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Full text of "Handbüchlein der Moral: Mit Anhang; ausgewählte Fragmente verlorener Diatriben"

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CONSTANTIUS FUND 



E&tabll&hed by Prrifes&or E. A, Sofkocles of Harvard 

Univcrsity for " tlic purchase ol Gretk and Latin 

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nO'l 6 1907 




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VON DIESEM BUCHE WURDEN 20 ABZÜGE 
ZUM PREISE VON FÜNFZEHN MARK FÜR JEDES 
EXEMPLAR AUF ECHT JAPAN -BÜTTENPAPIER 
HERGESTELLT /IN GANZPERGAMENT GEBUN- 
DEN UND HANDSCHRIFTLICH NUMERIERT 

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^aiNE der merkwürdigsten Epochen in 
der Entwicklung der geschichtlichen 
Menschheit ist die römische Kaiser- 
zeit Eine Kulturperiode, reizvoll wie 
^^ wenige der Weltgeschichte, voll der 
\^ eigenartigsten Gegensätze und Bertih- 
rungen — oft unvermittelt nebeneinander das Alte, das 
noch nicht sterben kann, und das Neue, dem die Zu- 
kunft gehört, das schon geboren ist> sich aber der Welt 
noch nicht zeigen darf und deshalb in der Stille, von 
der Mehrzahl der Zeitgenossen, zumal den höheren 
Ständen, kaum beachtet, zum Licht strebt Und wie- 
derum die innigsten Berührungen zwischen Altem und 
Neuem, wie zwischen der christlichen Weltanschauung 
und der stoischen Philosophie, zwischen der christ- 
lichen Verachtung aller irdischen Güter, auch des 
Wissens, und der Armenieutephilosophie der Kyniker 
in Rom und Athen! Bildet doch diese Periode eine 
Scheide zweier Weltalter^ wenn man dies stolze Wort 
von Verhältnissen auf unserem Planeten gebrauchen 
darf, eine Scheide, nicht scharf und schroff abgegrenzt, 
sondern, wie überall im geschichtlichen Leben, ein 
Grenzgebiet, auf dem Altes und Neues, Verwelkendes 
und Erblühendes sich miteinander vermischen, sich 
durchdringen, ineinander verschwimmen. 

Von dieser für die Folgezeit bis auf die Gegenwart 
so bedeutsamen Periode, die noch kürzlich durch den 
Roman des Polen Sienkiewicz dem Interesse der ge- 
samten Kulturwelt, wenn auch nicht in allen Zügen 
richtig, so doch zum Greifen deutlich vor Augen ge- 




VI 



stellt wurde, haben trotEdem die meisten unserer „Ge- 
bildeten** eine nur sehr unzureichende Kenntnis. Viele 
stellen sie sich einfach als ein Zeitalter furchtbarster 
geistiger und sittlicher Dßcadence vor, in dem die Men- 
schen von Grausamkeit und Wollust erfüllt auf nichts 
als Sinnenkitzel und banausischen GenuB bedacht ge- 
wesen seien. Daß diese Anschauung durchaus einseitig 
ist und nicht einmal für die Großstadt Rom ein richtiges 
Bild gibt, weiß jeder, der auch nur Friedländers Römi- 
sche Sittengeschichte durchgeblättert hat Wer aber die 
Quellen selbst kennte der weiß längst, daß insbeson- 
dere das sittlich-religiöse Gefühl in breiten Schichten 
der griechisch-römischen Bevölkerung nicht nur wirk- 
lich lebendig, sondern in beständigem Wachsen be- 
griffen war. Nicht nur ergreifende Äußerungen in der 
damaligen Literatur zeigen das, sondern sogar die Steine, 
d, h. zahlreiche Inschriften und bildliche Darstellungen, 
z. B, auf Sarkophagen, Urnen und Grabdenkmälern. — 
Die Beschäftigung mit dem eigenen Ich wird für die- 
jenigen, deren Seele in den Beschäftigungen des All- 
tages kein Genüge findet, immer mehr zur Hauptsache. 
^Wer bin ich? Wozu bin ich auf der Welt? Welchen 
Platz nimmt der Mensch im Kosmos ein? Worauf 
kommt es in Wahrheit für uns an?" ~ Dies und Ver- 
wandtes sind die Fragen, die damals Tausende ernster 
Menschen Tag und Nacht beschäftigen. Einer der 
Besten der Zeit sagt einmal: „Der Anfang der Philo- 
sophie — d. h. in dieser Zeit: der Lebensweisheit — 
ist die Wahrnehmung der eigenen Schwäche und Ohn- 
tnacfat den notwendigen Dingen gegenüber." — Das 



VII 



Bedürfnis nach Erlösung von dieser Welt der Unvoll- 
kommenheit und Rätsel ist in Tausenden je nach ihrer 
Eigenart mehr oder weniger lebhaft und nicht erst seit 
den Tagen des „Antichrists", des Kaisers Nero — es 
erwacht schon in der Zeit Alexanders, als das maze- 
donische Reich die griechischen Bürgerstaaten aufge- 
sogen hatte. Freilich wird die Masse der Bevölkerung, 
zumal im kaiserlichen Rom — wie heute — von der 
Jagd nach materiellem Gewinn und Sinnengenuß be- 
herrscht ^Panem etCircenses!" ist der Ruf des haupt- 
städtischen Proletariats: Hunger und Schaulust — die 
rohste Art des geistigen Hungers — sind ihre Haupt- 
triebe, und die römischen Cäsaren wußten wohl, warum 
sie solch ungeheuerliche Summen für die Spiele und 
Kämpfe im Zirkus und im Theater aufwendeten* Eine 
ernsthafte soziale Gärung hat das kaiserliche Rom trotz 
seines massenhaften Proletariats nicht gekannt ~ In 
den Kreisen des Hofes aber, überhaupt der vornehmen 
römischen Gesellschaft herrscht bei wahnsinnigem Luxus 
trotz aller rhetorischen Scheinbildung geistige Öde und 
Blasiertheit, überhaupt eine müde Skepsis allen Gütern 
des Lebens gegenüber — abgesehen von äußeren Ehren 
und persönlichen Vorteilen* 

In dieser Zeit treten in Italien und Griechenland, ja 
auch in Kleinasien und Syrien, eine Reihe Männer auf, 
die man am besten als Sittenprediger bezeichnet ~ sie 
selbst nennen sich ^.Philosophen"; wie weit mit Recht, 
wird sich nachher ergeben. Meist Angehörige der kyni- 
sehen oder stoischen Sekte, wenden sie sich mit ihrer 
populären Predigt an die breiten Massen des Volkes, 



VIII 



ayf der Straße und auf dem Markt, beim Werktags- 
treiben wie bei Festversaramlungen. Schon durch ihre 
äußere Erschemung ziehen sie die Blicke der Menge 
auf sich. Nur mit dem Tribon angetan^ einem doppelt 
umlegbaren^ ärmellosen Kleidungsstück, das die rechte 
Schulter frei läßt und kaum bis auf die Knie reicht, 
dazu barfuß und nur mit Stab und Ranzen ausgerüstet 
— so ziehen sie von Ort zu Ort, von milden Gaben der 
Menge lebend, die heimlich über sie lacht und der sie 
doch imponieren. — Solche Gestalten waren schon 
einmal in der antiken Welt aufgetaucht, in den Tagen 
des großen Alexander und der Diadochen, als die 
griechische Gesellschaft begonnen hatte, sich in ihre 
Elemente zu zersetzen. Aber während es damals nur 
einzelne Originale bzw. Charaktere gewesen waren, die 
der griechischen Gesellschaft durch Wort und Tat ge- 
zeigt hatten, wie weit man sich von ihr emanzipieren 
könne, treten jetzt diese „Philosophen" in Scharen auf 
und halten vor einem stets zahlreichen Publikum aus 
allen Schichten der Bevölkerung, zumal aber der unteren 
Stände, ihre Vorträge über Tugend und Glückseligkeit, 
die Jeder, der will, erwerben kann. Freilich bringen 
viele unlautere Elemente unter ihnen den Namen des 
Philosophen in Mißkredit — elende Heuchler und 
Schmarotzer, Prahler und Lüstlinge, wie sie besonders 
Lukian in manchen seiner Satiren mit beißendem Spott 
entlarvt hat, aber es gibt doch auch wirkliche Charak- 
tere unter ihnen, die von reinstem Streben beseelt, die 
sittliche Besserung ihrer Mitmenschen zu ihrem Beruf 
erwählt haben, um sie so zum wirklichen Glück hinzu- 



IX 



führen. Diese Männer legen für ihre hohen Lehren vor 
■ allem durch ihr Leben ein mächtiges Zeugnis ab; so 
der Kymker Demetrius, den Seneca nicht genug preisen 
kann, dann Demonax, der Typus des milden Menschen- 
freundes und Seelsorgers, der dem Kynismus nahe- 
stehende Stoiker Musonius Rufus und allen voran 
Epiktet, der nicht nur auf viele der Besten seiner 
Zeit einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, sondern 
auch auf die Nachwelt eine überraschend tiefe Wirkung 
geübt hat 

Die Form, in der diese Moralisten sich an die Menge 
wenden» pflegt seit dem letzten Jahrzehnt wieder mit 
ihrem antiken Namen „Diatribe** genannt zu werden. 
Sie ist deshalb von allgemeinem Interesse, weil, wie zu- 
erst Wilamowitz in seinem Exkurs „Der kynische Pre- 
diger Teles*" gezeigt hat, von ihr die Fäden unmittelbar 
zu den christlichen Predigern der ersten Jahrhunderte 
und von da bis ins Mittelalter führen. — Wenn Plato 
für die tiefsten philosophischen Erörterungen, die in 
einem Kreise Auserwählter stattfanden, als Kunstform 
den Dialog erfunden und meisterhaft gehandhabt hattCi 
so eignete sich dieser doch nicht für moralische Dar- 
legungen, die sich an die breite Masse der Menschen, 
gleichviel welches Bildungsgrades, wendeten. Man gab 
daher die streng dialogische Form seit dem Auftreten 
des Diogenes und anderer auf und ließ die Gedanken 
durch einen einzigen vortragen, der die Einwürfe eines 
fingierten Gegners, der mit einem „Aber" oder „sagt 
er" eingeführt wird, widerlegt Zugleich verzichtet man 
auf die edle Ausdrucksweise der platonischen Dialoge 



und nähert durch korze Sätze und saloppe Diktion die 
Sprache der des täglichen Lebens an, sucht aber dabei 
doch durch rhetorische Mittel, wie Beispiele aus Sage 
und Geschichte, aus Homer und Euripides, durch schla- 
gende Vergleiche, Allegorien^ Personifikationen der 
Dinge, auch wohl durch eine Anekdote, auf das bunt 
zusammengewtirfelte Publikum einen fesselnden Reiz 
auszuüben, — Inhaltlich sind diese Diatnben volks- 
tümliche Erörterungen über Fragen der praktischen 
Moral: vom Tode, von der Verbannung, von Armut und 
Reichtum, von der Ehe, vom Alter, gegen den sinnlichen 
Genuß, die Habsucht, den Luxus, die Inkonsequenz und 
Ruhelosigkeit der Menschen, andererseits über die sitt- 
liche Übung, die Abhärtung, die Tugend, den Frieden 
des Gemütes, die wahre Freiheit und vieles andere. 
Es sind aus älterer Zeit überkommene Themata, über 
die diese Popularphilosophen sprechen» und ihre Ge- 
danken halten sich meist in den überlieferten Geleisen, 
ganz wie bei den altchristlichen Predigern und Schrift- 
stellern. Und manche Argumente für das Walten der 
Vorsehung oder über das wahre Glück des Menschen 
sind schon im dritten Jahrhundert vor Christus oder zur 
Zeit Neros und Domitians von diesen antiken Wander- 
predigern vorgetragen worden, deren Erbe das alte 
Christentum in Polemik und Apologie ebenso skrupel- 
los wie geschickt für seine Zwecke verwendet hat 

In den Rahmen dieser eigenartigen Literaturgattung 
fällt aber nicht nur der größte Teil der uns erhaltenen 
Ausführungen des Epiktet, sondern — abgesehen von 
Resten aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert — 



XI 

auch ein nicht unbedeutender Teil der Schriften des 
Cicero wie des Seneca und last not least der Satiren 
und Episteln des Horaz. 



Die zurZeit des Piaton und Aristoteles Himmel und Erde, 
Weltall und Einzelleben umspannende Philosophie 
war mit unter dem Einfluß der politischen und kultu- 
rellen Entwicklung im Laufe der nächsten drei Jahr- 
hunderte zur Ethik und diese seit der Begründung des 
Kaiserreichs zur praktischen Lebensweisheit» ja zur Moral 
des gesunden Menschenverstandes, des richtigen Ge- 
fühls, zusammengeschrumpft. Nicht einmal von einem 
wirklichen System der Ethik, wie es die alte Stoa be- 
gründet, die mittlere durch Panaitlos und Poseidonios 
erneuert und vertieft hatte, ist noch die Rede, Aber die 
Kardinalfrage, die schon die Metaphysik des Zeno und 
des Chrysipp beeinflußt hatte, ist noch dieselbe wie 
damals: ^Wie werden wir dauernd glücklich?"^ Kommt 
es doch diesen Moralisten und ihren zahlreichen Hö- 
rern allein auf den Frieden des inneren Menschen an. 
Zwei Richtungen sind unter diesen Aposteln der Sitt- 
lichkeit zu unterscheiden: Kynismus und Stoa, 

Schon die alten Kyniker, Sokrates' Schüler Antis- 
thenes wie seine Nachfolger Diogenes und Krates, der 
auf sein großes Vermögen freiwillig verzichtete, hatten 
tief erkannt, daß das unzerstörbare Glück des Menschen 
auf der Entsagung beruhe, Ihre Kernlehre ist die von 
der Freiheit, die ihnen mit Tugend und Glück eins ist 
Unter Freiheit aber verstehen sie ein Doppeltes: die 



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Unabhängigkeit nach außen — von allem Äußeren, nicht 
nur vom Körper, Besitz, Ansehen und Ruhm, nein, so- 
gar von der Familie und Freundschaft, von Beruf, Staat 
und Vaterland, so daß der einzelne ganz in sich selbst 
Genüge findet: sie nennen das die „Autarkie** — und 
die Unabhängigkeit nach innen, den Regungen und Be- 
gierden der eigenen Natur gegenüber; die „Apathie", 
denn dieser Ausdruck hat bei ihnen seine ursprüng- 
liche Bedeutung; „Freiheit von Affekten", nicht die- 
jenige, die wir ihm heute beilegen. 

