  hervorzugehen,  die,  oft  im  unmittel- 
baren Anschluss  an  eine  Verletzung,  sich  vergrössert.  Das  Wachsthum  ist  meist  ein 
schubweises,  oft  von  langen  Pausen  unterbrochen. 

Ausser  einem  belästigenden  Gefühl  von  Druck  und  Sausen  läuft  der 
Triiger  jederzeit  die  Gefahr  des  Platzens  und  einer  tödtlichen  Blutung. 


Aneurysma  cirso'ideum.  Krankheiten  der  Venen. 


573 


Fig.  473. 


Die  Diagnose  ist  nicht  schwer  —  die  knäiielartig  angeordneten 
pulsirenden  Gefässe,  einer  Arterie  entsprechend,  sind  deutlich  zu  fühlen ;. 
über  der  Geschwulst  hört  man  meist  lautes  Sausen. 

In  der  Behandlung  ist  von  Compression  der  Geschwulst  durch 
Druckverbände  oder  der  zuführenden  Arterie  nichts  zu  erwarten.  Die 
Einspritzung  schrumpfender  und  ge- 
rinnungserregender Mittel  ist  gefähr- 
lich. Ebenfalls  nutzlos  sind  Elektro- 
punctur  und  Elektrolyse.  Durch  Ein- 
spritzung von  Alkohol  (bis  75''/o)  in 
die  Umgebung  der  Geschwulst  (nicht 
in  die  Gefässe !)  allmählich  fort- 
schreitend nach  dem  Centrum  hat 
Thiersch  (Plessing ,  Langenheck' s  Ar- 
chiv, 33)  ein  Rankenangiom  geheilt. 

Von  operativen  Eingriffen  ist  die 
Unterbindung  der  zuführenden  Arterie, 
z.  B.  der  A.  carotis  externa  oder  com- 
munis, f;ist  in  allen  Fällen  nutzlos  ge- 
wesen, höchstens  werthvoU  als  Voract 
für  die  Exstirpation  der  Geschwulst, 
wobei  immer  noch  —  durch  doppelte 
Unterbindung  vor  der  Durchschneidung 
—  eine  grosse  Anzahl  von  Gefässen 
oft  bis  zur  Dicke  einer  A.  brachialis 

zu  unterbinden  bleibt.  Allein  sicher  ist  die  Exstirpation  der  ganzen 
Geschwulst,  unter  sorgfältigster  Unterbindung  aller  Gefässe.  Gelingt 
die  Entfernung  wegen  zu  starker  Blutung  nicht  in  einer  Sitzung,  so 
kann  dieselbe  auch  in  mehreren  Absätzen  gemacht  werden.  Vergl.  Siege- 
mund,  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chirurgie,  Nr.  37,  Lit. 

Das  Knochenaneurysma  ist  pag.  549  besprochen. 


Die  Krankheiten  der  Venen  sind  denen  der  Arterien  nur  zum 
Theil  analog.  Der  Bau  der  Venen  entspricht  im  Wesentlichen  dem 
der  Arterien  (s.  Fig.  466  B).  Eine  Intima,  bestehend  aus  einer  Endo- 
thellage  und  elastischen  Elementen ,  wird  getragen  von  einer  Media. 
Diese  besteht  aus  Ring-  und  Längsfaserzügen  ,  die  aber  viel  weniger 
mächtig  sind  als  in  den  Arterien.  Darauf  folgt  eine  lockere  Adventitia. 

Die  acute  Venenentzündung  (Phlebitis)  ist  wohl  ausnahmslos 
bacteriellen  Ursprungs.  Von  einer  kleinen  Verletzung  ausgehend ,  ent- 
wickeln sich  geröthete ,  den  Venen,  z.  B.  der  Vena  saphena  entspre- 
chende entzündete  Streifen ,  spontan  und  namentlich  bei  Bewegungen 
schmerzhaft.  In  den  meisten  Fällen  handelt  es  sich  wohl  zunächst  um 
eine  Periphlebitis,  d.  h.  eine  Entzündung  des  die  Venen  einschei- 
denden Gewebes,  besonders  der  die  Venen  begleitenden  und  plexus- 
artig  umsi)innenden  Lymphgefässe.  Die  Venenwand  ist  hiebei  mit 
entzündet.  Die  inneren  Schichten  derselben  bleiben  anfangs  frei,  ebenso 
ist  der  Blutstrom  ungestört.  Wird  der  Process  in  diesem  Stadium  rück- 
gängig, so  bleil)t  die  Vene  durchgängig.  In  schwereren  Fällen  wird  auch 
die   Intima    ergriffen,  und    jetzt    bilden    sich    Thrombosen    im    Gefäss. 


574 


VIII.  Capitel.   —  Krankheiten  der  JJlutgefässe. 


Fig.  474. 


Damit  hat  natürlich  die  Sache  ein  anderes  Aussehen  gewonnen.  Jeden 
Augenblick  kann  ein  solcher  —  infectiöser  —  Thrombus  zum  Embolus 
werden ,  und  es  kann  sogar  Pyämie  sich  daraus  entwickeln.  Manche 
„kryptogenetische"  oder  „spontane",  „primäre"  Pyämie  (d.h.  unbekannten 
Ursprungs)  entsteht  in  dieser  Weise,  und  die  Phlebitis,  von  wo  sie 
ausgeht,  wird  oft  erst  nach  langem  Suchen,  in  den  Bein-,  Genital-, 
Hämorrhoidalvenen ,  bei  der  Autopsie  gefunden.  Andererseits  können 
aber  auch  tödtliche  embolische  Verstopfungen  der  A.  pulmonalis  entstehen. 
Jede  Venenentzündung  ist  daher  als  ein  ernstes  Leiden  zu  behandeln. 
Völlige  Ruhe,  am  besten  auf  einer  Schiene ,  bis  der  Thrombus  in  Or- 
ganisation ist,  d.  h.  allermindestens  14  Tage,  vorsichtiger  Weise  3  bis 
4  Wochen  und  antiseptische  feuchte  Umschläge  sind  zu  empfehlen.  Auch 

Ichthyolsalben  1:1 — 1:10,  mit  dicken  Watte- 
einpackungen sind  nützlich.  Die  kleinen  Ab- 
scesse ,  die  sich  in  seltenen  Fällen  bilden, 
sind  antiseptisch  zu  öifnen.  Massage  —  zur 
Bekämpfung  zurückbleibender  Oedeme  —  ist 
erst  in  späten  Stadien,  nach  Monaten,  erlaubt. 
Die  Vene  selbst   ist  dabei  nicht  zu  massiren. 

Eine  besondere  Art  der  Phlebitis  mit  Tbromben- 
bilduug  ist  die  Phlegmasia  alba  dolens  der 
"Wöchnerinnen.  Innerhalb  der  ersten  Wochen  aach  einer 
Entbindnng,  selten  auch  nach  einer  gynäkologischen 
Operation  schwillt  ein  Bein  rasch  stark,  oft  bis  auf's 
Doppelte  an.  Dasselbe  ist  meist  ganz  blass  (daher  der 
Name  „alba")  und  zeigt  sehr  straffes  Oedem  ,  ist  dabei 
äusserst  empfindlich.  Fieber  ist  nicht  immer  zugegen,  die 
Temperatur  aber  unregelmässig.  Man  wird  nie  eine 
frische  Affection  des  Beckenbindegewebes  oder  alte  der- 
artige Vorgänge  vermissen.  Dieselbe  geht  auf  die  Vena 
iliaca  oder  cruralis  über,  die  vielleicht  unter  Mitwirkung 
der  geschwächten  Circulation  thrombosirt.  Die  Thrombose 
setzt  sich  oft  peripher  nach  der  Vena  femoralis  hin  fort. 
Der  Process  —  der  nur  äusserst  selten  zur  Pyämie 
oder  tödtlichen  Embolie  der  Lungenarterien  führt  —  ist 
ein  äusserst  langwieriger.  Nach  Monaten  erst  schwillt 
das  Bein  ab  und  wird  erst  nach  Va  J3,hr  wieder  ge- 
brauchsfähig. Eine  Neigung  zu  Oedemen  und  Bein- 
geschAvüren  bleibt  zeitlebens.  Die  Behandlung  ist  zu- 
nächst Wochen-  bis  monatelang  absolute  Euhe  und  hohe 
Lage  des  Beines ,  mit  warmen,  feuchten  Ein  Wicklungen, 
Ichthyol-  oder  Quecksilbersalben.  Erst  nach  Monaten, 
"wenn  im  Becken  alle  Processe  abgelaufen  und  das  Oedem  durchaus  nicht  weicht,  ist  ein 
Tersuch  vorsichtigster  Massage  berechtigt.  Die  thrombosirten  Venen  werden  nicht  so  selten 
■durch  „Canalisation  des  Thrombus"  (s.  pag.  17  und  Fig.  3)  wieder  theilweise  durchgängig. 

Ueber  das  Wesen  der  Venenerweiterungen ,  der  sogenannten 
Varices,  Varicositäten  sind  wir  noch  nicht  im  Klaren.  Es  sind 
meist  gleichmässige,  schlauch  artige  Erweiterungen,  mit  stärkeren  Buchten 
an  Stelle  der  Klappen  oder  Zusammenflüsse  mehrerer  Venen,  seltener 
finden  sich  auch  seitlich  ansitzende,  sackartige  Ausbuchtungen  (nach 
Art  von  Aneurysmen)  (vergl.  Fig.  474,  Varicositäten  des  Unter- 
schenkels). Als  wesentlichster  Befund  sind  nach  meinen  Untersuchungen 
Schwund  der  Venenklappen  und  die  Rarefaction  des  elastischen  Gewebes 
der  Venen  anzusehen.  Die  Rarefaction  der  Venenklappen  ist  überhaupt 
«in  Involutionsprocess ,  der  vom  Neugeborenen  bis  in's  höhere  Alter 
fortschreitet  (Braune). 


Phlebitis.  Venenvaricositäten. 


575 


Hauptsächlich  sind  die  Vena  saphena  magna  und  die  Vena  sper- 
matica  sin.  (die  V.  sperm.  dextra  nur  bei  Situs  visceium  transversus), 
selten  auch  die  Venen  der  Bauch  wand  betroffen.  Häutig-  sind  die  Vari- 
cositäten  der  Mastdarmvenen,   die  „Hämorrhoiden". 

Circnlationsstörungen  sind  niclit  als  bedingende  Momente  der  Varicositäten  anzu- 
sehen, höchstens  als  mitwirkende.  In  der  ziemlich  unklaren  Vorgeschichte  der  Varicosi- 
täten spielen  Venenverschlüsse  (z.  B.  Phlegmasia  alba  dolens),  Thrombose  (der  Pfort- 
ader oder  Vena  cava),    Unterbindungen  selten  die  entscheidende  Eolle;    auch  gelingt  es 


Fig.  476. 


nicht,  experimentell  sie  zu  erzeugen.  Häufig  werden  Verletzungen  beschuldigt,  zunächst 
entwickelte  sich  dann  eine  Ectasie  an  der  betretfenden  Stelle  und  der  Vorgang  geht 
von  hier  aus  weiter.  Die  Unterschenkelvaricositäten  finden  sich  besonders  häufig  neben 
Plattfuss.    Erblichkeit  ist  oft  vorhanden. 

Die  Folgen  der  Venenvaricositäten  sind  Ernährungsstörungen,  Stau- 
ungen mit  ihren  BegleiterscheinuDgeu ,  chronischen  Ekzemen,  Elephan- 
tiasis. Geschwürsbildung  u.  dergl.  Doch  kann  die  Phlebitis  gerade  hier 
zu  schwereren  Processen  (Embolie ,  selbst 
Pyämie)  Anlass  geben ,  namentlich  an  den 
unteren  Extremitäten  (s.  pag.  574  und  Fig.  474, 
Ulcus  cruris  varicosum).  Der  Hoden  verfällt 
bei  Varicocele  (Erweiterung  der  Venen  des 
Samenstranges)  der  Atrophie  (vergl.  Fig.  475 
nach  Albert).  Fig.  476  nach  Albert  zeigt  Ec- 
tasien  der  Mastdarmvenen ,  „Hämorrhoidal- 
knoten". Diese  zeigen  weniger  die  Anordnung 
erweiterter  geschlängelter  Stränge ,  sondern 
sind  mehr  angeordnet  in  Gestalt  rundlicher, 
raehrkamnierigcr  Knoten,  mit  zum  Theil 
rareficirten    Zwischenwänden.    Hier   bekommt 

man  oft  mehr  den  Eindruck  einer  wahren  Gefässgeschwulst  (s. 
pag.  352  ft'.). 

