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Full text of "Die Vertreter des Jahrhunderts"

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Die 



Vertreter des JabrbuDilerts. 



Von 



Karl Bleibtreu. 



L'indiyidn, iii6, ^orasö par le monde modeme, 
Ta-t-il reprendre derimportancey Sonhmitons — le! 

Flaabert an George Sand 1870. 

The conseqnence is: being of no party 
I shall offend all parüea. Byron. 



^>^ Band 1. ^^-cr 






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Berlin and Leipzig- 
Verlag Ton Friedrich Luekhardt 

1904. 



Inhalt. 



S«ite 

Das grosse Jahrhundert der grossen Revolation 1 — 40 

Der letzte Ideologe: Lamartine 41—64 

Italia Unita: Mazzini und Garibaldi 65—89 

Der yersohleierte Prophet: Schopenhauer 90—131 

Die Ehrlichen des Perfiden Albion: Dickens und Thackeray . 132—154 

Der Jesaias des Magenkatarrhs: Carlyle (Emerson, Rnskin) . 155 -181 

Der zerrissene Orphons: Richard Wagner 182—211 

Lonis der Kleine und Hugo der Orosse 212 — 261 

Orossjaden jenseits babylonischer Oefangenschaft: Disraeli, 

Gambetta, Lassalle 262—315 

Der messianische Hieb: Heine 316 — 359 




Index. 



Softe 

Maistre und Bonald 3, 4 

Chateaubriand 4—9, 62—63, 321 

CoDstant und „Obermann^* 9, 10 

Stael 11, 12 

(Zitiert) Taine (Positivismua) . . . . • 22 

{Zitiert) Laplaoe, Dabois-RaymoDd, Helmholtz (Entwioklang 

der Natarwissenschaft) 23—30 

Puckler- Moskaa, Bettina Arnim 30—37 

Ida Hahn- Haha 35, 36 

Cousin (Eciecticismus) 38—40 

Lamartine 40 — 64 

Mazzini, Garibaldi 64-89 

Cavour r • • 84—86 

H»»gel, Fichte, Kant 91—95 

Schopenhauer 90—131, 188, 190—192, 209 

(Zitiert) Orisebach, Türok, Euler, Nietzsche, Dühring 

Bulwer 134—136 

Dickens 138—142 

Thackeray 143—154 

Carlyle 155—163, 171—181 

Emerson 163—171 

Ruskin 171, 176 

Richard Wagner 182—211 

(Zitiert) Pechner, Eocken, Chamberlain 

Louis Napoleon 212—235 

Fiaul»ert 235-238, 241 

Balzac 238, 239 

Stendhal 17, 239 

0. Sand 240 

Vi^ny 253 

V Hugo 242-253, 259-261 

Musset 253-256, 261 



— IV — 

Seite 

Maupassant 256—258, 323 

DisraeH 287—295 

Gambetta 295—297 

LassaUe 297-309 

Marx 298 

Brandes 285 

Hebbel 317 

Grabbe 319 

Lenau 320, 321 

Novalis, Tieok, Sohelling, Schlegel 324— 32G 

Whitman, Bret Harte, MiUer 327 

Browning 331—332 

Teonyson 333 — 336 

Heine 318, 336—359 



Errata. 



Bachstabenfehler anzukreiden ist unnütz. Als sinnstörond sei genannt 
Seite 7, Zeile 22 Ues „von dannen*^ statt „von denen^'. 
Seite 61, Zeile 15 lies „rombre^^ statt „Ihombre^'. 
Seite 51, Zeile 33 lies „euch^^ statt „auch"'. 
Seite 320, Zeile 13 lies „Schmelz'' statt „Schmalz''. 



Das grosse Jahrbnodert der grossen BevolntioiL 

„NationalbilduDg zeigt sich in der Gesamtheit der Künste. 
Daher ist die schöne literator vorzüglich charakteristisch 
für jede Zeit einer Nation !^^ Dies Eingeständnis, das sich 
unter den Aphorismen eines so strengen Denkers, wie 
J. F. Herbart, findet, diene uns als Richtschnur, wenn wir 
neben den wenigen bedeutenden Tatmenschen des Jahr- 
hunderts vorzugsweise die literarischen Persönlichkeiten her- 
vorheben. Dichter oder Denker — beides auch in Richard 
Wagner vertreten — machen die wahre Erbschaft eines 
Jahrhunderts aus oder geben ihm wenigstens die Signatur. 
Wann aber beginnt dies neunzehnte Jahrhundert? Sicher 
nicht mit Neujahrsglocken, die das Jahr von Marengo ein- 
läuteten, sondern mit dem letzten Eanonenschuss überm 
Feld von Waterloo. Dort erst ward dem Grossen Jahrhundert 
zu Grabe geläutet, dessen Nachfolge einem tintenklexenden 
Säkulum anheimfiel, reicher an Grössenwahn, als irgend ein 
gewesenes, ärmer an wahrer Grösse, als die meisten Zeitalter, 
die einen wirklichen Aufschwung der Menschheit bedeuteten. 
Das nämliche Jahr, wo Napoleon von der politischen Bühne 
abtrat, gebar Bismarck, das wird allezeit symbolisch bleiben. 

Für die scharfen Einschnitte zusammengehöriger Zeitalter 
bildet die äussere Gemarkung der Zeitdaten keine Grenze. Ob- 
schon Napoleon und Byron erst Anfang der zwanziger Jahre 
des neunzehnten Säkulums starben, wird man sie ebensowenig 
zu dessen Söhnen und Vertretern zählen, wie Goethe und 
Kant. All diese grossen Gestalten entsprangen gemeinsam 
dem Schoss desselben kraftschwangeren Milieus, das mit dem 
Eönigsphilosophen von Sanssouci und dem Philosophenkönig 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhimderts. 1 



— 2 — 

— mehr König als Philosoph — Voltaire seine Erstgeburt 
in die Welt setscte, Vertreter einer Generation, die sich 
in den Satumalien der Grossen Revolution selber verschlang, 
um einer riesigen Neugeburt, einer Neuen Welt, unter 
Trommelwirbeln Platz zu machen. Vom Schafott des guten 
Dr. Guillotin schwang sich die Revolution zu Thronen empor 
und erstieg sporenklirrend die Stufen zur Weltherrschaft 

Alle Stände sahen sich unter die Waffen fortgerissen. 
Da das Leben eine kunstvolle Tragödie und die zeit- 
genössische Geschichte mit ihrem Römerstil eine pomphafte 
Bühne vorzustellen schien, wo alle Akteure, gleich dem 
„ersten Helden^^ Napoleon, bei Talma Unterricht nahmen, 
um heroische Posen zu lernen, fehlten sogar die Schau- 
spieler nicht als Soldaten und reihten sich den Legionen 
ein. Wie später im deutsch-französischen Kriege, der Bis- 
marckzeit, der bekannte Mime Sevestre bei Buzenval für 
sein geliebtes Paris fiel, den sterbenden Blick noch auf 
sein Ehrenkreuz gerichtet, wie Baillet bei Villejuif und 
Paul Mounet als Adjutant bei Laval ihre Pflicht taten und 
Mounet-Sully das Banner der Dordogne-Mobilen trug, so 
fällt ein Talma im Kampf gegen die Briten am Bord des 
.,Rivoli'' und Oberst de Brancas vor der Front seiner 
10. Kürassiere bei Essling, der grossen Actrice Sophie 
Amould Sohn. Eine Apologie des Krieges stammt sogar 
von einer Seite her, wo man es nicht erwarten sollte. Der 
unerbittliche Feind der Revolution und Napoleons, Josef 
de Maistre, preist den Krieg als Weltgesetz und nennt ihn 
göttlich. Dieser Kämpe, in Petersburg dürftig lebend und 
sterbend, machte seinen Frieden mit dem Imperator nicht 
und so gab es noch Viele, sowohl Reaktionäre als Radikale, 
die nie verziehen, die nichts vergassen und nichts zulernten, 
sondern den Widerstand gegen das neue Cäsarentum weiter- 
spannen, bis endlich ein allgemeiner Sklavenaufstand den 
Einen niederwarf. Diese Auflehnung gegen die neue Form 
der Bevormundung im Namen von Freiheit und Gleichheit 
erregte auch das friedliche Reich der Geister. Schon 1796 
erschienen gleichzeitig in der Schweiz Maistres „Konsid6- 
rations sur la R6volution^^ und Bonaids ,,Th6orie du pouvoir 
politique et religieux.'^ Das Bonaldsche Buch wirkte durch 



- 3 — 

seine bornierte und heftige Einseitigkeit, die kein Paktieren 
und keine Kompromisse zuliess. Mit Recht spottete Ghenier 
über Bonaids Methode: ,,Er nimmt als unbestreitbares Prinzip 
irgend etwas höchst Bestreitbares, oft etwas Unmögliches, 
und marschiert dann von Behauptung zu Behauptung, indem 
er jede Annahme, die er bekräftigt, einfach durch eine neue 
beweist, die er erst hinterher bekräftigen will/^ Condillac 
und Gabanis werden von diesem plumpen Baufer mit einem 
Faustschlag erledigt ,J)ie Fähigkeit zu denken hängt von 
der Beschaffenheit des Oehims ab?*^ Bonald weiss es besser: 
^Wären wir nichts als Organe und Organisation, könnten 
wir nie mehr wollen, als wir können !!^^ St Lambert hatte 
geschrieben : „Der Mensch ist eine organisierte Masse, welche 
Geist aus ihrer Umgebung und ihren Bedürfnissen empfängt^^ 
Dies kehrt Bonald um: „Der Mensch ist eine Intelligenz, 
bedient von Organen/^ Unbewiesene Paradoxe schlagen hier 
gegenseitig auf einander los oder auch Truisms, die sich 
gegenseitig missverstehen. Denn die vier Thesen und Anti- 
thesen, die wir oben als Probe zitieren, sind sämtlich 
halbwahr, aber von einer Halbwahrheit, die kaum noch Zu- 
gänge zur höheren Wahrheit offen lässt, in einen engen 
Denkzirkel eingesponnen, aus dem es kein Entkommen in 
die lichten Gefilde wahrhaft freien Denkens gibt Wie arm- 
selig, wie unreif nimmt sich der sensualistische Materialismus 
der französischen und englischen damaligen Bildung ans 
gegenüber Kants Ideenflügen! Und als Gegengewicht 
kannte man nur die Theologie, das unwissenschafüiche Gesal- 
bader der High Ghurch oder den Dogmenzwang des Katho- 
lizismus. Man verwechsele also die angeblichen Argumente 
gegen Materialismus und Atheismus, wie Ghateaubriands 
„Genie des Ghristentums'^ und Maistre und Bonald sie vor- 
brachten, nicht mit wirklicher denkerischer Abrechnung. 
Was hier und da wie ein transcendentaler Idealismus aus- 
sieht, bleibt nur angeschminkte, heuchelnde Tünche: dar- 
unter grinst das alte Gespenst hierarchisch-absolutistischer 
Wahnvorstellungen mit höchst realistischen Machtgierin- 
stinkten. Den Teufel vertreiben durch Beelzebub! 

Die charakterologische Unverschämtheit des Jahrhunderts, 
die sich Kritik taufte, meldet sich schon frühe. „Bonaparte 



— 4 — 

war ein Schlax^htengewinner. Aber abgesehen hierron war 
der geringste General geschickter als er . . Man glaubt^ 
dass er die Eriegskonst vervoUkommete, es ist jedoch sicher, 
dass er sie bis zur Kindheit der Kunst zurückschraubte,'' 
schimpft Chateaubriand in seiner Schmähschrift ,,Bonaparte 
und die Bourbonen/^ Dieser Ungeheuerlichkeit liess er 
schon Verachtung jeder Wissenschaft im ,,Geist des Christen- 
tums^^ vorangehen. ,,Sie yertrocknet das Herz, entzaubert 
die Natur, führt schwache Geister zum Atheismus und von 
da zum Verbrechen/^ Das System von Linn6 passt ihm 
nicht „Wäre nicht besser, den Menschen an der Spitze 
der Schöpfung zu lassen, wohin ihn Moses, Aristoteles, Buffon 
und die Natur gestellt haben ?'^ (Dies „und die Natur'' 
ist unbezahlbar.) Doch dies ist noch gar nichts gegen de 
Maistre. Bacon? War „fremd allen Wissenschaften, all 
seine Grundideen falsch/^ Er hatte einen eminent falschen 
Geist und von einer ihm besonders zugehörigen Falschheit. 
Seine „Unfähigkeit in allen Zweigen der Naturwissenschaft 
war absolut und radikal . . Er entbehrt völlig des Talents 
zur Analyse, weiss nicht Fragen zu lösen, ja nicht mal sie 
aufzustellen.'^ Um so einen mit all seinen Mängeln hoch- 
bedeutenden Mann abzutun, genügt ein Federstrich. Noch 
fünfzig Jahre weiter und wir werden in der Presse jeden 
Affenpintscher über Löwen sein Wauwau anstimmen hören, 
als war 's die Posaune des jüngsten Gerichts. De Maistre 
weisst auch alles voraus. „Es gab niemals eine Dynasten- 
familie plebejischen Ursprungs. Wenn dies Phänomen er- 
schiene, wäre es ein Ende der Welt" Gleich darauf krönte 
sich Napoleon. „Nichts kann Preussen wiederherstellen. 
Dies Gebäude aus Blut und Kot, falschem Geld und Flug- 
schriften, ist in einem Augenblick eingestürzt für immer.'' 
Das war 1807, sieben Jahre später stand der Bau wieder 
da. Natürlich hasste de Maistre in Preussen nur den Pro- 
testantismus, sozusagen die Illegitimität, keineswegs das 
Junkerliche. 

„Der Aberglaube ist ein vorgeschobenes Fort der Reli- 
gion, das man nicht zerstören darf . .'^ „Jede Autorität, be- 
sonders die der Kirche, muss sich jeder Neuheit wider- 
setzen, ohne sich von der Gefahr erschrecken zu lassen, 



— 5 — 

etwa die Eotdeckang einiger Wahrheiten zu verzögern, ein 
Nachteil gleich Null, verglichen mit dem, die Institutionen 
und bestehenden Meinungen zu erschüttern/' Selbst die 
arme Chemie ist eine schädliche Neuheit „Wozu nützt sie 
dem Minister, Beamten, Militär, Seemann, Negozianten?^^ 
Aber natürlich! „Kehrt man nicht zu den alten Maximen 
zurück, überlässt die Erziehung den Priestern und setzt 
die Wissenschaft überall an den zweiten Platz, so erwarten 
uns unabsehbare Übel/^ „Die Andern haben nicht das Recht 
über diese Materien der sittlichen Weltordnung zu rai- 
sonieren. Sie haben ja die Naturwissenschaft, um sich zu 
amüsieren. Worüber beklagen sie sich noch?^' So geht es 
unablässig fort in den „Soireen von Petersburgs^, dem 
„Versuch über die Schöpfungsprinzipe^^ und dergleichen 
Maistrerieen. 

Doch der Schöpfergeist der Revolution blies auch den 
Abtrünnigen seinen lebendigen Odem ein. In die erste 
Auflage seines „Gdnie du Ghristianisme^^ schmuggelte Chate- 
aubriand seinen „Ren^^^ ein, der eine literarische Revo- 
lution bedeutet In den „Martyrs^^ begonnen gleichzeitig 
mit jener Apologie des Christentums und veröffentlicht unter 
den Donnern der Weltgeschichte bei Aspern und Wagram, 
wollte er die Poesie kirchlichen Christentums katholisch 
feiern, doch er feierte sfatt dessen die Gründung des ge- 
schichtlichen Romans vor Walter Scott. Wo er sich gegen 
das Grosse Jahrhundert wandte und in geradezu kindischer 
Weise uns Übernatürliches zumutet, wie es für Dante und 
Milton noch eine lebendige Realität war, indem er ein Reise, 
handbuch durch Fegefeuer, Himmel und Hölle liefert und 
uns albern die Zuverlässigkeit dieses Bädeker versichert 
(„J' ai soumis mon Travail ä de pieux et savants eccle- 
siastiques^*), da rächte sich dies sogar im altmodischen Ton 
seiner Floskeln. Aber wo er Selbstgeschautes und Selbst- 
erlebtes als geschichtliche Vergangenheit wiederbelebt, da 
sprach aus ihm die Realität seiner geschichtemachenden Zeit 

Diese düstere hochmütige Seele, die sich in den Memoires 
d' Outre-tombe selber ihr Grabdenkmal setzte, als sei nur 
sie selber würdig sich zu bestatten, gehörte innerlich ganz 
dem grossen Jahrhundert an. Seine reaktionäre Rolle als 



- 6 — 

Pamphletist der Eontrerevolution und späterer Minister des 
legitimen Ausgiasstails täuscht uns darüber nicht Vor ihm 
hatten Bemardin de St Rerre (Paul und Virginie) und 
Rousseau (Neue Heioise) Befreiung vom Gesellschaftszwang 
in Naturschwärmerei gesucht Doch erst Chateaubriand 
führte diese seelische Revolution durch, lange vor Byron 
schuf er die Gattung des poetischen Landschaftsbilds als 
Yersinnlichung der Seelenstimmung. In Amerikas Wald- 
nächten „erschien mir eine unbehannte Muse, ich sammelte 
einige ihrer Laute und zeichnete sie auf unterm Stemen- 
licht, wie ein Musiker Noten schreibt, die ein grosser Maestro 
ihm diktiert/^ (Memoiren.) Selbst das Exotische dieser 
Landschafterei, wie es nachher in Byrons griechisch-türkischen 
Milieubildem die Welt berauschte, entsprach dem Revolutio- 
nären der Weltumwälzung, die alle Grenzen verwischte und 
den bisher eng umfriedeten Menschen hinaustrieb in ferne 
Zonen einer neuen Welt So gewaltig drängt die innere 
Poesie der grossen Zeit, dass sie den französischen Prosa- 
styl, bisher so trocken und kühl in seiner Eleganz, völlig 
mit neuem Saft durchdränkt und umwandelt In Deutsch- 
land vollzog sich dieser Prozess wohl früher, doch lange nicht 
so einheitlich. Goethes „Werther^', dies Muster einer natür- 
lichen Poesie-in-Prosa, blieb ohne andere Nachfolge, als den 
masslos überladenen Schwulst Jean Pauls, wo Phantasie und 
Sprache mit dem Autor durchgehen und selbst bei den 
herrlichsten Aufschwüngen des Naturempfindens der meta- 
phorische Styl durch seine überschwängliche Hypertrophie 
den künstlerischen Eindruck lahmlegt und das Rein- 
poetische aufhebt Derlei Sünden gegen den guten Ge- 
schmack finden wir kaum in der rhapsodischen Rhetorik 
der Staelschen „Corinna'*, niemals bei Chateaubriand. Denn 
hier entspringt die Naturschwelgerei einem tieferen seelischen 
Bedürfnis, dem grossen Geheimnis der Melancholie, welche 
das überwältigend Grosse der Revolutionszeit in empfindsame 
Seelen hauchte. Das Individuum fühlte sich erdrückt von 
der riesenhaften Wucht der mitdurchlebten Geschichtsvor- 
gänge, von so viel Ewigkeitsstimmung, über der doch ein 
Ahnen der Verwesung brütete, und flüchtete in die noch 
riesigere und im Gegensatz unwandelbare unverwesliche 



— 7 — 

Natur, um wie in der Geschichte so auch hier die Nichtig- 
keit VCD Grösse und Glück der Sinnenwelt im Buch der 
Schöpfung abzulesen. Doch aus dieser trostlosen Entsagung 
die bald als byronischer Weltschmerz die Bunde durch Eu- 
ropa machen sollte, erhob sich in ihr selber ein trotziges 
und stolzes Erkennen, dass jenseits aller Verwesung der 
Mensch noch gross genug sei, der irrende „Faust^^ und ver- 
bannte „Kain,'^ wenn er nur den prometheischen Funken 
im tiefsten Innern entfache und nähre. Man kann sagen, 
dass erst die Grosse Revolution wieder das Höchste im 
Menschen freimachte, was selbst in der Renaissance zu sehr 
in Sinnenplastik stecken blieb: das Unbewusste. „Ein ge- 
heimer Instinkt quälte mich, ich fühlte, dass ich selbst nur 
ein Reisender war. Doch eine Stimme vom Himmel schien 
mir zu sagen: Mensch, die Zeit ist noch nicht gekommen, 
warte, bis der Wind des Todes sich erhebt, dann wirst du 
deinen Flug zu unbekannten Regionen nehmen, nach denen 
dein Herz verlangt Erhebt euch schnell, ihr ersehnten 
Orkane, die zu Räumen eines anderen Lebens entführen!'^ 
(„Ren6'\) Das ist nicht mehr der Eonquistadorentrotz der 
Renaissance, der mit Marlowes Mortimer ,,weltverachtend 
nun von denen reist, um unbekannte Länder zu entdecken,^^ 
das ist eine edlere Sehnsucht nach dem Ideal, den Drang 
des Irdischen abzuschütteln, nach dem „bien inconnu.^^ 

Doch in Ren6, dem allzu spät geborenen Sohn des Grossen 
Jahrhunderts, kündigt sich leider auch schon jene Charakter- 
schwäche an, die ein Hauptkennzeichen des kleinen Jahr- 
hunderts werden sollte. Mit der Selbstquälerei des alten 
Pascal und ähnlicher leidender Seelen der Yorzeit verbindet 
er nicht deren heroische Stärke des Martyriums, ein dilet- 
tantischer Gtock des Glaubensuchens, der unablässig auf seine 
eigenen Wunden hinstiert wie hypnotisiert „Wer Kräfte 
empfing, soll sie dem Dienst der Menschheit weihen,^^ er- 
mahnt ihn streng der Eremitenpriester, Chateaubriand er- 
kennt also sehr wohl seine Schwäche, die ihn zum Über- 
gangstyp der beiden Jahrhunderte macht Dies gibt 
ihm eine Klassicität historischen Wertes und deshalb ver- 
weilen wir bei seiner Persönlichkeit, indess die unendlich 
grössere seines Zeitgenossen Byron kaum noch einem Jahr- 



— 8 — 

hundert, sondern aller Zukunft zugehört. Wenn Rousseau 
an Malesherbes schrieb : , Jch fand in mir eine unerklärliche 
Leere, die nichts ausfühlen könnte, ein Hinsehnen des 
Herzens nach einer anderen Art von Freude, von der ich 
selber keine Vorstellung hatte und gleichwohl ihrer be- 
durfte," so spricht hier das erhabene Bedürfnis, aus dem 
die Revolution keimte. Ren6 aber, der den Geist der Er- 
innerung an Marmorumen der Vorzeit neben sich stehen 
wähnt, muss umsonst zu den Füssen des Altars flehen ,,mich 
von der Last des Lebens zu befreien oder in mir den alten 
Menschen zu ändern'^ und Pater Souel redet ihm ins Ge- 
wissen: „Man ist nicht ein höherer Mensch, weil man die 
Welt in bösem Lichte sieht . . Erweitern Sie Ihren Blick 
und Sie werden sich bald überzeugen, dass all Ihre Übel, 
über die Sie jammern, reines Nichts sind." nein, das 
sind sie nicht Das 19. Jahrhundert konnte nichts dafür, 
dass es sich alt und krank fühlte, dass die Vorzeit ihm 
nichts lehrte, als einen äusseren Bankerott des Grossen Jahr- 
hunderts, während dessen unermesslicher Reichtum unantast- 
bar innerlich in der Menschheitsökonomie weiter wirkte mit 
Zins und Zinseszins. Aber statt sich zu den Füssen aller 
möglichen falschen Altäre zu werfen, der Kirche, des Staates, 
der Naturwissenschaft, statt den Blick nur in die Aussen- 
seite der Natur zu erweitem, hätte es ihn in die neue Welt 
des Unbewussten richten sollen, ins unergründliche Innere, 
zu welchem erst die Revolution durch Wegräumung alles 
intellektuellen Schuttgerölls und ethischen Schmutzes der Be- 
vormundung dem Neuen Menschen den Eingang öffnete, ins 
Reich der inneren Freiheit. Nun war Ghateaubriand-Ren6 
gewissermassen ein grosser Mann, da er einem ganzen Kultur- 
volk, das bisher nur Gesellschaftsliteratur kannte, die Quelle 
der Poesie erschloss; aber nimmt man ihm die Genialität 
seiner grossen Zeit, deren Mosesstab nur an Stein zu klopfen 
brauchte, um alle Quellen sprudeln zu machen, dann bleibt 
nur ein „Obermann^' übrig. Über dies traurige Buch see- 
lischer Entmannung (ausserhalb Frankreichs völlig unbekannt, 
jedoch von Georg Brandes schon in seinen ,JIauptströ- 
mungen^^ gut gewürdigt) heisst es in Le Bretons „Roman 
francais au 19. siöcle" (1901) sehr fein: „La vie qui n' 6tait 



— 9 — 

pas assez vaste pour contenir Ren^, est trop vaste pour ne 
pas 6poayanter Obermann.'^ Dies ist der wahre Mensch des 
19. Jahrhandertc und ebenso „Adolfe^^ von Benjamin Gon- 
stant Senancours „Obermann'' ward 1804, „Adolfe'' 1816 
publiziert, doch sie hätten ebensogut am letzten Fin-de-Sidcle 
erscheinen können, so bruderähnlich sind unsere heutigen 
Typen. In „Obermann" hat der interesselose Egoismus die 
ideale Hülle der Kunst abgestreift und sein monotoner Ich- 
schmerz, der dabei wohlüberlegt jedem fremden Elend aus 
dem Wege geht und sich einbildet aus Philosophie nichts 
lieben zu können, weil er nichts liebt als sich selber, dreht 
auch der Schönheit der Natur missmutig den Bücken. ,,Als 
ob die Perzeption des Alls die Idee eines positiven Wesens, 
wäre und das Ich des Menschen etwas anderes, als der 
zufällige Ausdruck einer ephemeren Verbindung! . . Nichts 
besitzt man, wie man es sich vorstellt, nichts ist bekannt, 
wie es wirklich ist Wir sehen Beziehungen und nicht 
Substanzen, wir benutzen nicht Dinge, sondern deren Abbild. 
Diese Natur, ausser uns gesucht und undurchdringlich in 
uns, ist überall dunkel. Ich fühle ist das einzige Wort 
für den Menschen, der nur Wahrheit will." Man sieht, 
Obermann kennt philosophische Lektionen gut auswendig. 
Aber Gonstant brauchte nichts zu lernen, um aus sich her- 
aus nach der Natur den Boman des Egoismus zu schreiben. 
Man wirft ihm vor, in „Adolfe" sein Verhältnis zu Madame 
de Stael indiskret profaniert zu haben, wie in unsem Tagen 
d'Annunzio Ähnliches verübte. Doch da tut man Gonstant 
Unrecht und unterschätzt seine liebespsychologische Er- 
fahrung, denn es stellt sich bei genauem Forschen heraus, 
dass seine „Eleonore", diese femme sup^rieure et imcomprise, 
die im 19. Jahrhundert so zahllose Nachfolgerinnen haben 
sollte, sogar zwei hervorragenden Frauen gleicht, die ihm 
zum Opfer fielen. Es ist Madame de Gharriäre und ihr 
schon 1787 erschienener höchst bedeutsamer Boman „Galiste", 
die in Gonstants Werk persönlich wie literarisch ihren 
Schatten werfen. „Le bien inestimable d'etre tendrement 
aim6" wird die Sehnsucht all dieser Jahrhundertfrauen werden, 
begabt mit einer zu zarten Sensibilität, die auch in ihnen 
durch die Bevolution sich befreit hoffte und die in den 



— 10 — 

Briefen von Madame Roland and allen andern Emanzipierten 
der Revolution schmerzlich und ungestüm oder leise vor 
sich hin schluchzt In den Wirbeln jenes mächtigen Mael- 
stroms erweckt, konnte sie sich gleichzeitig damals im 
donnernden Schäumen betäuben; als aber die Hut sich ver- 
lief, blieb nur die Hyperästhesie der Empfindung zurück 
und quälte die früher in schmaler Häuslichkeit umfriedete, 
vom Salon befriedigte oder durch Religion getröstete Moderne 
Erau bis zu den Hysterien der heutigen Emanzipations- 
gelüste. Die schwächliche Melancholie des Jahrhunderts 
beginnt schon hier. „Je restai seul dans l'obscuritd, je ne 
Tai Jamals revue^^ diese erschütternde Stelle in „Galiste^^ 
wiederholt sich im „ Adolfe^^ in der Abschiedsszene : „Gomme 
tout est calme ! comme la nature se r6signe ! r^e coeur aussi 
ne doit-il pas apprendre ä se rfeigner?^^ Einer Erklärung der 
Menschenrechte eine Erklärung der Frauenrechte folgen zu 
lassen war nur ein Schritt. Was aber bei der Gharriöre, 
die schlicht und ohne Sentimentalität ihr Herz ausplauderte, 
noch echt und rührend als eine Stimme des Grossen Jahr- 
hunderts klang und nicht minder bei der stürmischen Stael, 
das hatte später bei George Sand und deutschen Autorinnen 
einen misstönig unreinen Ton. Denn worin die Stael sich 
schwach zeigt, das ist wie bei Ghateaubriand die schon er- 
folgte Ansteckung mit dem kommenden Zeitgeist, dessen 
Embryo sich schon in ihnen bildete. Was stark bei beiden, 
das ist ihr noch Yerwachsensein mit dem grösseren Geschlecht, 
in das sie hineingeboren. In Madame Gottins „Glaire d'Albe^^ 
und ähnlichen Romanen hat sich das Übel schon entwickelt 
und die falsche Sentimentalität mit ihrem „göttlichen Recht 
der Leidenschaft^^ gleicht auf ein Haar den poetischen 
Effiusionen der Romantik bis zur Mitte des Jahrhunderts. 
Schwüre im Mondschein auf Kirchhöfen, Umarmungen im 
Schatten der Gypressen, schwindsüchtige Hysterie mit schon 
vom Tod geküsster Stime . . wir werden dies alles in 
dichterischer Verklärung bei Lamartine wiederfinden. Da darf 
auch nicht die Evangelistin der heiligen Allianz fehlen, Frau 
von Krüdener, Zar Alexanders inspirierende Sibylle, die 
nebenbei in Shawltänzen exzellierte. Was in „Yalerie^^ frisch 
und eigentümlich berührt, hat die Farbe jener Übergangszeit, 



— 11 — 

wo altes und neues Jahrhundert im Kampfe lagen; alles 
übrige darin strotzt von Eitelkeit, Lüge und Falschheit, einer 
Trinität heiliger Allianz, die bis 1830 und drüber hinaus 
zur Weltphysiognomie wurde. Der brave Gustav, der aus 
unglücklicher Liebe für Yalerie-Erüdener Blut spuckt und 
aus galoppierender Schwindsucht seine Engelschwingen ent- 
faltet, ist ein Opfer, in dessen Blut sich weiblicher Egoismus 
ebenso wollüstig badet, wie Lamertines männliche Koketterie 
in den Tränengüssen seiner sterbenden Oeliebten. Das Ewig- 
weibliche unterminiert allenthalben das Ewigmännliche der 
Revolutionsseele : der Feminismus leitet das neue Jahrhundert 
ein, ob er klagt oder anklagt oder sich im Spiegel bewun- 
dert bei dieser neuen Basse von Frauenschriftstellerinnen, 
oder ob er elegisch wimmert in der Gefühlsromantik von 
Lamartine und Novalis oder die Liebe in Benjamin Gonstant 
psychologisch zerfasert. Dieser frivole Politiker und Pamphletist 
erscheint uns eine Doppelkarrikatur: alles Schwankenden und 
unechten in Chateaubriand und aller mannhaften Skepsis 
von Stendhal, zwei Kämpfern des Empire, die auch in ihr 
späteres Leben den Typus des Grossen Jahrhunderts hinüber- 
retteten. Und auch die Stacl, so wenig man mit den Lob- 
sprüchen ihrer Biographen Sorel und Lady Blennerhasset 
übereinstimmen mag, trug diesen Typus. Ihr Herz so weit 
und mütterlich wie ihr dicker Busen, die sie beide, Herz 
und Busen, recht ofTen und appetitlich zur Schau stellte, 
blieb sie eine echtweibliche Madame Boland in all ihrer 
anscheinenden Mannweiblichkeit. Ihre Begeisterung, Gross- 
mut, Gutmütigkeit, Gerechtigkeitsliebe, ihr weiter Blick in 
Bundschau grosser Fragen und dabei ein scharfes Begreifen 
politischer Realitäten und philosophischer Subtilitäten, obschon 
sie hier aktiv nicht über Intriguen und Gemeinplätze hinaus- 
kam, machen sie zu einem enfant ch6ri des genialen Milieu. 
Ihre künstlerische Begabung liess viel zu wünschen übrig, 
in der berühmten „Corinne" vielleicht noch mehr als in 
„Delphine^'. Ihre Entdeckung Deutschlands und Italiens jenseits 
der chinesischen Mauer der selbstzufriedenen Pariser Salon- 
kultur sah nur die grossen Linien richtig, irrte in allen 
Einzelheiten. Allein, dies revolutionäre Pfadfinden bleibt 
doch eine kühne Befreiertat, und wenn wir auch Sorel nicht 



— 12 — 

beipflichten, dass die Apostrophen an Italien im „Childe 
Harold'' nur ein volltönendes Echo aus Corinne seien, so 
darf ihr Einfloss auf Eosmopolitisierung der Weltliteratur 
nicht unterschätzt werden. Ihre taktlose Zudringlichkeit 
haben Napoleon, Ooethe, Byron übereinstimmend als ärger- 
liche Belästigung ironisiert und es widerfuhr ihr die Ehre, 
von Napoleon als kriegführende Macht behandelt, misshandelt, 
unterdrückt zu werden. Aber eine Person, der Napoleon 
den Krieg erklärt und sogar mit hässlichen Folizeichikanen 
den Kleinkrieg macht — nicht als ob Napoleons Zorn nicht 
berechtigt, die Verbannung der Stael ihm notwendig und 
die kleinlichen Ilittel eben durch die Umstände geboten ge- 
wesen wären, da ein Löwe gegen eine intrigante Dame nicht 
seine eigene Tatze anwenden und nur seinem Schakal 
(Savary) Verscheuchung der Unbequemen auftragen kann! — , 
das muss schon ein Jemand gewesen sein. Mit anmassender 
Oberflächlichkeit fegte sie „wie ein Wirbelwind^' (Goethe) an 
die höchsten Menschen und Dinge mit ihrem Unterrock 
heran, doch solch ein Wirbelwind reinigt oft die Luft. Byron, 
ein unerbittlicher Menschenkenner von der Höhe seiner 
Idealität, vergass über ihrer impetuosen Lächerlichkeit, die 
sie noch in Genf recht taktlos gegen ihn herauskehrte, nie 
dies Gesunde und Frische ihrer revolutionierenden Unruhe. 
Ihre Nachfolgerinnen, die Sand, Hahn-Hahn, Eliot mochten 
mit reicheren künstlerischen Gaben die zweite Hälfte des 
Jahrhunderts beschenken, doch das Original und ihr Vorbild 
blieb immer diese kräftige redliche tapfere Tochter der 
Revolution, und wie sticht ihre sonnige Wärme und Wahr- 
haftigkeit von der unheimlichen Schwüle oder Küble ihrer 
Erbinnen ab! Auch hier für den Sehenden eine tiefe Kluft 
zwischen dem Jahrhundert des naiven Enthusiasmus und 
dem Jahrhundert verlogener Zweideutigkeit. 

Schon früher, als noch Napoleons Riesenschatten die 
Welt bedeckte, krochen die Molche der Reaktion aus ihren 
Schlupfwinkeln empor und begannen ihr trauriges Werk. 
Dem heiligen Krieg der Junker und Pfaflen zur „Befreiung^* 
vom korsischen Antichrist gingen schon geistige Symptome 
einer Kontrerevolution vorauf. Erst nach Napoleons Sturz 
regte vornehmlich der altenglische Radikalismus in Byron und 



— 13 — 

Shelley wieder seine Schwingen, und indem Byron im Helden- 
koltus der Völker Napoleon ablöste und seine weltruhm- 
gefeierte Dichtung ein weithin sichtbares Postament bestieg, 
sicherte er dem matten und irregeleiteten Empfinden aufs 
neue das Erbteil der Grossen Revolution, nicht bloss der 
so genannten politischen Frankreichs, sondern der weit 
grösseren auf allen Geistesgebieten, in welche das gewaltige 
achtzehnte Jahrhundert seine Fülle ergoss. 

Man hat sich gewöhnt, die Zeit des Perikles und die 
Renaissance als die goldene Ära genialen Schaffens zu feiern. 
Doch Sophokles und Piato, Shakespeare und Giordano Bruno 
samt ihren geringeren Trabanten strahlen mit vereintem 
Glänze kaum so hell wie das gewaltige Fünfgestirn Friedrich, 
Kant, Goethe, Byron, Napoleon. Nur in den Bildenden 
Künsten erschöpfte sich die Genialität jener früheren Epochen 
und hier allerdings hat die Neuzeit nichts Ahnliches auf- 
zuweisen. Auch stehen hier Lionardo und Michel Angelo, 
beide gleichzeitig Denker und Dichter, in ihrer universalen 
Begabung so hoch, dass wir sie den obengenannten vier 
Grossen anreihen können. Rafael und Tizian aber, Murillo 
und Velasquez wie Phidias und Praxiteles mögen immerhin 
dadurch aufgewogen werden, dass das grosse achtzehnte 
Jahrhundert die Musik in ungeahnte Sphären erhob und 
sein mehr dem Abstrakten als dem Sinnlich-plastischen zu- 
gewandter Genius die Meister des Tons beseelte. Jedenfalls 
verteilen sich die schöpferischen Kräfte sowohl in dem Jahr- 
hundert des Perikles als in den hundertfünfzig Jahren der 
Renaissance, deren Schluss freilich noch einen Cromwell und 
Milton, einen Calderon und Cervantes dem reichen Register 
ihrer Grössen hinzufügte, auf einen un verhältnismässig längeren 
Raum, während 1750—1815 eine unübersehbare Menge von 
Talenten jeder Ordnung sich über Europa ergoss. Denn 
noch unter den kleineren Sternen, die jene fünf Planeten 
umkreisen, finden sich Lichter, die sonst ein ganzes Jahr- 
hundert wärmen könnten. Die weltgeschichtliche Propaganda 
von Voltaire und Rousseau hat nicht ihresgleichen in der 
Geschichte der Volksliteratur, ein Schiller erhob den Begriff 
des Dichters zu neuer Würde, ein Bums bot das erstaun- 
liche Beispiel genialer Volkspoesie,Macphersons Pseudo-Ossian 



— 14 — 

erschloss neue Quellen romantischer Naturbetrachtung, ein 
Hume begann den Entscheidungskampf strengen Denkens, 
den Kant zum Siege brachte. Laplace, Cuvier, Lamarque 
begründeten die Naturwissenschaft grossen Stils, wie Hum- 
boldt Auch unter den Leuten dritter Ordnung, welche 
Namen! Lessing, Herder, Jean Paul, Kleist, Walter Scott, 
Shelley, Wordsworth, Chateaubriand, Condillac, Condorcet, 
Diderot, Adam Smith, Berkeley, Faraday, Gibbon, Alfieri oder 
Pitt, Fox, Nelson, Wellington, Mirabeau, Robespierre, 
Katharina II., Josef H., Erzherzog Karl, Scharnhorst, Oneisenau, 
Blücher! Die Zahl der sonstigen Hochbegabten auf allen 
Gebieten des Wissens und Könnens — auch für Technik 
der Dampfkraft gehören Stefenson, Fulton, Watt dieser Epoche 
an — ist Legion. Nie hat der Genius der Menschheit eine 
kühnere Regsamkeit entfaltet 

Was aber bildet die Spiralfeder in diesem unaufhaltsam 
rollenden Mechanismus einer entfesselten und nun mit eiserner 
Gesetzmässigkeit funktionierenden Geistesfreiheit? Es ist 
der wie nie zuvor in allen Schichten und Ständen er- 
wachende Idealismus, ob er sich teilweise auch als 
Materialismus maskiert, furchtlose Begeisterung für Erhöhung 
des Menschentums. 

„Und es ist niemals in der Welt ohne Enthusiasmus 
etwas Grosses geschehen^^, lautet Kants herrlicher Ausspruch. 
(„Versuch über die Krankheiten des Kopfes.'^) Oder laut 
Hegel niemals ohne die Leidenschaft als Hebel der Kraft 
Während aber Kant durchaus eine moralische Schätzung 
dabei im Auge hält, verteidigt Hegel die selbstsüchtigen 
Regungen gegen Moralschulmeister, denen freilich der 
stürmische Ehrgeiz Alexanders fehlt, die aber dafür auch 
Asien nicht erobern und eine neue Kulturerweiterung herauf- 
führen. Dieser Zeitgeist war stark genug, Bluttaufen der 
Revolution und „GK)ttesgeissel^^ Napoleons als Notwendigkeit 
zu begreifen, und auf dem Waterloofeld mit Childe Harold 
zu seufzen: „Hier fiel der Grösste und nicht der Schlimmste 
der Menschen.^^ Der Korse und sein grosses Reich, der 
alte Fritz und sein kleines Preussen ragen immer noch als 
die bedeutsamsten Staatsgebilde der Geschichte. Wozu Rom 
fünf Jahrhunderte gebrauchte, das vollbrachten die Revo- 



— 15 — 

lution und Napoleon in fünfundzwanzig Jahren: Verbreitung 
zivilisatorischer Einheitlichkeit des Kulturbegriffs durch die 
gesamte Bildungswelt. Nur närrische Oberflächlichkeit kann 
daher spotten, dass von allem Lärm der französischen Heroica 
kein Echo zurückblieb, während das ganze moderne Europa 
und sein neues Jahrhundert ihre dauernde Schöpfung. Yon 
der Dauerhaftigkeit des neuen Preussen, wo der Staatsbegriff 
zu heroischem Pflichtgefühl geadelt, sahen wir die historischen 
Proben. Aber wahrlich nicht junkerlicher Militarismus er- 
möglichte es, diese äusserliche Begleiterscheinung hat man 
leider für das Wesen genommen in jenen Kreisen, die nie 
lernen und nie vergessen. Jene Zopfspartaner, die bei 
Leuthen siegten, hatten blutwenig gemein mit jenen Fuchtel- 
gendarmen, die bei Jena Fusstritte erhielten und die heute 
säbelrasselnd als „erster Stand'^ Deutschland unsicher machen. 
Ferdinand von Braunschweig, als echter Feldher natürlich 
antimilitaristisch, human und hochgebildet, wie später Erz- 
herzog Karl und seine Paladine, und Moritz von Dessau, 
der für die Hochkirchniederlage nur eingerissenem Hochmut 
und Oenusssucht des Offizierkorps Verantwortung zuschob, 
geben uns den besten Begriff von der wahren Beschaffenheit 
des Friederizianischen Kriegertums. Und wie verrät eines 
Husarenrittmeisters rührender Brief an Geliert, er biete als 
schwache Erkenntlichkeit für seine Erbauung durch Oellerts 
Gedichte die Hälfte seiner Zorndorfbeute ihm an, den naiven 
Idealismus der scheinbar so harten und rauhen Zeit! Zu 
dem ernsten Heroen, der sich „den ersten Diener seines 
Staates^^ nannte und als Pseudomaterialist in einer Vers- 
beichte keine andere Unsterblichkeit seiner Seele verlangte 
als de faire des bienfaits au genre humain, ja der einem 
Professor das trockene Wort : „So, Er hat über die Unsterb- 
lichkeit geschrieben? Was hat Er denn getan, um die zu 
verdienen?'^ mit derselben erhabenen Barschheit zuschleuderte, 
wie seinen Soldaten das unvergessliche „Ihr Backer, wollt 
ihr denn ewig leben?" „Fähnrich, wenn Er stirbt, so sterbe 
Er ruhig!" — zu ihm gehörte unzertrennlich der kleine 
schwächliche Professor in Königsberg, der in seiner Weise 
ein ebenso unbeugsamer Held war. Kants „kategorischer 
Imperativ", ein philosophischer Irrtum, aber ehrwürdig im 



— 16 — 

Irrtum selber, sprach nur den Gedanken des Preussenstaates 
aus. Ebenso bildete Byrons schrankenloses Welt-Ich, das 
naturgemäss den Welt-Schmerz in sich schloss, die geistige 
Ergänzung zu Napoleons Übermenschentum. Zwischen den 
zwei Realidealisten und den zwei Idealrealisten stand Goethe 
als Vermittler. Indem wir nun die Erschlaffung des über- 
spannten Bogens, die im sogenannten müden Fin-de-Sidcle 
endende Reaktion des neunzehnten nach dem von Kraft 
überstrotzenden Jahrhundert der Revolution betrachten wollen, 
vermögen wir das Einzige, worauf das grössenwahnsinnige 
Maschinenzeitalter seine stolzen Ansprüche baut nicht als 
etwas Besonderes und ihm Eigentümliches zu betrachten. 