Nur die Tugend ist ein Gut, nur das Böse ein Übel; 
alles übrige auf der Welt ist für den Menschen ein 
„Adiaphoron*', d, h. es kommt nichts darauf an. Da 
aber der kynische Tugendbegriff mit dem der Freiheit 
zusammenfällt und diese nach außen hin die äußerste 
Bedürfnislosigkeit ist, so stehen sie allen Errungen- 
schaften der menschlichen Kultur grundsätzlich ableh- 
nend gegenüber, dem Staat wie der Kunst, dem Fa- 
milienleben wie der Wissenschaft, Anstatt dessen stellen 
sie das Leben „gemäß der Natur" als Ideal auf, das 
sie mit radikaler Konsequenz in die Wirklichkeit um- 
setzen, was freilieh in Südeuropa bei dem milden Klima 
und der freigebigen Natur leichter durchzuführen war, 
als es bei uns im Norden sein würde, Sie negieren 
aber, indem sie ihr Prinzip überspannen, nicht nur Staat 
und Vaterland, sondern in Wahrheit überhaupt die ganze 
menschliche Gemeinschaft, sind also kraß individuali- 
stisch; wenn es nach ihnen ginge, würde sich diemensch- 
liche Gesellschaft in ihre Urbestandteite auflösen, so daß 
man sie die Atomisten unter den Ethikern nennen könnte. 



xin 



Daß sie in der praktischeii Durchführung ihres Ideals 
im Gegensatz zu der so wunderbar reichen griechi- 
schen Kultur oft zu auffallenden Ergebnissen gelangten, 
leuchtet ein; so wettern sie z. B. nicht nur gegen den 
Luxus und gegen den Reichtum, sondern auch gegen 
die Reichen selbst, die nach kynischer Anschauung in 
Wahrheit ein jammervolles Dasein voll Sorge und voll 
Überdruß haben. Bei ihrem Haß gegen die Reichen aber 
eine soziale Umwälzung im Sinne einer gleichmäßigen 
Güterverteilung herbeizuführen, kann ihnen schon des- 
halb nicht in den Sinn kommen, weil alle wirtschaft- 
lichen und gesellschaftlichen Güter, wie Geld und Gut, 
Titel und Würden, die von den Proletariern unserer 
Tage in ebenso törichter wie verhängnisvoller Weise 
überschätzt werden, für diese „Philosophen des griechi- 
schen Proletariats", wie sie ein Zeitgenosse Goethes 
genannt hat, überhaupt keine Bedeutung haben! Denn 
was haben irdische Dinge mit dem Frieden der mensch- 
lichen Seele zu tun? — So beschränken die Kyniker 
ihre Nahrung auf Gerstengraupen, Lupinen, Feigen und 
Wasser, übernachten unter den Säulenhallen der Tem- 
pel oder in den Badeanstalten uod ertragen Hitze und 
Kälte, Hunger und Durst in fast übermenschlicher 
Weise. Denn oft treiben sie ihre Bedürfnislosigkeit 
und ihre Abhärtung bis zur bewußten Askese; auch 
dies Wort, das Übung bedeutet, hat schon Diogenes 
angewendet- 

Aus der kynischen Literatur der Kaiserzeit sind nur 
wenige, zum Teil allerdings merkwürdige Reste er- 
halten. Aber auch sie zeigen zur Evidenz, daß die Haupt- 



XIV 



stärke der Kyniker die Verneinung ist Das wird auch 
an ihrer Stellung zur Religion offenbar. Gegen den Poly- 
theismus, gegen die griechische Götterwelt, haben sie 
zur Zeit Alexanders wie zu der' Marc Aureis heftig ge- 
eifert und auch dadurch den streitbaren Kämpfern der 
alten Kirche die Waffen geliefert; aber etwas Positives 
haben sie dafür nicht an die Stelle gesetzt. Zwar haben 
sie die Existenz der Gottheit nie bestritten, vielmehr 
gelegentlich ihre Einzigkeit betont, im übrigen aber das 
religiöse Element, ohne dessen Pflege das Menschen- 
herz keine Ruhe findet, völlig unbeachtet gelassen, Ihre 
ganze Ethik, so streng und radikal sie ist, bauen sie 
ausschließlich auf ihrer Lehre von der Natur auf; die 
Gottheit spielt bei ihnen keine Rolle. 

Es liegt in der Natur des Kynismus, in seinem ex- 
tremen Standpunkt, seinem krassen Individualismus be- 
gründet, daß er stets nur für einzelne willensstarke In- 
dividuen praktische Bedeutung gehabt hat Es wären 
daher auch die berechtigten Momente der kynischen 
Lehre auf einen kleinen Kreis beschränkt geblieben, 
wenn sie nicht durch Zeno, der gegen das Ende des 
vierten vorchristlichen Jahrhunderts noch den Kyniker 
Krates gehört hatte , dem Gebäude der Stoa für alle 
Zeit eingefügt wären. Nur so haben sie in die Breite 
wirken können. 

Erst bei der Stoa kann man von einem wirklichen 
System der Philosophie sprechen, das das gesamte 
menschliche Wissen in seinen Bereich zieht und in or- 
ganischer Gliederung behandelt Logik, Physik und 
Ethik sind nach stoischer Lehre die drei Hauptteile der 




XV 



Philosophie. Dabei ist jedoch in dem, was sie Logik 
nennen, die Erkenntnistheorie, in ihrer Physik die Meta- 
physik und die Anthropologie, insbesondere die Psy- 
chologie einbegriffen. Aber wenn auch die Logik und 
Physik durch Zeno und besonders durch Chrysipp, den 
„zweiten Gründer der Stoa", aufs eingehendste behan- 
delt werden, so werden sie doch schon in der alten 
Stoa am letzten Ende durch den ethischen Gesichts- 
punkt beherrscht; Logik müssen wir treiben, um für un- 
ser Handeln richtige Urteile und Schlüsse bilden, mit 
der Erforschung der Natur uns beschäftigen, um „gemäß 
der Natur'* leben zu können. — Auf die stoische Lo- 
gik, die übrigens in der Geschichte der menschlichen 
Erkenntnis nicht ohne Bedeutung ist, braucht hier nicht 
eingegangen zu werden, da sie in der späteren Stoa, 
bei Epiktet wie Marc Aurel, nur noch untergeordnete 
Bedeutung hat Dagegen müssen hier die Grundzüge 
der stoischen Physik und Ethik zum Verständnis der 
Darlegungen Epiktets kurz entworfen werden. 

Die Welt Ist ein zusammenhängendes Ganzes, das 
aus Himmel und Erde und den in ihnen beschlossenen 
Wesen besteht. Eine wunderbare Ordnung beherrscht 
sie, die darum Kosmos genannt wird ^ Das zeigt schon 

1 Das Wort Kosmos heißt ursprünglich die Ordnung. Noch 
das deutsche Sprichwort birgt einen Nachklang der An- 
schauung, daß Welt und Ordnung untrennbare Begriffe sind- 
Ein hochinteressantes „Weltbild im Umriß**, eine Vermitt- 
lung zwischen stoischer und aristotelischer Weltansicht gibt 
übrigens die aus dem ersten Jahrhundert nach Christus 
stammende Schrift ^Von der Welt", von der ich eine Über- 
setzung im gleichen Verlag im Laufe des Jahres erscheinen lasse. 




XVI 



die untrügliche Bahn der Planeten und der stete Wechsel 
der alles Leben heraufführenden Jahreszeiten. Dieser 
Kosmos ist ein beseeltes, vernünftiges Wesen — durch- 
waltet doch das gesamte All eine einzige, nach den 
Zwecken der vollkommenen Vernunft wirkende Macht, 
die je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet, 
als Natur, Notwendigkeit, Verhängnis^ insbesondere aber 
als der Logos: die Weltvernunft bezeichnet wird. Die- 
ser Logos, der zugleich das innere Gesetz der Dinge 
ist» waltet in allem; er wirkt in der Fixsternsphäre wie 
in den unterirdischen Kräften der Vulkane, im Brausen 
des Sturmes wie im Wogen des Meeres, er ist auch im 
Samen der Pflanze wie des Tieres die schöpferische 
Kraft, durch die alles^ was da ist, wird, wächst und ver- 
geht; und ebenso ist er im Wachstum des Getreides, 
im Werden der Baumblüte wie im geheimen Weben 
und Regen der Menschenseele die schaffende und ge- 
staltende Macht; nichts auf der Welt geschieht ohne 
sein Zutun, er ist die letzte Ursache aller Dinge, die das 
Ganze zusammenhält: die Gottheit — Nicht außer- 
oder überweltlich wird diese von den Stoikern ge- 
dacht, vielmehr ist sie mit der Materie unlöslich ver- 
bunden, sie ist den Dingen immanent; was wir täglich 
mit leiblichen Augen schauen, der Aufgang der Sonne 
in ihrer Pracht, die hehre Klarheit des Sternenhimmels, 
das Wachsen der Saat, Wälder und Felder ^ Wolken 
und Winde, überhaupt der ganze sichtbare Kosmos ist 
nichts anderes als der Gottheit lebendiges Kleid. Kraft 
und Stoff, Körper und Geist sind nur zwei verschiedene 
Seiten ein und desselben Wesens, untrennbar mitein- 



XVII 



I 



I 



p 



I 



ander verbunden: die stoische Anschauung ist moni- 
stisch, ja in gewisser Hinsicht materialistisch, insofern 
der Logos als der ganz feine feurige Hauch, äasPneama 
oder der Äther, der alles durchdringt, vorgestellt zu 
werden pflegt — Insofern aber der Logos alles nach 
höchsten Zwecken gestaltet, wird er als „Vorsehung** 
aufgefaßt — eine Bezeichnung, die schon im dritten 
Jahrhundert vor Christus der alten Stoa geläufig und 
später vom Christentum Obernommen ist Diese Vor- 
sehung wirkt alles Geschehene in vollkommener Weis- 
heit, so daß das gesamte All, dessen Teile sämtlich in 
Wechselwirkung miteinander stehen, eine einzige, wun- 
derbare Harmonie bildet Das Einzelne vergeht, damit 
das Ganze besteht In dem ewigen Wechsel der Dinge 
erhält sich das Ganze, bis am Ende dieser Weltperiode 
das Urfeuer alles Gewordene in sich wieder zurück- 
nimmt, um danach wieder eine neue Welt erstehen zu 
lassen K 

Unter diesem Gesichtspunkt wird auch der Mensch 
betrachtet: als ein Teil des Ganzen, der, wie alles Ge- 
wordene, dem allgemeinen Weltgesetz unterworfen ist 
Im Verhältnis zum Kosmos ist der einzelne nur wie ein 
Staubkorn, seine Lebensdauer ist eng begrenzt, flüchtig 
und unwiederbringlich wie eine Stunde des Tages. Eine 
persönliche Unsterblichkeit ist dem Stoiker fremd: mit 
dem Tode löst sich der Körper wieder in die vier Ele- 
mente auf, aus denen er einst ward, die Seele aber kehrt 
in die Allseele zurück, — — 

^ Die Lehre von der Ekpyrosis braucht hier, da für 
Epiktet ohne Bedeutung, nicht näher behandelt zu werden. 
U Epiktet, Haüdbüchlein der Moral 




xvni 

Wer die Grundtatsachen der Physik sich wirklich zu 
eigen gemacht hat, wird sein äußeres wie sein inneres 
Leben danach einzurichten streben. Denn nur wer im 
Einklang mit der Natur lebt, erlangt die Eiidaimonia: 
das „Glück** oder schärfer übersetzt: die Gottselig- 
keit^ Denn das naturgemäße Leben ist mit der Tu- 
gend gleichbedeutend, und nur die Tugend führt zur 
Glückseligkeit Um aber gemäß der Natur zu leben, 
muß man zunächst seiner eigenen Natur entsprechen, 
d. h, wirklich frei werden, also die Autarkie wie die 
Apathie erwerben ^j ohne Leidenschaft und Begierde 
muß sein, wer seine Natur nicht schweren Störungen 
aussetzen wilL Zugleich aber muß der „ Weise "^ im Ein- 
klang mit der Allnatur leben: in alles was der Weltlauf 
mit sich bringt, sich willig fügen — nicht etwa, weil es 
unabänderlich ist, sondern weil der Weltlauf vollkom- 
men vernünftig, also gut ist Denn auch das scheinbar 
Widersinnige und das Häßliche, ja auch die Katastrophen 
In der Natur wie im Menschenleben haben ihren Zweck in 
der Welt und sind für die Symphonie des Weltganzen, die 
eben auf dem Widerstreit der Dinge beruht, notwendig- 

Das Einzelwesen freilich muß sich den Zwecken des 
Ganzen unterordnen. Ein wirkliches Übel aber gibt 
es für den Guten ebensowenig, wie dem Schlechten ein 
wirkliches Glück widerfährt Armut und Verbannung 
z. B, haben ihre Vorzüge, der Tod ist naturgmäß und 



^ Eudaimon bedeutet eigentlich den, in dem ein guter 
Dämon wohnt. * Vgl. oben S. XIL Übrigens decken sich 
diese Begriffe bei den Stoikern nicht ganz mit den kynischen. 
' In diesem Begriff verkörpert sich das stoisclie Lebensideal. 



XIX 



darum nichts Schlimmes, die Krankheit wie viele andere 
„Umstände**! sind für den Tüchtigen nur Gelegenheiten 
zur siülichen Vervollkommnung, zur Übung in der Ge- 
duld, der Sanftmut, der Selbstbeherrschung, der Tapfer- 
keit und Seelengröße* Wundervoll sagt Marc Aurel: „Die 
Seele macht das ihr Entgegengebrachte für sich zum 
Stoff: gerade wie das Feuer durch Überwältigung der 
hineinfallenden Gegenstände, von denen ein kleines 
Licht erlöschen würde. Das helle Feuer dagegen macht 
sich alsbald das Zugebrachte zu eigen, verzehrt es und 
lodert eben davon um so höher empor," — 

Da den Stoikern die Natur mit Gott identisch ist, so 
trägt die von ihnen so eindringlich gepredigte Ergebung 
einen durchaus religiösen Charakter. So sagt Epiktet: 
„Wage es, zu Gott aufzuschauen und zu sprechen: Ge- 
brauche mich fortan, wozu du willst Ich stimme dir 
zu; dein bin ich. Nichts von allem, was dir gut scheint^ 
lehne ich ab. Führe mich, wohin du willst Gib mir die 
Rolle, die du willst Willst du, daß ich ein Amt bekleide 
oder Privatmann bin, im Lande bleibe oder fliehe, arm 
oder reich bin? Ich werde wegen all dieser Umstände 
den Menschen gegenüber zu deinem Lobe sprechen.** — 
An andererstelle sagt er: „Wenn mich der Tod ereilt, 
dann bin ich zufrieden, wenn ich zu Gott meine Hände 
erheben und sprechen kann: Die Gaben, die ich von 
dir empfangen habe, um dein Walten zu erkennen und 
ihm zu folgen, die habe ich nicht verkümmern lassen. 
Ich habe dir keine Schande gemacht, soviel an mir lag. 
Habe ich ]e wider dich gemurrt? War ich je unzu- 

*■ Auch dieser Ausdruck ist von den Stoikern geprägt. 



XX 



frieden mit dem, was geschah oder wollte ich es anders 
als es geschah? Daß du mich hast werden lassen, 
danke ich dir. Dank gegen dich erfüllt mich für alles, was 
du mir gegeben. Soweit ich deine Gaben gebrauchen 
darf, genügt es mir. Nimm sie zurück und verwende 
sie, wo du willst; denn dein ist alles, du hast es mir 
gegeben," — In demselben Sinne äußert sich Marc 
Aurel: „Mein Wesen ist mit allem im Einklang, was mit 
dir zusammenstimmt, o Kosmos. Nichts kommt mir zu 
früh oder zu spät, was dir zur rechten Zeit kommt Alles 
was deine Zeiten bringen, o Natur, gilt mir als Frucht 
Von dir alles, in dir alles, zu dir alles." — Und 
an anderer Stelle: „Alles, was geschieht, ist mir so ge- 
wohnt und vertraut wie die Rose im Frühling, die Frucht 
im Herbst; so auch Krankheit und Tod; wenn man mich 
verleumdet oder mir zu schaden sucht" — Solche Äuße- 
rungen, die den religiösen Charakter der stoischen An- 
schauung zeigen, sind schon im Geist der alten Stoa 
tief begründete 

In jedem Menschen lebt ein göttlicher Funke, seine 
Seele, die von der Allseele nur ein Absenker ist So 
sind alle Menschen gleicher Abstammung; in jeder 
menschlichen Seele weht Gottes Geist Alle sind mit- 
einander verwandt, sie sind, wie die späteren Stoiker 
dies religiös ausdrücken, Kinder eines Vaters und da- 
her Brüder So kommen die Stoiker folgerichtig zur 
Lehre von der PAto/ifAropm, der allgemeinen Menschen- 
liebe, ja schließlich — unberührt vom Christentum — 

» Man vergleiche die Verse des Kieanthes am Schluß von 
Epiktets Handhüchlein. 