Varicöse  Venen  sind  überaus  häufig  Sitz  von  Phlebiten,  ausgehend 
von  schlecht  heilenden  kleinen  Verletzungen.  Daran  schliessen  sich  dann 
Thrombosen.  Die  gebildeten  Thromben  führen  entweder  zur  Obliteration 
der  Vene,  die  sich  in  einen  derben,  narbigen  Strang  umwandelt,  oder 
sie  verkalken  und  werden  zu  Venen  steinen  (Phlebolithen),  erbsen- 
bis  l)ohnengrossen,  länglich  ovalen,  harten,  etwas  verschieblichen  Kör- 


576 


VIIJ.  Capitel.  —   Krankheiten   der  Jilutgofässe. 


nern.  Neben  denselben  kann  die  Circulation  wieder  frei  werden  und 
sie  liegen  dann  in  seitlichen  Aussackungen  der  Vene. 

Eine  weitere  gefährliche  Beigabe  sind  die  Blutungen  aus  ge- 
platzten Varicen.  An  den  Mastdarmvenen  werden  diese  „ Blutflüsse ", 
so  lange  sie  innerhalb  massiger  Grenzen  bleiben,  von  den  betreffenden 
Kranken  oft  als  eine  Erleichterung  ihrer  Beschwerden  empfunden ;  sie 
führen  aber  bei  häufiger  Wiederholung  doch  zu  schwerer  Anämie.  Aus 
Varicen  an  den  Unterschenkeln  kommen  öfter  tödtliche  Verblutungen  vor. 

Bei  Männern  seltener  und  hier,  wie  es  scheint,  auf  erblicher  An- 
lage beruhend,  entwickeln  sich  die  Varicositäten  meist  nach  der  Puber- 
tätszeit, um  für  das  ganze  Leben  eine  Last  für  den  Träger  zu  bleiben. 
Bei  Frauen  sind  sie  ungleich  häufiger,  Sie  entwickeln  sich  in  der 
letzten  Zeit  der  Schwangerschaft,  gehen  im  Wochenbett  etwas  zurück. 


Fig.  477. 


'"»Sfö^ 


ohne  ganz  zu  verschwinden  und  werden 
von  Wochenbett  zu  Wochenbett  schlimmer. 

Die  palliative  Behandlung  ist 
mühselig  und  lässt  nur  Stillstand  oder 
massige  Besserung  erwarten.  In  den  von 
Phlebitis  freien  Pausen  lässt  man  vor- 
sichtiges Tapotement  (vergl.  pag.  300) 
machen  (Kneten  und  Streichen  sind  nicht 
zweckmässig),  daneben  kalte  Douchen. 
Centripetale  Einwicklungen  mit  Leinen- 
binden werden,  correct  angelegt,  auf  die 
Dauer  besser  ertragen  als  elastische  Bin- 
den. Auch  poröse  Gummistrümpfe  werden 
oft  getragen.  Regelmässiger  Stuhlgang 
ist  nicht  ohne  Einfluss.  Methodische 
Muskelübungen  und  überhaupt  Bewegung  sind  zweckmäsig,  Stehen  und 
Sitzen  meist  sehr  schädlich.  Neue  Geschwürsbildungen  oder  frische  Nach- 
schübe von  Phlebiten  verlangen  zunächst  Ruhe  in  Hochlage  des  Beins. 

Die  von  mir  angegebenen  Venenklappen  (Fig.  477  und  478) 
mindern  in  den  Fällen,  wo  die  Venenvaricositäten  unterhalb  oder  ober- 
halb des  Knies  in  einen  grossen  Venensinus  zusammenlaufen ,  die 
Stauung  und  die  Beschwerden  der  Patienten  ganz  wesentlich. 

Bei  der  operativen  Behandlung  der  Venenvaricositäten 
ist  die  von  Trendelenburg  angegebene  Unterbindung  der  V.  saphena 
am  Oberschenkel  zwar  einfach  und  auch  mit  localer  Anästhesie  aus- 
zuführen. Die  Heilung  der  varicösen  Geschwüre  wird  gefördert,  aber 
die  Beschwerden  werden  nur  in  einem  Theil  der  Fälle  gelindert,  häufig 
fehlt  jeder  Erfolg.  Dagegen  hat  mir  die  völlige  Exstirpation  der  V.  sa- 
phena mit  den  varicösen  Hauptästen  (Madelung)  in  den  meisten  Fällen 
sehr  gute  Dienste  geleistet. 

Die  Mastdarmvaricositäten  lassen  sich  durch  Abbinden  oder  Ex- 
stirpation, besser  durch  Abbrennen  (Langenheck)  nach  Art  von  Gefäss- 


Aneurysma  varicosum.  577 

g-escliwülsten  dauernd  beseitigen.  Auch  wird  hier  die  Injection  von 
flüssiger  Carbolsäure  (einige  Tropfen  pro  Knoten)  als  ungefährlich  und 
sicher  anempfohlen. 

Eine  Combination  von  Aneurysma  und  Varicositätenbildung  ist  der 
Varix  aneurysmaticus,  das  Aneurysma  varicosum  oder  das 
Aneurysma  arterio-venosum.  Durch  eine  directe  Communication  ergiesst 
sich  arterielles  Blut  in  eine  benachbarte  Vene.  Die  Entstehung  dieser 
Verbindung  ist  fast  immer  eine  traumatische,  am  häufigsten  eine  Stich- 
verletzung,  die  in  beiden  Gefässen  ein  Loch  setzt,  namentlich  Aderlass, 
dann  Schüsse ,  seltener  stumpfe ,  quetschende  Gewalten ;  am  selten- 
sten usurirt  ein  Aneurysma  arteriale  allmälig  die  Wand  der  Vene  und 
bricht  in  diese  durch.  Die  Communication  ist  bald  eine  directe,  so  dass 
die  Wände  beider  Gefässe  unmittelbar  verwachsen.  Es  bildet  sich  dann 
nur  eine  örtliche  Ausbuchtung  der  Venenwand, 
ein  „Varix  aneurysmaticus"  (Fig.  479).    Ein  Fig.479. 

anderes  Mal  ist  die  Verbindung  nicht  eine  so 
directe,  sondern  zwischen  beiden  Gefässen  liegt 
ein  aneurysmatischer  Sack  und  man  hat  dann 
die  Varietät  des  Aneurysma  varicosum.  In 
diesem  Falle  hat  zunächst  das  Blut  aus  dem  ver- 
letzten Sack  in  die  umgebenden  Weichtheile  sich 
eingewühlt,  hier  ein  traumatisches  Aneurysma  ge- 
bildet und  dann  erst  den  Uebertritt  in  das 
Venenlumen  gefunden. 

Ein  Theil  des  arteriellen  Blutes  tritt  in  die 
Vene  über,  dieselbe  erweitert  und  verdickt  sich 
varicös,  ein  hoher  Druck  (bis  20  Mm.  Hg)  herrscht 

in  derselben,  doch  ist  in  der  Vene  gewöhnlich  keine  Pulsätion  vorhanden. 
Der  periphere  Theil  der  Arterie  dagegen  ist  schlecht  gefüllt.  So  resul- 
tiren  für  die  betreffenden  Theile  bei  vermindertem  arteriellen  Druck 
und  übermässiger  venöser  Spannung  schwere  Störungen  des  Blutstromes, 
Stauung  mit  allen  ihren  üblen  Folgen  (s.  pag.  10),  namentlich  Atrophie 
der  Musculatur,  Störungen  der  Sensibilität  und  Motilität,  Paresen,  Ge- 
schwürsbildung u.  s.  w. 

Ueber  wiegend  häufig  ist  die  Ell  beuge  Sitz  des  Uebels,  das  übrigens, 
seit  der  Aderlass  aus  der  Mode  gekommen,  ungemein  selten  geworden ; 
ebenso  ist  es  mit  der  Stirn,  wo  früher  die  Arteriotomia  temporalis  zur 
Entlastung  der  Gehirncirculation  gemacht  wurde.  Sonst  kommt  noch  die 
Schenkelbeuge  in  Betracht.  Bemerkenswerth  ist,  dass  bei  Varix  aneu- 
rysmaticus der  Schenkelgefässe  wegen  der  eigenthümlichen  Klappen- 
anordnung in  der  V.  saphena  eine  Ausdehnung  der  peripheren  Venen 
nicht  erfolgt,  die  an  der  oberen  Extremität  nie  ausbleibt. 

Die  Diagnose  ist  unter  Berücksichtigung  der  Oertlichkeit ,  der 
vorausgegangenen  Verletzung ,  der  Spannung  der  Venen ,  der  chroni- 
schen Stauung,  der  Geschwulst,  die  meist  pulsirt,  nicht  schwer  und 
wird  durch  ein  systolisch  verstärktes  Sausen  in  der  Geschwulst  sicher 
gestellt. 

In  der  P>ehandlung  ist  von  Compression  der  Geschwulst,  Massage, 
Einwieklungen  u.  s.  f.  nicht  viel  zu  hoffen.  Ebenso  haben  die  Digital- 
oder Pelotencompression  und  die  Unterbindung  der  zuführenden  Arterie 
nur  vereinzelte  Erfolge  gehabt.  Nur  die  Freilegung  der  Geschwulst  und 

Landerer,  Allg.  chir.  Pathologie  U.Therapie.  2.  Aufl.  37 


578  VIII.  Capitcl.  —  Krankheiten  der  Blutgefässe. 

doppelte  Unterbindung  sowohl  der  Arterien ,  als  der  Venen  und  Ex- 
stirpation  des  Sackes  sichert  gegen  Misserfolge.  Sollte  sich  die  Exstir- 
pation  des  Sackes  als  zu  schwierig  und  zeitraubend  erweisen,  könnte 
man  sich  mit  der  Unterbindung,  Spaltung  und  antiseptischen  Tamponade 
begnügen.  (Vergl.  Aneurysmen.) 

Echte  Neubildungen  gehen  selten  primär  von  den  grösseren 
Blutgefässen  aus.  DieGefässgeschwülste,  die  wir  pag.  329  erwähnten, 
gehen  wohl  meist  von  den  Capillaren  aus.  Ebenso  nehmen  die  Angio- 
Sarkome  ihren  Ausgangspunkt  von  den  kleinsten  Gef ässen .  Vergl.  pag.  335. 
Dass  in  vielen  Neubildungen,  wenn  diese  „cavernös  entarten",  die  Blut- 
gefässe einen  sehr  erheblichen  Bruchtheil  der  Geschwulst  ausmachen, 
ja  oft  in  erster  Linie  hervortreten  (Struma  aneurysmatica  u.  s.  w.),  ist 
auch  schon  erwähnt. 

Die  Fortsetzung  bösartiger  Neubildungen  auf  Venen  ist  allerdings 
von  wesentlicher  Bedeutung.  Wenn  ein  Sarkom  —  bei  Carcinomen  ist 
dies  seltener  —  in  eine  Vene  hineinwächst,  so  bildet  sich  ein  aus 
Sarkomgewebe  bestehender  Thrombus,  der  losgerissen,  fortgeschwemmt 
werden  und  an  anderer  Stelle  eine  Metastase  hervorrufen  kann  (Weigert). 
Insofern  hat  die  secundäre  Venensarkomatose  eine  äusserst  wichtige  Be- 
deutung für  die  Metastasirung  bösartiger  Neubildungen.  Sie  kommt 
auch  bei  Carcinomen  häufiger  vor,  als  bisher  angenommen  wurde. 


IX.  Capitel. 

Krankheiten  des  Lymphsystems  und  des  Bindegewebes. 

Acute  und  chronische  Entzündungen  der  Lymphdrüsen.  —  Syphüis  und  Tuberculose. 
—  Neubildungen.   —   Entzündungen  der  Lymphgefässe,  Lymphvarix. 

