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CONSTANTIUS FUND
E&tabll&hed by Prrifes&or E. A, Sofkocles of Harvard
Univcrsity for " tlic purchase ol Gretk and Latin
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books* or of bonka illustrahng^ or cjt-
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nO'l 6 1907
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VON DIESEM BUCHE WURDEN 20 ABZÜGE
ZUM PREISE VON FÜNFZEHN MARK FÜR JEDES
EXEMPLAR AUF ECHT JAPAN -BÜTTENPAPIER
HERGESTELLT /IN GANZPERGAMENT GEBUN-
DEN UND HANDSCHRIFTLICH NUMERIERT
äs'
^aiNE der merkwürdigsten Epochen in
der Entwicklung der geschichtlichen
Menschheit ist die römische Kaiser-
zeit Eine Kulturperiode, reizvoll wie
^^ wenige der Weltgeschichte, voll der
\^ eigenartigsten Gegensätze und Bertih-
rungen — oft unvermittelt nebeneinander das Alte, das
noch nicht sterben kann, und das Neue, dem die Zu-
kunft gehört, das schon geboren ist> sich aber der Welt
noch nicht zeigen darf und deshalb in der Stille, von
der Mehrzahl der Zeitgenossen, zumal den höheren
Ständen, kaum beachtet, zum Licht strebt Und wie-
derum die innigsten Berührungen zwischen Altem und
Neuem, wie zwischen der christlichen Weltanschauung
und der stoischen Philosophie, zwischen der christ-
lichen Verachtung aller irdischen Güter, auch des
Wissens, und der Armenieutephilosophie der Kyniker
in Rom und Athen! Bildet doch diese Periode eine
Scheide zweier Weltalter^ wenn man dies stolze Wort
von Verhältnissen auf unserem Planeten gebrauchen
darf, eine Scheide, nicht scharf und schroff abgegrenzt,
sondern, wie überall im geschichtlichen Leben, ein
Grenzgebiet, auf dem Altes und Neues, Verwelkendes
und Erblühendes sich miteinander vermischen, sich
durchdringen, ineinander verschwimmen.
Von dieser für die Folgezeit bis auf die Gegenwart
so bedeutsamen Periode, die noch kürzlich durch den
Roman des Polen Sienkiewicz dem Interesse der ge-
samten Kulturwelt, wenn auch nicht in allen Zügen
richtig, so doch zum Greifen deutlich vor Augen ge-
VI
stellt wurde, haben trotEdem die meisten unserer „Ge-
bildeten** eine nur sehr unzureichende Kenntnis. Viele
stellen sie sich einfach als ein Zeitalter furchtbarster
geistiger und sittlicher Dßcadence vor, in dem die Men-
schen von Grausamkeit und Wollust erfüllt auf nichts
als Sinnenkitzel und banausischen GenuB bedacht ge-
wesen seien. Daß diese Anschauung durchaus einseitig
ist und nicht einmal für die Großstadt Rom ein richtiges
Bild gibt, weiß jeder, der auch nur Friedländers Römi-
sche Sittengeschichte durchgeblättert hat Wer aber die
Quellen selbst kennte der weiß längst, daß insbeson-
dere das sittlich-religiöse Gefühl in breiten Schichten
der griechisch-römischen Bevölkerung nicht nur wirk-
lich lebendig, sondern in beständigem Wachsen be-
griffen war. Nicht nur ergreifende Äußerungen in der
damaligen Literatur zeigen das, sondern sogar die Steine,
d, h. zahlreiche Inschriften und bildliche Darstellungen,
z. B, auf Sarkophagen, Urnen und Grabdenkmälern. —
Die Beschäftigung mit dem eigenen Ich wird für die-
jenigen, deren Seele in den Beschäftigungen des All-
tages kein Genüge findet, immer mehr zur Hauptsache.
^Wer bin ich? Wozu bin ich auf der Welt? Welchen
Platz nimmt der Mensch im Kosmos ein? Worauf
kommt es in Wahrheit für uns an?" ~ Dies und Ver-
wandtes sind die Fragen, die damals Tausende ernster
Menschen Tag und Nacht beschäftigen. Einer der
Besten der Zeit sagt einmal: „Der Anfang der Philo-
sophie — d. h. in dieser Zeit: der Lebensweisheit —
ist die Wahrnehmung der eigenen Schwäche und Ohn-
tnacfat den notwendigen Dingen gegenüber." — Das
VII
Bedürfnis nach Erlösung von dieser Welt der Unvoll-
kommenheit und Rätsel ist in Tausenden je nach ihrer
Eigenart mehr oder weniger lebhaft und nicht erst seit
den Tagen des „Antichrists", des Kaisers Nero — es
erwacht schon in der Zeit Alexanders, als das maze-
donische Reich die griechischen Bürgerstaaten aufge-
sogen hatte. Freilich wird die Masse der Bevölkerung,
zumal im kaiserlichen Rom — wie heute — von der
Jagd nach materiellem Gewinn und Sinnengenuß be-
herrscht ^Panem etCircenses!" ist der Ruf des haupt-
städtischen Proletariats: Hunger und Schaulust — die
rohste Art des geistigen Hungers — sind ihre Haupt-
triebe, und die römischen Cäsaren wußten wohl, warum
sie solch ungeheuerliche Summen für die Spiele und
Kämpfe im Zirkus und im Theater aufwendeten* Eine
ernsthafte soziale Gärung hat das kaiserliche Rom trotz
seines massenhaften Proletariats nicht gekannt ~ In
den Kreisen des Hofes aber, überhaupt der vornehmen
römischen Gesellschaft herrscht bei wahnsinnigem Luxus
trotz aller rhetorischen Scheinbildung geistige Öde und
Blasiertheit, überhaupt eine müde Skepsis allen Gütern
des Lebens gegenüber — abgesehen von äußeren Ehren
und persönlichen Vorteilen*
In dieser Zeit treten in Italien und Griechenland, ja
auch in Kleinasien und Syrien, eine Reihe Männer auf,
die man am besten als Sittenprediger bezeichnet ~ sie
selbst nennen sich ^.Philosophen"; wie weit mit Recht,
wird sich nachher ergeben. Meist Angehörige der kyni-
sehen oder stoischen Sekte, wenden sie sich mit ihrer
populären Predigt an die breiten Massen des Volkes,
VIII
ayf der Straße und auf dem Markt, beim Werktags-
treiben wie bei Festversaramlungen. Schon durch ihre
äußere Erschemung ziehen sie die Blicke der Menge
auf sich. Nur mit dem Tribon angetan^ einem doppelt
umlegbaren^ ärmellosen Kleidungsstück, das die rechte
Schulter frei läßt und kaum bis auf die Knie reicht,
dazu barfuß und nur mit Stab und Ranzen ausgerüstet
— so ziehen sie von Ort zu Ort, von milden Gaben der
Menge lebend, die heimlich über sie lacht und der sie
doch imponieren. — Solche Gestalten waren schon
einmal in der antiken Welt aufgetaucht, in den Tagen
des großen Alexander und der Diadochen, als die
griechische Gesellschaft begonnen hatte, sich in ihre
Elemente zu zersetzen. Aber während es damals nur
einzelne Originale bzw. Charaktere gewesen waren, die
der griechischen Gesellschaft durch Wort und Tat ge-
zeigt hatten, wie weit man sich von ihr emanzipieren
könne, treten jetzt diese „Philosophen" in Scharen auf
und halten vor einem stets zahlreichen Publikum aus
allen Schichten der Bevölkerung, zumal aber der unteren
Stände, ihre Vorträge über Tugend und Glückseligkeit,
die Jeder, der will, erwerben kann. Freilich bringen
viele unlautere Elemente unter ihnen den Namen des
Philosophen in Mißkredit — elende Heuchler und
Schmarotzer, Prahler und Lüstlinge, wie sie besonders
Lukian in manchen seiner Satiren mit beißendem Spott
entlarvt hat, aber es gibt doch auch wirkliche Charak-
tere unter ihnen, die von reinstem Streben beseelt, die
sittliche Besserung ihrer Mitmenschen zu ihrem Beruf
erwählt haben, um sie so zum wirklichen Glück hinzu-
IX
führen. Diese Männer legen für ihre hohen Lehren vor
■ allem durch ihr Leben ein mächtiges Zeugnis ab; so
der Kymker Demetrius, den Seneca nicht genug preisen
kann, dann Demonax, der Typus des milden Menschen-
freundes und Seelsorgers, der dem Kynismus nahe-
stehende Stoiker Musonius Rufus und allen voran
Epiktet, der nicht nur auf viele der Besten seiner
Zeit einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, sondern
auch auf die Nachwelt eine überraschend tiefe Wirkung
geübt hat
Die Form, in der diese Moralisten sich an die Menge
wenden» pflegt seit dem letzten Jahrzehnt wieder mit
ihrem antiken Namen „Diatribe** genannt zu werden.
Sie ist deshalb von allgemeinem Interesse, weil, wie zu-
erst Wilamowitz in seinem Exkurs „Der kynische Pre-
diger Teles*" gezeigt hat, von ihr die Fäden unmittelbar
zu den christlichen Predigern der ersten Jahrhunderte
und von da bis ins Mittelalter führen. — Wenn Plato
für die tiefsten philosophischen Erörterungen, die in
einem Kreise Auserwählter stattfanden, als Kunstform
den Dialog erfunden und meisterhaft gehandhabt hattCi
so eignete sich dieser doch nicht für moralische Dar-
legungen, die sich an die breite Masse der Menschen,
gleichviel welches Bildungsgrades, wendeten. Man gab
daher die streng dialogische Form seit dem Auftreten
des Diogenes und anderer auf und ließ die Gedanken
durch einen einzigen vortragen, der die Einwürfe eines
fingierten Gegners, der mit einem „Aber" oder „sagt
er" eingeführt wird, widerlegt Zugleich verzichtet man
auf die edle Ausdrucksweise der platonischen Dialoge
und nähert durch korze Sätze und saloppe Diktion die
Sprache der des täglichen Lebens an, sucht aber dabei
doch durch rhetorische Mittel, wie Beispiele aus Sage
und Geschichte, aus Homer und Euripides, durch schla-
gende Vergleiche, Allegorien^ Personifikationen der
Dinge, auch wohl durch eine Anekdote, auf das bunt
zusammengewtirfelte Publikum einen fesselnden Reiz
auszuüben, — Inhaltlich sind diese Diatnben volks-
tümliche Erörterungen über Fragen der praktischen
Moral: vom Tode, von der Verbannung, von Armut und
Reichtum, von der Ehe, vom Alter, gegen den sinnlichen
Genuß, die Habsucht, den Luxus, die Inkonsequenz und
Ruhelosigkeit der Menschen, andererseits über die sitt-
liche Übung, die Abhärtung, die Tugend, den Frieden
des Gemütes, die wahre Freiheit und vieles andere.
Es sind aus älterer Zeit überkommene Themata, über
die diese Popularphilosophen sprechen» und ihre Ge-
danken halten sich meist in den überlieferten Geleisen,
ganz wie bei den altchristlichen Predigern und Schrift-
stellern. Und manche Argumente für das Walten der
Vorsehung oder über das wahre Glück des Menschen
sind schon im dritten Jahrhundert vor Christus oder zur
Zeit Neros und Domitians von diesen antiken Wander-
predigern vorgetragen worden, deren Erbe das alte
Christentum in Polemik und Apologie ebenso skrupel-
los wie geschickt für seine Zwecke verwendet hat
In den Rahmen dieser eigenartigen Literaturgattung
fällt aber nicht nur der größte Teil der uns erhaltenen
Ausführungen des Epiktet, sondern — abgesehen von
Resten aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert —
XI
auch ein nicht unbedeutender Teil der Schriften des
Cicero wie des Seneca und last not least der Satiren
und Episteln des Horaz.
Die zurZeit des Piaton und Aristoteles Himmel und Erde,
Weltall und Einzelleben umspannende Philosophie
war mit unter dem Einfluß der politischen und kultu-
rellen Entwicklung im Laufe der nächsten drei Jahr-
hunderte zur Ethik und diese seit der Begründung des
Kaiserreichs zur praktischen Lebensweisheit» ja zur Moral
des gesunden Menschenverstandes, des richtigen Ge-
fühls, zusammengeschrumpft. Nicht einmal von einem
wirklichen System der Ethik, wie es die alte Stoa be-
gründet, die mittlere durch Panaitlos und Poseidonios
erneuert und vertieft hatte, ist noch die Rede, Aber die
Kardinalfrage, die schon die Metaphysik des Zeno und
des Chrysipp beeinflußt hatte, ist noch dieselbe wie
damals: ^Wie werden wir dauernd glücklich?"^ Kommt
es doch diesen Moralisten und ihren zahlreichen Hö-
rern allein auf den Frieden des inneren Menschen an.
Zwei Richtungen sind unter diesen Aposteln der Sitt-
lichkeit zu unterscheiden: Kynismus und Stoa,
Schon die alten Kyniker, Sokrates' Schüler Antis-
thenes wie seine Nachfolger Diogenes und Krates, der
auf sein großes Vermögen freiwillig verzichtete, hatten
tief erkannt, daß das unzerstörbare Glück des Menschen
auf der Entsagung beruhe, Ihre Kernlehre ist die von
der Freiheit, die ihnen mit Tugend und Glück eins ist
Unter Freiheit aber verstehen sie ein Doppeltes: die
xn
Unabhängigkeit nach außen — von allem Äußeren, nicht
nur vom Körper, Besitz, Ansehen und Ruhm, nein, so-
gar von der Familie und Freundschaft, von Beruf, Staat
und Vaterland, so daß der einzelne ganz in sich selbst
Genüge findet: sie nennen das die „Autarkie** — und
die Unabhängigkeit nach innen, den Regungen und Be-
gierden der eigenen Natur gegenüber; die „Apathie",
denn dieser Ausdruck hat bei ihnen seine ursprüng-
liche Bedeutung; „Freiheit von Affekten", nicht die-
jenige, die wir ihm heute beilegen.