Alle Entdeckungen und Erfindungen der Technik nämlich 
und alle Fortschritte der Naturwissenschaften verdankt man 
ausschliesslich der grundlegenden Gedankenarbeit der Revo- 
lutionsepoche. Auch brachte das „Jahrhundert der Natur- 
wissenschaft^' überhaupt nur zwei Grössen derNaturergründung 
hervor, die sich neben denen jener früheren Zeiten sehen 
lassen können, ohne aber eine gleiche Höhe zu erreichen: 
Robert Mayer und Helmholtz. Denn Darwins fleissige und 
geistvolle Studien können nur als breite Ausführung früherer 
Anregungen gelten und besitzen als blosse Hypothese keines- 
wegs die Würde eines aufgehellten unumstösslichen Natur- 
gesetzes. Doch abgesehen davon, fehlt den Männern der 
exakten Wissenschaften durchaus das Gepräge der reinen 
Denker, deren Ideengang unwillkürlich eine neue eigen- 
tümliche Stufe geistiger Entwicklung darstellt und daher 
unmittelbar Richtung und innere Beschaffenheit ihrer Zeit 
wiederspiegelt Exakte Wissenschaft ist ein unteilbares 
Ganzes für sich, losgelöst von Milieu und Bedürfnissen der 
jeweiligen Generation, ein Gebäude, zu dem jede Zeit' ein 
paar neue Steine hinzufügt, ohne diesen irgendwie den be- 
stimmten Stempel einer Zeit aufzudrücken. Wer die Ver- 
treter eines Jahrhunderts sucht, darf sich nicht in Gelehrten- 
stuben verirren, wo man ebensogut in jedem beliebigen 
andern Jahrhundert zu Hause ist 

Balzac meint der Mensch repräsentiere seine Sitten 
und Gedanken in seinen äussern Bedürfnissen. Also z. B. 
in Kleidung, Wohnung und Einrichtung. Dies traf noch für 



— 17 — 

Revolution und Empire, wie für Rokoko und Zopfzeit, in 
vollem Masse zu. (Yergl. Jakob Falkos Eostümkunde.) Je 
tiefer wir aber ins 19. Jahrhundert hinabsteigen, desto 
hässlicher, verschwommener, charakterloser werden Tracht 
und Mobiliar. Nur Krinoline, Vatermörder und Zylinderhat 
ragen als Monumente aufgeblasener Unnatur und Abkehr 
von jedem Schönheitssinn aus dem flachen Brei banaler 
Nützlichkeit hervor. 

Was Fichte als Signatur seines Zeitalters auffasste 
(Werke YII, 40), dass es hochmütig auf alles Ideale herab- 
sehe und sich nur labe an der eigenen Pfiffigkeit, kann im 
Allgemeinen als Orundzug des ganzen gepriesenen Jahr- 
hunderts gelten, in welchem kalter Verstand den Alleinthron 
besteigen, alle geistigen Güter entwerten, den Wert des 
Lebens umwerten und die Maschine, sein hässliches Symbol, 
auch als Prinzip der Gesellschaftsseele einführen wollte. 
,,Wenn der Gedanke ein soziales Element ist so ist er auch 
andrerseits das Element der Zerstörung", bekennt Balzac in 
der Vorrede seiner „Menschlichen Komödie." Von diesem 
destruktiven Element sich freizumachen, bestrebte sich redlich 
die Bourgeoisie. Immer winziger schien der Kreis jener 
Elitenaturen einzuschrumpfen, die sich im Gedanken, um 
mit Spinoza zu reden, ,,ein Reich in einem Reiche", ein 
inneres Heim in der Heimatlosigkeit der Weltwüste 
schaffen. Man verwechsele solche Schaffensmächte des Ge- 
dankenlebens beileibe nicht mit der kritischen Verstandes- 
arbeit, der sich das Jahrhundert mit perverser Wollust 
hingab. Die Kritik zerstört alle Illusionen und damit den 
sinnlichen Reiz des Lebens, so dass Wille und Handeln zu 
kurz kommen. Deshalb stösst Flauberts heiliger Antonius 
den Sehnsuchtsschrei aus: ,,0 wäre ich Materie!" Wenn 
Stendhal bündig meint: ,,Das Einzige, was Gott entschuldigt, 
ist, dass er nicht existiert", so lallten unzählige Ejretins 
dies nur im Munde eines Ghamfort und Stendhal erträgliche 
Bonmot wie eine Heilswahrheit nach. Aber derselbe Stendhal, 
Sohn einer grossen Zeit, versenkte sich bis zum Tode immer 
wieder ins Entzücken jener Herrenjahre, wo er als Offizier 
„sein bischen Leben im Gefolge des Grosen Mannes genoss." 
Er schreibt es gross: „Grand Homme", der Name Napoleon 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. o 



— 18 - 

erfüllt den kühlsten furchtlosesten der Menschen mit ehr- 
fürchtigem Schauer, so gerne er sich die Jugenderinnerung 
kritisch vom Leibe halten möchte. Über solch naive Helden- 
rerehrung, solchen Rest von Enthusiasmus schüttelt das 
müde Jahrhundert den Eopf. „Man wird müde von allem, 
nur nicht vom Yerstehen^^ soll schon der alte Virgil 
geäussert haben. unter Yerstehen verstand aber das 
Maschinen Jahrhundert: alles verwerfen, was wir nicht ver- 
stehen, was über unsern Horizont geht Die geniale 
Universalität der Renaissancemenschen, eines Lionardo, und 
der Revolutionsmenschen, eines Napoleon, Goethe und 
Byron, gehört zu solchen ünbegreiflichkeiten. Was nicht 
Spezialismus eines Fachberufs, heisst Dilettantismus. Die 
Menschheitsgeschichte, welche Carlyle „nicht als tote, sondern 
lebendige und göttliche Sache" und Michelet als eine 
Dichtung auffasste, aus welcher mitleidende Sympathie die 
(Gefühle der Vergangenheit neubelebt, ward in Händen der 
Ranke, Sybel, im Grunde auch der Mommsen oder Taine 
bis auf Lamprecht hinunter eine Bibliothek von Akten, 
diplomatischen Dokumenten und Rechnungsberichten einer 
politischen und sozialen Wirtschaftsökonomie. Das nennt 
man exakte Forschung. Da kann man sich nicht wundern, 
dass ein Zeitgeist, der nur an Massenmilieu und nicht an 
spontane Schöpferkräfte von Genie und Heldentum glaubt, 
weder Genies noch Helden hervorbringt oder vielmehr, da 
dies Tainesche Erzeugen durchs Milieu auf blossem 
Wahn beruht, den schlummernden Genies und Helden 
keinerlei Spielraum gewährt Die höchste, ja die wahre 
Form des Genies verknüpft sich mit universalem Bewusst- 
sein, mit allgemeinem Verständnis, originaler Fortent- 
Wickelungsfähigkeit in sich selber zu immer neuen, immer 
höheren AllgemeinbegrijBen. Und diese Fähigkeit alles zu 
begreifen schliesst fast immer die Fähigkeit in sich, 
alles auszuführen und zu tun. Spezialismus unterbindet 
jede Spur solcher Begabung und so bildete das Jahrhundert 
lauter Einseitigkeiten aus. Da war der Eine ein bedeutender 
Diplomat in auswärtigen Angelegenheiten: flugs hiess er 
grösster Staatsmann aller Zeiten, Genie vom höchsten 
Range, obschon er in allen andern Gebieten des Wissens 



— 19 — 

und Könnens eine Null, ja sogar auf innerpolitischem Ge- 
biete ein blosser Stümper infolge seines beschränkten 
Oedankenhorizonts. Da war der andre ein ausgezeichneter 
Spezialist militärischer Technik: flugs hiess er der grösste 
Feldherr aller Zeiten, obschon ihm jeder Schimmer von 
Genialität gebrach. Da fügten andre den genialen speku- 
lativen Entdeckungen der Renaissance und des Revolutions- 
jahrhunderts einige Ergänzungen hinzu, zum Teil nur 
Hypothesen auf Grund fleissigen Dokument- und Experiment- 
sammeins: flugs hiessen sie Leuchten des Universums und 
es ward ihnen wie dem seligen Yirchow vor ihrer Gott- 
ähnlichkeit bange, als Geheimräten der Natur. Die Hegeische 
Metamorphose der Ideen nahm bei uns, hocherhaben über 
Abstraktionen, prächtig konkrete und exakte Gestalt an: 
sozusagen die einer hektographischen Schreibmaschine, die 
mechanisch Satz an Satz reiht — die Sätze heissen „Tat- 
sachen^' — und sich selbst für den Urheber hält, indess 
ein unbekannter Geist ihre technische Fertigkeit diktiert 
Denn wozu im Weltplan die „naturwissenschaftliche Idee^^ 
des Materialismus dienen sollte, nämlich kirchlichen Aber- 
glauben zu töten und für wahre Erkenntnis des Im- 
materiellen Raum zu schafien, das blieb ihr völlig verhüllt 
Nicht unwitzig verspottet Dickens („Hard Times") einen 
solchen Durchschnittsphilister unsres Aufkläricht: „Was wir 
brauchen, sind Tatsachen. Reissen Sie jede andre Vor- 
stellung mit der Wurzel aus! Ihr könnt den Geist eines 
verständigen Tieres, wie der Mensch es ist, nur mit Tatsachen 
füttern.'' Das Geschlecht der Tatsachenmacher war tot, 
symbolisch ins Grab von St Helena versunken, und auf 
Goethes Sterbewort „Mehr licht'' folgte das Geschlecht der 
Maulwürfe, die im Dunkeln ihre Tatsachen der Engerlinge 
sammeln. Der tatsachenlüsterne Materialismus ward sich 
seiner eigenen praktischen Ohnmacht kaum bewusst, als die 
Revolution von 48 ihre soziologischen Tatsachensysteme 
auf die Probe stellte. Unausgesetzt sammelte man Tatsachen, 
wie ein Botaniker in sein Herbarium, und hielt diese 
eifrigen botanischen Spaziergänge für den Marsch des Fort- 
schritts. Ein Aussatz von Mittelmässigkeit überzog die 
bourgeoise Gesellschaft wie eine schimmelige Kruste und 

2* 



— 20 — 

steckte selbst Oesondere an. Jede heroische Auffassung 
des Lebens ertrank in einem Tintenstrom und einer 
chemischen Sauce, die man für neues Jordanwasser eines 
gelobten Landes hielt Die Literatur, allzeit das deutlichste 
Sprachrohr des Zeitgeistes, tönte mit phonographischer 
Treue die hohle blecherne Stimme der tatsachenunfähigen 
Tatsachenwut nach. „Technik^^ hiess der heilige Schiboleth 
und Talisman für jedes Können, die „Technik der Kunst'^ 
ward alexandrinisch proklamiert Natürlich ging die hohe 
Kunst dabei zum Teufel, die Inspiration der Phantasie ward 
als eine Art Neurose und Nostalgie medizinisch begutachtet, 
das Genie aus morbidem Himboden abgeleitet (Dass der 
gute Lombroso, abgesehen von seinen flüchtigen Trug- 
schlüssen in Verwechselung von Genie mit Talent, physio- 
logischen Begleiterscheinungen der Nervenüberspannung mit 
Gehimerkrankung, höchstens den „Irrsinn'' selber uns in 
ehrwürdigerem Lichte zeigte und der Naseweisheit des 
„Normalen" Nasenstüber versetzte, begriff er natürlich selber 
nicht. Vielleicht hat er heut, auf dem unreinlichen Wege 
des Spiritismus zur Einkehr gebracht, etwas weitere Hori- 
zonte ins ünbewusste.) Die Dichter selbst erklärten den 
Vers für altmodisch und abgesetzt Nachdem der nach 
exotischen Sensationen lüsterne Theophile Gautier sich zu 
dem Dogma bekehrt, dass die Poesie in erster Linie tech- 
nisch werden und Malerei wie Skulptur in sich ausformen 
müsse, musste er sich, um eine Illusion ärmer, zuletzt 
einen „alten Reimer, abgenutzt durch Missbrauch der Prosa*' 
nennen, da der Zeitgeist den Lyriker zwang, für die Presse 
Feuilletons zu schreiben. Die Presse! Seit die Tagesblätter 
sich um Feuilletonromane rissen, siechte das Buch dahin, 
die wahre Literatur begann abzusterben. Ist das Ich nur 
eine unwillkürliche Kette von Begebenheiten, zusammen- 
gesetzt aus allerlei kleinen Phänomenen des Bewusstseins, 
und die Natur gleichfalls nur eine Serie von Phänomenen 
der Bewegung, steht keine dauernde und verborgene Sub- 
stanz als Erhalterin in den Qualitäten, überlebt keinerlei 
dauernde Einheit in Natur und Mensch die zufälligen und 
flüchtigen blinden Begebenheiten, wozu dann noch eine 
Einheit des Denkens uud Gestaltens, eine dauernde Idee 



— 21 — 

des Lebens in den Künsten suchen? Alles zerflattert in 
Milieu- Anekdoten, zusammenhanglose Genrebilder. In dieser 
Hinsicht stellen Nachtasyle von Hauptmann und Oorki die 
typische Krisis dar und die Diagnose der grossen Krankheit 
lieferte Taine mit einer Brahminensalbung, als handle es sich 
umgekehrt um heilkräftige Gesundung des Menschengeistes. 

Was geht uns die Sonne an, lass sie leuchten! Wir analy- 
sieren ihre einzelnen Stadien im Brennspiegel, wir stapeln eine 
Unmasse Kleinigkeiten als menschliche Dokumente auf und 
studieren wie Lumpensammler den Kehrichtabfall des Allzu- 
menschlichen, um aus den Zufälligkeiten das reale Wesen zu 
konstruieren. Wäscherechnungen von Goethe sind ebenso lehr- 
reich, wie die Garderobe Napoleons. Weil dieser eine gute topo- 
graphische Auffassung besass, gewann er die Schlacht von 
Austerlitz. Und warum besass er solche topographische und 
sonstige Gabe? Weil er sie vom schwächlichen Advokaten 
Carlo Bonaparte und der Bäuerin Lätitia geerbt hatte. Es 
ist sonnenklar. Mittlerweile leuchtet die Sonne weiter auf 
Gerechte und Ungerechte als ein unerklärbares Faktum, 
das heroische Grosse lebt immer noch, nachdem man es 
aufs Prokrustesbett gespannt und ihm das Grossmaul ge- 
knebelt: Du sollst und musst klein milieuisiert werden. 

Theorie und Praxis decken sich. 

Eine niedrige und zu unheilbarer Mittelmässigkeit ver- 
dammte Gesellschaftsordnung schnürt jedes freiere Ausatmen 
des „Atma^\ des Gottesgeistes, ein. Allerlei kleinliche Polizei- 
und Justizquängeleien unterbinden jedes Ausleben der Per- 
sönlichkeit in freier Rede und Tat Jesus müsste sich als 
Kurpfuscher und undiplomierter Naturheilkünstler oder wegen 
Vagabundage und öffentlichem Unfug vor allerlei Dumm- 
köpfen in schwarzem Talar verantworten, bis die Wichte 
in Uniform und Talar ihn ins Zuchthaus brächten wegen 
Aufreizung zum E[lassenhass, Gefährdung der Staatssicher- 
heit, Eeligionsverhöhnung und Gotteslästerung. Hier ver- 
birgt sich die grausamste Ironie der von Jesus als schwerste 
Todsünde gebrandmarkten allmächtigen Heuchelei. Denn 
der Inquisitor, indem er bessere Gotteserkenner verbrannte, 
handelte doch wenigstens im Bann seiner Borniertheit Der 
moderne Staatsanwalt aber, der als Zionswächter von Religion 



— 22 - 

and Altar gegen jeden wahren Gottsucher ä la Tolstoi 
donnert, ist in meisten Fällen selber innerlich ein ,,lTn- 
gläabiger'\ schon aus feiger Eitelkeit, um nicht hinter dem 
modernen Aufkläricht als gebildeter Mann zurückzustehen. 

Kinder der Ohnmacht, bleiben wir weltenweit entfernt von 
dem Heldenwillen des wahren Übermenschen, der sein glor- 
reiches Testament der Abendmahlsrede — im Evangelium 
Johanni voll unvergleichlicher Grösse in jedem Satze, doch 
wahrscheinlich wie alle Reden und Parabeln Jesu immer 
noch unvollkommen wiedergegeben, so dass wir dies Riesen- 
hafte meist nur ahnen, obschon bereits hinlänglich die 
wiederholte Notiz begreifend: „Da die Jünger solches hörten, 
entsetzten sie sich^^ — mit dem Triumphschrei schloss: 
„Freuet euch mit mir, denn ich habe die Welt überwältigt'* *) 

Aber auch ein Taine stösst Triumphschreie aus, deren 
Dreistigkeit verblüffen würde, wenn sie nicht so erheiternd 
wäre. Die heilige Wissenschaft, „bewaffnet mit exakten 
durchdringenden Instrumenten, deren Richtigkeit dreihundert 
Jahre der Erfahrung bewiesen, macht sich an die Seele 
selber heran. Sie bringt mit sich eine neue Kunst, Moral, 
Politik, Religion und unsre Sache ists heut, sie zu finden!" 
Ja, suchet, so werdet ihr finden, nur meist etwas anderes, 
als was ihr sucht „Die Entdeckung kleiner Tatsachen, 
wohlgewählt, bedeutend (? ! importants), bezeichnend, um- 
fangreich umschrieben (circonstanci6s) und sorgfältig notiert", 
das entschleiert sofort das Weltgeheimnis. Die Einschmugge- 
lung des Adjektivs „bedeutend" atmet eine groteske Selbst- 
ironie. Dass die Welt des Unendlich-Kleinen in ihrer Weise 
gradeso wichtig sei wie das Planetensystem, darauf wies 
freilich Napoleon in seiner Grösse die Laplace und Monge 
gesprächsweise hin und gab hiei*mit den Anstoss zur mik- 
roskopischen Forschung. Aber dass man aus den Infusorien- 
kreisen die Bahn der Planeten, aus Milliarden Kleinheiten 
das Grosse bestimmen könne, diese geniale Überspringung 
aller Massverhältnisse und Substanzfunktionen hat wirklich 
etwas rührend Metaphysisches, so entsetzlich dies verpönte 



') „ÜberwuDden^^ klingt theologisch- passiv, was gar oicht dem Sinne 
nach gemeint. 



— 23 - 

Wort den Positivisten ins Ohr tont Spinoza sagt zwar: 
„Der Weise ist der, dessen Gedanke teilnimmt an der 
ewigen Notwendigkeit der Natur", aber was ist diese Not- 
wendigkeit? Ist es jene, wobei Gesetz und Zufall nur noch 
andre Namen für mechanische Notwendigkeit wären? 
und was ist jener Denkende, der teilnimmt? Eine Kette 
zufälliger Akzidenzen und Apperzeptionen als Bewusstsein? 
Ein Nervenbündel von Assoziationen und Impressionen als 
Ich? Welch entnerrende Folgen der pessimistische Nihilis- 
mus einer solchen mit allem Pomp der Wissenschaftlichkeit 
einherstolzierenden und doch nur angeblich wissenschaft- 
lichen Betrachtungsweise nach sich ziehe, behandelt unser 
Kapitel über die Sophisten. Doch sahen die eigenen Führer 
der Naturwissenschaft zuletzt sich genötigt, gegen die 
superklugen Hoffnungen vornehmlich der Laien aufzutreten. 
So Tyndall und HuxJey in England, ersterer besonders in 
„Scope and Limit of scientific Materialism", so Helmholtz 
und Dubois-Reymond in Deutschland, letzterer besonders 
in seinem Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens". 
Wenn wir ankündigten, wir könnten die Vertreter 
exakter Wissenschaft nicht unter Vertreter des Jahrhunderts 
aufnehmen, da der Zeitgeist nicht in die stille Klause des 
reinen Gelehrten dringt und obendrein einem Darwin und 
Helmholtz völlig das Typische der Leistung abgeht, das in 
einem Newton und Descartes, geschweige einem Giordano 
und Kant, hervortritt, so stellen wir doch die allgemeine 
Quintessenz der unserm Jahrhundert angehörigen Wissen- 
schaften überall in den Vordergrund. Wir suchen dabei 
freies selbständiges Denken zu üben ausserhalb des fachlich 
schulmässigen Spezialismus, sowie Chamberlain in seinem 
bedeutenden Werke über die Grundlagen des Jahrhunderts 
sich mit spitzer Ironie als Laien und Nichtgelehrten aus- 
gibt oder Dühring jedes gradgewachsene unverfälschte An- 
schauen dem Verlehrtentum gegenüberstellt. Der erlauchte 
Vorgang eines Goethe und Lionardo und vieler anderer^ 
da alles wirklich Menschheitfördernde stets nur von auto- 
didaktisch freien Geistern — im Grunde fallen fast alle 
griechischen Philosophen und indischen Brahmanen unter 
dies Schema, desgleichen alle religiösen Genien und 



— 24 — 

Mystiker — oder von künstlerisch Schöpferischen herstammt, 
möge uns hierbei entschuldigen, um im üblichen Be- 
scheidenheitsjargon zu reden, oder, richtiger und offen her- 
ausgesagt, uns den Weg weisen. Besitzen wir doch Helm- 
holtz' geniales Zugeständnis, dass zum Ordnen der Begriffe 
und Tatsachen eine dichterische Anlage (Beispiel: Goethes 
Tiefblicke ins Naturreich) erforderlich sei. 

Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome, 
deren Bewegung durch zentrale und konstante Kräfte be- 
wirkt wird, kann höchstens dem kirchlichen Aberglauben 
bedenklich erscheinen. Wir, die wir — zur Warnung des 
empörten Gebildeten sei es vorausgesagt — dem schnöden 
Aberglauben des esoterischen Buddhismus d. h. der okkulten 
Theosophie der uralten Geheimlehre huldigen, gehen sehr 
gerne bis zu den äussersten Eonsequenzen hierbei mit Selbst 
Laplaces phantastisches Ideal, dass ein Geist (Menschengeist?) 
„in derselben Formel die Bewegungen der grössten Welt- 
körper und des leichtesten Atoms begreifen^' könnte, so dass 
dann „Zukunft wie Vergangenheit seinem Blick gegenwärtig'' 
wären, macht uns nicht bange. Denn erstlich würde dies 
alles unser Grundgesetz des Earma — der ewigen Kausalität 
unsterblicher Transformation — nur auf sogenannte wissen- 
schaftliche Basis stellen, wenn es deren für den transzen- 
dental Erkennenden noch bedürfte, und zweitens leben wir 
der Überzeugung, dass ein solcher Geist (Übermensch) tat- 
sächlich schon in mehreren Exemplaren in der Eörperwelt 
weilt Wir bezeichnen diese Übergänge vom Menschen zur 
höheren spirituellen Wesensreihe als Mahatma und sehen in 
den Buddhas und Jesus bereits Inkarnationen davon. Dass 
Zukünftiges wie Vergangenes dem seiner selbst bewusst 
werdenden Unbewussten schon in der „dritten Schauung" 
— noch vor der höchsten Initiation der vierten — klar vor 
Augen treten, lehrt Gotamo Buddha ausdrücklieb. Nur mit 
dem Unterschied, dass ihm die einfache Eine Formel für 
alles Sein und Werden nicht eine mechanische, klügelndem 
Rechnen erreichbare, sondern transzendentale, nur im blitz- 
hell erleuchteten Unbewussten fassbare ist. Ganz gewiss 
ist „das Weltganze eine einzige Tatsache und Eine grosse 
Wahrheit" (Laplace 1751): um so weniger darf der blosse 



— 25 — 

Menschenverstand als ein blosser Teil des Ganzen, ja sogar 
nur ein Teil seines eigenen Selbst, sich eine völlige Natar- 
erkenntnis jemals anmassen. Dazu müsste erst der Stein 
der Weisen gefunden werden, der für die „spezifischen 
Energien^' der Sinnessubstanzen (Joh. Müller) und all ihre 
Qualitäten die eigenschaftslose unwägbare Ursubstanz des 
QrundstofFes entdeckte. Allerdings gestattete das Göttliche 
im Menschen einzelnen Naturforschern in heiliger selbst- 
loser tiefsittlicher Anstrengung bedeutende Tiefblicke. Es 
verdient betont zu werden, dass die Wissenschaft dem 
Mystiker Pascal manches verdankt, dass Descartes, Malle- 
branche und viele Astronomen auf einem schier kirchlich 
religiösen Standpunkt verharrten, dass Keppler und Giordano 
als ethische Gottsucher das Naturreich durchdrangen, dass 
Newton als tiefreligiöser Mystiker endete und sein eigener 
Lebeoswandel völlig den Bedingungen der indischen Yoga- 
lehre (absolute Keuschheit, absolute Selbstversenkung) ent- 
sprach. Unbefangene Naturforschung erkennt an, dass die 
tatsächlichen Bestimmungen für „Differentialgleichungen der 
Weltformel'^ zu erlangen schlechterdings unmöglich sei. Ja, 
Dubois-Reymond wagt das stolze Wort furchtloser Selbstkritik, 
dass unser „Naturerkennen in Wahrheit kein Erkennen ist^^ 
Die atomistische Theorie läuft eigentlich nur auf eine 
Fiktion der Physik hinaus, um unser Eausalitätsbedürfnis zu 
befriedigen. Jede Corpuscular-Philosophie wird bei näherem 
Zergliedern ein lächerliches Unding. Unsro Teilung der 
Materie entspringt nur unserm Unvermögen, uns ein anderes 
Bild als das von unserer sinnlichen Anschauung entlehnte 
vorzustellen. Wir setzen Materie und Kraft als etwas Be- 
kanntes und Gegebenes voraus, indess wir doch nur selber 
uns gegeben und bekannt sind. Seit Robert Mayer's „Me- 
chanik der Wärme", Helmholtz' „Wechselwirkung der Natur- 
kräfte", seit Cuviers „Tableau ölementaire de Thistoire 
naturelle des animaux", „Le rögne animal distribu6 d'aprös 
son Organisation", seit Erasmus Darwins „Zoonomie" und 
Darwins „Descent of man" (1871), Biot's „Lehrbuch der 
Experimentalphysik", Fechners „Elementen der Psycho- 
physik" (1860) sind wir in dieser Hinsicht nur scheinbar 
weitergekommen, wie ein Rad, das auf dem gleichen Flecke 



— 26 — 

um sich selber rollt. Fechner (Über physikalische und philo- 
sophische Atomenlehre 1855) hat im Gründe für den Den- 
kenden den Materialismus beerdigt Freilich, gegen die 
Theorie des (Jrschleims wäre an sich ebensowenig einzu- 
wenden wie gegen die Eant-Laplacesche Theorie der Sonnen- 
nebel. Ein Zusammentreten unorganischer Stoffe durch an- 
ordnende Bewegung von Molekülen, deren Spannung zum 
Stoffwechsel einladet, lässt sich vorstellen und füglich hypo- 
thetisch annehmen. Allein, der bekannte Gegensatz der 
Krystallisierung zum Organischen, wofür Dubois-Reymond 
ein glückliches Gleichnis (blosses Bauwerk — Fabrik) und 
beide Verschiedenheiten „incommensurabeP fand, legt uns 
noch einen andern, bisher nicht aufgedeckten Widerspruch 
nahe. Bei so grundverschiedener Doppel - Produktion der 
gleichen Materie nämlich müssten wir offenbar einen Dualis- 
mus ihrer Eraftäusserung annehmen, da theoretisch nicht 
einzusehen wäre, warum das ewig stabile Gleichgewicht des 
Krystalls nicht ebenso gut ins dynamische des Organischen 
übergehen könnte, da die ürbedingungen der Bewegung, 
kurzum das Wesen der Materie, doch zweifellos als identisch 
angenommen werden müssen. Wir kämen also von der an- 
genommenen Raum - Teilbarkeit der Materie (Atome) nun 
schon gar zur Teilbarkeit ihrer Stoffkräfte. Wie aber Fechner 
das bekannte Leibniz'sche Gleichnis von den zwei Uhren 
(Leib und Seele) verspottete, dass von den drei Leibniz'schen 
Fällen ihm nur der naheliegendste vierte entging: nämlich 
die Identität der zwei Uhren, so könnte man umgekehrt hier 
folgern, dass der obige Widerspruch gegen monistische Auf- 
fassung der Materie sich am Ende gar durch die Möglichkeit 
lösen lasse: bei „Beseelung'' der Atome zum Organischen 
arbeite neben der Materie ein Anderes, jenes undefinierbare 
Etwas, das schon der alte Grieche als ,,Nous" bezeichnete. 
Wir vermögen daher Dubois-Reymond nicht zu folgen, 
dass hier noch „kein unbedingtes Hindernis'' des Natur- 
erkennens liege, dass Urzeugung lebender Wesen nur als über- 
aus schwieriges — sagen wir lieber: für unser Verständnis 
unlösbares — mechanisches Problem gelten könne. Wir lassen 
dahingestellt, ob selbst der Urwald nichts als bewegte Materie 
sei — Materie im gewöhnlichen Sinn des Unorganischen 



— 27 — 

• 

verstanden — , da wir von Möglichkeit einer Pflanzenpsyche- 
bisher nichts Ordentliches wissen und neuere Forschungen 
sogar das Mineralreich als animalisch belebt und zusammen- 
gesetzt behaupten wollen. Jedenfalls stellt aber echte Natur- 
forschung das Bewusstsein des ,,Lebenden^^ als das schlecht- 
hin unbegreifliche hin und wehrt sogar die — zuletzt noch 
von Virchow in London angeblich ausgesprochene — Chimäre 
ab, dass wir jemals darüber Auskunft erlangen. Dem 
frommen Dualismus von Leib und Seele, der Descartes,. 
Malebranche, Leibniz zu so kindlichen Absurditäten ver- 
leitete, ein Ende gemacht zu haben erscheint der Moderne 
als ihr Buhmestitel. Allein, die ürweisheit der Menschheit 
am Himalaya hat solchen Dualismus nie gekannt, der auf 
Verwechselung von Geist (Bewusstsein) und Seele (Un- 
bewusstheit) hinausläuft. Den Ausdruck, dass der ,,Oeist'^ 
— von Naturforschern als „Seele** missverstanden — eine 
,,Wirkung" der Materie sei, halten wir freilich für sehr un- 
glücklich. Er enthält sinnfälligen Widerspruch, indem bei 
Identität von Geist und Körper doch nicht die Ursache zu- 
gleich ihre eigene Wirkung sein kann. Schärfer gefasst muss 
Geist heissen: Bewegung der Materie. Die Unmöglichkeit 
aber, das Seelenleben hieraus zu erklären, da Bewegung nur 
Bewegung, Mechanisches nur Mechanisches erzeugen kann, 
ward von der Geheimlehre längst gelöst durch Erkenntnis^ 
eines dritten über alle Mechanik erhabenen latenten Ele- 
ments, für das heute die glückliche Definition ,,das Un- 
bewusste" gang und gäbe wurde. Unleugbar erwarb sich 
E. V. Hartmann ein grosses Verdienst, indem er diesen 
(übrigens schon lange geahnten) GrundbegrifT im gelehrten 
Europa einführte, obschon er sich in Auslegung weit genug 
von der einzig plausibeln und stichhaltigen Erläuterung durch 
den Okkultismus entfernte. Dem unsterblichen du Frei, 
dessen „traurige Irrtümer" unsre bornierten Verlehrten- 
Maulwürfe wenigstens nicht über seine wissenschaftlichem 
Entdeckungen täuschen sollten, blieb es vorbehalten, den 
Seelenbegriff wieder zur indischen Urquelle zurückzuleiten. 
Aber auch an und für sich, was jene bedenken sollten, die 
sich überhaupt noch Ehrlichkeit bewahrten und nicht wie 
Haeckel blind und toll ohne jede philosophische Bildung 









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zir^.'.i-^r.iT:.' 'jriii i-rj-tz:. Sr^rir ::•? Vrer?in>ämmun}f 
rr4.':r-i^:'=:r H:rr.z^»:ir. ir r:::: rr.tsrrechrnier Liiiemnc eines 



— 29 — 

Organs kann irreführen, ebenso wie die Wirkung eine» 
äusseren Drucks (Fall, Schlag) aufs Hirnbewusstsein. Denn 
möglichenfalls und für mystische Anschauung sogar sicher 
sind diese yerschiedenen Phänomene nur gegenseitig ein- 
heitliche Karma-Zustände einer tieferen inneren Erkrankung^ 
im Organischen. Tm übrigen ist gar nichts mit der gross- 
spurigen Synthese erreicht, dass Denken nur eine Abson- 
derung des Gehirns sei, wie Ausscheidungen von Leber und 
Niere (Carl Vogt), so lange unmöglich anzugeben, wodurch 
und weshalb diese Verdauung äusserer Wahrnehmungen al& 
Gedanke sich produziert. Ausserdem hinkt obiger appetit- 
licher Vergleich noch sehr, ja scheint völlig unpassend, da 
Galle und Harn tatsächlich ausgeschieden werden, der Ge- 
danke aber nicht nur immateriell im Himleben, sondern 
auch auf den photographischen Platten der Erinnerung 
dauernd bestehen bleibt. Femer sind alle betrefFendett 
Funktionen bei Wirbeltieren von denen bei Wirbellosen ver- 
schieden, minimale Klümpchen Nervensubstanz erregen aber 
in der Ameise ein gleiches oder gar höheres Seelenleben al& 
beim Hunde, Affen oder selbst dem Papuaneger. Die Archi- 
tektur der Gehirnwindungen liefert uns also keinen Anhalt 
für den Grad der Gehirnqualitäten, sondern höchstens für 
innere Elemente der Struktur ihrer Masse. Wie aber 
dieser Stoff sich zum Denken kombiniere und vermöge- 
weicher unbegreiflichen Kraft, darüber wird sich unser 
Denken so lange den Kopf zerbrechen, bis nicht der 
Materialismus völlig die Waffen streckt und das, was 
man unklar als „Lebenskraft^^ bezeichnete, als das jenseits 
jeder Bewusstseinsschwelle liegende „transzendente Ego" 
begreift. 

Die brahmanische Lehre von den sieben Grundstoffen 
und den sieben Ebenen, die unsem blöden Brillenschlangen 
des Katheders bloss als Ausgeburt quacksalbernder Exaltation 
erscheint, fusst eben auf einer unendlich tieferen Wissen- 
schaft der „Kraft", sintemal das Seelische nicht mit seiner 
irdischen Unterfunktion des sinnlich -wahrnehmenden Be- 
wusstseins, sondern nur mit seiner höchsten Zentralfunktion 
des Manas, der unbewussten Vernunft, über sich selber aus- 
sagen kann, letztere aber nur auf dem furchtbar steilen 



— 30 — 

Pfad der Inspiration und Intuition vermitteis übermensch- 
licher Willensstärke und seltener Genialität ihr Sichselber- 
'bewusstwerden jenseits sinnlicher Wahrnehmung erreichen 
kann. Wir werden also die modernen Hauptbegriffe Deter- 
minismus und Evolution zwar um so weniger antasten, als 
•die indische Urweisheit sie schon zur selbstverständlichen 
Basis nahm, zu welcher wir heut nach traurigen Irrfahrten 
des europäischen Geistes erst wieder heimkehren, nur mit 
•dem unterschied, dass damals schon das ganze Planeten- 
system, nicht nur das irdisch Organische, den Manvantara 
(Evolutionsperioden) unterworfen wurde. Sobald man jedoch 
diese Begriffe buchstäblich nimmt, die Evolution nicht mehr 
relativ und figürlich, sondern absolut und konkret auffasst, 
•die Unfreiheit der Körperwelt mit der transzendentalen 
Freiheit verwechselt, gähnen wieder die Unmöglichkeiten 
menschlicher Yerstandesschlüsse uns an, bei denen nur kind- 
liche Unreife unphilosophischer Denkunfähigkeit sich zu be- 
ruhigen vermag. Laplaces „principe de la raison suffisante^^ 
kann uns wohl zu der Grenze führen: „La volontd la plus 
libre ne peut sans un motif d6terminant leur donner 
naissance . . Topinion contraire est une Illusion de Tesprit'^ 
Aber jenseits dieser Grenze dehnt sich der unendliche Ozean 
der Urgründe, an dessen Strand wir umsonst mit Newton 
ein paar Muscheln auflesen und in dessen Abgrund erst die 
Antwort schlummert, weshalb wir überhaupt „Willen", 
„Illusionen'', „determinierendes Motiv" besitzen können. Vom 
Unbekannten, das um uns her im Räume spukt, hat vielleicht 
Leibniz eine richtige Ahnung, wenn er Bayles Spott, Leibniz 
setze Körper voraus, die durch eigene Kraft dem Hafen 
zusteuern, trocken bejaht: er könne sich sehr wohl einen 
menschlichen Mechaniker vorstellen, der einen solchen Auto- 
maten fabriziere (was bekanntlich seither bewahrheitet). Nun 
wohl, für das transzendente Ego ist der irdische Mensch ein 
solcher Automat, solange er im Reiche der Sansara sein 
Pensum abschnurrt Wie aber im Automat etwas Höheres 
und Immaterielles sich symbolisiert, nämlich das Gesetz des 
menschlischen Logos, so wohnt im Menschen das Allgesetz 
des göttlichen Logos, das unverändert fortwährt, ob auch der 
Automat in Stücke bricht 



— 31 — 

Das Gefühl, von dessen Sensation ja unser sogenanntes 
Denken überhaupt erst den Anfang nimmt, steht als im 
eigenen Organischen wurzelnd dem Organismus des Alls 
näher, als die abstrakte Logik des Verstandes. Wie es aber 
damit bei den Kindern des Jahrhunderts bestellt ist, dafür 
diene als gelegentliche Probe folgendes Selbstbekenntnis der 
schönen Seele Fürst Pückler-Muskaus, dessen „Briefe eines 
Verstorbenen^^ die europamüde blasierte Gesellschaft der 
Reaktionszeit entzückten : 

„Vernimm, dass ich fremde Liebe nur dulde, milde bin 
nur aus Kälte, dass mit einem Wort die Denkkraft stark, 
das Gefühl aber so schwach in mir ist, dass seine Wärme 
kaum noch hinreicht an Gott festzuhalten, und den Menschen^ 
aber schon lange losgelassen habe. Beurteile mich auch 
nicht nach meinem Buche, dort bin ich durch und durch 
Komödiant und habe höhnisch gelacht dass man darin 
die Natürlichkeit als schönstes pries, da es von Anfang bis 
Ende die fortgesetzteste Täuschung enthält.^^ (Pückler an 
Bettina von Arnim, April 1832. „Aus dem Nachlass, heraus- 
gegeben von Ludmilla Assing,*^ I. Band.) Diese Knochen- 
gerippe, die sich umsonst mit intellektuellen Blumenkränzen 
umwinden, diese halbtoten Vampyre, die sich durch Blut- 
saugen ein neues Leben von Sensationen verschaffen möchten, 
ein lauernd unheimliches mit perversem Appetit, tragen 
nur noch einen Funken in sich, der sie galvanisiert: 
die Eitelkeit. ,Jch werde dir dann zeigen, dass ich keine 
falschen Waden trage, wie du dir wegen der strengen Form 
meines Beins einbildest^M ! Solches geschah im August, aber 
noch im Dezember heisst es: „um dich zu überzeugen, dass 
ich keine falschen Waden trage, eine Beleidigung, die ich 
immer noch nicht verschmerzen kann." Es liegt ein tiefer 
Sinn in diesem kindischen Spiele. Sehr richtig redet Pückler 
seine berühmte Freundin an: „Wesentlich schauspielerische 
Bottina!*' und sagt von sich selber aus: „Ich bin ein Findel- 
kind und kenne meine Eltern nicht^' Ferner: „Ich habe an 
mir selber solche Dinge erlebt, dass ich an nichts zweifle 
und über nichts mich wundere, womit ich zugleich ein 
echtes Kind meiner Zeit bin." Hübsch charakterisiert 
auch die Bemerkung der verschrobenen, obschon wirklich 



— 32 — 

genialischen, Bettina: „Olück liegt nur in der Möglichkeit, 
die sinnlichen Anlagen des Geistes zu entwickeln/' 

Später heissts dann wieder: ,,6ewi8S, was die Sinne 
reizt, macht auch glücklich, was glücklich macht, ist gött- 
lich . . . was verlangt denn Oott von uns? Dass was in 
uns lebt sich vergeistige — und was lebt denn in uns als 
nur das Sinnliche? — und wie vergeistigt es sich denn 
als dadurch, dass es eine Tagend wird? Ach, ich wollte, 
ich könnte hier deutlicher sein . . /' Ei ja wohl! Die 
Sinnlichkeit, die zur Tugend wird . . . von dieser erlogenen 
Mystik bis zu Schlegels ,,Lucinde^^ ist nur ein Schritt. Ein 
andermal schwelgt Bettina wieder: der Leib und die sinn- 
liche Natur seien auch berufen selig zu werden. „Wir 
dürsten nach Vermählung mit der Schönheit, der Leib zittert 
vor Lust in der Empfindung, dass er dem Schönen an- 
geschmiegt sei, dies ist doch wohl nicht tierischer Trieb." 