Krankheiten  der  Lymphdrüsen  und  Lymphgefässe  sind 
gewöhnliche  Vorkommnisse  der  täglichen  Praxis.  Doch  sind  sie  fast 
nie  primär,  sondern  —  mit  verschwindenden  Ausnahmen  —  se- 
sundär,  d.  h.  Processe  an  anderen  Orten  und  in  andersartigen  Geweben 
ziehen  die  Lymphbahnen  ,  in  die  die  Lymphe  entleert  wird ,  in  Mit- 
leidenschaft. 

Ist  der  primäre  Process  sehr  ausgesprochen  und  in  die  Augen  fallend,  so  machen 
wir  aus  der  Mitbetheiligung  der  Lymphbahnen  nicht  viel  "Wesens.  "Wenn  z.  B.  bei  einem 
Krebs  der  Brustdrüse  die  Achseldrüsen  geschwollen  sind ,  so  beachten  wir  dies  wohl 
mit,  die  Hauptsache  bleibt  uns  aber  doch  immer  der  Krebs  der  Mamma.  Anders  steht 
es  in  Fällen  ,  wo  der  primäre  Herd  entweder  sehr  unbedeutend  ist,  eine  kleine  Haut- 
abschürfung an  der  Zehe  u.  dergl.,  oder  in  inneren,  unserer  Untersuchung  nicht  direct 
zugänglichen  Theilen  sitzt  —  innere  Neubildungen  zum  Beispiel  — ,  in  diesen  Fällen 
ist  der  Anfänger  oft  geneigt,  sich  mit  der  Diagnose  Entzündung  u.  s.  f.  der  Lymph- 
drüsen, Lj'mphgefässe  zu  begnügen  und  den  primären  Sitz  zu  übersehen.  Gerade  hier 
gilt  es  aber,  das  ganze  periphere  Gebiet,  aus  dem  die  betreffende  Lymphdrüsengruppe 
ihre  Lymphe  bezieht,  zu  durchsuchen,  bis  der  Ausgangspunkt  des  Processes  gefunden 
und  der  ganze  Vorgang  durch  und  durch  klar  geworden  ist. 

Beifolgende  Skizze  (Fig.  480  nach  Schenk)  möge  das  Wichtigste 
über  den  Bau  der  Lymphdrüsen  in  Erinnerung  rufen. 

Die  Entzündungen  der  Lymphdrüsen,  Lymphadenitis,  sind  acute 
und  chronische.  Die  acute  Lymphdrüsenentzündung  tritt  in  ver- 
schiedenen Formen  auf,  als  einfache  Schwellung  mit  Hyperämie  und 
seröser  Durchtränkung ,  als  Infiltration  mit  Rundzellen ,  die  sich  bis 
zur  Vereiterung  und  zum  Lymphdrüsenabscess  steigern  kann  (Lympha- 
denitis purulenta,  Bubo). 

Die  Ursachen  der  acuten  Lympbdrüsenentzündung  sind  fast 
immer  bacterieller  Art.  Die  Eingangspforte  ist  häufiger  nur  eine  gering- 
fügige, oft  übersehene  Verletzung  als  eine  grosse  Wunde.  So  schliesst 
sich  an  kleine  Verletzungen  der  Zehen  eine  acute  Entzündung  der 
Schenkeldrüsen,  an  Abscheuerungen  oder  geschwürige  Processe  an  den 
Genitalien  (Ulcus  molle)  eine  Entzündung  der  Inguinaldrüsen  an  (Bubo 
virulentus,  venereus).  Doch  können  Drüsenschweilungen  auch  in  anderer 
Weise  entstehen,  z.  B.  durch  ungewohnte  starke  Anstrengungen  der  be- 

37* 


580        1-^-  tlapitel.  —  Krankheiten  des   Lyirijjli.systorns   und   des   I5indegewebe.s. 

treffenden  Körpertheile.  So  findet  sich  bei  Recruten  während  der  Aus- 
bildung- im  Marschiren  häufig  Schwellung  der  Femoraldrüsen,  auch  ohne 
Wunden.  Man  hat  diesen  nicht  auf  Infection  beruhenden,  nicht  „viru- 
lenten" Bubo  auch  —  unpassend  genug  —  Bubo  rheumaticus  genannt. 
(Manche  der  „rheumatischen"  Bubonen  haben  aber  eine  andere  Ursache, 
z.  B.  Tuberculose;  s.  unten.)  Diese  „rheumatischen"  Bubonen  vereitern 
fast  nie.  —  Klinisch  machen  die  LymphdrüsenentzLindungen  meist  ziem- 
lich deutliche  Symptome.  Ich  kann  auf  pag.  144  verweisen,  wo  auch 
die  Behandlung  der  infectiösen  Bubonen  besprochen  ist.  Für  den  nicht 


Fig.  480. 


Drüsenelement 

hängt  mit  dem 

Zellbalken 

zusammen 


Einsenkung 
der  Kapsel 
zwischen  den 
Drüsen- 
elementen 


Kapsel 


Zellbalken 


Mark- 
snbstanz 


Portsetzung 
der  Kapsel 
in  die  Mark- 
substanz 


Mit  Injections- 
masse  gefüllte 
Eäume  in  der 
Marksubstanz 


virulenten  Bubo  genügen  meist  Ruhe,  feuchte  Umschläge.  Manchen  Pa- 
tienten ist  Eis  angenehm. 

,  Die  chronische  entzündliche  Schwellung  der  Lymph- 
drusen hat  verschiedene  Bedeutung,  je  nachdem  sie  eine  örtliche  ist 
oder  eme  allgemeine.  Die  erstere  weist  darauf  hin,  dass  in  dem  Gebiet 
der  betreöenden  Lymphdrüsen  eine  chronische  Entzündung  sich  abspielt 
z.  B,  bei,  einer  einseitigen  Schwellung  der  Inguinaldrüsen  eine  Hüft- 
gelenkentzündung. 

Die  allgemeine  chronische  Lymphdrüsenschwellung  ist 
t^st  immer  ein  Zeichen  einer  latenten  chronischen  Infec- 
tionskrankheit  und  insofern  von  hoher  diagnostischer 
Bedeutung. 


Entzündung  und  Tuberculose   der  Lymphdrüsen.  5  81 

Hauptsäclilicli  handelt  es  sich  um  Lues  und  um  Tuberculose.  Besonders  charak- 
teristisch ist  in  dieser  Beziehung  die  Schwellung  solcher  Drüsen,  die  nicht  häufig  durch 
örtliche  Processe  anschwellen,  wie  der  Cubitaldrüsen,  der  Präauriculardiüsen  u.  s.  f.  — 
Die  Drüsen  lassen  sich  meist  als  erbsen-  bis  bohnengrosse,  nicht  besonders  empfindliche, 
harte  (namentlich  bei  Lues),  leicht  verschiebliche  Knoten  durchtasten.  Doch  sind  die 
einzelnen  Individuen,  was  die  Entwicklung  und  Fühlbarkeit  der  Diüsen  betrifft,  auch 
innerhalb  der  Grenzen  des  Normalen  sehr  verschieden. 

Die  Syphilis  macht  an  Stellen,  wo  z.B.  gerade  syphilitische  Localprocesse 
sich  abspielen,  Drüsenschwellungen  von  grösserer  Ausdehnung.  Die  einzelnen  Drüsen 
werden  walnussgross,  hart,  bleiben  aber  wenig  empfindlich  und  verlöthen  fast  nie  mit- 
einander (im  Gegensatz  zum  Bubo  venereus).  Ohne  besondere  Zwischenfälle  (Verletzun- 
gen u.  s.  f.  oder  Combination  mit  weichem  Schanker)  kommt  es  auch  nicht  nur 
Eiterung. 

Im  Anschlüsse  an  den  Bubo  venereus  (vergl.  pag.  388  ff.)  kommt  es  in  seltenen 
FäUen  zur  Umwandlung  des  Abscesses  in  ein  chankröses  GeschAvür  mit  eiterig-speckigem 
Grund ,  scharf  abfallenden  zerfressenen  Rändern  und  der  Tendenz  zur  weiteren  ge- 
schwürigen Einschmelzung.  Auskratzen  und  Ausbrennen,  Aetzung  mit  Chlorzinklösung 
(bis  1  :  1)  oder  Kali  causticum ,  dann  Verband  mit  Chlorzinklösung  (0'57o) ,  essig- 
saurer Thonerde  (2 — 47o)  oder  Chlorwasser  sind  angezeigt. 

Ein  häufiges  Vorkommniss  und  eine  gewöhnliche  Theilerscheinung 
der  Scrophulose  (s.  pag.  177)  ist  die  Tuberculose  der  Lymph- 
drüsen. Typisch  sind  die  tuberculösen  (oder  scrophulösen)  Lymph- 
di'üsenschwellnngen  am  Halse,  seltener  sieht  man  sie  als  Schenkel-  u.  s.  w. 
Inguinaldrüsentuberculosen. 

Der  primäre  Herd  wird  selten  vermisst ;  bald  ist  es  ein  scrophulöses  Ekzem  der 
behaarten  Kopfhaut,  bald  ein  chronisches  Augen-  oder  Ohrenleiden ;  häufiger  noch  eine 
scrophulose  Affection  der  Nasenschleimhaut  (Ehinitis  scrophulosa ,  Ozaena  scrophulosa, 
chronischer  Schnupfen,  Stockschnupfen),  chronischer  Rachenkatarrh  mit  Affection  der  Ton- 
sille oder  Caries  der  Zähne  (vergl.  pag.177).  Zunächst  schwellen  die  Drüsen  zu  haselnuss- 
grossen,  massig  weichen,  mit  der  Umgebung  kaum  verlötheten,  etwas  druckempfindlichen 
Knötchen  an.  Auf  diesem  Stadium  bleiben  sie  oft  lange  und  werden  bei  Besserung 
des  primären  Leidens  auch  wieder  kleiner,  bleiben  jedoch  fast  immer  fühlbar.  Oder 
sie  wachsen  weiter,  verlöthen  unter  einander  und  bilden  nun  kleinapfelgrosse  Knollen, 
die,  schon  von  weitem  sichtbar,  schliesslich  zu  über  faustgrossen  Tumoren  an- 
schwellen und  nun  durch  ihre  Grösse  stören  und  auch  sehr  entstellend  wirken. 
Schmerzen  machen  sie  auch  jetzt  nicht  besonders.  In  diesem  Stadium  können  sie  oft 
lange  verharren.  Häufig  aber  schicken  sie  sich  zum  Aufbruch  an.  Sie  verlöthen  mit  der 
Haut,  werden  weicher,  undexitlich  üuctuirend;  die  Haut  röthet  sich  langsam  im  Ver- 
laufe von  AVochen ,  spitzt  sich  allmählich  zu  und  bricht  endlich  durch.  Doch  entleert 
sich  zunächst  nur  wenig  krümlicher  Eiter  unter  geringem  Druck;  später  entleeren  sich 
dann  einmal  deutliche  käsige  Massen,  zum  Theile  sogar  Kalkkrümel;  dann  wird  die 
Secretion  dünner  und  weniger;  eine  blassgelbgraue  Jauche  wird  abgesondert,  aber  die 
Stelle  heilt  nicht ;  die  Haut  ist  unterminirt ,  blasse  blaurothe  ödematöse  Granulationen 
liegen  zu  Tage  und. hängen  aus  der  Fistel  heraus.  Man  hat  ein  Ulcus  tuberculosum 
sinuosum  fistulosum  (vergl.  pag.  395).  An  anderen  Stellen  bricht  mittlerweile  eine  zweite 
Drüse  auf  und  wandelt  sich  in  gleicherweise  in  eine  stets  eiternde  Fistel  um.  Schliesslich 
kommen  auch  die  tiefen  Drüsen,  z.B.  in  der  Carotidenfurche ,  dran;  sie  bilden  oft 
Senkungen  längs  der  Halsmuskeln ,  ehe  sie  die  Fascie  durchbrechen  und  machen  so 
lange  Gänge.  Hier  heilt  schliesslich  eine  Fistel  zu,  dort  bricht  eine  auf  und  der  ganze 
Hals  ist  in  eine  abscheuliche  Fläche  von  Narben,  Fisteln  und  Geschwüren  verwandelt. 
Die  Diagnose  ist  nach  dem  Vorausgehenden  nicht  schAver. 