Nur die Tugend ist ein Gut, nur das Böse ein Übel;
alles übrige auf der Welt ist für den Menschen ein
„Adiaphoron*', d, h. es kommt nichts darauf an. Da
aber der kynische Tugendbegriff mit dem der Freiheit
zusammenfällt und diese nach außen hin die äußerste
Bedürfnislosigkeit ist, so stehen sie allen Errungen-
schaften der menschlichen Kultur grundsätzlich ableh-
nend gegenüber, dem Staat wie der Kunst, dem Fa-
milienleben wie der Wissenschaft, Anstatt dessen stellen
sie das Leben „gemäß der Natur" als Ideal auf, das
sie mit radikaler Konsequenz in die Wirklichkeit um-
setzen, was freilieh in Südeuropa bei dem milden Klima
und der freigebigen Natur leichter durchzuführen war,
als es bei uns im Norden sein würde, Sie negieren
aber, indem sie ihr Prinzip überspannen, nicht nur Staat
und Vaterland, sondern in Wahrheit überhaupt die ganze
menschliche Gemeinschaft, sind also kraß individuali-
stisch; wenn es nach ihnen ginge, würde sich diemensch-
liche Gesellschaft in ihre Urbestandteite auflösen, so daß
man sie die Atomisten unter den Ethikern nennen könnte.
xin
Daß sie in der praktischeii Durchführung ihres Ideals
im Gegensatz zu der so wunderbar reichen griechi-
schen Kultur oft zu auffallenden Ergebnissen gelangten,
leuchtet ein; so wettern sie z. B. nicht nur gegen den
Luxus und gegen den Reichtum, sondern auch gegen
die Reichen selbst, die nach kynischer Anschauung in
Wahrheit ein jammervolles Dasein voll Sorge und voll
Überdruß haben. Bei ihrem Haß gegen die Reichen aber
eine soziale Umwälzung im Sinne einer gleichmäßigen
Güterverteilung herbeizuführen, kann ihnen schon des-
halb nicht in den Sinn kommen, weil alle wirtschaft-
lichen und gesellschaftlichen Güter, wie Geld und Gut,
Titel und Würden, die von den Proletariern unserer
Tage in ebenso törichter wie verhängnisvoller Weise
überschätzt werden, für diese „Philosophen des griechi-
schen Proletariats", wie sie ein Zeitgenosse Goethes
genannt hat, überhaupt keine Bedeutung haben! Denn
was haben irdische Dinge mit dem Frieden der mensch-
lichen Seele zu tun? — So beschränken die Kyniker
ihre Nahrung auf Gerstengraupen, Lupinen, Feigen und
Wasser, übernachten unter den Säulenhallen der Tem-
pel oder in den Badeanstalten uod ertragen Hitze und
Kälte, Hunger und Durst in fast übermenschlicher
Weise. Denn oft treiben sie ihre Bedürfnislosigkeit
und ihre Abhärtung bis zur bewußten Askese; auch
dies Wort, das Übung bedeutet, hat schon Diogenes
angewendet-
Aus der kynischen Literatur der Kaiserzeit sind nur
wenige, zum Teil allerdings merkwürdige Reste er-
halten. Aber auch sie zeigen zur Evidenz, daß die Haupt-
XIV
stärke der Kyniker die Verneinung ist Das wird auch
an ihrer Stellung zur Religion offenbar. Gegen den Poly-
theismus, gegen die griechische Götterwelt, haben sie
zur Zeit Alexanders wie zu der' Marc Aureis heftig ge-
eifert und auch dadurch den streitbaren Kämpfern der
alten Kirche die Waffen geliefert; aber etwas Positives
haben sie dafür nicht an die Stelle gesetzt. Zwar haben
sie die Existenz der Gottheit nie bestritten, vielmehr
gelegentlich ihre Einzigkeit betont, im übrigen aber das
religiöse Element, ohne dessen Pflege das Menschen-
herz keine Ruhe findet, völlig unbeachtet gelassen, Ihre
ganze Ethik, so streng und radikal sie ist, bauen sie
ausschließlich auf ihrer Lehre von der Natur auf; die
Gottheit spielt bei ihnen keine Rolle.
Es liegt in der Natur des Kynismus, in seinem ex-
tremen Standpunkt, seinem krassen Individualismus be-
gründet, daß er stets nur für einzelne willensstarke In-
dividuen praktische Bedeutung gehabt hat Es wären
daher auch die berechtigten Momente der kynischen
Lehre auf einen kleinen Kreis beschränkt geblieben,
wenn sie nicht durch Zeno, der gegen das Ende des
vierten vorchristlichen Jahrhunderts noch den Kyniker
Krates gehört hatte , dem Gebäude der Stoa für alle
Zeit eingefügt wären. Nur so haben sie in die Breite
wirken können.
Erst bei der Stoa kann man von einem wirklichen
System der Philosophie sprechen, das das gesamte
menschliche Wissen in seinen Bereich zieht und in or-
ganischer Gliederung behandelt Logik, Physik und
Ethik sind nach stoischer Lehre die drei Hauptteile der
XV
Philosophie. Dabei ist jedoch in dem, was sie Logik
nennen, die Erkenntnistheorie, in ihrer Physik die Meta-
physik und die Anthropologie, insbesondere die Psy-
chologie einbegriffen. Aber wenn auch die Logik und
Physik durch Zeno und besonders durch Chrysipp, den
„zweiten Gründer der Stoa", aufs eingehendste behan-
delt werden, so werden sie doch schon in der alten
Stoa am letzten Ende durch den ethischen Gesichts-
punkt beherrscht; Logik müssen wir treiben, um für un-
ser Handeln richtige Urteile und Schlüsse bilden, mit
der Erforschung der Natur uns beschäftigen, um „gemäß
der Natur'* leben zu können. — Auf die stoische Lo-
gik, die übrigens in der Geschichte der menschlichen
Erkenntnis nicht ohne Bedeutung ist, braucht hier nicht
eingegangen zu werden, da sie in der späteren Stoa,
bei Epiktet wie Marc Aurel, nur noch untergeordnete
Bedeutung hat Dagegen müssen hier die Grundzüge
der stoischen Physik und Ethik zum Verständnis der
Darlegungen Epiktets kurz entworfen werden.
Die Welt Ist ein zusammenhängendes Ganzes, das
aus Himmel und Erde und den in ihnen beschlossenen
Wesen besteht. Eine wunderbare Ordnung beherrscht
sie, die darum Kosmos genannt wird ^ Das zeigt schon
1 Das Wort Kosmos heißt ursprünglich die Ordnung. Noch
das deutsche Sprichwort birgt einen Nachklang der An-
schauung, daß Welt und Ordnung untrennbare Begriffe sind-
Ein hochinteressantes „Weltbild im Umriß**, eine Vermitt-
lung zwischen stoischer und aristotelischer Weltansicht gibt
übrigens die aus dem ersten Jahrhundert nach Christus
stammende Schrift ^Von der Welt", von der ich eine Über-
setzung im gleichen Verlag im Laufe des Jahres erscheinen lasse.
XVI
die untrügliche Bahn der Planeten und der stete Wechsel
der alles Leben heraufführenden Jahreszeiten. Dieser
Kosmos ist ein beseeltes, vernünftiges Wesen — durch-
waltet doch das gesamte All eine einzige, nach den
Zwecken der vollkommenen Vernunft wirkende Macht,
die je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet,
als Natur, Notwendigkeit, Verhängnis^ insbesondere aber
als der Logos: die Weltvernunft bezeichnet wird. Die-
ser Logos, der zugleich das innere Gesetz der Dinge
ist» waltet in allem; er wirkt in der Fixsternsphäre wie
in den unterirdischen Kräften der Vulkane, im Brausen
des Sturmes wie im Wogen des Meeres, er ist auch im
Samen der Pflanze wie des Tieres die schöpferische
Kraft, durch die alles^ was da ist, wird, wächst und ver-
geht; und ebenso ist er im Wachstum des Getreides,
im Werden der Baumblüte wie im geheimen Weben
und Regen der Menschenseele die schaffende und ge-
staltende Macht; nichts auf der Welt geschieht ohne
sein Zutun, er ist die letzte Ursache aller Dinge, die das
Ganze zusammenhält: die Gottheit — Nicht außer-
oder überweltlich wird diese von den Stoikern ge-
dacht, vielmehr ist sie mit der Materie unlöslich ver-
bunden, sie ist den Dingen immanent; was wir täglich
mit leiblichen Augen schauen, der Aufgang der Sonne
in ihrer Pracht, die hehre Klarheit des Sternenhimmels,
das Wachsen der Saat, Wälder und Felder ^ Wolken
und Winde, überhaupt der ganze sichtbare Kosmos ist
nichts anderes als der Gottheit lebendiges Kleid. Kraft
und Stoff, Körper und Geist sind nur zwei verschiedene
Seiten ein und desselben Wesens, untrennbar mitein-
XVII
I
I
p
I
ander verbunden: die stoische Anschauung ist moni-
stisch, ja in gewisser Hinsicht materialistisch, insofern
der Logos als der ganz feine feurige Hauch, äasPneama
oder der Äther, der alles durchdringt, vorgestellt zu
werden pflegt — Insofern aber der Logos alles nach
höchsten Zwecken gestaltet, wird er als „Vorsehung**
aufgefaßt — eine Bezeichnung, die schon im dritten
Jahrhundert vor Christus der alten Stoa geläufig und
später vom Christentum Obernommen ist Diese Vor-
sehung wirkt alles Geschehene in vollkommener Weis-
heit, so daß das gesamte All, dessen Teile sämtlich in
Wechselwirkung miteinander stehen, eine einzige, wun-
derbare Harmonie bildet Das Einzelne vergeht, damit
das Ganze besteht In dem ewigen Wechsel der Dinge
erhält sich das Ganze, bis am Ende dieser Weltperiode
das Urfeuer alles Gewordene in sich wieder zurück-
nimmt, um danach wieder eine neue Welt erstehen zu
lassen K
Unter diesem Gesichtspunkt wird auch der Mensch
betrachtet: als ein Teil des Ganzen, der, wie alles Ge-
wordene, dem allgemeinen Weltgesetz unterworfen ist
Im Verhältnis zum Kosmos ist der einzelne nur wie ein
Staubkorn, seine Lebensdauer ist eng begrenzt, flüchtig
und unwiederbringlich wie eine Stunde des Tages. Eine
persönliche Unsterblichkeit ist dem Stoiker fremd: mit
dem Tode löst sich der Körper wieder in die vier Ele-
mente auf, aus denen er einst ward, die Seele aber kehrt
in die Allseele zurück, — —
^ Die Lehre von der Ekpyrosis braucht hier, da für
Epiktet ohne Bedeutung, nicht näher behandelt zu werden.
U Epiktet, Haüdbüchlein der Moral
xvni
Wer die Grundtatsachen der Physik sich wirklich zu
eigen gemacht hat, wird sein äußeres wie sein inneres
Leben danach einzurichten streben. Denn nur wer im
Einklang mit der Natur lebt, erlangt die Eiidaimonia:
das „Glück** oder schärfer übersetzt: die Gottselig-
keit^ Denn das naturgemäße Leben ist mit der Tu-
gend gleichbedeutend, und nur die Tugend führt zur
Glückseligkeit Um aber gemäß der Natur zu leben,
muß man zunächst seiner eigenen Natur entsprechen,
d. h, wirklich frei werden, also die Autarkie wie die
Apathie erwerben ^j ohne Leidenschaft und Begierde
muß sein, wer seine Natur nicht schweren Störungen
aussetzen wilL Zugleich aber muß der „ Weise "^ im Ein-
klang mit der Allnatur leben: in alles was der Weltlauf
mit sich bringt, sich willig fügen — nicht etwa, weil es
unabänderlich ist, sondern weil der Weltlauf vollkom-
men vernünftig, also gut ist Denn auch das scheinbar
Widersinnige und das Häßliche, ja auch die Katastrophen
In der Natur wie im Menschenleben haben ihren Zweck in
der Welt und sind für die Symphonie des Weltganzen, die
eben auf dem Widerstreit der Dinge beruht, notwendig-
Das Einzelwesen freilich muß sich den Zwecken des
Ganzen unterordnen. Ein wirkliches Übel aber gibt
es für den Guten ebensowenig, wie dem Schlechten ein
wirkliches Glück widerfährt Armut und Verbannung
z. B, haben ihre Vorzüge, der Tod ist naturgmäß und
^ Eudaimon bedeutet eigentlich den, in dem ein guter
Dämon wohnt. * Vgl. oben S. XIL Übrigens decken sich
diese Begriffe bei den Stoikern nicht ganz mit den kynischen.
' In diesem Begriff verkörpert sich das stoisclie Lebensideal.
XIX
darum nichts Schlimmes, die Krankheit wie viele andere
„Umstände**! sind für den Tüchtigen nur Gelegenheiten
zur siülichen Vervollkommnung, zur Übung in der Ge-
duld, der Sanftmut, der Selbstbeherrschung, der Tapfer-
keit und Seelengröße* Wundervoll sagt Marc Aurel: „Die
Seele macht das ihr Entgegengebrachte für sich zum
Stoff: gerade wie das Feuer durch Überwältigung der
hineinfallenden Gegenstände, von denen ein kleines
Licht erlöschen würde. Das helle Feuer dagegen macht
sich alsbald das Zugebrachte zu eigen, verzehrt es und
lodert eben davon um so höher empor," —
Da den Stoikern die Natur mit Gott identisch ist, so
trägt die von ihnen so eindringlich gepredigte Ergebung
einen durchaus religiösen Charakter. So sagt Epiktet:
„Wage es, zu Gott aufzuschauen und zu sprechen: Ge-
brauche mich fortan, wozu du willst Ich stimme dir
zu; dein bin ich. Nichts von allem, was dir gut scheint^
lehne ich ab. Führe mich, wohin du willst Gib mir die
Rolle, die du willst Willst du, daß ich ein Amt bekleide
oder Privatmann bin, im Lande bleibe oder fliehe, arm
oder reich bin? Ich werde wegen all dieser Umstände
den Menschen gegenüber zu deinem Lobe sprechen.** —
An andererstelle sagt er: „Wenn mich der Tod ereilt,
dann bin ich zufrieden, wenn ich zu Gott meine Hände
erheben und sprechen kann: Die Gaben, die ich von
dir empfangen habe, um dein Walten zu erkennen und
ihm zu folgen, die habe ich nicht verkümmern lassen.
Ich habe dir keine Schande gemacht, soviel an mir lag.
Habe ich ]e wider dich gemurrt? War ich je unzu-
*■ Auch dieser Ausdruck ist von den Stoikern geprägt.
XX
frieden mit dem, was geschah oder wollte ich es anders
als es geschah? Daß du mich hast werden lassen,
danke ich dir. Dank gegen dich erfüllt mich für alles, was
du mir gegeben. Soweit ich deine Gaben gebrauchen
darf, genügt es mir. Nimm sie zurück und verwende
sie, wo du willst; denn dein ist alles, du hast es mir
gegeben," — In demselben Sinne äußert sich Marc
Aurel: „Mein Wesen ist mit allem im Einklang, was mit
dir zusammenstimmt, o Kosmos. Nichts kommt mir zu
früh oder zu spät, was dir zur rechten Zeit kommt Alles
was deine Zeiten bringen, o Natur, gilt mir als Frucht
Von dir alles, in dir alles, zu dir alles." — Und
an anderer Stelle: „Alles, was geschieht, ist mir so ge-
wohnt und vertraut wie die Rose im Frühling, die Frucht
im Herbst; so auch Krankheit und Tod; wenn man mich
verleumdet oder mir zu schaden sucht" — Solche Äuße-
rungen, die den religiösen Charakter der stoischen An-
schauung zeigen, sind schon im Geist der alten Stoa
tief begründete
In jedem Menschen lebt ein göttlicher Funke, seine
Seele, die von der Allseele nur ein Absenker ist So
sind alle Menschen gleicher Abstammung; in jeder
menschlichen Seele weht Gottes Geist Alle sind mit-
einander verwandt, sie sind, wie die späteren Stoiker
dies religiös ausdrücken, Kinder eines Vaters und da-
her Brüder So kommen die Stoiker folgerichtig zur
Lehre von der PAto/ifAropm, der allgemeinen Menschen-
liebe, ja schließlich — unberührt vom Christentum —
» Man vergleiche die Verse des Kieanthes am Schluß von
Epiktets Handhüchlein.
XXI
bis zur Feindesliebe. Marc Aurel sagt einmal: „Ich, der
ich die Natur des Fehlenden selbst betrachtet habe und
bedenke, daß er mit mir verwandt ist, nicht aus dem-
selben Blut oder Samen, sondern demselben Geist, und
daß er mit mir an der göttlichen Abkunft teil hat, kann
von keinem meiner Mitmenschen Schaden erleiden. Denn
in Schande wird mich keiner bringen können. Ich kann
meinem Verwandten weder zürnen noch ihn meiden.