XXI 



bis zur Feindesliebe. Marc Aurel sagt einmal: „Ich, der 
ich die Natur des Fehlenden selbst betrachtet habe und 
bedenke, daß er mit mir verwandt ist, nicht aus dem- 
selben Blut oder Samen, sondern demselben Geist, und 
daß er mit mir an der göttlichen Abkunft teil hat, kann 
von keinem meiner Mitmenschen Schaden erleiden. Denn 
in Schande wird mich keiner bringen können. Ich kann 
meinem Verwandten weder zürnen noch ihn meiden. 
Denn wir sind zum Zusammenwirken geboren, wie die 
Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der Zähne 
oben und unten. Einander entgegenzuhandeln ist daher 
wider die Natun Wer aber seinem Mitmenschen zürnt 
oder ihn meidet, handelt ihr entgegen.** — Der Trieb 
zur Gemeinschaft ist nach stoischer Anschauung einer 
der Grundtriebe des Menschen, wie besonders die 
späteren Stoiker mit Vorliebe betonen. Aber schon für 
die alte Stoa, für Zeno wie Chrysipp war diese Lehre 
im System ihrer Ethik von grundlegender Bedeutung. — 
Erst die Stoa hat die nationalen Schranken zwischen 
Hellenentum und Barbarentum überwunden und sich 
zum Begriff der Menschheit erhoben, der durch sie Ge- 
meingut geworden ist Der Kosmopolitismus — auch 
der Ausdruck ist ihr von Anfang an geläufig — ist von 
ihr aufs nachdrücklichste vertreten worden, in den 
Reichen der Nachfolger Alexanders wie im Imperium 
Roraanum, Die Stoiker haben auch den Unterschied zwi- 
schen Sklaven und Freien innerlich aufgehoben. Wohnt 
doch der Logos in allen, im Griechen wie im Syrer, im 
Staatsmann wie im Sohne der Sklavin ! Und wahrhaft frei 
ist ja nur der Weise; wer aber dem Affekt oder der Be- 




XXII 

gierde unterliegt, ist Sklave, mag er auch dreimal Konsul 
gewesen sein und ihm zwölf Liktoren voraüfmarschieren! 



Kynismus und Stoa — das sind die beiden Hauptwur- 
zeln von Epiktets Lebensanschauung. Gewiß, Epiktet 
ist Stoiker, aber mit stark kynischer Färbung: das zeigt 
schon die hervorragende Rolle, die die Unterdrückung 
der Affekte in seiner Ethik spielt Das zeigt noch mehr 
seine Stellung in der Güterlehre, Zwar stimmt diese 
auch in der alten Stoa in der Hauptsache mit dem Ky- 
nismus überein -- das einzige wirkliche Gut ist die 
Tugend — -, aber Zenon und Chrysipp hatten mit Rück- 
sicht auf das praktische Leben unter üen Adiaphora diu 
verschiedene Abstufungen gemacht Solche Unterschiede 
haben für Epiktet kaum noch Bedeutung; außer dem 
sittlichen Willen, der zur Tugend führt bzw. mit ihr 
identisch ist, gibt es kein wahres Gut: Besitz, Ehre, Amter 
und Würden, Familie und Freunde ™ alles Irdische darf 
für uns keine andere Bedeutung haben als das Bett in 
der Herberge: wir benutzen es, solange es uns vergönnt 
ist — ohne unser Herz daran zu hängen. — Der Ky- 
nismus Ist von Epiktet in seinen Diatriben öfter, be 
sonders in der 22, des dritten Buches, geradezu ver- 
herrlicht, ja in grandioser Weise verherrlicht worden: 
Diogenes gilt ihm ebensosehr als Ideal wie Sokratei 
Auch die vulgärgriechische und zuweilen sehr drastische 
Sprache seiner Diatriben ist oft kynisch gefärbt In 
diesen Zusammenhang gehört auch seine Stellung zur 
Wissenschaft. Was nützt es, die Werke des Chrysipp 



3« 

I 



A 



xxm 



gelesen zu haben oder gar selbst erklären zu können, 

wenn man nicht danach lebt! Was nützt alle Gelehr- 
samkeit, wenn ich dadurch nicht ein anderer Mensch 
werdet — Noch bezeichnender ist Epiktets Standpunkt 
zur Naturwissenschaft, wie ihn Fragment 1 zeigt i. Auch 
die Dialektik ist ihm nur ein Durchgangspunkt auf dem 
Wege zur Tugend, wie dem Wanderer das Gasthaus 
auf dem Wege zur Hei matt Und seine Definition der 
Philosophie als „Lebenskunst" würde jeder Kyniker 
ebenso akzeptieren wie den folgenden Satz: „Philo- 
sophieren heißt: untersuchen, wie man, ohne in Ver- 
wicklungen zu geraten, strebt und meidet.'* — 

Und doch ist er beileibe kein Kynikerl Er ist und 
bleibt Stoiker trotz des kynischen Einschlags. Das zeigt 
zur Genüge das religiöse und das sozialethische Mo- 
ment, die beide für seine Lebensanschauung von grund- 
legender Bedeutung sind. Ja, die religiöse Anschauung 
überwuchert bei ihm die philosophische. Und das mono- 
theistische Moment überwiegt bei ihm — wie bei Seneca 
und Marc Aurel — das pantheistische'^. Er nennt Gott 
den Schöpfer der Welt wie der Menschen und aller 
Dinge, „Daß ihr Gott zum Schöpfer, zum Vater und 
Pfleger habt — wird euch das nicht aus Kummer und 
Ängsten reißen?" sagt er einmal zu seinen Zuhörern. 
„Kein Mensch ist verwaist, sondern für alle sorgt immer 
und ewig der Vater." ™ Besonders ergreifend weiß er die 
Ergebung in die Fügungen Gottes und die Dankbarkeit 
für seine Wohltaten zu predigen. „Wenn wir Einsicht 
hätten, dürften wir etwas anderes tun, als Gott lobsingen 

* Vgl. S, 65. ' Das ist durch die mittlere Stoa aogebahnt. 




XXIV 



und seine Güte preisen?*' sagt er an der schönen Stelle 
[ 16, 15 ff. — Der Mensch ist ihm (mit Poseidonios) der 
bewundernde Zuschauer und Erklärer der Werke Gottes, 
Im Mittelpunkt der Betrachtungen Epiktets — denn 
die stoische Anschauung ist nicht nur geo-, sondern 
durchaus und konsequent anthropozentrisch — steht der 
Mensch. So atomenhaft aber der einzelne im Verhältnis 
zum All erscheint, so bedeutend ist die Stellung des 
menschlichen Gesctilechts als Ganzes, dessen bevor- 
zugte Stellung, zumal den „unvernünftigen Wesen", den 
Tieren, gegenüber er nicht genug rühmen kann* Nur 
der Mensch vermag Gottes Walten zu erkennen und 
ihm bewußt und freiwillig zu folgen, denn nur im Men- 
schen lebt der Logos, Die Überzeugung von der 
göttlichen Natur der Menschenseele — das ist 
der Angelpunkt der gesamten Anschauungen 
Epiktets^ Infolge ihres göttlichen Ursprungs hat jede 
menschliche Seele die Fähigkeit gut und dadurch glück- 
lich zu werden. „Gott hat alle Menschen zur Glückselig- 
keit, zur Wohlfahrt werden lassen/ — Auf die Gottver- 
wandtschaft des Menschen gründet Epiktet seine ganze 
Tugenden- und Pflichtenlehre. Der sittlich Tüchtige, der 
„Weise", trachtet danach, möglichst gottähnlich zu wer- 
den. Und wenn auch die sittliche Vollkommenheit nicht 
ganz für uns zu erreichen ist — nur wenige vermögen ein 
Sokrates zu werden — so hören wir darum doch nicht 
auf, an unserer Vervollkommnung unablässig zu arbeiten. 

* Damit kommt eine sokrati seh- platonische Grund- 
anschauung zum Durchbruch, die sicher schon in der mitt- 
leren Stoa stark hervorgetreten war. 



XXV 



Infolge ihrer gleichen Abstammung sind alle Menschen 
unsere Brüder. Auch der Sklave ist unser Bruder. Der 
Welse umfaßt daher mit seiner Liebe alle in gleicher 
Weise* Denn „von der Natur ist uns die Treue, die 
Liebe, die Hilfsbereitschaft, die Duldung gegeneinander 
eingepflanzt". Wenn unsere Mitmenschen fehlen, müssen 
wir ihnen nicht zürnen, sondern sie bemitleiden. Denn 
wer sündigt, tut es aus Unwissenheit über Gut und 
Böse. — Wie weit aber Epiktet von sittlicher Laxheit ent- 
fernt ist, zeigt unter anderem, falls es dessen überhaupt 
bedarf, seine Beurteilung des Ehebruches, der ihm als 
ein Verbrechen gegen die Grundlagen der menschlichen 
Gemeinschaft erscheint. — Einen Lohn der Guten, eine 
Strafe der Bösen in einem Jenseits kennt Epiktet nicht, 
da es für den Stoiker keine persönliche Unsterblichkeit 
gibt. Wie jede gute Tat ihren Lohn in sich selbst trägt, 
so besteht die Strafe der Schlechten eben in ihrem un- 
seligen Gemütszustand, ihrem lasterhaften Charakter* 

So individuell aber Epiktets Anschauungen gefärbt 
sind — sie gehen doch alle auf die Stoa bzw. den 
Kynismus zurück ^ Nur eine merkwürdige Abweichung, 
die aber Epiktet mit der gesamten späten Stoa gemein- 
sam hat, sei erwähnt: die auffallende Verachtung des 
menschlichen Körpers, wie sie an vielen Stellen der 
Diatriben zutage tritt. Der Körper ist „von Natur Kot", 
für die göttliche Seele nur eine lästige Fessel. Hier 
zeigen sich platonische Einflüsse, die den Stoikern der 

* Trotz scheinbar schlagender Parallelen ist eine Beein- 
flussung Epiktets durch christliche Anschauungen ausge- 
schlossen. 



XXVI 



Kaiserzeif durch die großen Vertreter der mittleren Stoa 
vermittelt sind. Der alten Stoa mit ihrer monistischen 
Grundauffassung sind sie ganz fremd. 

Wenn auch die Persönlichkeit Epiktets hinter ihrem 
Gegenstand fast gänzlich zurücktritt, so läßt sich doch 
bis zu einem gewissen Grade ein Bild von ihr aus den 
Diatriben gewinnen. Hier müssen jedoch einige An- 
deutungen darüber genügen, da ich dies bei anderer 
Gelegenheit in größerem Zusammenhange auszuführen 
hoffe* — Epiktet ist vor allem ein trefflicher Kenner 
des Menschenherzens, In manchen seiner Ausführungen 
überrascht geradezu seine tiefe Einsicht in das mensch- 
liche Wesen, das im Grunde heute noch dasselbe ist 
wie vor 1800 Jahren, eine Einsicht, die nicht nur auf 
scharfer Beobachtung seiner Mitmenschen, sondern 
offenbar auf intimer Kenntnis des eigenen Seelenlebens 
beruht Damit verbindet er eine Offenheit in sittlichen 
Dingen, eine fast unerhörte Rücksichtslosigkeit gegen 
sich und andere, die uns gerade heute, wo die Phrase 
die Welt regiert, wahrhaft wohltut Da wird nichts be- 
schönigt oder verschleiert, sondern rückhaltlos, doch 
voll aufrichtiger Liebe zu den Mitmenschen gezeigt, wo 
allein das wahre Gut zu finden ist^ Denn Epiktet ist 
— wie überhaupt der kynisch-stoische Sittenprediger — 
ein wohlmeinender, aber strenger Arzt Aber er ist weder 
Fanatiker noch Pharisäer. Er macht Ernst mit der sto- 
ischen Lehre vor aüem an sich selbst Das gerade ist das 

^ Es ist jedoch zu betonen, daß er bei allem Freimut die 
atdioi, das rechte Schamgefühl, nirgends verletzt 



4 



4 



i 



XXVII 



Erheb ende, daß sich Leben und Lehre bei ihm decken. 
Seine Zeltgenossen sind daher erfüllt von Verehrung für 
seine lautere Persönlichkeit Schon Arrians Zeugnis ge- 
nügt dafür Selbst die Christen im dritten und vierten Jahr- 
hundert, die so gern den ^.Heiden'' etwas am Zeuge flicken 
— selbst die hehre Gestalt des Sokrates verschonen 
sie nicht — , wagen die Reinheit von Epiktets Leben nicht 
anzutasten. „La vie est conforme ä sa doctrine^'K 

Durch sein Leben hat Epiktet das beredteste Zeugnis 
abgelegt und so eine mächtige Wirkung auf hoch und 
gering ausgeübt Er ist vor allem ein Mann der prak- 
tischen Wirksamkeit Während Marc Aurel in seinen 
Selbstbetrachtungen seinen Blick ausschließlich auf 
seine eigene Seele und ihr Verhältnis zu Gott und Welt 
richtet, hat Epiktet vor allem die sittliche Besserung 
seiner Zuhörer, ihre Gesinnungsänderungj ja, 
wenn man so will, ihre Bekehrung im Auge. Daher 
bietet er ihnen nicht graue Theorie, nicht abstrakte Er- 
örterungen in schwer verständlicher Terminologie, son- 
dern die frische lebendige Art der echten Diatribe, wie 
sie oben gekennzeichnet ist — 

Über das äußere Leben Epiktets wissen wir auffallend 
wenig. Er wurde zu Hierapolis in Phrygien um die 
Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als Sohn 
einer Sklavin geboren und später als Sklave nach Rom 
verkauft. Sein Herr ward zunächst Epaphroditos, ein 
neronischer Freigelassener, der unter Domttian hin- 
gerichtet wurde. Wie lange Epiktet als Sklave in Rom 

* Martha, Les moralistes saus Pempire romain, 7^^^^ idition, 
p. 156, L 




XXVIII 

gelebt hat, wissen wir nicht Jedenfalls ist er später 
freigelassen worden. Einen Teil seiner moralphilo- 
sophischen Bildung verdankt er seinem Lehrer, dem 
Stoiker Musonius Rufus, der unter Nero im Jahre 65 
nach der Insel Gyara verbannt wnrde. Das Schicksal 
der Verbannung traf unter Domitian im Jahre 93 auch 
Epiktet, als von jenem die Philosophen und Astrologen 
aus Italien ausgewiesen wurden. Epiktet mußte sich 
nach Nikopolis in Epirus begeben, jener Stadt, die 
von Augustus zur Erinnerung an den Sieg von Aktium 
an der Stelle gegründet war, wo am Tage vor der Ent- 
scheidung sein Hauptquartier gestanden hatte. Hier hat 
Epiktet bis an sein Lebensende gewirkt Und sein Wir- M 
kungskreis dort war bedeutend genug, denn bald drang ™ 
der Ruf von seinen die Gewissen aufrüttelnden Diatriben , 
bis in die Welthauptstadt, aus der man ihn verbannt hatte. ■ 
Vornehme Jünglinge römischer wie griechischer Nation 
kamen nach der „Siegesstadt", den phrygischen Freige- 
lassenen zu hören. Auch der Kaiser Hadrtan, der im Jahre 
124 bzw. 125 Nikopolis besuchte, soll ihn außerordent- M 
lieh geschätzt habend — Epiktet blieb unverheiratet^ ™ 
wie das zu seiner Auffassung von dem hohen Amt eines 
Sendboten des Zeus paßt^. Der Eros hat in seinem Leben ■ 
keine Rolle gespielt. Übrigens war er lahm ; ob von Geburt, 
wissen wir nicht: möglich, daß die Notiz bei Suidas richtig 
ist, die die Lähmung auf das Rheuma zurückführt». — 



* Die Ausführungen SchenMs machen es wenigstens wahr- 
scheinlich, daß Epiktet bis in die Zeit Hadrians (117—138) 
gelebt hat » Vgl. Diatr. III 22, 67 ff, (bei Grabisch S. 101 ff.)* 
' Die Geschichte bei Celsus ist wohl Legende. 