Im ffintergrund breitet Schleiermachers platonische Theo- 
logie segnend die Hände. Das harte Urteil Yarnhagens über 
Bettina, vor der ihn ..ihres Bruders Clemens Bekanntschaft 
gewarnt", wird bestätigt, wenn man die Methode dieser 
Schauspielerin kennt, immer den einen Freund beim andern 
anzuschwärzen. Der Lump Clemens Brentano gibt selber 
ein Beispiel, wie bei den Romantikern ihre unleugbare 
poetische Begabung im Grunde nur auf artistischem Klügeln, 
nicht auf echter Empfindung beruhte. Überaus peinlich be- 
rührt auch Bettinas begeisterter Brief über Schleiermachers 
Tod, der wahrhaftig Brot und Wein im unmittelbaren Sterben 
an seine Umgebung verteilt: „Das ist mein Leib, der für 
euch gegeben ward, das ist mein Blut, das für euch ver- 
gossen ward." Der impotente Grössenwahn des anempfinden- 
den eklektischen Jahrhunderts, das sich mit vergangener 
Schöpfergrösse identifiziert, weil seine kritische Geistreichelei 
ihm Ebenbürtigkeit mit dem Kritisierten und Analysierten 
vorspiegelt, kommt hier zu bezeichnendem Gleichuis. Famos 
auch die Kennzeichnung ihrer religiösen Seelengemeinschaft 
mit dem neuen Christus: „Ich hab noch mehr mit ihm ge- 
sprochen, was sich nicht wiedergeben lässt, denn Witz und 
Scherz waren uns die Träger aller geistigen und 
mystischen Genüsse". Hier und da blühen zwischen all 



— 33 — 

dem Unkraut Seelenblumen von reinerem Duft und grade 
das Geniale in Bettina macht ihre phraseologische Falsch- 
heit, Schauspielerei, versteckte Brunst so widerwärtig. Um 
zu würdigen, weshalb wir diese zwei Kinder des Jahr- 
hunderts in ihren Briefbeichten belauschen, vergegenwärtige 
man sich die Stellung beider. Fürst Pückier, eine faszinierende 
Erscheinung etwa im Genre des Prinzen Louis Ferdinand, 
spielte bis über die erste Hälfte des Jahrhunderts — er 
machte noch als Achtzigjähriger den Feldzug 1866 mit — 
die Bolle des Fürsten Ligne zur Wiener Eongresszeit 

Natürlich spielte er den Liberalen, spielte mit demokra- 
tischen Regungen. So sagt er von Christus: „Es würde nicht 
lange dauern heutzutage, so sässe er in Spandau, und wir mit 
ihm. Die Frömmler würden alle wieder schreien: Kreuziget 
ihn!^^ Ein Geständnis von unsrer Zeiten Schande, das so- 
gar noch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts gilt, und 
solche geistige Verelendung zäher vis inertiae der reaktionären 
Mächte hätte Pückier wohl kaum vorausgeahnt. Denn all 
diese Geister befanden sich in der Autosuggestion einer 
kommenden Erlösung, eines neuen grossen Aufschwungs 
der Menschheit, und dieser Spuk wiederholte sich in jedem 
Lustrum — nach 1815, 1830, 1848, 1870, 1889, um immer 
wieder in Misdre eines blanken Dilettantismus zu verenden. 

Bettina aber, durch ihr verschrobenes Kindesverhältnis 
zum alten Goethe weltberühmt, galt ihrer Zeit so viel, dass 
Gutzkow in den „Briefen eines Narren^* Rousseau, Jean 
Paul, Byron (!), Bettina für Inkarnationen desselben Geistes 
hält! Dieser Geist — aber nicht „derselbe", sondern bloss 
der Bettinageist — lebte übrigens in einigen Spielarten noch 
heute fort. Unter anderen auch in ihrem Schwiegersohn 
Hermann Grimm, dem geistvoll feierlichen Salbaderer „vor- 
nehmer" Ästhetik, über den Karl Werder, gleichfalls ein 
Schössling dieser alten Genialitätsschwelgerei der Impotenz, 
das reizende Epigramm uns vortrug: „In einsam abgemessenem 
Gang wandelt Herr Grimm sich selber entiang" und dem 
ein böses Witz wort ein Werk zuschrieb: „Michael Angelo 
über Hermann Grimm." Dies eklektische Alexandrinern 
des deutschen Professorentums, sein Schulmeistern in Kunst 
und Literatur mit phantastischer Ästhetik, das fortwährende 

Bleibt reo: Dio Vertreter des Jahrhunderts. 3 



— 34 — 

Benagen ehrwürdiger Meisterknochen mit der Andacht eines 
Pfaffen vor Beliqoien, gehört mit zur Signatur des Kärrner- 
Jahrhunderts, das sich einen bauenden König dünkte. 

Der wahre Sinn für Wirklichkeit, sofern man nicht die 
ganz gemeine der Kaserne und Börse darunter versteht, kam 
so sehr abhanden, dass Pückler von sich aussagt, er lebe 
fast nur in der Phantasie, nie in der Wirklichkeit. In ihrem 
schauspielerischen Pathos schreibt Bettina am 25. Juli 1834, 
dass sie Auftrag gab, den dritten Band ihres „Brief wechseis 
Goethes mit einem Kinde^^ wenn sie vorher sterben sollte (!), 
„dem Lord Byron zu widmen". Wie wenig Freude hätte 
der naive Genius der Revolutionszeit an diesem Phantasieren 
über den Genius gehabt! Und wie herrlich offenbart sich 
der Genius des 19. Jahrhunderts in Pücklers Brief an Gräfin 
Hahn -Hahn (1845): „Doch bleibe ich bei grosser Wahr- 
heitsliebe ein geborener Komödiant, der fortwährend ab- 
wechselnde Bollen spielt, nicht um damit anzuführen, sondern 
nur aus natürlicher Lust daran." Allein, diese komödiantische 
Wahrheitsliebe — denn auch sie ist nur Komödie — , die 
ein andermal beichtet: „meine Komödiantenrolle ist mehr 
eine tragische als eine lustige" (sehr wahr!), möchten wir 
doch noch der unerträglichen Ziererei vorziehen, die Ida 
Hahn-Hahn in ihrer aristokratisch parfümierten und dabei 
jdealisch gaukelnden Correspondance (man muss das Wort 
französisch schreiben, um das gesucht Salonmässige dieser 
Selbstbespiegelungen zu nüanzieren) so herzig entfaltet. 

Freilich, die langen geistreichen Betrachtungen, dass 
Pückler „ein Komet" sei, haben tiefen Sinn. Wie er ist dies 
Jahrhundert ein entgleister Komet, gemessen am leuchtenden 
Planeten seines gewaltigen Vorgängers. In Pücklers Nach- 
lass taucht neben damals schwefelnden Nullen wie Steffens 
— von dem es in den Befreiungskriegen hiess: „Bei An- 
fang des Treffens drückte sich Steffens" — auch Lady 
Hester Stanhope auf, Pitts Nichte, die neben jener Mary 
Montague der Pope-Zeit den Typ der ewig reisenden eman- 
zipierten Extravaganten vorstellte. Und doch, indem er 
der beiletristen Ida gegenüber die Erinnerung an jene über- 
spannte Greisin aus seiner frühen Jugend beschwört, spürt 
man förmlich, wie den modernen Zeitgeist - Pückler ein 



— 35 — 

Schauer überkommt, als wehe ihn ferner Duft eines besseren 
Geschlechtes an: „Ach, wie wenig Oescheidte fand ich, die 
wert gewesen wären, dieser Verrückten die Schuhriemen zu 
lösen !^^ Lady Hester die Tolle, die noch den jungen Byron 
in Athen kannte und Pitts sterbenden „Austerlitz-Blick^^ auf- 
fing, glaubte an Wiederkunft des Messias und das gab ihrer 
Yagabondage idealen Beiz. Wahrlich, ein starker Glaube 
an einen Messias — erst hiess er Aufklärung, dann Bevo- 
lution, dann Napoleon — versetzte dem ruhmvollen 18. Jahr- 
hundert alle Berge der alten Welt und auch er durfte rufen: 
„Ich habe die Welt überwältigt/^ Ida Hahn-Hahn war eine 
der bedeutendsten Erscheinungen ihrer Zeit und nur das 
Prestige der französischen Sprache lieh der George Sand ein 
höheres Postament Doch wie armselig nimmt sich die stete 
überheizte Aufregung, die sie für Begeisterung hält, in 
Idas Büchern und Briefen aus neben dem werktägigen, im 
besten Sinne realistischen Enthusiasmus des Bevolutions- 
zeitalters! Auch der Enzyklopädisten brutale Skepsis, was 
war sie als begeisterte Propagandawut: 6crasez Tinfäme! 

Nicht nur Voltaire und Diderot, nein, alle diese Materialis- 
musvertreter miteinander handelten als Idealisten, wie ihr 
Freund der Preussenkönig. Helvetius und Holbach predigten 
den Egoismus als Systöme de la nature und waren jeden 
Augenblick bereit, Leben und Wohlfahrt dafür zu opfern. 
Bezeichnend, dass ein Salon-Aufklärer wie Lord Shaftesbury 
ausdrücklich den Enthusiasmus für den einzigen Eulturhebel 
erklärt, dass selbst bei höfischen Bolingbrokes und Chester- 
fields wiederholt ein strenger männlicher Idealismus aus 
ihren Spitzenmanchetten hervorlugt Nur echte Humanität, 
gesäugt von begeistertem Sehnen nach Seelenfreiheit, konnte 
die Grandseigneurs in jener unsterblichen Augustnacht des 
Revolutionsfrühlings anfeuern, sich selbst zu verleugnen, 
sich selber das Todesurteil zu schreiben. Und nun vergleiche 
man die Afferei der Hahn- Hahn und Bulwer in ihren Ro- 
manen, wo das Recht, ein vornehmer Mensch zu sein, erst 
beim Baron anfängt, dabei aber unaufhörlich von sublimen 
Seelenerhebungen geschwefelt wird! Dass die Hahn, vom 
bischöflichen Freiherrn Ketteier in den Schoss der katho- 
lischen Kirche gerettet — es musste natürlich ein Freiherr 

3» 



— 36 — 

sein, um eine hochgeborene Seele als Bischof zu gewinnen! — , 
in ihrer Schlossperiode (Epoche vor 1870) als krasseste 
Reaktionärin aller konserrativen und kirchlichen Bevor- 
mundung die Stange hielt und sogar die österreichische Fremd- 
herrschaft in Italien als göttliches Recht zu verteidigen 
wagte, verrät sinnbildlich das Enden des gesamten euro- 
päischen Junkertums im 19. Jahrhundert: nach Tändelei mit 
liberalen Anwandlungen, meist aus egoistischem Missver- 
gnügen über die Staatsbureaukratie. Beim amerikanischen 
Unabhängigkeitskrieg begeisterte sich der ganze kontinentale 
Adel, der französische natürlich voran, für die freie Bürger- 
schaft: beim Sezessionskrieg aber stand das gesamte Junker- 
tum, das französische voran, auf Seite der Sklavenbarone. 
Das idealistische Frankreich Voltaires und Rousseaus zwang 
die Regierung, mit Franklin gemeinsame Sache zu machen, 
Franklin ward hochgeehrt an Höfen empfangen: das fort- 
geschrittene Europa in der Neujahrsnacht des 20. Jahr- 
hunderts sah die Buren verbluten und besass keine andre 
Hülfsmacht als ohnmächtiges Fluchen und Schimpfen, hoch- 
erhaben darüber fraternisierten die Staatshäupter mit den 
englischen Henkern und die Burengesandten bettelten um- 
sonst um Gehör. So herrlich weit haben wirs gebracht. 

Das ist der Jahrhundertgeist, der aus Piickler spricht: 
„weil es keine objektive Wahrheit gibt^'. Klit Entsetzen muss 
man übrigens einen geistigen und literarischen Zustand sich 
vergegenwärtigen, in welchem ein Pückler für seine frivolen 
seichten und bloss weltmännisch gefälligen Schreibereien 
„30 — 40000 Taler" bezog, wie er selbst bekennt, „in Deutsch- 
land, wo es Schiller, Herder, Jean Paul nie so weit brachten 
und Goethe erst am Ende seiner Laufbahn." Wenn man die 
Honorarrechnungsbücher aller Autoren des Jahrhunderts 
vergleichen könnte, so würden wir nur zu oft ein ähnliches 
Exempel finden, wie immer das Seichte und Überfiüssige 
von diesem „hochgebildeten" Zeitgeist mit Begier ver- 
schlungen ward. Doch seien wir nicht ungerecht gegen den 
armen Pückler, in dem unser ganzes deutsches Jahrhundert 
bis 1870 sich spiegelt, der ein Schwiegersohn Hardenbergs, 
ein Jugendfreund Schopenhauers und ein Tafelgenosse der 
attischen ümsturzsymposien Ferdinand Lassalles gewesen 



— 37 — 

ist. Zwar seine kindische Eitelkeitspose blieb ihm treu. 
Diese männliche Kokette behielt ihre falschen Waden und 
gefärbten Haare. Schier achzig Jahre war er alt und zwei 
darüber, hatte so manchen Sturm erlebt, und als sein liebe- 
bedürftiges Herz 1868 eine neue platonische Wahlverwandt- 
schaft mit einer Frauenseele anknüpfte, sandte er der 
anonymen Marlitt, als „Verstorbener" sich vorstellend, des 
noch sehr lebendigen Fürsten Porträt in Oala mit sämtlichen 
Orden. Aber ein Zug von Güte und vornehmer Liebens* 
Würdigkeit kommt doch in diesem letzten Johannistrieb seiner 
verliebten Natur zum Vorschein, wie er auch im Brief- 
wechsel mit der eingebildeten Ida noch als der minder 
komödiantische erscheint. Gegenüber dem plumpen un- 
wahren Bürger stolz der „liberalen'' Marlitt erfreut Pücklers 
wahrhaft aristokratische Urbanität, seine gelassene Gleich- 
gültigkeit gegen alle gesellschafüichen Scheinschranken, als 
ein Zeugnis feinerer geistiger Freiheit. Vergessen wir nicht, 
dass seine Kindheit noch unter die Revolution fiel, dass er 
Napoleons Sturz als Dreissigjähriger erlebte, dass im jungen 
Freund der Hester Stanhope noch ein Odem des grossen 
Jahrhunderts wehte. Der abgelebte Weltbummler „Semilasso'' 
hatte in den Befreiungskriegen als Freiwilliger gefochten, 
sein Kämpferdrang fand nur kein Feld mehr in der Polizei- 
ordnung und korrupten Zahmheit der Modernen und so 
begnügte er sich, Schlösser und Parks zu bauen. Als 
GartenkünsÜer gross zu sein, ist wenig, aber besser als 
nichts. Bäume pflanzen ist auch etwas tuen, der Muskauer 
Park überdauert sein zweifelhaftes Andenken. Aber ach, 
sein Verkehr mit den drei berühmten Frauen verschiedener 
Perioden, die nach den stürmischen Amouretten seiner 
Jugend sein Hirn beschäftigten, malt uns traurig das stete 
Sinken des grössenwahnsinnigen Jahrhunderts bis zum 
Ende. Nach der wüsten Genialitätsspritzerei der Bettina, 
auf der noch ein schwacher Abglanz des klassischen Weimar 
flimmerte, wo ihr Kinderfuss geweihte Stätten betrat^ zur 
Affektation und Nervenhysterie der Hahn und von da zur 
spiessbürgerlichen Nüchternheit und bourgeoisen Sentimen- 
talität der Eugenie John (Marlitt) — o meine Bömer, welch 
ein Fall war das! Da fielet ihr und ich, wir alle fielen. 



— 38 - 

Von den schlüpfrig mystischen Amphytrio-Geheimnissen 
der Romantischen Schale bis zu den Geheimnissen der Alten 
Mamsell, von des Knaben Wunderhom bis zu den Bonbon- 
reimen des Mirza Schaffy und den Butzenscheibenschildereien 
der Spielmannsweisen, Rattenfänger und Trompeter von 
Säkkingen — Verpöbelung von Etappe zu Etappe. Und als 
dann später eine sogenannte Revolution der Literatur los- 
brach, versandete sie alsbald im professoralen Philistertum, 
das eine neue Reaktion als Revolutionssieg taufte und eine 
rein formale Technik naturalistischer Genremalerei als 
ultramoderne Kunst anglotzte. Was hilft das Freilicht, wo 
es weder Freiheit noch etwas zu beleuchten gibt! was der 
Impressionismus, wenn die Impressionen nur aus überreizten 
Nervensträngen stammen! Auch gab sich in dem inter- 
nationalen Warenaustausch geistiger Güter, der im Zeichen 
des Verkehrs auch die chinesischen Mauern französischer 
und britischer Kultur mit exotischen russischen und skan- 
dinavischen Werten überschwemmte, jener Eklektizismus 
kund, der schon früh dem Jahrhundert der satten Erben 
ein verschwommenes Gepräge aufdrückte. 

In dieser ELinsicht scheint es lehrreich, auf eine philo- 
sophische Schule den Blick zu werfen, die seit der Juli- 
revolution in Frankreich schwarmgeisterte und der man den 
Namen Eklektizismus verlieh, statt dies abscheuliche unred- 
liche Gewäsch gröber beim Namen zu nennen. Victor Cousin 
machte damit viel Furore. Wenn man ihn sowie eine 
Abhandlung des einstmals gefeierten Schelling zu sich nimmt 
und vomiert, fühlt man sich sogar in den dreistesten Aus- 
schreitungen des naturwissenschaftlichen Materialismus wieder 
wohl, etwas reinere Lüfte atmend, sofern nicht allzu 
mephitische Dünste aus der Haeckelei aufsteigen. Herr 
Cousin ging von der geschickten Prämisse aus, dass man 
als Franzose zuvörderst den Franzosen schmeicheln und 
daher vor dem Empirismus der Sensualisten sein Kompliment 
machen müsse. Er behauptet daher, von Condillac auszu- 
gehen, dem jeder Syllogismus nur eine kombinierte Sensation 
war, und stützt sich angeblich auf die Beobachtung. Von 
dieser aus will er jedoch zur deutschen Metaphysik zurück- 
gelangen. In unglaublich sprunghafter Leichtfertigkeit 



— 39 — 

Beizt er der Passivität der Sensationen die aktive *,Per- 
sonalitäf \ den Willen, entgegen, der natürlich „frei^^ ist und 
freiwillige (!) Aufmerksamkeit anwendet. Über diesen 
faits Yolontaires steht ausserdem noch die „Yernunft^^ die 
in rein rationale Kategorien wie ein Mädchen aus der 
Fremde hineinschneit, ohne Anmeldung woher sie kam. 
Tiefsinnig äussert Schelling über diese ganze Eonfusion: 
„Der letzte metaphysische Gipfel wird erreicht durch die 
Yon der Vernunft dem Bewusstsein aufgelegte Notwendig- 
keit, von den beiden limitierten Ursachen Ich und Nicht- 
Ich zu der illimitierten wahren Ursache fortzugehen, die 
jenem das Sein giebt und sie darin erhält'^ Dass er dieser 
Platitüde wenigstens hinzufügt, es sei damit „nicht das 
Geringste von Wissen verbunden'', erfrischt. Um den un- 
säglichen Wirrwarr Cousinscher Deduktionen anzudeuten: 
nach ihm „offenbart'' die Vernunft die Existenz der Aussen- 
welt, während das einzige Verdienst des Sensualismus gerade 
in dem Nachweis besteht, dass wir's durch die Sinne er- 
fahren. Das nennt Cousin von Condillac ausgehen! Da 
verfuhr der mystische Materialismus Saint-Simons und seiner 
Schule, aus welcher die Systeme des Sozialismus sich ab- 
leiten, entschieden logischer. Wie Cousin es aber mit den 
Empiristen nicht verderben möchte und sich einen Positi- 
vismus anlügt, so scheut er andrerseits entsetzt vor der 
Unterstellung zurück, auch er vertrete Saint-Simons 
pantheistischen All- Gott. nein, sein Gott sei nicht der 
tote Gott der Scholastik: „Dieser Gott, von dem unser Be- 
wusstsein zeugt, ist ebenso ideell wie reell, zugleich Substanz 
und Ursache, Einer und Mehrere, Unteilbarkeit und Totalität, 
Anfang, Ende und Mitte, unendlich und endlich.'' Das 
könnte in der Baggavad-Gita stehen, nur schade, dass es 
einfach unmöglich ist. derlei aus Cousins eigenen Prämissen 
zu folgern. Was er gegen Spinoza äussert, dass dessen Gott 
bloss Substanz und keine Ursache sei, ist gamicht unrichtig» 
aber Spinozas Gott ist wenigstens logisch abstrahiert, während 
der Cousins einfach aus der deutschen Naturphilosophie 
entlehnt und einem ganz verschiedenen Lehrgebäude auf- 
gepfropft ist. Indem der gewandte Franzose Hegels 
,,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" plündert, 



— 40 — 

▼ersteht er andrerseits den Theologen um den Bart zu 
gehen. ^Lasst sehen, welch Dogma ist von meiner Theorie 
gefährdet r^^ ruft er ängstlich ans. Aber halt! Die Frei- 
denker könnten das übel nehmen und so zieht er heftig 
gegen das Bestreben los, die Philosophie zur Magd der 
Theologie zu machen. Zuletzt findet er das klassische Wort: 
„Der Qeist des 19. Jahrhunderts hat sich im 
Eklektizismus wiedererkannt^^ Um sein Werk zu krönen, 
empfiehlt er endlich die Monarchie mit der Konstitution, 
die Aristokratie mit dem Parlamentarismus, just die reizende 
011a Potrida, die wir so nahrhaft genossen und die in den 
Kindereien von 1830 und 1848 als spartanische schwarze 
Suppe von neuen Lykurgen angerührt wurde. Ja, der 
ohnmächtige zweideutige mantelträgerische marklose Eklekti- 
zismus als Greist des Jahrhunderts . . mit dieser schönen 
Selbsterkenntnis wollen wir seinen Ruhmestempel betreten. 



--e>{i}^ 



Der letzte Ideologe: Lamartine. 

Alphonse hiess er auch. Das klingt doppelt yornebm 
bei einem adligen Namen. Es versteht sieb, dass nur eine 
Elvira dazu passte, obscbon sie im gewöbnlicben Leben 
minder ansprucbsvoU Julie biess. Der Name Alpbonse be- 
kam später im Pariser Spracbgebraucb, der alles Strablende 
zu schwärzen liebt, einen Übeln Beigeschmack. Aber dieser 
Alphonse de lAmartine hatte es gar mit der platonischen 
Liebe. Seine Elvira und Graziella wurden ihm mystische 
Jesusbräute, nur mit der kleinen Abweichung, dass Alphonse 
selber jesusartig sich anbeten Hess. Da jedoch Abwechselung 
des Lebens Würze bildet, so wandte er sich später anderen 
transzendentalen Bräuten zu, welche er Freiheit und Huma- 
nität benannte. Mit dem gleichen selbstgefälligen Eifer wie 
früher den Mirakeln der katholischen Kirche huldigte sein 
frommer Schwung den antikirchlichen Idolen. Das kirch- 
liche Christentum musste um ihn trauern, wie über den 
^Starz eines Engels'', den er so sachkundig beschrieb, und 
eitel Frohlocken herrschte unter den Schlachtreihen der 
revolutionären Demokratie, als er seine tönenden Phrasen 
auf ihr Banner schrieb. Denn seine Phrasen besassen all- 
zeit eine verblüffende Ähnlichkeit mit übersinnlich über- 
menschlicher Inspiration und seine hochragende Erscheinung 
mimte den übersinnlichen Übermenschen mit täuschender 
Oeschicklichkeit 

Lamartine trat ins Leben unter massig günstigen um- 
ständen. ' In der halbgermanischen Bourgogne als Sprössling 
eines armen Kleinadels aufgewachsen, durchlebte er die 
Stürme der Revolution und des Empire in dem üblichen 



— 42 — 

Dunstkreis beschränkter Verbissenheit, worin legitimistiscbe 
Edelleute, ob emigriert oder nicht, sich vor der neuen Zeit 
▼erschlossen, soweit nicht napoleonischer Kriegsruhm sie zur 
nationalen Trikolore verlockte. Die alte Kirche, das alte 
Königtum, der alte Adel, vor solchen Heiligtümern kniete 
des jungen Sängers Seelenleben. Von der beispiellosen 
Gewaltigkeit der Weltumwälzung sah er nur die hässliche 
Aussenseite, die Abkehr vom verschwommen Schwärmerischen, 
was er und seinesgleichen allein für Idealität halten, das 
grell Positive, frech Brutale durchgreifender Naturkraft. 
Freilich, treffend geisselte er später in einem Auf- 
satz (vielmehr einem berühmten Vortrag, der nachher in 
Druck ging) „Die Schicksale der Poesie" jenes Zeitalter, aus 
dem wir heutigen entspringen. Jedes« seiner Worte passt 
vielleicht noch genauer auf das Ende des Maschinen- 
jahrhunderts wie auf seinen Beginn: Alles poetische und 
ideale Empfinden sei gewaltsam erstickt worden, nur Zahl 
und Gewicht, nur Säbel und Gold, nur Stoff und Kraft 
hätten regiert. Der Gute übersah, dass die scheinbar trockene 
Regelmässigkeit der Gleichheitsdemokratie in Napoleons 
Staatsgebäude, über dessen angebliche moralische und geistige 
Abscheulichkeit nachmals umgekehrt ein richtiger Sohn dieser 
naturwissenschaftelnden Demokratie, nämlich Taine, so 
viel geistreichen Unsinn zusammenschwätzte, aus trunken 
dithyrambischer Unregelmässigkeit entsprang. Grossartigste 
vulkanische Entladung versteinerte hier gleichsam in maje- 
stätischer Starrheit und deutlicher tönte nie der Atem des 
Weltgeistes, als aus dem erobernden Marschtritt dieser 
straffen cäsarischen Legionen. Die Nüchternheit einer Ziffern- 
berechnung, die einen Wunderpalast wie aus Tausendund- 
einer Nacht gleichsam über Nacht hervorzauberte, den Druck 
eines Gewichts, das eine morsche alte Welt aus den Angeln 
hob, die Roheit einer eisernen Rauheit, die auf Adler- 
schwingen von den Pyramiden bis zum Kreml flog, wird 
man sich wohl gefallen lassen. Auch dann, wenn man die 
Dinge nur vom kleinlich ästhetischen Standpunkt misst, wie 
ein mit Worten hausierender Barde. Mit Lavendelwasser 
machte man freilich nicht die Revolution, sondern mit 
Strömen von Blut, auf Schäferschalmeien blies der Imperator 



— 43 — 

• 

nicht, sondern auf Trompeten. Aber sie schollen wie Po- 
saunen Yon Jericho, vor der alle Mauern bröcklicher Zwing- 
burgen einstürzten, und Posaune und Orgel pflegen er- 
greifendere Musik zu machen, als Flöten und Zimbeln. Aus 
Napoleons eiserner Schlachtenorgel nicht solch gute Bachsche 
Musik, solche Beethovensche Heroica herauszuhören yer- 
mochte nur ein verdumpftes, mit reaktionärer Watte von 
Mummelgreisen und Tanten verstopftes Ohr. Man täusche 
sich also nicht über die Strömung, aus welcher Lamartine» 
poetischer Weltruhm emportauchte. Platte Ermüdung weich- 
licher oder spiessbürgerlicher Gemüter, die sich an Hirten- 
idyllen und weinerlichen Elegien wieder aufrichten wollten, 
weil die schwungvollen Heldengedichte heroischer Tatkraft 
sie niedergedrückt und sich ihrem Kleinheitsverständnis ent- 
zogen hatten. Dies nannte man Auferstehung des Poetischen 
und Idealen, als ob heroische Epen nicht allzeit für eine 
höhere Form der Poesie gegolten hätten, als Schäferspiele. 
Daneben die niedrigste Gesinnung lumpiger Interessenpolitik^ 
das Aufatmen aller Ruinenmolche, dass der reinigende Orkan 
vorüberbrauste und man im alten Unrat sich wieder heimisch 
machen konnte. Das Ancien Regime, obschon zu Tode ge- 
troffen, behauptete mit greisenhaftem geschminkten Schmun- 
zeln, dass es sich des altbeliebten blühenden Lebens erfreue, 
und tanzte einen Cancan der Reaktion, wie verlebte Greise 
mit zittrigem Menuettschritt einen Polterabendball mit einer 
jungen Schönen veranstalten. Diese neue junge Welt der 
siegreichen Demokratie ward vergewaltigt ins Prokrustesbett 
der alten legitimistischen Ausbeutung zurückgeschleppt und 
das, was Buckle später so treffend den Bevormundenden 
Geist nannte, drapierte sich wieder mit den bekannten 
Phrasen seines angeblichen historischen Rechts. Auch die 
heilige Messe war wieder Trumpf und der Jesuiten schwarze 
Leibgarde umgab schützend die Throne der unheiligen 
Allianz, die sich als „heilige'^ taufte, mit dem alten geweihten 
Rüstzeug der Verdummung. Aberglaube und Knechtschaft 
woben zähe Ketten; Autorität von König und Kirche^ 
Junker und Pfaffen, hiess wieder moralische Welt- 
ordnung und plünderte von Gottes Gnaden dies irdische 
Jammertal. 



— 44 — 

Aber es fehlte noch etwas: fast alle Bildangselemente 
standen auf der anderen Seite. Der korsische Koloss ent- 
hüllte erst im Sturze, da er am Boden lag, seine volle 
Biesenhaftigkeit und tiefere Bedeutung. Orade dort, wo das 
Volk alleine Berechtigung zu subjektiver Erbitterung wider 
den Imperator fühlte, in Deutschland, ja in Preussen fragte 
man sich, was man mit seiner Beseitigung gewonnen habe, 
ob die sogenannten Befreiungskriege ihrem Namen entsprächen, 
ob nicht noch mehr innere und äussere Freiheit jetzt ver- 
loren gehe, denn je zuvor unter dem Weltreichjoch. Die 
innere vereitelte hochfürstlicher Treubruch, die äussere das 
perfide Oaukelspiel eines europäischen Gleichgewichts, das 
für Deutschland und Italien mit dauernder Zerstückelung 
und Abhängigkeit zusammenfiel. Der bittern Enttäuschung 
über Bückkehr des alten Feudalschwindels, nachdem man 
dessen Ausmerzung durch Napoleon sich danklos gefallen 
liess, seine Wiederkehr aber naiverweise für undenkbar 
hielt, paarte sich patriotischer Ingrimm über Lähmung aller 
nationalen Einheitsbestrebungen, deren Erfüllung durch Ab- 
schüttelung der Fremdherrschaft verheissen war. Mangel- 
hafte Geschichtsforschung entstellte überhaupt das wahre 
Gesicht der deutschen Volksseele in den Anfängen des Jahr- 
hunderts. Von der angeblichen Fremdtümelei und Fran- 
zosenliebschaft fand sich bis zur Schlacht von Jena keine 
Spur, wohlgemerkt auch nicht in süddeutschen Bheinbunds- 
staaten. Mit Sehnsucht erwartete man überall Napoleons 
Niederlage durch Preussen. Auch nach dem betäubenden 
Eindruck der völligen Niederwerfung deutscher Mächte 
gährte noch zur Zeit der Aspemschlacht allgemeiner Er- 
hebungsdrang in allen deutschen Gauen, ja selbst im 
Zenith des Empire warnte Beichsverweser Davout unauf- 
hörlich vor der drohenden Stimmung. Wenn Bheinbunds- 
satrapen und ihr Anhang für den erhabenen Protektor 
schwärmten, so bewahrten doch selbst in diesen Kreisen 
die Kronprinzen von Bayern und Württemberg stolze Hal- 
tung und Gesinnung, besonders der Erstere, was dem 
schrullenhaften, aber originalen und idealangelegten Manne 
nie vergessen werden soll. Nun aber umgekehrt nach Na- 
poleons Fall irrt herkömmliche Auffassung völlig über die 



— 45 — 

angebliche Verdumpftheit und Betörung des „befreiten" 
Volkes, als ob es die Wiederkunft der alten Augiaswirt- 
schaft geduldig ertragen habe. Das gemeine Geschimpfe 
über den korsischen Wüterich und der biersaufende Fran- 
zosenhass mussten sich gar bald in die Eonventikel der 
Turner und Deutschbündler flüchten, wo aber gleichzeitig 
ein „liberales" und „nationales" Empfinden sich kundgab, 
das den Besiegern Napoleons nichts Gutes versprach. Es 
gehörte zur weltgeschichtlichen Ironie der Epoche, dass diese 
guten dummen Jungen mit ihrem Napoleons- und Fran- 
zosenhass, ihrer cheruskermässigen altdeutschen Bären- 
häuterei, die am liebsten mit Hermann im Teutoburger Wald 
Eicheln gefressen hätte, und ihrer deutschen Treue für an- 
gestammte Gebieter alsbald in die Acht getan und als re- 
volutionäre „Demagogen" verfolgt wurden. Daneben aber 
erhoben sich Stimmen, freier und lauter als man gewöhnlich 
wähnt, die über Vermummung der Reaktion in verzerrte 
Deutschtümelei spotteten, mit der Restauration scharf ins 
Gericht gingen und den Napoleonkult neu belebten. Vordem 
sprachen Körners und Kleists Racheverso der Nation aus 
der Seele, wie es denn mit unserer kosmopolitischen Welt- 
bürgerei nie so weit her gewesen ist, um nationale Würde 
ganz zu vergessen, und eigentlich nie eine Franzosenliebe, 
sondern nur eine Napoleonbegeisterung in Kreisen deutscher 
Gebildeter und Soldaten gegeben hat. bei beiden meist aus 
idealen und objektiven Regungen hervorgegangen. Nun 
aber stand Platens Spottvers über die Befreiungskriege der 
Baschkieren und Kosaken wahrlich nicht allein und dem 
damals in Europa volkstümlich verbreiteten Byron riefen 
Millionen auf Millionen nach: „Ward der Leu nur gefällt, 
damit Wölfe freie Pirsch haben?" „Hier fiel der Grösste 
und nicht der Schlimmste der Menschen." Am ärgsten 
prägte sich demokratisches Fühlen merkwürdigerweise in 
Preussen aus, bis in höchste Stände hinein. Prinz Wilhelm 
von Preussen« der spätere Kaiser, klagt wehmütig in einem 
Briefe, dass Preussen ganz von jakobinischem Geiste ver- 
seucht sei, dass man umsonst „die Revolution 1814 und 
1815 niederschlug." Ein Fingerzeig für alle Verblendeten, 
die Napoleons geschichtliche Sendung immer noch fälschen 



— 46 — 

oder nicht begreifen wollen. Allen Monarchen, Jankern und 
Pfaffen Europas hiess die Revolution: Napoleon. Oenarrte 
Völker mit ihren „liberalen" Schwätzern an der Spitze er- 
kannten zu spät, was sie angerichtet Für Napoleons An- 
denken ward das Martyrium von St Helena zur Gloriole. 
Ja, es steht fest, dass man schon 1815 nur eine sehr 
kümmerliche Anteilnahme für den neuen „Befreiungskrieg^^ 
sogar in Preussen aufbrachte. Der gesunde Yolksinstinkt 
wusste schon nach dem ersten Pariser Frieden, wen 
man „befreien" sollte, wessen Kriege man gegen den 
„grossen Tyrannen" schlug. Aber noch flammte die Hoff- 
nung auf, Preussen-Deutschland könnten jetzt am £nde 
nachholen, was im Vorjahr versäumt Da aber nun Eng- 
land, das bei Waterloo durch Preussen gerettete, sich nicht 
minder perfide und undankbar erwies, als die treue turm- 
hochstehende Bundesfreundschaft des Zai*ismus, da erlosch 
in dumpfem Groll und entrüsteter Verzweiflung bei allen 
Vernünftigen die letzte Hoffnung. Bald sollte man auch 
inne werden, dass Metternich und Zar den eigentümlich 
demokratischen Geist der Gneisenau, Bülow, Boyen und 
Grolmann, nicht zu vergessen den herrlichen Scharnhorst 
und den nie genug zu verehrenden Beichsfreiherm Stein, 
diesen Stein des Anstosses für alle Feudalen wie alle un- 
gesunden Demagogen, nicht dulden konnten. Das hatte mit 
seinen Siegen das neue Volksheer getan, über dessen Land- 
wehr natürlich die Junkeroffiziere den steten Unrat ihrer 
Eastenvorurteile ergossen. Der Erstürmer des Grimmaischen 
Tores, Friccius, eine der vornehmsten Gestalten dieses ma- 
teriell darbenden, aber wahrhaft kraftreichen Zeitgeschlechts, 
liefert dafür in seinen Erinnerungen die abschreckendsten 
Zeugnisse. Er selbst, als Generalauditeur der Armee, sollte 
seinen Abschied nehmen, mit ihm seine Bäte, weil er 
bei Demagogenriecherei nicht mittun wollte. Blücher aber, 
der dämonische Idealist in rauher Maske, hielt den Linien- 
offizieren, die von ihrem Siegesbankett die Landwehrkame- 
raden ausschlössen, eine zornrote Standrede und brachte in 
Karlsbad den Toast aus: „Ein Hoch dem Schwarzenberg, 
der zu siegen verstand, obschon er drei Monarchen im Lager 
hatte.^^ Was war auch von einem Berserker anders zu 



— 47 - 

erwarten, der zu Begina des heiligen Krieges die Prokla- 
mation erliess: „Für Freiheit und Vaterland/^ statt des alier- 
heiligsten Feldrufs ,,Mit Qott für König und Vaterland", ja 
der 1809 seinen Abschied forderte, sintemal er erst in zweiter 
Linie preussischer Offizier, in erster ein Deutscher sei, 
and der im unvergesslichen Priyatbrief an Scharnhorst sein 
letztes Wort sprach: „Wenn die Fürsten nich mitdhun wollen, 
müssen sie mit dem Bonaparte alle zum Land hinaus- 
gejaget werden!*' Und das wollte ein Mecklenburger Junker 
sein! schon frühe gährte in dem ungebildeten tollen 
Husaren, dessen derb realistischer Sinn natürlich sonst im 
Altvaterischen wurzelte, der unbewusste revolutionäre Sauer- 
teig, als er die gefangenen Republikaner in der Rhein- 
kampagne mit Achtung behandelte und als Kommandierender 
die Anrede „Sie" statt des famosen „Er" einführte. Diese 
merkwürdige demokratische Entwickelung in Preussen über- 
rascht nur den, der in jener Legende vom Junkerstaat be- 
fangen blieb, dessen Zusammenbruch bei Jena man bejubelt 
Eine solchen Junkerstaat gab es weder in Preussen noch 
in Österreich, wo weit eher die Bureaukratie regierte: ihn und 
den wirklichen Militarismus, wie ihn gerade Napoleon gründ- 
lich niederhielt, kennt erst die heutige gesegnete Generation. 
Man braucht nur das königliche Reskript von 1803 zu 
lesen, wo den Offizieren mit Schärfe vorgehalten wird, dass es 
überhaupt keinen „ersten Stand" gebe und der steuerzahlende 
Bürger den „Rock des Königs" allein bezahle wie auch den 
König selber. Schon der hohe Bildungsstand in Berlin 
hinderte jene scheusslichen Keime, die erst später in der 
Reaktionszeit aufgingen und ausschliesslich im ungebildeteren 
Teil des Militäradels (durchaus nicht des ganzen) wucherten, 
dessen Typ etwa der so lächerlich überschätzte York, selbst 
von zweifelhafter und abenteuerlicher Herkunft, auf welchen 
auch Schöns Memoiren kein freundliches Licht werfen. 
Doch ein Gneisenau, dessen berüchtigte Denkschrift von 
1811 geradezu Einführung eines Milizsystems und Demo- 
kratisierung aller Wehrmacht empfahl, stand leider nun 
obenan. Argwohn aller politischen Dunkelmänner der 
heiligen Allianz richtete sich gegen dies Preussen von Belle 
Alliance, das ganz einfach, um es rund heraus zu sagen. 



— 48 — 

geistige Yormacht alles dessen wurde, was die Reaktion 
„Revolution'' nannte. So ward der vernünftige, redliche 
und vomehmdenkende Friedrich Wilhelm ÜL, der einzig 
anständige und tüchtige Mensch unter dem Fürstengeschmeiss 
jener Epoche, in die Formen des Polizeistaats hineingehetzt, 
die unserm gewaltigen Preussen so viel Kraft wegsogen und 
deren verderbliches Gift noch heut im Staatskörper schleicht, 
bis eine revolutionäre Aussatzkrankheit es endgültig ab- 
stossen wird. Früher antwortete der schlichte Mann auf 
eines Majors devote Untertänigkeit: „Meine Söhne sind alle 
für Ew. Majestät gefallen" erschrocken: „Nicht für mich, 
das nicht annehmen können! für das Vaterland!" Jetzt 
liess er sich, der sonst so Wahrheitsliebende, die Mythe vom 
Heldenkönig gefallen, dessen Aufruf an sein Volk aller- 
gnädigst die „Freiheit" brachte. Doch es half alles nichts, 
nur Gesindel diente dem Liockruf der Reaktion. Selbst 
der treuherzige Teutone Arndt, der sich zum ,.patiiotischen" 
Bratenbarden zu eignen schien, und der knorrig eitle Turn- 
vater Jahn hiessen jetzt Demagogen. Der Gott, der Eisen 
wachsen liess, wollte allerdings keine Knechte . . aber nicht 
bloss Franzosenknechte, sondern auch Fürstenknechte 
fühlten sich davon getroffen! Was ist des Deutschen 
Vaterland? So weit hundert Potentatchen ihre angestammelte 
Wirtschaft treiben im Schutze der teutschen Treue. Dieses 
ist die einzig berechtigte deutsche Eigentümlichkeit. Aber 
ein Deutschland von dem Rhein bis an die Weichsel, von 
den Alpen bis zum Belt, — das fehlte gerade noch! Für 
diesen geographischen Begriff haben wir ja den „Deutschen 
Bund", diese echtdeutsche Auferstehung des Rheinbundes, 
diesmal nur unter k. k. Metternichtigem Protektorat. Kurz, 
Bildung und verwerflicher Idealismus atmeten überall ver- 
dächtige Gesinnungen. Sogar Minister von Goethe, Exzellenz, 
sonst ein submissest konservativer Herr, vergass sich so weit, 
eine den korsischen Parvenü beschimpfende Hofgesellschaft 
anzudonnern: „Lasst mir meinen Kaiser zufrieden!" 

Freilich hatte man ja eine Romantische Schule, — ohne 
Schule tuts der Deutsche nicht! — des Rückwärtsschauens 
durch gefärbte Gläser in ein unmögliches Mittelalter biederer 
Ritter, frommer Mönche, keuscher Edelfräulein, ein Reich 



- 49 — 

der Gottesfurcht und Sitte voll urteutscher Treue. Dieser 
poetische höhere Blödsinn, erglühend für Ordnung, Orden 
und Sittlichkeit, ekelte auf die Dauer selbst die Teutschesten 
der Teutschen an und seh warmgeisterte nur noch in 
Teesalons. Ausserdem, was wollte damals nnsre aufs eigene 
Sprachgebiet beschränkte Literatur für Europa bedeuten! 
Der berühmteste, populärste, an Genie riesenhaft über alle 
Hitbewerber wegragende Sänger bediente sich als Lord der 
englischen Weltsprache und predigte offenkundig Bebellion. 
Dieser röteste Bevolutionär zuckte sogar sein Missolunghi- 
schwert gegen die legitimsten Baubtierrechte der Osmanischen 
Majestät, kein SHeinod der sittlichen Weltordnung blieb ihm 
heilig. Und selbst der konservative milde Manzoni, glich 
seine Napoleonsode nicht verzweifelt einer Apotheose des 
schändlichen Parvenüs? Wo ein Gegengift finden, wo 
Balsam für so viel kecke Dolchstiche unehrerbietiger Geister, 
wo einen vom heiligen Geist erleuchteten Dolmetsch des 
Autoritätsschwindels, der poetischen Firlefanz um nackte 
Gemeinheit winden könne? Und siehe, der dichterische 
Messias kam. 