Denn wir sind zum Zusammenwirken geboren, wie die
Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der Zähne
oben und unten. Einander entgegenzuhandeln ist daher
wider die Natun Wer aber seinem Mitmenschen zürnt
oder ihn meidet, handelt ihr entgegen.** — Der Trieb
zur Gemeinschaft ist nach stoischer Anschauung einer
der Grundtriebe des Menschen, wie besonders die
späteren Stoiker mit Vorliebe betonen. Aber schon für
die alte Stoa, für Zeno wie Chrysipp war diese Lehre
im System ihrer Ethik von grundlegender Bedeutung. —
Erst die Stoa hat die nationalen Schranken zwischen
Hellenentum und Barbarentum überwunden und sich
zum Begriff der Menschheit erhoben, der durch sie Ge-
meingut geworden ist Der Kosmopolitismus — auch
der Ausdruck ist ihr von Anfang an geläufig — ist von
ihr aufs nachdrücklichste vertreten worden, in den
Reichen der Nachfolger Alexanders wie im Imperium
Roraanum, Die Stoiker haben auch den Unterschied zwi-
schen Sklaven und Freien innerlich aufgehoben. Wohnt
doch der Logos in allen, im Griechen wie im Syrer, im
Staatsmann wie im Sohne der Sklavin ! Und wahrhaft frei
ist ja nur der Weise; wer aber dem Affekt oder der Be-
XXII
gierde unterliegt, ist Sklave, mag er auch dreimal Konsul
gewesen sein und ihm zwölf Liktoren voraüfmarschieren!
Kynismus und Stoa — das sind die beiden Hauptwur-
zeln von Epiktets Lebensanschauung. Gewiß, Epiktet
ist Stoiker, aber mit stark kynischer Färbung: das zeigt
schon die hervorragende Rolle, die die Unterdrückung
der Affekte in seiner Ethik spielt Das zeigt noch mehr
seine Stellung in der Güterlehre, Zwar stimmt diese
auch in der alten Stoa in der Hauptsache mit dem Ky-
nismus überein -- das einzige wirkliche Gut ist die
Tugend — -, aber Zenon und Chrysipp hatten mit Rück-
sicht auf das praktische Leben unter üen Adiaphora diu
verschiedene Abstufungen gemacht Solche Unterschiede
haben für Epiktet kaum noch Bedeutung; außer dem
sittlichen Willen, der zur Tugend führt bzw. mit ihr
identisch ist, gibt es kein wahres Gut: Besitz, Ehre, Amter
und Würden, Familie und Freunde ™ alles Irdische darf
für uns keine andere Bedeutung haben als das Bett in
der Herberge: wir benutzen es, solange es uns vergönnt
ist — ohne unser Herz daran zu hängen. — Der Ky-
nismus Ist von Epiktet in seinen Diatriben öfter, be
sonders in der 22, des dritten Buches, geradezu ver-
herrlicht, ja in grandioser Weise verherrlicht worden:
Diogenes gilt ihm ebensosehr als Ideal wie Sokratei
Auch die vulgärgriechische und zuweilen sehr drastische
Sprache seiner Diatriben ist oft kynisch gefärbt In
diesen Zusammenhang gehört auch seine Stellung zur
Wissenschaft. Was nützt es, die Werke des Chrysipp
3«
I
A
xxm
gelesen zu haben oder gar selbst erklären zu können,
wenn man nicht danach lebt! Was nützt alle Gelehr-
samkeit, wenn ich dadurch nicht ein anderer Mensch
werdet — Noch bezeichnender ist Epiktets Standpunkt
zur Naturwissenschaft, wie ihn Fragment 1 zeigt i. Auch
die Dialektik ist ihm nur ein Durchgangspunkt auf dem
Wege zur Tugend, wie dem Wanderer das Gasthaus
auf dem Wege zur Hei matt Und seine Definition der
Philosophie als „Lebenskunst" würde jeder Kyniker
ebenso akzeptieren wie den folgenden Satz: „Philo-
sophieren heißt: untersuchen, wie man, ohne in Ver-
wicklungen zu geraten, strebt und meidet.'* —
Und doch ist er beileibe kein Kynikerl Er ist und
bleibt Stoiker trotz des kynischen Einschlags. Das zeigt
zur Genüge das religiöse und das sozialethische Mo-
ment, die beide für seine Lebensanschauung von grund-
legender Bedeutung sind. Ja, die religiöse Anschauung
überwuchert bei ihm die philosophische. Und das mono-
theistische Moment überwiegt bei ihm — wie bei Seneca
und Marc Aurel — das pantheistische'^. Er nennt Gott
den Schöpfer der Welt wie der Menschen und aller
Dinge, „Daß ihr Gott zum Schöpfer, zum Vater und
Pfleger habt — wird euch das nicht aus Kummer und
Ängsten reißen?" sagt er einmal zu seinen Zuhörern.
„Kein Mensch ist verwaist, sondern für alle sorgt immer
und ewig der Vater." ™ Besonders ergreifend weiß er die
Ergebung in die Fügungen Gottes und die Dankbarkeit
für seine Wohltaten zu predigen. „Wenn wir Einsicht
hätten, dürften wir etwas anderes tun, als Gott lobsingen
* Vgl. S, 65. ' Das ist durch die mittlere Stoa aogebahnt.
XXIV
und seine Güte preisen?*' sagt er an der schönen Stelle
[ 16, 15 ff. — Der Mensch ist ihm (mit Poseidonios) der
bewundernde Zuschauer und Erklärer der Werke Gottes,
Im Mittelpunkt der Betrachtungen Epiktets — denn
die stoische Anschauung ist nicht nur geo-, sondern
durchaus und konsequent anthropozentrisch — steht der
Mensch. So atomenhaft aber der einzelne im Verhältnis
zum All erscheint, so bedeutend ist die Stellung des
menschlichen Gesctilechts als Ganzes, dessen bevor-
zugte Stellung, zumal den „unvernünftigen Wesen", den
Tieren, gegenüber er nicht genug rühmen kann* Nur
der Mensch vermag Gottes Walten zu erkennen und
ihm bewußt und freiwillig zu folgen, denn nur im Men-
schen lebt der Logos, Die Überzeugung von der
göttlichen Natur der Menschenseele — das ist
der Angelpunkt der gesamten Anschauungen
Epiktets^ Infolge ihres göttlichen Ursprungs hat jede
menschliche Seele die Fähigkeit gut und dadurch glück-
lich zu werden. „Gott hat alle Menschen zur Glückselig-
keit, zur Wohlfahrt werden lassen/ — Auf die Gottver-
wandtschaft des Menschen gründet Epiktet seine ganze
Tugenden- und Pflichtenlehre. Der sittlich Tüchtige, der
„Weise", trachtet danach, möglichst gottähnlich zu wer-
den. Und wenn auch die sittliche Vollkommenheit nicht
ganz für uns zu erreichen ist — nur wenige vermögen ein
Sokrates zu werden — so hören wir darum doch nicht
auf, an unserer Vervollkommnung unablässig zu arbeiten.
* Damit kommt eine sokrati seh- platonische Grund-
anschauung zum Durchbruch, die sicher schon in der mitt-
leren Stoa stark hervorgetreten war.
XXV
Infolge ihrer gleichen Abstammung sind alle Menschen
unsere Brüder. Auch der Sklave ist unser Bruder. Der
Welse umfaßt daher mit seiner Liebe alle in gleicher
Weise* Denn „von der Natur ist uns die Treue, die
Liebe, die Hilfsbereitschaft, die Duldung gegeneinander
eingepflanzt". Wenn unsere Mitmenschen fehlen, müssen
wir ihnen nicht zürnen, sondern sie bemitleiden. Denn
wer sündigt, tut es aus Unwissenheit über Gut und
Böse. — Wie weit aber Epiktet von sittlicher Laxheit ent-
fernt ist, zeigt unter anderem, falls es dessen überhaupt
bedarf, seine Beurteilung des Ehebruches, der ihm als
ein Verbrechen gegen die Grundlagen der menschlichen
Gemeinschaft erscheint. — Einen Lohn der Guten, eine
Strafe der Bösen in einem Jenseits kennt Epiktet nicht,
da es für den Stoiker keine persönliche Unsterblichkeit
gibt. Wie jede gute Tat ihren Lohn in sich selbst trägt,
so besteht die Strafe der Schlechten eben in ihrem un-
seligen Gemütszustand, ihrem lasterhaften Charakter*
So individuell aber Epiktets Anschauungen gefärbt
sind — sie gehen doch alle auf die Stoa bzw. den
Kynismus zurück ^ Nur eine merkwürdige Abweichung,
die aber Epiktet mit der gesamten späten Stoa gemein-
sam hat, sei erwähnt: die auffallende Verachtung des
menschlichen Körpers, wie sie an vielen Stellen der
Diatriben zutage tritt. Der Körper ist „von Natur Kot",
für die göttliche Seele nur eine lästige Fessel. Hier
zeigen sich platonische Einflüsse, die den Stoikern der
* Trotz scheinbar schlagender Parallelen ist eine Beein-
flussung Epiktets durch christliche Anschauungen ausge-
schlossen.
XXVI
Kaiserzeif durch die großen Vertreter der mittleren Stoa
vermittelt sind. Der alten Stoa mit ihrer monistischen
Grundauffassung sind sie ganz fremd.
Wenn auch die Persönlichkeit Epiktets hinter ihrem
Gegenstand fast gänzlich zurücktritt, so läßt sich doch
bis zu einem gewissen Grade ein Bild von ihr aus den
Diatriben gewinnen. Hier müssen jedoch einige An-
deutungen darüber genügen, da ich dies bei anderer
Gelegenheit in größerem Zusammenhange auszuführen
hoffe* — Epiktet ist vor allem ein trefflicher Kenner
des Menschenherzens, In manchen seiner Ausführungen
überrascht geradezu seine tiefe Einsicht in das mensch-
liche Wesen, das im Grunde heute noch dasselbe ist
wie vor 1800 Jahren, eine Einsicht, die nicht nur auf
scharfer Beobachtung seiner Mitmenschen, sondern
offenbar auf intimer Kenntnis des eigenen Seelenlebens
beruht Damit verbindet er eine Offenheit in sittlichen
Dingen, eine fast unerhörte Rücksichtslosigkeit gegen
sich und andere, die uns gerade heute, wo die Phrase
die Welt regiert, wahrhaft wohltut Da wird nichts be-
schönigt oder verschleiert, sondern rückhaltlos, doch
voll aufrichtiger Liebe zu den Mitmenschen gezeigt, wo
allein das wahre Gut zu finden ist^ Denn Epiktet ist
— wie überhaupt der kynisch-stoische Sittenprediger —
ein wohlmeinender, aber strenger Arzt Aber er ist weder
Fanatiker noch Pharisäer. Er macht Ernst mit der sto-
ischen Lehre vor aüem an sich selbst Das gerade ist das
^ Es ist jedoch zu betonen, daß er bei allem Freimut die
atdioi, das rechte Schamgefühl, nirgends verletzt
4
4
i
XXVII
Erheb ende, daß sich Leben und Lehre bei ihm decken.
Seine Zeltgenossen sind daher erfüllt von Verehrung für
seine lautere Persönlichkeit Schon Arrians Zeugnis ge-
nügt dafür Selbst die Christen im dritten und vierten Jahr-
hundert, die so gern den ^.Heiden'' etwas am Zeuge flicken
— selbst die hehre Gestalt des Sokrates verschonen
sie nicht — , wagen die Reinheit von Epiktets Leben nicht
anzutasten. „La vie est conforme ä sa doctrine^'K
Durch sein Leben hat Epiktet das beredteste Zeugnis
abgelegt und so eine mächtige Wirkung auf hoch und
gering ausgeübt Er ist vor allem ein Mann der prak-
tischen Wirksamkeit Während Marc Aurel in seinen
Selbstbetrachtungen seinen Blick ausschließlich auf
seine eigene Seele und ihr Verhältnis zu Gott und Welt
richtet, hat Epiktet vor allem die sittliche Besserung
seiner Zuhörer, ihre Gesinnungsänderungj ja,
wenn man so will, ihre Bekehrung im Auge. Daher
bietet er ihnen nicht graue Theorie, nicht abstrakte Er-
örterungen in schwer verständlicher Terminologie, son-
dern die frische lebendige Art der echten Diatribe, wie
sie oben gekennzeichnet ist —
Über das äußere Leben Epiktets wissen wir auffallend
wenig. Er wurde zu Hierapolis in Phrygien um die
Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als Sohn
einer Sklavin geboren und später als Sklave nach Rom
verkauft. Sein Herr ward zunächst Epaphroditos, ein
neronischer Freigelassener, der unter Domttian hin-
gerichtet wurde. Wie lange Epiktet als Sklave in Rom
* Martha, Les moralistes saus Pempire romain, 7^^^^ idition,
p. 156, L
XXVIII
gelebt hat, wissen wir nicht Jedenfalls ist er später
freigelassen worden. Einen Teil seiner moralphilo-
sophischen Bildung verdankt er seinem Lehrer, dem
Stoiker Musonius Rufus, der unter Nero im Jahre 65
nach der Insel Gyara verbannt wnrde. Das Schicksal
der Verbannung traf unter Domitian im Jahre 93 auch
Epiktet, als von jenem die Philosophen und Astrologen
aus Italien ausgewiesen wurden. Epiktet mußte sich
nach Nikopolis in Epirus begeben, jener Stadt, die
von Augustus zur Erinnerung an den Sieg von Aktium
an der Stelle gegründet war, wo am Tage vor der Ent-
scheidung sein Hauptquartier gestanden hatte. Hier hat
Epiktet bis an sein Lebensende gewirkt Und sein Wir- M
kungskreis dort war bedeutend genug, denn bald drang ™
der Ruf von seinen die Gewissen aufrüttelnden Diatriben ,
bis in die Welthauptstadt, aus der man ihn verbannt hatte. ■
Vornehme Jünglinge römischer wie griechischer Nation
kamen nach der „Siegesstadt", den phrygischen Freige-
lassenen zu hören. Auch der Kaiser Hadrtan, der im Jahre
124 bzw. 125 Nikopolis besuchte, soll ihn außerordent- M
lieh geschätzt habend — Epiktet blieb unverheiratet^ ™
wie das zu seiner Auffassung von dem hohen Amt eines
Sendboten des Zeus paßt^. Der Eros hat in seinem Leben ■
keine Rolle gespielt. Übrigens war er lahm ; ob von Geburt,
wissen wir nicht: möglich, daß die Notiz bei Suidas richtig
ist, die die Lähmung auf das Rheuma zurückführt». —
* Die Ausführungen SchenMs machen es wenigstens wahr-
scheinlich, daß Epiktet bis in die Zeit Hadrians (117—138)
gelebt hat » Vgl. Diatr. III 22, 67 ff, (bei Grabisch S. 101 ff.)*
' Die Geschichte bei Celsus ist wohl Legende.