I 



XXIX 



Wie aufrichtig und tief Epiktet von Zeitgenossen wie 
von Späteren verehrt wurde, das sei hier noch durch 
zwei Tatsachen illustriert. Nach seinem Tode ward 
sein irdener Leuchter^ für 3000 Drachmen — also für 
rund 2400 M — von einem Verehrer gekauft. Merk- 
würdiger ist ein Zeugnis, das erst in unseren Tagen 
bekannt geworden ist. Auf einer Forschungsreise 
durch Kleinasien fand der Amerikaner Sterrett in der 
Berglandschaft Pisidien eine in Versen verfaßte In- 
schrift, die ein stoisch gebildeter Mann, der längere Zeit 
nach Epiktet lebte, als ein ^ Reisegeschenk" für den 
Wanderer in einen Felsen am Apollotempel bei der Stadt 
Anabura hat eingraben lassend Da wird der Sklave 
Epiktet begeistert gepriesen und am Schluß gesagt: 

^Möchte doch auch uns 
Seinesgleichen ein Mann als Quelle von Segen und Freude, 
Aller Wünsche eriüüend, als Sohn einer Sklavin erstehen I** 

Epiktet selbst hat nichts geschrieben — bei seinen 
Anschauungen völlig erklärlich. Einer seiner Hörer, 
der später ein hoher römischer Beamter ward — unter 
anderem verwaltete er in den Jahren 131 — 137 als 
Legatus Augmti pro praetore die Provinz Kappa- 
dokien — und sich auch als Geschichtsschreiber 
Alexanders des Großen einen guten Namen gemacht 
hat, hat die Ansprachen und Erörterungen seines Lehrers 
aufgezeichnet — wie er in jenem Brief an Gellius^ 

* Vordem hatte er einen eisernen gehabt Der war ihm 
aber gestohlen worden. An zwei Stellen der Diatriben er- 
wähnt dies Epiktet selbst * Die Inschrift ist von Georg 
Kaibel (im Hermes XXIÜ) erläutert worden. « oe^ Brief 
(bei Grahisch S. 7) verdient nachgelesen zu werden: er ehrt 




XXX 



sagt: nur zur Erinnerung- für seinen eigenen Gebrauch, 
Wider Wissen und Wüten Arrians kamen diese Aufzeich- 
nungen unter die Leute, wurden abgeschrieben und ver- 
vielfältigt. Aber nur ein Teil davon ist uns erhalten. Es 
waren wahrscheinlich acht Bücher, während wir nur noch 
vier besitzen. Das Handbüchlein(„Encheiridion"X das 
im folgenden in der von mir gänzlich umgearbeiteten Über- 
setzung von Grabisch^ gegeben wird, hat Arrian aus den 
von ihm aufgezeichneten Diatriben Epiktets zusammen- 
gestellt. Wer aber Epiktet wirklich kennen lernen will, darf 
seine Kenntnis nicht auf diese kleine Zusammenstellung 
beschränken, sondern muß die Diatriben lesen. „Wenn 
man die Diatriben liest, ist man erstaunt und entzückt, 
sich einem Menschen gegenüber zu befinden, während 
man bis dahin in dem Handbüchlein nur die Marmor- 
oder Bronzestatue des stoischen Ideals geschaut hatte ^. 
Bis ins vierte Jahrhundert waren Epiktets Diatriben 
und Handbüchlein allbekannt. Selbst die Christen, die 
ihm erst feindlich gewesen waren » suchten später sein 
Werk für ihre Zwecke auszunutzen ^ und die Oberein- 
stimmung ihrer Lehre mit der Epiktets zu erweisen. 
Insbesondere das Handbüchlein haben sie oft ab- 
geschrieben und in ihrem Sinne verwendet 

in seiner schlichten Wahrhaftigkeit den Arrian wie den Epiktet 
in gleich hohem Maße, * Auf Veranlassung der Verlagsbuch- 
handlung habe ich wegen Verhinderung von Grabisch die Ein- 
leitung verfaßt, die — ebenso wie die Obersetzung der Frag- 
mente und der anderen in der Einleitung zitierten SteOen — 
ausschließlich von mir herrührt. Dabei ist der Text der Schenki- 
schen Ausgabe von 1898 zugrunde gelegt. ' So sagt vor- 
trefflich Martha S, 163. » Vgl. Schenkl in der Praefatio. 



( 



I 



I 



XXXI 



Erst in unseren Tagen beginnt Epiktet wieder in weite 
Kreise zu dringen. Schon Hilty hat in seinem „Glück" 
betitelten Buch das Handbtichlein in eigener Ver- 
deutschung mit einer Reihe gedankenreicher Anmer- 
kungen herausgegeben. Aber sonst ist in Deutschland 
die Kenntnis Epiktets, besonders seiner Dtatriben, auf 
einen engen Kreis beschränkt geblieben. In Frankreich 
dagegen ist Epiktet — wie Seneca und Marc Aurel — 
bei allen Gebildeten viel gelesen und gar wohl bekannt 
Schon Pascal hat ihn hochgeschätzt — Es wird Zeit 
daß das auch in Deutschland ähnlich wird, nicht nur 
bei den Gebildeten, sondern im „Volke" selbst muß er 
bekannt werden. Gerade im Gegensatz zu den irre- 
führenden Bestrebungen unserer Tage, im Gegensatz 
zu dem falschen Ideal eines einseitig ästhetischen Lebens- 
genusses oder gar einer ästhetischen Religion kann 
er ein Führer mit werden zu starker, gesunder Sittlich- 
keit, die von Prüderie wie Askese gleich weit entfernt 
ist Epiktet soll die sittlichen Mächte mit wecken helfen, 
deren unser Volk zu seiner Wiedergeburt bedarf, und 
er kann das. Er kann helfen, uns Charaktere zu bilden» 
die die wahre Freiheit erringen, sittliche Persönlich- 
keiten, die uns gerade heute bitter not tunl Nur darf 
man sich nicht darauf beschränken, seine Diatriben und 
sein Encheiridion wieder und wieder zu lesen, sondern 
man muß wirklich ernsthaft den Versuch machen, da- 
nach zu leben. Das geht nicht an einem Tage, nur 
in langjähriger geistiger „Askesis** kann es gelingen,, 
dem sittlichen Ideal immer näher zli kommen. Es gibt 
auch einige Punkte, in denen wir mit Epiktet nicht ganz 




XXXII 

überemstimmen, aber in den Kern- und Gmndanschau- 
ungen ist er noch heute von unvergänglichem Wert, 
Denn er, der aus Erfahrung an sich selbst spricht, kann 
uns den Weg zeigen zu einer in sich gefestigten har- 
monischen Persönlichkeit Denn er ist ein Apostel 
der sittlichen Freiheit, die nur errungen wird durch 
unablässig ernste Arbeit an uns selbst, durch Selbst- 
zucht, durch den Sieg des Göttlichen in uns über das 
Irdische, des Geistigen über das Sinnliche, und durch 
Ergebung in die Fügungen des alles durchwaltenden 
göttlichen Logos. 

So kann Epiktet ein Führer zum Frieden der Seele 
werden, auch für die, gerade für die, die jenseits von 
Kirche und Dogma stehen. Denn die Grundlagen wahren 
menschlichen Glückes sind heute noch dieselben wie 
voFj 1800 Jahren. Keine Errungenschaft der Technik, 
keine Entdeckung der Naturwissenschaft — auch die 
des Copemicus nicht — hat daran Wesentliches ge- 
ändert. Die Fundamente für die sittliche Tüchtigkeit 
und die menschliche Glückseligkeit, soweit sie auf 
Erden möglich ist, sind heute noch dieselben wie zur 
Zeit der Kaiser Nero und Domitian, Diese Fundamente 
liegen in uns. Welche es sind und wie wir auf ihnen 
bauend die ägExri und die Eudaimonia erringen können, 
das zeigt uns einer, der es erprobt hat, der phrygische 
Sklave, der freier ward als die meisten, die im Purpur 
geboren sind. 



HAMBURG, DEN 1. MAI 1906 



W. CAPELLE 



I 



t 




ON den Dingen stehen die einen in 
unserer Gewalt, die anderen nicht 
In unserer Gewalt steht: unsere 
Meinung, unser Handeln, unser 
Begehren und Meiden — kurz: al! 
I unser Tun, das von uns ausgeht 
Nicht in unserer Gewalt stehen: unser Leib, unser 
Besitz, Ansehen, äußere Stellung — mit einem Worte: 
alles, was nicht unser Tun ist 

Was in unserer Gewalt steht, ist von Natur frei, kann 
nicht gehindert oder gehemmt werden; was aber nicht 
in unserer Gewalt steht, ist hinfällig, unfrei, kann ge^ 
hindert werden, steht unter dem Einfluß anderer. Sei 
dir also darüber klar: wenn du das von Natur Unfreie 
für frei, das Fremde dagegen für dein Eigentum hältst, 
dann wirst du nur Unannehmlichkeiten haben, wirst 
klagen, wirst dich aufregen, wirst mit Gott und der Welt 
hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum, 
was wirklich dein ist, das Fremde dagegen für fremd, 
dann kann kein Mensch einen Zwang auf dich ausüben, 
niemand dir etwas in den Weg legen, du wirst nieman- 
dem Vorwürfe machen, niemandem die Schuld geben, 
wirst nichts gegen deinen Willen tun, niemand kann dir 

1 Epjktet, Handbachlein der Moral 




dann schaden, du wirst keinen Feind haben, denn du 
wirst überhaupt keinen Schaden erleiden. 

Wenn du nun nach solch hohem Ziele strebst, dann 
darfst du nicht denken, du brauchtest dich nicht allzu- 
sehr anzustrengen, sondern du mußt auf manches ganz 
verzichten, manches einstweilen beiseite stellen. 

Wenn du aber danach strebst und zugleich hohen 
Ämtern und Reichtum nachjagst, so wirst du vielleicht 
nicht einmal diese Dinge erreichen, weil du zugleich 
nach jenem strebst Jedenfalls aber dürftest du ganz 
sicher das nicht erreichen, woher allein Freiheit und 
Glück kommt 

Bemühe dich daher, jedem unangenehmen Gedanken 
sofort zu begegnen, indem du sagst: ,,Du bist nicht das, 
was du zu sein scheinst, du bist bloß eine Einbildung " 
Dann prüfe und beurteile ihn nach den Regeln, die 
du gelernt hast, besonders aber nach der ersten: ob er 
zu dem gehört, worüber wir frei verfügen können, oder 
nicht Und wenn er zu den Dingen gehört, die nicht in 
unserer Gewalt stehen, dann sage dir sofort: Geht mich 
nichts an. (I) 



4 



4 



I 

I 



I 

I 



Merke dir: Die Begierde verheißt die Erreichung 
dessen, was man begehrt; die Abneigung ver- 
heißt, nicht auf das zu stoßen, was man vermeiden will 
Wer den Gegenstand seines Begehrens nicht erreicht, 
ist unglücklich; ein anderer ist unglöcküch, weil ihm 
das widerfährt, was er gern vermeiden will 

Wenn du also nur dem auszuweichen suchst, was 
unter den Dingen, die in deiner Gewalt stehen, natur- 
widrig ist, dann wird dir nichts zustoßen, was du zu ver- 
meiden wünschest. Wenn du aber Krankheit, Tod oder 
Armut zu enfgehn suchst, dann wirst du freilich un- 
glücklich werden. 

Fort also mit jedem Widerwillen gegen alles, was 
nicht in unserer Gewalt steht; nur das meide, was natur- 
widrig ist unter dem, was in deiner Gewalt ist 

Dein Begehren gib voriäufig ganz auf. 

Denn begehrst du etwas, was nicht in unserer Macht 
steht, dann mußt du unweigerlich unglücklich werden; 
von dem aber, was in unserer Macht steht und was du 
wohl begehren könntest, davon weißt du noch nichts. 
Beschränke dich auf das Wollen und auf das Nicht- 
wollen, aber verfahre dabei obenhin, mit Vorbehalt und 
Gelassenheit, (II) 




1 



Bei allem, was deine Seele erfreut oder dir einen 
Nutzen gewährt oder was du lieb hast, vergiß nicht 
dir zu sagen:* was es eigentlich ist. Fange dabei bei 
den unscheinbarsten Dingen an, z. B. wenn dir ein 
Topf teuer ist, so denke dir: ein Topf ist es, der mir 
teuer ist; dann wirst du dich auch nicht aufregen, 
wenn er zerbricht Wenn du dein Weib oder dein 
Kind küssest, so denke dir: du küssest einen Menschen; 
und du wirst nicht außer Fassung kommen, wenn er 
stirbt (HI) 



Wenn du irgend etwas beginnen willst, so mache dir 
Mar, welcher Art die Sache ist* Wenn du z. B, 
baden gehst, so stelle dir vor, wie es im Baderaume 
zugeht: wie sie mit Wasser spritzen, wie sie sich stoßen 
und schimpfen und andere gar stehlen. Deshalb wirst 
du mit größerer Sicherheit hingehen, wenn du dir von 
vornherein sagst: ich will baden gehen und meine Ge- 
mütsverfassung in dem Zustande erhalten, vrie es natur- 
gemäß ist So mache es bei allen Dingen, Denn kommt 
wirklich etwas beim Baden vor, so kannst du dir zur Be- 
ruhigung sagen: ich bin ja doch nicht bloß des Badens 
wegen hingegangen, sondern um meine Gemütsver- 
fassung der Natur entsprechend zu erhalten, und das 
tue ich nicht, wenn ich mich über derlei Vorkommnisse 
ärgere, (IV) 



6 



^Ticht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern 
^^ ihre Meinungen über die Dinge, 
So ist z. B. der Tod an sich nichts Furchtbares — 
sonst hätte er auch dem Sokrates furchtbar erscheinen 
müssen — sondern nur die Meinung, er sei schrecklich, 
ist das Schreckhafte, 

Wenn wir also auf Schwierigkeiten stoßen, in Unruhe 
und Kümmernis geraten, dann wollen wir die Schuld 
niemals auf einen andern schieben, sondern nur auf uns 
selbst^ d. h, auf unsere Meinung von den Dingen. 

Es verrät einen Ungebildeten, wenn man andern Vor- 
würfe darübermacht, daß es einem selber schlecht geht; 
als einen Anfänger in der philosophischen Bildung er- 
weist sich der, der sich selber Vorwürfe macht Der 
wahrhaft Gebildete schiebt die Schuld weder auf andere 
noch auf sich selbst (V) 



8 



Wenn auf einer Seefahrt das Fahrzeug vor Anker geht 
und du aussteigst, um frisches Wasser zu holen, 
dann magst du wohl unterwegs noch etwas nebenher 
tun, etwa eine Muschel oder einen Tintenfisch aufheben, 
aber deine Aufmerksamkeit muß auf das Fahrzeug ge- 
richtet bleiben, du mußt es beständig im Auge behalten, 
ob nicht etwa der Steuermann ruft. Und wenn er ruft, 
so mußt du alles andere liegen lassen, damit man dich 
nicht gebunden aufs Schiff wirft, wie man es mit den 
Schafen macht 

So ist es auch im Leben: Ist dir Weib und Kind be- 
schert, wie dort eine Muschel oder ein Fisch, so 
darf das kein Hindernis bilden. Wenn aber der Steuer- 
mann ruft, dann eile zum Schiffe, laß alles liegen und 
sieh dich nicht um. Bist du aber alt geworden, so ent- 
ferne dich nicht zu weit vom Schiffe, damit du nicht 
etwa ausbleibst, wenn du gerufen wirst (VII) 



Verlange nicht, daß alles so geschieht wie du es 
wünschest, sondern wolle, daß alles so geschieht, 
wie es geschieht, und es wird dir gut gehen. (VIII) 



10 



Die Krankheit ist ein Hindernis des Körpers, aber nicht 
des Willens, falls er nicht selbst will. Eine Lähmung 
ist ein Hindernis des Schenkels, aber nicht des Willens. 
Und das sage dir bei allem, was dich trifft Dann wirst 
du finden, daß es wohl für andere Dinge ein Hinder- 
nis sein kann, nicht aber für dich. (IX) 



11 



Bei allem, was dir begegnet, gehe in dich und frage 
dann : Was für eine Fähigkeit hast du dem gegenübe r? 
Siehst du z. B, einen schönen Knaben oder ein schönes 
Mädchen, so wirst du als Kraft dagegen In dir die Selbst- 
beherrschung finden; tritt eine schwere Arbeit an dich 
heran, so wirst du als Gegenmittel die Ausdauer finden, 
wird eine Schmähung auf dich geschleudert, dann wirst 
du Langmut finden. Wenn du dich so gewöhnt hast, 
dann werden dich die falschen Vorstellungen nicht 
mehr fortreißen. (X) 



M 



^ 



13 



Wenn du Fortschritte machen willst, so mußt du 
Gedanken wie die folgenden abwerfen: wenn ich 
mich nicht um mein Vermögen kümmere, so werde ich 
nichts zu essen haben, oder: wenn ich meinen Diener 
nicht strafe, so wird er ein Taugenichts; denn es ist 
besser Hungers zu sterben, aber ohne Furcht und Sorge 
gelebt zu haben, als in Oberfluß und steter Aufregung 
zu leben; es ist besser, daß dein Diener ein Taugenichts 
als daß du selber ungtücklich wirst 

Darum mußt du schon mit geringfügigen Dingen an- 
fangen: wird dir ein bißchen öl vergossen oder der 
letzte Rest Wein gestohlen, so sage dir: dafür kauft man 
Gleichmut, dafür innere Ruhe. Umsonst erhält man 
nichts. 