Jung Alphons lebte bis dahin tief im Dunkel. Nur die 
beiden sogenannten Philosophen der Beaktion, Xavier de 
Maistre und Bonald, wussten von seiner vielversprechenden 
Existenz. Bonald wusste noch etwas mehr, dieser ehr- 
würdige Denkergreis schaute patriarchalisch zu, wie seine 
junge Frau Julie den Piatonismus ihrer Schwindsucht mit 
Alphons auf dem Genfer See spazieren führte. Lamartine 
hat uns ja mit dem hochtrabenden Schwulst dieses reinen 
Verhältnisses bis in jede Einzelheit bekannt gemacht, man 
moss seine Werthernovelle „BafaeP^ lesen als Kommentar 
zur sublimen Erotik jener Yersbücher, die als „Meditationen^^ 
und „Neue Meditationen^ die europäische Salongesellschaft 
bezauberten. Der junge Unbekannte, nur als Gehülfe bei 
einer kleinen Gesandtschaft kraft seines Adelstitels unter- 
gebracht, erwachte wie Byron eines Morgens und fand, dass 
er berühmt war. Wie hatte er nicht diesen Peer von 
Grossbritannien beneidet, den er am Genfer See — dem 
„See", dem sein nun weltberühmtes Gedicht nach Bousseau 
und Byron neue Beize abgewann — aus der Ferne sah im 

Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhundert«. 4 



— 50 — 

Train de Laxe seiner Lordschaft und seiner weltweiten 
Gelebrität ! Als den Ossian der Hyperkultur glaubte er ihn 
zu erkennen und malte sich jenen bizarr yerlogenen spleenig 
phantastischen Byron aus, den damaliger Oeschmack nach 
dem eigenen Bilde dieses posierenden zerfahrenen Jung- 
europas zuschnitt und der heut noch in der Legende spukt 
Wahrscheinlich fand Lamartines Dünkel niemals Müsse, 
ernstlich Byron einer eingehenden Lektüre zu würdigen, 
und in seiner späteren „Grösse^^ empfand er es vermutlich 
als Beleidigung, wenn Musset ihn ansang : „Quel aigle, 
Ganymöde, ä ce dieu vous portait?^' Er, er, Monsieur de 
Lamartine , ein Ganymed, der sich zum Gott Genius empor- 
schwang? Er, der selbst als Jehova mit den Adlern spielte! 
Seine Jünglings-Meditation „An Lord Byron", ein rhetorisches 
Paradestück voll hohler Tiraden, wandte sich schon mit 
dem Predigerton christgläubigen Hochmuts an den Über- 
menschen. Mit dem andern grossen Zeitgenossen fand die 
vielbewunderte „Ode an Bonaparte", übrigens ein ausge- 
zeichnetes Gedicht, sofern man dabei pathetisch didaktische 
Bhetorik als Poesie gelten lässt, sich etwas weniger kindisch 
ab: er scheute sich nicht am Schluss zu fragen, ob 
nicht solche Grösse am Ende vor Gott auch eine Tugend 
sei. Wenn er auch lächerlicherweise vorm'Schatten Enghiens, 
eines mit Fug und Recht nach Gesetz dem Tode ver- 
fallenen Verschwörers und Vaterlandsverräters, Napoleons 
Gewissen auf St. Helena erzittern Hess, so konnte ein feiner 
Aufhorchender doch schon hier einen ünterton vernehmen, 
der durchaus nicht zur royalistisch- klerikalen Maskerade 
passte. Auch der rechtgläubige Katholizismus des Autors 
ging durch seltsam pantheistische Schmelzungen hindurch. 
Aber das machte gerade den Beiz aus. Hier bekannte ein 
scheinbar hochgebildeter, scheinbar original denkerischer 
Mensch sich zu Erone und Ereuz, man brauchte also nicht 
revolutionär zu werden, um auf literarische Bedeutung 
Anspruch zu erheben. Welch ein Triumph für die Reaktion ! 
Ein Weltschmerz, der sich in den Beichtstuhl flüchtete, eine 
abgeklärte Seelengrösse, die sich demütig- eitel mit dem 
Krönungsöl von Rheims den zerwühlten Schädel salbte, ein 
keuscher Idealismus, der sich malerisch vor dem Spiegel 



— 51 — 

drapierte — auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege 
entsprach das müde blasierte Jahrhundert seinem dringendsten 
Bedürfnis und für seine ganze erste Hälfte bleibt diese Mischung 
steifer akademischer Klassizität und pomphaft sonorer Pathetik 
mit innerer Zerrissenheit und Unruhe vor- und sinnbildlich. 
Für die Franzosen, Gesellschaftsmenschen par ezcellence, 
kam noch die angebliche Neuheit der Naturbetrachtung hinzu. 
So lange gewöhnte man sich, einen See höchstens als tak- 
tisches Objekt bei Zürich und Austerlitz zu werten, dass es 
als funkelnagelneue Entdeckung begrüsst wurde, als „Le Lac^^ 
sozusagen eine eigene Stimme gewann. Diese nach unsem 
Begriffen ziemlich frostige Naturbeschreibung klang dem 
Faubourg St Germain als erfrischendes Säuseln der Winde 
und Wogen. Natur, o Natur! seufzten sämtliche Gecken 
und Modedamen. „Souvent sur la montagne ä l'hombre du 
Tieux ebene au coucher du soleil tristement je m'assieds,^' 
welcher Dandy Hess sich solch malerische Positur ent- 
wischen! Man konnte also byronische Grimassen schneiden, 
erhabene Leidenschaften im seidenen Busen wälzen, ohne 
abtrünnig vom guten Ton der konservatiTen Gesellschaft 
abzufallen. Wie prächtig! Ausserdem war dieser grosse 
neue Dichter frommer Begeisterung auch darin ein würdiger 
Rivale des satanischen Kainsängers, dass er eine seltene 
männliche Schönheit besass, distinguiert und aristokratisch 
bis in die Fingerspitzen. Selbst der ironische Benjamin 
€onstant, den „ce bien ideal que toute äme d^sire et qui 
n'a pas de nom au terrestre s6jour^^ gewiss sehr kalt liess 
und dem ein späterer beissenderVersSainte-Beuve's „Lamartine 
Ignorant qui ne sait que son äme'^ auf der Lippe schwebte, 
versicherte Herrn Alphonse de Lamartine in einem Salon, dass 
er nur bei Goethe ähnliche Reinheit und Frische des Em- 
pfindens antraf. Nun braucht man bloss Goethes Hymnus 
„Verteilet auch nach allen Regionen'^ mit den meisten 
Hymnen und Harmonien des französischen Phraseurs zu 
vergleichen, um den Unterschied wahrer Dichtung von wohl- 
tönender Rhetorik festzustellen. Diese verlässt ihn selbst 
dort nicht, wo er sein Vaterhaus beschreibt: „Et ce foyer 
ch6ri ressemble aux nids d6serts, d'oü l'hirondelle a fui 
pendant de longs hivers.^' Allein, bei solch allgemeiner 



— 52 — 

AbschätzaDg darf man nie ausser Acht lassen, dass ein Yers- 
lyriker in gewissem Sinne nur seiner Nation gehört Mag 
ein höherer ästhetischer Standpunkt den französischen und 
überhaupt den romanischen Geschmack für eine unter- 
geordnete Stufe poetischen Vermögens halten, der objektiv 
Prüfende fragt sich, ob eine Form, die wir verwarfen, aus 
dem inneren Styl der betreffenden Muttersprache entspringt. 
Dies scheint bei Lamartine in besonderem Grade der Fall. 
Musset und Hugo holten noch mehr Glanz und Wucht aus 
dem gallischen Idiom heraus, auch bei ihnen aber waltet 
vor, was wir im wesentlichen Rhetorik nennen, und beide 
übertrifft Lamartine in Reinheit und Eleganz des Versflusses. 
Melodischer und schwungvoller sang noch keiner, aber 
Melodie und Schwung sind nur Requisite der wahren Dich- 
tung, die erst gestaltend sich auslöst. Bei Lamartine gibt 
es meist nur äussere Plastik der Verse, alles übrige ist leb- 
los, starr und kalt, abstrakte Reflexion, mit elegischer Senti- 
mentalität oder Eanzelpathos gewürzt Allerdings suchte er 
im tragischen Idyll „Jocelyn'* zu epischer Gestaltung sich 
afuzuraffen, blieb aber auch hier meist in lyrischer Stim- 
mung stecken, obschon es hier an wirklichen Schönheiten 
nicht mangelt und die öde Rhetorik und Didaktik, die einen 
erheblichen Teil seiner Gedichtbände, auch der „Receuille- 
ments'^ und „Harmonies", ausmacht, hier Abschied nimmt 
„Ossian, Ossian! Lorsque plus jeune encore je revais des 
brouillards et des monts dlnistore^\ bekennt er übrigen» 
auch hier seine Anempfindung fremder Unklarheit. Der 
feinsinnige, obschon gan2 in französischem Geschmack be- 
fangene, Lemaitre stellt das allgemein als misslungen be- 
zeichnete allegorisch -phantastische £pos „Der Fall eines 
Engels" noch höher, wie er denn Lamartine überhaupt zum 
grössten französischen Versdichter ernennt und den Begriff 
Genie hier missbräuchlich im Munde führt. Wir sind zwar 
glücklich, bestätigen zu können, dass in den „Harmonien^' 
sich Stellen von erhabener Gewalt der Sprache und des Ge- 
dankenschwunges finden, aber daneben auch hier viel taube 
Nüsse schwerer Verworrenheit. Fügen wir hinzu, dass der 
grosse Versmeister auch im Prosastil seiner Aufsätze und 
seiner Ich-Novellen „Rafael'' und „Graziella" alle Süsse und 



— 53 — 

Feinheit, deren französische Sprache fähig, verschwenderisch 
ausstreute, so haben wir sein schmales poetisches Gepäck, 
mit dem er die Reise in literarische Unsterblichkeit so zu- 
versichtlich antrat, genügend durchmustert Kein Dichter 
hat mit so Wenigem eine solche erste Rolle bei Lebzeiten 
gespielt, keiner mit so Geringem so ungemessene Ansprüche 
erhoben. Ich, ich allein bin der inspirierte, von Jehova selber 
auserwählte Sänger! tönt es endlos zwischen den Zeilen 
dieser glanzvollen Wortberauschung hervor. Seine masslose 
Eitelkeit traktierte den genialen Musset als „Kind mit blonden 
Haaren,^^ und machte sich förmlich lächerlich in den an- 
mutigen Yersen „An ein junges Mädchen, das Haare von 
mir verlangte.^^ Unglücklicher Lamartine! heut wünschen 
wir nicht mal seine Yerse mehr. 

Zu geringschätzig als Grandseigneur, zu generös als 
christlicher Almosenspender, um geregelte Einkünfte zu be- 
wahren, versteigerte er seinen Namen und Ruhm an eine 
reiche Engländerin, mit der er im übrigen eine Musterehe 
führte. Als er trotzdem in finanzielle Nöte kam, da ein 
von Jehova selber inspirierter Dichterfürst auch äusserlich 
als Fürst auftreten musste, bezahlte die Nation mehrmals 
seine Schulden. 

Faust, der kein Gretchen vorführt, sondern sein Welt- 
weh in den Schoss einer Millionenheirat rettet — wie 
zog das Ewigweibliche ihn doch hinan! Seine kalte und 
gezierte Keuschheit galt als seraphische Tugend voll Liebe, 
Glaube, Hoffnung. „So vermengte Frankreich die Hoffnung 
mit dem Glauben^\ kennzeichnet Brandes („Die Reaktion in 
Frankreich'^) nicht übel die Lamartinemode. Wenn John 
Stuart Mill einmal von modernen Menschen verlangt, „tätigen 
Anteil am öffentlichen Leben zu nehmen^\ so betrieb dieser 
moderne Psalmist sein Yersemachen als öffentliche Tätigkeit. 
Er glaubte einen wühlend aushöhlenden Strom flammender 
Begeisterung ins Bett fester Form zu zwängen und seelisches 
Metall, zu edlen Gebilden erstarrt, in goldene Kunst um- 
zugiessen. Doch das Metall war brüchig und die Flamme 
meist nur Bruthitze eines Backofens. Der boshafte St Beuve 
erklärt („Montagsplauderei", 29. Oktober 1849) die Prosa- 
umschreibung früherer Yersstimmungen, wie der alternde 



— 54 — 

Dichter es im „BafaeP^ beliebte, für unwahrer und falsch- 
pathetischer als die einstigen Strophen. Gewiss! Diese un- 
leidliche Affektation fühlte sich nur wohl in der Draperie 
feiner Yersgespinnste. Übrigens fehlte auch seiner so 
reizenden Form die Eigenart. Selbst die leichte Rhytmik 
eines salomonischen Liedes „Ainsi qu'on choisit une rose 
dans les guirlandes de Sarons^^ machten ihm die Ghor- 
gesänge der beiden Bibeldramen Racines vor. Ja, wenn 
dieser würdevoll steife Klassiker seine klösterliche Jugend- 
erziehung besingt „Je vois ce cloitre v6n6rable", tut er uns 
seelisch wohler, als die grenzenlose Sentimentalität schmach- 
tender Sehnsucht nach „ewigem Frieden^^, ohne den Kampf 
zu kennen, unseres modernen Jahrhundertverwandten. Natur- 
liebe? „Un seul etre vous manque et tout est d6peupI6.'^ 
Alle Grotten und Haine haben nur wiederzuhallen: „Tout 
disent, ils ont aim^s." So macht sich überall das Ich mit 
beschränkten Regungen breit, dürftig und bedürftig. — 

Wir haben uns nicht enthalten, ironische Töne anzu- 
schlagen, wozu sein Dichten wie seine Person reichlichen 
Anlass geben, aber so wenig sympathisch seine Erscheinung 
in beiderlei Hinsicht, wollen wir keine Ungerechtigkeit und 
keinen Zweifel darüber bestehen lassen, dass er unter den 
Repräsentanten des Jahrhunderts wahrlich nicht die schlechteste 
Figur macht. Wie in seinem Dichten, so masslos überschätzt, 
doch gewisse Saiten anklingen, die ein respektvolles Gehör 
heischen, so hat auch seine Persönlichkeit trotz ihrer gecken- 
haften und unbewusst unwahrhaftigen Auswüchse einen 
gewissen grossen Stil. Wer sich den schönen Lamartine 
etwa als einen zierlichen Salonlöwen vorstellte oder einen 
seraphischen Schmachtlappen, täuschte sich ungemein. Nie 
gab es eine männlichere vornehmere Schönheit als die dieses 
stolzen Kopfes und dieser ritterlichen Gestalt. Jn jede 
Geste, jeden Zug dieser stattlichen Erscheinung schrieb die 
Natur gelassen das grosse Wort : Edelmann. Nichts an ihm 
war gemein und kleinlich, Höflingsservilität und Bigotterie 
lagen ihm fern, als Bourbonismus und Klerikalismus ihn 
zum Laureaten krönten. Seine Unwahrhaftigkeit, wohl zu 
unterscheiden von berechnender Heuchelei, beschränkte sich 
auf Verwechselung überspannter Hochgefühle, die nur dem 



— 55 — 

Hirn am Schreibtisch entsprangen, mit wirklichen „Schauungen'\ 
wie der Buddhist es nennt, eines erlösten Herzens, sowie 
auf glattpolierende Zustutzung seiner geschraubten Gott- 
seligkeit, als ob jemand beim Beten übers Kruzifix weg in 
den Spiegel schiele. Überall Pose. Wer lacht nicht ärgerlich, 
wenn er einem seiner besten tragischen Gedichte die Note 
hinzufügt: „Ich habe diese Yerse nie wieder gelesen, es war 
genug sie geschrieben zu haben !'^ Wer lacht nicht, wenn 
er von Rafael, seinem Alter Ego, versichert, dass er Romeo 
und Julia oder Don Juan und Haidee geschaffen haben 
würde, was nun freilich schon vorweggenommen war! Eine 
tollere Verkennung seines wirklichen Ranges hat noch kein 
Dichter zweiter oder dritter Ordnung wie er gewagt. Aber 
darum darf man noch nicht blind sein für die unleugbare 
Seelenkraft des eigenartigen Mannes und die Selbstberauschung 
seiner Überzeugungen an sich. Seine Weihestunden waren 
nicht immer ein Wahn, etwas Prophetisches und Über- 
sinnliches trat manchmal ihm nahe, und selten seit den 
Indischen Yeden hat jemand für die letzten Seufzer und 
Aufschwünge eines Gottsuchers so machtvollen, öfters tief- 
sinnigen, mitunter sogar blitzesklaren Ausdruck gefunden. 
Das katholische Dogma freilich gingbei solchem Gottsuchen 
bald in die Brüche, das Christentum verflüchtigte sich 
immer mehr zu einem Deismus, der zuletzt pantheistischer 
Theosophie glich. Und siehe da, plötzlich verschwanden 
Christus, Kirche, Royalismus wie eine Theaterdekoration und 
ein richtiger Demokraterich kam zum Vorschein, wie er 
derlei früher so gern als Sprössling Lucifers gebrandmarkt 
Und nun wirtschaftete er selber in luciferischem Revolutions- 
stil, schrieb die Geschichte der Girondisten, die ihn wiederum 
zum Herold einer ganzen Zeit machte, ward 1848 Präsident 
der Republik. Von dem Girondistenbuch ist an sich nicht 
viel zu sagen. Mit grossem literarischem Talent geschrieben, 
sonst ganz ungründlich und oberflächlich, versucht es die 
1848 leitende Klasse der bourgeoisen Intelligenz, die mit 
Humanität, Liberalität, Brüderlichkeit und schönen Redens- 
arten die Menschheit zu befreien hoffte, dem rauhen Realis- 
mus des Jakobinertums — jetzt Sozialismus genannt — 
gegenüberzustellen. Wie er politisch ein echt girondistisches 



— 56 — 

Fiasko machte und sowohl Junischlacht als Dezemberpatscb 
die wahren realen Mächte offenbarten, so überwältigt auch 
in seinem Werke der Schatten Robespierres alle attischen 
Symposien der Oironde. Es ist nicht sein geringstes Ver- 
dienst, dass er das ruhelose Gespenst des ,,Unbe8techlichen^^ 
bannte, dass jenes Phantom des blutigen Scheusals, wie es 
noch in allen Geschichtsbüchern herumspukt und durch 
Taines perfide Fälschungen neue Nahrung schöpfte, endlich 
greifbares Leben gewann in tieftragischer achtunggebietender 
Gestalt. Nichts empfand Lamartine mit so echter innerer 
Ergriffenheit nach, wie Robespierres Untergang. Dies aber 
soll uns ein Merkzeichen sein, wieviel gesunde starke 
Menschlichkeit, welch ein Stück tüchtiger Natur, welche 
innere Läuterung sich immerhin hinter der gezierten Pose 
des Salonbarden verbarg. 

Ein schöner Mann, der sich von den Frauen anbeten 
lässt, bekommt immer etwas Lächerliches und Weibisches. 
Dem Lächerlichen entging er nicht und sein weihevolles 
Priestertum im Frack ladet zur L-onie ein. Wer stets im 
Übersinnlichen schwelgt muss sich doppelt davor hüten, im 
äusseren Gebahren nicht dem Sinnlichen der Welteitelkeiten 
zu fröhnen. Aber Weibisches haftete ihm, dem Frauenlob 
und Kirchensänger, ebensowenig an, wie etwa dem Abb6 
Liszt einer ihm sehr verwandten Virtuosennatur, welche 
unter scheinbarer Süsslichkeit so edel und grossgeartet die 
Löwenmähne schüttelte. Dieser altfranzösische Kavalier war 
ein Braver und es mag ein herrlicher Anblick gewesen sein, 
wie er als Revolutionsheld sich stolz und todesverachtend 
einer aufgeregten Pöbelmenge entgegenwarf. Mit Ironie be- 
gannen wir, mit Hochachtung müssen wir enden. Die Ironie 
tut gut, um sich solche Phantasmagorie vom Leibe zu halten, 
die in höchst irdischem Liebchen den „Baum der Anbetung^^ 
umarmt und in die Allnatur dumpfige Höhlenkathedralen 
hineinbaut, wo im Grunde vor der eigenen Gottähnlichkeit 
kirchlicher Weihrauch dunstet. Selbst seine so redliche und 
reine Entwicklung zum unkirchlichen Humanitär schmeckt 
nach Selbstberäucherung, ward die Phrase nicht los. Freiheit 
und Menschheit fasste er, wie seine Girondins, sozusagen 
künstlerisch auf, als marmorne Götterbilder, halb Venus 



— 57 — 

halb Madonne, vor denen man Festzüge eleusynischer 
Mysterien veranstaltet Aber Festzüge und künstlerische 
Harmonien lösen solche Mysterien nicht Wie den intriganten 
und unfähigen Phrasendreschern der Gironde, eignete auch 
ihm ein versteckter Streberehrgeiz und nicht zufällig lief 
seine allmähliche Bekehrung zum Revolutionären genau dem 
siegreichen Anschwellen dieser Strömung zur Seite. So 
genoss er noch einmal den Triumph, an der Spitze des Zeit- 
geistes zu thronen. Doch der Zeitgeist ist so veränderlich 
and wechselnd, wie die Überzeugung Lamartines, und wer 
seiner Zeit diente, verzichtet meist auf die Nachwelt Der 
sich für einen Ewigkeitsmenschen hielt, ward bloss eine 
interessante Episodenfigur der Literaturgeschichte, kein 
Repräsentant der Menschheit, sondern nur seines schwan- 
kenden Jahrhunderts. Schon beut ist sein Name ausserhalb 
Frankreichs so gut wie vergessen, und es wird nicht an 
solchen fehlen, die verwundert fragen, warum wir mit ihm 
den Beigen eröffnen. Was er unsem Grossmüttern und 
Vätern war, wer ahnt das heute noch! Ein bekannter 
Lyriker wie andre mehr. Ebensogut könnte man den guten 
Oeibel als Jahrhundertvertreter vorführen? Mit Verlaub, 
doch nicht. Das hiesse auch dem Dichter Unrecht tun, denn 
ein blosser Eklektiker war er kaum, und wir verhehlen nicht, 
so skeptische Haltung wir ihm gegenüber bewahren, dass 
aus seiner Persönlichkeitsnote oft das Flügelrauscben eines 
Adlers erklingt Und den Zeitgenossen war er mehr als ein 
beliebiger Poet von Talent, ihnen erschien er ein Prophet 
und Sendling höherer Mächte, ein Bote aus der Unendlich- 
keit Darin gipfelt seine welthistorische Bolle, vergänglich 
in sich selber, aber nicht unberechtigt Einen falschen 
Propheten, möchten wir ihn nicht nennen, obschon sein 
Einfluss sowohl in seiner ersten reaktionären wie in seiner 
zweiten revolutionären Periode kein segensreicher war und 
einen bunten Nebel missleitender Enthusiasmen ums unklare 
und unreife Jungeuropa spann, zu dessen Dolmetsch er in 
beiden Perioden sich erniedrigte, während tief im Unbewussten 
seines Innern ein brahminisches Streben nach dem Absoluten 
wirkte. Es heisst ihn unwillkürlich sehr hoch stellen, wenn 
wir gestehen, dass einiges in den „Harmonien^ an der Inder 



— 58 — 

unvergleichliche Bagghavad Gita erinnert Ja, wir müssen 
gestehen, dass sein Rüstzeug, die tönende rollende Phrase, 
mehr ein blosses Handwerksgerät, nicht der deckende Aus- 
druck seines hohen Wollens erscheint Pose und Phrase 
haften bei ihm an der Oberfläche, nichts davon befleckte 
seine innere echte Gottes- und Menschenliebe. Wenn also 
dieser Sänger, dessen Weltruhm die ganze erste Hälfte des 
Jahrhunderts überstrahlte und dessen Gestalt im ganzen fast 
alle sogenannten Sommitäten dieser Jahrhunderthälfte über- 
ragt, heut so gut wie verschollen ist, wenn weit geringere 
Figuranten der politischen und literarischen Schaubühnen 
sich bleibenderes Andenken sicherten, wenn dem immer 
blamierten und sich blamierenden Mitteleuropäer der Name 
Dickens und dergleichen tausendmal vertrauter im Ohre 
klingt als der erlauchte Name Lamartine, so beweist dies 
nicht dessen Bedeutungslosigkeit, sondern nur die intellek- 
tuelle und moralische Herabminderung der Seelen am Jahr- 
hundertende. Da sogar der Riese Byron dies Los des Ver- 
gessenwerdens teilt, so werden wir uns des geflügelten Wortes 
erinnern, das ein Berliner Literat in den achtziger Jahren 
ausspie: „Wenn ich Versehe sehe, muss ich schon lachen. 
Er war von je ein Lyriker, Dramatik ist schon schwieriker." 
Gewiss, aber nur die Dramatik von Shakespeare, nicht von 
Sardou oder Sudermann. 

Der kleine Spezialismus einer reintechnischen Auffassung 
überflutete heute auch die Ästhetik. Da preist man unsere 
so verderblich entnervende romantische Schule wegen ihrer 
zweifellos bedeutenden künstlerischen Qualitäten. Da werden 
Kleist, Hebbel, Grillparzer auf Piedestale gehoben, von denen 
sie himmelhoch auf Lamartine und seinesgleichen herab- 
schauen, die Könner auf die inspirierten Woller. Das lächer- 
liche Schemasprüchlein vom grossen Woller und kleioen 
Könner, das nur ungesunde Verkehrtheit dogmatisch ver- 
bohrter Formbegriffe austönt, passt ja auch auf Lamartine. 

Der selbstgefälligen Unwissenheit des Auslands gegen- 
über verdient es allerdings Betonung, dass die genannten 
Deutschen (und noch mehrere andere z. B. Grabbe) an 
Stärke und Grösse dichterischer Gestaltung weit alle nicht- 
deutschen Poeten des Jahrhunderts hinter sich lassen. Allein, 



— 59 — 

auch in Frankreich selber erstand ein, ästhetisch betrachtet^ 
viel grösserer Dichter in Musset, und in Deutschland müsste- 
dies für Lamartine Zugegebene in anderem Sinne gleichfalls 
für eine allerdings noch immer lebendige Grösse gelten,, 
nämlich für Heine. Da sieht man eben, wie wenig bloss 
ästhetische Massstäbe bedeuten, wie viel oft das Wollen und 
wie wenig das Können bedeutet Nur den paar Oanz- 
grossen ward es verliehen, für alle Zeiten und Völker zu 
wirken. Und doch nur vermöge ihres gewaltigen Inhalts, 
nicht wegen ihrer Form. Romanen oder Leute des 25. Jahr- 
hunderts werden nach ihrem persönlichen Oeschmack sehr 
viel an Shakespeare, Goethe, Byron zu tadeln haben, aber 
vor der Geistesgrösse solcher Schöpfungen kniet die Mensch- 
heit sicher bis in fernste Zeit Was aber gilt Grillparzers- 
oder Hebbels Können dem Ausländer? Man muss Carlyle» 
vorlaut ungerechten Essay über Grillparzer gelesen haben, 
um sich davon einen BegrifT zu machen. Dagegen hat Heine,^ 
dem es an Gestaltungsgabe so sehr gebrach, überall selbst 
in schlechter Übersetzung Freunde gefunden. Denn di& 
bessere Menschheit sucht in der Poesie, während die minder- 
wertige in Boman und Bühne nur leere Unterhaltung und 
Spannung begehrt, keine ästhetischen Spitzfindigkeiten, son- 
dern den Aufschrei ihres Leids oder Erhebung zu höherem 
Sein. Mit welchen Mitteln, gilt ihr gleich, und hoch- 
fliegendes Wollen fesselt den unverbildeten Sinn weit packen- 
der, als subtiles Können. So bleiben denn Lamartine und 
Heine die wirklichen Repräsentanten des Hochpoetischen 
im 19. Jahrhundert 

Lamartines Sekretär hat eine Geschichte erzählt, die 
besser als alles die wahre Yomehmheit dieser schönen Seele 
enthült Der Messiasbarde diktierte einen Umriss franzö- 
sischer Literaturgeschichte und ging dabei über Musset mit 
ein paar wegwerfenden Seichtigkeiten weg. Da warf der 
Sekretär die Feder hin: „Meine Verehrung für Sie, Meister^ 
verbietet mir, das zu schreiben. Lasen sie denn Musset je?^^ 
„Gott bewahre! Wie werde ich diesen unreifen, unsittlichen 
Phantasten auch noch lesen !^^ „Dann werde ich Ihnen 
Mussets Werke schicken." „Gut, ich werde sie lesen, ob- 
sqhon ich im Voraus weiss, dass mein Urteil das richtige.*^ 



— 60 — 

Da erhielt der Sekretär nach einer Woche die Bände zurück 
mit einem Billett: „Unsterblicher Musset! Verzeihe mir in 
der Ewigkeit, was ich an dir gefrevelt!'' 

Hätte man ihn aufgefordert, die ästhetischen Qualitäten 
<ler meisterhaft feinen „Contes" und „Proverbes*' zu be- 
wundem, so hätte er gleichgültig abgelehnt. Aber als er 
wohl in „Rolla'^ „Mainächten^' und der herrlichen Elegie 
„Souvenir'', dem schönsten und tiefsten Gedicht französischer 
Sprache, auf wahrhaft grosses Wollen und Ringen des Ge- 
dankens, auf wahrhaftes Gefühl des unendlichen stiess, da 
gab er sich überwunden. Warum nimmt trotzdem der 
grössere Dichter neben dem kleineren Lamartine die ge- 
ringere Stellung ein? Weil dieser blosse Woller, dieser 
reine Tor, dieser naive Parcival, aus einem Gusse war, weil 
er kein Künstler wie Musset, sondern bloss ein singender 
Mensch sein wollte, weil alles berufsmässige Literatentum 
ihm so fernlag wie dem „Dilettanten" Byron. 

Wir sind gewohnt, auf die verworrene erste Hälfte des 
Jahrhunderts herabzulächeln. Doch dass alle bedeutenden 
Sänger unseres tinteuklexenden Säkulums damals erstanden 
und allerorts ein Echo fanden, sollte unsre superkluge Nase- 
weisheit massigen. Über die Beaktionsherrlichkeit uns zu 
erbosen und die damaligen Völker des Polizeistaats zu be- 
jammern steht uns am wenigsten an, die wir unter gleichen 
oder grösseren Übeln seufzen. Bürgerkönigtum Louis Philipps 
mit Guizots Evangelium „Enrichissez- vous!" und die 
Achtundvierziger Putsche und ephemeren Gebilde muten 
unerfreulich an, aber die heutige R6publique Frangaise ist 
auch keine wohlriechende Pflanze. Was sage ich, wohl- 
riechend? Sie stinkt von Korruption der Bourgeosie. Selbst 
der vormärzliche Sozialismus der St. Simon, Prudhomme, 
Fourier hatte etwas anheimelnd Begeistertes, das ihm heute 
mehr und mehr abhanden kam. Unser finsterer Realismus 
zuckt über den Idealismus jener Tage die Achseln. Aber 
wie immer bewährt sich auch hier, dass nur der Idealismus 
Serge versetzt und Leben schafft. Seit 1871 arbeitet in 
Europa allerorts ein gewalttätiger Materialismus zur Ver- 
mehrung äusserer Werte oder zur Verbesserung der äusseren 
■Glückszustände. Und was erreichte er bisher? Nichts. Der 



— 61 — 

rasende Konkurrenzkampf führt aus Prosperitätsschwingungen 
immer wieder in Rückschläge und Notlagen. Die latente 
Beyolution, überall auf der Schwelle lauernd, bat selber den 
Olauben an sich verloren, betrachtet die Möglichkeiten ihrer 
Hagenfrage-Lösungen selber skeptisch gestimmt mit düsteren 
Augen. Jene Poseure und Phraseure aber haben doch wirk- 
lich erreicht, was sie wollten: dort endgültige Verdrängung 
des legitimistischen Prinzips, hier die vielgeliebte Verfassung, 
in Deutschland und Italien die Einheit, in Ungarn die Un- 
abhängigkeit Wenn Deutschland und Italien auch ihre 
politische Auferstehung und Einigung erst später auf dem 
Scblachtfelde fanden, so sind es doch dieselben Leute ge- 
wesen, die dies zu stände brachten, dieselben, die vorher 
zwanzig Jahre lang mit ihrem Idealismus danach gewühlt 
und gebohrt, nicht etwa bloss geseufzt und geschwatzt. 
Eifern wir ihnen nach, ohne in ihre Irrtümer zu verfallen! 

Als ehrwürdiger Vertreter dieser mächtigen Vorbereitungs- 
epoche, mächtig und bedeutend, wenn wir sie mit der 
hochmütigen zweiten Hälfte des Maschinenjahrhunderts ver- 
gleichen, wenn auch schwach und ohnmächtig im Vergleich 
zum 18. Jahrhundert und dem Titanen-Interregnum 1789 
bis 1815, winkt Lamartines Bild zu uns herüber. Und ob 
er auch nicht zu der Menschheit wahren Grössen und der 
angebliche Halbgott nur in die Reihe schwacher Übergangs- 
menschen gehört, Heil der Zeit, die sich solche Götzen 
wählt! Wen hatten denn wir, uns seelisch an ihm auf- 
zurichten zu edlerer Menschheit? Die sogenannten Männer 
von Blut und Eisen, die nebenbei auch dem Gold ihrer 
Börsen liebevolle Pflege widmen, wiegen federleicht in der 
Schale des ewigen Richters. 

Auch gehört stärkerer Heldensinn dazu, als gewöhn- 
licher Soldatenmut ihn aufbringt, allein einer siegreichen 
wütenden Pöbelmasse zu trotzen und sie nur durch Gewalt 
der Persönlichkeit und Glanz der Beredsamkeit zu bewältigen. 
So hat sich Lamartine am 25. Februar 1848 unauslöschlich 
dem Gedächtnis eingeprägt und ausserhalb der Literatur 
einen geschichtlichen Namen erworben. Sein Vorbild Mon- 
sieur de Chateaubriand, dessen angebliches Übermenschentum 
die Franzosen freilich rührend überschätzen, wäre dazu nie 



- 62 - 

fähig gewesen. Dieser ausserordentliche Mann, dessen Wesen 
in der vorhergehenden Umwälzangsepoche wurzelt, schwebte 
der damaligen französischen Jugend als Muster vor, sie 
lernte von ihm das stolze Ichgefühl, den eisig in sich selbst 
beruhenden Individualismus. Dass die Franzosen noch heut 
jene unheimliche Seelenruine mit besonderer Pietät beachten, 
hängt nur mit ihrer erstaunlichen Pietät für alles Literarische 
zusammen, wodurch sie sich, man mag sagen was man will, 
als das vollendetste Kulturvolk ausweisen. Dies soll an sich 
kein unbeschränktes Lob sein, denn ein zu hohes Mass von 
Zivilisation bringt eine gewisse innere Schwäche mit sich, 
etwas Chinesisch-Gekünsteltes, einen Mangel an Originalität 
Nicht unter gleichmässig verteiltem Sonnenschein zucken 
die Blitze des Genies empor, sondern aus Wetterwolken 
einer sonst stickigen und materiell ungünstigen Atmosphäre. 
So haben die bildungsheuchelnden Deutschen, deren Literatur 
nie entfernt solche soziale Stellung und Bedeutung im Leben 
der Nation einnahm, unendlich mehr Geniales erzeugt, als 
die abgeschliffenen literaturbeflissenen Franzosen. Aber 
Rührung und neidvolle Achtung verdient es doch, deren in- 
niges Verwachsen sein mit den Meistern ihrer Sprache! Letz- 
tere gilt ihnen als höchster nationaler Schatz, und sie, die 
eine reiche Fülle von Talenten, aber kein einziges Genie 
vom ersten Bange, ja kaum einen einzigen Yolldichter 
nach deutsch-englischem Masstab — nur in Musset stak das 
Zeug dazu — hervorbrachten, hegen und pflegen ihr lite- 
rarisches Besitztum als Hauptpalladium ihres naiven Grössen- 
wahns, an der Spitze der Zivilisation zu marschieren. So 
erklärt sich auch die ehrfürchtige Scheu, mit der sie Chateau- 
briands grossen Namen im Pantheon einbalsamieren. Denn 
mehr als ein grosser Name ist das nicht. Nämlich, sobald 
wir die historische Wertmessung verlassen, die ihn sehr 
hochstellt als Bahnbrecher der Neuen Poesie, und bloss 
ästhetische Abschätzung vornehmen. Wer kann heut noch 
diesen deklamatorischen Stilübungen ein anderes als literar- 
historisches Gewicht zubilligen! Gewiss, wenn Lamartine in 
„Milly ou la Terre natale'' oder in „La Vigne et la maison" 
das Dach seiner Väter mit Rhetorik umrahmt: „Puis la porte 
a Jamals se forma sur le vide'S so atmet Ren6s Abschieds- 



— 63 — 

prosa vor seinem Ahneoheim mehr echte Ergriffenheit. Wir 
verkennen nicht, dass die noch bei Rousseau ungelenk pomp- 
hafte und rhetorisch leblose Sprachform in Ghateaubriands 
H&nden eine belebtere Fülle und Wärme erhielt Lamartine 
hat oft nur Sätze aus Ren6 in Verse gebracht, wie „emportez 
moi comme eile, orageux aquilons"^ eine berühmte Stelle 
Chateaubriands wiedertönt Vieles bei letzterem blendet 
durch gleissende Lichter und rembrandsche Schattengebung, 
auch durch Anmut plastischer Wendungen. Noch in den 
^Härtyrem^^, wodurch er der katholischen Reaktion eine 
zweifelhafte Huldigung darbrachte, seinem Hauptwerk, finden 
sich Stellen von seltener unheimlicher E[raft und als Ge- 
stalter steht er ohnehin viel höher als Lamartine. Niemals 
aber wird man den Eindruck der Unnatur los. Selbst seine 
famosen Naturschilderungen, die damals eine Revolutionierung 
des französischen Styls bedeuteten, schmecken nach Theater 
und Ballet Diese Ferien in „Attala'^ und ,,Ren6", wo auf 
transatlantischen Stromfahrten mal ein Kanoe, mal ein 
Ochsenfrosch, mal ein Sonnenuntergang vorüberzieht, je nach 
Bedürfnis der Laune, sind künstlich arrangiert. Flaubert in 
„Salambo^' hat von ihm dies Geheimnis gelernt, aber es 
bleibt Kunst und wird nirgends Natur. Und wie steht es 
mit den seelischen Nuancen, die dieser hochmütige Welt- 
schmerzler in seine Gebilde auflöste? „Wer Kräfte empfing, 
soll sie dem Dienst der Menschheit weihen^\ heisst es in 
jfi&nif^ Aber Chateaubriand verstand unter Menschheit nur 
sich selber und weihte sich dem Ichdienst mit einer messia- 
nischen Überzeugung, als wenn Er der eigentliche Über- 
mensch wäre, der wahre Napoleon. Sein Hass gegen diesen 
entsprang dem Neid, seiner bourbonisch- klerikalen Polemik 
riecht die Unaufrichtigkeit aus allen Poren. Monsieur le 
Vicomte kannte vom Noblesse Obligo nur die tadellose 
äussere Haltung und den aristokratischen Hochmut ä Tabri 
des hommes, den er zuletzt auch auf König und Standes- 
genossen ausdehnte. Ihm gab es nur einen Hochgeborenen, 
ihn selber. Sein innerer Cynismus, unter feierlicher Maske 
versteckt, nicht offen und redlich wie der Skepticismus eines 
Montaigne, eines Stendhal, stellte sich auch ä l'abri aller 
Überzeugungen. Man besitzt ein Exemplar des „Essay über 



— 64 — 

die Revolutionen^^ mit Marginalbemerkungen des Autors am 
Bande, worin er seine eigenen Sophismen verspottet Das 
Überlaufen des bourbonischen Ministers zur Opposition aas 
gekränktem Ehrgeiz fiel ihm leicht, denn was kümmerten 
ihn Thron und Altar! Er sass auf eigenem Thron des Ich 
vor dem Altar seines angeblichen Genius. 

Wie anders Lamartine, den man so oft ihm vergleicht! 
Die geschwollene Verschrobenheit seiner Schwärmerei erhob 
sich oft zu echten Aufschwüngen heiligen Ringens nach 
Wahrheit, seine Ichverliebtheit vergiftete nicht seine selbst- 
lose Liebe zum Guten, sein geistiges Schwanken verwirrte 
nicht die in sich selbst gefestigte moralische Schönheit 

Ehre dem Jünglingsalter des Jahrhunderts, Ehre dem 
alten Lamartine! 



-^iP^f^ 



Italia ünita: Baribaldi nnil Hazzini 

unter Earopens übertünchter Höflichkeit verbergen sich 
noch manche biederen Kanadier, die sich gern seitwärts in 
die Büsche and dem Nivellierungsdrill der weichlichen 
Eoltorbehaglichkeit ein Schnippchen schlagen. Freilich 
moss allerlei romantisches Gebüsch dazu vorhanden sein, 
und wo fände sich das reichlicher als im paradiesischen 
Garten aller Romantik und aller Spitzbuben, dem heissen 
Boden, wo das alte Römertum den Begriff des Banditentums 
zur Weltplünderung erhob und die Renaissance den Räuber- 
hauptmann höflich Kondottiere nannte. Damals hiess er 
Fra Diavolo und Fra Moreale und behauptete, ein politischer 
Eriegsmann zu sein, der an den Meistbietenden seine Frei- 
lanzen verkaufte. Wenn es hoch kam, erbeutete er sich 
wie Francesco Sforza ein kleines Reich vorübergehender 
Dauer. Und selbst als ein päpstlicher Prinz das Machia- 
vellibuch vom ,Fürsten' nur durch Banditenstreiche in Tat 
zu übersetzen wusste, endete das weltgeschichtliche Stücklein 
als klägliche Posse und der geträumte Einheitskönig Gesare 
Borgia fiel nicht als Cäsar, sondern als haltloser Abenteurer. 