I
XXIX
Wie aufrichtig und tief Epiktet von Zeitgenossen wie
von Späteren verehrt wurde, das sei hier noch durch
zwei Tatsachen illustriert. Nach seinem Tode ward
sein irdener Leuchter^ für 3000 Drachmen — also für
rund 2400 M — von einem Verehrer gekauft. Merk-
würdiger ist ein Zeugnis, das erst in unseren Tagen
bekannt geworden ist. Auf einer Forschungsreise
durch Kleinasien fand der Amerikaner Sterrett in der
Berglandschaft Pisidien eine in Versen verfaßte In-
schrift, die ein stoisch gebildeter Mann, der längere Zeit
nach Epiktet lebte, als ein ^ Reisegeschenk" für den
Wanderer in einen Felsen am Apollotempel bei der Stadt
Anabura hat eingraben lassend Da wird der Sklave
Epiktet begeistert gepriesen und am Schluß gesagt:
^Möchte doch auch uns
Seinesgleichen ein Mann als Quelle von Segen und Freude,
Aller Wünsche eriüüend, als Sohn einer Sklavin erstehen I**
Epiktet selbst hat nichts geschrieben — bei seinen
Anschauungen völlig erklärlich. Einer seiner Hörer,
der später ein hoher römischer Beamter ward — unter
anderem verwaltete er in den Jahren 131 — 137 als
Legatus Augmti pro praetore die Provinz Kappa-
dokien — und sich auch als Geschichtsschreiber
Alexanders des Großen einen guten Namen gemacht
hat, hat die Ansprachen und Erörterungen seines Lehrers
aufgezeichnet — wie er in jenem Brief an Gellius^
* Vordem hatte er einen eisernen gehabt Der war ihm
aber gestohlen worden. An zwei Stellen der Diatriben er-
wähnt dies Epiktet selbst * Die Inschrift ist von Georg
Kaibel (im Hermes XXIÜ) erläutert worden. « oe^ Brief
(bei Grahisch S. 7) verdient nachgelesen zu werden: er ehrt
XXX
sagt: nur zur Erinnerung- für seinen eigenen Gebrauch,
Wider Wissen und Wüten Arrians kamen diese Aufzeich-
nungen unter die Leute, wurden abgeschrieben und ver-
vielfältigt. Aber nur ein Teil davon ist uns erhalten. Es
waren wahrscheinlich acht Bücher, während wir nur noch
vier besitzen. Das Handbüchlein(„Encheiridion"X das
im folgenden in der von mir gänzlich umgearbeiteten Über-
setzung von Grabisch^ gegeben wird, hat Arrian aus den
von ihm aufgezeichneten Diatriben Epiktets zusammen-
gestellt. Wer aber Epiktet wirklich kennen lernen will, darf
seine Kenntnis nicht auf diese kleine Zusammenstellung
beschränken, sondern muß die Diatriben lesen. „Wenn
man die Diatriben liest, ist man erstaunt und entzückt,
sich einem Menschen gegenüber zu befinden, während
man bis dahin in dem Handbüchlein nur die Marmor-
oder Bronzestatue des stoischen Ideals geschaut hatte ^.
Bis ins vierte Jahrhundert waren Epiktets Diatriben
und Handbüchlein allbekannt. Selbst die Christen, die
ihm erst feindlich gewesen waren » suchten später sein
Werk für ihre Zwecke auszunutzen ^ und die Oberein-
stimmung ihrer Lehre mit der Epiktets zu erweisen.
Insbesondere das Handbüchlein haben sie oft ab-
geschrieben und in ihrem Sinne verwendet
in seiner schlichten Wahrhaftigkeit den Arrian wie den Epiktet
in gleich hohem Maße, * Auf Veranlassung der Verlagsbuch-
handlung habe ich wegen Verhinderung von Grabisch die Ein-
leitung verfaßt, die — ebenso wie die Obersetzung der Frag-
mente und der anderen in der Einleitung zitierten SteOen —
ausschließlich von mir herrührt. Dabei ist der Text der Schenki-
schen Ausgabe von 1898 zugrunde gelegt. ' So sagt vor-
trefflich Martha S, 163. » Vgl. Schenkl in der Praefatio.
(
I
I
XXXI
Erst in unseren Tagen beginnt Epiktet wieder in weite
Kreise zu dringen. Schon Hilty hat in seinem „Glück"
betitelten Buch das Handbtichlein in eigener Ver-
deutschung mit einer Reihe gedankenreicher Anmer-
kungen herausgegeben. Aber sonst ist in Deutschland
die Kenntnis Epiktets, besonders seiner Dtatriben, auf
einen engen Kreis beschränkt geblieben. In Frankreich
dagegen ist Epiktet — wie Seneca und Marc Aurel —
bei allen Gebildeten viel gelesen und gar wohl bekannt
Schon Pascal hat ihn hochgeschätzt — Es wird Zeit
daß das auch in Deutschland ähnlich wird, nicht nur
bei den Gebildeten, sondern im „Volke" selbst muß er
bekannt werden. Gerade im Gegensatz zu den irre-
führenden Bestrebungen unserer Tage, im Gegensatz
zu dem falschen Ideal eines einseitig ästhetischen Lebens-
genusses oder gar einer ästhetischen Religion kann
er ein Führer mit werden zu starker, gesunder Sittlich-
keit, die von Prüderie wie Askese gleich weit entfernt
ist Epiktet soll die sittlichen Mächte mit wecken helfen,
deren unser Volk zu seiner Wiedergeburt bedarf, und
er kann das. Er kann helfen, uns Charaktere zu bilden»
die die wahre Freiheit erringen, sittliche Persönlich-
keiten, die uns gerade heute bitter not tunl Nur darf
man sich nicht darauf beschränken, seine Diatriben und
sein Encheiridion wieder und wieder zu lesen, sondern
man muß wirklich ernsthaft den Versuch machen, da-
nach zu leben. Das geht nicht an einem Tage, nur
in langjähriger geistiger „Askesis** kann es gelingen,,
dem sittlichen Ideal immer näher zli kommen. Es gibt
auch einige Punkte, in denen wir mit Epiktet nicht ganz
XXXII
überemstimmen, aber in den Kern- und Gmndanschau-
ungen ist er noch heute von unvergänglichem Wert,
Denn er, der aus Erfahrung an sich selbst spricht, kann
uns den Weg zeigen zu einer in sich gefestigten har-
monischen Persönlichkeit Denn er ist ein Apostel
der sittlichen Freiheit, die nur errungen wird durch
unablässig ernste Arbeit an uns selbst, durch Selbst-
zucht, durch den Sieg des Göttlichen in uns über das
Irdische, des Geistigen über das Sinnliche, und durch
Ergebung in die Fügungen des alles durchwaltenden
göttlichen Logos.
So kann Epiktet ein Führer zum Frieden der Seele
werden, auch für die, gerade für die, die jenseits von
Kirche und Dogma stehen. Denn die Grundlagen wahren
menschlichen Glückes sind heute noch dieselben wie
voFj 1800 Jahren. Keine Errungenschaft der Technik,
keine Entdeckung der Naturwissenschaft — auch die
des Copemicus nicht — hat daran Wesentliches ge-
ändert. Die Fundamente für die sittliche Tüchtigkeit
und die menschliche Glückseligkeit, soweit sie auf
Erden möglich ist, sind heute noch dieselben wie zur
Zeit der Kaiser Nero und Domitian, Diese Fundamente
liegen in uns. Welche es sind und wie wir auf ihnen
bauend die ägExri und die Eudaimonia erringen können,
das zeigt uns einer, der es erprobt hat, der phrygische
Sklave, der freier ward als die meisten, die im Purpur
geboren sind.
HAMBURG, DEN 1. MAI 1906
W. CAPELLE
I
t
ON den Dingen stehen die einen in
unserer Gewalt, die anderen nicht
In unserer Gewalt steht: unsere
Meinung, unser Handeln, unser
Begehren und Meiden — kurz: al!
I unser Tun, das von uns ausgeht
Nicht in unserer Gewalt stehen: unser Leib, unser
Besitz, Ansehen, äußere Stellung — mit einem Worte:
alles, was nicht unser Tun ist
Was in unserer Gewalt steht, ist von Natur frei, kann
nicht gehindert oder gehemmt werden; was aber nicht
in unserer Gewalt steht, ist hinfällig, unfrei, kann ge^
hindert werden, steht unter dem Einfluß anderer. Sei
dir also darüber klar: wenn du das von Natur Unfreie
für frei, das Fremde dagegen für dein Eigentum hältst,
dann wirst du nur Unannehmlichkeiten haben, wirst
klagen, wirst dich aufregen, wirst mit Gott und der Welt
hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum,
was wirklich dein ist, das Fremde dagegen für fremd,
dann kann kein Mensch einen Zwang auf dich ausüben,
niemand dir etwas in den Weg legen, du wirst nieman-
dem Vorwürfe machen, niemandem die Schuld geben,
wirst nichts gegen deinen Willen tun, niemand kann dir
1 Epjktet, Handbachlein der Moral
dann schaden, du wirst keinen Feind haben, denn du
wirst überhaupt keinen Schaden erleiden.
Wenn du nun nach solch hohem Ziele strebst, dann
darfst du nicht denken, du brauchtest dich nicht allzu-
sehr anzustrengen, sondern du mußt auf manches ganz
verzichten, manches einstweilen beiseite stellen.
Wenn du aber danach strebst und zugleich hohen
Ämtern und Reichtum nachjagst, so wirst du vielleicht
nicht einmal diese Dinge erreichen, weil du zugleich
nach jenem strebst Jedenfalls aber dürftest du ganz
sicher das nicht erreichen, woher allein Freiheit und
Glück kommt
Bemühe dich daher, jedem unangenehmen Gedanken
sofort zu begegnen, indem du sagst: ,,Du bist nicht das,
was du zu sein scheinst, du bist bloß eine Einbildung "
Dann prüfe und beurteile ihn nach den Regeln, die
du gelernt hast, besonders aber nach der ersten: ob er
zu dem gehört, worüber wir frei verfügen können, oder
nicht Und wenn er zu den Dingen gehört, die nicht in
unserer Gewalt stehen, dann sage dir sofort: Geht mich
nichts an. (I)
4
4
I
I
I
I
Merke dir: Die Begierde verheißt die Erreichung
dessen, was man begehrt; die Abneigung ver-
heißt, nicht auf das zu stoßen, was man vermeiden will
Wer den Gegenstand seines Begehrens nicht erreicht,
ist unglücklich; ein anderer ist unglöcküch, weil ihm
das widerfährt, was er gern vermeiden will
Wenn du also nur dem auszuweichen suchst, was
unter den Dingen, die in deiner Gewalt stehen, natur-
widrig ist, dann wird dir nichts zustoßen, was du zu ver-
meiden wünschest. Wenn du aber Krankheit, Tod oder
Armut zu enfgehn suchst, dann wirst du freilich un-
glücklich werden.
Fort also mit jedem Widerwillen gegen alles, was
nicht in unserer Gewalt steht; nur das meide, was natur-
widrig ist unter dem, was in deiner Gewalt ist
Dein Begehren gib voriäufig ganz auf.
Denn begehrst du etwas, was nicht in unserer Macht
steht, dann mußt du unweigerlich unglücklich werden;
von dem aber, was in unserer Macht steht und was du
wohl begehren könntest, davon weißt du noch nichts.
Beschränke dich auf das Wollen und auf das Nicht-
wollen, aber verfahre dabei obenhin, mit Vorbehalt und
Gelassenheit, (II)
1
Bei allem, was deine Seele erfreut oder dir einen
Nutzen gewährt oder was du lieb hast, vergiß nicht
dir zu sagen:* was es eigentlich ist. Fange dabei bei
den unscheinbarsten Dingen an, z. B. wenn dir ein
Topf teuer ist, so denke dir: ein Topf ist es, der mir
teuer ist; dann wirst du dich auch nicht aufregen,
wenn er zerbricht Wenn du dein Weib oder dein
Kind küssest, so denke dir: du küssest einen Menschen;
und du wirst nicht außer Fassung kommen, wenn er
stirbt (HI)
Wenn du irgend etwas beginnen willst, so mache dir
Mar, welcher Art die Sache ist* Wenn du z. B,
baden gehst, so stelle dir vor, wie es im Baderaume
zugeht: wie sie mit Wasser spritzen, wie sie sich stoßen
und schimpfen und andere gar stehlen. Deshalb wirst
du mit größerer Sicherheit hingehen, wenn du dir von
vornherein sagst: ich will baden gehen und meine Ge-
mütsverfassung in dem Zustande erhalten, vrie es natur-
gemäß ist So mache es bei allen Dingen, Denn kommt
wirklich etwas beim Baden vor, so kannst du dir zur Be-
ruhigung sagen: ich bin ja doch nicht bloß des Badens
wegen hingegangen, sondern um meine Gemütsver-
fassung der Natur entsprechend zu erhalten, und das
tue ich nicht, wenn ich mich über derlei Vorkommnisse
ärgere, (IV)
6
^Ticht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern
^^ ihre Meinungen über die Dinge,
So ist z. B. der Tod an sich nichts Furchtbares —
sonst hätte er auch dem Sokrates furchtbar erscheinen
müssen — sondern nur die Meinung, er sei schrecklich,
ist das Schreckhafte,
Wenn wir also auf Schwierigkeiten stoßen, in Unruhe
und Kümmernis geraten, dann wollen wir die Schuld
niemals auf einen andern schieben, sondern nur auf uns
selbst^ d. h, auf unsere Meinung von den Dingen.
Es verrät einen Ungebildeten, wenn man andern Vor-
würfe darübermacht, daß es einem selber schlecht geht;
als einen Anfänger in der philosophischen Bildung er-
weist sich der, der sich selber Vorwürfe macht Der
wahrhaft Gebildete schiebt die Schuld weder auf andere
noch auf sich selbst (V)
8
Wenn auf einer Seefahrt das Fahrzeug vor Anker geht
und du aussteigst, um frisches Wasser zu holen,
dann magst du wohl unterwegs noch etwas nebenher
tun, etwa eine Muschel oder einen Tintenfisch aufheben,
aber deine Aufmerksamkeit muß auf das Fahrzeug ge-
richtet bleiben, du mußt es beständig im Auge behalten,
ob nicht etwa der Steuermann ruft. Und wenn er ruft,
so mußt du alles andere liegen lassen, damit man dich
nicht gebunden aufs Schiff wirft, wie man es mit den
Schafen macht
So ist es auch im Leben: Ist dir Weib und Kind be-
schert, wie dort eine Muschel oder ein Fisch, so
darf das kein Hindernis bilden. Wenn aber der Steuer-
mann ruft, dann eile zum Schiffe, laß alles liegen und
sieh dich nicht um. Bist du aber alt geworden, so ent-
ferne dich nicht zu weit vom Schiffe, damit du nicht
etwa ausbleibst, wenn du gerufen wirst (VII)
Verlange nicht, daß alles so geschieht wie du es
wünschest, sondern wolle, daß alles so geschieht,
wie es geschieht, und es wird dir gut gehen. (VIII)
10
Die Krankheit ist ein Hindernis des Körpers, aber nicht
des Willens, falls er nicht selbst will. Eine Lähmung
ist ein Hindernis des Schenkels, aber nicht des Willens.
Und das sage dir bei allem, was dich trifft Dann wirst
du finden, daß es wohl für andere Dinge ein Hinder-
nis sein kann, nicht aber für dich. (IX)
11
Bei allem, was dir begegnet, gehe in dich und frage
dann : Was für eine Fähigkeit hast du dem gegenübe r?