Wenn du deinen Diener rufst, so denke: er kann dich 
vielleicht nicht hören, und wenn er dich gehört hat, so 
ist er vielleicht nicht imstande das zu tun, was du haben 
willst 

Aber das ist für jenen kein Glück, wenn es von ihm 
abhängt, daß du dich nicht aufregst (XII) 



14 



Willst du Fortschritte machen, so mußt du es ertragen 
können, wenn luan dich für närrisch und einfältig 
wegen deines äußeren Verhaltens hält Wolle auch nicht 
den Anschein erwecken, als verständest du etwas; und 
wenn andere es von dir glauben^ mißtraue dir selbst 
Denn wisse: es ist nicht leicht, seine Seelenvar- 
fassung so zu erhalten, wie die Natur es verfangt, und 
zugleich die äußeren Verhältnisse zu berücksichtigen, 
sondern es gibt nur ein Entweder — Oder: wer sich 
um das eine bekümmert, der muß das andere ver- 
nachlässigen. (XIII) 



15 



^1 renn du wünsctiest, daß dein Weib, deine Kinder 
W un(i deine Freunde ewig leben, dann bist du ein 
Narr: denn du verlangst etwas, was nicht in deiner 
Macht steht, und willst, daß etwas Fremdes dir gehört. 
Ebenso töricht wärest du, wenn du verlangen würdest, 
dein Diener solle sich nichts zu schulden kommen lassen, 
denn du verlangst, daß ein Fehltritt kein Fehltritt sein 
soll, sondern etwas anderes. 

Wenn du aber den Willen hast: niemals dein Ziel zu 
verfehlen, so steht das in deiner Macht In dem also 
übe dich, was dir möglich ist 

Ein Herr des anderen ist also der, der die Macht 
hat, das was der andere will oder nicht will, ihm zu 
geben oder zu nehmen. 



Wer also frei sein will, der darf nicht etwas erstreben 
oder vermeiden wollen, was in der Macht eines anderen 
steht Sonst wird er unweigerlich dessen Sklave. (XIV) 



16 



Du mußt dich im Leben benehmen wie bei einem 
Gastmahl: es wird herumgereicht, die Schüssel 
kommt an dich; du langst zu, und nimmst dir bescheiden; 
die Schüssel wird weitergetragen: halte sie nicht zurück; 
ist sie noch nicht zu dir gekommen, so richfe dein 
Verlangen nicht weiter darauf, sondern warte, bis die 
Reihe an dich kommt. 

So denke auch über Kinder, Weib, äußere Stellung 
und Reichtum, dann wirst du ein würdiger Tischgenosse 
der Götter sein. 

Wenn du aber gar von dem nicht nimmst, was dir 
vorgesetzt wird, sondern es vorbeigehen läßt, dann wirst 
du nicht bloß mit den Göttern am Tische sitzen, son- 
dern sogar mit ihnen herrschen. So machten es Diogenes, 
Herakles und ihresgleichen, und deshalb wurden sie mit 
Recht göttlich genannt. (XV) 



19 



Wenn dir ein Rabe krächzend Unheil verkündet, so 
darf dich die Vorstellung nicht hinreißen, sondern 
mache dir sogleich klar: solche Prophezeiungen 
gelten nicht mir, höchstens meinem Körper, meinem 
bißchen Habe oder meinem äußeren Ansehen, meinen 
Kindern oder meinem Weibe. Wenn ich es will, wird 
mir nur Glück verkündet. 

Was auch von den Prophezeiungen eintreffen mag^ 
an mir liegt es ja, davon Segen zu haben ^ (XVIII) 



2* 



20 



Du kannst als unbesiegbar dastehen, wenn du dich in 
keinen Kampf einlassest, in dem der Sieg nicht 
von dir abhängt. 

Wenn du jemanden siehst, der hochgeehrt, sehr 
mächtig oder sonst irgendwie groß dasteht, so laß dich 
nicht etwa von dem Schein hinreißen, ihn glücklich zu 
preisen. Denn wenn das Wesen des Guten in dem be- 
ruht, was in unserer Macht liegt, dann ist hier weder 
Neid noch Eifersucht angebracht; du selbst willst doch 
weder Feldherr noch Ratsherr oder Konsul sein, son- 
dern frei. 

Dazu aberführt nur ein Weg: Verachtung alles dessen, 
was nicht in unserer Macht steht. (XIX) 



21 



Bedenke, daß dich nicht der verletzt, der dich be- 
schimpft oder schlägt, sondern nur deine Meinung, 
daß jener dich verletzt Wenn dich jemand reizt, so 
wisse, daß es nur deine Auffassung von der Sache ist, 
die dich gereizt hat. Deshalb strebe vor allem danach, 
dich nicht von deiner falschen Vorstellung fortreißen zu 
lassen. Hast du einmal Zeit zur Überlegung gewonnen, 
dann wirst du leichter deiner Herr werden. (XX) 



22 



Tod, Verbannung, überhaupt alles, was allgemein für 
schrecklich gilt, halte dir täglich vor Augen, vor 
allem aber den Tod! Dann wirst du niemals etwas 
Niedriges denken oder übermäßig nach etwas be- 
gehren. (XXI) 



23 



11 renn du nach Weisheit strebst, so mache dich von 
^V vornherein darauf gefaßt, daß man dich verlachen 
wird, daß dich viele verspotten und sagen werden: Der 
ist plötzlich als Philosoph wiedergekommen und: Wie 
kommt es, daß er auf einmal die Brauen so hoch zieht? 

Laß nur die ernste Miene beiseite, aber an das, was 
dir das Beste zu sein scheint, halte dich, als seiest du 
von Gott auf diesen Posten gestellt. 

Bedenke; wenn du auf diesem Posten aushanst, dann 
werden dich diejenigen später bewundern, die dich vor- 
her verlacht haben. 

Fügst du dich ihnen aber, dann werden sie doppelt 
über dich lachen. (XXII) 



24 



Wisse: wenn es dir einmal widerfährt» in den Strudel 
der Außenwelt gezogen zu werden, so daß du 
einem andern gefallen willst, dann bist du von deinen 
Grundsätzen abgefallen. 

Es muß dir deshalb in allen Verhältnissen genügen, 
ein Philosoph zu sein. Willst du außerdem als solcher 
angesehen werden, so sieh dich selbst als solchen an 
und s.ei zufrieden. (XXIII) 




Gedanken wie die folgenden dürfen dich nicht quälen: 
ich werde unberühmt mein Leben verbringen und 
nirgends etwas gelten. Kann denn Mangel an äußeren 
Ehren ein Übel sein, da du doch durch einen Fremden 
ebenso wenig ins Unglück wie in Schande gestürzt 
werden kannst? Hängt es etwa von dir ab, zu einem 
Amte zu kommen oder zur Tafel zugezogen zu werden? 
Durchaus nicht! Wie kann das also Unehre für dich 
sein? wie kannst du ein „Niemand" sein, wo du nur 
auf dem Gebiet, das in deiner Macht steht, etwas be- 
deuten sollst; und da kannst du der bedeutendste sein. 

„Aber du hast Freunde und wirst ihnen nicht helfen 
können!" 

Ja was nennst du denn helfen ? Sie werden kein Geld 
von dir bekommeng du wirst ihnen nicht das römische 
Bürgerrecht verschaffen können. Wer hat dir denn ge- 
sagt, daß dies in deiner Macht steht und nicht anderer 
Leute Sache ist? Wer kann einem andern geben, was er 
selbst nicht hat? 

„Dann erwirb, damit wir auch etwas bekommen 
können" 

Gut, wenn ich mir Erwerb verschaffen kann, ohne 
mein gewissenhaftes, redliches, hochstrebendes Wesen 



26 



einzubüßen, dann zeige mir nur den Weg, und ich will 
es tun. Wenn ihr aber verlangt, daß ich meine eigenen 
Güter aufgeben soll, damit ihr nur zu den Gütern kommt, 
die gar keine sind, so seht ihr doch selbst ein, wie un- 
gerecht und unverständig ihr seid. 

Was wollt ihr übrigens lieber: Geld oder einen treuen, 
ehrlichen Freund? Tragt also liebet dazu bei, daß ich 
ein solcher bin, und verlangt nicht von mir, daß ich 
etwas tun soll, wodurch ich gerade diese Eigenschaften 
verliere. 

„Aber das Vaterland wird von mir keinen Nutzen 
haben.« 

Wieder muß ich fragen: Was für Nutzen denn? Säulen- 
hallen und Bäder wird es freilich nicht von dir bekommen. 
Aber was tut das? Es bekommt ja auch vom Schmiede 
keine Schuhe und vom Schuster keine Waffen! Es ist 
genug, wenn jeder seine Stelle ausfüllt Wenn du nun 
aus einem andern Menschen einen zuverlässigen und 
redlichen Bürger machst, trägst du da nichts zum Nutzen 
des Vaterlandes bei? „Doch.** Also dürftest auch du 
dem Vaterlande nicht ohne Nutzen sein, 

„Welche Stellung soll ich denn im Staatsleben ein- 
nehmen?" 

Diejenige, die du ausfüllen und bei der du zugleich 
ein rechtschaffener und siäsamer Mensch bleiben kannst 
Wenn du aber dem Vaterlande nützen willst und diese 
Eigenschaften verlierst, was kannst du ihm da noch 
nützen, wenn du nicht mehr Treu und Glauben ver- 



4 



4 



dienst? 



(XXIV) 



27 



Es ist dir jemand vorgezogen worden, bei einem Gast- 
mahl oder bei einer Begrüßung» oder du bist nicht 
zu einer Beratung hinzugezogen worden. Ist dies etwas 
Gutes, dann sollst du dich darüber freuen, daß es jenem 
zuteil geworden; ist es aber ein Nachteil, dann ärgere 
dich nicht darüber, daß es dich nicht getroffen hat 

Bedenke doch, daß du nicht dieselbe Behandlung 
beanspruchen kannst, wenn du nicht dasselbe tust wie 
sie, um etwas zu erreichen, was nicht in unserer Ge- 
walt steht Denn wie kann einer, der sich nicht oft 
in den Vorzimmern der Großen aufhält, das gleiche 
erreichen wie einer, der dies tut? oder einer, der sich 
nicht in dem Gefolge eines Mächtigen sehen läßt und 
ihn nicht lobt dasselbe erreichen wie einer, der dies 
tut? Du bist ungerecht und unersättlich, wenn du 
umsonst das haben willst, ohne den Preis zu zahlen, 
um den jene Dinge zu kaufen sind. Was kostet z. B. 
doch der Salat? Einen Obolos, wollen wir einmal an- 
nehmen. Wenn nun jemand einen Obolos hinlegt und 
Salat dafür erhält, du aber nichts zahlst und nichts er- 
hältst» so glaubst du doch nicht, im Nachteil zu sein 
gegenüber dem, der Salat erhalten hat? Denn wie 
jener den Salat hat hast du noch den Obolos, den du 



1 



28 



nicht ausgegeben hast Genau derselbe Fall ist auch 
hier. 

Du hast keine Einladung zum Essen erhalten? Du hast 
auch dem Gastgeber den Preis nicht gezahlt, um den 
er sein Mahl gibt; um Lob, um Aufmerksamkeiten ist 
es zu haben. Wenn du glaubst, daß es dir Nutzen bringt, 
nun so bezahle die Kosten, um die es zu haben ist 
Willst du diese nicht tragen und doch jenes haben, 
dann bist du ebenso unverschämt wie einfältig. 

Hast du an Stelle der Einladung nichts zum Ersatz? 
Du hast jetzt das Bewußtsein, den nicht gelobt zu haben, 
den du nicht hast loben wollen, und hast dich nicht an 
seiner Tür herumzudrücken brauchen. (XXV) 



29 



Den Willen der Natur kann man an den Dingen er- 
kennen, über die keine Meinungsverschiedenheit 
unter uns herrscht 

Wenn z. B. der Diener eines andern ein Trinkglas 
zerbricht, so sagst du gleich zu dessen Entschuldigung: 
das kann vorkommen. Merke dir also: Wenn bei dir 
zu Hause einmal etwas zerschlagen wird, so mußt du 
dich ebenso verhalten, wie damals^ als es bei einem an- 
dern geschah. 

Diese Regel kannst du auch auf wichtigere Vorkomm- 
nisse übertragen. 

Stirbt z. B. ein Kind oder das Weib eines andern, 
dann gibt es gewiß keinen, der nicht sagt: das ist 
Menschenlos. Wenn aber jemandem sein eigenes Kind 
stirbt, dann klagt ersogleich: Weh mir, ich Unglücklicher! 

Wir sollten aber bedenken, was wir empfinden, 
wenn wir bei einem andern von einem solchen Fall 
hören, (XXVI) 



30 



So wenig wie ein Ziel aufgestellt wird, damit man es 
verfehle, so wenig hat das Obel von Natur einen 
Platz in der Welt. (XXVII) 



31 



Wenn jemand deinen Körper dem ersten besten, der 
dir begegnet, überantworten würde, dann würdest 
du dich empören. Du aber überläßt dein Herz jedem 
Beliebigen, so daß es, wenn dich jemand beschimpft, 
aufgeregt und aus der Fassung gebracht wird — solltest 
du dich dessen nicht schämen? (XXVIII) 



32 



D^i jeder Sache bedenke was ihr vorangeht und was 

^ ihr folgt, dann erst gehe an die Sache selbst heran. 
Tust du das nicht, dann wirst du anfangs zwar wohl- 
gemut an die Sache gehen, da du nicht bedacht hast, 
was noch kommen wird: dann aber, wenn sich Un- 
annehmlichkeiten zeigen, wirst du mit Schande ablallen. 

Du willst in Olympia siegen? Ich auch, bei Gott! 
denn das ist eine schöne Sache. Aber bedenke, was 
vorangehen und nachfolgen wird, und dann mache dich 
daran: 

Du mußt dich einer strengen Ordnung fügen, nach 
Vorschrift essen, mußt dich aller Näschereien enthalten, 
mußt dich auf Kommando und zu bestimmten Stunden 
trainieren, bei Hitze und Kälte, darfst nicht kaltes Wasser 
trinken, keinen Wein, wenn es dir gerade einfällt, kurz, 
du mußt dich dem Aufseher wie einem Arzte überant- 
worten, mußt dich beim Wettkampf auf der Erde wälzen* 
Es kann auch vorkommen, daß du das Handgelenk aus- 
setzt oder den Knöchel verstauchst, daß du viel Staub 
schlucken mußt, zuweilen wirst du sogar Schläge er- 
halten und — trotz alledem wirst du möglicherweise 
zuletzt noch besiegt. 

Das alles mußt du bedenken, und wenn du dann noch 



4 
4 



33 



Lust hast, dann werde Athlet Sonst geht es dir wie den 
Kindern, die bald Gladiatoren, bald Ringkampf spielen, 
bald Trompete blasen, dann Ttieater spielen. So bist 
auch du bald ein Ringkämpfer, bald ein Gladiator, bald 
ein Redner, dann einmal ein Philosoph, mit ganzer Seele 
aber nichtsl Sondern wie ein Affe machst du alles 
nach, was du siehst, heute das, morgen etwas anderes, 
wie es dir gefällt Denn du trittst nicht mit Überlegung 
an ei ne Sache heran, du siehst sie dir nicht von allen Seiten 
an, sondern folgst jedem Einfall, jeder flüchtigen Laune. 