Die  Exstirpation  der  noch  nicht  aufgebrochenen  Drüsen  ist  nicht 
schwer,  namentlich  wenn  man  die  Drüsen  möglichst  stumpf  heraushebt. 
Leider  schützt  die  Exstir|)ation  nicht  vor  Recidiven.  Manche  Fälle 
werden  durch  Arsenik  (bis  üOlö  täglich  I)  innerlich  ganz  crhel)lich  ge- 
bessert, selbst  geheilt.  Ich  habe  mit  Zimmtsäure  flocal,  intravenös  und 
glutäal  injicirt)  sehr  schöne  Erfolge  gehabt. 

Die  Igni^jimctur  der  Drüsen  ist  auch  mit  Nutzen  gemacht  worden 
(Genzmer).  Die  fistulösen  Fälle  behandle  ich  mit  l'erubalsam ;   bedecke 


582        IX.  Capitel.  —  Krankheiten  des  Lymjihsystems  und  des  Bindegewebes. 

die  geschwungen  Stellen  mit  Perubalsampfiaster  (1  :  3 — 4  Heftpfiaster- 
masse),  spritze  die  Gänge  mit  Perubalsamäther  (l  :3 — 4)  aus,  schiebe 
mit  Perubalsam  getränkte  Gazestreifen  oder  Wieken  in  die  Fisteln  ein, 
spalte  dieselben  auf  der  Hohlsonde  oder  erweitere  und  kratze  sie  aus. 

Histologiscli  findet  man  zunäclist  eine  mächtige  Durchsetzung  der  Drüsensubstanz 
mit  weissen  Blutzellen,  dann  bald  Verkäsung  mit  Riesenzellen  (siehe  Fig.  17ß).  Bacillen 
sind  meist  nur  in  geringer  Zahl  vorhanden ,  dagegen  lässt  die  Leichtigkeit  der  Ver- 
impfung  von  Tuberculose  aus  käsigen  Lymphdrüsen  auf  die  Anwesenheit  von  Sporen 
schliessen.    Oft  stellt  sich  Verkalkung  und  Verkreidung  ein. 

Dem  äusseren  Ansehen  nach  ähnliche  Lymphdrüsentumoren  machen 
auch  andere  Krankheiten,  die  Leukämie  und  Pseudoleukämie.  Dann 
kann  die  Diagnose  schwanken  zwischen  scrophulösen  Lymphdrüsenge- 
schwülsten und  Lymphosarkom  (vergl.  pag.  342  und  Fig.  322).  Klinisch 
ist  die  dififerentielle  Diagnose  oft  nicht  so  leicht,  umsomehr ,  da  auch 
das  Lymphosarkom  oft  durch  Arsen  innerlich  und  örtliche  Injectionen 
beeinflusst  wird.  Doch  wächst  das  Lymphosarkom  rascher ,  zeigt  noch 
mehr  Neigung  zur  Verlöthung  der  Tumoren  unter  einander  und  mit 
der  Nachbarschaft  (Gefässen  u.  s.  w.,  Haut) ;  auch  sind  die  Geschwülste 
im  Ganzen  grösser,  weniger  verschieblich  und  noch  weicher. 

Der  Epithelialkrebs  der  Lymphdrüsen  ist  stets  secundär.  Es 
handelt  sich  um  harte ,  knollige  ,  rasch  mit  Haut  und  Unterlage  ver- 
löthende  Geschwülste,  die  durch  Druck  auf  Nerven  und  Gefässe  meist 
früh  Schmerzen  und  Circulationsstörungen  hervorrufen.  Die  Knoten 
selbst  sind  nur  wenig  druckempfindlich.  Wenn  möglich,  sind  sie  sobald 
als  möglich  zu  entfernen. 

Von  den  Krankheiten  der  Lymphgefässe  sind  die  Entzün- 
dungen die  häutigsten.  Die  Lymphgefässe  bestehen  aus  einer  Endothel- 
lage  auf  elastischer  Membran  ruhend  (Intima),  darauf  folgt  die  aus 
ringförmig  angeordneten  Muskelfasern  bestehende  Media  und  darüber 
eine  Adventitia. 

Die  Lymphgefässentzündung,  Lymphangitis,  LymphangioitiS;, 
ist  ausnahmslos  bacterieller  Natur.  Der  Process  nimmt  seinen  Aus- 
gang von  einer  kleinen  Wunde,  z.  B.  an  unreinlich  gehaltenen  Zehen  oder 
Füssen  oder  an  den  Fingern.  Längs  des  Armes  oder  Beines  ziehen  nun 
längliche  rothe  schmerzhafte  Streifen  herauf  nach  den  Lymphdrüsen- 
gebieten ;  z.  B.  an  der  Innenseite  des  Armes  oder  Beines.  Seltener  sind 
mehrere  Streifen  netzförmig  mit  einander  verbunden.  Die  Streifen  fühlen 
sich  hart  an  und  sind  schmerzhaft.  Lymphthromben  finden  sich  häufig, 
die  Lymphe  ist  leichter  gerinnbar.  Stets  ist  intensives  Resorptionsfieber 
mit  intensivem  Krankheitsgefühl  vorhanden  (s.  pag.  144). 

Eine  massige  Schwellung  der  Lymphdrüsen  schliesst  sich  immer 
an,  doch  braucht  es  keineswegs  zur  Vereiterung  derselben  zu  kommen. 
Die  Möglichkeit ,  dass  an  eine  Lymphangitis  sich  ein  schwererer 
Process  —  eine  Septikämie  — "anschliesst  oder  eine  solche  unter  dem 
Bild  einer  Lymphangitis  einsetzt ,  ist  stets  gegeben  und  der  Process 
deshalb  immer  als  ein  ernster  aufzufassen  (vergl.  pag.  161). 

Die  Annahme  VerneuiVs^  dass  die  Lymphangitis  stets  auf  Strepto- 
kokkeninfection  beruhe,  ist  nicht  richtig.  Fischer  und  Levi/  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.,  XXXVI,  Lit.)  sahen  bei  Lymphangitis  5mal  Staphylo- 
coccus  albus,  Imal  aureus,  Imal  Bacterium  coli ;  in  Lymphdrüsenabscessen 
4nial  Staphylococcus  albus,  Imal  albus  und  aureus,  2mal  Staphylococcus, 
Imal  albus  und  Streptococcus  zusammen.  Bei  der  Behandlung  ist  zu- 


Lymphgefässentzündung.  583 

nächst  der  prioiäre  Herd  breit  zu  incidireii  und  durch  feuchte  anti- 
septische Umschläge  zu  desinficiren.  Dann  wird  Arm  oder  Bein  hoch 
gelegt  und  mit  grossen  Compressen ,  in  dünne  antiseptische  Lösungen 
(Salieyllösung ,  Sublimat  1  :  3000 — 1  :  5000  u.  s.  f.)  getaucht,  umhüllt. 
Darüber  kommt  wasserdichter  Stoff,  z.  B.  Guttaperchapapier.  Absolute 
Ruhe  ist  unerlässlich.  Hiebei  schwinden  die  örtlichen  und  allgemeinen 
Erscheinungen  meist  rasch.  Etwa  sich  bildende  kleine  Abscesse  längs 
der  Lymphgefässe  sind  antiseptisch  zu  eröffnen.  Später  können  Ichthyol- 
lanolinsalben (1  :  10 — ^1  :  1),  Quecksilbersalben,  Quecksilberpflaster  (In- 
toxication !)  zweckmässig  sein. 

Erweiterung  der  Lymphgefässe  —  nach  Art  der  Venen- 
varicositäten  —  kommt  vor ,  wenngleich  nicht  häufig.  Diese  Lymph- 
varices  scheinen  noch  am  ehesten  bei  der  Filariakrankheit  sich  einzu- 
stellen ,  wo  die  centralen  Partien  des  Gefässes  durch  die  Embryonen 
des  Wurmes  verstopft  werden  und  dann  die  peripheren  ektatisch  werden 
zu  rosenkranzartigen,  milch  weissen  Strängen.  Sie  platzen  gelegentlich 
und  geben  dann  Anlass  zur  Lymphorrhagie  (s.  pag.  97  und  126, 
Lymphabscess). 

Neubildungen  localisiren  sich  selten  in  Lymphgefässen ,  sondern 
vorwiegend  in  den  Lymphdrüsen  (Carcinome). 

Das  lockere  Zellgewebe,  das  Wurzelgebiet  des  Lymphsystems, 
wird  selten  als  Ausgangspunkt  von  Krankheiten  angesehen ,  obgleich 
sowohl  Neubildungen  (Sarkom  u.  s.  f.)  davon  ausgehen  und  auch  andere 
Krankheiten,  wie  Tuberculose,  sich  daselbst  localisiren  können  (primäre 
Zellgewebstuberculose).  Es  hat  jedoch  eine  wesentliche  Bedeutung  als 
die  vorgeschriebene  Strasse ,  auf  der  flüssige  Ergüsse  sich  verbreiten. 
So  wandert  das  ergossene  Blut  im  Zellgewebe ,  theils  dem  Lymph- 
strom, theils  der  Schwere  folgend ;  und  in  ihm  macht  der  Eiter  seine 
Senkungen  und  legt  dabei  oft  weite  Wege  zurück  —  von  der  Wirbel- 
säule zum  Oberschenkel  u.  dergl. 


Verzeichniss  der  Holzschnitte. 


Fig.  1. 
„     2. 

„     3. 

„     4. 
„     5. 


9. 
10. 
11. 
12. 

13. 

14. 
15. 
16. 
17. 

18. 

19. 

20. 
21. 

22. 

23. 
24. 
25. 

26. 
27. 
28. 
29. 


Seite 

Weisser  Thrombus 15 

Eotlier    Thrombus    in    Organi- 
sation      16 

Canalisation  des  Thrombus  .    .  17 

Schema  der  Embolia    ....  17 
Schema  der  normalen  Circula- 
tion    in   der    Schwimmhaut 

des  Frosches 23 . 

Entzündl.  Strombeschleunigung  24 

Entzündl.  Stromverlangsamung  25 

^  ^                         .         ^,  .     r  25 

I  Formen    von  weissen  Bmt-    1 

(  Zellen    nach  Leivandoivski  j  . 

Phagocyten 26 

Staphylococcus  pyogenes,  Eein- 

cultur 30 

Streptococcus  pyogenes,    Eein- 

cultur    . 30 

Eiter,  mikroskopisch     ....  33 

Colloidentartung  nach  Wölf  ler  48 

Formen  der  Bacterien  ....  52 

Milzbrandbacillen 53 

Frischer    pyämischer  Herd    in 

der  Niere 62 

Gelatineplatte 63 

Staphylococcusculturen    auf  J  63 
Gelatine                     \  63 
Micrococcus  tetragenus  auf  Kar- 
toffel   64 

Hefezellen 64 

Soorpilz 64 

Aspergillus  glaucus 64 

Favuspilz 65 

Trichophyton  tonsurans   ...  65 

Malariaplasmodien 65 

Protozoen 66 


Seite 
Fig.  30.  Plasmatische  Circulation  nach 

Thiersch 70 

„     31 .  Heilung     per     primam    inten- 
tionem,  schwache  Vergröss. 

„    32.  Heilung     per     primam    inten- 
tionem,  stärkere  Vergröss.  . 

„    33.  Gefässneubildung  nach  Ziegler 

„    34.  Junge    Granulationen ,     mikro- 
skopisch         

,,    35.  Epithelioide  Zellen  aus  Granu- 
lationen nach  Ziegler     .    . 

„    36.  Aeltere  Granulation 

„    37.  Zellen  aus  jungen  Narben  nach 
Ziegler 

,,    38.  Heüung    per   secundam    inten- 

tionem 78 

„     39.  Wunde  der  Cornea  nach  «j.PF^/ss    81 

„    40.  Eegeneration  der  Cornea  nach 


Ti 

41.  Eegeneration  des  Muskels  nach 

0.  Weher 

82 

,, 

42.^ 

r84 

)) 

43. 

84 

,, 

44. 

Nervenregeneration  nach 

84 

„ 

45. 

Eichhorst 

85 

» 

46. 

85 

„ 

47.  J 

Uö 

n 

48. 
49. 
50. 

\    Nerven  regen  er  ation  nach 
i                      GlucTc 

86 
86 
86 

„ 

.51. 

Aeltere  Narbe 

87 

„ 

52. 

Hämatom  nach  Virchow      .    . 

100 

„ 

53. 