Siehst du z. B, einen schönen Knaben oder ein schönes
Mädchen, so wirst du als Kraft dagegen In dir die Selbst-
beherrschung finden; tritt eine schwere Arbeit an dich
heran, so wirst du als Gegenmittel die Ausdauer finden,
wird eine Schmähung auf dich geschleudert, dann wirst
du Langmut finden. Wenn du dich so gewöhnt hast,
dann werden dich die falschen Vorstellungen nicht
mehr fortreißen. (X)
M
^
13
Wenn du Fortschritte machen willst, so mußt du
Gedanken wie die folgenden abwerfen: wenn ich
mich nicht um mein Vermögen kümmere, so werde ich
nichts zu essen haben, oder: wenn ich meinen Diener
nicht strafe, so wird er ein Taugenichts; denn es ist
besser Hungers zu sterben, aber ohne Furcht und Sorge
gelebt zu haben, als in Oberfluß und steter Aufregung
zu leben; es ist besser, daß dein Diener ein Taugenichts
als daß du selber ungtücklich wirst
Darum mußt du schon mit geringfügigen Dingen an-
fangen: wird dir ein bißchen öl vergossen oder der
letzte Rest Wein gestohlen, so sage dir: dafür kauft man
Gleichmut, dafür innere Ruhe. Umsonst erhält man
nichts.
Wenn du deinen Diener rufst, so denke: er kann dich
vielleicht nicht hören, und wenn er dich gehört hat, so
ist er vielleicht nicht imstande das zu tun, was du haben
willst
Aber das ist für jenen kein Glück, wenn es von ihm
abhängt, daß du dich nicht aufregst (XII)
14
Willst du Fortschritte machen, so mußt du es ertragen
können, wenn luan dich für närrisch und einfältig
wegen deines äußeren Verhaltens hält Wolle auch nicht
den Anschein erwecken, als verständest du etwas; und
wenn andere es von dir glauben^ mißtraue dir selbst
Denn wisse: es ist nicht leicht, seine Seelenvar-
fassung so zu erhalten, wie die Natur es verfangt, und
zugleich die äußeren Verhältnisse zu berücksichtigen,
sondern es gibt nur ein Entweder — Oder: wer sich
um das eine bekümmert, der muß das andere ver-
nachlässigen. (XIII)
15
^1 renn du wünsctiest, daß dein Weib, deine Kinder
W un(i deine Freunde ewig leben, dann bist du ein
Narr: denn du verlangst etwas, was nicht in deiner
Macht steht, und willst, daß etwas Fremdes dir gehört.
Ebenso töricht wärest du, wenn du verlangen würdest,
dein Diener solle sich nichts zu schulden kommen lassen,
denn du verlangst, daß ein Fehltritt kein Fehltritt sein
soll, sondern etwas anderes.
Wenn du aber den Willen hast: niemals dein Ziel zu
verfehlen, so steht das in deiner Macht In dem also
übe dich, was dir möglich ist
Ein Herr des anderen ist also der, der die Macht
hat, das was der andere will oder nicht will, ihm zu
geben oder zu nehmen.
Wer also frei sein will, der darf nicht etwas erstreben
oder vermeiden wollen, was in der Macht eines anderen
steht Sonst wird er unweigerlich dessen Sklave. (XIV)
16
Du mußt dich im Leben benehmen wie bei einem
Gastmahl: es wird herumgereicht, die Schüssel
kommt an dich; du langst zu, und nimmst dir bescheiden;
die Schüssel wird weitergetragen: halte sie nicht zurück;
ist sie noch nicht zu dir gekommen, so richfe dein
Verlangen nicht weiter darauf, sondern warte, bis die
Reihe an dich kommt.
So denke auch über Kinder, Weib, äußere Stellung
und Reichtum, dann wirst du ein würdiger Tischgenosse
der Götter sein.
Wenn du aber gar von dem nicht nimmst, was dir
vorgesetzt wird, sondern es vorbeigehen läßt, dann wirst
du nicht bloß mit den Göttern am Tische sitzen, son-
dern sogar mit ihnen herrschen. So machten es Diogenes,
Herakles und ihresgleichen, und deshalb wurden sie mit
Recht göttlich genannt. (XV)
19
Wenn dir ein Rabe krächzend Unheil verkündet, so
darf dich die Vorstellung nicht hinreißen, sondern
mache dir sogleich klar: solche Prophezeiungen
gelten nicht mir, höchstens meinem Körper, meinem
bißchen Habe oder meinem äußeren Ansehen, meinen
Kindern oder meinem Weibe. Wenn ich es will, wird
mir nur Glück verkündet.
Was auch von den Prophezeiungen eintreffen mag^
an mir liegt es ja, davon Segen zu haben ^ (XVIII)
2*
20
Du kannst als unbesiegbar dastehen, wenn du dich in
keinen Kampf einlassest, in dem der Sieg nicht
von dir abhängt.
Wenn du jemanden siehst, der hochgeehrt, sehr
mächtig oder sonst irgendwie groß dasteht, so laß dich
nicht etwa von dem Schein hinreißen, ihn glücklich zu
preisen. Denn wenn das Wesen des Guten in dem be-
ruht, was in unserer Macht liegt, dann ist hier weder
Neid noch Eifersucht angebracht; du selbst willst doch
weder Feldherr noch Ratsherr oder Konsul sein, son-
dern frei.
Dazu aberführt nur ein Weg: Verachtung alles dessen,
was nicht in unserer Macht steht. (XIX)
21
Bedenke, daß dich nicht der verletzt, der dich be-
schimpft oder schlägt, sondern nur deine Meinung,
daß jener dich verletzt Wenn dich jemand reizt, so
wisse, daß es nur deine Auffassung von der Sache ist,
die dich gereizt hat. Deshalb strebe vor allem danach,
dich nicht von deiner falschen Vorstellung fortreißen zu
lassen. Hast du einmal Zeit zur Überlegung gewonnen,
dann wirst du leichter deiner Herr werden. (XX)
22
Tod, Verbannung, überhaupt alles, was allgemein für
schrecklich gilt, halte dir täglich vor Augen, vor
allem aber den Tod! Dann wirst du niemals etwas
Niedriges denken oder übermäßig nach etwas be-
gehren. (XXI)
23
11 renn du nach Weisheit strebst, so mache dich von
^V vornherein darauf gefaßt, daß man dich verlachen
wird, daß dich viele verspotten und sagen werden: Der
ist plötzlich als Philosoph wiedergekommen und: Wie
kommt es, daß er auf einmal die Brauen so hoch zieht?
Laß nur die ernste Miene beiseite, aber an das, was
dir das Beste zu sein scheint, halte dich, als seiest du
von Gott auf diesen Posten gestellt.
Bedenke; wenn du auf diesem Posten aushanst, dann
werden dich diejenigen später bewundern, die dich vor-
her verlacht haben.
Fügst du dich ihnen aber, dann werden sie doppelt
über dich lachen. (XXII)
24
Wisse: wenn es dir einmal widerfährt» in den Strudel
der Außenwelt gezogen zu werden, so daß du
einem andern gefallen willst, dann bist du von deinen
Grundsätzen abgefallen.
Es muß dir deshalb in allen Verhältnissen genügen,
ein Philosoph zu sein. Willst du außerdem als solcher
angesehen werden, so sieh dich selbst als solchen an
und s.ei zufrieden. (XXIII)
Gedanken wie die folgenden dürfen dich nicht quälen:
ich werde unberühmt mein Leben verbringen und
nirgends etwas gelten. Kann denn Mangel an äußeren
Ehren ein Übel sein, da du doch durch einen Fremden
ebenso wenig ins Unglück wie in Schande gestürzt
werden kannst? Hängt es etwa von dir ab, zu einem
Amte zu kommen oder zur Tafel zugezogen zu werden?
Durchaus nicht! Wie kann das also Unehre für dich
sein? wie kannst du ein „Niemand" sein, wo du nur
auf dem Gebiet, das in deiner Macht steht, etwas be-
deuten sollst; und da kannst du der bedeutendste sein.
„Aber du hast Freunde und wirst ihnen nicht helfen
können!"
Ja was nennst du denn helfen ? Sie werden kein Geld
von dir bekommeng du wirst ihnen nicht das römische
Bürgerrecht verschaffen können. Wer hat dir denn ge-
sagt, daß dies in deiner Macht steht und nicht anderer
Leute Sache ist? Wer kann einem andern geben, was er
selbst nicht hat?
„Dann erwirb, damit wir auch etwas bekommen
können"
Gut, wenn ich mir Erwerb verschaffen kann, ohne
mein gewissenhaftes, redliches, hochstrebendes Wesen
26
einzubüßen, dann zeige mir nur den Weg, und ich will
es tun. Wenn ihr aber verlangt, daß ich meine eigenen
Güter aufgeben soll, damit ihr nur zu den Gütern kommt,
die gar keine sind, so seht ihr doch selbst ein, wie un-
gerecht und unverständig ihr seid.
Was wollt ihr übrigens lieber: Geld oder einen treuen,
ehrlichen Freund? Tragt also liebet dazu bei, daß ich
ein solcher bin, und verlangt nicht von mir, daß ich
etwas tun soll, wodurch ich gerade diese Eigenschaften
verliere.
„Aber das Vaterland wird von mir keinen Nutzen
haben.«
Wieder muß ich fragen: Was für Nutzen denn? Säulen-
hallen und Bäder wird es freilich nicht von dir bekommen.
Aber was tut das? Es bekommt ja auch vom Schmiede
keine Schuhe und vom Schuster keine Waffen! Es ist
genug, wenn jeder seine Stelle ausfüllt Wenn du nun
aus einem andern Menschen einen zuverlässigen und
redlichen Bürger machst, trägst du da nichts zum Nutzen
des Vaterlandes bei? „Doch.** Also dürftest auch du
dem Vaterlande nicht ohne Nutzen sein,
„Welche Stellung soll ich denn im Staatsleben ein-
nehmen?"
Diejenige, die du ausfüllen und bei der du zugleich
ein rechtschaffener und siäsamer Mensch bleiben kannst
Wenn du aber dem Vaterlande nützen willst und diese
Eigenschaften verlierst, was kannst du ihm da noch
nützen, wenn du nicht mehr Treu und Glauben ver-
4
4
dienst?
(XXIV)
27
Es ist dir jemand vorgezogen worden, bei einem Gast-
mahl oder bei einer Begrüßung» oder du bist nicht
zu einer Beratung hinzugezogen worden. Ist dies etwas
Gutes, dann sollst du dich darüber freuen, daß es jenem
zuteil geworden; ist es aber ein Nachteil, dann ärgere
dich nicht darüber, daß es dich nicht getroffen hat
Bedenke doch, daß du nicht dieselbe Behandlung
beanspruchen kannst, wenn du nicht dasselbe tust wie
sie, um etwas zu erreichen, was nicht in unserer Ge-
walt steht Denn wie kann einer, der sich nicht oft
in den Vorzimmern der Großen aufhält, das gleiche
erreichen wie einer, der dies tut? oder einer, der sich
nicht in dem Gefolge eines Mächtigen sehen läßt und
ihn nicht lobt dasselbe erreichen wie einer, der dies
tut? Du bist ungerecht und unersättlich, wenn du
umsonst das haben willst, ohne den Preis zu zahlen,
um den jene Dinge zu kaufen sind. Was kostet z. B.
doch der Salat? Einen Obolos, wollen wir einmal an-
nehmen. Wenn nun jemand einen Obolos hinlegt und
Salat dafür erhält, du aber nichts zahlst und nichts er-
hältst» so glaubst du doch nicht, im Nachteil zu sein
gegenüber dem, der Salat erhalten hat? Denn wie
jener den Salat hat hast du noch den Obolos, den du
1
28
nicht ausgegeben hast Genau derselbe Fall ist auch
hier.
Du hast keine Einladung zum Essen erhalten? Du hast
auch dem Gastgeber den Preis nicht gezahlt, um den
er sein Mahl gibt; um Lob, um Aufmerksamkeiten ist
es zu haben. Wenn du glaubst, daß es dir Nutzen bringt,
nun so bezahle die Kosten, um die es zu haben ist
Willst du diese nicht tragen und doch jenes haben,
dann bist du ebenso unverschämt wie einfältig.
Hast du an Stelle der Einladung nichts zum Ersatz?
Du hast jetzt das Bewußtsein, den nicht gelobt zu haben,
den du nicht hast loben wollen, und hast dich nicht an
seiner Tür herumzudrücken brauchen. (XXV)
29
Den Willen der Natur kann man an den Dingen er-
kennen, über die keine Meinungsverschiedenheit
unter uns herrscht
Wenn z. B. der Diener eines andern ein Trinkglas
zerbricht, so sagst du gleich zu dessen Entschuldigung:
das kann vorkommen. Merke dir also: Wenn bei dir
zu Hause einmal etwas zerschlagen wird, so mußt du
dich ebenso verhalten, wie damals^ als es bei einem an-
dern geschah.
Diese Regel kannst du auch auf wichtigere Vorkomm-
nisse übertragen.
Stirbt z. B. ein Kind oder das Weib eines andern,
dann gibt es gewiß keinen, der nicht sagt: das ist
Menschenlos. Wenn aber jemandem sein eigenes Kind
stirbt, dann klagt ersogleich: Weh mir, ich Unglücklicher!
Wir sollten aber bedenken, was wir empfinden,
wenn wir bei einem andern von einem solchen Fall
hören, (XXVI)
30
So wenig wie ein Ziel aufgestellt wird, damit man es
verfehle, so wenig hat das Obel von Natur einen
Platz in der Welt. (XXVII)
31
Wenn jemand deinen Körper dem ersten besten, der
dir begegnet, überantworten würde, dann würdest
du dich empören. Du aber überläßt dein Herz jedem
Beliebigen, so daß es, wenn dich jemand beschimpft,
aufgeregt und aus der Fassung gebracht wird — solltest
du dich dessen nicht schämen? (XXVIII)
32
D^i jeder Sache bedenke was ihr vorangeht und was
^ ihr folgt, dann erst gehe an die Sache selbst heran.
Tust du das nicht, dann wirst du anfangs zwar wohl-
gemut an die Sache gehen, da du nicht bedacht hast,
was noch kommen wird: dann aber, wenn sich Un-
annehmlichkeiten zeigen, wirst du mit Schande ablallen.
Du willst in Olympia siegen? Ich auch, bei Gott!
denn das ist eine schöne Sache. Aber bedenke, was
vorangehen und nachfolgen wird, und dann mache dich
daran:
Du mußt dich einer strengen Ordnung fügen, nach
Vorschrift essen, mußt dich aller Näschereien enthalten,
mußt dich auf Kommando und zu bestimmten Stunden
trainieren, bei Hitze und Kälte, darfst nicht kaltes Wasser
trinken, keinen Wein, wenn es dir gerade einfällt, kurz,
du mußt dich dem Aufseher wie einem Arzte überant-
worten, mußt dich beim Wettkampf auf der Erde wälzen*
Es kann auch vorkommen, daß du das Handgelenk aus-
setzt oder den Knöchel verstauchst, daß du viel Staub
schlucken mußt, zuweilen wirst du sogar Schläge er-
halten und — trotz alledem wirst du möglicherweise
zuletzt noch besiegt.
Das alles mußt du bedenken, und wenn du dann noch
4
4
33
Lust hast, dann werde Athlet Sonst geht es dir wie den
Kindern, die bald Gladiatoren, bald Ringkampf spielen,
bald Trompete blasen, dann Ttieater spielen. So bist
auch du bald ein Ringkämpfer, bald ein Gladiator, bald
ein Redner, dann einmal ein Philosoph, mit ganzer Seele
aber nichtsl Sondern wie ein Affe machst du alles
nach, was du siehst, heute das, morgen etwas anderes,
wie es dir gefällt Denn du trittst nicht mit Überlegung
an ei ne Sache heran, du siehst sie dir nicht von allen Seiten
an, sondern folgst jedem Einfall, jeder flüchtigen Laune.