So haben z. B. manche einmal einen Philosophen ge- 
sehen, haben ihn reden hören, wie etwa Euphrates redet 
— fürwahr, wer kann so reden wie der! — gleich wollen 
sie auch Philosophen sein. Mensch, zunächst überlege 
dir, worum es sich eigentlich handelt; dann prüfe deine 
natürlichen Anlagen, ob du der Sache auch gewachsen 
bist Willst du ein Ring- oder ein Fünfkämpfer werden? 
dann sieh dir deine Arme, deine Schenkel an, prüfe 
deine Hüften, denn der eine hat hierzu Anlage, der andere 
dazu. 

Glaubst du etwa, daß du bei solchem Beruf noch 
weiter in derselben Weise essen und trinken kannst, 
daß du noch in gleicher Weise deinen Neigungen und 
Abneigungen folgen darfst? Du mußt es ertragen 
können: den Schlaf zu entbehren, Strapazen zu erdulden, 
deine Angehörigen zu verlassen, von einem Sklaven dich 
verachten zu lassen, von den Leuten auf der Straße ver- 
lacht, bei jeder Gelegenheit, bei einer Ehrung, einer Be- 
förderung, vor Gericht, Überhaupt in allen Dingen über- 
gangen zu werden. Das bedenke: ob du dafür Seelen- 

3 Epiktet, HaitdbUchlein der Moral 



35 



r\ie Pflichten richten sich im aUgemeinen nach den 
^ persönlichen Verhältnissen. 
Jemand hat einen Vater: die Pflicht gebietet, steh um 
ihn zu sorgen, sich ihm in allem zu fügen, Schelte und 
sogar Schläge geduldig von ihm hinzunehmen. 

Aber er ist ein schlechter Vater, 

Hat dir denn die Natur einen guten Vater gegeben? 
Nein, bloß einen Vater, 

JWein Bruder handelt unrecht an mir. 

Behalte nur weiter dein Verhalten ihm gegenüber bei 
und kümmere dich nicht darum, was er tut, sondern 
was da tun mußt, um dein Inneres im Einklang mit der 
Natur zu erhalten. 

Denn dir kann ein anderer nicht schaden, wenn du es 
nicht willst, aber dann bist du wirklich geschädigt, wenn 
du glaubst geschädigt zu sein. 

Ebenso wirst du finden, was sich für einen Nachbar, 
einen Bürger, einen Feldherrn ziemt, wenn du dich näm- 
lich gewöhnst, dein Verhältnis zu diesen Stellungen 
genau anzusehen, (XXX) 



36 



Für die Frömmigkeit ist die Hauptsache, richtige Vor- 
stellungen von den Göttern zu haben: daß sie sind^ 
daß sie die Welt gut und gerecht regieren, daß es deine 
Bestimmung ist, ihrem Willen dich zu fügen, dich in 
alles was geschieht, zu schicken, dich gern und mit 
der Überzeugung zu fügen, daß es von höchster Ein- 
sicht so zum Ziel geführt wird; dann wirst du die Götter 
niemals tadeln, nie ihnen Vorwürfe machen, als kümmerten 
sie sich nicht um dich. 

Aber das ist nur dann möglich, wenn du die Begriffe 
von gut und böse nicht dem entnimmst, was nicht in 
unserer Macht steht, sondern sie nur in dem suchst, 
was wirklich unser ist 

Wenn du jedoch etwas von jenem für gut oder 
böse hältst, dann mußt du unweigerlich den Urhebern 
Vorwürfe machen und sie hassen, wenn du etwas nicht 
erreichst, was du erstrebst oder wenn dir etwas wider- 
fährt, was du nicht wünschest 

Denn jedem Wesen ist es angeboren, das was ihm 
schädlich erscheint und was den Schaden verur- 
sacht, zu meiden und zu fliehen, dem Nützlichen aber 
und seinen Ursachen nachzugehen und es zu be- 
wundern. 



37 



Es ist also onmöglicli, daß einer, der sich geschädigt 
glaubt, sieh über den Urheber des Schadens freut, 
ebenso wie man sich unmöglich über den Schaden 
selbst freuen kann. 

So kommt es, daß ein Vater von seinem Sohne ver^ 
wünscht wird, wenn er ihn an den Dingen nicht teil- 
nehmen läßt, die jener für Güter hält Auch für Eteokles 
und Polyneikes war das der Grund zur Feindschaft, weil 
sie die Alleinherrschaft für ein Gut hielten. Daher kommt 
es, daß der Land mann die Götter lästert, darum tut es 
der Seemann, darum der Kaufmann, darum alle, die 
Weib und Kind verlieren. 

Denn Vorteil und Religion stehen miteinander in 
Wechselbeziehung. Wer daher sein Streben und sein 
Meiden in die richtige Bahn zu bringen suchte der 
handelt eben dadurch auch religiös. Doch Trank» und 
Brandopfer darzubringen, die Erstlingsgaben nach Väter- 
brauch zu weihen, ziemt sich für jeden; mit reinem Herzen, 
nicht gedankenlos, nicht nachlässig, nicht gar zu kärglich, 
aber auch nicht über Vermögen soll man es tun, (XXXI) 



38 



Wenn du zu einem Orakel gehst, so merke dir: wel- 
ches Ereignis dir bevorsteht, das freilich weißt du 
nicht, sondern deswegen bist du zum Wahrsager ge- 
kommen, um es zu erfahren; von welcher Art aber eine 
Sache Ist, das wußtest du schon, als du kamst, wenn 
anders du ein Philosoph bist Denn wenn es eins von 
den Dingen ist, die nicht in unserer Gewalt stehen, 
dann kann es in keinem Falle ein Gut oder ein Übel 
sein. 

Bringe also zum Wahrsager weder Wünsche dafür noch 
dagegen mit; geh auch nicht mit Zittern und Zagen zu 
ihm, sondern in der Überzeugung, daß alles, was da 
kommen wird, gleichgültig ist und dich nichts angeht; 
welcher Art es auch immer sei, — es wird möglich sein, 
davon einen guten Gebrauch zu machen, und daran 
kann dich keiner hindern* 

Getrost also wie guten Ratgebern nahe dich den 
Göttern und, wenn dir ein Rat erteilt worden ist, dann 
denke daran, wen du als Ratgeber genommen hast und 
wem du ungehorsam sein wirst, wenn du nicht hörst 

Geh aber nach dem Beispiel des Sokrates nur in 
solchen Fällen zum Orakel, wo allein der Ausgang der 
Sache in Frage steht, und wo weder durch vernünftige 




39 



Überlegung noch durch irgend eine Kunst die Mittel 

geboten sind, das klar zu erkennen, was bevorsteht. 

Wenn du also einem Freunde oder dem Vaterlande 
beistehen mußt, dann frage nicht erst das Orakel, ob 
du es tun sollst Denn wenn dir der Seher sagt, die 
Opferzeichen seien schlecht ausgefallen, so bedeutet 
das offenbar den Tod oder den Verlust eines Gliedes 
oder Verbannung. Aber die Vernunft fordert auch unter 
diesen Umständen, dem Freunde, dem Vaterlande in 
der Gefahr beizustehen. Wahrlich, darum richte dich 
nach dem größeren Seher, dem pythischen Apollo, 
der aus seinem Tempel den Menschen hinauswies, der 
seinem Freunde in Todesnot nicht zu Hilfe gekommen 
war. (XXXII) 



40 



Stelle endlich für dein Wesen ein festes Gepräge, ein 
bestimmtes Ideal auf, wonach du dich richtest, wenn 
du mit dir allein bist oder unter Menschen gehst 

Schweige gewöhnlich, sonst sprich nur das Not- 
wendige und das mit wenig Worten. Selten, nur wenn 
es die Umstände erfordern, rede, aber nicht über all- 
tägliche Dinge, nicht über Zirkuskämpfe, Pferderennen 
oder Athleten, nicht über Essen und Trinken, — das 
sind triviale Gesprächsstoffe — vor allem aber nicht 
über andere Leute, um sie zu tadeln oder zu loben oder 
auch nur zu vergleichen. 

Wenn es dir möglich ist, so lenke durch deine Unter- 
haltung das Gespräch der Gesellschaft auf einen an- 
gemessenen Gegenstand. Bist du aber allein unter 
ganz Fremden, dann schweige. 

Lache nicht oft, nicht über viele Dinge und nicht 
übermäßig- 

Den Eid lehne wenn möglich ganz ab; ist es nicht 

möglich, so weit es geht 

Einladungen zu Gelagen bei Andersgesinnten und 

Ungebildeten schlage aus. Kommt aber einmal ein sol- 



4 



41 



eher Anlaß, dann sei deine Aufmerksamkeit gespannt, 
damit du nicht in das Wesen der Menge zurückfällst. 
Denn merke dir: hat jemand einen verkommenen Ge- 
fährten, so muß er unweigerlich mit verkommenj auch 
wenn er selbst unverdorben sein sollte. 



Die körperlichen Bedürfnisse befriedige nur, soweit 
es durchaus notwendig ist, was Essen, Trinken, Klei- 
dungj Wohnung und Dienerschaft betrifft, was aber dem 
äußeren Glanz und dem Luxus dient, das meide ganz. 

Von Werken der Liebe halte dich vor der Ehe nach 
Kräften rein. Kostest du aber davon, so beschränke 
dich auf den erlaubten Genuß* Sei aber nicht denen 
lästig, die Gebrauch davon machen und tadle sie nicht; 
und rede nicht viel davon, daß du selbst enthaltsam bist 



Wenn dir jemand hinterbringt, daß der oder jener 
gehässig über dich spricht, so verteidige dich nicht 
gegen dessen Behauptungen, sondern antworte: er wußte 
wohl die andern Fehler nicht, die mir noch anhaften, 
sonst hätte er nicht bloß diese angeführt. 

Oft Zirkusspielen beizuwohnen ist nicht nötig. Wenn 
es aber einmal vorkommt, dann zeige dich für nieman- 
den besonders interessiert als für dich, d. h, habe nur 
den Wunsch, daß alles so geschieht, wie es geschieht, 
und gönne jedem Sieger seinen Sieg. So wirst du kein 
Ärgernis haben. Beifallsrufe, f reud iges Zuklatschen oder 
größere Aufregung vermeide ganz und gar Und wenn 



42 

die Sache aus ist, sprich nicht viel Über das Gesehen 
Überhaupt nor soweit es zu deiner Förderung dient 
Denn sonst könnte es scheinen, das Gesehene habe dir 
Bewunderung abgenötigt 

Zu den Vorträgen gewisser Leute gehe nicht aus 
Laune oder ohne besonderen Grund. Wenn du aber 
hingehst, dann beobachte ein würdiges und wohlgesetztes 
Verhalten, das niemandem lästig ist 

Wenn du weißt, daß du mit jemandem zusammen- 
kommen wirst, dann stelle dir, zumal wenn der Be- 
treffende eine hohe Stellung einnimmt, vor Augen, was 
in diesem Falte Sokrates oder Zeno getan hätte, und 
du wirst nicht in Verlegenheit sein, wie du dich würdig 
dem Fremden gegenüber benehmen sollst 

Willst du zu einem mächtigen Herrn gehen, dann 
denke: du wirst ihn nicht zu Hause treffen, man wird 
dich nicht vorlassen, man wird dir die Tür vor der Nase 
zuschlagen, er wird sich um dich gar nicht bekümmern. 
Mußt du trotz alledem noch hingehen, dann geh, laß 
kommen, was kommen mag, und sprich niemals bei dir: 
das war der Mühe nicht wert Das wäre niedrig und 
eine verkehrte Auffassung von Außendingen. 

In Gesellschaften meide es, oft und unbescheiden von 
deinen eigenen Taten und Gefahren zu sprechen. Denn 
wenn es dir auch Spaß macht, deiner überstandenen 
Gefahren zu gedenken, so macht es doch den andern 




\ 



1 



43 



nicht denselban Spaß, das zu hören, was dir zugesto- 
ßen ist 

Vermeide es auch Witze zu machen, denn eine solche 
Gewohnheit geht leicht ins Gewöhnliche über und ist 
außerdem geeignet, die Achtung deiner Mitmenschen 
gegen dich zu mindern. 



Gefährlich ist es auch im Gespräch auf schlüpfrige 
Gegenstände zu kommen. Wenn einmal etwas Derar- 
tiges in deiner Gegenwart vorkommt und es bietet sich 
eine passende Gelegenheit, so weise denjenigen zurecht, 
der so weit gegangen ist Sonst zeige wenigstens durch 
dein Schweigen, dein Erröten oder durch eine finstere 
Miene dein Mißfalten an diesem Gespräch, (XXXIII) 



44 



Wenn du dir einen sinnlichen Genuß vorstellst, so 
hüte dich ebenso wie bei den anderen Vor- 
stellungen, dich davon hinreißen zu lassen. Laß vielmehr 
die Sache auf dich warten und gewinne dir noch einen 
Aufschub ab. Dann stelle dir die beiden Zeitpunkte 
vor, den des Genusses, und den danach, wo dich die 
Reue packt und du dir selber Vorwürfe machen wirst 

Und dem stelle gegenüber, wie du dich freuen und 
mit dir selbst zufrieden sein wirst, wenn du dich ent- 
halten hast 

Wenn dir aber der Zeitpunkt des Genusses gekommen 
scheint, dann gib Obacht, daß dich nicht das Ein- 
schmeichelnde, die Reize und das Verführerische der 
Lust zu Falle bringen, sondern stelle dir dagegen vor, 
wieviel schöner das Bewußtsein für dich ist, einen 
solchen Sieg errungen zu haben, (XXXIV) 



45 



Wenn dir klar geworden ist, daß du etwas tun mußt, 
und du tust es dann, dann scheue dich niemals, 
dabei gesehen zu werden, auch wenn die große Menge 
deine Handlungsweise seltsam finden sollte. Denn 
wenn es unrecht ist, was du tust, dann führe die Sache 
überhaupt nicht aus; handelst du aber recht, was 
fürchtest du dich vor denen, die dich mit Unrecht 
schelten? (XXXV) 



46 



T 1 ri€ die beiden Sätze „es ist Tag" und „es ist Nacht" 
" sich zu einem Gegensatz sehr gut verwerten lassen, 
zu einer Verbindung aber nicht taugen, ebenso mag es 
wohl für den Körper von Vorteil sein, sich das größere 
Stück (beim Essen) herauszusuchen; zur Wahrung der 
Rücksicht, die den anderen Gästen gegenüber in einer 
Gesellschaft geboten ist, trägt es aber nichts bei. 

Wenn du also bei einem andern zu Gaste geladen 
bist, dann denke daran, daß man nicht bloß auf den Wert 
der aufgetragenen Speisen für den Körper sehen soll, 
sondern auch darauf, dem Gastgeber gegenüber den 
erforderlichen Anstand zu wahren. (XXXVI) 



47 



iirenn du eine Rolle übernimmst, der du nicht ge- 

" wachsen bist, dann wirst du damit wenig Ehre 

einlegen und hast außerdem auch die, welche du hättest 

ausfüllen können, versäumt. (XXXVII) 



48 



Wie du dich beim Gehen in acht nimmst, daß du nicht 
in einen Nagel trittst oder dir den Fuß ver- 
stauchst, ebenso gib acht, daß du an deiner Seele keinen 
Schaden leidest Wenn wir bei jeder Tätigkeit diese 
Vorsicht beobachten, dann werden wir um so sicherer 
ans Werk gehen können. (XXXVIII) 



49 



Als Maß für den Besitz soll für jeden sein Körper 
dienen wie der Fuß für den Schuh. Wenn du auf 
diesem Standpunkt stehst, dann wirst du immer das 
richtige Maß einhalten, wenn du aber darüber hinaus- 
gehst, dann wirst du zuletzt unweigerlich in den Abgrund 
stürzen. 