Nun wohl, unserem gesegneten neunzehnten Jahrhundert 
der matten Seelen blieb die Ehre vorbehalten, den ruhm- 
reichsten Bandenhäuptling eine Bahn wandeln zu sehen, die 
sich unverwischbar dem geschichtlichen Gedächtnis eingrub. 
Die alten Kondottiere blieben geflickte Lumpenkönige, die 
als Lorbeer mehr oder minder silberne Löffel stahlen und 
sich begnügten, auf Kronen verzichtend, lieber güldene 
„Kronen^^ in blanker Münze in die Tasche zu stecken. Hier 
aber sah man einen selbsternannten Bandenführer wirkliche 

Beibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 5 



— 66 — 

Kronen erobern und verschenken, wie einst das welt- 
gebietende Bäabertum in Forum und Eapitol. Dieser 
Schlagetod ward ein mörderischer Moreale für alle Unter- 
drücker und dieser Diavolo, allen Feinden des italienischen 
Volkes ein Gottseibeiuns, erschien allen unterdrückten 
Europas ein vorbildlich heiliger Fra Angelico, ein Engel 
der Befreiung. Was der düstere Machiavellischüler in 
wilder Selbstsucht umsonst erstrebt, sich den Gesare zur 
Yerbrecherbestie herabwürdigend, das erreichte der schlichte 
Freischärler, weil er naiv und gläubig für eine grosse Sache 
focht, selbstlos wenigstens im landläufigen Sinne. Richard 
Wagner meinte: deutsch sein, sei etwas der Sache wegen 
tun. Nun, dann bekundete Garibaldi, dem Namen nach ein 
Abkömmling longobardischer Garibalde, wahrlich seine 
deutsche Blutquelle. Freilich darf man die germanische 
Mischung und Befruchtung Italiens, welcher dies im Alter- 
tum so praktisch nüchterne Lateinervolk seine künstlerische 
Genialität und Idealität verdankt, nicht überschätzen. 
Meisterhaft wies Taine (Voyage en Italic) nach, dass die 
Lombarden schon nach kürzester Frist sich latinisierten, ihr 
nordisches Denken und Fühlen ganz im üppigen Strom 
romanischer Altkultur untertauchten. Und so gab es auch 
nie einen echteren Vertreter Gesamtitaliens als unsem 
modernen blondbärtigen Garibald, dem bezeichnenderweise 
grade die südlichsten Sizilianer am verständnisinnigsten 
zujubelten. 

Auch wollte der geheimnisvolle Gang des Schicksal- 
karma im Völkerleben, dass gleichzeitig die andere vor- 
stechende Charakterseite der italienischen Basse ihren 
vollendetsten Ausdruck fand. 

Feldherm, Staatsmänner, Hierarchen, Künstler findet 
man auch anderswo. Man braucht nicht nach Rom zu 
pilgern, um Cäsaren und Kirchenväter zu treffen. Aber 
für zwei seltsame Typen blieb das Land der Abruzzen die 
klassische Heimat: den Banditen und den Verschwörer. 
Nicht mal das rückständige Spanien lässt seine Faulheits- 
romantik ähnliche Blüten treiben und selbst hierin zeigt 
sich die unerschöpfliche Energie des bevorzugten lateinischen 
Mutterlandes aller romanischen Volksgebilde. 



— 67 — 

Dem Oermanen sind diese Missgebiirten rückständiger 
Staatsyerhältnisse völlig fremd. Nur in Englands ältesten 
Zeiten renommierte ein fabelhafter Bobin Hood, der gälische 
Hochlandräaber und viebstehlende Orenzer suchten sich um- 
sonst etwas Romantisches anzuschminken. Hätte Scott sich 
nicht des Rob Roy und Burns in seinem prächtigen Volks- 
lied des Wegelageres Macpherson angenommen, kein gesunder 
'englischer Gommonsense hätte solche Burschen als etwas 
Anständiges emstgenommen. Der Out-Law galt im allge- 
meinen als Wilddieb oder Yiehstehler und es bezeichnete 
•die endgültige Yernichtung der Stuartsache, dass die letzten 
Mohikaner des schottischen Hochlands, die Rothäute einer 
untergehenden Rasse, ihre gemeinen Räubergelüste als Ja- 
kobitenpartei ausleben wollten. Auf dem Feld von Culloden, 
wo die Elans für immer vom Eisenpflug englischer Kultur 
wegrasiert, erlag die letzte Spur des primitiven Bandentums 
im ausseritalienischen Europa. Umsonst schickten Armag- 
nacs und Landsknechte sich an, das Condottieretum nach 
Zentraleuropa zu verpflanzen. Sie gingen schwächlich dabei 
unter oder mussten sich als amtlich offizielle Soldateska dem 
nationalen Staatszweck einfügen. Englische Free-Lances in 
britischen Eroberungszügen auf Frankreichs Boden schwemmte 
Joanne d'Arcs Volkserhebung weg. Als in den deutschen 
Religionswirren ein Albrecht Alcibiades, Mansfeld, Christian 
von Braunschweig Eondottieresitten einführen wollten, brach 
sie alsbald die überwiegende Gewalt der staatlichen Ord- 
nung. Selbst in der alle Bande lösenden Zügellosigkeit des 
dreissigjährigen Erieges blieb den Soldatenhorden das staat- 
liche oder nationale Gepräge gewahrt und der genialste aller 
Bandenchefs versenkte gar bald den Wallensteiner im Fried- 
länder, im deutschen Reichsfürsten mit echtnationalen 
Zukunftsplänen. Die deutsche schwarze Bande bei Pavia 
machten Frundsbergs patriotische Landsknechte unter dem 
Rufe nieder: „Schlagt tot für Eaiser und Reich !^', da sie 
das vaterlandslose Reislaufen in fremdem Sold als Hoch- 
verrat empfanden. Dort nahm auch des Schweizers Eriegs- 
prestige, in nationalem Zusammenschluss für die Heimat 
erworben, ein böses Ende, indem Franzens Schweizer Söldner 
vor den patriotisch entflammten deutschen Landsknechten 

5* 



— 68 — 

das Weite suchten. Der letzte Best der Schweizer 
Kondottiereunart verblutete im Tuilerienhof und es scheint 
bezeichnend, dass auch später die Schweizer in Neapels und 
des Pabstes Sold wider Garibaldis nationale Freischaren 
nichts mehr vermochten. 

Solche Erörterung dünkt dem nicht überflüssig, der das 
Oaribaldi-Phänomen in seinen Wurzeln packen will. Denn 
umgekehrt gibt es einen Wink für die innere Oleichartigkeit 
seines Freischarensystems mit der mittelalterlichen Banden- 
gattung, dass diese auf Sizilien und vor Bom, selbst bei 
Montana, so kraftvollen Garibaldiner zum ersten Mal eine 
trostlose Niederlage (Aspromonte) erlitten, als sie auf reguläre 
Truppen des eigenen Nationalstaats stiessen. Sie, die so 
tapfer gegen Ausländer und Tyrannenknechte gestritten, 
liefen davon, als die Staatsordnung ihres einigen Italien 
sich gegen sie wendete. 

Taines geistreiche Paradoxen, auch den italokorsischen 
Cäsar als Spätling der Borgia-Benaissance, gleichsam ein 
letztes giganteskes Aufbäumen des sterbenden Kondottiere- 
tums, auszulegen, konnten nur Oberflächliche verwirren. Des 
Genie-Löwen imperatorisches Schalten und Beutesuchen lässt 
sich überhaupt nicht einer historischen Gattung angliedern, 
der „Übermensch" wird immer ein Einziger sein, dem ab- 
normen Geschlecht der „Isolierten" oder „Wildlinge" an- 
gehörig. Ebensogut möchte man Cromwell einen Banden- 
häuptling nennen, der doch tatsächlich, indes der klassisch- 
römische Sinn des Korsen sich der bestehenden Staatsmacht 
anpasste, als Anwerber einer besonderen Bebellentruppe 
begann. Der grundlegende Unterschied, abgesehen von allen 
sonstigen historischen Wertmassstäben, steckt hier darin, 
dass das revolutionäre Genie mehr oder minder nur aus sich 
selber seine Erfolge holt. „Im Kriege sind die Menschen 
nichts, ein Mann ist alles," äusserte Napoleon und das 
Gleiche gilt überhaupt für die Gesamtlaufbahn solcher Welt- 
umwälzer. Nicht Bandenchefs, sondern Feldherrn grosser 
Nationalheere, enden sie ganz von selber als Alleinherren. 
,Der Einzige und sein Eigentum^* nämlich er allein und 
sein Genie. Da aber Genie das Nämliche bedeutet wie 
Schöpferkunst, Schaffen, Gestalten, so führt die Weltempörung 



— 69 — 

eines Napoleon oder in bescheidenerem Masse eines Crom- 
well natargemäss zur Ordnung, zur Staatsbegründung, dem 
äussersten Gegensatz des zerfahrenen Kondottiere-Unwesens. 
Aus den Untaten eines Cäsar Borgia konnte nimmermehr 
Ordnung keimen, auch darf man sinnbildlich sagen: was 
wären die Borgias gewesen ohne das ,Gift der Borgia,^ klein- 
liche Tücken, die ein Genielöwe verschmäht! Ja, was wäre 
Gäsare gewesen ohne Yäterehen Papst und Schwesterlein 
Lucrezia, toute la lyre, die ganze schwarze Bande dieses 
Verbrechergeschlechts! Der Löwe aber jagt allein, nicht 
wie Eondottierewölfe in Budein, denn nur das Budel macht 
ihre Stärke aus. Und so wird man denn auch in Garibaldi 
das echte Muster eines Bandenchefs erkennen: wenig in 
sich selber, schöpft er seine Kraft nicht aus der eigenen 
Persönlichkeit, sondern aus der Fahne, dem Losungswort, 
um das sich seine Horde sammelt. Er beherrscht sie nicht, 
darüber stehend, sondern ist eins mit ihr, zugleich ihr 
Sklave uud Abhängiger, denn ohne seine Mitläufer ist der 
Eondottiere ein Nichts. Das Ergebnis leitet sich natur- 
notwendig daraus her: Ordnung kann er nicht bringen, Un- 
ordnung schaffen ist sein Handwerk, und nur das unter- 
scheidet Garibaldi von all seinen Vorgängern, dass er eine 
morsche und schädliche Ordnung umstiess uud seine Un- 
ordnung einer neuen Ordnung die Wege wies. Diese selber 
aber zu schaffen, gebrach es ihm an jedweden Gaben. Er 
konnte nichts als erbeutete Reiche grossmütig an lauernde 
Erben verschenken, so wie edle Räuber der Legende in des 
Waldes tiefsten Gründen das erplünderte Gold freigebig an 
Bedürftige verteilen, ein famoser Rächer der Bosheit, der 
nicht um schnöden Gewinn, sondern aus ethischen Gründen 
wegelagert Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen! 
Den edlen Carlo Moor nahm er sich als Muster vor. Doch ^ 
ach, die böhmischen Wälder der Poesie sehen in rauher 
Wirklichkeit anders aus und bei Abällino dem grossen Ban- 
diten pflegt es nicht so edelmenschlich zuzugehen. Bedenkt 
man aber, dass noch heute der Korso und Sardinier sich 
mit Stolz in die Brust wirft: sein Bruder oder Vetter sei 
jener berühmte Bandit, der schon sechs Karabinieri erschoss, 
und noch in unseren Tagen ein ruppiger Musolino 



— 70 — 

allgemeiDe Beliebtheit bei der Bevölkerung genoss, ja das^ 
elegische Klagen über die gute alte Zeit ertönen, wo so 
mancher Forestiere und Inglese seinen ungerechten Mammon 
abgeschröpft bekam, wo der heroische Abruzzenr&uber nach 
echter alter Kondottieremanier Lösegeld heischte und Ohren 
abschnitt, sobald dieser Tribut nicht pünktlich zur Stelle, — 
ja, dann wird man sich nicht wundem, warum Garibaldi für 
ewig Italiens Nationalheld bleiben wird. Denn dieser Italia- 
nissimo begriff instinktiv, dass nur Bandenstiftung einer 
Maffia und Kamorra dem innersten Sehnen und Streben 
seines Volkes gerecht wird, und nach märchenhaften Eon- 
dottieretaten erfüllte er gleichzeitig das nationale Ideal des 
grossmütigen edeln Räubers. Abällino war, bei Lichte be- 
sehen, immer nur ein schofler Schinderhannes. Hier aber 
hatte man einen Musolino, wie die Pöbelphantasie ihn sich 
je geträumt, im Gewände eines Washington. Der Naive 
untersucht nicht die inneren Ursachen guten und bösen 
Tuens, er nimmt die Taten selber für vollwichtig hin und 
berauscht sich an äusseren Anzeichen selbstlosen Edelmuts^ 
ohne zu fragen, ob vielleicht die Trauben zu sauer waren 
und ob je ein Sterblicher, der hoch genug hinauflangen 
konnte, die Trauben ungekostet liess. Er fällt über Napoleon 
und Cromwell drakonisch das letzte Wort, dass diese nur 
selbstsuchtsvolle Ehrgeizige gewesen, während Washington 
natürlich ein makelloser Heiliger war, weil er sich nicht 
gegen die alleinseligmachende Republik auflehnte. Vielleicht 
gehört die Washingtonlegende zu den belächelnswertesten 
und wir müssen sie heranziehen, um Garibaldi gerecht zu 
werden. Des Yankee kriegerische Leistungen halten gar 
keinen Vergleich damit aus: was bedeutet der Überfall am 
Delaware neben dem Überfall von ganz Sizilien, Neapel und 
Kirchenstaat! Im übrigen haben wir in Washington den 
richtigen korrekten Gentleman englischer Artung, nicht ohne 
Würde und vornehme Haltung, voll redlicher Rechtlichkeit, 
der aber sonst Gott einen guten Mann sein lässt und jeden 
Sonntag in die Kirche wandelt mit glattgebürstetem Rock 
und dito reinem Gewissen, der eine reiche ältere Witwe 
heiratete und als solider Eigentumsverwalter die Neger- 
sklaverei für ein Erfordernis der sittlichen Weltordnung 



— 71 — 

hielt Ohne die gesetzliche Sanktion des heimischen Kon- 
gresses würde er bewaffnete Auflehnung gegen die hohe 
Obrigkeit niemals gewagt haben, das wäre kaum gentle- 
manlike gewesen und schickte sich nicht für so korrekten 
gottesfürchtigen Mann, sein Unwille über tyrannische Willkür 
war rein platonisch und nur sonstige Entwicklung der Dinge 
riss ihn fort, für das „Becht^^ einzutreten. Passive Geduld 
und angelsächsische Zähigkeit ermöglichten ihm durch stilles 
Ausharren einen Enderfolg, wo feurige Tatkraft und stolze 
Begabung ihm gebrachen und versagten. Seine repu- 
blikanische Bürgerlichkeit wie seine Sittenstrenge wuchsen 
auf dem gleichen Strauche nüchterner Mittelmässigkeit, die 
ja immer aus der Not eine Tugend macht Es liest sich 
ja gut wenn liberale Schwärmer, darunter leider auch der 
sonst rapoleonreife Byron, den sogenannten Cincinnatus des 
Westens dem korsischen Imperator als Vorbild entgegen- 
halten, aber Byron hätte privatim über solche Bänkelsänger- 
phrasen selber gespottet, wenn ihm jemand den richtigen 
Washington vorgestellt hätte. Nur eine phrasenhaft ideo- 
logische, von falschen Abstraktionen ausgehende, Kinderei 
versteht nicht das Muss, warum ein Napoleon notwendig als 
Weiterschütterer, ein steifleinener Geselle wie dieser Neu- 
engländer, der von puritanischen Pilgervätern nur den äusser- 
lichen Purismus, nicht die innere Olaubensglut geerbt, not- 
wendig als friedlicher Gutsbesitzer von Mount Vernon enden 
musste. Der Psychologe aber weiss, dass der Satz „Schweigen 
ist Gold'* bei denen besonders beliebt, die nichts zu sagen 
haben und deren Schweigen keine Gedanken verbirgt, und 
dass die Yersuchung autokratischer Machtfülle nur denen 
erspart bleibt, die nicht Kraft dazu spüren. In dieser Hinsicht 
gibt uns Garibaldi ein anregendes, obschon leicht lösbares, 
Problem auf. Denn an übertriebenem Selbstgefühl und 
temperamentvollem Naturell fehlte es ihm wahrlich nicht 
und doch Hess seine Uneigennützigkeit alle Ansprüche des 
gefeierten Yankee auf diese seltene Tugend weit hinter sich. 
Worauf verzichtete denn der, da ihm ernstlich doch gar 
kein lockendes Angebot gestellt ward? Garibaldi aber hätte 
es vielleicht in der Hand gehabt, auf eigene Faust ein Spiel 
der Ehrsucht zu beginnen. An Vorzeichen dafür Hess er's 



— 72 — 

nicht fehlen. So weigerte er sich, die Diktatur in Sizilien 
niederzulegen und die Annexion im Namen Yittorio Ema- 
nueles zu vollziehen. Und stets wahrte er eine Sonder- 
stellung, ohne Bücksicht auf die Wünsche der Einheits- 
monarchie, handelte als echter Kondottiere völlig unabhängig 
von fremder Zucht und Ordnung, abhängig nur vom Eigen- 
willen und Eingebung des Augenblicks, seiner impulsiven 
Natur gemäss. Aspromonte und Montana Messen die Folgen 
solcher Abenteurerpolitik, solcher naiven Eondottiere- 
gesinnung, die mit ein paar Handstreichen und Putschen 
Weltgeschichte zu machen und staatliche Entwicklungen zu 
erzwingen glaubt. Aber wo sollte er Selbsterkenntnis, wo 
vernünftiges Abwägen der Mittel lernen, wenn märchen- 
haftes Glück ihm das Reich beider Sizilien in den Schooss 
geworfen hatte? Die Tausend von Marsala, seine famose 
Bande, vollbrachten ja einmal tausend Wunder, warum nicht 
auch später und immer? Dass solcher Erfolg, worunter Er- 
stürmung des von dreifacher Übermacht verteidigten Messina 
den Glanzpunkt bildete, weniger seiner zweifellosen Tatkraft 
und Umsicht und der ebenso zweifellosen tapferen Be- 
geisterung seiner Freischaren zuzuschreiben sei, als vielmehr 
dem eigentümlichen Zeitmilieu, das seine Gegner lähmte, 
kam dem siegreichen Kondottiere nicht zu Sinn. Der 
Mann besass eine grosse Eitelkeit und glaubte an seinen 
Stern. 

Nicht ganz mit Unrecht Denn ein so fester Glaube an sich 
selber entspringt dem geheimnisvollen Erkennen, dass man 
ein Rüstzeug des historischen Karma sei, daher unüber- 
windlich wie das Schicksal selber. Deshalb minderten Gari- 
baldis Fehlschläge nicht nur nicht seinen Ruhm, seine Geltung 
als Nationalheros des Risorgimento, sondern nützten praktisch 
der von ihm verfochtenen Sache. „Aspromonte^^ diente der 
Einheitsmonarchie zum Beweis, dass sie auf gesetzmässige 
Ordnung unter allen Umständen hinsteuere, „Mentana^^ löste 
Italien vom unnatürlichen französischen Protektorat los, da 
die Nation, ohnehin durch das von Frankreich eingestrichene 
Trinkgeld für Solferino (Nizza-Savoyen) erbittert, niemals die 
ihrem Helden zugefügte Unbill vergass. Beide missglückten 
Versuche steigerten nur die allgemeine Verbreitung des von 



- 73 — 

Oaribaldis putzigem Adjunkten Pantaleone ausgegebenen 
Losungsworts: Rom oder den Tod! 

Überschauen wir also Garibaldis Lebenswerk, so müssten 
wir die Italiener verachten, wenn sie nicht unauslöschliche 
Dankbarkeit ihrem Befreier bewahrten. Mit solcher mensch- 
lich-schönen Pietät, wie mit den damaligen aufgeregten 
Schwärmereien des Auslands für diesen Märchenhelden, hat 
jedoch unparteiliche Geschichte nichts zu schaffen. Ihr 
bedünkt der weltberühmte Befreier nur ein famoser Banden - 
häuptling, das wahre Muster eines solchen, dessen stattliche 
Haltung bezaubernd auf die Menge wirkte, weil er selbst 
innerlich zu dieser Menge gehörte Nicht um Haupteslänge 
ragte er aus ihr hervor, wie die grossen Führer der Mensch- 
heit, sondern stak tief mitten drunter. Ein vorzüglicher 
Freischärler, wie auch seine Alpenscharmützel an Tiroler 
Grenze beweisen, voll natürlichem Mutterwitz und raschem 
Blick, ruhelos nach Taten schweifend, was er eben unter 
Taten verstand: phantastische Handstreiche, die oft wie 
Knabenstreiche aussahen. Natürlich sehr tapfer. Doch man 
kann tapfer wie ein Löwe sein, ohne doch die Mähne des 
geborenen Herrschers schütteln zu dürfen. Auch an einer 
gewissen praktischen Lebensklugbeit gebrach es ihm nicht, 
das zeigt manche Einzelheit seiner kurzen Administration 
auf Sizilien, seine Erkenntnis, dass er ohne Hülfe piemonte- 
sischer Regulärer die Volturnolinie und Gaeta nicht zum 
Fall bringen könne, vor allem seine Einladung an Vittorio 
Emanuele ins Lager von Capua und dessen erste Begrüssung 
dort als „König von Italien". Denn wer nur erhabene Selbst- 
losigkeit hier bewundert, irrt närrisch. Es kam Garibaldi 
schwer genug an, nicht selber als Oberhaupt einer italie- 
nischen Republik die Ernte seines Glückes einzuheimsen. 
Er beugte sich einfach der Gewalt von umständen, die sich 
ihm unwillkürlich veranschaulichten, als er die Grenze seiner 
Leistungsfähigkeit und derjenigen des Freischärlertums über- 
haupt vor Gaeta erkannte. Auch dass er alle Titel und 
Dotationen ausschlug, entsprach nicht einem Mangel an 
Eigennutz, sondern einer grössergearteten Eitelkeit So klein 
dachte der Eroberer und Befreier nicht von sich, dass er 
durch dynastische Rangverleihung in die Reihe gewöhnlicher 



— 74 — 

Eronendiener und Handlanger zurücktreten sollte. Gerade 
diese scheinbare Selbstlosigkeit hob ihn aufs höchste Piedestal 
der Macht, nur so blieb er sein Leben lang der bürger- 
liche Nebenkönig des Volkes. Man missverstehe uns nicht: 
idealen Sinn möchten wir Giuseppe Garibaldi nicht ab- 
sprechen, denn so überaus kläglich erscheint dem Wissenden 
die Menschennatur, dass schon viel dazu gehört, den Annun- 
ziatenorden oder den Herzogstitel auszuschlagen, und die 
Laufbahn grosser Männer sich am hübschesten macht, wenn 
ein Herr v. Bismarck zum Grafen, zum Fürsten, zum Herzog 
von Stufe zu Stufe .,höher" steigt. Derlei Scherze ersparte 
sich der grosse Eondottiere, der sich so gut zum ,,Herzog 
der Abruzzen^^ geeignet hätte. Als schlichter Garibald sank 
er ins Grab — wohl wissend, dass er nur so heimlicher 
König und Abgott der Nation bleiben durfte. Pose und 
Pathos in der Sucht, als antiker Römer zu gelten und auf 
Caprera als Cincinnatus hinterm Pfluge zu wandeln, daneben 
schlaue Berechnung bei dieser Idealität, beides aber un- 
bewusst und naiv, wie bei einem in fröhlichem Phrasen- 
rausch nachtwandlerisch dabinwandelnden Träumer. Der 
Eondottiere, wie er leibt und lebt! Fest überzeugt, selbst- 
los einer Sache zu dienen, indess er einfach dem dringenden 
Bedürfniss folgt, seiner Naturanlage als individualistischer 
Wildling zu fröhnen. In der Tat, wenn man Garibaldis 
stürmische Jugendabenteuer als Seemann und sein Vaga- 
bundieren in Südamerika bedenkt und des auffälligen Vor- 
gangs sich erinnert, dass es ihn nach dem ersten Misslingen 
der Einheitsrevolution unwiderstehlich nach dieser süd- 
amerikanischen Romantik zurückzog, aus welcher er sich 
auch seine tapfere Gattin, eine richtige Räuberbraut, her- 
holte, so fragt man sich mit Fug, ob er unter andern 
Verhältnissen nicht einfach dem Flibustier Walker geglichen 
hätte, der damals Nicaragua und Honduras unsicher machte. 
(In seiner Weise ein bedeutender Mann, intellektuell 
viel bedeutender, als der welthistorische Italiener gewesen 
ist, eine neue Auflage von Byrons ,,Cor8ar", der ja auch 
ein Feind der Unterdrücker sein will ) Zu derlei proble- 
matischen Naturen zählte Garibaldis schlichtes Heldentum 
freilich nicht, er war aus einem Guss ohne inneren Bruch 



— 75 — 

und Zerissenheit, von keines Gedankens Blässe angekränkelt,, 
aber nar weil er, gradeheraus gesagt, zu gewöhnlich, zu 
herdenmenschlich war. Von Hamlets Skrupeln wird am 
wenigsten geplagt, wer eben nicht in Hamlets reichem 
Geistesübermass erstickt. Fast ohne jede Bildung, von 
Fähigkeit zum Nachdenken nicht beschwert, stand der „Be- 
freier^^ ganz inmitten der beschränkt naiven Masse, zu deren 
Idol er sich deshalb so vorzüglich eignete. Das Volk liebt 
die Geistesaristokraten nicht, das ist seine eigentlichste 
Demokratie, und wie es seine eigenen kindischen und 
begehrlichen Auflehnungsinstinkte für ideale Freiheitsliebe 
hält, so staffiert es auch seine demagogischen Vertreter, 
wenn sie ihren Willen - zur - Macht als Rebellenhäuptlinge 
ausleben, mit idealen Tugenden aus. 

Noch einmal, wir möchten nicht missverstanden werden: 
Garibaldi war trotz alledem, was man gemeinhin eine edle 
Natur nennt, er hatte vom Helden nicht bloss die physische 
Bravour, sondern heldenhafte Züge des Gemütes. Ganz Ge- 
müt und Leidenschaft, sonst nur mit mittlerem rein praktischem 
Verstände begabt, glich dieser intellektuell so Geringfügige^ 
darin dem hochintellektuellen Lamartine, dass nichts 
Kleinliches und Gemeines seine etwas plumpe Vornehmheit 
befleckte. Doch solch gerechte Anerkennung seiner Lauter- 
keit beeinträchtigt dem Tieferblickenden nicht das Ver- 
ständnis, das wir in ihm lediglich einen letzten Ausläufer 
jenes Geschlechts von Konquistadoren und Kondottiere vor 
uns haben, in welchem die romanische Rasse ihre nomaden- 
haft individualistischen, nicht aber sozial und politisch im 
Gemeinwesen schöpferisch wurzelnden, Kräfte entlud. Von- 
den Kreuzzügon bis zur Eroberung Mexikos, von den 
Fahrten des Genuesen Kolumbus bis zu dem Zug der 
Tausend von Marsala schlingt sich hier eine gleichförmige 
Kette. Wenn Taine gewisse korsische Bandenführer, die 
als Verbannte mit einem Häuflein landeten und die ganze 
Insel erobern wollten, als Ahnen Bonapartes in Anspruch 
nimmt, so macht er sich nur lächerlich. Bringt man aber 
solche Erscheinungen in Verbindung mit Garibaldi, so wird 
die Ähnlichkeit eine schreiende. Ein freundliches Schicksal ge- 
stattete eben dem letzten Kondottiere, seine kampffrohe Unrast 



— 76 - 

und seinen ursprünglich ganz selbstischen Individaalismus 
ins Oewand altruistischer Idee zu kleiden, so dass er gleich- 
sam als erkorener Bravo der Freiheit sich einen geschichtlichen 
Kothurn unterschnallen durfte. Doch stelle dich auf ellen- 
hohe Socken, du bleibst doch immer was du bist, kichert 
Mephisto dazwischen. Gewiss liebte er heiss sein un- 
glückliches Vaterland, zugleich mit dem naiven Hass des 
Italers gegen alle ausländischen „Barbaren^^; doch wie be- 
zeichnend, dass ihn, als sein angeblicher Lebenszweck 
erreicht und sein Vaterland einig auferstanden, kein zu- 
friedenes Genügen in seiner ruhmreichen Villeggiattura 
festhielt, sondern er eiligst nach neuen Abenteuern aus- 
lugte. 

Der König ist tot, es lebe der König! die Einheitsidee 
tat ihre Schuldigkeit, jetzt kommt die sogenannte Menschheit 
dran, und der greise Bäuberhauptmann des Menschheits- 
Bisorgimento zieht auf neue Abenteuer ins verhasste Frank- 
reich, um als Don Quixote mit Windmühlen zu fechten. 
Denn siehe, wohl haben die Franzosen seine eigene Heimat 
Nizza heimtückisch eingesackt, aber der Tyrann Louis, 
dem man für Magenta und Solferino eigentlich danken 
sollte, hat nun einer Bepublik Platz gemacht, und „Bepublik'^ 
— ah, dies Zauberwort geht allem vor, macht uns alle zu 
Brüdern. Auf! wider die Kriegsknechte des nordischen 
Barbarendespoten, die sich erfrechen, gegen eine allein- 
seligmachende Bepublik ihr brutales Schwert zu zücken. 

„Garibaldi kommt? Das fehlte uns grade noch !^^ Dieser 
Stossseufzer Oambettas über den harmlosen Phantasten 
spricht Bände, zeigt die Kluft, die diesen Sagenhelden einer 
überwundenen Vorzeit von dem eisernen Bealismus grosser 
sozialer Maschinerie modernen Staatswesens trennte. Doch 
bezüglich der Harmlosigkeit täuschte sich Gambetta gründ- 
lich. Denn hier zeigte sich alsbald das richtige Merkzeichen 
desGondottiere: unbezwiugliche Eitelkeit. Dass der Gewaltige 
von Caprera nicht ohne weiteres als fremdländische Jung- 
frau von Orleans, als Erretter und Befreier Frankreichs 
gefeiert wurde, wurmte den angeblich selbstlosen Idealisten 
tief. Seine Bancune, von seinen beiden Kronprinzen 
Menotti und Bicciotti und dem Günstling Bordone gestachelt, 



— 77 - 

machte sich in der bekannten ekelhaften Eriegsgerichtsposse 
gegen einen französischen Obersten, sowie seinen verrückten 
Prahlereien an seine „jungen Soldaten der Freiheit^^ Luft: 
diese seine Strolche in Rothemden seien die ersten gewesen, 
die den Rücken deutscher Soldateska sahen ! Die Eroberung 
der preussischen Fahne in Dijon machte ihn vollends toll. 
Auf die Empfindlichkeit der gedemütigten französischen 
Nation, die er doch angeblich wie ein Bruder liebte, nahm 
er ebensowenig Rücksicht wie auf die militärischen Ope- 
rationen. Freund und Feind sind darüber einig, dass seine 
selbstgefällige Lässigkeit einen Hauptnagel zu Boorbakis 
Sarge beitrug. Dass französische Militärs bitter lachen, 
wenn der heilige Name des weltberühmten Heros genannt 
wird, kann man ihnen nicht verdenken. Immerhin gehen 
militärische Beurteiler mit ihrem Berufshass gegen Milizen 
und Freischaren hier viel zu weit. Garibaldi konnte nichts 
dafür, dass man ihn überschätzte, dass jenes Milieu-Olück. 
das ihn auf ein Piedestal erhob, den Umriss seiner Gestalt 
ins Masslose vergrösserte, bis der Bandenchef sich einen 
grossen Heerführer glaubte. Doch worin seine Begabung 
lag, davon lieferte er noch in dieser Schlussepisode seines 
wechselreichen Lebens genügende Proben: Der Überfall von 
Chatillon und die Gefechte um Dijon zeigen ihn immer 
noch als den Mann verwegener und geschickter Handstreiche, 
vor allem auch als den altbewährten Erreger der Massen. 
Seine internationalen Strolche fochten mit respektabler 
Tapferkeit, mit ungestümer Begeisterung, man kann es nicht 
anders sagen, und alles, was preussischerseits zur Ab- 
Schwächung dieser Erfolge vorgebracht wird, ist müssiges 
Gerede. Lächerlich mochte der grosse Kondottiere werden, 
verächtlich nie. Und so wollen wir bei aller Skepsis doch 
mit wohlwollender Achtung von dem merkwürdigen 
Menschen scheiden, dessen gespreiztes Ich als mittelalter- 
licher und so überaus italienischer Bandenchef noch einmal 
den atavistischen Rückfall im primitiv barbarischen Individu- 
alismus sogenannter Kraftmenschen, welche sich mit der 
ehernen sozialen Ordnung der nivellierenden Moderne nicht 
befreunden mögen, dem europäischen morschen und matten 
Kulturleben vor Augen führte. 



— 78 — 

Ob der Dichter mit dem König gehen soll, scheint min- 
-destens zweifelhaft Aber dass Verschwörer und Banden- 
iührer zusammengehören wie Zwillinge, liegt auf der Hand. 
Der grobe Oermane versteht nichts davon, er haut mit 
Knüppeln, und mannhaften Protest in tyrannos vermittels 
Dolchstössen verschmäht er. Englands sozialdemokratischen 
Aufständen unter Wat Tyler und Jack Gade gingen ebenso- 
wenig langwierige Oeheimbünde voraus, wie dem Losbruch 
-des deutschen Bauernkrieges, dessen „Armer Konrad^^ nur 
kurze Zeit und offen genug vorauswühlte. Gesetzmässiger 
Widerstand, dann offenes Losschlagen, so spielten sich idle 
englischen Rebellionen ab. Nicht so in der Heimat Gati- 
linas und der Sicilianischen Vesper. Auch die Jacquerie 
des Mittelalters und der Jakobinismus übten lange geheime 
Minierarbeit Es steht heut fest, dass die Klubs, lebhaft 
unterstützt durch die damals sich ausbreitende Freimaurerei 
{Logen der Illuminaten und Rosenkreuzer), allein die sonst 
ohnmächtige Missstimmung der Massen revolutionsreif 
machten. Dreihundert Jakobiner des Zentralklubs führten 
alle gewaltsame Entwicklung der Revolution herbei. Hier- 
bei vergesse man nicht, dass das gallo- germanische Nord- 
frankreich alles von konstitutioneller Gesetzmässigkeit erhoffte, 
dass im latino-gallischea Süden der eigentliche Sitz des Klub- 
wesens lag, dass auch das girondistiche Talent zur Intrigue 
und Konventikelverschwörung aus dem halbitalienischen 
Südosten stammte, dass nicht zufällig die Marseiller die 
Marseillaise nach Paris brachten. Diese ungewöhnliche 
Neigung und Begabung für Verschwörungen, nach dem 
klassischen Beispiel der Brutus und Gassius, durchzieht die 
ganze italienische Geschichte. Der ehrgeizige Wühler und 
Volkstribun Gola Rienzi berief sich auf Gajus Gracchus und 
jeder vornehme Jüngling, der einen Visconti oder Alessandro 
Medici mit dem Dolche abmurkste, ernannte sich zum Brutus. 

Doch wie der historisch weitaus bedeutsamste und er- 
folgreichste Bandenführer unserer Moderne angehört, so auch 
der gewaltigste politische Verschwörer aller Zeiten. Und 
wie zwischen einem Gonnetable von Bourbon, dem hoch- 
geborensten Gondottiere, mit seiner Plünderung Roms und 
dem niedriggeborenen Mann aus dem Volke, der seinen 



— 79 — 

Bothemden zurief: „Rom oder den Tod !^\ eine ethische Eluft 
klafft, die unendlich zu Gunsten unserer modernen Ent- 
wicklung spricht, so steht auch Mazzini ethisch wie intellek- 
tuell am höchsten unter allen Verschwörern der Oeschichte. 
Seine G^eschicklichkeit und nie ermattende Spannkraft in 
Bearbeitung seines eigentümlichen Berufes sind ohne Gleichen. 

„0 weh, die Genuesen !^^ seufzte schon Dante, da diese 
mächtige Handelsstadt keine Helden und Künstler, wohl aber 
berechnende glatte Plutokraten Ton jeher erzeugte. Die 
kühle, geduldig rechnende, zähe Geheimarbeit dieses genue- 
sischen Advokaten Giuseppe Mazzini, der als der andere 
Hlg. Josef des Risorgimento sich zu Italiens Schutzpatron 
neben St Josef Garibaldi aufwarf, hat wohl viel von genue- 
sischer Art, welcher man eine gewisse Perfidie zuspricht. 
Ja, es war perfides Intrigantentum, aber von der höchsten 
Art, und wenn bei Jesuitenmoral der Zweck die Mittel 
heiligt, so mochte dieser Advokatus Diaboli in Augen der 
Dunkelmänner sich gern damit entschuldigen, dass er per- 
fide nur gegen das Perfide, gegen die Feinde der Mensch- 
heit, handele. Der historische Ruhm seines Kameraden, des 
Bandenführers, überstrahlt natürlich den seinen, da die 
Menge ja nie das planende Hirn, sondern nur das Muskel- 
spiel des schlagenden Armes versteht Allein, jeder feinere 
Italiener weiss, dass Garibaldi nur ein Werk und Werkzeug 
Mazzinis, ein Schwert in der Hand des Geheimbündlers war. 

Ebenso hochgebildet und weitsichtig — in London ver- 
kehrte er intim mit allen geistigen Spitzen, so dem Ehepaar 
Carlyle — wie jener beschränkt und unreif, ebenso verstandes- 
klar und staatsmännisch, wie jener phantastisch und welt- 
unkundig, stellte Mazzini seine unerschöpfliche Organisations- 
kraft in den Dienst jener einen grossen Idee, die damals 
als fixe Idee aller besseren Italiener Denken beherrschte. 

Aber die nationale Wiedergeburt schien ihm eng verknüpft 
mit allgemeiner Revolutionierung der Menschheit, sein starrer 
Fanatismus schloss jedes Paktieren mit der savoyischen 
Monarchie aus und nur mit schwerem Herzen gab er sich einst- 
weilen damit zufrieden, dass die Einheit nicht auf dem Wege 
der Republik erfolge. Einstweilen, denn seinen Anhängern ver- 
machte er nichtsdestoweniger das republikanische Ideal und 



— 80 — 

tiefer, als man ahnt, hat es sich in weitesten Kreisen Italiens fest- 
gewurzelt. Ein durch Bildung und Besitz mächtis^er Teil denkt 
noch heut streng mazzinistisch, seinen tötlichen Hass gegen das 
Pabsttum insbesondere impfte er dem populären Empfinden 
ein. Die unauslöschliche Wut, mit welcher alle Klerikalen 
und Reaktionäre noch heut sein Andenken verfolgen und die 
noch in Leon Taxils gefälschten Freimaurerfabeln ergötzliches 
Echo fand, gibt einen Begriff von seiner „satanischen" Be- 
deutung. Zwar traf er bei Beginn seines Auftretens die 
Karbonari-Bünde vor, denn ohne Verschwörerei kann ein 
Yolk auf primitiver Entwickelungsstufe, dem jede Möglich- 
keit offener Opposition fehlt, nun einmal nicht bleiben. Auch 
hier begegnet uns das nämliche Symptom wie bei Garibaldis 
Kondottiere-Risorgimento: man fasst fälschlich als besondere 
Erscheinung auf, was nur dem Allgemeincharakter eines 
nationalen Milieu entspricht. Gibt's keine Karbonari mit 
politischen Zielen, so gibt's Kamoira und Maffia zu gemeinsten 
Verbrecherzwecken, auch sie natürlich mit politischen Tiraden 
verbrämt und eng in die „Politik", was man so zu nennen 
pflegt, die niedrige Stellen- und Bereicherungsjägerei des 
Staatshaushalts eingreifend. Und gibt's keine Mazzinischen 
Geheimbünde mit bestimmtem Leitmotiv, so keimt dafür der 
Anarchismus, diese entzückende Blüte moderner Kultur, wo 
bestiale Verbrecherinstinkte in verdrehten Gehirnen als hohe 
ethische Befreiungsideale rumoren, wo Zucht- und Irren- 
häusler eine Verschwörung aller Abnormen gegen die soziale 
Ordnung als eine heilige Liga der Welterlösung stiften. 
Es wäre übertrieben, Mazzini für diese moderne Assas- 
sinenwirtschaft mittelbar verantwortlich zu machen, da der 
Anarchismus, nirgendwo in Europa sonst triebkräftig, als 
nationalitalienisches Gewächs aus dem dortigen Milieukreis 
naturnotwendig herauswächst. Allein, leugnen lässt sich 
nicht, dass die düstere Hartnäckigkeit dieses Verbrecher- 
geheimbundes, der bezeichnenderweise nur im Nihilismus 
des barbarischen Moskowiterreichs sein anständigeres Gegen- 
stück findet, sozusagen in Mazzinis Schule ging. Denn erst 
er, ein Genie des Verschwörertums, brachte diese nationale 
Sonderart zu höchster Vollendung. Das zersplitterte und 
konfuse Karbonari wesen machte den fremden Gewalthabern 



— 81 — 

keine Angst, alle Futsche misslangen. Da erschien der 
willensmächtige scharfblickende Genuese und wob mit ent- 
schlossener Beharrlichkeit über ganz Italien, ja die ganze 
Welt, wo immer Italiener weilten, ein feines Spinngewebe, 
das sich mehr und mehr zu stählernem Netz verdichtete, 
österreichische, bourbonische und weltliche Pabstherrschaft 
einschnürend und erstickend. Wirklich ein seltenes Schau- 
spiel, diese ungeheure Yerschwörergesellschaft mit Filialen 
in allen Zentren Europas! Vor solcher Leistung hätten die 
famosesten Verschwörer aller Zeiten sich als ohnmächtige 
Waisenknaben gefühlt. Gleichsam auch ein Triumph moderner 
Technik und ihrer ausgedehnten Yerkehrsmittel ! Und alles 
geleitet von dem einen unheimlichen Grossmeister in London, 
der abwesend mit seinem ordnenden Geist das ganze revo- 
lutionäre Italien regierte! Welche Machtfülle sprudelt in 
dem Vorgang, dass unter den Augen der päbstlichen Re- 
gierung Mazzini so uneingeschränkt in Rom die Obmacht 
behauptete, dass sein Wink widerstandslos die römische 
Bepublik hervorzauberte, deren Kurzlebigkeit doch nur das 
rücksichtslos brutale Einschreiten Frankreichs mit ungewöhn- 
lichem Machtaufwand verschuldete! Und Mazzinis gewaltiger 
Odem blies auch jenen Todesmut seinen Landsleuten ein, 
den Europa von ihrer legendären Schwäche nie erwartet 
hatte. Zwar straften die Italiener die alte Legende von 
ihrer angeborenen Feigheit schon lange Lügen, als ihr 
Landsmann Napoleon , auf den sie so stolz waren und aus 
seinem Anblick erst Zuversicht auf ihre verborgene Kraft 
schöpften, sie zu militärischer Zucht erzog. Viele angeblich 
„französische^^ Infanterie- und Kürassierregimenter bestanden 
fast ganz aus Italienern, hatten ihre Depots von Forli bis 
Florenz, Bologna und Padua, und das piemontesische 111. 
de ligne gehörte zu den ruhmreichsten Truppenkörpern. 
Doch nach Zerstörung der napoleonischen Einheitsherrschaft 
zerfiel auch dies neugegründete Kriegcrtum, und mit leichter 
Hühe zerstreuten die Österreicher überall die Karbonari- 
scharen. Das änderte sich auf einmal unter Mazzinis 
Regiment, wie man es wohl nennen darf. Der reaktionäre 
Militarismus, dem leichtgläubig unser trockener modemer 
Realismus mit seiner höhnischen Geringschätzung aller 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 6 



— 82 - 

idealen Momente nachschwatzt, hat hier wie anderswo die 
Entstellung verbreitet, das reguläre sardinische Heer habe 
allein etwas Ernstes getan. Yerlachenswerte Unwissenheit! 
Was haben der heldische Untergang der Pisaner Stadenten- 
legion, die grimme Verteidigung von Brescia und Catania, 
die für immer ruhmvolle Gegenwehr von Venedig und die 
gradezu heroischen Kämpfe um Bom gegen doppelte fran- 
zösische Übermacht, wobei Garibaldis Freischar keineswegs 
die Hauptrolle spielte, sondern der beste Teil der römischen 
Bevölkerung, mit Karl Alberts und Vittorio Emanueles stets 
geschlagenen Truppen zu tun! Selbst bei San Martino 
(Solferino) dürften die zahlreichen Freiwilligen aus allen 
Gauen Italiens den trotzigen Elan der piemontesischen Sturm- 
angriffe hauptsächlich verursacht haben. Wer nun dies zu- 
gesteht, hat sich hingegen gewöhnt, die todesmutige Hin- 
gebung der Freibeitsstreiter immer mit Garibaldis Person in 
Verbindung zu setzen. Auch dessen Bothemden bestanden 
ja meist aus Mazzinisten und ihre erstaunlichen Taten auf 
Sizilien — wo alle vorherigen Aufstände durch Mazzini 
selber entfacht — verblassten keineswegs bei Montana, wie 
die historische Legende wähnt Wir selber wiesen im Licht 
genauer Forschung einmal nach, dass die angeblichen 
,, Wunder von Mentana*' höchstens Wunder freischärlerischer 
Tüchtigkeit gegen doppelte reguläre Übermacht gewesen 
seien. Dass die ungewohnte Wirkung der Faillyschen Ghasse- 
pots, nachdem die Freibanden bereits die päbstlichen Kreuz- 
ritter überwältigt hatten, eine Panik erzeugte, stimmt, ob- 
schon selbst feindliche Berichte zugaben, Garibaldis Nachhut 
habe heroisch den Bückzug gedeckt. Dass aber tausend 
Tote und Verwundete dem Chassepot erlagen, ist eitel 
Flunkerei, vielmehr übertraf der Blutverlust des so viel 
zahlreicheren und mit starker Artillerie versehenen Gegners 
(Garibaldi besass nur zwei Geschütze!) bei weitem den der 
Garibaldiner, und dass viele Rothemden in Gefangenschaft 
fielen, scheint lediglich eine Notfolge des verzweifelten 
Widerstands der Nachhut Wo bleiben da die „Wunder des 
Chassepots" gegenüber den schlechtbewaffneten undiszip- 
linierten Freischaren? Auf solche Beispiele sollten die Feinde 
jeder Volksmiliz sich doch nicht bonifen! Nun wohl, ganz 



— 83 — 

ebenso brav schlugen sich die Stadtmiiizen des Risorgimento 
überall, wo kein Oaribaldi und sein Olück sie anfeuerten, 
und hier, wie in den vielen Intermezzi gescheiterter und in 
Blut erstickter Einzelempörungen auf Befehl Mazzinis, fühlen 
wir überall den grossen Verschwörer als treibende Kraft. 
Dieser kalte Fanatiker goss seine feurige Energie durch alle 
Adern des weitverzweigten Bundeskörpers, seine Oeheim- 
gesellschaften stählten und vorbereiteten das Volk zu seinem 
todesemsten Werke. Aus Mazzini schöpfte Italien seine 
rastlos unbeugsame Begeisterung. 