So haben z. B. manche einmal einen Philosophen ge-
sehen, haben ihn reden hören, wie etwa Euphrates redet
— fürwahr, wer kann so reden wie der! — gleich wollen
sie auch Philosophen sein. Mensch, zunächst überlege
dir, worum es sich eigentlich handelt; dann prüfe deine
natürlichen Anlagen, ob du der Sache auch gewachsen
bist Willst du ein Ring- oder ein Fünfkämpfer werden?
dann sieh dir deine Arme, deine Schenkel an, prüfe
deine Hüften, denn der eine hat hierzu Anlage, der andere
dazu.
Glaubst du etwa, daß du bei solchem Beruf noch
weiter in derselben Weise essen und trinken kannst,
daß du noch in gleicher Weise deinen Neigungen und
Abneigungen folgen darfst? Du mußt es ertragen
können: den Schlaf zu entbehren, Strapazen zu erdulden,
deine Angehörigen zu verlassen, von einem Sklaven dich
verachten zu lassen, von den Leuten auf der Straße ver-
lacht, bei jeder Gelegenheit, bei einer Ehrung, einer Be-
förderung, vor Gericht, Überhaupt in allen Dingen über-
gangen zu werden. Das bedenke: ob du dafür Seelen-
3 Epiktet, HaitdbUchlein der Moral
35
r\ie Pflichten richten sich im aUgemeinen nach den
^ persönlichen Verhältnissen.
Jemand hat einen Vater: die Pflicht gebietet, steh um
ihn zu sorgen, sich ihm in allem zu fügen, Schelte und
sogar Schläge geduldig von ihm hinzunehmen.
Aber er ist ein schlechter Vater,
Hat dir denn die Natur einen guten Vater gegeben?
Nein, bloß einen Vater,
JWein Bruder handelt unrecht an mir.
Behalte nur weiter dein Verhalten ihm gegenüber bei
und kümmere dich nicht darum, was er tut, sondern
was da tun mußt, um dein Inneres im Einklang mit der
Natur zu erhalten.
Denn dir kann ein anderer nicht schaden, wenn du es
nicht willst, aber dann bist du wirklich geschädigt, wenn
du glaubst geschädigt zu sein.
Ebenso wirst du finden, was sich für einen Nachbar,
einen Bürger, einen Feldherrn ziemt, wenn du dich näm-
lich gewöhnst, dein Verhältnis zu diesen Stellungen
genau anzusehen, (XXX)
36
Für die Frömmigkeit ist die Hauptsache, richtige Vor-
stellungen von den Göttern zu haben: daß sie sind^
daß sie die Welt gut und gerecht regieren, daß es deine
Bestimmung ist, ihrem Willen dich zu fügen, dich in
alles was geschieht, zu schicken, dich gern und mit
der Überzeugung zu fügen, daß es von höchster Ein-
sicht so zum Ziel geführt wird; dann wirst du die Götter
niemals tadeln, nie ihnen Vorwürfe machen, als kümmerten
sie sich nicht um dich.
Aber das ist nur dann möglich, wenn du die Begriffe
von gut und böse nicht dem entnimmst, was nicht in
unserer Macht steht, sondern sie nur in dem suchst,
was wirklich unser ist
Wenn du jedoch etwas von jenem für gut oder
böse hältst, dann mußt du unweigerlich den Urhebern
Vorwürfe machen und sie hassen, wenn du etwas nicht
erreichst, was du erstrebst oder wenn dir etwas wider-
fährt, was du nicht wünschest
Denn jedem Wesen ist es angeboren, das was ihm
schädlich erscheint und was den Schaden verur-
sacht, zu meiden und zu fliehen, dem Nützlichen aber
und seinen Ursachen nachzugehen und es zu be-
wundern.
37
Es ist also onmöglicli, daß einer, der sich geschädigt
glaubt, sieh über den Urheber des Schadens freut,
ebenso wie man sich unmöglich über den Schaden
selbst freuen kann.
So kommt es, daß ein Vater von seinem Sohne ver^
wünscht wird, wenn er ihn an den Dingen nicht teil-
nehmen läßt, die jener für Güter hält Auch für Eteokles
und Polyneikes war das der Grund zur Feindschaft, weil
sie die Alleinherrschaft für ein Gut hielten. Daher kommt
es, daß der Land mann die Götter lästert, darum tut es
der Seemann, darum der Kaufmann, darum alle, die
Weib und Kind verlieren.
Denn Vorteil und Religion stehen miteinander in
Wechselbeziehung. Wer daher sein Streben und sein
Meiden in die richtige Bahn zu bringen suchte der
handelt eben dadurch auch religiös. Doch Trank» und
Brandopfer darzubringen, die Erstlingsgaben nach Väter-
brauch zu weihen, ziemt sich für jeden; mit reinem Herzen,
nicht gedankenlos, nicht nachlässig, nicht gar zu kärglich,
aber auch nicht über Vermögen soll man es tun, (XXXI)
38
Wenn du zu einem Orakel gehst, so merke dir: wel-
ches Ereignis dir bevorsteht, das freilich weißt du
nicht, sondern deswegen bist du zum Wahrsager ge-
kommen, um es zu erfahren; von welcher Art aber eine
Sache Ist, das wußtest du schon, als du kamst, wenn
anders du ein Philosoph bist Denn wenn es eins von
den Dingen ist, die nicht in unserer Gewalt stehen,
dann kann es in keinem Falle ein Gut oder ein Übel
sein.
Bringe also zum Wahrsager weder Wünsche dafür noch
dagegen mit; geh auch nicht mit Zittern und Zagen zu
ihm, sondern in der Überzeugung, daß alles, was da
kommen wird, gleichgültig ist und dich nichts angeht;
welcher Art es auch immer sei, — es wird möglich sein,
davon einen guten Gebrauch zu machen, und daran
kann dich keiner hindern*
Getrost also wie guten Ratgebern nahe dich den
Göttern und, wenn dir ein Rat erteilt worden ist, dann
denke daran, wen du als Ratgeber genommen hast und
wem du ungehorsam sein wirst, wenn du nicht hörst
Geh aber nach dem Beispiel des Sokrates nur in
solchen Fällen zum Orakel, wo allein der Ausgang der
Sache in Frage steht, und wo weder durch vernünftige
39
Überlegung noch durch irgend eine Kunst die Mittel
geboten sind, das klar zu erkennen, was bevorsteht.
Wenn du also einem Freunde oder dem Vaterlande
beistehen mußt, dann frage nicht erst das Orakel, ob
du es tun sollst Denn wenn dir der Seher sagt, die
Opferzeichen seien schlecht ausgefallen, so bedeutet
das offenbar den Tod oder den Verlust eines Gliedes
oder Verbannung. Aber die Vernunft fordert auch unter
diesen Umständen, dem Freunde, dem Vaterlande in
der Gefahr beizustehen. Wahrlich, darum richte dich
nach dem größeren Seher, dem pythischen Apollo,
der aus seinem Tempel den Menschen hinauswies, der
seinem Freunde in Todesnot nicht zu Hilfe gekommen
war. (XXXII)
40
Stelle endlich für dein Wesen ein festes Gepräge, ein
bestimmtes Ideal auf, wonach du dich richtest, wenn
du mit dir allein bist oder unter Menschen gehst
Schweige gewöhnlich, sonst sprich nur das Not-
wendige und das mit wenig Worten. Selten, nur wenn
es die Umstände erfordern, rede, aber nicht über all-
tägliche Dinge, nicht über Zirkuskämpfe, Pferderennen
oder Athleten, nicht über Essen und Trinken, — das
sind triviale Gesprächsstoffe — vor allem aber nicht
über andere Leute, um sie zu tadeln oder zu loben oder
auch nur zu vergleichen.
Wenn es dir möglich ist, so lenke durch deine Unter-
haltung das Gespräch der Gesellschaft auf einen an-
gemessenen Gegenstand. Bist du aber allein unter
ganz Fremden, dann schweige.
Lache nicht oft, nicht über viele Dinge und nicht
übermäßig-
Den Eid lehne wenn möglich ganz ab; ist es nicht
möglich, so weit es geht
Einladungen zu Gelagen bei Andersgesinnten und
Ungebildeten schlage aus. Kommt aber einmal ein sol-
4
41
eher Anlaß, dann sei deine Aufmerksamkeit gespannt,
damit du nicht in das Wesen der Menge zurückfällst.
Denn merke dir: hat jemand einen verkommenen Ge-
fährten, so muß er unweigerlich mit verkommenj auch
wenn er selbst unverdorben sein sollte.
Die körperlichen Bedürfnisse befriedige nur, soweit
es durchaus notwendig ist, was Essen, Trinken, Klei-
dungj Wohnung und Dienerschaft betrifft, was aber dem
äußeren Glanz und dem Luxus dient, das meide ganz.
Von Werken der Liebe halte dich vor der Ehe nach
Kräften rein. Kostest du aber davon, so beschränke
dich auf den erlaubten Genuß* Sei aber nicht denen
lästig, die Gebrauch davon machen und tadle sie nicht;
und rede nicht viel davon, daß du selbst enthaltsam bist
Wenn dir jemand hinterbringt, daß der oder jener
gehässig über dich spricht, so verteidige dich nicht
gegen dessen Behauptungen, sondern antworte: er wußte
wohl die andern Fehler nicht, die mir noch anhaften,
sonst hätte er nicht bloß diese angeführt.
Oft Zirkusspielen beizuwohnen ist nicht nötig. Wenn
es aber einmal vorkommt, dann zeige dich für nieman-
den besonders interessiert als für dich, d. h, habe nur
den Wunsch, daß alles so geschieht, wie es geschieht,
und gönne jedem Sieger seinen Sieg. So wirst du kein
Ärgernis haben. Beifallsrufe, f reud iges Zuklatschen oder
größere Aufregung vermeide ganz und gar Und wenn
42
die Sache aus ist, sprich nicht viel Über das Gesehen
Überhaupt nor soweit es zu deiner Förderung dient
Denn sonst könnte es scheinen, das Gesehene habe dir
Bewunderung abgenötigt
Zu den Vorträgen gewisser Leute gehe nicht aus
Laune oder ohne besonderen Grund. Wenn du aber
hingehst, dann beobachte ein würdiges und wohlgesetztes
Verhalten, das niemandem lästig ist
Wenn du weißt, daß du mit jemandem zusammen-
kommen wirst, dann stelle dir, zumal wenn der Be-
treffende eine hohe Stellung einnimmt, vor Augen, was
in diesem Falte Sokrates oder Zeno getan hätte, und
du wirst nicht in Verlegenheit sein, wie du dich würdig
dem Fremden gegenüber benehmen sollst
Willst du zu einem mächtigen Herrn gehen, dann
denke: du wirst ihn nicht zu Hause treffen, man wird
dich nicht vorlassen, man wird dir die Tür vor der Nase
zuschlagen, er wird sich um dich gar nicht bekümmern.
Mußt du trotz alledem noch hingehen, dann geh, laß
kommen, was kommen mag, und sprich niemals bei dir:
das war der Mühe nicht wert Das wäre niedrig und
eine verkehrte Auffassung von Außendingen.
In Gesellschaften meide es, oft und unbescheiden von
deinen eigenen Taten und Gefahren zu sprechen. Denn
wenn es dir auch Spaß macht, deiner überstandenen
Gefahren zu gedenken, so macht es doch den andern
\
1
43
nicht denselban Spaß, das zu hören, was dir zugesto-
ßen ist
Vermeide es auch Witze zu machen, denn eine solche
Gewohnheit geht leicht ins Gewöhnliche über und ist
außerdem geeignet, die Achtung deiner Mitmenschen
gegen dich zu mindern.
Gefährlich ist es auch im Gespräch auf schlüpfrige
Gegenstände zu kommen. Wenn einmal etwas Derar-
tiges in deiner Gegenwart vorkommt und es bietet sich
eine passende Gelegenheit, so weise denjenigen zurecht,
der so weit gegangen ist Sonst zeige wenigstens durch
dein Schweigen, dein Erröten oder durch eine finstere
Miene dein Mißfalten an diesem Gespräch, (XXXIII)
44
Wenn du dir einen sinnlichen Genuß vorstellst, so
hüte dich ebenso wie bei den anderen Vor-
stellungen, dich davon hinreißen zu lassen. Laß vielmehr
die Sache auf dich warten und gewinne dir noch einen
Aufschub ab. Dann stelle dir die beiden Zeitpunkte
vor, den des Genusses, und den danach, wo dich die
Reue packt und du dir selber Vorwürfe machen wirst
Und dem stelle gegenüber, wie du dich freuen und
mit dir selbst zufrieden sein wirst, wenn du dich ent-
halten hast
Wenn dir aber der Zeitpunkt des Genusses gekommen
scheint, dann gib Obacht, daß dich nicht das Ein-
schmeichelnde, die Reize und das Verführerische der
Lust zu Falle bringen, sondern stelle dir dagegen vor,
wieviel schöner das Bewußtsein für dich ist, einen
solchen Sieg errungen zu haben, (XXXIV)
45
Wenn dir klar geworden ist, daß du etwas tun mußt,
und du tust es dann, dann scheue dich niemals,
dabei gesehen zu werden, auch wenn die große Menge
deine Handlungsweise seltsam finden sollte. Denn
wenn es unrecht ist, was du tust, dann führe die Sache
überhaupt nicht aus; handelst du aber recht, was
fürchtest du dich vor denen, die dich mit Unrecht
schelten? (XXXV)
46
T 1 ri€ die beiden Sätze „es ist Tag" und „es ist Nacht"
" sich zu einem Gegensatz sehr gut verwerten lassen,
zu einer Verbindung aber nicht taugen, ebenso mag es
wohl für den Körper von Vorteil sein, sich das größere
Stück (beim Essen) herauszusuchen; zur Wahrung der
Rücksicht, die den anderen Gästen gegenüber in einer
Gesellschaft geboten ist, trägt es aber nichts bei.
Wenn du also bei einem andern zu Gaste geladen
bist, dann denke daran, daß man nicht bloß auf den Wert
der aufgetragenen Speisen für den Körper sehen soll,
sondern auch darauf, dem Gastgeber gegenüber den
erforderlichen Anstand zu wahren. (XXXVI)
47
iirenn du eine Rolle übernimmst, der du nicht ge-
" wachsen bist, dann wirst du damit wenig Ehre
einlegen und hast außerdem auch die, welche du hättest
ausfüllen können, versäumt. (XXXVII)
48
Wie du dich beim Gehen in acht nimmst, daß du nicht
in einen Nagel trittst oder dir den Fuß ver-
stauchst, ebenso gib acht, daß du an deiner Seele keinen
Schaden leidest Wenn wir bei jeder Tätigkeit diese
Vorsicht beobachten, dann werden wir um so sicherer
ans Werk gehen können. (XXXVIII)
49
Als Maß für den Besitz soll für jeden sein Körper
dienen wie der Fuß für den Schuh. Wenn du auf
diesem Standpunkt stehst, dann wirst du immer das
richtige Maß einhalten, wenn du aber darüber hinaus-
gehst, dann wirst du zuletzt unweigerlich in den Abgrund
stürzen.