Es ist genau so wie beim Schuh. Wenn du einmal 
das Bedürfnis des Fußes überschritten hast, so kommt 
erst ein vergoldeter, dann ein purpurner, dann ein ge- 
stickter Schuh. 

Ist einmal das Maß überschritten, dann gibt es keine 
Grenze mehr. (XXXIX) 



Epiktet, HandbQchlein der Moral 



50 



Die Mädchen werden schon von ihrem fünfzehnten 
Jahre an von den Männern Herrinnen genannt Und 
wenn sie nun sehen, daß ihr Wert allein davon abhängt, 
wie weit sie den Männern gefallen, fangen sie an, sich 
zu putzen und darauf alle ihre Hoffnung zu setzen. 
Es ziemt sich daher, ihnen zum Bewußtsein zu bringen, 
daß sie nur dann geehrt werden, wenn sie sich sittsam 
und züchtig zeigen. (XL) 



51 



Es verrät Mangel an Begabung, wenn man sich lange 
mit körperlichen Dingen beschäftigt, z. B. wenn man 
zu viel Leibesübungen anstellt, zu viel ißt oder trinkt, sich 
alle Augenblick entleert oder wenn man ein Wollüstling 
ist Vielmehr soll man die Bedürfnisse des Körpers 
nebenbei befriedigen, seine ganze Aufmerksamkeit soll 
man auf die Ausbildung seines Charakters verwen- 
den. (XU) 



4* 



52 



Wenn dir jemand etwas Böses antut oder dir etwas 
Schlimmes nachredet, dann denke daran, daß er 
glaubt, daß er das tun oder sagen muß. Es ist doch 
nicht möglich, daß er das befolgt, was du, sondern was 
er für richtig hält. Deshalb hat er den Schaden, wenn 
er unrecht hat, denn er ist es, der sich geirrt hat. Denn 
auch wenn jemand eine richtige Schlußfolgerung für 
falsch hält, so schadet das der Schlußfolgerung nichts, 
wohl aber dem, der sich geirrt hat Wenn du das be- 
denkst, wirst du nachsichtig sein gegen einen, der 
dich lästert, denn du sagst dir jedesmal: es schien ihm 
recht so. (XLII) 



53 



Jedes Ding hat zwei Seiten, wo man es anfassen kann: 
auf der einen kann man es tragen, auf der anderen 
nicht. 

Wenn dein Bruder dir unrecht tut, so fasse die Sache 
nicht von der Seite an: er tut mir unrecht — das ist seine 
Handhabe, an der kannst du nicht tragen — sondern fasse 
es lieber von der andern Seite an: er ist mein Bruder, 
er ist mit mir aufgewachsen. So wirst du die Sache da 
anfassen, wo sie tragbar ist (XLIII) 



54 



Filgende Sätze sind unvereinbar: ,4ch bin reicher als 
du — also bin ich mehr wert als du'', oder ,,ich 
kann besser reden als du — also bin ich mehr wert 
als du". 

Wohl aber passen die beiden Sätze zueinander: ,,ich 
bin reicher als du — also ist mein Besitz mehr wert 
als der deinige", oder „ich kann besser reden als du — 
also ist meme Redeweise mehr wert als die deinige". 

Denn dein Wesen besteht weder im Besitz noch im 
Redenkönnen. (XLIV) 



55 



Es wäscht sich jemand zu eilig — sage nicht: er wasch 
sich schlecht, sondern: er wäscht sich schnell. 
Es trinkt jemand viel Wein, sage nicht: das ist ver- 
werflich, sondern nur: er trinkt viel. 

Woher weißt du denn, daß er schlecht handelt, du 
kennst ja den Grund seiner Handlungsweise nicht 

Auf diese Weise wird es dir nicht begegnen, daß du 
von einigen Dingen eine richtige Vorstellung gewinnst, 
andern aber, die du nicht erkannt hast, unüberlegt zu- 
stimmst (XLV) 



56 



N 



enne dich niemals einen Philosophen, sprich auch 
nicht viel unter den Leuten über philosophische 
Anschauungen, sondern handle danach. 

So z. B. sprich beim Mahl nicht davon, wie man essen 
soll, sondern iß so, wie man es soll. 

Erinnere dich doch, daß Sokrates bis zu einem solchen 
Grade den Schein gemieden hat, daß die Leute mit der 
Bitte um Empfehlung an Philosophen zu ihm kamen; 
ja er willfahrte ihrer Bitte. So leicht ertrug er es, über- 
sehen zu werden. 

Bist du unter gewöhnlichen Leuten und kommt das 
Gespräch auf einen Satz aus der Philosophie, dann 
schweige in der Regel, Denn es ist die Gefahr groß, 
daß du das wieder von dir gibst, was du noch nicht ver- 
daut hast Und wenn jemand zu dir sagt: „du weißt 
nichts**, und du bist nicht aufgebracht darüber, dann 
wisse, daß dir der Anfang gelungen ist. 

Denn auch die Schafe bringen ihr Futter nicht wieder 
den Hirten und zeigen, wie viel sie gefressen haben, 
sondern sie verarbeiten inwendig ihre Nahrung und 
geben nach außen Wolle und Milch. 

Auch du zeige den Laien keine Lehren von Philo- 
sophen, sondern Taten als Frucht dieser Lehren. (XLVI) 



4 




57 



Wenn du deinen Körper an Einfachheit gewöhnt hast, 
so prahle nicht damit; wenn du nur Wasser trinkst, 
so sage nicht bei jeder Gelegenheit: ich trinke nur 
Wasser. 

Und wenn du dich im Ertragen von Strapazen üben 
willst, so tu das für dich und nicht vor andern. 

Umarme nicht öffentlich kalte Bildsäulen, sondern 
wenn dich einmal heftig dürstet, nimm einen Schluck 
kalten Wassers, spei es wieder aus und sage es nie- 
mandem. (XLVII) 



58 



Eines Ungebildeten Zustand und Charakter: niemals 
erwartet er von sich einen Nutzen oder Schaden, 
sondern nur von äußeren Ereignissen, 

Eines Philosophen Zustand und Charakter: er erwartet 
allen Nutzen und Schaden von sich selbst 

Kennzeichen des Fortschreitenden: er tadelt nieman- 
den, lobt niemanden, grollt niemandem, beschuldigt 
niemanden, er spricht nicht von sich, als sei er etwas 
oder wisse er etwas* wird er durch irgend etwas ge- 
hindert oder gehemmt, dann klagt er sich selbst an- 
Wenn ihn jemand lobt, so lacht er bei sich über den, 
der ihn lobt, und wenn ihn jemand tadelt, erwidert er 
nichts. Er geht herum wie einer, der von der Krankheit 
noch schwach ist, der sich fürchtet^ etwas, das noch in 
der Festigung begriffen ist, zu bewegen, bevor es wieder 
erstarkt ist Jeden Wunsch hat er aufgegeben, seine 
Abneigung hat er auf das beschränkt, was widernatür- 
lich ist von den Dingen, die in unserer Gewalt sind. Sein 
Wollen ist in allen Dingen ohne Leidenschaft; er macht 
sich nichts daraus, ob man ihn für einfältig oder unge- 
bildet hält — mit einem Worte: er beobachtet sich fort- 
während wie einen Feind, der ihm nachstellt (XLVIII) 



^ 



4 




59 



I 
I 

I 



Wenn einer sich etwas darauf einbildet, daß er die 
Schriften des Chrysipp versteht und erklären kann, 
dann sprich zu dir selbst: Hätte sich Chrysipp nicht 
undeutlich ausgedrückt, dann hätte dieser hier nichts, 
worauf er sich etwas einbilden könnte. Ich aber, was 
will ich? 

Ich will die Natur kennen lernen und ihr folgen. Ich 
frage daher: wer erklärt sie mk? Und wenn ich hOre: 
Chrysipp, dann wende ich mich zu ihm. Aber ich ver- 
stehe seine Schriften nicht; ich suche daher jemanden, 
der sie mir erklärt. Bis dahin ist nach kein Grund stok 
zu sein. 

Wenn ich aber einen gefunden habe, der sie mir er- 
klären kann, dann bleibt mir noch übrig, die Lehren im 
Leben anzuwenden* Darauf allein kann man stolz sein. 

Wenn ich aber nur die Kunst des Erklärens bewundere, 
was bin ich da anders als ein Philologe anstatt eines 
Philosophen? Nur mit dem Unterschiede, daß ich statt 
des Homer den Chrysipp erkläre. 

Ich erröte daher noch mehr, wenn jemand zu mir sagt; 
jjLies mir aus Chrysipp vor**, wenn ich keine Taten auf- 
weisen kann, die seinen Lehren entsprechen. (XLIX) 




60 



Was du dir vorgesetzt hast, daran halte fest, wie an 
Gesetzen, als handeltest du gottlos, wenn du es 
überträtest 

Was man auch über dich sagen mag, kehre dich nicht 
daran, denn das steht nicht mehr in deiner Macht (L) 



61 



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I 



I 



Wie lange noch willst du es aufschieben, dich des 
edelsten Zieles für wert zu halten und in keinem 
Punkte wider die Vernunft zu handeln, die allein über 
gut und böse entscheidet. Du hast die Lehren empfangen, 
denen du beistimmen solltest und du hast ihnen zu- 
gestimmt. Auf welchen Lehrer wartest du also noch, 
um ihm das Werk deiner Besserung anzuvertrauen? 
Du bist kein unreifer Knabe mehr, sondern schon ein 
erwachsener Mann, Wenn du jetzt nachlässig und leicht- 
sinnig bist und immer nur Vorsätze um Vorsätze faßt 
und immer einen Tag nach dem andern festsetzest, 
nach dessen Ablauf du an dir arbeiten willst» dann wirst 
du, ohne es zu merken^ gar nicht vorwärts kommen, 
sondern dein Leben lang ein ungebildeter Mensch 
bleiben, bis du stirbst 

Halte dich also endlich für würdig wie ein erwachsener 
Mann und wie ein Fortschreitender zu leben. 

Und alles, was dir als das Beste erscheint, sei dir ein 
unverbrüchliches Gesetz. 

Und wenn dir etwas Beschwerliches oder Angenehmes, 
ebvas Ruhmvolles oder Ruhmloses entgegentritt, dann 
denke: jetzt gilt es zu kämpfen: da sind die olympischen 
Spiele, nun gibt es keinen Aufschub mehr! und: an 




62 

einem einzigen Tage, durch eine einzige Handlung wird 
das ganze bisher Errungene vernichtet oder erhalten. 
Sokrates hatte eine solche Vollkommenheit erreicht: 
bei allem, was ihm begegnete, achtete er auf nichts 
anderes als auf die Vernunft Du aber, wenn du auch 
noch kein Sokrates bist, solltest so leben, als wolltest du 
ein Sokrates werden. (LI) 



63 



Der erste und notwendigste Teil in der Philosophie 
ist die Anwendung ihrer Lehren im Leben, z, B.: nicht 
zu lügen. 

Der zweite handelt von den Beweisen, z. B.: weshalb 
man nicht lügen soll. 

Der dritte dient zur Begründung und weiteren Aus- 
gestaltung eben dieser Beweise: z. B, aus welchem 
Grunde ist dies ein Beweis? was ist überhaupt ein Be- 
weis? was eine Folge, was ein Widerspruch, was ist 
wahr und was falsch? 

Dieser dritte Teil ist notwendig wegen des zweiten 
und der zweite wegen des ersten; der notwendigste, mit 
dem man sich immer beschäftigen sollte, ist der erste» 
Wir aber machen es umgekehrt: wir beschäftigen uns 
mit dem dritten Teile und verwenden darauf all unseren 
Eifer. Um den ersten kümmern wir uns überhaupt nicht; 
deshalb lügen wir; wie man aber beweist, daß man nicht 
lügen darf — das ist uns geläufig, (LH) 



j 



64 



B 



ei allem sei uns dieser Spruch gegenwärtig: 



AUmächfger Zeus und du Verhängnis, führet mich 
Auf den Platz, der von euch bestimmt mir ist: 
Ich folge ohne Zaudern. WoUf ich's nicht — 
Ein Frevler war* ich, und ihr zwängt mich doch!^ 

„Wer dem Geschick sich wohl zu fügen weiß, 
Der ist uns weise und er kennt das Göttliche."* 

Ja, Kriton, wenn es den Göttern so gefällt, dann mag 
es so geschehend 

Töten können mich Anytus und Meletus wohl, doch 
schaden können sie mir nichts (LIII) 



ANHANG 

AUS VERLORENEN DIATRIBEN 
DES EPIKTET 



66 



An einen, der über die Substanz derDinge dis- 
putierte* 

„Was kümmert es mich", sagte er, „ob aus Atomen 
oder dem ,Uiiendlichen' oder aus Feuer und Erde (und 
den beiden andern Elementen) die Welt besteht? Ist es 
nicht genug, wenn man das Wesen des Guten und Bö- 
sen und die Maße unseres Strebens und Meidens, un- 
serer Neigungen und Abneigungen kennen lernt und nach 
ihnen als Richtschnur sein Leben einrichtet, dagegen 
den Dingen, die zu iioch für uns sind, ,Faiirwohl* sagt? 
Dingen, die vielleicht für die menschliche Erkenntnis un- 
erreichbar sind — wenn man aber auch durchaus an- 
nehmen wollte, daß sie erkennbar seien, was für Nutzen 
hätten wir von dieser Erkenntnis? Muß man nicht zu- 
geben, daß dieienigen sich unnütze Mühe machen, die 
diese Dinge als notwendig dem Gebiet der Philosophie 
zuweisen?** — 

„Es ist doch nicht etwa auch das Gebot am Tempel 
zu Delphi überflüssig, das ,Erkenne dich selbst*? — 
Das freilich nicht**, sagte er. — „Welches ist denn seine 
Bedeutung?" — Wenn man einem Chorsänger vor- 
schriebe, sich selbst zu erkennen ^ würde dieser dann 
nicht auf die Vorschrift seinen Sinn richten, indem er 
seine Aufmerksamkeit auf seine Mitsänger und auf den 
Einklang mit ihrem Gesang richtete? — „Gewiß.** — 
Und wie wäre es bei einem Seemann? Oder einem Sol- 
daten? Scheint dir also der Mensch geschaffen zu sein, 
für sich allein zu leben, oder scheint er dir zur Gemein- 
schaft bestimmt? — „Zur Gemeinschaft" — Von wem? 