Nicht dem „alten Löwen von Caprera", dessen Haupt- 
stärke im Brüllen lag, sondern den überraschenden Tatzen- 
schlägen und Sprüngen des stets im Dschungel geheimnis- 
voller Allgegenwart auf Lauer liegenden Tigers an der 
Grenze erlagen die Unterdrücker. Hannibal vor den Toren! 
Mazzini an der Grenze! Dieser Schreckensruf hauchte Ent- 
setzen in alle Tyrannenseelen. Spaziert man in Lugano 
durch das einsame Haus, dessen Erhaltung mit Gedenktafel 
eine Mazzini nahestehende jüdische Familie (Nathan) pietät- 
voll besorgt, wo Mazzini dicht am Feinde sein Yer- 
schwörungshauptquartier aufschlug, so erwehrt man sich 
nicht eines Schauers scheuer widerwilliger Ehrfurcht Ehr- 
furcht vor so gewaltiger Arbeit mit endlichem Erreichen 
des Ziels nach unsäglichen Mühen, Widerwille gegen die 
Heimlichkeit solch lichtscheuer Methode, die nur zu sehr 
an Yerbrecherpraktiken erinnert. Wenn die Anarchisten 
und Mailänder Verbannten, die heut in Lugano hausen, an 
Mazzinis Haus vor über pilgern, schauen sie zu ihm als ihren 
Stammvater empor. Für Italiener hat seine historische Art 
nichts Abstossendes, den Germanen aber wird solch unheim- 
lich unterirdisches Maulwurfswühlen niemals anziehen. Uns 
blieb des Romanen naive Skrupellosigkeit fremd, der als 
Unterdrücker wie als Unterdrückter einfach jedes Mittel der 
Grausamkeit und Hinterlist für berechtigt erachtet, um sein 
Recht durchzudrücken. Das Gift der Borgia widert uns 
kaum mehr an, als Mazzinis Dolche und Bomben. Denn 
diese beispiellose Yerschwörerarbeit umfasste alle Mittel 
und Möglichkeiten. Wo der Tiger den Sprung verfehlte, 
da biss die Schlange. Wo das Schwert des affilierten 



- 84 — 

Bandenehefs zerbrach, da zuckte das Messer des Heucbei- 
mords. 

Das Blut des päbstlichen Reformministers Bossi klebt an 
Mazzinis Händen und war dies einer jener politischen Morde, 
zu deren Entschuldigung man schon Massstäbe jenseits tob 
Gut und Böse suchen muss. ,JSr sei yerflucht, weil er mir 
das getan !^^ tobt Kleists Hermann, als er eine edle Tat des 
Septimius hört. „Nehmt eine Keule doppelten Gewichts und 
schlagt ihn tot!^ Grade weil Rossi von seinem Standpunkt 
das Beste wollte, ein edler und begabter Mensch, grade 
deshalb musste er sofort gemeuchelt werden, damit nicht 
das päbstliche Regiment durch ihn ein unverdientes Wieder- 
erstarken erlange. Das ist ja ganz folgerichtig, aber mit 
solcher politischen Mond, wo der höhere Zweck jede Untat 
beschönigen soll, verteidigt selbst der Anarchismus seine 
blödesten Frevel. Wie sein ausserordentlicher europäischer 
Einfluss durch geheime Verbindungen (Freimaurer) den ab- 
geneigten Louis Napoleon zuletzt doch zu bewaSheter 
Intervention für Italien bewog, so suchte Mazzini ihn zuvor 
durch Orsinis Attentat wegzuräumen, als er sich nicht 
gefügig zeigte. Wo Überredung nicht fruchtete, half Ein- 
schüchterung und die Geheimgesellschaften übten einen im 
Verborgenen schleichenden Terrorismus, dem sich niemand 
gefahrlos entzog. — Man wundert sich vielleicht, dass wir 
bisher den Namen Gavours nicht erwähnten, der als Dritter 
im Dreigestim der Befreier glänzen soll. Wir können diese 
Wertmessung nicht unterschreiben Dieser vortreffliche Graf 
aus alter Familie, human, liberal, patriotisch, und wie die 
schönen Worte alle heissen, mit denen Ordnungs- und 
Herdenmenschen einen Wackem aus ihrer eigenen Mitte 
abstempeln, leistete dem Haus Savoyen, dem Königreich 
Italien unvergängliche Dienste. Unter allen Lords und 
GenÜemen, die als besagte Liberale, Humane und der- 
gleichen ihre gemässigte Reformfreudigkeit in Salons, 
Rednertribünen und Ministerien spazierenführten, bleibt 
er die achtungswerteste Erscheinung. Seiner lautem 
Vaterlandsliebe kann man ebensowenig Aufrichtigkeit 
absprechen, wie seiner Staatsmannschaft planvolles Be- 
harrungsvermögen und erfinderische Gewandtheit Gleich- 



— So- 
wohl heisst es Bismarck herabsetzen, wenn man ihn mit 
Cavoor (warum nicht gar mit Grispi, und auch dies geschah!) 
TBTgleichen will. Bei der Grundverschiedenheit beider 
Nationen yermochte Deutschland keinen Mazzini hervor- 
zabringen, eine Garibaldirolle zu spielen fiel dort keinem 
ein, solch exotisches Revolutionieren bleibt im Norden eine 
innere Unmöglichkeit, da der Deutsche nur auf Kommando 
Hat betätigt und alles tollkühn Waghalsige, alles vulkanisch 
Temperamentvolle, ihm fernliegt So musste das Schöpferische 
der Einheitsbewegung bei uns auf gewöhnlichem ausgetre- 
tenem Geleise vermittels eines Ministers amtlich besorgt 
werden und alles Dämonische in Mazzini, alles Trotzige in 
Garibaldi färbte hier auf einen royalistischen Junker ab. 

Man braucht aber nur Gavours ehrliches Spiessbürger- 
gesicht anzuschauen, um zu begreifen, dass dieser sehr brave 
und sehr kluge Diplomat unmöglich mit einem so idealistisch 
antikonventionellen Elementarereignis wie dem Bisorgimento 
innerlich zusammenhängen konnte. Für Italiens Einheit und 
Freiheit kam es wahrlich nicht darauf an, ob es in monar- 
chischer oder republikanischer Staatsform sich gestaltete. 
Gavours ganzes Herz hing aber an konstitutioneller 
Monarchie, das blieb ihm die Hauptsache, der Patriot ging 
durchaus im amtlichen Minister auf. Mit den wirklichen 
Erfolgen der Bewegung hatte seine Staatskunst, wie man 
derlei naive Yersuche, historische Entwickelung offiziell zu 
beeinflussen, zu betiteln pflegt, blutwenig zu schafien. Dass 
er und sein origineller biderber König, dessen kleine 
behäbige Gestalt monarchische Legende vergeblich über 
Lebensgrösse auswattieren möchte, mit beiden Händen zu- 
griflTen, als Mazzini ihnen durch seinen Eondottiere ünter- 
und Mittelitalien und nachher durch die von ihm heran- 
beschworenen französischen Waffen Oberitalien schenken 
liess, dürfte doch kaum als historische Tat gelten. Fürsten 
und Minister nehmen eben so viel, als sie kriegen können. 

Gavours Überschätzung hängt eng mit der Mythe zu- 
sammen, die den lustig-schlauen wackeren Schnurrbartstreicher 
Tittorio Emanuele zu einem selbstherrlichen Urheber des 
Bisorgimento herauflügt, während beide zuguterletzt auch nur 
Figoranten des geheimen Oberregisseurs wurden, der ihnen 



— 86 — 

das Stichwort gab. Als echtem Macchiavellisten kam es 
dem unheimlichen Grossmeister der Revolution nicht darauf 
an, auch mit dem verpönten Turiner Hofe Fühlung zu 
gewinnen. Diplomat Cavour mit der kindlichen Ein- 
bildung aller berufsmässig „geschulten'^ Staatsmänner dachte 
wohl noch auf dem Sterbebette, dass er Mazzinis unheilvolle 
Macht zu Gunsten seiner Monarchie ausgebeutet habe, indess 
er nur ein Hebel des grossen Verschwörers blieb. Denn 
indem er, durch Einfluss und Anschluss des Mazzinismus 
ohnehin gebunden, mit jener feierlichen Überzeugung, die 
so viele zuckersiisse Liberale des Kontinents aus falschem 
Studium britischen Staatslebens schöpften, den Papierfetzen 
„Yerfassung^^ als Fetisch vorantrug und mit Feuereifer die 
Parlamentsmaschinerie nach britischem Muster ins Bollen 
brachte, vergiftete der arme Cavour, gehasst von den Reak- 
tionären, verachtet von den Revolutionären, unheilbar das 
monarchische Prinzip. Mit kichernder Schadenfreude sah 
Mazzini zu, wie das bigotte Haus Savoyen in unversöhnliche 
Todfeindschaft mit dem Klerus geriet und unlösbar in den 
Anti-Papismus verstrickt ward, wie sein starres ultra-legitimes 
Dynastentum ein unverwischlich revolutionäres GiBpräge 
erhielt, das schon im amtlichen Rangstempel »König durch 
den Willen der Nation^ sich festlegte. So bleibt Cavours 
konstitutionelles Königtum, einerseits auf Schritt und Tritt 
gehemmt durch die hier wirklich machthabende Schwätzer- 
wirtschaft in Monte Gitorio, andererseits zu tyrannischen 
Gewaltraassregeln und Grossmachtkitzel genötigt, um sich 
im In- und Ausland zu behaupten, nur eine Etappe zur 
Republik uiid zwar einer radikaleren, nach Mazzinis Herzen, 
als dieser sie je bei Lebzeiten hoffen konnte. Es ist, als 
habe dieser tief verschlagene Weitschauende Cavours 
Monarchie als notwendigen Durchgang zu seinem letzten 
Ideal vorgeahnt, die sich erst abwirtschaften müsse. Cavours 
liberale Staatsweisheit hielt nur für den Augenblick revolu- 
tionären Zersetzungsprozess auf. Wen sehen wir also als 
einzig Überlebenden auf dem Schlachtfeld? Mazzinis Dämon. 
Erst die künftige italische Republik wird der ganzen Grösse 
dieses düstern Einsamen gerecht werden, der einen „grossen^' 
Nationalhelden, einen „grossen^' Minister und einen „grossen^^ 



— 87 — 

König nur als gehorsame oder störrige Rosse vor sein heim- 
liches Triumphatorgespann schirrte. 

Grösse, ja, aber immer nur unteren Ranges. Dass er 
zo den schöpferischen Herrschematuren gehörte, dafür liegen 
keine Proben vor. Sein Metier blieb halt das Verschwören. 
Bei so fragwürdigem und vielfach unsauberm Handwerk 
kann nichts Monumentales herauskommen. So blieb der 
hochbegabte hochgeartete Gründer des modernen Italien wie 
sein Leben lang auch nach dem Tode sozusagen hinter den 
Coulissen, nur Eingeweihten in seiner vollen Bedeutung 
sichtbar. Eine natürliche Vergeltung, wie sie dem Lieb- 
haber dunkler Schleichwege meist begegnet Die Welt liebt 
das Offene, Sichtbare, Monumentale, die sieghaft strotzende 
Kraft, die offen ihre Eartentrümpfe auf den Tisch legt. Was 
trotzdem Mazzini eine reinere Weihe verleiht, das ist seine 
völlige Selbstlosigkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes. 
Nicht nur dass er darbte und litt für seine Sache, als 
Geächteter aller Throne vielleicht mehr Gefahren trotzte, als 
Garibaldi bei seinen Wagnissen, nach dem Siege aber 
jeglicher Belohnung aus dem Wege ging, gibt ihm stille 
Würde, sondern vor allem, dass auch Garibaldis geräusch- 
volle Ruhmespose, um derenwillen der eitle Eondottiere 
leicht auf banale materielle Güter verzichten konnte, ihn 
nicht lockte, dass er mit wohlwollendem Lächeln seinen 
heroischen Hampelmann die oberste Heldenrolle vor der 
gaffenden Menge spielen Hess ohne jedweden Anflug klein- 
lichen Neides. In diesem Lichte erscheint Mazzini wahrlich 
als der grössere Held von Beiden. 

National durch und durch, die vollendetsten Typen des 
italischen Volkstums, stehen der grösste Verschwörer und 
sein treuer Bravo, der letzte und berühmteste Eondottiere, 
vor uns als beredte Vertreter der modernen Demokratie, wie 
kein anderes Volk sie aufzuweisen hat. Freilich, Vertreter 
ihres Jahrhunderts waren sie, Vertreter der Menschheit 
nicht. Auch ihre Einreihung in die rote Internationale, 
welche sie doch unbewusst nur zu ihren nationalen Zwecken 
benutzten, und ihr aufrichtiger Menschheitsverbrüderungs- 
rausch konnten ihre innere Beschränktheit eher vermehren 
als mindern. Voltaires gelles Ecrasez l'Infäme klingt un^ 



— 88 - 

heutigen Skeptikern widrig ins Ohr, die wir historisch messen 
und nach tieferen Bezügen forschen. Das Infame, ja, ver- 
körpert sichs denn wirklich immer in Kirche und König? 
Ist ein echter Aristokrat nicht mehr wert als ein unechter 
Revolutionär, ein anständiger Fürst liebenswerter als ein 
heulender Derwisch revolutionären Hasses, ein frommer 
Priester nicht nützlicher für die Armen im Geiste, als ein 
au&tachelnder Pamphletist? Wie die katholische Kirche 
Jeden, der ihre barocken Dogmen ablehnt, des Seelenheils 
verlustig erklärt und selbst eine so geistvolle Person wie 
Ida Gräfin Hahn-Hahn in ihren letzten Konvertitenromanen 
ernsthaft auseinandersetzt, dass jeder anständige Protestant 
notwendig sich zu Rom bekehren müsse, Pio Nono ein makel- 
loser Halbgott, Mazzini ein leibhaftiger Teufel, jeder Frei- 
maurer ein Sendung der Hölle, jeder Priester ein Heiliger 
sei, so lässt der hartgesottene ,Freidenker^, wie sich beschränkt 
unfreie Zeloten der Negation zu nennen pflegen, nicht gelten, 
dass ein Bruder Freimaurer oder Rothemd je etwas anderes 
als ein Heros, ein Pfaffe je was anderes als ein stinkender 
Heuchler, Päpste und Fürsten je anderes als Ausgeburten 
der Hölle sein könnten. Jedem geifernden Hetzkaplan steht 
ein ebenso besessener Radikalapostel gegenüber, der hoch 
und teuer versichert, dass nur Ausmerzung aller Vertreter 
von Thron und Altar die Menschheit reinigen und sofort zu 
einer Legion von Engeln umgestalten, die Erde zu einem 
Paradies machen müsse. „Mit des letzten Pfaffen Darm 
hängt den letzten König auf ^, was meinte wohl Diderot zu 
seinem Yers, wenn er als Spirit auf die Saturnalien des 
Terreur herunterschauen konnte? Gibt der zur Macht 
gelangende Demagog, gibt das souveräne Volk selber irgend 
einem Cäsarenwahnsinnigen etwas nach in Dünkel, Ichsucht 
und erbarmungsloser Zertretung fremder Rechte? Möchte der 
freidenkerische Zelot nicht gradeso gern mit Inquisitionen- 
und AutodaF6s den Frommen ihren Kinderglauben entreissen? 
Schwört er nicht mit gleicher Borniertheit auf die halüos 
unbeweisbaren Dogmen des Häckelschen Darwinismus? Ja, 
um zum empirischen Fall zu kommen, bewerkstelligten die 
so radikal modernen politischen Formen des neuen Italien 
eine wesentiiche Glückserhöhung des Volkes, das sich vielfach 



— 89 — 

im alten Augiasstall und Schlendrian wohler fühlte und 
unter Steuerlasten und Ausbeutung zusammenbricht? Hat 
sich die Maffia nicht ärger entfaltet, denn je zuvor? Brütete 
das ,befreite^ Italien nicht den Basilisk des Anarchismus 
aus? Nirgendwo stützt das monarchische Prinzip sich so 
ausschliesslich auf Beamte, Offiziere, Stellenjäger, die aus 
der Staatskrippe fressen wollen, während das Volk indifierent 
oder feindlich, der besitzende gebildete Bürgerstand republi- 
kanisch gesinnt, aber wird die unvermeidliche sozialistisch- 
republikanische Bevolution etwas Besseres bringen, nicht dem 
Anarchismus die völlige Anarchie entspringen? Hat die 
geschmähte österreichische Fremdherrschaft nicht die Indu- 
strie gefördert, den heutigen relativen Wohlstand Ober- 
italiens ermöglicht? Ward selbst die Einheit nun absolutes 
Out, wo die durch Gebirgszüge und Stammesart getrennten 
Provinzen innerlich wieder auseinanderstreben und ein 
uralter Föderalismus, den schon Alt-Bom schwer überwand, 
immer wieder der Zentralisierung spottet? So bleibt von 
Mazzini-Garibaldis Werk nichts übrig als Abschüttelung der 
Fremdherrschaft, denn es ziemt sich nicht, dass Fremde ein 
grosses Kulturvolk niederhalten. Neben diesen einzigen 
positiven laufen negative Ergebnisse. Selbst die künst- 
lerischen Anlagen Italiens befinden sich heut in Docadence. 
Repräsentanten der Menschheit? nein, nur „Yolks- 
repräsentanten^^ im guten und Übeln historischen Sinne des 
Worts. Adio, Mazzini, ade, Garibaldi! 



-e>l}^- 



Der verschleierte Prophet: Schopenhaner. 

Zeiten politischen Niederganges und sozialer Ver- 
sumpf ang begünstigen ein lethargisch -traumhaftes Hin- 
dämmern des Geistes, der sich in sich zurückzieht und 
ins Reich der reinen Ideen einspinnt. So nahm die deutsche 
Metaphysik ihren Aufschwung aus der Kleinheit und Gedrückt- 
heit des deutschen Staatszerfalls. Die Berliner Salons mit 
dünnem Tee und dünnen Butterbroten widerhallten nicht 
nur von ästhetischem Geschwätz und musikalischer Schwär- 
merei, sondern auch von philosophischen Schlagworten der 
Hegel, Schelling und Fichte. Dies ging so bis in die 
sechziger Jahre hinein, wo realistisches Tatbedürfnis für 
immer diese nachdenksame Geistesrichtung verdrängte. Auf 
den deutschen Universitäten, sogar auf Landgütern des 
Adels und in weiten Kreisen des Bürgerstandes, da der all- 
gemeine deutsche Bildungsstand bis Mitte des Jahrhunderts 
durchaus die hohen Überlieferungen der Weimarer Zeit 
fortsetzte, grübelte und disputierte man über die höchsten 
Fragen, jenseits von Gut und Böse der Materie, weil man 
über die praktisch naheliegenden einfachen Fragen der 
deutschen Wirrungen und Irrungen sich nicht nachzudenken 
getraute. Die hohe Obrigkeit verbot so verwickelte Gegen- 
stände, wie kritische Erörterung über den Segen der Klein- 
staaterei und des Absolutismus, doch die Phänomenologie 
des Geistes stand dem beschränkten Untertanenverstand 
offen. Talleyxand erzählt in seinen Memoiren ergötzlich, wie 
Napoleon dem edlen Zaren ein weites Feld der Philanthropie 
mit ffinweis auf die unterdrückten Griechen eröffnen wollte, 
um ihn von unedler Befleckung mit schnöden zentral- 



— 91 — 

europäischen Angelegenheiten abzulenken. So hatten unsere 
hochmögenden Demagogenriecher auch nichts dagegen, dass 
der biedere Deutsche Freiheit im Reiche der Träume und 
Schönheit im Gesänge suchte. Früher freilich, als das 
jugendlich aufflammende Deutschland noch nicht ahnte, dass 
ihm keine Blütenträume reifen sollten und gegen das 
fränkische Joch die Waffen schmiedete, da waren selbst 
Philosophen zu Hyänen geworden, die mit zähnefletschendem 
Berserkergrimm zum Kampfe riefen. Den Hegel hatten in 
Jena Napoleons Kanonen geradeso unsanft geweckt, wie den 
Gatten der Christiane Vulpius, der nachher sinnig aufs 
Schlachtfeld pilgerte, um osteologische Präparate zu gewinnen, 
damit die bleichenden Menschenknochen doch für etwas gut 
seien. Das Phänomen Goethe erkannte das Phänomen 
Napoleon als jenseits der ephemeren Erscheinungen des 
Tages- und Völkerlebens schwebend: „Worüber trüb Jahr- 
hunderte gesonnen, er überschauts im klaren Oeisteslicbt, 
das Kleinliche ist alles weggeronnen, nur Meer und Erde 
haben noch Gewicht.^^ Und Hegel sah unter den Phäno- 
menalerscheinungen gleichsam den Erdgeist in Napoleon 
verkörpert. Aber der wackere Weberssohn Fichte, dem sich 
nach des schottischen Bischof Berkeley Vorgang die All- 
Materie vollends in transzendentalen Nebel auflöste, klammerte 
sich unterm erschütternden Einfluss nationaler Erregung fest 
genug ans Reale, indem er mitten unter französischem 
Regiment seine Vorlesungen an die deutsche Nation den 
Berliner Studenten vermittelte. Schon hier machte sich 
übrigens der Anklang ans Altindische geltend, dessen 
Kenntnisnahme mitsamt Sanskritstudium, Buddhismus und 
Sakuntala plötzlich, man weiss nicht wie und woher, in 
deutschen Bildungskreisen auftauchte und von da ab durch 
die Romantiker in der Literatur verbreitet wurde. Fichte 
wies darauf hin, dass Deutsch eine Ursprache wie der 
Sanskrit, nicht gemischt wie andere europäische Idiome, und 
das politisch zertretene deutsche Volk daher neben den 
Indem die vornehmste Rasse der Indogermanen sei. Etwas 
Wahres in diesem damals zeitgemäss notwendigen und 
tapferen Chauvinismus verkennen wir nicht, nur übersah 
Fichte, dass gerade das, worin die vornehme Überlegenheit 



— 92 — 

der Inder und Deutschen beruht, ihre politische Schwäche 
in der gemeinen realen Welt verursachte. Die kosmo- 
politische Universalbildung der Deutschen, heut als Humani- 
tätsdusel von einem slavisierten undeutschen Freussen- 
deutschland verpönt, hocherhoben über die brutale Insich- 
beschränktheit der Briten und Franzosen, machte jene Grösse 
aus, die Fichte uns mit Recht zuerkannte, die aber eben in 
Widerspruch zu nationalem Kirch turmspatriotismus stand. 

Das bewundernde und begeisterte Verständnis damaliger 
deutscher Geistesspitzen, wie Goethe und Hegel, für den 
korsischen Mahatma entsprach viel mehr jener von Fichte 
gepriesenen Vornehmheit deutschen Denkens, als der 
Napoleonshass, den Fichte entzünden wollte, so berechtigt 
dem weltlich natürlichen Fühlen die zornige Erhebung 
gegen die Herrschaft des unstreitig minderbegabten gallischen 
Fremdvolkes erscheinen mag. Transzendentales Denken 
passt nicht zu irdischen Aussenphänomenen, es reimt sich 
schlecht, wenn ein Professor der absoluten Idealität ins 
ephemere Bealgetriebe eingreift. Und so hat Fichtes edler 
Patriotismus ihm wohl ein Denkmal im Herzen seines 
Volkes gesetzt, ihn selbst als Philosophen aber gerichtet 

Das Denksystem eines Fichte oder Schleiermacher hielt 
eben die Eigenprobe im Zusammenstoss mit der Wirklichkeit 
nicht aus, und die spätere pantheistische Naturträumerei der 
Schelling und Schlegel erwies ihre innere Überzeugungs- 
schwäche, indem sie unwillkührlich zu reaktionärem Halb- 
dunkel verführte. Der Transcendentalist Fichte wollte wie 
Kleist alle Wälschen totschlagen, der Pantheist Schelling 
und Konsorten fand sich als wohlbestallter Königstreuer 
mit jeder Unnatur des Feudalstaates gehorsamst ab, schläferte 
mit weltentrückter Passivität die Geister ein, ohne sie in 
ein wirkliches erlösendes Jenseits zu befördern, wo man 
allerdings keinen Wälschenhass, aber auch keine Ehrfurcht 
vor der hohen Obrigkeit kennt Bei Hegel bUdeten sich 
ähnliche Symptome aus, auch er suchte seine an sich 
staatsfeindliche Lehre, die keine offenbarte Autorität hätte 
bestehen lassen können, dem bevormundenden Prinzip an- 
zupassen. Dieses gesamte philosophische Sinnieren und 
Spintisieren, von dem man so viel Aufhebens machte, 



- 93 — 

obschon jede nicht angewandte, nicht mit tapferer Logik zum 
Aussersten fortschreitende, nicht sozusagen bekenntnisfrohe 
Philosophie nur auf spielerische Ergötzung des Verstandes 
hinausläuft, wirkte nur erschlaffend und wie ein Yerrat am 
wahren Denken Denn nur krass materialistische Logik 
kann zur Beschönigung und Rechtfertigung der Gewalt- 
haberei führen wie einst die von Hobbes, dessen derbroher 
Johnbull- Verstand sogar das göttliche Becht der Stuarts auf 
jedwede Unterdrückung folgern durfte. Das Auflösen der 
Bealität in Phänomenalerscheinungen und blosse trans- 
zendentale Vorstellungen des Geistes müsste hingegen not- 
wendig YöUige Absage an die gemeine Wirklichkeit in sich 
schliessen, und da die platonischen „Ideen^^ zuletzt alleine 
übrig bleiben, so heischt Erkenntnis und Verehrung des 
Absoluten, des Schillerschon Wahren, Guten und Schönen 
auch notwendig resoluten Abscheu vor dem Unwahren, Un- 
guten, Anti- Idealen der Herren dieser Welt Die Philo- 
sophieprofessoren aber waren nur tapfer gegen den lieben 
Gott, der ihnen nichts anhaben konnte, schon den Pfaffen 
gegenüber zogen sie sich in gezierte Würde passiven 
Schweigens sicherer Studierstuben zurück. 

Da mochte wohl Erinnerung an den viel grösseren, den 
geistigen Urvater all ihrer Systeme, den Gründer der 
Erkenntnistheorie, den alten Eant erwachen. Wohl zwang 
auch ihn die schnöde Bealität in Gestalt eines dicken 
dummen bigotten Wüstlings, den die Menschen „Majestät^^ 
andudelten, die Majestät der Wahrheit zu verleugnen, indem 
er zwar keinen Widerruf, aber eine geheime Verpflichtung 
zum Schweigen unterschrieb, die er obendrein sophistisch 
verklausulierte. Gewöhnliche Entschuldigung dafür gibt es 
nicht, da doch einfach nur niedrige Bücksicht auf Stelle 
und Honorar seiner Professur zu Grunde lag; immerhin 
darf ein Denker einwenden, dass man nach Sokrates' Lehre 
stössigen Ochsen aus dem Weg gehen müsse und nicht 
deshalb über Zeit und Baum denkerisch erhaben sei, um 
jämmerliche Menschlein eines besonderen Kampfes würdig 
zu erachten. Doch die Menschheit lässt sich auf solche 
Oelehrtenkniffe nicht ein, ihr gilt mit Becht am höchsten die 
Überzeugungstreue, das Martyrium für ein Ideal. Unfähig, 



— 94 — 

den 6eist-an-sich zu werten, nur von Willen und Empfindung 
gelenkt, überwältigt sie bloss jene äussere Yeranschaulichung 
durch die Tat: wer für seine Wahrheit leidet und stirbt, 
der muss nach ihrer Meinung die Wahrheit haben. So hat 
sich bekanntlich das Christentum nur durch Verfolgung und 
Martyrium zum weltlichen Siege verhelfen. 

Wenn schon Jakob Böhme, wenn selbst der Jude 
Spinoza sich keineswegs solche Widerrufe abpressen Hessen, 
so leuchtet ja für immer durch die Jahrtausende der heilige 
Scheiterhaufen, auf welchem der grösste Denker nachindischer 
Zeiten, der wahre Ewigkeitsmensch Oiordano Bruno, zum 
ewigen Lichte emporstieg. Nie verhallen wird sein Donner- 
wort, als das gewaltige Haupt, das ihm die Schergen vor 
vor dem Richtspruch niederdrückten, sich wieder erhob: 
,,Wohl mit mehr Angst fällt ihr das Urteil, als ich es ver- 
nehme/^ wie erblasst unser ganzes gepriesenes Jahr- 
hundert der Aufklärung und Demokratie vor diesem einen 
wahren Menschheitsvertreter, dem Ewigkeitsmenschen! Dass 
nur die Benaissance ihn gebären konnte, gibt einen Mass- 
stab unserer eigenen Erbärmlichkeit. 

Jawohl, wer als Finder der letzten Wahrheit über den 
Dingen schweben will, der beweise in Leben und Tod, dass 
er wirklich den Abgrund des irdischen Grauens überschritt 
dass er die Dinge nicht mehr fürchtet, sondern ihrer Herr 
ward, dass der Tod ihm nur ein leeres Wort Wer die 
Wahrheit seiner Lehre vermenschlichen will, der veranschau- 
liche sie durch seinen Willen (Charakter), nicht bloss durch 
Vorstellung seines Intellekts! 

Allein, mag der greise schwächliche Eant auch irdischer 
Schwäche verfallen sein, mag auch sein anscheinend wider- 
spruchsvolles Verhältnis zu Swedenborg, den er nach Kants 
eigener Annahme eines Corpus Mysticum doch unmöglich 
obenhin als Charlatan auffassen konnte, ein zweideutiges 
Eompromisseln mit Vorurteilen der Weltskepsis bedeuten, 
mag er in späteren Auflagen seines Hauptwerkes furchtsame 
Abschwächung in wichtigen Punkten beliebt haben — 
daneben verleugnete sich doch nie das Edelmenschliche 
seiner selbstlosen Natur, seine Redlichkeit, Gerechtigkeit, 
Güte und vor allem seine jugendfrische Begeisterung. Was 



— 95 - 

Schopenhauer einmal ausfährt, das Genie bleibe sein Leben- 
lang ein Kind, das passt auf Kant, der ewig ein Jüngling 
blieb. Man vergleiche seine ideale Träumerei vom Ewigen 
Frieden, sein Aufjauchzen mit Freudentränen über die 
französische Revolution, die feste grosssinnige Haltung, die 
er auch deren Auswüchsen gegenüber bewahrte, um froh 
and herzlich zu erkennen, dass auch dieser Sohn des 
erhabenen 18. Jahrhunderts zu den wahren echten Mensch- 
heitsvertretem gehörte. 

Solche Erwägungen voraufzuschicken erfordert der 
Gegenstand. Auf Kant griff Schopenhauer zurück, lehnte 
sich an dessen Definitionen und Kategorieen ursprünglich 
an. Über Hegel und Fichte ergoss er sich sein Lebtag in 
wüsten Schimpfereien, als ob sich aus deren üppigem Wort- 
schwall kein einziger vernünftiger Kern herausfischen lasse. 
Wie die Nachschwätzer seiner heut sehr grossen Gemeinde, 
blindlings auf Meister Arthur schwörend, als throne er, 
König Artbus und Merlin in einer Person, obenan in 
der Tafelrunde aller denkenden Köpfe, dies unsinnig ver- 
leumderische Geschimpfe des verkannten Privatgelehrten 
gegen die glücklicheren amtlich patentierten Philosophie- 
kollegen als heilige Weisheit nachlallen, wäre erheiternd, 
wenn es nicht so affenmässig wäre. Ja, in äffischer Weise 
suchte Schopenhauermode, bis sie heut von der Nitzschemode 
verdrängt ward, eine Originalität in possierlich gravitätischen 
Pessimismusgrimassen, felsenfest überzeugt, dass im Meister 
das Original in seiner Pracht ihnen vorleuchte. „Er hob 
empor der Dinge Majaschleier . . Das Licht, das selbst Natur 
sich angezündet in Seinem Hirn . . Das grosse Weltenauge 
ist erblindet,^^ in solch geschraubtem Ton besingt ihn sein 
Schüler und letzter Herausgeber, der interessante Unzucht- 
lyriker Grisebach. Sogar ein scharfsinniger Analytiker wie 
der junge jüdische Philosophieprofessor Joöl übertreibt in 
einem blendend stilisierten Aufsatz Schopenhauers Grösse 
aufs massloseste, als sei er sozusagen das einzige Genie 
unter Seinesgleichen gewesen. Solchen Auswüchsen gegen- 
über tut not festzustellen, dass dem grossen Arthur, was 
immer seine Ansprüche auf Genialität sein mögen, das 
Hauptzeichen des Genies, schöpferische Originalität, sicherlich 



— ge- 
fehlte, dass es eine eigentliche Philosophie von Schopen- 
hauer überhaupt nicht gibt, sondern brahmanische Gedanken- 
kreise, bruchstückartig zusammengeleimt, interpretiert und 
exzerpiert, zum Teil nicht einmal richtig verstanden. Femer 
dass noch keine Lehre so schamlos lächerlich der eigenen 
Lebenshaltung ihres Urhebers widersprach. Zur Erklärung 
dieses Widerspruchs heftete der neue Brahmine dem falsch 
aufgefassten Karmagesetz einen besonderen Haken an: das 
Primat des Willens vor dem Intellekt, und uns bedünkt es 
das Lehrreichste, dass sein ganzes sogenanntes System von 
diesem ichsüchtigen Entschuldigungsgrund seinen Ursprung 
nahm, auch seine Erkenntnis also im Egoismus wurzelte. 

Eugen Dühring schüttelt antisemitisch den Kopf, weil 
Spinoza gestand, er habe noch ein paar Mal Anfälle von 
Gier verspürt Doch solch ehrlich Bekenntnis des Allzu- 
menschlichen haben wir bei Schopenhauer nicht nötig, 
dessen gierige Selbstsucht und materielle Lüsternheit nie 
auch nur den Versuch machten, sich niederzukämpfen, in- 
dess sein Intellekt mit grossartigen Yerneinungspredigten 
und Entsagungsempfehlungen um sich warf. Darin blieb er 
konsequent vom Anfang bis Ende, ?chon als Jüngling be- 
jahte er sein teures Leben bis zur Ehrlosigkeit, fragte mit 
FalstafT, dessen Gefrässigkeit er teilte: Was ist Ehre! 
Wenn Fichtes kampflustiger Chauvinismus mit Eingreifen 
in Tagespolitik etwas drollig seinem hochfliegenden Trans- 
zendentalismus entgegenhandelte, so macht diese geistige 
Unzulänglichkeit doch seinem deutschen Herzen um so mehr 
Ehre, als wir aus seinem gedruckten Briefwechsel erfahren, 
dass General Bernadotte ihm schon frühe in pomphaftem 
Briefe („die grosse Nation ist stets bereit, Männer von 
Genie an ihren Busen zu ziehen^^) das französische Bürger- 
recht verlieh. Wenn hingegen der junge Schopenhauer als 
Einziger unter den Breslauer Studenten sich 1813 dem 
freiwilligen Kriegsdienst entzog, so schmeckt dies freilich 
ungeheuer logisch, da ein solcher Weltverächter sich nicht 
in zweifelhaften Befreiungskriegen zu raufen braucht, aber 
das gesunde Urteil erkannte darin nur Feigheit und Selbst- 
sucht Nun, hiergegen konnte er mit Becht behaupten, dass 
ein geniales Individuum sich nicht den aufgezwungenen 



— 97 — 

Pflichten gewöhnlicher Staatsbürger anzubequemen brauche, 
dass sein Leben und Wirken für die wahre Geschichte der 
Menschheit wichtiger sei als die vergänglichen Kämpfe des 
Tages, bei denen ja doch der sogenannte Patriotismus nur 
zum Vorteil herrschender Kasten ausgebeutet. Er sei dazu 
da, dem ,4etzten zureichenden Orunde^^ die Wurzel auszu- 
ziehen, nicht aber zureichenden Gründen für seine Ein- 
reibung als Kanonenfutter zu frohnden. Lassen wir aber 
dies gelten, dann dürfen wir logisch verlangen, dass die 
Lebenshaltung des weitabgewendeten Pessimisten im übrigen 
gleichfalls dementsprechend sich entrolle, dass ein Yerkünder 
buddhistischer Entsagung wenigstens einigermassen zu selbst- 
losem Wohlwollen und strenger Askese hinneige. Statt 
dessen finden wir hier ein Missverhältnis zwischen Worten 
und Werken, wie es charakterloser nicht gedacht werden 
kann. Er nannte Leibnizens Optimismus geradezu ver- 
brecherisch, obschon Leibniz, nach strengen Ehrbegrifien 
mehrfach ein Lump und Streber, wenigstens mit seinem 
Eudämonismus als Mensch übereinstimmte. Denn in so 
prästabilierter Harmonie des Alls stört es gewiss nicht die 
Harmonie, wenn Leibniz sich dazu prästabiliert fühlt, mög- 
lichst behaglichem Eigennutz für seine wissenschaftliche 
Wohlfahrt zu huldigen. Wie aber soll man Schopenhauers 
Verfahren und Beispiel nennen, der mit raffinierter Quälerei 
unreifen oder halbreifen Gemütern das Leben vergällte, jede 
krankhafte Sensivität der Hysterischen und Decadenten 
steigerte, den Hamlet überhamlettete und das Nichtsein an 
die Wand malte, während er selber seine sinnliche Natur 
so wenig zu bändigen wusste, dass er für zweie frass und 
bis in die tiefsten Niederungen schmutziger materieller Gier 
derartig hinabreichte, dass sich widerliche Geldgeschichten 
(irren wir nicht, sogar eine Alimentationsaffäre) sowohl von 
Geiz als Habgier an seinen Namen knüpfen? Charakterlosen 
Gelehrten — Verlehrten, wie Dühring das schöne Wort 
faod — mag eine solche Antastung geistiger Grösse mit dem 
Massstab banausischer Sittengesetze ja höchst überflüssig und 
spiessbürgerlich vorkommen. Wir jedoch, die wir im 
Menschenleben das Heroische suchen und es vor allem vom 
Heros verlangen, verzeihen noch weniger als dem Tat- 

Bleibtreu: Die Vertreter des Jahrhunderts. 7 



- 98 - 

hienschen dem reinen Geistesarbeiter ein Überwiegen des 
Allzumenschlichen. Das, was uns alle bändigt, das Gemeine 
braucht zwar noch lange nicht in wesenlosem Scheine hinter 
ihm zu liegen; wir sind zufrieden, wenn Anspritzer von 
Kleinem und Gemeinem doch das Grossmenschliche nirgends 
zu überklexen vermögen, wie bei dem schmählich verleum- 
deten, nur an seiner Eitelkeit verwundbaren, herrlichen 
Voltaire, dem selbst seine Geschäftspraktiken nur Vermehrung 
seiner Wohltätigkeitsmöglichkeiten bedeuteten. Dieser naive 
französische Elan des guten Herzens voll unzerstörbarem 
Wohlwollen stand dem Buddha wahrlich unendlich näher, 
als Schopenhauers düstere Jeremiaden und Bousseaus eis- 
kaltes Tugendgeschwätz. So sonderbar es klingen mag, wir 
möchten den Deutschen als eine Beinkamation des selbst^ 
quälerischen Jean Jaques betrachten, der immer la vertu 
und la nature unnützlich im Munde führte, indess er von 
unkeuscher Unnatur und heimlicher Gier strotzte wie kein 
anderer, der rührende Brüderlichkeit predigte, indess sein 
ganzer Weltschmerz nur aus unbefriedigter Ichsucht keimte. 
Die Antike erwartete von Jedem, der als Weisheits- 
freund (Philosoph) auftrat, ein weises Leben. Sie verachtete 
den Schüler der Stoa, der nicht im Leben sich als Stoiker 
bewährte. Selbst der Cyniker bewahrte durch seine ent- 
sagende Buppigkeit eine gewisse Würde. Pythagoras, Demo- 
krit, Heraklit, Epikur, Plato, Aristoteles, Empedokles führten 
ein vornehmes Dasein, wie es ihrer Lehre geziemte, und dem 
Sokrates riet sein Daimon den redlichsten Heldentod. Von 
Giordano zu schweigen, erwiesen auch Spinozas und Des- 
cartes' Charaktere sich nicht unwert ihrer intellektuellen Gaben 
und Kants Schwächen trüben nicht dem liebevollen Betrachter 
sein reines Bild. Nur den Philosophieprofessoren des neun- 
zehnten Jahrhunderts, mit wenigen ehrbaren Ausnahmen, 
blieb es vorbehalten, die „Weisheit'* als eine spezialistische 
Kathederwissenschaft zu traktieren, die mit dem Leben selber 
nur durch Titel und Kollegiengelder zusammenzuhängen 
brauchte. Wir lehnen durchaus den Einwand ab, dass der 
Philosoph doch kein Theologe, oder, richtiger ausgedrückt, 
kein Theosoph sei. Wird ein christlicher Theologe auf un- 
christlichem Lebenswandel ertappt, so gibt es allemal ein 