Es ist genau so wie beim Schuh. Wenn du einmal
das Bedürfnis des Fußes überschritten hast, so kommt
erst ein vergoldeter, dann ein purpurner, dann ein ge-
stickter Schuh.
Ist einmal das Maß überschritten, dann gibt es keine
Grenze mehr. (XXXIX)
Epiktet, HandbQchlein der Moral
50
Die Mädchen werden schon von ihrem fünfzehnten
Jahre an von den Männern Herrinnen genannt Und
wenn sie nun sehen, daß ihr Wert allein davon abhängt,
wie weit sie den Männern gefallen, fangen sie an, sich
zu putzen und darauf alle ihre Hoffnung zu setzen.
Es ziemt sich daher, ihnen zum Bewußtsein zu bringen,
daß sie nur dann geehrt werden, wenn sie sich sittsam
und züchtig zeigen. (XL)
51
Es verrät Mangel an Begabung, wenn man sich lange
mit körperlichen Dingen beschäftigt, z. B. wenn man
zu viel Leibesübungen anstellt, zu viel ißt oder trinkt, sich
alle Augenblick entleert oder wenn man ein Wollüstling
ist Vielmehr soll man die Bedürfnisse des Körpers
nebenbei befriedigen, seine ganze Aufmerksamkeit soll
man auf die Ausbildung seines Charakters verwen-
den. (XU)
4*
52
Wenn dir jemand etwas Böses antut oder dir etwas
Schlimmes nachredet, dann denke daran, daß er
glaubt, daß er das tun oder sagen muß. Es ist doch
nicht möglich, daß er das befolgt, was du, sondern was
er für richtig hält. Deshalb hat er den Schaden, wenn
er unrecht hat, denn er ist es, der sich geirrt hat. Denn
auch wenn jemand eine richtige Schlußfolgerung für
falsch hält, so schadet das der Schlußfolgerung nichts,
wohl aber dem, der sich geirrt hat Wenn du das be-
denkst, wirst du nachsichtig sein gegen einen, der
dich lästert, denn du sagst dir jedesmal: es schien ihm
recht so. (XLII)
53
Jedes Ding hat zwei Seiten, wo man es anfassen kann:
auf der einen kann man es tragen, auf der anderen
nicht.
Wenn dein Bruder dir unrecht tut, so fasse die Sache
nicht von der Seite an: er tut mir unrecht — das ist seine
Handhabe, an der kannst du nicht tragen — sondern fasse
es lieber von der andern Seite an: er ist mein Bruder,
er ist mit mir aufgewachsen. So wirst du die Sache da
anfassen, wo sie tragbar ist (XLIII)
54
Filgende Sätze sind unvereinbar: ,4ch bin reicher als
du — also bin ich mehr wert als du'', oder ,,ich
kann besser reden als du — also bin ich mehr wert
als du".
Wohl aber passen die beiden Sätze zueinander: ,,ich
bin reicher als du — also ist mein Besitz mehr wert
als der deinige", oder „ich kann besser reden als du —
also ist meme Redeweise mehr wert als die deinige".
Denn dein Wesen besteht weder im Besitz noch im
Redenkönnen. (XLIV)
55
Es wäscht sich jemand zu eilig — sage nicht: er wasch
sich schlecht, sondern: er wäscht sich schnell.
Es trinkt jemand viel Wein, sage nicht: das ist ver-
werflich, sondern nur: er trinkt viel.
Woher weißt du denn, daß er schlecht handelt, du
kennst ja den Grund seiner Handlungsweise nicht
Auf diese Weise wird es dir nicht begegnen, daß du
von einigen Dingen eine richtige Vorstellung gewinnst,
andern aber, die du nicht erkannt hast, unüberlegt zu-
stimmst (XLV)
56
N
enne dich niemals einen Philosophen, sprich auch
nicht viel unter den Leuten über philosophische
Anschauungen, sondern handle danach.
So z. B. sprich beim Mahl nicht davon, wie man essen
soll, sondern iß so, wie man es soll.
Erinnere dich doch, daß Sokrates bis zu einem solchen
Grade den Schein gemieden hat, daß die Leute mit der
Bitte um Empfehlung an Philosophen zu ihm kamen;
ja er willfahrte ihrer Bitte. So leicht ertrug er es, über-
sehen zu werden.
Bist du unter gewöhnlichen Leuten und kommt das
Gespräch auf einen Satz aus der Philosophie, dann
schweige in der Regel, Denn es ist die Gefahr groß,
daß du das wieder von dir gibst, was du noch nicht ver-
daut hast Und wenn jemand zu dir sagt: „du weißt
nichts**, und du bist nicht aufgebracht darüber, dann
wisse, daß dir der Anfang gelungen ist.
Denn auch die Schafe bringen ihr Futter nicht wieder
den Hirten und zeigen, wie viel sie gefressen haben,
sondern sie verarbeiten inwendig ihre Nahrung und
geben nach außen Wolle und Milch.
Auch du zeige den Laien keine Lehren von Philo-
sophen, sondern Taten als Frucht dieser Lehren. (XLVI)
4
57
Wenn du deinen Körper an Einfachheit gewöhnt hast,
so prahle nicht damit; wenn du nur Wasser trinkst,
so sage nicht bei jeder Gelegenheit: ich trinke nur
Wasser.
Und wenn du dich im Ertragen von Strapazen üben
willst, so tu das für dich und nicht vor andern.
Umarme nicht öffentlich kalte Bildsäulen, sondern
wenn dich einmal heftig dürstet, nimm einen Schluck
kalten Wassers, spei es wieder aus und sage es nie-
mandem. (XLVII)
58
Eines Ungebildeten Zustand und Charakter: niemals
erwartet er von sich einen Nutzen oder Schaden,
sondern nur von äußeren Ereignissen,
Eines Philosophen Zustand und Charakter: er erwartet
allen Nutzen und Schaden von sich selbst
Kennzeichen des Fortschreitenden: er tadelt nieman-
den, lobt niemanden, grollt niemandem, beschuldigt
niemanden, er spricht nicht von sich, als sei er etwas
oder wisse er etwas* wird er durch irgend etwas ge-
hindert oder gehemmt, dann klagt er sich selbst an-
Wenn ihn jemand lobt, so lacht er bei sich über den,
der ihn lobt, und wenn ihn jemand tadelt, erwidert er
nichts. Er geht herum wie einer, der von der Krankheit
noch schwach ist, der sich fürchtet^ etwas, das noch in
der Festigung begriffen ist, zu bewegen, bevor es wieder
erstarkt ist Jeden Wunsch hat er aufgegeben, seine
Abneigung hat er auf das beschränkt, was widernatür-
lich ist von den Dingen, die in unserer Gewalt sind. Sein
Wollen ist in allen Dingen ohne Leidenschaft; er macht
sich nichts daraus, ob man ihn für einfältig oder unge-
bildet hält — mit einem Worte: er beobachtet sich fort-
während wie einen Feind, der ihm nachstellt (XLVIII)
^
4
59
I
I
I
Wenn einer sich etwas darauf einbildet, daß er die
Schriften des Chrysipp versteht und erklären kann,
dann sprich zu dir selbst: Hätte sich Chrysipp nicht
undeutlich ausgedrückt, dann hätte dieser hier nichts,
worauf er sich etwas einbilden könnte. Ich aber, was
will ich?
Ich will die Natur kennen lernen und ihr folgen. Ich
frage daher: wer erklärt sie mk? Und wenn ich hOre:
Chrysipp, dann wende ich mich zu ihm. Aber ich ver-
stehe seine Schriften nicht; ich suche daher jemanden,
der sie mir erklärt. Bis dahin ist nach kein Grund stok
zu sein.
Wenn ich aber einen gefunden habe, der sie mir er-
klären kann, dann bleibt mir noch übrig, die Lehren im
Leben anzuwenden* Darauf allein kann man stolz sein.
Wenn ich aber nur die Kunst des Erklärens bewundere,
was bin ich da anders als ein Philologe anstatt eines
Philosophen? Nur mit dem Unterschiede, daß ich statt
des Homer den Chrysipp erkläre.
Ich erröte daher noch mehr, wenn jemand zu mir sagt;
jjLies mir aus Chrysipp vor**, wenn ich keine Taten auf-
weisen kann, die seinen Lehren entsprechen. (XLIX)
60
Was du dir vorgesetzt hast, daran halte fest, wie an
Gesetzen, als handeltest du gottlos, wenn du es
überträtest
Was man auch über dich sagen mag, kehre dich nicht
daran, denn das steht nicht mehr in deiner Macht (L)
61
k
I
I
Wie lange noch willst du es aufschieben, dich des
edelsten Zieles für wert zu halten und in keinem
Punkte wider die Vernunft zu handeln, die allein über
gut und böse entscheidet. Du hast die Lehren empfangen,
denen du beistimmen solltest und du hast ihnen zu-
gestimmt. Auf welchen Lehrer wartest du also noch,
um ihm das Werk deiner Besserung anzuvertrauen?
Du bist kein unreifer Knabe mehr, sondern schon ein
erwachsener Mann, Wenn du jetzt nachlässig und leicht-
sinnig bist und immer nur Vorsätze um Vorsätze faßt
und immer einen Tag nach dem andern festsetzest,
nach dessen Ablauf du an dir arbeiten willst» dann wirst
du, ohne es zu merken^ gar nicht vorwärts kommen,
sondern dein Leben lang ein ungebildeter Mensch
bleiben, bis du stirbst
Halte dich also endlich für würdig wie ein erwachsener
Mann und wie ein Fortschreitender zu leben.
Und alles, was dir als das Beste erscheint, sei dir ein
unverbrüchliches Gesetz.
Und wenn dir etwas Beschwerliches oder Angenehmes,
ebvas Ruhmvolles oder Ruhmloses entgegentritt, dann
denke: jetzt gilt es zu kämpfen: da sind die olympischen
Spiele, nun gibt es keinen Aufschub mehr! und: an
62
einem einzigen Tage, durch eine einzige Handlung wird
das ganze bisher Errungene vernichtet oder erhalten.
Sokrates hatte eine solche Vollkommenheit erreicht:
bei allem, was ihm begegnete, achtete er auf nichts
anderes als auf die Vernunft Du aber, wenn du auch
noch kein Sokrates bist, solltest so leben, als wolltest du
ein Sokrates werden. (LI)
63
Der erste und notwendigste Teil in der Philosophie
ist die Anwendung ihrer Lehren im Leben, z, B.: nicht
zu lügen.
Der zweite handelt von den Beweisen, z. B.: weshalb
man nicht lügen soll.
Der dritte dient zur Begründung und weiteren Aus-
gestaltung eben dieser Beweise: z. B, aus welchem
Grunde ist dies ein Beweis? was ist überhaupt ein Be-
weis? was eine Folge, was ein Widerspruch, was ist
wahr und was falsch?
Dieser dritte Teil ist notwendig wegen des zweiten
und der zweite wegen des ersten; der notwendigste, mit
dem man sich immer beschäftigen sollte, ist der erste»
Wir aber machen es umgekehrt: wir beschäftigen uns
mit dem dritten Teile und verwenden darauf all unseren
Eifer. Um den ersten kümmern wir uns überhaupt nicht;
deshalb lügen wir; wie man aber beweist, daß man nicht
lügen darf — das ist uns geläufig, (LH)
j
64
B
ei allem sei uns dieser Spruch gegenwärtig:
AUmächfger Zeus und du Verhängnis, führet mich
Auf den Platz, der von euch bestimmt mir ist:
Ich folge ohne Zaudern. WoUf ich's nicht —
Ein Frevler war* ich, und ihr zwängt mich doch!^
„Wer dem Geschick sich wohl zu fügen weiß,
Der ist uns weise und er kennt das Göttliche."*
Ja, Kriton, wenn es den Göttern so gefällt, dann mag
es so geschehend
Töten können mich Anytus und Meletus wohl, doch
schaden können sie mir nichts (LIII)
ANHANG
AUS VERLORENEN DIATRIBEN
DES EPIKTET
66
An einen, der über die Substanz derDinge dis-
putierte*
„Was kümmert es mich", sagte er, „ob aus Atomen
oder dem ,Uiiendlichen' oder aus Feuer und Erde (und
den beiden andern Elementen) die Welt besteht? Ist es
nicht genug, wenn man das Wesen des Guten und Bö-
sen und die Maße unseres Strebens und Meidens, un-
serer Neigungen und Abneigungen kennen lernt und nach
ihnen als Richtschnur sein Leben einrichtet, dagegen
den Dingen, die zu iioch für uns sind, ,Faiirwohl* sagt?
Dingen, die vielleicht für die menschliche Erkenntnis un-
erreichbar sind — wenn man aber auch durchaus an-
nehmen wollte, daß sie erkennbar seien, was für Nutzen
hätten wir von dieser Erkenntnis? Muß man nicht zu-
geben, daß dieienigen sich unnütze Mühe machen, die
diese Dinge als notwendig dem Gebiet der Philosophie
zuweisen?** —
„Es ist doch nicht etwa auch das Gebot am Tempel
zu Delphi überflüssig, das ,Erkenne dich selbst*? —
Das freilich nicht**, sagte er. — „Welches ist denn seine
Bedeutung?" — Wenn man einem Chorsänger vor-
schriebe, sich selbst zu erkennen ^ würde dieser dann
nicht auf die Vorschrift seinen Sinn richten, indem er
seine Aufmerksamkeit auf seine Mitsänger und auf den
Einklang mit ihrem Gesang richtete? — „Gewiß.** —
Und wie wäre es bei einem Seemann? Oder einem Sol-
daten? Scheint dir also der Mensch geschaffen zu sein,
für sich allein zu leben, oder scheint er dir zur Gemein-
schaft bestimmt? — „Zur Gemeinschaft" — Von wem?