Unterbindung  m.  Köberle'sdher 

Zange 101 

54.  UnterhininngmitLangenbecJc- 

scher  Zange 101 


Verzeichniss  der  Holzschnitte. 


585 


Seite 
Fig.  55.  Verschiedene  Arten  von  Unter- 

bindungspiucetten    ....  102 
„    56.  Unterbindungszange  n.  Spencer 

Wells 103 

„    57.  Unterbindungspincette      nach 

V.  Bergmann 103 

„    58.  Torsion    (^Lwer'sche   Arterien- 

zauge) 103 

„    59.  Unterbindungshaken     ....  103 

„    60.  Aneuiysmanadel 103 

„    61.  Torsion  nach  Ämussat  .    .    .  103 

„    62.  Umstechung 104 

„    63.  Zange  nach  Pean-Köberle  .    .  104 

„    64.  Acupressur 105 

„    65.  Acufilopressur 105 

„    66.  FreileguDg  einer  Arterie      .    .  105 
„    67.  Unterbundene  Arterie     .    .    .  106 
„    68.  Blutstillung  durch  forcirte  Beu- 
gung in  der  Hüfte  ....  107 
„    69.  Blutstillung  durch  forcirte  Beu- 
gung in  der  Schulter  .    .    .108 
.,    70.  Blutstillung  durch  forcirte  Beu- 
gung im  Ellbogen    ....  108 
.,    71.  G-efässverschluss   nach  i?aa6  .  109 
,,    72.  Dasselbe ,  stärkere  Vergrösse- 

rung       110 

„    73.  Regeneration  der  Intima  nach 

Zahn 111 

^     74.  Dasselbe 111 

„  75.  Gefässunterbindung  ,  schemat.  112 
„  76.  CoUateralkreislauf  nach  £"&£?;  112 
„  77.  JEswarcA'sche  Eimvicklung  .  113 
„  78.  Abschnürung  mit  Schlauch  .  113 
„     79.  Abschnürung    mit    elastischer 

Binde 113 

..     80.  Digitalcompression      der      A. 

feraoralis 114 

„     81.  Scliraubentourni([uet    n.  Petit  115 

"  ^'  Knebeltourniquets  ...  I  ^ 
„    83.  I  Ul6 

,.    84.  Aortencompressorium  .    .        .116 

„    85.  Verblutungscnrve 118 

„     86.  Infusion 123 

.     87.  Aderlass 125 

„     88.  Staphylococcns  pyogen,  aureus  136 
„    89.  Dasselbe,  Gelatinestichcultur    137 
_     90.  Gelatinestichcultur d.  Staphylo- 
coccns cerens 138 

„     91.  Gelatinestichcultur  d.  Strepto- 
coccus pyogenes 138 


Fig.  92. 

„  93. 

„  94. 

„  95. 

„  96. 

„  97. 

„  98. 

„  99. 
„  100. 
„  101. 
.,  102. 
„  103. 

„  104. 
„  105. 

„  106. 
.,  107. 

„  108. 
„  109. 
.  110. 

„  111. 
„  112. 
.  113. 
„  114. 
,  115. 

„  116. 
„  117. 
,,  118. 
.,  119. 
„  120. 
„  121. 
122. 
„  123. 
„  124. 
..  125. 
„  126. 
„  127 
,.  128. 

.  129. 
.,  130. 
„  131. 

r,    132. 

..  133. 


Seite 
Pneumoniediplokokkeu  .  .  .  139 
Bacillus  des  blauen  Eiters     .  139 

Erysipelkokken 146 

Temperaturcurve  des  Erysipels  148 
Temperaturcurve    der   Pyämie  152 

Streptokokken      153 

Junge   Streptococcencolonie  in 

der  Niere 154 

Pyämischer  Eiter  .  .  •  .  .  .  154 
Curve  der  Septikämie  .  .  .156 
Rauschbrandbacillen  .  .  .  .158 
Bacillus  der  Mäuseseptikämie  159 
Bacillus    der   Kaninchensepti- 

kämie 159 

Bacillus  des  malignen  Oedems  159 
Bacillus      oedematis     maligni, 

Glycerinagarcultur    .    .    .    .160 

Tetanusbacülen 164 

Gelatinecultur     des     Tetanus- 

bacillus 164 

Rotzbacülen 166 

Milzbrandbacillen 168 

Gelatinecultur   des  Milzbrand- 

bacülns 168 

I  Actmomyces      

Tuberkelbacillen 175 

Tuberculöse  Granulation  .  .  176 
Blutserumcultur  des  Tuberkel- 

bacillus 176 

Leprabacillus 182 

Rhinosklerombacülen  ....  183 
Offene  Wundbehandlung  .    .    .  186 

L-rigation 187 

Aseptischer  Operationssaal  .  197 
Instrumentensterilisator  .    .       200 

Tupfer 201 

"Wassersterilisator 201 

Drainröhren 204 

Verschiedene  Arten  von  Nadeln  211 

Nahtanlegung        211 

Nadelhalter  nach  Boux  .  .  212 
Nadelhalter      nach      Dieffen- 

hacJi,  Roser,  Collin  .  .  .  212 
Nadellialter  nach  Hagedorn  213 
Drahtschnürer 213 

1  ^^""1''-'^'* l!u 

Verschii;denc  Arten  der  Faden- 
knotung     214 


586 


Verzeichniss  der  Holzschnitte, 


Seite 

Fig.  134.  Matratzen nalit, 215 

„     135.  Kürschnernaht 215 

„  136.  Fortlaufende  Naht     ....  215 

„      137.  Zapfennaht 216 

„     138.  Perlnaht 216 

„  139.  Umschlungene  Naht  ....  216 

„     140.  Versenkte  Naht 216 

„     141.  Darmnaht 217 

„  142.  Serres  fines    .    .    .    .    .    .    .217 

„  143.  Brandblase  nach  Ziegler     .  220 

„  144.  Brandnarben  nach  Bruns   .  224 

„  145.  Blitzfiguren    nach    Heusner  225 

„  146.  Esmarch' sehe  Maske    .    .    .  231 

„     147.  Tropfflasche 232 

„  148.  Junker'scher  Apparat  .    .    .  233 

„  149.  i^oser'sche  Kieferzange    .    .  236 

„  150.  Mundspiegel  nach  Heister  .  236 

„     151.  Zungenzange  , 237 

„  152.  Englischer  Handgriff    ...  237 

„  153.  Lüften  des  Unterkiefers  nach 

Kappeier 238 

„  154.  Zungenhalter  nach   Gutsch  .  238 

„  155  ö  und  b.  Künstliche  Athmung 

nach  Silvester 240 

„  156.  Aethermaske  nach  Wanscher  245 

„     157.  Aetherspray 248 

„  158.  Aethylchloridspray    ....  249 

„  159.  Verschiedene    Scalpellformen  250 

„  160.  Verschiedene   grosse    Messer  251 

.     161.  j  f 251 

„     162.  I  Verschiedene  I 251 

„     163.   I  Messerhaltung  I 251 

„     164.  I  l 251 

„  165.  I                                           [  252 

„  166.   I  Verschiedene  Arten  der   )   252 

„  167.                   Incision                 |  252 

„  168.   '                                             ^  253 

„     169.  Wundhaken 254 

1    Verschiedene  Scheeren    j   ^-j, 

,^^'1      und  Scheerenführung     1    ^,^ 
„     172.  -•  l  255 

„     173.  Amputation  des  Unterschen- 
kels mit  einzeitigem  Cirkel- 

schnitt 255 

„     174.  Easpatorium .  256 

„     175.  Sägen      256 

„     176.  Knochenzangen 256 

„     177.  Schema   der  Lappenschnitte  257 
„     178.  Exarticulation  am  Fusse  mit     • 
Doppellappen 257 


Seite 
Fig.  179.   Cirkel-;   Lappen-    und    Man- 
schettenschnitt   am    Unter- 
schenkel   :^58 

„     180.  Lappenschnitt      am       Ober- 
schenkel   259 

"  ■   I  Piroaoff'sche  osteoplasti-  [ 

„     182.  ■^r^    ,         _.^  260 

"  sehe  Amputation 

„     183.  I  I   260 

„  184.  Exarticulation  am  Fusse  .  .  262 
„     185.  Handgelenksexarticulation 

mit  Cirkelschnitt  ....  262 
„     186.  Daumenexarticulation       mit 

Ovalärschnitt 262 

"  ■  1    Resection  im  Schulter-    ( 

„     188.  \  ,     ,  264 

"  gelenk 

„     189.  J  '  265 

„  190.  Eesection  im  Kniegelenk  .    .  265 

„   .  191.  Resectionsmesser 266 

„     192.  Resectionszangen 267 

„     193.  Elevatorien 268 

„     194.  Stichsäge 268 

„     195.  Kettensäge 268 

„     196.  Bogensäge 269 

„  197.  Meissel,   verschiedene  Arten  269 

„     198.  Meisselführung 269 

„     199.  Knochenbohrer 270 

„  200.  Gefensterter  G-ipsverband     .  271 

„     201.  Ecraseur 272 

„     202.  Scharfe  Löffel 272 

„  203.  I    Thermokauter  nach    |  .    .  272 

„  204.  1            Paquelin            \  .    .  272 

205.  -i  /  ...  273 

"     9f\R    I  Gralvanokaustisclie   | 

l  207.')        Instrumente         [;    ;    ;  ^73 

l  208.  ^                                              r  274 

„  209.        Plastische  Operationen    •    274 

„  210.  I                                           '  275 

„  211.  Ehinoplastik  aus  dem  Arme  276 

„  212.  Rhinoplastik  aus  dem  Gesicht  277 

„  212  a — d.  Schema  der  Sehnennaht  279 

„  213.  Peritendinöse  Sehnennaht     .  280 

„  214.  Directe  und  paraneurotische 

Nervennaht 280 

„  215.   )  Technik  des  Binden-  f  .    .281 

„  216.  J             wickelns             i  .    .  281 

„     217.  Cirkeltour 282 

„     218.  Spiraltouren 282 

„  219.  Umschlag  (renverse)     .    .    .  283 

„  220.  Achtertour,  Spica  pedis    .    .  283 

„     221.  Spica  coxae    , 283 


Verzeicliniss  der  Holzschnitte. 


58^ 


Fig. 


222. 
223. 
224. 
225. 
226. 
227. 
228. 
229. 
230. 
231. 
232. 
233. 
234. 
235. 
236. 
237. 
238. 
239. 
240. 
241. 
242. 
243. 
244. 
245. 
246. 
247. 
248. 
249. 
250. 
251. 
252. 

253. 

254. 
255. 
256. 
257. 
258. 
259. 
2(iO. 
261. 
262. 
263. 
264. 
265. 
266. 
267. 

268. 


Seite 

Spica  manus 283 

Spica  pollicis 283 

Spica  humeri 284 

Stapes     284 

Testudo  genu 284 

Einwicklung  des  Beins  .  .  285 
Einwicklung  der  Hüfte  .  .  285 
Compressorium  mammae  .  .  285 
Suspensorium  mammae     .    .  285 

Monoculus 285 

Mitra  Hippocratis 285 

Capistrum  duplex 286 

Kinnschleuder 286 

Vielköpfige  Binde 286 

Mitella,  Armtragetuch  .    .    .  286 

Mitella  parva 287 

r287 
287 
287 
287 
287 
287 
288 
288 
288 
J 

]  Pappverband  am  Unter-  j  288 
i  Schenkel  i  289 

Pap])schiene  für  Eadiusbruch  289 

Armholzschiene 289 

Improvisirter      Schienen  ver- 
band (Vorderarm)  ....  289 
Schienenverband  für  Radius- 
bruch nach  Böser 


Verschiedene  Tuch- 
verbände 
nach  Wolzendorff 


Improvisii'te  Schienen 


Einfache   Schienen  aus 
Zinkblech 


290 
290 
290 
290 
290 
291 
291 
Schiene  aus  Drahtgitter  .    .  292 

Gipstuchverbände 292 

Gipsholzspanverband  .  .  .  293 
Brückengipsverband  ....  293 
]  Verschiedene  modiücirte  |  293 
1  Gipsverbände  i  293 

Gipshanfschienen  nach  lieelij  294 
Gipstarlatanschienen       nach 

Herrtjoit 294 

Abnehmen  des  Gip.^verbandes  295 


Fig, 


269. 
270. 
271. 
272. 
273. 
274. 
275. 
276. 