— „Von der Natur." — Wer sie ist und wie sie im 




67 



Weltall waltet und ob sie vernunftbegabt ist oder nicht, 
braucht man sich darüber etwa keine Gedanken zu 
machen?*^ (I) 

(Mensch und All) 

Alles gehorcht dem Kosmos, ihm dient alles: Erde und 
Meer, die Sonne und die anderen Gestirne und alles 
was da lebt und webt auf Erden. Ihm gehorcht auch 
unser Körper, der krank oder gesund ist, blüht und ver- 
welkt und die anderen Wandlungen durchmacht, wie 
jener es bestimmt. Daher ist es wohlgetan, daß auch 
das, was in unserer Macht steht, d. h. unser Urteil, nicht 
allein ihm widerstrebt. Ist er doch gewaltig und stärker 
als wir, er, der zusammen mit dem Ganzen auch über 
uns waltet Außerdem aber verursacht der Widerstand, 
der unvernünftig ist und nichts weiter ausrichtet als daß 
wir uns vergeblich sträuben, auch noch Kummer und 
Schmerzen* (HI) 



Von den Dingen hat Gott die einen in unsere Macht 
gegeben, die anderen nicht: in unsere Macht das 
Schönste und Wichtigste, wodurch auch er selbst glück- 
selig ist: den Gebrauch der Vorstellungen. Denn wenn 
wir diese recht gebrauchen, so bedeutet das für uns 
Freiheit, Wohlfahrt, Gemütsruhe und Beständigkeit; es 
bedeutet auch Recht, Gesetz, Selbstbeherrschung, Über- 
haupt jede Tugend. Alles andere hat Gott nicht in unsere 
Macht gegeben. Daher müssen auch wir mit Gott über- 
einstimmen, in dieser Weise die Dinge einteilen und 



68 



nach denen, die in unserer Macht sind» auf alle Weise 

trachten, dagegen diejenigen, die nicht in unserer Macht 
stehen, dem Kosmos anheimstellen und, mag er nun die 
Kinder, die Heimat, den Körper oder sonst etwas von 
uns fordern^, dies ihm freudig überlassen, (IV) 

\1 rer von uns bewundertnicht die Handlungsweise des 
" Spartaners Lykurg? — Es war ihm nämlich von 
einem seiner Mitbürger ein Auge ausgeschlagen wor- 
den. Darauf hatte ihm das Volk den Jüngling ausge- 
liefert, damit er sich an ihm rächen könne, wie es ihm 
beliebe. Er verzichtete jedoch auf die Rache; vielmehr 
erzog er jenen und machte ihn zu einem tüchtigen Mann« 
Dann nahm er ihn mit sich in die Öffentlichkeit Als 
die Spartaner sich darüber wunderten, sagte er: „Die- 
sen habe ich von euch als Frevler und Übeltäter be- 
kommen; ich gebe ihn euch als ordentlichen und freund- 
lichen Menschen zurück/' » (V) 

Zu glauben, daß man den andern verächtlich sein werde, 
wenn man seinen Feinden nicht auf jede Weise Scha- 
den zufügt — das ist das Zeichen eines unedlen und 
törichten Menschen. Freilich wird jemand auch inso- 
fern er nicht imstande ist, einem zu schaden, für ver- 
ächtlich gehalten. Aber weit mehr hält man einen 
deshalb für verächtlich, weil er nicht imstande ist, zu 
nützen. (VlI) 

So war die Natur des Kosmos, so ist sie und so wird 
sie ewig bleiben/*, und es ist unmöglich, daß das 
Geschehen anders verläuft als es jetzt der Fall ist Und 



4 



69 



an diesem Wandel und Wechsel nehmen nicht nur die 
Menschen und die übrigen irdischen Wesen teil, son- 
dern auch die göttlichen Dinge und — bei Gott! die 
vier Elemente selbst werden aufwärts und abwärts ge- 
wandelt und verändert: Erde wird zu Wasser und Wasser 
zu Luft, und diese wieder verwandelt sich in Äther, Und 
dieselbe Art der Umwandlung findet auf dem Wege von 
oben nach unten statt. Wer versucht, seinen Sinn auf 
diese Tatsache zu wenden und sich willig dem Unab- 
änderlichen zu beugen, der wird sein Leben voll Maß 
und Harmonie gestalten. (VHI) 



Die Vorstellungen, durch die der Geist des Menschen 
unmittelbar beim ersten Innewerden eines äußeren 
Vorgangs einen Stoß erhält, sind nicht freiwillig oder 
willkürlich, sondern drängen sich mit einer Art Gewalt 
den Menschen ins Bewußtsein. Die Zustimmung aber, 
durch die eben diese Vorstellungen als berechtigt an- 
erkannt werden, ist freiwillig und geschieht Infolge der 
bewußten Entscheidung des Menschen, Deshalb wird 
auch der Geist des Weisen, wenn irgend ein schreck- 
liches Geräusch, z. B, beim Gewitter oder beim Einsturz 
eines Gebäudes an sein Ohr schlägt oder wenn ihn 
plötzlich die Nachricht von einer drohenden Gefahr oder 
Ähnliches trifft, notwendigerweise einen Augenblick er- 
schüttert und beklommen, nicht weil er die Meinung ge- 
faßt hat, irgend etwas Schlimmes stehe ihm bevor ~ 
nein, es kommt vielmehr von gewissen plötzlichen und 
ungewollten Bewegungen, die dem Dienst des Geistes 
und der Vernunft zuvorkommen* Aber alsbald versagt 



70 



der Weise derartigen Vorstellungen seine Zustimmung; 

er verwirft sie und findet niclits Fürchterliches an die- 
sen Erscheinungen. Und das ist der Unterschied zwischen 
dem Geist des Unweisen und dem des Weisen: der Un- 
weise meint, daß die Dinge in Wahrheit so schlimm und 
so schrecklich seien, wie sie ihm beim ersten Eindruck 
erschienen sind, und daher billigt er die anfänglich ge- 
faßten Vorstellungen auch noch nachträglich durch seine 
bewußte Zustimmung — als ob jene Dinge mit Recht 
zu fürchten seien. Der Weise dagegen versagt — mag 
sich ihm auch Miene und Farbe auf einen Augenblick 
flüchtig gewandelt haben — jenen ersten Eindrücken 
seine Zustimmung und bewahrt seinen festen Standpunkt, 
den er solchen Vorstellungen gegenüber stets eingenom- 
men hat, Vorstellungen, die in keiner Weise ernsthaft 
zu fürchten sind, sondern nur durch eine schreckliche 
Larve, hinter der nichts ist, einen unwillkürlichen Schau- 
der einjagen. (IX) i" 

Als Archelaos den Sokrates eingeladen hatte, um ihm 
von seinem Reichtum abzugeben, ließ dieser dem 
König antworten: „In Athen kosten vier Liter Gersten- 
graupen einen Obolos, und Wasser spenden die Quel* 
len in Fülle." Wenn nämlich das Vorhandene für mich 
nicht genügt, so begnüge ich mich doch mit dem Vor- 
handenen und so genügt auch dieses für mich. — 
Oder meinst du etwa, daß Polos ^^ den König ödipns 
mit schönerer Stimme oder mit mehr Zauber spielt als 
den Landstreicher und Bettler auf Kolonos?^^ Und da 
soll der tüchtige Mann durch Polos beschämt werden 



4 
4 



i 



4 



71 



und nicht jede von der Gottheit zugewiesene Rolle gut 
spielen? Wird er nicht vielmehr den Odysseus nach- 
ahmen, der in seinen Lumpen nicht weniger hervor- 
strahlte als im purpurnen Königsniantel?^^ (XI) i* 

Aber man sieht doch, wit die ,Qüten und Tüchtigen' 
vor Hunger und Kälte umkommen! " *^ — Siehst du 
vielleicht nicht, daß die nicht ,Guten und Tüchtigen* 
vor Schlemmerei und Prahlerei und vor Mangel an allem 
Guten und Schönen umkommen? — „Aber es ist eine 
Schande, sich von einem andern ernähren zu lassen." 
— Du Narr, wer erhält sich denn überhaupt ganz aus 
sich selbst — mit Ausnahme des Kosmos? ^^ — Wer 
daher die Vorsehung beschuldigt, daß die Schlechten 
keine Strafe erleiden, vielmehr noch von Gesundheit 
strotzen und Reichtümer aufhäufen, der könnte ebenso 
gut behaupten: „Mögen sie auch ihre Augen verloren 
haben — Strafe haben sie darum nicht erlitten, sind 
doch ihre Fußnägel gesund!" — Denn das ist sicher: 
der Unterschied zwischen sittlicher Tüchtigkeit und dem 
Reichtum ist noch viel größer als der zwischen Augen 
und Fußnägeln! (XIII) 



1 1 renn der Arzt nichts verordnet, dann zürnen ihm die 
'" Kranken und glauben von ihm aufgegeben zu sein. 
Aber dem Philosophen gegenüber — warum ist man da 
nicht so gestimmt, daß man glaubt, betreffs seines sitt- 
lichen Zustandes von ihm aufgegeben zu sein, wenn er 
zu einem nichts von Bedeutung sagt? (XIX) 




72 



Diejenigen, mit deren Körper es gut steht, halten 
auch Hitze und Kälte und andere Strapazen aus. 
So lassen auch die^ mit deren Seele es gut steht, 
Zorn und Kummer, übermäßige Freude und die 
anderen Gemütsbewegungen nicht über sich Herr 
werden. (XX) 



Wunderbar ist die Natur und -^ mit Xenophon zu 
reden 1' — voll Liebe zur Kreatur. Den Körper 
wenigstens, von allen Dingen das unerfreulichste und 
schmutzigste, lieben und pflegen wir. Wenn wir aber 
nur fünf Tage lang den Körper unseres Nachbarn be- 
sorgen sollten, so hielte das kein Mensch von uns aus! 
Denn, mache dir nur einmal klar, was das heißen will: 
morgens nach dem Aufstehen die Zähne eines andern 
zu putzen und seine sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen 1 
Es ist wahrhaftig seltsam, eine Sache zu lieben, der wir 
täglich solche Dienste leisten müssen! — Ich fülle diesen 
Sack, dann entleere ich ihn. Was ist widerlicher als 
dies? — Doch ich muß Gott willfahren*^. Deswegen 
harre ich aus und gewinne es über mich, diesen un- 
seligen Leib zu warten, zu füttern und zu bedecken. — 
Als ich jünger war, begehrte er noch anderes von 
mir, und gleichwohl ertrug ich ihn. — Warum sträubt 
ihr euch daher, wenn die Natur euch den Körper 
nehmen will, sie, die ihn euch doch gegeben hat? — 
„Ich liebe ihn/ — Hat dir denn nicht auch eben 
diese Liebe die Natur gegeben? Sie selbst sagt aber: 
„Laß den Leib fahren, dann hast du keine Plage 
mehr.**^« (KKliy^ 



73 

1 irenn du auf jemanden voll Erbitterung in drohen- 
" der Haltung losgehst, dann vergiß nicht, dir vorher 
zusagen: „Du bist sanftmütig.** — Und wenn dich dann 
die Leidenschaft nicht fortgerissen hat, wirst du ohne 
Reue und ohne Schuld bleiben. (XXV) 



ANMERKUNGEN 



» Vgl. Fragmente XI. 

' Den Glauben an Vorzeichen teilt Epiktet mit den meisten 
Stoikern ; aber da das wahre Glück des Menschen allein in 
ihm selbst liegt^ so ist für Epiktet der Glaube an Weis- 
sagungen und Vorbedeutungen gänzlich belanglos. Vgl 
Diss. I 17. 11 7, Handbüchl. Cap, 3Z 

* Verse des Stoikers Kleanthes (fr 527 Arnim), der etwa 
270—250 V. Chr. Haupt der Stoa war. 

* Verse des Euripides (fr. 956 Nauck). 

^ Worte des Sokrates in Piatons Kriton (43 d) und in der 
Apologie (30 c). 

* Die Übersetzung dieses Fragmentes ist an einigen Stellen 
Infolge noch nicht geheilter Textverderbnisse zweifelhaft 

^ D, h. wenn unsere Kinder oder wir sterben oder in die 
Verbannung gehn müssen. 

* Die Geschichte ist eingehend im 11, Kapitel vonPlutarchs 
spLykurg" erzählt. Dort ist auch der Name des Jünglings 
(Alkandros) genannt. Dieser soll, wie viele andere, durch 
die Einführung der Syssitien (der gemeinschaftlichen Männer- 
mahle) gegen Lykurg erbittert worden sein. 

' Im Vorhergehenden, das nicht erhalten ist, muß von der 
unablässigen Veränderung aller Dinge, die steh mit innerer 
Notwendigkeit als Auswirkung des göttlichen Logos vollzieht, 
die Rede gewesen sein. Diese Anschauung von dem »Fluß 
aller Dinge** haben die Stoiker bekanntlich von Herakleltos 
übernommen (vgl. fr. 12 und 91 Diels). Noch auf Goethe hat 
sie tief gewirkt: „Ach, und in demselben Flusse schwimmst 
du nicht zum zweitenmal*" — Für den praktischen Epiktet 
ist sie übrigens nur von geringer Bedeutung; ganz anders bei 
dem einsamen Grübler Marc AureL — Auch die unaufhöriiche 
Wandlung der Elemente ineinander (der Begriff Element in 
modernem Sinn als einer qualitativ unveränderlichen Substanz 
ist dem Herakleitos noch ebenso fremd wie der Stoa), hat 
zuerst H. gelehrt, vgl. fr. 31 und 76 Diels. Nur kennt er noch 




75 



keine vier Elemente, da diese erst Empedokles gelehrt hat, 
von dem sie die Stoiker abernommen haben. — Beim Prozeß 
der Weltbildnng ist nach Herakleitos das Werden der Dinge 
aus dem Urfeuer „der Weg nacli unten*, wie umgekehrt bei 
der Weltzerstömng deren Rückverwandlung in das Feuer „der 
Weg nach oben". (Vgl Diels, Herakleitos von Ephesos S, 15 
zu fr* 60,) Denn die stoffliche Veränderung ist für ihn, wie 
später für die Stoa, zugleich Ortsveränderung, Das zu Feuer 
Werdende strebt aufwärts, das zu Wasser bzw. Erde sich 
Wandelnde abwärts, — Übrigens findet in der JeMzeit nur 
ein teilweiser Übergang der Elemente ineinander statt. Aber 
auch dieser wird von den Späteren, z» B. den Stoikern, oft 
als der Weg von oben nach unten und umgekehrt bezeichnet 
— Der Äther ist das erste der vier stoischen Elemente, Er 
ist pfeines Feuer*', aber von dem irdischen Feuer nicht nur 
durch seine größere Feinheit, sondern vor allem durch seine 
Potenz (als schöpferische Kraft) durchaus unterschieden. 
Näheres in meiner Übersetzung der „Schrift von der Welt" 
zu Kapitel II. 

** Dies Fragment zeigt in höchst anschaulicher Weise, wie 
die Stoa das Ideal des Weisen den Zufälligkeiten des täg- 
lichen Lebens gegenüber aufrecht zu erhalten sucht 

" Ein berühmter Schauspieler damals. 

** Anspielung auf die beiden sophokleischen Dramen „König 
ödipus** und „ödipus auf Kolonos". 

*' Anspielung auf Odyssee 18, 74 (und 19, 225), wo die 
Freier vom unerkannten Bettler sagen: j^Weich mächtigen 
Schenkel läßt der Alte aus seinen Lumpen hervorscheinen!* 

** Zum Gedanken des Ganzen vgL Handbüchlein Kapitel 17, 
Der Vergleich des Weisen mit dem guten Schauspieler geht 
auf Bion von Borysthenes (in der ersten Hälfte des dritten 
Jahrhunderts v, Chr.) zurück, wie O, Hense gezeigt hat 

*ß Das Fragment enthält ein Stückchen der stoischen Theo- 
dicee. Im Vorhergehenden wird vermutlich von der Glück- 
seligkeit des sittlich Tüchtigen die Rede gewesen sein* 
Gegen die landläufigen Einwürfe, wie sie von gegnerischer 



76 



(skeptischer bzw, epikureisclier) Seite gegen diese Grund- 
lehre der Stoa erhoben wurden, wendet sich das Fragment 

*« Nur der Kosmos ist vollkommen, amoTsXijg, d, h, er hat 
seinen Zweck in sich selbst, er aliein erhält sich durch eigene 
Kraft Denn selbst die göttlichen Gestirne bedijrfen der Er- 
nährung durch die Ausdünstungen des Meeres bzw. der irdi- 
schen Gewässer. 

" Denkwürdigkeiten I 4, 7. 

** D- h- da er es einmal so eingerichtet hat 

*' Der Selbstmord ist bekanntlich nach stoischer Lehre 
erlaubt 

«" Vgl. Einleitung S. XXV t und S. XXII f. Der Inhalt dieses 
Fragments wird zunächst den modernen Leser befremden. 
Es ist aber für die kynische Seite in Epiktets Wesen zu 
charakteristisch, als daß es hier fehlen dürfte. Und die Sache, 
von der es handelt, ist so alt und so jung wie das Menschen- 
geschlecht selbst Denn das Problem, das Epiktet hier be- 
rührt, wird so lange existieren^ wie es Menschen mit Fleisch 
und Blut geben wird 



INHALT 

Seite 

Einleitung V 

Handbüchlein der Moral 1 

Aus verlorenen Diatriben des Epiktet . . 65 

Anmerkungen 74 



DRUCK DER SPAMERSCHEN 
BUCHDRUCKEREI LEIPZIO-R. 



Handbuchtein der Morat. 
Wlderwr Llbran 




004171731 



3 2044 085 112 605 



Jll