— „Von der Natur." — Wer sie ist und wie sie im
67
Weltall waltet und ob sie vernunftbegabt ist oder nicht,
braucht man sich darüber etwa keine Gedanken zu
machen?*^ (I)
(Mensch und All)
Alles gehorcht dem Kosmos, ihm dient alles: Erde und
Meer, die Sonne und die anderen Gestirne und alles
was da lebt und webt auf Erden. Ihm gehorcht auch
unser Körper, der krank oder gesund ist, blüht und ver-
welkt und die anderen Wandlungen durchmacht, wie
jener es bestimmt. Daher ist es wohlgetan, daß auch
das, was in unserer Macht steht, d. h. unser Urteil, nicht
allein ihm widerstrebt. Ist er doch gewaltig und stärker
als wir, er, der zusammen mit dem Ganzen auch über
uns waltet Außerdem aber verursacht der Widerstand,
der unvernünftig ist und nichts weiter ausrichtet als daß
wir uns vergeblich sträuben, auch noch Kummer und
Schmerzen* (HI)
Von den Dingen hat Gott die einen in unsere Macht
gegeben, die anderen nicht: in unsere Macht das
Schönste und Wichtigste, wodurch auch er selbst glück-
selig ist: den Gebrauch der Vorstellungen. Denn wenn
wir diese recht gebrauchen, so bedeutet das für uns
Freiheit, Wohlfahrt, Gemütsruhe und Beständigkeit; es
bedeutet auch Recht, Gesetz, Selbstbeherrschung, Über-
haupt jede Tugend. Alles andere hat Gott nicht in unsere
Macht gegeben. Daher müssen auch wir mit Gott über-
einstimmen, in dieser Weise die Dinge einteilen und
68
nach denen, die in unserer Macht sind» auf alle Weise
trachten, dagegen diejenigen, die nicht in unserer Macht
stehen, dem Kosmos anheimstellen und, mag er nun die
Kinder, die Heimat, den Körper oder sonst etwas von
uns fordern^, dies ihm freudig überlassen, (IV)
\1 rer von uns bewundertnicht die Handlungsweise des
" Spartaners Lykurg? — Es war ihm nämlich von
einem seiner Mitbürger ein Auge ausgeschlagen wor-
den. Darauf hatte ihm das Volk den Jüngling ausge-
liefert, damit er sich an ihm rächen könne, wie es ihm
beliebe. Er verzichtete jedoch auf die Rache; vielmehr
erzog er jenen und machte ihn zu einem tüchtigen Mann«
Dann nahm er ihn mit sich in die Öffentlichkeit Als
die Spartaner sich darüber wunderten, sagte er: „Die-
sen habe ich von euch als Frevler und Übeltäter be-
kommen; ich gebe ihn euch als ordentlichen und freund-
lichen Menschen zurück/' » (V)
Zu glauben, daß man den andern verächtlich sein werde,
wenn man seinen Feinden nicht auf jede Weise Scha-
den zufügt — das ist das Zeichen eines unedlen und
törichten Menschen. Freilich wird jemand auch inso-
fern er nicht imstande ist, einem zu schaden, für ver-
ächtlich gehalten. Aber weit mehr hält man einen
deshalb für verächtlich, weil er nicht imstande ist, zu
nützen. (VlI)
So war die Natur des Kosmos, so ist sie und so wird
sie ewig bleiben/*, und es ist unmöglich, daß das
Geschehen anders verläuft als es jetzt der Fall ist Und
4
69
an diesem Wandel und Wechsel nehmen nicht nur die
Menschen und die übrigen irdischen Wesen teil, son-
dern auch die göttlichen Dinge und — bei Gott! die
vier Elemente selbst werden aufwärts und abwärts ge-
wandelt und verändert: Erde wird zu Wasser und Wasser
zu Luft, und diese wieder verwandelt sich in Äther, Und
dieselbe Art der Umwandlung findet auf dem Wege von
oben nach unten statt. Wer versucht, seinen Sinn auf
diese Tatsache zu wenden und sich willig dem Unab-
änderlichen zu beugen, der wird sein Leben voll Maß
und Harmonie gestalten. (VHI)
Die Vorstellungen, durch die der Geist des Menschen
unmittelbar beim ersten Innewerden eines äußeren
Vorgangs einen Stoß erhält, sind nicht freiwillig oder
willkürlich, sondern drängen sich mit einer Art Gewalt
den Menschen ins Bewußtsein. Die Zustimmung aber,
durch die eben diese Vorstellungen als berechtigt an-
erkannt werden, ist freiwillig und geschieht Infolge der
bewußten Entscheidung des Menschen, Deshalb wird
auch der Geist des Weisen, wenn irgend ein schreck-
liches Geräusch, z. B, beim Gewitter oder beim Einsturz
eines Gebäudes an sein Ohr schlägt oder wenn ihn
plötzlich die Nachricht von einer drohenden Gefahr oder
Ähnliches trifft, notwendigerweise einen Augenblick er-
schüttert und beklommen, nicht weil er die Meinung ge-
faßt hat, irgend etwas Schlimmes stehe ihm bevor ~
nein, es kommt vielmehr von gewissen plötzlichen und
ungewollten Bewegungen, die dem Dienst des Geistes
und der Vernunft zuvorkommen* Aber alsbald versagt
70
der Weise derartigen Vorstellungen seine Zustimmung;
er verwirft sie und findet niclits Fürchterliches an die-
sen Erscheinungen. Und das ist der Unterschied zwischen
dem Geist des Unweisen und dem des Weisen: der Un-
weise meint, daß die Dinge in Wahrheit so schlimm und
so schrecklich seien, wie sie ihm beim ersten Eindruck
erschienen sind, und daher billigt er die anfänglich ge-
faßten Vorstellungen auch noch nachträglich durch seine
bewußte Zustimmung — als ob jene Dinge mit Recht
zu fürchten seien. Der Weise dagegen versagt — mag
sich ihm auch Miene und Farbe auf einen Augenblick
flüchtig gewandelt haben — jenen ersten Eindrücken
seine Zustimmung und bewahrt seinen festen Standpunkt,
den er solchen Vorstellungen gegenüber stets eingenom-
men hat, Vorstellungen, die in keiner Weise ernsthaft
zu fürchten sind, sondern nur durch eine schreckliche
Larve, hinter der nichts ist, einen unwillkürlichen Schau-
der einjagen. (IX) i"
Als Archelaos den Sokrates eingeladen hatte, um ihm
von seinem Reichtum abzugeben, ließ dieser dem
König antworten: „In Athen kosten vier Liter Gersten-
graupen einen Obolos, und Wasser spenden die Quel*
len in Fülle." Wenn nämlich das Vorhandene für mich
nicht genügt, so begnüge ich mich doch mit dem Vor-
handenen und so genügt auch dieses für mich. —
Oder meinst du etwa, daß Polos ^^ den König ödipns
mit schönerer Stimme oder mit mehr Zauber spielt als
den Landstreicher und Bettler auf Kolonos?^^ Und da
soll der tüchtige Mann durch Polos beschämt werden
4
4
i
4
71
und nicht jede von der Gottheit zugewiesene Rolle gut
spielen? Wird er nicht vielmehr den Odysseus nach-
ahmen, der in seinen Lumpen nicht weniger hervor-
strahlte als im purpurnen Königsniantel?^^ (XI) i*
Aber man sieht doch, wit die ,Qüten und Tüchtigen'
vor Hunger und Kälte umkommen! " *^ — Siehst du
vielleicht nicht, daß die nicht ,Guten und Tüchtigen*
vor Schlemmerei und Prahlerei und vor Mangel an allem
Guten und Schönen umkommen? — „Aber es ist eine
Schande, sich von einem andern ernähren zu lassen."
— Du Narr, wer erhält sich denn überhaupt ganz aus
sich selbst — mit Ausnahme des Kosmos? ^^ — Wer
daher die Vorsehung beschuldigt, daß die Schlechten
keine Strafe erleiden, vielmehr noch von Gesundheit
strotzen und Reichtümer aufhäufen, der könnte ebenso
gut behaupten: „Mögen sie auch ihre Augen verloren
haben — Strafe haben sie darum nicht erlitten, sind
doch ihre Fußnägel gesund!" — Denn das ist sicher:
der Unterschied zwischen sittlicher Tüchtigkeit und dem
Reichtum ist noch viel größer als der zwischen Augen
und Fußnägeln! (XIII)
1 1 renn der Arzt nichts verordnet, dann zürnen ihm die
'" Kranken und glauben von ihm aufgegeben zu sein.
Aber dem Philosophen gegenüber — warum ist man da
nicht so gestimmt, daß man glaubt, betreffs seines sitt-
lichen Zustandes von ihm aufgegeben zu sein, wenn er
zu einem nichts von Bedeutung sagt? (XIX)
72
Diejenigen, mit deren Körper es gut steht, halten
auch Hitze und Kälte und andere Strapazen aus.
So lassen auch die^ mit deren Seele es gut steht,
Zorn und Kummer, übermäßige Freude und die
anderen Gemütsbewegungen nicht über sich Herr
werden. (XX)
Wunderbar ist die Natur und -^ mit Xenophon zu
reden 1' — voll Liebe zur Kreatur. Den Körper
wenigstens, von allen Dingen das unerfreulichste und
schmutzigste, lieben und pflegen wir. Wenn wir aber
nur fünf Tage lang den Körper unseres Nachbarn be-
sorgen sollten, so hielte das kein Mensch von uns aus!
Denn, mache dir nur einmal klar, was das heißen will:
morgens nach dem Aufstehen die Zähne eines andern
zu putzen und seine sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen 1
Es ist wahrhaftig seltsam, eine Sache zu lieben, der wir
täglich solche Dienste leisten müssen! — Ich fülle diesen
Sack, dann entleere ich ihn. Was ist widerlicher als
dies? — Doch ich muß Gott willfahren*^. Deswegen
harre ich aus und gewinne es über mich, diesen un-
seligen Leib zu warten, zu füttern und zu bedecken. —
Als ich jünger war, begehrte er noch anderes von
mir, und gleichwohl ertrug ich ihn. — Warum sträubt
ihr euch daher, wenn die Natur euch den Körper
nehmen will, sie, die ihn euch doch gegeben hat? —
„Ich liebe ihn/ — Hat dir denn nicht auch eben
diese Liebe die Natur gegeben? Sie selbst sagt aber:
„Laß den Leib fahren, dann hast du keine Plage
mehr.**^« (KKliy^
73
1 irenn du auf jemanden voll Erbitterung in drohen-
" der Haltung losgehst, dann vergiß nicht, dir vorher
zusagen: „Du bist sanftmütig.** — Und wenn dich dann
die Leidenschaft nicht fortgerissen hat, wirst du ohne
Reue und ohne Schuld bleiben. (XXV)
ANMERKUNGEN
» Vgl. Fragmente XI.
' Den Glauben an Vorzeichen teilt Epiktet mit den meisten
Stoikern ; aber da das wahre Glück des Menschen allein in
ihm selbst liegt^ so ist für Epiktet der Glaube an Weis-
sagungen und Vorbedeutungen gänzlich belanglos. Vgl
Diss. I 17. 11 7, Handbüchl. Cap, 3Z
* Verse des Stoikers Kleanthes (fr 527 Arnim), der etwa
270—250 V. Chr. Haupt der Stoa war.
* Verse des Euripides (fr. 956 Nauck).
^ Worte des Sokrates in Piatons Kriton (43 d) und in der
Apologie (30 c).
* Die Übersetzung dieses Fragmentes ist an einigen Stellen
Infolge noch nicht geheilter Textverderbnisse zweifelhaft
^ D, h. wenn unsere Kinder oder wir sterben oder in die
Verbannung gehn müssen.
* Die Geschichte ist eingehend im 11, Kapitel vonPlutarchs
spLykurg" erzählt. Dort ist auch der Name des Jünglings
(Alkandros) genannt. Dieser soll, wie viele andere, durch
die Einführung der Syssitien (der gemeinschaftlichen Männer-
mahle) gegen Lykurg erbittert worden sein.
' Im Vorhergehenden, das nicht erhalten ist, muß von der
unablässigen Veränderung aller Dinge, die steh mit innerer
Notwendigkeit als Auswirkung des göttlichen Logos vollzieht,
die Rede gewesen sein. Diese Anschauung von dem »Fluß
aller Dinge** haben die Stoiker bekanntlich von Herakleltos
übernommen (vgl. fr. 12 und 91 Diels). Noch auf Goethe hat
sie tief gewirkt: „Ach, und in demselben Flusse schwimmst
du nicht zum zweitenmal*" — Für den praktischen Epiktet
ist sie übrigens nur von geringer Bedeutung; ganz anders bei
dem einsamen Grübler Marc AureL — Auch die unaufhöriiche
Wandlung der Elemente ineinander (der Begriff Element in
modernem Sinn als einer qualitativ unveränderlichen Substanz
ist dem Herakleitos noch ebenso fremd wie der Stoa), hat
zuerst H. gelehrt, vgl. fr. 31 und 76 Diels. Nur kennt er noch
75
keine vier Elemente, da diese erst Empedokles gelehrt hat,
von dem sie die Stoiker abernommen haben. — Beim Prozeß
der Weltbildnng ist nach Herakleitos das Werden der Dinge
aus dem Urfeuer „der Weg nacli unten*, wie umgekehrt bei
der Weltzerstömng deren Rückverwandlung in das Feuer „der
Weg nach oben". (Vgl Diels, Herakleitos von Ephesos S, 15
zu fr* 60,) Denn die stoffliche Veränderung ist für ihn, wie
später für die Stoa, zugleich Ortsveränderung, Das zu Feuer
Werdende strebt aufwärts, das zu Wasser bzw. Erde sich
Wandelnde abwärts, — Übrigens findet in der JeMzeit nur
ein teilweiser Übergang der Elemente ineinander statt. Aber
auch dieser wird von den Späteren, z» B. den Stoikern, oft
als der Weg von oben nach unten und umgekehrt bezeichnet
— Der Äther ist das erste der vier stoischen Elemente, Er
ist pfeines Feuer*', aber von dem irdischen Feuer nicht nur
durch seine größere Feinheit, sondern vor allem durch seine
Potenz (als schöpferische Kraft) durchaus unterschieden.
Näheres in meiner Übersetzung der „Schrift von der Welt"
zu Kapitel II.
** Dies Fragment zeigt in höchst anschaulicher Weise, wie
die Stoa das Ideal des Weisen den Zufälligkeiten des täg-
lichen Lebens gegenüber aufrecht zu erhalten sucht
" Ein berühmter Schauspieler damals.
** Anspielung auf die beiden sophokleischen Dramen „König
ödipus** und „ödipus auf Kolonos".
*' Anspielung auf Odyssee 18, 74 (und 19, 225), wo die
Freier vom unerkannten Bettler sagen: j^Weich mächtigen
Schenkel läßt der Alte aus seinen Lumpen hervorscheinen!*
** Zum Gedanken des Ganzen vgL Handbüchlein Kapitel 17,
Der Vergleich des Weisen mit dem guten Schauspieler geht
auf Bion von Borysthenes (in der ersten Hälfte des dritten
Jahrhunderts v, Chr.) zurück, wie O, Hense gezeigt hat
*ß Das Fragment enthält ein Stückchen der stoischen Theo-
dicee. Im Vorhergehenden wird vermutlich von der Glück-
seligkeit des sittlich Tüchtigen die Rede gewesen sein*
Gegen die landläufigen Einwürfe, wie sie von gegnerischer
76
(skeptischer bzw, epikureisclier) Seite gegen diese Grund-
lehre der Stoa erhoben wurden, wendet sich das Fragment
*« Nur der Kosmos ist vollkommen, amoTsXijg, d, h, er hat
seinen Zweck in sich selbst, er aliein erhält sich durch eigene
Kraft Denn selbst die göttlichen Gestirne bedijrfen der Er-
nährung durch die Ausdünstungen des Meeres bzw. der irdi-
schen Gewässer.
" Denkwürdigkeiten I 4, 7.
** D- h- da er es einmal so eingerichtet hat
*' Der Selbstmord ist bekanntlich nach stoischer Lehre
erlaubt
«" Vgl. Einleitung S. XXV t und S. XXII f. Der Inhalt dieses
Fragments wird zunächst den modernen Leser befremden.
Es ist aber für die kynische Seite in Epiktets Wesen zu
charakteristisch, als daß es hier fehlen dürfte. Und die Sache,
von der es handelt, ist so alt und so jung wie das Menschen-
geschlecht selbst Denn das Problem, das Epiktet hier be-
rührt, wird so lange existieren^ wie es Menschen mit Fleisch
und Blut geben wird
INHALT
Seite
Einleitung V
Handbüchlein der Moral 1
Aus verlorenen Diatriben des Epiktet . . 65
Anmerkungen 74
DRUCK DER SPAMERSCHEN
BUCHDRUCKEREI LEIPZIO-R.
Handbuchtein der Morat.
Wlderwr Llbran
004171731
3 2044 085 112 605
Jll