277. 
278. 
279. 
280. 
281. 
282. 
283. 
284. 
285. 
286. 
287. 
288. 
289. 
290. 
291. 
292. 
293. 
294. 
295. 

296. 
297. 
298. 

299. 
300. 
301. 
302. 
303. 
304. 
305. 
306. 
307. 

308. 
309. 
310. 
311. 
312. 
313. 
314. 


Seite 

Gipsmesser 295' 

Gipsscheere 295 

Holzspan 296 

Holzcorset 296 

Zagverband  am  Unterschenkel  296 

Extension  am  Bern    ....  297 

Verticale  Extension  ....  297 

Schleifendes  Fussbrett   nach 

Volkmann 297 

j  (  298 

I     Zusammengesetzte  Ex-     )   299 

tensionsverbände  j   300 

'   300 

Extension  am  Vorderarm  .    .  301 

\    Extensionsverbände  für    (  301 

J  den  Oberarm  y  301 

\  Zugverbände  mit  elasti-   |   302 

i  sehen  Gurten  l  302 

Massage-Reiben      303 

Massage-Streichen      ....  304 

1  ( 304 

<  Knetmassage   i  „^. 

Effleurage 305 

Klopfen  und  Hacken    .    .    .  305 

Vibration 306 

..     (  ■  306 
Widerstandsgymnastik    >      .,„„ 

Zelleinschlüsse      bei     Carci- 

uom 313 

Narbensubstanz 319 

Neurofibrom 319 

Fibroma      molluscum      nach 

Virchotv 320 

Dasselbe,  mikroskopisch   .    .  321 

Keloid '322 

Lipom 322 

Myxomgewebe  nach  Ziegler  324 
Myxom  nach   Virchow      .    .  325 

Osteom 326 

Enchondrom  des  Fingers  .  .  326 
Enchondrom  der  Parotis  .  .  327 
Fingerencliüiidroiii ,      Durdi- 

schnitt 327 

Myom,  mikroskopisch  .  .  329 
Gliomzellen  nach  Ziaßer    .  329 

Teleangiektasie 330 

Cavernüses  Angioni  ....  330 
Angiom,  mikroskopisch  .  .  331 
Blutcyste  nach  Gramer  .  332 
Sarkomgcwcbr 334 


•588 


Verzeichniss  der  Holzschnitte. 


Seite 
Fif;'.  315.  Cystosarkoiu      der      Mamma 

nach  Albert 335 

„     316.  Rundzellensarkom      ....  336 
„     317.  Spindelzellensarkom        nach 

Ziegler 337 

.„     318.  Rieseiizellensarkom    ....  338 
„     319.  Centrales    Osteosarkom    des 

Femur  nach    Virchoiv    .    .  340 
„     320.  Periostsarkom      des     Femur 

nach   Virchoiv 340 

„     321.   Cystosarcoma    mammae  pro- 

liferum  nach  Albert  .    .    .  341 

„     322.  Lymphosarkom 342 

„     323.  Spitzes  Condylom 344 

.„  324.  Spitzes  Condylom ,  mikros- 
kopisch, nach  Kaposi  .  .  345 
„  325.  Papillom  der  Blase  ....  346 
„  326.  Dasselbe,  mikroskopisch  .  .  347 
.„  327.  Epithelioma  contagiosum  .  348 
„     328.  Hypertrophie     der     Mamma 

nach  Albert 349 

„     329.  Fibroadenoma  mammae    .    .  350 
„     330.  Ovariencyste,  schwache  Ver- 

grösserung  .......  351 

„     331.  Dasselbe,  stärkere  Vergröss.  351 
„     332.  Atherome  des  Kopfes   .    .    .  354 

„     333.  Atheromcyste 354 

„     334.  Muskelcysticerken     ....  356 

„     335.  Echinococcus 356 

„      336.  Häkchen    aus  Ecliinococcus- 

blasen 356 

„     337.  Krebs  der  Schilddrüse  nach 

Wölfler 357 

-„     338.  Krebsige    Infiltration     einer 

Lymphdrüse 359 

,,     339.  Krebs  der  Unterlippe,  Lupen- 

vergrösserung 362 

,.     340.  Dasselbe,   mikroskopisch  .    .  363 
„     341.  Vorgeschrittener  Unterlippen- 
krebs nach  Bruns     ,    .    .  364 
„     342.  Syphilitische  Geschwüre  des 

G-esiclits  nach  Bruns    .    .  364 
.„     343.  FlacherHautkrebs  n.  Thiersch  365 

„     344.  Parafflnkrebs 366 

„     345.  Zungenkrebs      367 

,,     S46.  Pharynxkrebs 367 

„     347.  Kehlkopfkrebs   nach  Tobold  368 

,,     348.  Mastdarmkrebs 368 

..      349.  Brustdrüsenkrebs ,       Durch- 
schnitt    . 369 


Heite 
Fig.  350.  Acinöses  Carcinom  d.  Mamma  370 
„     351.  Carcinomatöse  Infiltration  der 

Mamma 371 

,,     352.  Tubulöses       Carcinom      der 

Mamma 372 

„     353.  Cancre     en     cuirasse     nach 

Billroth 373 

„  354.  Cauterisation  parallele  .  .  382 
„  355.  Cauterisation  circulaire  .  .  382 
„     356.  Elephantiasis     crnris     nach 

Albert 397 

„     357.  Bau   des    hyalinen  Knorpels 

nach  Schenk 399 

„  358.  Faserknorpel  nach  Schenk  .  400 
„  359.  1  Verknöcherung  nach  |  401 
„     360.  i  Schenk  l  402 

„  361.  Knochenbildung  nach  Stöhr  403 
„  362.  Bau  des  Knochens  .  ...  4:04: 
„  363.  Dasselbe ,  nach  Stöhr  .  .  .405 
„     364.  Knochenresorption  nach 

Stöhr 406 

,,     365.  Knochenbildung   aus   Binde- 
gewebe nach  Stöhr  .    .    .  406 
„     366.  Metaplastische          Knochen- 
bildung     407 

„     367.  Rhachitis 410 

"  o/ifx'  (  Riesenwuchs  nach  ylZÄerH  _„ 
„     oo9.  >  (  413 

„     370.  Eingekeilte        Schenkelhals- 

fractur 418 

„     371.  Dasselbe,  Durchschnitt     .    .  419 

„     372.  Querbruch 419 

„  373.  Schrägfractm-  der  Tibia  .  .  420 
„  374.  Lochschussfractur  der  Tibia  421 
„      375.  Compressionsfractur       eines 

"Wirbels  nach  Albert     .    .  422 
„     376.  T-Fractnr  des  Hnmerus  nach 

Albert 422 

„     377.  Splitterfractur      des     Unter- 
schenkels nach  Albert  .    .  423 
„     378.  Epiphysenlösung  d.  Humerus 

nach  AlbeiH 423 

„      379.  Radiusfractur  von  der  Seite 

nach  Albert 425 

„     380.  Dasselbe,  von  der  Volarseite 

nach  Albert 425 

.,  381.  Schema  der  Dislocationen  .  426 
„     382.  Provisorischer  Callus    ...  431 

„     383.  CaUusbildung 433 

„     384.  Heister'sche  Lade    ....  435 


Verzeichniss  der  Holzschnitte. 


589 


Fig. 


385. 

386. 

387. 
388. 
389. 
390. 

391. 
392. 

393. 
394. 
395. 
396. 

397. 

398. 

399. 

400. 

401. 

402. 

403. 
404. 

405. 
406. 
407. 

408. 

409. 

410. 

411. 
412. 

413. 
414. 
415. 

416. 
417. 
418. 


Seite 
Blechscliieuen  für  den  Unter- 
schenkel   435 

Extensious verband   am  Ober- 
arm nacb  Hamilton  .    .    .  438 

T.     ■      (438 
Gehverband  nach  Bruns  y 

Gehverband     nach     Braatz  439 

l  Gehverband  nach  Heussner  440 

Gehverband 441 

Gipsgehverband 441 

Malgaiffne'schev  Stachel  .  .  441 
Malgaiffne' sehe  Klammer  .  442 
Psendarthrose    des   Humerus 

nach  Albert 451 

Callusverschmelzung  am  Vor- 
derarm nach  Albert  .    .    .  453 
Luxatio      humeri      axillaris 

(halbscliematisch)  ....  459 
Luxatio  humeri  subcoracoidea 

nach  Albert 462 

Eeposition     einer    EUbogen- 

luxation  nach  Albert  .  .  464 
Nearthrose    nach    Humerus- 

luxation 467 

Angeborne  Luxation  im  Hüft- 
gelenk nach  Albert  .    .    .  469 
Lochschuss  der  Tibia  ,    .    .  475 
Roentgenphotographie  (Kugel 

im  Oberarm) 480 

Nekrosis  tibiae  (schematisch)  486 
Nekrotische  Fibula  ....  487 
Todtenlade    der     Tibia     mit 

Sequester 487 

Osteomyelitische       Verände- 
rungen an  den  Gelenkenden 

der  Til)ia 488 

Verschiedene      Arten       von 

Seque.stern 488 

Sjq)hilitische     Nekrose      des 

Schädels  nach  Albert  .  .  493 
Osteosclerosis  cranii  ....  494 
Normales  Knie        >  /  498 

Hydroi)S  genu  \  \   498 

r,,  ,         ,     .  Albert      ,oq 

luljcrculosis  geuu  >  \  49o 

Taijlor-  H^oZ/Tscher  Apparat 

nach  Albert 502 

Punctioiisspritze 504 

Troicart 504 

Function 504 


Seite 
Fig.  419.  Troicart  nach  Fräntzel   .    .  505 
„     420.  Aspirator  nach  Dieulafoy    .  505- 
„     421.  Arthritische    Gelenkverände- 
rung, histologisch  ....  509 
„     422.  Arthritis       deformans      des 

Schenkelkopfes 512 

„     423.  Tabische  Zerstörung  des  Hüft- 
gelenks      515- 

„     424.  Gelenkmaus .  517 

„     425.  Stellungsänderung  beiCoxitis 

nach  Albert 519 

„     426.  Normales  Knie 520 

„     427.  Seröser  Knieerguss    ....  520 

„     428.  Knietuberculose 520 

„     429.  Verschiedene     Formen     von 

Sequestern 523 

„     430.  Tuberculöser    Herd    im  Con- 
dylus         femoris         nach 

Volkmann 523 

„     431.  Tuberculöser  Herd  i.  Schenkel- 
hals       524 

„  432.  Tuberculöse  Granulation  .  .  524 
„     433.  Durchschnitt  durch  eineTuber- 

culose  des  Hüftgelenkes    .  525 
„     434.  Cariöse  Zerstörung  d.  Schenkel- 
kopfes       525 

„     435.  Spontanluxation    bei  Coxitis 

nach  Albert 526 

„     436.  Pfannenwanderung  bei  Coxitis 

nach  Volkmann  ....  526 
„  437.  Injectionsnadel nach  S'cA« Wer  530 
„  438.  Injectionsspritze  n.  Windler  530 
„  439.  Injectionsstellena.  Kniegelenk  530 
„  440.  Injectionsstellen  a.  Hüftgelenk  531 
„  441.  Injectionsstellen  a.Fussgeleak  532 
„  442.  Injectionsstellen  am  Ellbogen- 
gelenk       532 

„     443.  Injectionsstellen  am  Schnlter- 

gelenk      .......  533 

„  444.  1  Verschiedene  Formen  von  (  536 
„  445.  i  Klumpfuss  nach  Albert  l  536 
„  446.  ]  Klumpfussapparat  nach  [  537 
„     447.  1  V.  Brims  ^  537 

„     448.  Plattfuss 538 

„  449.  Sohlenabdrücke  bei  Plattfuss  538 
„  450.  Spitzfuss  nach  Albert  .  .  .  539 
„  451.  Spitzfussapparatnach  Bauer  539 
„  452.  Hackenfuss  nach  Albert  .  .  539 
„  453.  Genu  valgum  nach  Albert  .  540 
.     454.  lunercScliieneb.Genu  valgum  541 


590 


Verzeichiiiss  der  Holzschnitte. 