- 99 — 

grosses Geschrei. Mit Fug, da sich sein Lehren dann als 
Heucheln herausstellt Die katholische Kirche stellte ganz 
logisch den Grundsatz auf, dass der Priester, als Diener 
Gottes, sich alles Irdischen entäussem, in Armut, Keuschheit, 
Selbstverleugnung leben müsse. Vom Philosophieprofessor, 
der seine Metaphysik als müssige Geistespielerei spinnt, 
wäre es freilich unbillig, philosophische Lebenshaltung zu 
erwarten, ebensowenig wie man von Dubois- Raymond, 
Yirchow, Haeckel oder Raumer, Niebuhr, Mommsen eine 
hohe Persönlichkeit heischt Der Fachgelehrte bleibt ein 
blosser praktischer Berufsmensch, wie jeder Literat oder 
Kaufmann. Und doch stellten der freiblickende intuitive 
Helmholtz und der klare vornehme Ranke ein feineres 
ethisches Menschentum dar, als irgend ein „Philosoph^^ des 
Jahrhunderts. Wir beharren aber dabei, dass der wirkliche 
Philosoph, wohl zu unterscheiden vom Philosophieprofessor, 
durch sein Leben das Exempel für seine Lehre zu statuieren 
habe. Wo das Gegenteil zutrifft, wo das Geschlecht der 
Erasmus von Rotterdam sich bläht, da brandmarken wir es 
als heuchlerisches Pf äffen tum. Was dem einen recht, ist 
dem andern billig. Wenn die „Philosophen" — so nannte 
sich in der Aufklärungsära jeder enzyklopädistische Salon- 
schwätzer — ein Zetermordio über jeden sündigen Priester 
erheben, so dürfen wir dies mit gleicher Befugnis gegen 
jeden Philosophaster, dessen Wandel seine Maul Weisheit 
Lügen straft Was sollen uns also Schopenhauers unerschöpf- 
liche Invektiven gegen die Professoren, die seine Werke 
„sekretieren"! Besässe er nur einen Funken buddhistischen 
Wohlwollens, so würde er bei den armen Mittelmässigen 
ihre Notlage im Daseinskampf berücksichtigen und die 
bekannten dreizehn Gründe — eine Frau und zwölf Kinder — 
auch dann achselzuckend gelton lassen, wenn sie sich zur 
beliebten Totschweigetaktik gegen den hochmütigen Out- 
sider zusammentaten. So niederträchtige Formen, wie im 
Marktgetriebe der sonstigen ausserwissenschaftlicben Literatur, 
für das obige Entschuldigung fast niemals vorliegt, nahm 
der angebliche Ring gegen ihn niemals an. Auch wird man 
den peinlichen Eindruck nicht los, als ob, bewusst oder 
unbewoBBt, einfache Neidwut des „Privatgelehrten^^ auf Titel 



- 100 - 

und ÜDiversitätsstellung der amtlich besoldeten Schwätzer 
Yorliege. Dies wird umso wahrscheinlicher, als er in Bausch 
und Bogen alles beschimpft, was seiner Alleingeltung im 
Wege stehen könnte, und sein geradezu wahnsinniges Her- 
unterputzen Hegels, als sei dieser der jämmerlichste geist- 
loseste Quatschkopf, unmöglich ernst gemeint sein konnte. 
Wohl würde uns schlecht anstehen, die Pein leugnen zu 
wollen, die ein systematisches Totschweigen des Bedeutenden 
verursacht hat „Die Schmach, die Unwert schweigendem Ver- 
dienst erweisf ', zählt schon Shakespeare durch seines Hamlets 
Mund unter den schwersten Übeln auf. Auch Eugen Dühring 
nennt in seiner Lebensbeichte die Hemmung des Wirkens 
durch gehässige Feinde schwerer zu ertragen, als Armut 
und Blindheit. Allein, Schopenhauer hätte sich sagen müssen, 
dass sein Pessimismus notwendig die Massen abstiess, dass 
unter seinen Gegnern auch viele nicht persönlich übel- 
wollende ehrliche Sachfeinde sein mussten, dass der Denker 
überhaupt nicht wie der Belletrist im Zeitalter der gedruckten 
Massenliteratur auf breite und weite Wirkung bei Lebzeiten 
zählen dürfe, und endlich dass seine Schriften trotzdem eine 
kleine treue Gemeinde erwarben, wohl immer noch zahl- 
reicher als die eines Sokrates! Was soll man von einem 
objektiven Wahrheitsucher halten, dessen groteske Frauen- 
verachtung sich lediglich auf eine persönliche Erfahrung 
mit seiner Mutter — wie man sagt, als Mutter und Gattin 
tadelnswert — und dessen Menschenverachtung sich auf 
egoistischen Groll über mangelnde Anerkennung seitens 
seiner Kollegen aufbaute ! Grössere als er und fast alle ihm 
Ebenbürtigen machten unendlich Schwereres durch, 
schmeckten alle Bitternisse, Leiden, Gefahren, und erhoben 
sich darüber mit dem Stolz des wahren Genius. Wenn je 
der vielgemissbrauchte Spott über „verkanntes Genie" zu- 
traf, dann angesichts dieses Brahminen, der sich gleich 
grenzenlos erkühnt, den Schleier der Maja zu lüften, und 
sich dabei so kleinlich in Sansara verstrickt, dass sein Welt- 
schmerz immer wieder in den Refrain austönt: Und ich, 
der grosse Weltüber winder, werde nicht genug rezensiert 
und honoriert! Er sich über den Splitter in fremden 
Augen erbosen! Er, dessen eigene Charakterlosigkeit zum 



— 101 - 

Himmel schreit! Vor den ewigen Richtern, den unbe- 
stechlichen Herren des Karma, um theosophisch zu reden, 
steht er als ärgster Sünder da, nämlich gegen den heiligen 
Geist Sein selbstisches Aufgreifen und Auflegen des Bud- 
dhismus, sein falscher giftiger Pessimismus, den seine 
Blindheit einem Buddha und Jesus andichtet, in Verein 
mit seinem unedeln persönlichen Vorbild haben die soge- 
nannte Weltvemeinung salonfähig gemacht, sie als kokette 
Maske allen Schiefen, Faulen, Morschen und Versumpften 
empfohlen. So wurde er der Prophet aller müden Rou6s 
und aller Dekadenten, gründete einen Buddhismus für ab- 
gegeilte Wüstlinge, hysterische Frauenzimmer, verlebte und 
kampfunfähige Schwächlinge. Nichts bezeichnender, als dass 
sein eifrigster heutiger Nachfahre, Grisebach, ein Staatsstreber 
und Erotomane, die Erlösung in Sankt Arthur als Neuer Tann- 
häuser im Venusberge suchte. Wenn in Grisebachs wohl- 
lautvollen sprachschönen Rhythmen die Namen Buddha, 
Maja, Nirwana auftauchen, so grinst uns hinter diesem 
indischen Domino nicht das ewige Leben, nicht die Erlösung, 
sondern die Verwesung an. Solchen wohlfeilen Maskenball 
eines sinnenschwülen Weltpessimismus, der über Beschrän- 
kung und Vergänglichkeit des Genusses feige wimmert, 
solche Beichten wie das bekannte Tagebuch jener russischen 
hysterischen Jungfrau, solche Seelenzustände wie in Bourgets 
„Disciple*^ hat eine sogenannte Philosophie hervorgezaubert, 
zu deren Entlarvung wahrhaftig schon der gegen sie ge- 
richtete wohlfeile Spottvers genügt: ,,Auf, du Lebenshasser, 
springe frisch ins Wasser! Wir? Wir müssen bleiben, 
müssen Bücher schreiben, zu bekehren die betörte Welt!'* 

Als einzigen Milderungsgrund für Schopenhauers geistige 
Sünde, die nur ein Konterfei seines bösen Willens und 
seines schlimmen persönlichen Vorbilds, möchten wir an- 
führen, dass er die ihm angeblich gehörende, irrtümlich ihm 
zugeschriebene, buddhistische Erkenntnis des Welträtsels 
selber nicht verstanden hat, wie dies bei Geistesplagiaten oft 
zu geschehen pflegt 

An verschiedenen Stellen seiner Schriften äussert er 
sich über den Plagiatbegriff, beschuldigt auch einmal Goethe, 
ihm etwas entlehnt zu haben. Das mag bei Goethes gross* 



— 102 — 

artigem ADeignungsvermögen wohl stimmen, zumal Emerson 
bezüglich Shakespeare sehr triftig das Recht des Oenies 
auf sogenanntes Piagieren in Schutz nahm. 

Seh. hingegen stellt mit Strenge Laplace als Plagiator 
Kants, Newton des Hooke, Goethe in dessen Pflanzen- 
metamorphose als Berauber K. F. Wolffs hin. Nun bewies 
schon eine Studie von Romeo Manzoni, dass der gegen 
Plagiate wetternde Schopenhauer manche Wendung Giordano 
Bruno entnahm, den ja auch Goethe laut Kuhlenbecks Nach- 
weis uneingestanden benutzte. Giordanos heiligem Namen, 
den er Jordanus tauft, begegnen wir aber selten genug in 
Schopenhauers Werken, und der grimme Feind des „Sekre- 
tierens" dürfte hier den gleichen Vorwurf einstecken. Wer 
Giordano wirklich studierte, und dies scheint bei unserm 
Bramanen wenigstens teilweise der Fall gewesen zu sein, 
und dann nicht unablässig begeistert auf so lautere Urquelle 
verweist, bekundet schon in diesem Zuge eine schielende 
Zweideutigkeit der Sachliebe. Bezeichnend, dass der ehr- 
geizige Pessimist die Entdeckung der Giordano-Grösse dem 
mannhaften Dühring vorbehielt, dessen nicht minder mass- 
loses Selbstgefühl doch immer redlich das fremde Grosse 
herausspürt. Dass dem angefaulten Jeremias von Frankfurt 
die Eroici Fuori des Heldendenkers wahrscheinlich unver- 
daulich im Magen lagen und Giordano, wenn er ihn wirk- 
lich genau las und verstand, seinem eigenen trostlosen Welt- 
bild unbequem im Wege stand, hätte ihn erst recht zu 
polemischem Eingehen veranlassen sollen. Derlei Aufmerk- 
sammachon auf einen ebenso verkannten und unbekannten 
Grösseren konnte aber der absolutistische Pessimist nicht 
brauchen, der ein Monopol auf alle nachindische Gedanken- 
arbeit beanspruchte, als sei Er der erste originale Wahrheits- 
finder. Dass sein ganzes System nur aus indischen An- 
regungen hervorging, verhehlte er zwar nicht, doch in einer 
Weise, die den Umfang der Anlehnung und Aneignung ver- 
schleierte, so als ob erst er allerlei abstruse Mystik in wissen- 
schaftlich vprstv^ndüche Formeln geklei'iet habe. Das*i er 
diesen Eindruck erwecken will, ist nur insofern halb zu 
verzeihen, als seine Kenntnis des esoterischen Buddhismus, 
welche überhaupt erst durch die tbeosophische Bewegung 



— 103 — 

nach Europa drang, dem damaligen Forschungsstand gemäss 
noch eine ziemlich lückenhafte war, obschon er zweifellos 
hierin seinem Zeitalter vorausschritt Daraus ergeben sich 
aber auch seine Widersprüche und Miss Verständnisse. 

Wiederholt kommt er mitten in seinen Darlegungen 
darauf zu sprechen, das Schicksal habe ihn besonders 
begünstigt, indem seine Wohlhabenheit ihm behäbige Buhe 
und unabhängige Beschaulichkeit ermöglichte. Jeder Fakir 
würde ihn darüber belehren, dass dies, was er als seine 
Freiheit auffasst, gar keine Freiheit, sondern Fessel sei, die 
ihn an Sansara binde, dass im Gegenteil Not und Leid 
noch keines wahren Denkers Contemplation beeinträchtigten, 
vielmehr durch Überwindung solcher Beibung erst die wahre 
innere Freiheit erworben werde. Und siehe da, der näm- 
liche rentengesegnete Privatgelehrte, der obiges mit leckerem 
Behagen ausprahlte, versichert dafür in seiner Lehre, dass 
alle physischen Güter nichtig, ja feindselig für Erwerben 
des Heils seien. Einer solchen Verworrenheit und Halt- 
losigkeit gegenüber erinnert man sich an Nietzsches Abscheu 
vor intellektueller ünsauberkeit und ünrechtschaffenheit, 
freilich eine staunenswert ergötzliche Selbsterkenntnis in 
Nietzsches Munde. Für diesen nachgeborenen Stiefbruder 
Schopenhauers, der mit gleicher Casuisterei das Weltproblem 
nur von der entgegengesetzten Seite anbohrte, hat zuerst 
Hermann Türck in einer hübschen Abhandlung das Nenn- 
wort „Sophist" gefunden. Nun wohl, die Griechen unter- 
schieden reinlich den „Philosophen", nämlich den redlichen 
Weisheitsfreund, dessen Lebenshaltung in gleicher sauberer 
Bahn verläuft, vom „Sophisten", der dialektisch disputiert 
und spintisiert, dessen Forschen nach den letzten Begriffen 
nur den kalten ichsüchtigen Verstand und nie das Gemüt 
erfüllt In diesem Sinne werfen wir auch Schopenhauer zu 
den Sophisten. 

Wie schon eingangs erwähnt, war er sich seines Gegen- 
satzes von [johre und Leben bewusst und suchte solch 
schlagender Vorhaltung zuvorzukommen. Wiederholt erläu- 
terte er dies als beste Probe für die Bichtigkeit seiner Welt- 
auffassung, dass der Wille das einzig Primäre und Wesen- 
hafte sei, der Intellekt nur sekundäres Büstzeug des Willens, 



— 104 — 

weshalb die schönste Erkenntnis noch lange nicht die 
ursprüngliche unveränderliche Natur breche. Merkst du^ 
treuherziger Schopenhaurianer, den hinkenden Teufelsfuss? 
Ist der Wille-zum-Leben so dämonisch selbstherrlich in sich, 
dann hört auch jede Selbstverantwortung auf und sowohl 
der Meister als du selber mögen getrost im Sumpfe ihres 
sinnlichen Egoismus weiterplätschem, da euch das Erkennen 
eures seelischen Elends ja doch nichts hilft. Das erhabene 
Gesetz der Karma - Kausalität fasst er derartig auf, als sei 
das Ich nun wirklich sein eigener Herr und Herr der 
Welten, so dass die Beincarnation durchaus allein vom 
eigenen Willen abhängt und zwar in der Form dieser Neu- 
erscheinung selber. Der böse Wille erbt sich als ewige 
Krankheit fort. Woher aber stammt der gute Wille bei 
wenigen Auserwählten, die den Willen verneinen? Offenbar 
aus einer Art Gnadenwahl, worauf Schopenhauer wiederholt 
hindeutet. Woher diese Gnaden wähl? 

Keine Antwort Woher der böse Wille zum Sinnen- 
leben? Keine Antwort. Da keine Wirkung ohne Ursache 
sein kann, gerät also die Kausalität mit sich selbst in Wider- 
spruch, obschon sie allein den unentrinnbaren Zwang pessi- 
mistischer Weltanschauung erklären soll. Da das Wesen 
(Wille) unzerstörbar gleich bleibt und ein supranaturelles 
Eingreifen höherer Mächte ausschliesst, so bedingt der an- 
geblich so selbstherrliche Wille gleichzeitig die vollkommenste 
Unfreiheit, da er durch keinerlei freie EntSchliessung seine 
Bahn verändern kann. Lägen die Dinge so, und materia- 
listischer Determinismus nickt dazu bejahend, so wird 
spöttische Logik fragen : durch welch Naturwunder entzündete 
sich dann in Schopenhauers unzweifelhaft bösem Willen das 
Licht des Heils, das doch sonst durch besondere Gnaden- 
wahl nur dem guten Willen erkennbar wird? Und wie kommt 
es, dass dies Licht, das sonst bei den Begnadeten so fromm 
erleuchtet, sein eigenes Seelendunkel nicht erhellte und aus 
dem Verstände nie erwärmend bis ins Gemüt drang? Endlich, 
warum gibt er sich dennoch die Mühe, uns ein Licht auf- 
zustecken, da laut seinem eigenen Pessimismus das Dunkel 
des Weltleids undurchdringlich bleibt und der seiner selbst 
bewusste böse Wille dennoch blind und toll in Sansara 



— 105 — 

weitertappt? Ist die Welt nur Vorstellung des individuellen 
Willens, sind also Welt und Wille gleichmässig differenziert, 
nämlich widerspruchsvoll unlogisch eingerichtet, weil jeder 
Wille sozusagen eine eigene besondere Welt sieht, zerrinnen 
doch selbstyerständlich alle ethischen Massstäbe und jeder 
WiUe hat auch seine eigene Ethik. Die einzige logische 
Folgerung müsste also zu Nietzscheanismus und Darwinismus 
führen, die allein in Auslese des Stärkeren eine grausame 
Moral sucht, also in krasser Bejahung von Welt und Wille. 
Stattdessen singt uns der böse Wille Schopenhauers, an- 
geblich sich selbst erkennend, in allen Tonarten ein Hohe- 
lied der Verneinung vor und preist uns die Glückseligkeit 
der Selbsterlösung von Heiligen, Büssem oder doch min- 
destens edeler als er (Schopenhauer) selbst gearteten Naturen 
an. Aus seinem eigenen Denksystem drängt sich aber die 
Unmöglichkeit auf, dass der starr in sich beruhende, unver- 
ändert fortvererbte, böse Wille plötzlich so völlig aus sich 
heraustreten könne, um den ganz entgegengesetzten guten 
Willen in voller Klarheit zu erfassen, trotzdem aber gleich- 
sam in ohnmächtigem Neid aus ewig getrennter Ferne dar- 
auf hinzustarren, ohne im geringsten die eigene niedere 
Stufe verlassen und emporsteigen zu können. Man könnte 
nun einwerfen, dass Schopenhauer (mit allerlei buddhistisch- 
brahmanischen Wendungen) eine ,Metanoia^ oder Umkehr 
des Willens offenlasse, durch welche der Pfad des Heils in 
Buddhas Sinne genommen und die Heincamationen zu 
Nirwana hingeleitet werden könnten. Aber abgesehen da- 
von, dass nach seinen eigenen Ausführungen die Ursache 
dieses plötzlichen Weltverneinungsstrebens unerklärlich bleibt, 
also in solch vereinzelten seltenen Fällen auch nur durch 
Uiuminatio einer Gnaden wähl möglich erscheint, was alles 
wieder der notwendigen inneren Unfreiheit einer „Welt als 
Wille und Vorstellung" widerspricht und in eine vom Pessi- 
mismus-System untrennbare Eausalitäts-Mechanik unverein- 
bare Launen und Salto Mortale — woher? aus wessen 
„Willen'7 — hineintragen würde, hält sich der ernstlich 
nachdenkende Schopenhaurianer natürlich ans greifbare Bei- 
spiel des Meisters selber. Wenn nämlich sogar dieser neue 
Buddha, der den Majaschleier hob, „das grosse Weltenauge", 



— 106 — 

„das Licht, das selbst Natur sich angezündet'^ (wie könnte 
Sansara-Natur sich selber ein Licht entzünden, kraft welchen 
Willens?!), aus seiner erkenntnistheoretischen Wahrheitslehre 
nichts Wesentliches zur ,Umkehr seines eigenen gemein 
egoistischen Willens erwarb, so müssen alle Schwächeren 
vollends daran verzweifeln. Wozu dann also noch Moral 
und Ethik, wozu sich anstrengen, da wir dem Eausalitäts- 
ring ja doch nicht entweichen, also in alle Ewigkeit den 
bösen Willen reincarnieren werden? Leben wir ihn also aus, 
sintemal wir nicht anders können ! Eine sittliche Weltordnung 
gibt es nicht; das Weltleid überkamen wir ohne eigene Ver- 
antwortung; Gut und Böse, Schuld und Strafe, im mensch- 
lichen Sinne fallen weg, bei so unfreiem Zwang des Lebens- 
willens. Also verachten wir Leben und Tod, Welt und 
Wille, schimpfen wir gründlich darauf, aber gemessen wir 
möglichst die sinnlichen Oüter dieses traumhaften Lebens, 
fürchten wir ängstlich den Tod, der die „Vorstellung" auf- 
hebt, belustigen wir uns als Selbstherren der Welt, die nur 
von unsern eigenen Gnaden als Vorstellung besteht, und 
hausen wir als Gott mit unserm Willen, den wir bejahen, 
da wir ihn doch nicht verneinen können; wimmern 
wir nur dabei tüchtig über die ungerechte Grausamkeit 
des Weltwehs, halten wir uns täglich die Nichtigkeit 
des Daseins vor, reissen aber vor jeder Cholera aus, wie 
der täglich den Tod anpreisende Leopardi, und vergewissem 
wir uns vor allem, dass ohne die bewusste Gnadenwahl, die 
ja doch zu unsereins nie kommt, sittliche Läuterung und 
überhaupt jede Anstrengung entbehrlich und überflüssig 
sind! Wir kennen nur eine Pflicht, nur einen kategorischen 
Imperativ, nämlich Welt und Wille möglichst nichtsnutzig 
zu finden, uns und das All zu verachten, im übrigen die 
Farce möglichst bequem zu Ende zu spielen, die abscheu- 
liche Sansara zu geniessen, wie und wo wir können, sofern 
das ebenso abscheuliche Nirwana, das wir anstandshalber 
uls angenehme Erlösung unnützlich im Mundo führen, uns 
liicht «Imvli owi;^^ gohoirao Todesanp;st den Genuss vergällt! 
So allein hat die sogenannte Philosophie des Pessi- 
mismus auf ihre weitverbreitete Gemeinde gewirkt Man 
muss brutal die Dinge beim rechten Namen nennen, mit 



— 107 — 

etwas Übertreibung diesen bewussten und unbewussten 
Eindruck auf die Spitze treiben, um das Richtige heraus- 
zuschälen und den verderblichen Einfluss zu formulieren. 
Wir erlassen uns weitere Erörterung, wie dieser falsche und 
faule Pseudo-Buddhismus nicht nur alle Schwächlinge, 
sondern auch alle Schufte anreizen musste. Fast alle 
,^bildeten" Kanaillen wurden Schopenhaurianer, bis sie — 
Nietzscheaner wurden, wo sie noch besser fanden, was sie 
brauchten, ohne metaphysisches Brimborium, so dass selbst 
die ungebildeten Kanaillen hier ihre Rechnung fanden. Der 
Zulauf, den Schopenhauers Lehre in der zweiten Hälfte des 
Jahrhunderts gewann, bis sich das 7in-de-Siöcle selbst für 
die ünsittlichkeit des Pessimismus noch zu unsittlich und 
denkfaul fühlte und einen Cancan des völlig blödsinnigen 
„naturwissenschaftlichen^' Optimismus tanzte, bezeugt das 
unablässige Sinken aller geistigen und sittlichen Werte von 
Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wie das unvergleichliche Jahrhundert 
der Nivellierungsdemokratie es darstellt Den Unbelehr- 
baren, die uns etwa schmähen, wir hätten den Meister ent- 
stellt und missverstanden, raten wir, ihn erst mal gründlich 
zu studieren. Ihre Scheuklappenblindheit — der richtige 
Schopenhaurianer verschmäht von vornherein jede andere 
Belehrung, wie ja laut Schopenhauers eigener Anmassung 
er das einzige Gedankenmass aller Dinge sein soll — müsste 
sich freilich dann zu vergleichendem Studium des wahren 
esoterischen Buddhismus und dor brahmanischen Geheiin- 
lehren bequemen. Dann würde ihnen vielleicht auch die 
stille Entrüstung dämmern, welche aus unserer Verdammung 
vernehmlich genug ertönt. Denn dass Schopenhauers Donk- 
gebäude, auf schiefem Fundament erbaut, unter jedem 
Hammerschlag der Logik in lauter Risse zerklafl't, wäre 
noch kein Verbrechen. Der schiefe Turm von Pisa bcdui-fte 
einer besonderen Berechnung innerer Schwerkraft, die bei 
dieser mörtellosen Donktechnik notwendig ausblieb. Aber 
dass er den Begriff des Pessimismus, der teils als tatfroher 
Entrüstungspessimismiis. teils al- p>habrnscin über das 
törichte Aussensein ein Bestandteil edler Mealität und ein 
Hebel des allein kulturfördernden Idealismus allzeit bedeutete, 
bei allen Gesunden und Braven anrüchig machte, dass er 



— 108 — 

in Europa für lange Zeit die Quellen Indischer Weisheit 
verschüttete, indem er ein nur seiner eigenen Schwäche 
konformes Bild der Weltvemeinung entwarf und hiermit 
der Ausbreitung des Buddhaheils im so bedürftigen Abend- 
lande yerzögerndo Schranken zog, das soll ihm nimmer ver- 
geben werden. 

Der Plan dieses Buches erlaubt nicht längere fachlich- 
philosophische Kontroversen.^) Auch wären sie unnütz für 
jene ungeheure Mehrzahl, die von Theosophie und Okkultis- 
mus nichts weiss, doppelt unnütz aber für die Kenner 
unserer Geheimwissenschaften. Es mögen daher wenige 
Winke genügen. Seine Willkür einer Trennung von Wille 
und Intellekt könnte schon die heutige Psycho-Physiologie 
experimentaj lächerlich machen. Da es ihm an jedem 
plausibeln Nachweis fehlt, hilft er sich mit der populär- 
naiven Ausrede: man könne die Menschen, z. B. die bösen 
Professorenkollegen, intellektuell völlig überzeugen; wenn 
sie also trotzdem die Wahrheit nicht anerkennen, so beweise 
dies, dass der üble Wille immer stärker sei. Übersah er 
xrirklich, dass dieser allerdings unzähligemal vorkommende 
und mit zur Lebensökonomie gehörige Vorgang gerade 
die Einheit von Wille und Intellekt dartut? Man dürfte 
eigentlich umgekehrt sagen, dass der unbewusste Wille, auf den 
naturgemäss immer zuerst der Eindruck als solcher wirkt, näm- 
lich die veranschaulichende Vorstellung, sofort Wahrheit und 
Grösse ahne, empfinde, erfasse. Der Wille selber wird alle- 
mal instinktiv die richtige Vorstellung auslösen: dies da ist 
ein Riese und der da ein Zwerg. Wenn also trotzdem, wo- 
rüber Arthurs verkanntes Genie in zahllosen Wiederholungen 
sich ereifert, charlatanische gewandte Zwerge als Biesen und 
ofTenbare Riesen als Zwerge ausgeschrieen werden, so ging 
solche Mala Fides durch sehr verschmitzten Intellektprozess 
hindurch, insofern der anfangs richtig anschauende Wille 
nun reflektiv erwägt, dass ungefüges Genie sowohl ihm 
persönlich im Wego stehe, als auch die Weltlüge benach- 
teilige, während geschmeidige Mittelmässigkeit weder fremde 



^) Wir verweisen dieBbezügllch auf miser Bäohlein „Letzte Wahr- 
heiten'\ worin manche Fragen kontra Schopenhauer angeschnitten. 



- 109 — 

Eitelkeit beleidigt, noch den allgemeinen Augiasstall be- 
lästigt, oft sogar den Weltinteressen sozusagen gemeinnützig 
schmeichelt Die instinktive Abneigung gegen alles wirklich 
Oeniale, weil es das Unbequeme sein muss, die auffallige 
Tatsache, dass der materielle Erfolg des Unbedeutenden 
niemals einen so bitteren Neid erweckt wie die Leistung 
des selbst erfolglosen Bedeutenden, erklärt sieh sehr leicht 
aus dieser schlauen Überlegung des gedemütigten niederen 
Intellekts gegen den grösseren und der böse Wille ent- 
stammt demnach hier gerade dem Intellekt Es würde nicht 
der Mühe verlohnen, die handgreifliche Identität und Gleich- 
zeitigkeit aller Funktionen des Oehirnlebens zu betonen, für 
monistische Anschauung ohnehin selbstverständlich, wenn 
nicht Schopenhauer, wie wir sahen, aus seiner rein ins Blaue 
hingestellten Prämisse die früher gekennzeichneten Schluss- 
folgerungen zöge und von ihr sein ganzes System seinen 
Ausgang nähme. In der Tat, wenn der rudimentäre „Wille^' 
sogar den eigenen Intellekt (der in Wahrheit nur das Be- 
wusstsein des Willens ist, mit ihm eins und dasselbe) 
derart täuschen und unterdrücken könnte, so wäre auch das 
Unding möglich, dass er sich vom Intellekt des Alls und 
vom Willen der Weltseele unabhängig halten könnte, in 
stierer stumpfer Isoliertheit und Verranntheit in ein dumpfes, 
traumhaftdüsteres Triebleben, das bewusstlos den schmutzigen 
Weg seiner triebhaften Begierden in tierhaft primitiver 
Stofflichkeit dahintrottet. Da die „Wissenschaft" nun heute 
ergründete, was nur Umschreibung altbrahmanischer An- 
schauung bedeutet, dass unser Ich nur eine Republik von 
Zellen, und da wir, aus kosmischen Stoffen bestehend, nur 
aus steter Verbindung mit kosmischer Einwirkung unsre 
Daseinskräfte schöpfen, so ist ein für sich bestehender 
individueller Wille-zum-Leben ein leerer Wahn. Vielmehr 
bedeutet auch er, den Schopenhauer als Wurzel alles 
Geschehens betrachtet, nur einen trügerischen Schein, ein 
täuschendes Phänomen, besitzt nur die Selbstherrlichkeit 
eines Schauspielers, der eine eingelernte Bolle agiert In 
ihm und dem Individuum veranschaulicht sich lediglich — 
80 wie das zusammenfassende unfassliche Ego der unnenn- 
baren Gottheit sich in Myriaden Welten manifestiert — sein 



— 110 — 

transzendentes Ego jenseits alles Willens-zum-Leben. Von 
dieser Formulierung du Preis für altbrahmanische Weisheit 
wusste Schopenhauer ebenso wenig wie von den sieben 
Grundstoffen des Menschen und den sieben Ebenen jenseits 
der irdischen Bewusstseinsschwelle, deren Durchschreitung 
erst die Reinkarnation ermöglicht. Diese erfolgt keineswegs 
durch individuellen „Willen zum Leben", wie ihn Schopen- 
hauer mit anthropomorphischem Grössenwahn sich einbildet, 
sondern auf Geheiss und mit Beihilfe der „Herren des 
Karma^^ in Verein mit dem transzendenten Ego. Obschon 
nur letzteres eine Willensfreiheit besitzt und in den Zwischen- 
räumen seiner Inkarnationen, im Interregnum zwischen Tod 
und Neugeburt, zur Anwendung bringt, so dienen doch alle 
Leiden und Erfahrungen eines Eörperlebens dazu, der Neu- 
gestaltung einer Inkarnierung wesentlich neue Züge hinzu- 
zufügen, so dass der individuelle Wille sich tatsächlich 
langsam ändert und bessert, je nach dem Mass seiner 
gewonnenen Einsicht, welche freilich nur durch Kampf und 
Leiden entstehen kann. Der Weg zur Erlösung steht allzeit 
jedem offen, und der erhabene Plan der sittlichen Welt- 
ordnung will, dass am Ende alles Wesenhafte zur Verklärung 
des Nirwana gelangt. Das allerwichtigste Mittel zur 
Brechung des bösen Willens ist aber gerade die 
intellektuelle Erkenntnis, weswegen Buddha gar kein 
Glauben, sondern nur Begreifen und Erkennen verlangt 
Jeder Glaube ist um so wertloser, als niemand den andern 
erlösen kann, sondern nur Ego sich selber. „Selbst ist der 
Herr von Selbst", nicht Herr einer Welt aus Wille und 
Vorstellung, sondern gerade, woran des Pessimismus 
Schwäche verzweifelt, Herr seiner eigenen Erlösung. Diese, 
die Verneinung des schlechten Willens, erwirbt man nicht 
durch irgendwelche Gnadenwahl, sondern allein durch ernstes 
Forschen, Suchen und Streben innerer Versenkung und Be- 
schaulichkeit. Dass ein Wille, sei er noch so verstockt, in 
blinder Bejahung des Ichs beharre, nachdem er die Ver- 
gänglichkeit und eigentlich Nichtexistenz des Ichs durch- 
schaut, schliesst sich von selber aus. Je nach dem Massstab 
seiner sittlichen Kräfte, nach dem jeweiligen Stufenstande 
seiner Inkarnation muss jeder, dem Erleuchtung zuteil ward^ 



- 111 - 

eine grossere oder kleinere Änderung und Besserung unwill- 
kürlich erfahren. Wenn also Schopenhauer, der volle hudd- 
histische Erkenntnis beanspruchte, nicht mal Anstalten machte, 
gemäss seiner salbungsvollen Predigt Willen und Leben zu 
verneinen, so gibt er uns ein Rätsel auf. Schier sollte man 
glauben, dass alle schlechten und nie widerlegten Zeugnisse 
über seinen Charakter und Wandel auf Verleumdung oder 
Eurzsichtigkeit beruhen. Doch er selbst sorgte durch seine 
Schriften dafür, dieser ohnehin unwahrscheinlichen Ausrede 
vollends den Boden zu entziehen. Denn selbst hier, wo er 
mit seinen besseren Trieben kontemplativ allein war und 
jeder Zwang äusserer umstände fortfiel, treffen wir denselben 
neidischen, rachsüchtigen, zornwütigen, hochmütigen, selbst- 
verliebten und masslos ichsüchtigen Gesellen. Wenn er auf 
Frauen und Liebe schimpft, vergisst er nicht mit heimlich 
schmatzender Lüsternheit zu betonen: „Auch icb habe gelebt 
und geliebet," welche Episode — in Venedig, wie man sagt — 
wohl recht danach angetan war, seine Auffassung der Liebe 
und des Weibes zu stützen. Ja, er hat Recht, er und 
seinesgleichen finden die Liebe, die sie verdienen, die sexuale 
Venus des neuen Tannhäuser, nicht die Venus Urania reinerer 
Schauung, so wie sie auch die Philosophie finden, die zu 
ihnen passt Ihr hochtrabender Pessimismus ist eine anthropo- 
morphische Anmassung, die einen Zweck des Leidens mit 
der einzigen Begründung leugnet, dass der Sinnenmensch 
gebratene Tauben aus Schlaraffenland bequemer schmausen 
möchte. Da Lust und Unlust sich gegenseitig bedingen, das 
Lustgefühl des Lebens-an-sich aber bei weitem die Unlust 
überwiegt, wenn man nur genau abwägen wollte, so wird 
freilich nur zu erklärlich, warum solche Pseudo-Possi misten 
so krampfhaft am Leben hängen. Pessimismus hätte seine 
einzige Berechtigung in abstraktem Idealismus, doch grade 
dieser überwindet jede Anfechtung des Weltleids durch 
Wohlwollen. Mitleid, Beseligung des eigenen unantastbaren 
Himmels im Innern. Deshalb geniesst der wahre Buddhist 
und Theosoph eine freundliche und liebliche Heiterkeit, wie 
sie auch so entzückend aus den Bekenntnissen wahrer 
Heiligen, wie des Franz von Assisi, heraustönt, und nichts 
verwirft Buddha in seinen (Schopenhauer natürlich 



— 112 — 

unbekannten) Reden und Parabeln unerbittlicher als finstre 
Askese und selbstpeinigende Frömmelei mit obligater 
Scbopenhauerscher Streit- und Zanksucht Rastlose Arbeit 
im Dienste des Ideals zur Ausbreitung des Heils verlangt 
er von seinen Jüngern, aus unermesslichem Wohlwollen 
und treuer Selbstlosigkeit soll die heitre selige Oottesruhe 
entspriessen, welche zu den ,,Schauungen^^ Einlass und 
endlich Eingang in Nirwana gewährt Nirwana aber, das 
Schopenhauer auch nur als „Nichts" erklären kann, obschon 
er geistreich zusetzt, dass vom Standpunkt Nirwanas aus 
unser Ichleben weniger denn Nichts sei, ist keinerlei räum- 
licher und zeitlicher Aufenthalt, wonach sogar der Nichts- 
Begriff noch immer schmeckt, sondern ein in sich selbst 
beruhender Zustand des Absoluten, das All-Gefühl, der 
Universalaffekt Giordano Brunos, ein in der Inspiration 
schon hienieden erreichbares höchstes Glücksgefühl, das 
Byron mit den Worten aussingt : „Ich lebe nicht in mir, ich 
werde ein Teil all dessen, was um mich her." So führt das 
wahrhaft Heldenhafte, Brunos Eroici Fuori, gradeso zum 
esoterischen Buddhismus, wie die heroisch duldende Ver- 
nichtung des Sinnenscheins im Indischen Büsser, und ein 
gewaltiger Eingeweihter der Joga-Kunst (okkulter Erhöhung 
der Seelenkraft zur Beherrschung der Materie) sprach in 
einem englisch geschriebenen Buch das grosse Wort gelassen 
aus: „Schwächlinge können wir unter uns nicht brauchen". 
Völlige Furchtlosigkeit, ein auf geheimen Gründen be- 
ruhendes Selbstvertrauen, heitere Zuversicht auf die unsterb- 
liche ewige Kraft in uns und über uns, das sind die Früchte 
des stählenden erbebenden wahren Buddhismus, des höchsten 
Optimismus, der überhaupt nicht den Willen-zum-Leben, 
wie Schopenhauers stilistisch entgleiste Phrase den hehren 
Sinn für das europäische Publikum verfälschte, sondern 
lediglich den Willen-zum-Ich verneint, nur um den gött- 
lichen All- Willen in uns auszubilden, unsern im Körper- 
dasein gefesselten unsterblichen Willen zu befreien und zu 
tausendfacher Kraft zu erhöhen, kurz aufs allerstärkste zu 
bejahen, was Jesus „das ewige Leben" nennt. Wenn 
Schopenhauer gelegentlich faselt: Die Begebenheiten (sie) in 
Galiläa würden die Urweisheit des Menschengeschlechts am 



- 113 - 

Ganges und Indos nicht umstossen, so schmeichelt er frei- 
lich dem Bildangspöbel, dem jedes Antichristentum imponiert 
(Vom „erhabenen Stifter der christlichen Ethik^ spricht er 
hier und da mit Yerehrong, schlägt sich aber sonst nur mit 
allerlei Kirchenvätern herum.) Ein Initiierter wird aber 
solches völlige Mangeln buddhistischer Beife, das jene 
mythischen Begebenheiten der symbolistischen EvangeUen- 
dichtung für das Wesentliche hält, dagegen die abgrundtiefe 
Grossartigkeit der Sprüche und Parabeln des Buddha Jesus 
(der nächstfolgenden Inkarnation des Gotamo) für Naivetäten 
eines gewöhnlichen Gottsuchers erachtet, nur mit Mitleid 
strafen. Hätte übrigens unser trauriger Pessimist von Asoka 
Kunde empfangen, dem grössten Herrscher aller Zeiten, der 
von sich aussagen durfte: „Es gibt für mich keine Über- 
sättigung in der Arbeit,^^ „alle Menschen liebe ich wie meine 
Kinder, im Diesseits will ich sie glücklich machen und im 
Jenseits sollen sie das Heil gewinnen,^' so würde er geahnt 
haben, welch Zerrbild des heldenhaften Buddhismus er uns 
vorsetzte. Bedenkt man nun, dass ein kannibalisches Volk 
von Bestien wie die erdverwüstenden Mongolen der Steppe 
heut unterm Zauber Buddhas ein Geschlecht heitrer sanfter 
gottseliger Friedensmenschen geworden ist, wie noch jüngst 
ein Beisender wehmütig im Hinblick auf diese einst so 
prächtigen Nietzscheschen Bestien beklagte, so lösen wir das 
Rätsel, warum Schopenhauers angeblicher Buddhismus weder 
ihm noch seinen Anhängern den geringsten ethischen Nutzen 
brachte, rundweg dahin, dass dies alles nur etwas von 
aussen Angemachtes, sozusagen Angelesenes, innerlich 
Fremdes blieb, daher auch nie aus passiv platonischer 
Neigung wirklich ins Innere drang. Ein eiüer ehrsüchtiger 
Verstand, nicht schöpferisch beanlagt, dagegen in dialek- 
tischer Sophistik seine denkerische Stärke erkennend, warf 
sich auf diese bisher in Europa unbekannte fremde Grösse. 
Wenn andere wie Egmont spanisch kamen und spanische 
Luftschlösser mit Grandezza bauten, so versprach er sich 
viel davon, uns Indisch zu kommen, als scheinbares Original 
einer neuen Mode. Wie alle ungeschickten Plagiatoren, zog 
er aber das gelbe Gewand des Chela verkehrt an, besudelte 
indische Weisheit mit seinem eigenen schlechten Willen und 

Bleibtren: Die Vertreter dei Jahrhunderts. 8 



— 114 — 

führte als feierlicher Magus aus dem Morgenland allerlei 
Ochsen in seinen neuen Stall von Bethlehem, voll seiner 
eigenen Dalai Lama-Exkremente, aber ohne Heiland und 
Verkündigung der Engel Er sah sich gleichsam eine 
Buddhastatue von aussen mit artistischen Augen an und 
knetete danach ein Figürchen. Literarisches Experiment, 
nichts weiter, seine Kapitel über Ästhetik, Kunst, Oenie 
daher eine Oase in der verworrenen WtLste seiner denkerisch 
haltlosen Yerworrenheit Sein blendender Esprit, sein um- 
fassendes Wissen, sein oft nerviger Gelehrtenstil gewähren 
erlesenen Oenuss. Aber philosophisches System? Lauter 
Parerga und Paralipomena! 