Seite 


Fig.  455.  Schienenapparat     hei    Genu 

valgum 541 


456.  Skoliosis  na,ch  Albert  . 

457.  Dasselbe,  skelettirt",  .    . 

458.  Schiefhals  nach  Albert 
459. 
460. 
461. 
462. 


Kniestreckmaschin  en 


{; 


.  542 
.  542 
.  544 
.  546 
.  546 
.  546 


Fingerstreckmaschine 
Kniemobilisirapparat      nach 
Albert 547 

463.  Myositis       ossificans      nach 

Helferich 554 

464.  Verrenkung  d.Peronealsehne  556 

465.  Endothel  der  Arterien  .    .    .  565 

466.  Bau  der  Arterien  und  Venen  566 


Seite 

Fig.  467.  Entzündete  Arterie   ....  .566 

„     468.  Verkalkte  Arterie 567 

„  469.  Beginn.  Aneurysmabildnng  568 
„  470.  Syphilis  der  Arterien  .  .  .  569 
„  471.  Spindelförmige  Aneurysmen  .  570 
„  472.  Sackförmiges  Aneurysma  .  .  571 
„  473.  Aneurysma  cirso'ideum  .  .  .  573 
„  474.  Venenvaricositäten  des  Unter- 
schenkels      574 

.,     475.  Varicocele 575 

„     476.  Hämorrhoidalknoten  ....  575 

"     *'^'^'  1  Künstliche  Venenklappe  [  ^"^^ 
„     478.  i  ^^     i  576 

„     479.  Varix  aneurysmaticus  .    .    .  577 

,,     480.  Bau  der  Lymphdrüsen  .    .    .  580 


Sachregister. 

Die  Ziffern  bedeuten  die  Seitenzahlen. 


A. 

Ableitende  Behandlung  40. 
Abscess,  acuter  31. 

—  -blutungen  99. 

—  kalter  521. 

—  periarticulärer  523. 
Accidentelle  Wundkrankheiten  134. 
Actinomykosis  170. 

Adenom  346. 

—  der  Mamma  346. 

—  der  Schüddrüse  349. 

—  des  Ovariums  347. 

—  der  Haut  352. 
Aderlass  124. 
Aethernarkose  244. 
Aethylchlorid  248. 
Aetzmittel  381. 
Ainhun  396. 
Alkoholismus  133. 
Aluminium  aceticum  207. 
Amputationen  253. 
Amputationsneurom  256,  564. 
Amyloidentartung  47. 
Anämie,  örtliche  5. 

—  allgemeine  117. 
Anästhesie  229. 

—  locale  248. 
Aneurysma  568. 

—  cirsoidenm  572. 

—  varicosum  577. 
Aneurysmanadel  103. 
Angiom  329. 
Ankylosis  544. 
Anthrax   167. 
Antiphlogose  39. 


Antisepis  188,  206. 

Aplasie  45. 

Arterien,  -Bau  565,  -atherom  566, 
-Verletzungen  110,  -entzündung  565, 
-Verkalkung  566,  -Syphilis  568. 

Arthrektomie  532. 

Arthrotomie  531. 

Arthritis  deformans  511. 

—  Vera  (Gicht)  509. 
Asepsis  195. 

Aseptische  Wundbehandlung  196. 

Atherom  353. 

Athmung,  künstliche  240. 

Atrophie  45. 

Aussatz  182. 

B. 

Bacterien  50. 

—  -toxine  55. 

—  -Virulenz  56. 
Züchtung  63. 

Bindenverbände  282. 
Bismuthum  subnitricum  192. 
Bisswunden  98. 
Blitzschlag  224. 

—  -figuren  225. 
Blutcyste  332. 
Blutdruck  119. 
Blutegel  125. 
Bluterkrankheit  99. 
Blutcrsparniss  113. 
Blutgehalt  der  Gewebe  4. 
Blutgeschwulst  100. 
Blutkörperchen,  Auswanderung  23. 
Blutleere  (künstliche)  113. 


592 


Sachregister. 


Blutresorption  93. 

Blutung  67,  99. 

Blutungen  per  diapedesin  100,  spontane  100. 

Blutstillung  101. 

Blutvergiftung  155. 

Blutverlust  117. 

Folgen  124. 

Borsäure  190,  207. 
Brand  41. 
Bromäthyl  247. 
Bubo  144. 

c. 

Callusbildung  431. 

—  luxurians  453. 

—  -versclimelzung  451. 

—  -Verzögerung  449. 
Caput  obstipum  544. 
Carbolsäure  189. 

—  -spray  188. 
Carbunkel  386. 
Carcinom  311. 

—  -parasiten  312.  . 
Carcinosis  360. 
Catgut  188,  202. 
Cellularpathologie  2. 
CelluloidmuUverband  299. 
Chancre,  weiclier  388. 

—  harter  180. 
Chloroform  229. 
Clüorom  342. 
Chlorzinkpaste  381. 
Chromgut  203. 
Cirkelschnitte  255. 
Coagulationsnekrose  45. 
Cocainanästhesie  248. 
Collaps  127. 

CoUateralkreislauf  17,   112. 
Collodium  210. 

CoUoid  (CoUonema)  323. 
CoUoidentartung  48. 
Commotio  90. 
Condylom  343. 
Constitution  sanomalien  133. 
Contactinfection  190. 
Contractur  647. 
Corneawunden  81. 
Creolin  207. 
Crepitation  427. 
Cutis  pendula  320. 


Cysten  332. 
Cysticercus  355. 
Cystoadenom  348. 

—  ovarii  349. 
Cystom  .348. 

Cystoma  proliferum  papilläre  349. 
Cystosarkom  336,  841. 

D. 

Dauerverbände  194. 

DecoUement  97. 

Decubitus  42. 

Deformitäten  622. 

Degenerationen  46. 

Dehnung  91. 

Delhibeule  396. 

Dermoidcysten  355. 

Delirium  tremens  s.  alcoholicum  128. 

—  nervosum  132. 
Desinfection  197. 
Diabetes  mellitus  133. 
Distorsion  455. 
Drainage  32,  204. 

E. 

Echinococcus  855. 

Einspritzungen  in  Gelenke  504,  529. 

Eiter  33. 

—  blauer  139. 
Eiterkörperchen  34. 

—  -verhaltung  139. 
Elephantiasis  396. 
Elevation  11. 

Emphysem,  traumatisches  128. 

—  septisches  157. 

Embolie  17,  Fett-  18,  Luft-  18. 
Enchondrom  326. 
Endarteriitis  obliterans  568. 
Englischer  Handgriff  237. 
Englisches  Pflaster  210. 
Entzündung  21. 

—  Cardinalsymptome  21. 

—  Schmerz  21,  Cii'culationsstörungen  22, 
Schwellung  28,  physikalische  Aende- 
rungen  28. 

—  -Formen:  parenchymatöse  und  inter- 
stitielle 28,  seröse  29»  adhäsive  29, 
eiterige  29,  fibrinöse  34,  croupöse  34, 
hyperämische  29,  hämorrhagische  34, 


Sachregister. 


,593 


jauchige  34,  brandige  3.4,  tratimatische 
35,  neuroparalytische  35. 
^Entzündung,  chronische  38. 

—  -theorie  35. 

—  Ausgänge  38. 

—  -Eegeneration  38. 

—  Therapie  (Antiphlogose)  39. 
Epiphysenlösung,  traumatische  429. 

—  spontane  416. 

—  osteomyelitische  488. 

—  tuberculöse  525. 

—  complicirte  447. 
Epithelcyste  353. 
Epithelialcarcinom  356. 
Epitheloide  Zellen  75. 
Epizootien  165. 
Epiilis  338. 
Erfrierung  226. 
Erschütterung  90. 
Erysipel  145. 
Exarticulationen  262. 
Extensionsverbände  300,  437. 


F. 


Fascienerkrankungen  559. 
Fettembolie  18,  128. 
Fettgeschwulst  322. 
Eettige  Degeneration  47.. 
Fibroma  318. 

—  molluscum  320. 
Fibrosarkom  338. 
Fieber  140. 

—  aseptisches  134. 
Fissuren  423. 
Fluctuation  31. 
Flnxion  9. 

Fiactur  414,     pathologische   416,     osteo- 
myelitische 487. 
Fragilitas  ossium  415. 
Framboesie  395. 

Fremdkörper  in  AVunden  80,  135. 
Furunkel  385. 


G. 


Gallertcarcinom  361. 
Galvanokaustik  272. 
Ganglion  654. 
Gangrän  42. 
—   diabetische  43. 

I/andercT,  Allg.  cliir.  Pathologie  «.  Therapie 


Gangrän,  neurotische  43. 

—  symmetrische  44. 
Gangrene  foudroyante  157. 
Gefässgeschwülste  329. 
Gefässnarbe  111. 
Gefässneubildung  73., 
Gefässverschluss  (Histologie)  110. 
Gebverbände  438.  . 
Gelenke: 

—  Bau  454. 

—  -Brüche  429,  complicirte  430. 

—  -entzündungen ,  anatom.  Formen  494, 
gichtische  509 ,  gonorrhoische  506, 
metastatische  507 ,  bei  Hämophilen 
495,  Bleiintoxication  511,  scorbutische 
511,  syphilitische  508,  neuroparaly- 
tische 514. 

—  -erkrankungen ,  Diagnose  498,  Ent- 
stehungsweise 500,  allgemeine  Thera- 
pie 501. 

—  -körper,  freie  5.16. 

—  -neurosen  516. 

—  -mause  516. 

—  -rheumatismus,  acuter  507. 

—  chronischer  513. 

—  -Schüsse  476. 

—  -Stellungen,  entzündliche  499. 

—  -Verstauchung  455. 

—  -wunden  467. 
Gemischte  Narkose  243. 
Genu  valgum  539. 

—  varum  540. 
Geschosswirkung  471. 
Geschwüre  387. 
Geschwülste  308. 

—  Diagnose  373. 
Gicht  509. 
Gipsverbände  289. 
Glanzflnger  6. 
Gliom  328. 

Glieder,  künstliche  263. 
Granulom  395. 
Granulation  74. 

—  Verklebung  80.' 

—  dcmarkirende   42. 
Grützbeutel  353. 
(jyninastik  306. 


H. 


Hackenfuss  539. 
Hämartliros  455. 

2.  Aufl. 


38 


594 


yacliregister. 


Hämatom  10(5. 
Hämophilie  99. 
Hämorrhagische  Diathese  99. 
Hämorrhoidalkaoten  679. 
Händereinigung  198. 
Hängender  Kopf  243. 
Hauthorn  344. 
Hautkrankheiten  384. 
Hautkrebs,  tiefer  362. 

—  flacher  364. 
Hauttransplantation  274. 
IIavers'sch.e  Canäle  403'. 
Hiebwunden  88. 
Hitzschlag  226. 
Holzstoff,  Holzwatte  193. 
Hornhautwunden  81. 
Hospitalbrand  157. 
Hüftverrenkang,  angeborne  469. 
Humor alpathologie  2. 
Hundswuth  172. 
Hyaline  Entartung  48. 
Hygrom  654. 
Hyperämie,    functionelle    5,    arterielle    9, 

venöse  10,  passive  12. 
Hypertrophie  49. 

—  der  Mamma  349. 


I. 


Immersion  186. 
Immunität  56. 
Infiltrationsanästhesie  249. 
Infractionen  422. 
Infusion  121. 

Instrumentenreinigung  200. 
Irrigation  186. 
Ischämische  Muskellähmung  8,  448. 

J. 

Jodoform  191. 

—  -ersätzmittel  192. 

—  -injectionen  529. 

—  -Vergiftung  191. 
Junker'scher  Apparat  233. 

K. 

Kaninchenseptikämie  159. 
Kapselriss  bei  Luxationen  458. 
Keloid  322. 


Kleisterverband  298. 
Klumpfuss,  angeborner  535. 

—  paralytischer  536. 
Kinderlähmung  551. 
Knochenabscess  491. 

—  -aneurysma  549. 
atrophie  412. 

—  -bau  399 ,  -entwicklung  400,  -elastici- 
tät  414,  -festigkeit  415. 

Knochen briiche  414. 

—  Entstehungsweise  415,  Formen  419, 
spontane  416,  angeborne  419,  Sym- 
ptome 423,  Dislocation  424,  unvoll- 
ständige 422,  complicirte  443,  (iangrän 
bei  442 ,  Muskellähmangen  448 ,  -be- 
handlung  434. 

Knochenentwicklungsstörungen  407. 

—  -geschwulst  324. 

—  -hypertrophie  413. 

—  -mark  405,  -marksarkom  339. 
naht  270,  451. 

—  -resorption  405. 

—  -quetschung  414. 
Knorpelhistologie  399. 

—  -geschwulst  326. 

—  -wunden  82. 
Kochsalzlösung,  physiologische  122. 
Konischer  Stumpf  261. 

Krebs  310,  336. 

—  Diagnose  373,  -behandlung  378,  -hei- 
lung  379. 

—  Prognose  383. 

—  -kachexie  315,  -recidive  315. 

—  -metastasen  359. 

—  der  Unterlippe  362,  des  Gesichtes  364, 
der  Schleimhäute  366,  der  Zunge  366, 

Kriegsstatistik  481. 
Kugelsonden  479. 
Künstliche  Glieder  263. 

L. 

Lappenschnitte  257. 
Leichentuberkel  395. 
Leimverband  298. 
Leiomyom  328. 
Lepra  182. 
Lipoma  322. 

—  diffusum  323. 
Lufteintritt  in  die  Venen  18- 
Luftembolie  48. 


Sachregister. 


Ö95 


Luftinfection  190. 
Lupus  393. 
Luxation  456. 

—  Entstehungsweise  457 ,  Diagn.  460, 
Eeposition  463,    veraltete  465. 

—  complicii'te  466,  habituelle  468. 

—  willkürliche  468,  spontane  (patho- 
logische) 468,  bei  Tnberculose  526, 
angeborne  470. 

Xymphabscess  97,  126. 
Lymphadenitis  144,  579. 
Lymphangitis  143,  582. 
Ijymphangiom  332. 
Lymphdrüsenerkrankungen  579. 
Lymphom  341. 
Lymphorrhagie  126. 
Lymphosarkom  341. 
Lymphvarix  583. 
Lysol  207. 
Lvssa  172. 


M. 

Hadurafuss  396. 

Malignes  Oedem  159. 

Malleus  166. 

Mammacarcinom  369. 

Manschettenschnitt  258. 

Miirkschwamm  339. 

Maske  (Esviarch' sc}ie)  231. 

Massage  303. 

Maul-  und  Klauenseuche  167. 

Mäuseseptikämie  159. 

Meissel  269. 

Melanocarcinom  372. 

Mclanosarkom  338. 

Meningocele  353. 

Messer  250. 

Metaplasie  49. 

Milchcysten  355. 

Milzbrand  167. 

Mollu.scnm  contagiosum  34S. 
—  peiidiilura  320. 

Moos  193. 

Morphiumiithernarkose  24(5. 

Morph iiimchloroformiiarkosc  243. 

Mumification  42. 

Muskel,  -atrophie  550 ,  -entzündungen 
552,  -hernie  550,  -wunden  49,  82,  -zer- 
reissungen    549,    -naht  278,    Pseudo- 


hypertrophie  552 ,  -regeneration  82, 
-geschwülste  327,  555. 

Muskellähmnngen,  ischämische  448,  polio- 
myelitische  551,  neurotische  551. 

Muskelplastik  278. 

MuskeLrheumatismus ,  acuter  552 ,  chro- 
nischer 553. 

Mycosis  fungoides  395. 

Myom  327. 

Myositis  ossificans  554. 

Myxödem  20. 

Myxom  323. 

Mvxofibrom  324. 


N. 


Nachblutungen  99. 
Nadelhalter  211. 
Nadeln  211. 
Naht  211,  214. 
Naevus  pigmentosus  343. 
Narben,  Histologie  187. 
Narbengeschwulst  322. 
Narbenschrumpfung  87. 

—  -Wucherung  188. 
Narkose  229. 
Nearthrose  530. 
Nekrobiose  45. 
Nekrose  41. 

—  der  Bruchenden  446. 

—  der  Knochen  484. 
Nekrotomie  488. 

Nervencontusion  560,  -Umklammerung  561, 
-durchtrennung  561,  -entzündung  562, 
-schmerz  562,  -dehiiung  563,  -diii'ch- 
schneidung563,  -naht  280,  -plastik  281. 
-regeneration  83,  -lösung  282,  -trans- 
plantation  281,  -wunden  83. 

Nervengeschwulst  328. 

Neubildung  309. 

Neuralgie  562. 

Neurektomie  563. 

Neurexärese  563. 

Neuritis  562. 

Neurofibroiii  319. 

Neurom  328. 

Neuroparalytische  Entziindungcii  35. 

—  Geschwüre  389. 

—  Gelenkentzündungen  514. 

38* 


596 


Sachregister. 


OcclüsioDsverfaliren  187. 

Oedem    18,    Stautings-  19,    liydrämisches 

(marantisclies)  19,    Myxödem  20,  col- 

laterales  20,  maUgnes  160. 
Odontom  326. 
OhnmacM  126. 

Operationslehre,  allgemeine  250. 
Organisation  des  Thrombus  15. 

—  des  Blutgerinnsels  79.  ■ 
Ossification  400. 

Osteoblasten  401. 
Osteofibrom  321. 
Osteochondritis  517. 
Osteoklasten  405. 
Osteom  325. 
Osteomalacie  411. 
Osteomyelitis  483. 

—  infectiosa  484. 

—  Gelenkaffectionen  bei  488. 
Osteoplastische  Operationen  277. 
Osteoporosis  412,  482. 
Osteopsathyrosis  415. 
Osteosarkom  339. 
Osteosklerosis  (Paget)  493. 
Osteotomie  540. 

Ostitis  482. 

—  typhosa  491. 
Ovalärschnitt  262. 
Ovarien cj^sten  348. 


Palliativoperationen  (bei  Krebs)  380. 
Panaritium  387. 
Papillom  343. 
Parafflnkrebs  365. 
Parenchymatöse  Degeneration  46. 
Periostitis  482. 
Periostsarkom  339. 
Perlmutterostitis  492. 
Phagocytose  26. 
Phlebektasie  574. 
Phlebitis  573. 

Phlegmasia  alba  dolens  574. 
Phosphornekrose  491. 
Pigmentsarkom  338. 
Plasmatische  Circulation  71. 
Plasmodien  66. 


Plastische  Operationen  274. 
Plattfuss   537. 
Pneumococcus  139. 
Poliomyelitis  551. 
Polypen  320. 
Prima  reunio  68. 
Pseudarthrose  451. 
Pseudohypertrophie  46. 
—  der  Muskeln  552. 
Ptomaine  55. 

Punction  der  Gelenke  504. 
Pvämie  150. 


Q- 


Quetschung  93. 
Quetschwunden  95. 


R. 

Eauschbrand  157. 
Eeamputation  261. 
Resection  264. 

—  subperiostale  265. 
Respiration,  künstliche  240. 
Ehabdomyom  327. 
Rhachitis  467. 
Rheumatismus   der  Muskeln  552. 

—  der  Gelenke  507,  513. 
Eheumatische  Schwiele  553. 
Ehinosklerom  183. 
Eiesenwuchs   414. 
Eiesenzellensarkom  338. 
Risswunden  97. 
Eoentgenphotographie  480. 
Eotz  166. 

Eückgratsverkrümmungen  542. 
Eundzellensarkom  337. 


Sägen  256,  269. 
Salicylsäure  190. 
Sarkom  333. 
Schiefhals  543. 
Schienen  verbände  286. 
Schimmelpilze  64. 
Schlangenbisse  174. 


Sachregister. 


597 


Schleimbeuteleutzünduugeu  558- 

—  -hygrom  559. 
Schleimcyste  353. 
Schleimgeschwulst  323. 
Schleimhautkrebse  366.. 
Schleimha  uttransplantation   277. 
Schlotter gelenk  537. 
Schnittwunden  88. 
Schorfheilung  80. 
Schornsteinfegerkrebs  365. 
Schussverletzuügen    470,    der   Weichtheile 

473,  der  Knochen  475. 
Schutzvorrichtungen  des  Organismus  57. 
Schwämme  (Zubereitung)  188. 
Sclerema  neonatorum  398. 
Scorbut  388. 
Scrophuloderma  395. 
Scrophulose  178. 
Sehnenverletzungen  555,  -plastik  279. 

—  -abreissungen  280 ,  -naht  279 ,  -re- 
generation  86 ,  -transplantation  280, 
-Verrenkungen  556. 

Sehnenscheiden ,  -entzündungen  555,  Hy- 
drops 559,  -neubildungen  558,  -tuber- 
culose  556. 

Seide  201. 

Septikämie  154. 

Septische  Processe  160. 

Sequester  486. 

Sequestrotomie  488. 

Shock  127. 

Silberdraht  203. 

Silk  worm  214. 

Sklerodermie  398. 

Skoliosis  542. 

Sonnenstich  225. 

Spaltbrüche  423. 

Sphacelus  42. 

Spindelzellensarkom  337. 

Spitzfuss  539. 

Spondylitis   .543. 

Spontanfractur  416. 

Spontangangrän  43. 

Sporozoen  65. 

Sprosspilze  63. 

Staphylococcus  137. 

Stauung.sbyperämie  10. 
—  -ödem  19. 

Sterilisation  205. 

Stich  wanden  89. 

Stickoxydiil  247. 


Strahlenpilz  170. 

Streptococcus  137. 

Struma  parenchymatosa  350. 

—  cystica  350. 
Styptica  109. 
Sublimat  193. 

—  -antisepsis  194. 

—  -Vergiftung  194. 
Substitution  des  Blutgerinnsels  79. 
Syphilis  179. 

—  der  Grefässe  568. 

—  der  Gelenke  508. 

—  der  Knocheu  492. 

—  der  Muskeln  552. 
Syringomyelie  516. 

T. 

Tabische  Gelenkaffectioneu  514. 
Tamponade  186. 
Teleangiektasie  329. 
Tendinovaginitis  652. 
Teratom  355. 
Tetanus  (Trismus)   162. 
Thermokauter  241. 
Thonerde,  essigsaure  190. 
Thrombose  12. 
Thrombus,  weisser  14. 

—  rother  15. 

—  -Canalisation  17. 

—  -Organisation  15. 

—  -Erweichung  16. 
Thymol  190. 
Todtenlade  486. 
Torf  192. 

Torsion  der  Gefässe  102. 
Tourniquet  115. 
Transfusion  121.  I 

Transplantation  der  Haut  274. 

—  der  Nerven  281. 
Tumor  309. 

Tuberculose,    Histologie     und    Pathogenese 
175. 

—  der  Haut  395. 

—  der  Muskeln  552. 

—  der  Sehnenscheiden  557. 

—  der  Knochen  und  Gelenke  517. 


u. 


Ueberhäutung,  einsäumende  77. 
—  inselförmige  78. 


-598 


öachrof^ister. 


Ulcus  prominens  260. 
Umstechung  der  Gefässe  104. 
Undulation  31. 
Unreinheit  einer  Wunde  76. 
Unterbindung  (der  Gefässe)  100. 


Varices  574. 

Varix  aneurysmaticus  577. 

Venenkrankheiten  676. 

Verbände  282. 

Verbandtücher  284. 

Verblutung  119. 

Verbrennung  218. 

Vereinigung  per  primam  intentionem 

—  per  secundam  intentionem  74. 
Verkalkung  48. 
Verknöcherung  400. 
Verkrümmungen  534. 
Verrenkung  456. 
Verruca  343. 

Verschorfungsverfahren  186. 
Verstauchung  455. 
'^^oUbad,  permanentes  186. 


w. 

Warze  343. 

Wasserglasverbände  296. 
Wasserscheu  172. 
Wiener  Aetzpaste  381. 
Wundbehandlung  185. 

—  aseptische  190. 

—  offene  186. 
Wunddiphtherie  158. 
Wunden  gefässloser  Theile  81. 
Wundentzündung  139. 
Wundfieber  140. 
Wundheilung  68. 

—  per  secundam  intentionem  74. 
Wundrose  145. 
Wundstarrkrampf  162. 
Wundvereinigung  209. 

z. 

Zellgewebserkrankungen  583. 
Zerreissung  92. 
Zerrung  91. 
Zimmtsäure  533. 
Zuckerkochsalzlösung  122. 
Zugverbände  300. 


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2002091020