In der Struktur seines Hauptwerkes fällt gleich unan- 
genehm auf, dass er den Stoff gespalten hat, indem er einen 
zweiten Band „Ergänzungen^^ dem ersten anhing, wodurch 
der Eindruck sich nicht verstärkt, sondern verflüchtigt Dies 
beweist mangelhafte Yer- und Durcharbeitung, indem er so 
gleichsam für klaffende Lücken separat einen Mörtel bei- 
fügte und Unklarheiten nachträglich zu erhellen suchte. 
Auch dürfte es ein vernichtendes Urteil sein, dass gerade 
der zweite Band den höheren Wert hat, denn in ihm über- 
wiegt das sozusagen Feuilletonistische, das geistreiche 
Plaudern über alle möglichen Dinge, das vielfache Zitieren 
aus alten und neuen Autoren, das Heranziehen einzelner 
physiologischer Entdeckungen. Einzelne Kapitel darin, wie 
das über Metaphysik der Oeschlechtsliebe, verschafften ihm 
allein seine spätere weite Verbreitung, so dass Schopen- 
hauers Einfluss doppelt unheilvoll wurde, weil die meisten 
seiner Leser nicht mal fähig waren, der rein philosophischen 
Deduktion zu folgen, und sich einzig an solche Feuilletons 
über das Elend und die Gemeinheit der Welt hielten. Wie 
die Oberflächlichkeit den „grossen Messias^^ verstand, wird 
so recht klar aus Zolas „Joie de Vi vre", wo ein jugend- 
licher Schopenhaurianer, von Zola meisterhaft als Typ dieser 
Verseuchten geschildert, sich in ewiger Todesfurcht windet, 
weil er den Glauben ans christliche Jenseits verlor. Ganz 
recht! Also hat sich Schopenhauer umsonst bemüht, die 
indische einzig mögliche Auffassung der Unsterblichkeit den 
Occidontalen zu demonstrieren, sie verstanden nichts davon 



— 116 — 

als die Vernichtung ihres individuellen Ichs, nämlich des 
bestimmten Öottlieb Schulze. Dies jämmerliche Missverstehen 
wäre ja an sich nicht seine Schuld, doch es liefert den 
schlagenden Beweis, dass seine Bemonstrierung des Buddhis- 
mus, den er ja freilich als seine eigene Lehre vortrug, an 
unerträglicher Halbheit krankt, daher missverstanden werden 
mnss. Die Unzerstörbarkeit des „Willens zum Leben'^ in 
jeder Erscheinung kann dem Durchschnittgebildeten über- 
haupt nur verständlich werden durch die genaue und gründ- 
liche Fortsetzung der brahmanisch-theosophischen Lehre über 
das Jenseits. Ohne solche Ergänzung wird niemand begreifen, 
dass selbst von Vernichtung des individuellen Ichs — wohl 
zu unterscheiden vom physischen Individuum — nicht die 
Bede sein kann, dass daher der horror vacui — wir ver- 
missen diesen bekannten Ausdruck bei Schopenhauer als 
treffendste Erklärung der Todesfurcht — sich völlig trösten 
mag. Wenn seine Gemeinde also eine entnervende HofT- 
nungslosigkeit aus seiner Lehre allerdings irrig herauslas, so 
wird dies verschuldet durch seine eigene Unklarheit und 
offenkundige Unsicherheit Wer soll aus seinen flüchtigen 
Andeutungen sich einen Begriff von der Metempsychose 
machen! Das völlige Fehlen des Karmabegriffs, seine Un- 
kenntnis dieses höchsten Gesetzes, bringt das fundamenüose 
Schwanken des ganzen Gebäudes zu stände. Da aber noch 
heute viele Anhänger Schopenhauers es verschmähen, zu den 
indischen Urquellen niederzusteigen, und sich mit diesem 
ungeschickten Abguss begnügen, so hat selbst seine an sich 
verdienstliche Anknüpfung an die wahre Weisheit des 
Menschengeschlechts mehr Schaden als Nutzen gestiftet. 
Darüber sagten wir ja schon vorher das Nötige. 

Die Grundlegung Kants, dass der Satz vom Grunde 
(Kausalität) nicht, wie Hume behauptete, aus der Erfahrung 
hervorgeht, sondern etwas ursprünglich Gegebenes sei, durch 
welches erst alle Erfahrung möglich werde, wird heut eigent- 
lich wieder bestritten (Schmidts Erfahrungsphilosophie), wie 
wir an andrer Stelle noch sehen werden. Jedenfalls möchten 
wir richtiger es ausdrücken, dass nicht der Kausalitäts- 
begriff, welcher in der Succession der Zeiterscheinungen in 
onsrer Vorstellung wurzelt, das Gegebene sei, sondern die 

8* 



- 116 - 

{Fähigkeit der „Vernonit'^, diesen Begrift früher oder später 
za bilden und das gesamte Vorstellen danach za regeln. 
Wenn nun aber Eant und mit ihm Schopenhauer nach- 
weisen, dass alle Anschauung nicht sensual — Schopenhauer 
sagt hier „nicht bloss sensual^, das ist aber ein zweideutig 
schiefes Paktieren mit dem unreifen Sensualismus — , son- 
dern intellektual als reine Yerstandeserkenntnis ist, so 
sollte Schopenhauer doch logisch folgern, dass grade 
der Intellekt, den er als sekundär vom Willen scheidet, 
etwas recht Ursprüngliches sei Dass alles Vorstellen 
rein intellektual ist, zeigt die Tatsache des Traumes 
sowie das von Schopenhauer nirgendwo berührte Phä- 
nomen, dass im Halbtraum bei geschlossenen Augen döh 
Farbenprismen, Landschaften, Physiognomieen ganz unwill- 
kürlich einstellen mit fast frappanterer Deutlichkeit als beim 
äusserlich sehenden Wachen. Wie willkürlich aber selbst 
ein grosser Denker sich mit derlei unwiderlegbaren und an 
sich einfachen Tatsachen abfindet, zeigt Kants Diktum : „Der 
Zusammenhang der Vorstellungen unter sich nach dem 
Gesetze der Kausalität unterscheidet das Leben vom Traum", 
wozu Schopenhauer bemerkt: Nein, auch im Traume hänge 
alles einzelne ebenfalls nach dem Satz vom Grunde zu- 
sammen — was so selbstverständlich ist, dass jeder Beliebige 
dem grossen Kant dieselbe Belehrung hätte widmen können. 
Dagegen verkennt Schopenhauer im Nachfolgenden die 
wichtige Anmerkung, die wir hier zusetzen: dass auch 
zwischen dem Lihalt der Träume und dem Inhalt des vor- 
herigen Denkens im Wachen ein kausaler Zusammenhang 
besteht Wenn nun Schopenhauer richtig betont, dass alle 
grossen Entdeckungen eine unmittelbare intuitive Einsicht 
„und als solche das Werk des Augenblicks, nicht das 
Produkt langer Schlussketten in abstracto seien^^, — wir 
fügen hinzu : ganz wie im Traum und Halbtraum sich blitz- 
artige Einsichten und Anschauungen ungerufen eindrängen 
mit Überspringung vieler Zwischenglieder, weil hier im 
Unbewussten der täuschende und lähmende Schein der 
äusseren empirischen Kausalität wegfällt, — so müsste er 
sich doch von der sozusagen supranaturellen Beschaffenheit 
des Intellekts eine hohe Meinung gebildet haben. Bekannt- 



— 117 - 

lieh sagte Goethe, dass man derlei EingebuDgen als ein 
freiwilliges Geschenk der Götter dankbar zu verehren habe. 

Wenn nun laut Schopenhauer der Materialismus schon bei 
seiner Geburt den Tod im Herzen trägt, „denn ,kein Objekt 
ohne Subjekt^ ist der Satz, der auf immer allen Materialis- 
mus unmöglich macht," so ist eben der Intellekt dies 
Subjekt, das auch diesen weltbezwingenden Satz zuwege 
brachte. Und solches widerstreitet obendrein dem blinden 
„Willen^^, welcher überall nur empirisch herumtastet 
and weder Objekt noch Subjekt richtig auseinanderhält, 
ja sogar wie der Materialismus nur vom Objekt einer 
für real gehaltenen Welt ausgeht Schon beim Eingang der 
Schopenhauerschen Deduktionen stutzen wir also über den 
anbegreiflichen Einfall seines Intellekts, eben diesen allein 
das Ewige erkennenden Intellekt für das Vergängliche und 
blinden Diener des Willens auszulegen. Ging doch der 
grosse Eeppler als Astronom so weit zu behaupten, dass die 
Planeten erst Erkenntnis (Intelligenz) haben müssten, um 
ihre Bewegungen — sagen wir: Willensschwingungen — 
auszuführen. Wer aber will überhaupt philosophisch ent- 
scheiden können, in welcher Kausalität Wollen und Erkennen 
zaeinanderstehen , da sie doch sichtlich in eins zusammen- 
fallen und gar oft, um rein empirisch im Menschen dies 
Verhältnis zu betrachten, das Erkennen erst der Anstoss 
zum Wollen ist Ja, mit einem ihm so oft passierenden 
Selbstwiderspruch gesteht Schopenhauer letzteres ja gerade- 
wegs zu: ein plötzliches Erkennen des Weltleids, wofür er 
Beispiele anführt, breche oft den vorher ganz Übeln Willen 
nach der entgegengesetzten Seite um ! Also dieser sklavische 
Diener Intellekt kann so rebellisch werden, dass er seinem 
anbezwinglichen Herrn Wille einfach den Hals umdreht! 

Sollen wir die Ungereimtheit noch deutlicher machen? 
Da ist seine Definition des Genies: V3 Intellekt, V3 Wille. 
Diese Mischung also vollbringt das wahrhaft unver- 
gängliche, reisst die Menschheit mit übermenschlichem 
Willen vorwärts — und doch soll der Intellekt das Ver- 
gängliche sein? Umgekehrt hat gerade das Genie einen 
besonders heftigen Willen, wie Schopenhauer ausführ- 
lich darlegt, während es im Verhältnis zu den übrigen 



-T- 118 — 

Menschen, die aus V3 Wille bestehen, offenbar einen 
schwächeren haben müsste und bei dem enormen Über- 
wiegen des Intellekts in obiger Mischung ein besonders 
heftiger Wille gar nicht denkbar wäre, also alle Genies einen 
hervorragend ruhigen selbstbeherrschenden Charakter haben 
müssten! Bekanntlich ist genau das Gegenteil der Fall, 
und er wollte nur die einfache Wahrheit nicht sehen, dass 
das Genie eine gleich massige Steigerung des Intellekts 
und Willens bedingt. Wie aber bei dieser Spitze des 
Menschentums, so muss wohl auch überall die Mischung 
einfach V2 Wille V2 Intellekt ergeben, da beide sich 
genau zu entsprechen pflegen, wie empirische Beobachtung 
stets ergeben würde, wenn man auf den Grund geht und 
nicht kurzsichtig irgendwo auf äusserem Anschein fusst. 
Dies bezieht sich sogar auf den guten und bösen Willen 
im Verhältnis zum Intellekt. Schopenhauer führt zwar 
lang und breit aus, dass man ein Dummkopf und doch 
sehr edel, sehr klug und doch sehr schlecht sein könne. 
Aber ersteren beliebten Satz hebt er selber sogleich wieder 
a\if und deduziert in seiner geistreichen Art, warum die 
Dummen fälschlich in den Geruch der Gutartigkeit gekommen 
seien, ja gibt sogar zu, dass dumm und boshaft sich meist 
bedingen. Wie kann dann ein Logiker noch zweifeln, dass 
auch das umgekehrte Axiom „klug und schlecht^^ durch 
solch indirekten Gegenbeweis zerfällt? Hat er sich nie ge- 
fragt, ob Personen, die wir meist von Hörensagen her für 
„klug^^ halten, nicht bloss die ganz gemeine triebartige Klug- 
heit des Raubtiers besassen, und ob umgekehrt zweifellos 
bedeutende Menschen, die wir ohne eigene oder mindestens 
ohne tiefgehende Prüfung für „schlecht^^ halten, nicht im 
tiefsten Innern edle Regungen verbergen? Es scheint be« 
deutungsYoll, dass Richards HI. und Gesare Borgias Unter- 
gang, die wir doch als besondere Scheusale verabscheuen, 
von vielen ihrer Zeit beklagt wurde, wie denn Shakespeare 
nicht umsonst seinem hässlichen, bucklichen, keifenden Dämon 
(der historische war bekanntlich ein honigzüngiger hoch- 
gebildeter Jüngling von schönem AnÜitz) Ausbrüche von 
leidenschaftlichem Patriotismus und im grossen Monolog 
Gewissenssätze ethischer Erkenntnis in den Mund legt, auch 



— 119 — 

seine historisch beglaubigte Tapferkeit und Todesyerachtong 
herrorhebt 

Um YOQ solchen bei Schopenhauer beliebten Ab- 
schweifungen populärer Yeranschaulichung zum Begriff- 
lichen zurückzukehren, wie denkt er sich den Salto Mortale, 
dass der angeblich yom Willen stets abhängige und ge- 
knechtete Intellekt sich in einzelnen Individuen auf zwei 
Drittel des ganzen Wesens verstärken könne? (Beträgt 
er vielleicht bei Übergangsstufen zwei Fünftel oder wieder 
anderen drei Fünftel?!) Und wäre dem so, wofür er uns 
natürlich jedes Warum schuldig bleibt, was würde daraus 
folgern? Doch offenbar, dass die in blinden Willen 
gebannte Menschheit unerklärlicherweise aus sich eine 
höhere Basse (Genies) erzeugen kann und dass dieser 
Prozess vermöge siegreichen Anschwellens des Intellekts 
erfolgt Was wäre also das stärkste Element im Menschen? 
Der Intellekt — Natürlich wollen wir hiermit nur das 
„Primat des Willens'^ ad absurdum führen, denken aber 
unsrerseits nicht etwa daran, wieder den alten Irrwahn der 
Philosophen und Theologen seit dem „Nous^' des Anaxa- 
goras bis auf Cartesius und Leibniz aufzuwärmen, wonach 
der Mensch gleichsam nur „Intelligenz^^ sein soll. Das 
berühmte „Cogito, ergo sum^' kann man heut in Denker- 
kreisen einfach berüchtigt nennen, obschon es, was Kant 
anscheinend nicht einsah, einen notwendigen Übergang in 
der Entwickelungskette zum echten Transzendentab'smus vor- 
stellte. Nein, sum, ergo cogito! Das esse ist die einfache 
grosse Tatsache, in welcher es keine Mischung, keine Hälften, 
kein V2 • Vsi K^^t, sondern eine einzige konkrete kompakte 
Masse, in welcher Aktion von Willen und Intellekt, Phy- 
sischem und Psychischem, unlöslich zusammenhängt, so dass 
der Wille zum Denken oder Handeln mit dem Denken und 
Handeln identisch. Freilich besteht diese Einheit nur für 
unsere Vorstellung und die Inder wussten viele Jahrtausende 
vor unserer Zellentheorie, dass der Mensch sich aus ver- 
schiedensten Bestandteilen zusammenfügt, die im Leben das 
Bewusstsein des Ichgefühls als Präsidenten anerkennen, 
im Tode sich aber scheiden. Auch hat Schopenhauer seinen 
bunosen Willen - zum - Leben, auf dessen Erfindung sein 



— 120 — 

Weltrahm sich gründet, einfach aus dem Indischen über- 
nommen, aus unvollständiger Bruchstückkenntnis unklar 
herausdestilliert 

Denn dies ist nur das ,,Kama Rupa'\ dessen Begriff er 
wahrscheinlich nicht mal kannte, die Yerknotung des Eörper« 
liehen in die Sansara, beleuchtet vom höheren „Manas^' der 
Vernunft Während sich bei den Eantischen einfachen 
Definitionen : «^Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft^^ nichts Posi- 
tives denken lässt — denn wo liegt die genaue Orenzscheide 
von Verstand und Vernunft, wie entwickelt sich Vernunft 
aus Verstand oder wieso war sie gleichzeitig mit dem Ver- 
stand gegeben? — ,gibt das Indische Schema von den sieben 
Grundstoffen ein völlig klares anschauliches Bild. Da 
Schopenhauer nicht mal vom Astralen wnsste, so dürfte ihn 
noch mehr überrascht haben, dass auch seine Meinung, 
der nämliche „Wille^^ belebe die ganze Materie, längst 
Gemeingut der ürweisen am Ganges war. Wenn übrigens der 
Astronom Euler das Newtonsche Attraktionsgesetz als eine 
„okkulte Qualität'^ verbannt und die Gravitation auf eigene 
„NeigangundBegierde^^ der Körper zurückgeführt wissen wollte, 
so empfehlen wir einerseits die köstliche Ironie der Blavatzky 
(„Secret Doctrine'^ über das Gravitationsgesetz; andrerseits 
fragen wir die gewöhnlichste Logik, ob diese „Neigung und 
Begierde^^ wirklich nur einen instinktiven Willen bedeute 
und nicht vielmehr grade so gut als intelligente Absicht 
ausgelegt werden könne. Dies geschieht denn auch in der 
Indischen grossartigen Anschauung des Planetensystems als 
einer durchaus belebten Selbstbestimmung und Selbstregierung, 
allerdings unterm Ansporn des Karma, das auch alle Evo- 
lutionsperioden (Manvantara) heraufführt Dass die Vielheit, 
das principium individuationis, nur durch Zeit und Raum, 
letztere aber nur durch unsre Modalität der Erkennbarkeit 
bestimmt sind, diese ungeheure neue Entdeckung Kants 
bildete sozusagen den Anfangsbuchstaben der uralten Ge- 
heimlehre. Alles was man aber hier über das Allein- 
bestehen der Platonischen ,Jdeen^^ und die sonstige Gleich- 
heit des ewigen Werdens, der Identität in der Vielheit, 
sagen könnte, beweist gleichzeitig die innere Einheit des 
Seins im Menschen. „Daher könnte man auch behaupten, 



- 121 — 

dass, wenn ein einziges Wesen gänzlich vernichtet würde, 
mit ihm die ganze Welt untergehen müsste", prägt Schopen- 
hauer etwas paradox, aber konsequent, es aus. Nun wohl, 
ebenso müsste in der Vielheit des Individuums alles unter- 
gehen, wenn ein einziger Bestandteil desselben, also der 
Intellekt, wegfiele. Dem nun hinwiederum zu widersprechen 
ist Wasser auf Schopenhauers Mahle. Sein Nachweis wäre 
hier der naheliegende rohempirische: Wenn der Intellekt im 
Blödsinn zerfällt, lebt der organische Wille unbehindert fort, 
woraus also das Primat des Willens folgert Hier liegt aber 
bloss eine banausische Auffassung des Intellekts zu Grunde. 
Zwar gesteht Seh. selber zu, dass der Wahnsinn oft geniale 
Erscheinungen zeitige, obschon ihm nur ein dürftiges Material 
für diese heut dokumentär belegte Tatsache zu Gebote 
stand, vermag aber den Grund nicht zu erkennen. Nämlich 
weil dort der Yorstellungsschein des „normalen'^ Eausalitäts- 
begrifb teilweise gesprengt wird und dafür latente Yor- 
stellungsreihen aus dem „Unbewussten'^ auftauchen. Letzterer 
durch Hartmann bei uns eingebürgerte Begriff war ihm 
fremd, ohne ihn hätte er aber dem Indischen Erkennen, 
auch ohne dass man schon bis zum Okkultismus vorge- 
schritten zu sein braucht, vielfach ratlos gegenübergestanden. 
Mit taschenspielerischer Verwechselung, von der es in 
seiner spitzfindigen Dialektik wimmelt, versteht er unter Intellekt 
test durchweg den blossen Verstand, etwa den des täglichen 
Erwerbslebens, von dem man allenfalls sagen könnte, dass 
er der blosse Diener des gemeinen Willens sei. Doch mit 
kühnem Sprung heisst ihm Intellekt auch wieder die un- 
mittelbare unbewusste Intuition des Genius, vermutlich 
wären ihm also Hellgesicht und Prophetie auch intellektuale 
Zustände, obschon der Mediumismus und Somnambulismus 
doch augenscheinlich im Organischen (nach seiner Nomen- 
klatur „Willen'^) ihren Sitz haben. Dieser höhere, un- 
bewusste, wahre Intellekt ist aber, wie ihm eine Menge 
okkulte Experimente lehren könnten, unzerstörbar, ist latent 
in jedem Lebenden, also auch noch im Blödsinnigen, vor- 
handen und erweist sein wunderbares Vorhandensein erst 
recht, wenn der Satz vom Grunde nicht mehr tyrannisch 
wie im Normalzustand wachender Logik die Vorstellung 



— 122 — 

leitet. Es ist das innere Bewusstsein dessen, was er 
„Willen" nennt, nicht wie der gewöhnliche Verstand ab- 
hängig vom Zustand der Gehirnmasse, welchen materia- 
listischen Trugschluss auf die „Seele" er unverzagt wenigstens 
auf den „Intellekt^^ anwendet Auch ist die Hypothese von 
etwas Primärem und Sekundärem wieder ein Widerspruch 
zu obiger richtiger Allgemeinabstraktion über die Identität 
der Vielheit und die absolute Gleichwertigkeit des. Kleinsten 
und Grössten, da aus Primat des Willens eine ungeheure 
Wertdifferenz, wie er ja auch annimmt, und hiermit eine 
Verschiedenheit der Vielheit hervorginge. Die Lehre von 
der Identität gipfelt naturgemäss in der Identität des 
Menschenseins in sich selber. Was daher unzerstörbar bleibt, 
ist etwas, wofür „Wille" und „Intellekt" nur zwei falsche 
Namen, besondere Namen für eins und dasselbe. Übrigens 
könnten wir, wenn wir nicht derlei Unterscheidungen und 
Absonderungen für grundsätzlich verkehrt hielten, mit 
gleichem oder besserem Recht das ganze System umkehren 
und den Willen erklären für blosse Funktion und Eausal- 
wirkung des Manas (höheren unbewussten Intellekts, wohl- 
gemerkt nicht des bewussten niederen Verstandes, der mit 
„Eama Bupa" verschwindet als dessen steter Begleiter). Dies 
konmit der letzten Wahrheit und der von Seh. angeblich so 
inbrünstig verehrten Indischen Weisheit auch ungleich näher, 
zumal das Prinzip der Erlösung nur aus dem Manas keimen 
kann, dieses aber den Zweckbegriff des ganzen Weltphänomens 
darstellt Allein, es waltet doch gleichzeitig das gestaltende 
Gesetz des £arma und dies bedarf des Eama (Leib, 
Willen), was den Manas, ehe er nicht in Nirwana einging, 
so unlöslich in der Wiedergeburt dem „Willen zum 
Leben" verkettet, dass beide wenigstens für unsre mensch- 
liche Vorstellung des Seins als zusammengewachsene 
siamesische Zwillinge erscheinen. Eine Klärung der ganzen 
erhabenen Angelegenheit bringt nur das Prinzip des trans- 
zendentalen Ego, zu welchem weder Kant noch Schopen- 
hauer den Durchbruch fanden. 

Seh. verkennt nicht sein Taumeln in einem fremden, vor 
ihm allerdings von Europäern unbetretenen Gebiet (Es sei 
denn Giordano ausgenommen, der ganz von selber ohne es zu 



— 123 — 

wissen als Neaplatoniker zu Indischer Urweisheit — trans- 
formierender Seeienwandelung, allausgleichender Gerechtig- 
keit in den Wiedergeburten der Seelenmonade, gleichzeitiger 
Transzendenz und Immanenz der Gottheit — zurückgelangte.) 

^ch wollte, dass mir möglich wäre, durch Klarheit 
der Darstellung die dem Stoffe anhängende Dunkel- 
heit zu überwindend^ (Buch II, S. 173 der Frauenstädtschen 
Gesamtausgabe, 1873). Wie es mit dieser Klarheit steht, 
sahen wir nun schon zur Genüge. Wenn er aber eine zer- 
setzende Kritik der Kantischen Philosophie, soweit sie ihm 
Dicht passt, hier und da mit Recht, als Anhang seinem 
Hauptwerk hinzufügt, so können wir ihm die Büge nicht 
ersparen, dass er Kants geniale Unterscheidung des em- 
pirischen vom intelligibeln Charakter gründlich missverstand, 
indem er letzteren mit seinem Kunstausdruck „Willen^' iden- 
tificierte und Kant vorwarf, Kant sei hier eben nicht wie sein 
grosser Nachfolger auf den Grund gegangen. Vielmehr 
schwebte Kants Sehergeist hier offenbar grade das vor, was 
wir heut das transzendentale Ego nennen oder mindestens 
das ünbewusste des Manas. 

Die Definition der Welt als „Wille zum Leben^^ erscheint 
als eine ohnehin höchst einseitige und mangelhafte. Die 
AuffiEtösung des Menschenwesens als blosser „Wille^^ hält 
schon anfangs der Logik nicht stand, um nachher in zahl- 
reiche unlösbare Zwischenfragen zu verwickeln: Weil hier 
die logische Verknüpfung des Karmagesetzes als einer 
moralischen Weltordnung fehlt, obschon Seh. wiederholt eine 
ewige Gerechtigkeit ahnen lässt und diese schlechteste aller 
Welten als notwendiges Spiegelbild und Bestrafung des 
bösen Menschen willens gleichsam mit gleichem Eifer ver- 
teidigt, wie Leibniz seine erlogene beste aller Welten, wo- 
mit aber eigentlich der Begriff des Pessimismus hinfällig 
wird. Auch in Voltaires „Gandide^^ wird Leibniz zwar 
glänzend verspottet, am Schluss aber, dessen Maxime auch 
Kant so gefiel und von ihm angelegentlichst empfohlen ward, 
im Grunde eine gewisse Behaglichkeit erreicht: mit Verzicht 
auf jede Spekulation und selbstgenügsamem Bebauen des 
eigenen Gärtchens. Überhaupt wird man mit Ausnahme 
des durch und durch gekünstelten Leopardi, der deshalb 



— 124 — 

dem künstelnden Seh. so sehr behagt, nirgendwo in der 
wahren Dichtung, diesem unmittelbaren intuitiven Anschauen 
des Intellekts, ein eigentlich pessimistisches Endurteil über 
das Leben finden. In dem erhabensten Hohelied einer 
tragischen Weltspekulation, Byrons „Kain", in dem wie in 
vielen philosophischen Stanzen des „Don Juan'' mehr echte 
Metaphysik steckt — nämlich anschaulich intuitive — als 
in fast sämtlichen aussenndischen Philosophen, fühlt der 
Mensch sich niemals niedergedrückt, sondern befreit und 
erhoben, toU einer gewissen transzendentalen Hoffnung: 
^,Duldet und denkt! Schafft eine eigene Welt im Innern, 
wenn die Aussenwelt versagt! So kommt der geistigen 
Natur ihr näher und kämpft mit eurer eigenen bis zum 
Sieg!'' Es blieb Seh. vorbehalten, jene erhabene Melancholie, 
welche die Erkenntnis unsrer ünheiligkeit in den besten 
Qemütem hervorbringt, immer gepaart mit der Freudigkeit 
des Kampfes und der Hoffiiung auf eine unbekannte Er- 
lösung, zu einem Zustand endlosen miselsüchtigen Janmiems 
über unsern Aussatz zu vergröbern und diesen auf die ganze 
Menschheit zu übertragen. Sein Verfahren hierbei ist ebenso 
einfach wie naiv, in widerlichem Sinne populär, weshalb 
alle Flachköpfe bei diesen vielgelesenen Kapiteln tiefsinnig 
Amen nicken. Der Schmerz ist positiv, die Freude negativ, 
denn ersterer dauert, letztere ist flüchtig, weil Begierde selbst 
nur Unlust und dem Oenuss sofort wieder neue Begierde 
folgt? Wiederum willkürliche Unterscheidung für eins und 
dasselbe. Zuvörderst hätte Byron, den er oft zitiert und 
dessen intuitive dichterische Philosophie — sehr oft mit In- 
dischem Empfinden sich deckend — dann wie ein Lichtblick 
durch dunstigen Nebel wirkt, ihn belehren können: „Alles 
Leiden zerstört oder wird vom Leidenden selber zerstört", 
was dann genial noch weiter ausgeführt wird. Der Schmerz 
ist also ebensowenig dauernd wie die Freude. Was aber 
versteht Seh. unter letzterer? Ausdrücke wie Begierde und 
Genuss wirken da immer verdächtig. Gewiss, der ganz rohe 
Sinnengenuss löscht den Durst nicht (wie Salzwasser, sagen 
die Inder), nichtsdestoweniger ist er als solcher im Augen- 
blick genau so positiv wie der physische Schmerz. Dass 
Begierde ein nur peinlicher Zustand sei, ist psychologisch 



— 126 — 

falsch, weil mit ihm die Hoffnung auf seine Stillung ver- 
banden, Hoffnung aber stets ein indirektes Lustgefühl (An- 
reiz) ist Ausserdem erinnert uns dies an Aussprüche 
Ooethes und Bismarcks, dass sie nicht mehr als im Ganzen 
etwa vier Wochen reinen Behagens im Leben genossen, und 
die entrüstete Glosse aller tüchtigen Leute dazu, was diese 
grossen Herren denn eigentlich vom Leben verlangten! In 
dieser Hinsicht hat wenigstens Nietzsche einmal ein wackeres 
Wort: „Glück? Ich bin da, um mein Werk zu tun" und 
„Der Held ist heiter^^ Der geistige Genuss, als Lektüre 
Unzähligen zugänglich und als Selbstschaffen nicht allzu 
Wenigen, ist ein so positives Gut, dass er allein das Leben 
lohnt, und die Arbeit schlechtweg bringt eine dauernde 
Selbstbefriedigung. Begierde? Gibt es keine Begierde nach 
idealen Gütern, nach Werken und Taten? Vollends die 
Begeisterung, einem Schopenhauer natürlich fremd, und alle 
Gefühle reiner Liebe, werktätigen Mitleids, opferbereiter 
Bewunderung geben dem ganzen Wesen einen freudigen 
Elan, der sogar aufs Physische reagiert: Ein gutes Herz 
fördert die Gesundheit! Doch wozu uns in tausend Einzel- 
heiten verlieren! Wenn wir laut unserm Schwarzkünstler 
aus dem Schmerz immer nur in die Langeweile taumeln — 
Mittelzustände erkennt er unmassgeblich nicht an, son- 
dern dekretiert, was ihm beliebt — , so müssen wir be- 
dauern, dass er so viel an Langeweile litt, und können 
ihm und seinen Jüngern nur dringend empfehlen, 
zur Langeweile keine Zeit zu haben, weil es immer was zu 
arbeiten gibt. In der verlästerten Phrase Dubois-Beymonds, 
Faust hätte lieber Gretchen heiraten und die Luftpumpe 
erfinden sollen, würde, wenn sie nicht läppisch mit Gelehrten- 
anmassung sich an ein Kunstwerk gerichtet, sondern dem 
Leben selbst gegolten hätte, viel Wahres gesteckt haben. 

Übrigens komme man uns nicht mit der Ausrede, Meister 
Arthur habe nur das Leben des Durchschnittsmenschen zur 
Grundlage genommen. Dies kennt er ja gar nicht gründlich 
nach logischer Anwendung der Subjektivitätsthese, da wir 
das Objekt immer nur von uns selber aus beurteilen; auch 
betont er ja an anderen Stellen ausdrücklich das Behagen 
der Philister. Wie der Mensch, so sein Gott, so seine 



~ 126 - 

Philosophie: Seh. stöhnt sein eigenes Elend aus. Wie 
verzweifelt er übrigens nach Dokumenten seiner Ver- 
elendungstheorie herumsuchen muss, zeigt ergötzlich sein 
einziges triftiges Beispiel aus der Natur, indem er bis Java 
laufen musste, um Schildkröten zu finden, die von wilden 
Hunden lebendig gefressen werden — bei dem geringen 
Schmerzgefühl der Schildkröte nicht so ungeheuerlich — oder 
den Fall eines Eichhörnchens, das einer Schlange hypnotisiert 
in den Bachen fiel! Wenn er Kriege und dergleichen, 
wobei er deutlichst auf den Erzbösewicht Napoleon hinzielt, 
uns schaudernd vorhält, so kann man von ihm, dem Deserteur 
von 1813, freilich nicht erwarten, dass er die Wonne des 
Kampfes kennt für eine gerechte Sache. Yon uns aber 
erwarte er nicht, dass wir seine weichlich spiessbürgerliche 
Unmännlichkeit als der Weisheit letzten Schluss verehren. 

Bein abstrakt gesprochen, wovon wir vorübergehend 
abgekommen sind, weil seine eigene populäre Beweisführung 
so wenig der Würde des Gegenstandes entspricht, durch- 
dringen Schmerz und Lust sich gegenseitig, sind beide 
positiv und negativ. Das Leben, Schauen, Empfinden, 
Arbeiten, Kämpfen ist an sich ein Gut; er selbst sieht übrigens 
an einer Stelle ein, dass die in mechanischer Handarbeit 
frohndenden Millionen durchschnittlich zu gar keiner anderen 
Arbeit fähig wären, also ihre Lebenslage genau ihren An- 
lagen entspricht. Dass tausend Widerwärtigkeiten dies Gut 
vergällen, stimmt Darob ist aber die Erde noch nicht 
ein Jammertal und nur, wer in streng materialistischer 
Dummheit nur materiellen Genuss bejaht, wird deshalb das 
Leben als wertlos verneinen. Wer über das einmalige Dies- 
seits hinausschaut, und das will ja Schopenhauer, wird nie- 
mals das Leben verneinen, sondern nur den Willen-zum-Ich. 
Welche Konfusion Seh. hier angerichtet hat, betonten wir 
schon früher. 

Wenn er auf die Kunst zu sprechen kommt, befindet 
sich Seh. erst in seinem Fahrwasser. Da kann er nach 
Herzenslust geistreicher Dialektik fröhnen, Begriffe hin und 
her wenden. Wir haben aber in all seinen Äusserungen 
über die einzige ihm technisch verständliche Kunst, die 
Dichtung, nicht einen einzigen tiefen Gedanken gefunden, 



— 127 — 

als ob er gleichsam hier die Konkurrenz grösserer Geister 
fürchte. Yen der Würde der Dichtung hat er so un- 
genügende Ahnung, dass er die Musik darüberstellt, bloss 
weil er hier allerlei abstruse Haarspaltereien auftischen kann. 
Wobei es dann übrigens wieder an Widersprüchen nicht fehlt. 
Wir werden bei Richard Wagner darauf zurückkommen. 

Dass er die Dichter für Spender hoher Weisheit erklärt, 
ist erfreulich. Leider muss man ihm sagen, dass Byrons Yers 
„Sind nicht die Wellen, Berge, Wolken nur ein Teil von mir, 
wie ich von ihnen ?^^ sein betreffendes Kapitel klarer be- 
leuchtet, als alle seine Deduktionen : So viel höher steht die 
unmittelbare intuitive Anschauung. Es ist ja ganz richtig, 
dass die „Erkenntnis^^ nämlich im äusserlichen Sinne als 
blosse Vorstellung, das Ding-an-sich nicht fasst, weil sie 
„stets von aussen zu den Dingen kommt^^ und daher auch 
draussen bleibt. Dass wir uns aber mit dem „Willen^' im 
Innern der Dinge befänden, ist eine Verwechselung mit dem 
Unbewussten, nämlich der höheren Vernunft des Intellekts, 
dem „Manas^\ welcher als irdischer Vizekönig des transzen- 
dentalen Ego wirkt. Dass Seh. diese Unmittelbarkeit, wie 
dem künstlerischen Genius eigen, nicht besass, bezeugt auch 
seine Entdeckung, das Gesicht sei der Sinn des Verstandes, 
das GtehöT der Sinn der Vernunft, indem er sich roh empi- 
risch an Vermittelung von Wort und Sprache hält. Darüber 
im Wagnerkapitel das nähere. Einen so groben Selbst- 
widerspruch aber hätten wir sogar ihm nicht zugetraut, wie 
die Feststellung „Über das metaphysische Bedürfnis^^, dass 
Not und Unsicherheit des Lebens allein das Nachdenken, 
also die Ausbildung der Vernunft verursachten. (Was aller- 
dings nur relativ zutrifft, da auch Glück und Sicherheit ein 
Spekulieren über die letzten Dinge nicht ausschlössen.) Nun, 
dann hat ja also das WelÜeid einen äusserst bestimmten 
Zweck und verdanken wir ihm allein eine Erhöhung des 
stumpfen Willens, womit der Pessimismus wiederum nur 
als ruppiger Katzenjammer enttäuschter Genusssucht übrig 
bleibt, sonst aber jedes Becht verliert Wenn die Vemunft- 
erkenntnis Folge der Not und sie fähig wird, den angeblich 
allmächtigen Willen zu verneinen, so erfüllt also das Leben 
vorzüglich seinen Zweck: nur unsere verstockte Schwäche 



— 128 - 

will diesen Zweck nicht erkennen. Da es sich obendrein 
nicht um Verneinung des Lebens handelt, was eine Un- 
möglichkeit wäre, da niemand aus dem Sein fallen und durch 
Nirwana trotzdem in höheres Sein eingehen kann, sondern um 
Verneinung des Ichs, so steht jedem jederzeit frei, das Leben 
richtig zu leben und in dessen Zweck das eigene Glück zu 
finden. Natürlich verwechsle man diesen theoretischen 
Optimismus nicht mit der rohempirischen Selbsttäuschung 
des satten Philisters, denn das himmelschreiende Elend so 
Vieler auf Erden stopft derlei niedrigem Eudämonismus das 
Maul. Der Denker aber hat die Dinge im Grossen anzusehen, 
nicht um das einzelne „Eichhörnchen^^ sich zu kümmern, 
auch nicht um Millionen Erschlagener, sondern um die 
„Idee^^ der Schlachtfelder: die Lehre vom Earma bringt 
die Gerechtigkeit der Leiden sofort ins rechte Geleise. Auch 
gibt es eine „Wonne des Leids^^ Vor allem aber sollte man 
mit Maeterlink fragen, ob nicht neun Zehntel alles Menschen- 
leides nur durch der Menschen eigene Torheit verschuldet. 
Nun, Übel möglichst zu beseitigen, dazu gibt nur 
theoretischer Optimismus den Anstoss, nie feiger Quietismus, 
der die Hände in den Schoss legt und der, mag er auch bei 
den Brahmanen stagniert haben, von Buddha geradeso ver- 
fehmt wurde, wie die im Selbstpeinigen selbstsüchtige Askese. 
Wahr genug meint Seh., dass die alten Inder, dem Urquell 
des organischen Lebens näherstehend, grössere Energie der 
Erkenntniskräfte und richtigere Stimmung des Geistes hatten, 
um zur unmittelbaren Auffassung des Naturwesens zu ge- 
langen; ja, er nennt die Upanischaden „übermenschliche 
Konzeptionen^^ was er noch für Höheres (Geheimlehre usw.) 
hätte aussagen dürfen, wenn ers gekannt hätte. Dann wird 
er gestatten, dass wir uns nicht an seine Verzerrung uralter 
Weisheit, sondern an das erhabene Urbild halten. Hier aber 
gibt es keine Verwechselung von Verstand (Gehimleben; 
mit dem höheren Vernunftintellekt, kein Primat des orga- 
nischen Lebens, das er „Willen^^ tauft, sondern einheit- 
lichen Lebensakt des Earma, überwacht vom unsterblichem 
Freiheitslicht des Ding- an- sich, von welchem unser deter- 
ministisch gebannter Wille nur ein trüber, störender 
Schatten. 



— 129 — 

Willen und Intellekt (Verstand) sind beide nur in sich 
verschmolzene Sekundärerscheinungen der einen grossen Ur- 
sache, der zugleich immanenten und transzendenten Welt- 
yemunft, die uns freilich ,,das Unbewusste^^ bleibt, uns 
aber bewusst leitet, wie denn Seh. mit seltsamem Ge- 
dankensprung sich sogar der Möglichkeit einer persönlichen 
Yorbestimmung yermittels einer scheinbaren Vorsehung nicht 
entzog. Das Wie ist allerdings „Pratschna Paramita", jen- 
seits aller Erkenntnis, worunter aber nur begriffliche Er- 
kenntnis verstanden werden muss, während unmittelbare 
Intuition („Schauung^') es entschleiert. 

Dass Schopenhauer so klare Einsichten und vortreffliche 
Gesinnungen zeigt, sobald er sich von allem Metaphysischen 
zur blossen Ethik zurückwendet, und eigentlich nur auf 
diesem Gebiete Unwiderlegbares äussert, das ihm doch ver- 
möge seiner eigenen ethischen Beschaffenheit am fremdesten 
sein sollte, gehört zum Merkwürdigsten dieser merkwürdigen 
Erscheinung. So hat er auch richtig die unerträgliche Auf- 
pfropfung des Judentums, das er hasst und verachtet, auf 
das Urchristentum und hierdurch die Verfälschung des 
sogenannten Christentums herausgefühlt; ebenso den 
modernen platten Protestantismus als einen noch ärgeren 
Abfall vom buddhistischen Urchristentum, das die katholische 
Kirche doch in manchen Dogmen wenigstens unter mythisch- 
mystischem Gewände bewahrt und in Keuschheit, Armut, 
Gehorsam der ecclesia militans ausdrücken wollte. Das sind 
freilich lauter billige Einsichten. Dagegen fällt unangenehm auf, 
dass Schopenhauer, der doch mehrfach seinen Groll gegen 
das, was man Christentum nennt, ausdrückt, am Schluss sich 
damit brüstet, seine Lehre stimme mit der christlichen „so- 
wie der brahmanischen^^ überein. Also letztere nennt er 
verstohlen hintennach, indess er doch seine ganze Anregung 
aus ihr schöpfte. Nun unterscheidet sich aber schon die 
archristliche Ethik, soweit wir sie unter der kirchen- 
christlichen noch erkennen können, von der brahmanischen 
völlig in den Motiven. Denn sie geht, wie das Judentum 
vom Gehorsam gegen mosaische Gesetze eines Jehova, wenig- 
stens von der Liebe zu einem himmlischen Vater aus: „auf 
dass ihr werdet Kinder eures himmlischen Vaters.^' Dies 

Bleilitren, Die Vertreter des Jahrhunderts. 9 



— 130 — 

mag ein genialer Eompromiss des Buddha Jesus sein, um 
den denkfaulen Occidentalen das „Oöttliche^' anschaulicher 
zu machen, worauf denn auch der Unverstand alsbald 
reagierte und sich neue Oötzen schuf, und wenn Jesu 
Aussprüche, sobald sie sich nicht auf praktisch popularisierte 
Ethik beziehen, eine streng theosophisch-okkulte Metaphysik 
atmen, so unterscheidet sich auch diese gewaltig von Schopen- 
hauer, der zwar die Symbolik der Erbsünde und der 
Ereuzigung-Entsühnung richtig erfasst — natürlich im vollen 
Gegensatz zur rohempirischen wörtlichen Auslegung der 
Kirche — , aber das Mysterium der Trinität gradezu spass- 
haft paraphrasiert „Gottvater'^ soll nach ihm der „Wille^' 
sein, während Jesu Wort ,4ch gehe zum Vater*' natürlich 
auf den transzendentalen „Urgrund^' der Dinge zielt Hier 
begegnet man übrigens auf einmal folgender erstaunlicher 
Enthüllung: dass „Bejahung und Verneinung entgegengesetzte 
Akte des selben Willens sind, dessen Fähigkeit zu Beiden 
die alleinige wahre Freiheit ist** Da hört doch Alles auf! 
Zwei dicke Bände lang hat er uns den Willen schlechtweg 
als Wille-zum-Leben und stets bejahend vorgesetzt, und jetzt 
ganz am Ende (II, 724) ist auf einmal die Verneinung des 
Willens-zum-Leben ein „freier^* Akt dieses nämlichen blinden 
tollen Willens!! Und dies, nachdem er ununterbrochen sehr 
richtig jede Freiheit innerhalb der Erscheinungswelt bestritt! 
Denn solche grandiose Freiheit der Selbsterlösung wäre doch 
schon nicht mehr transzendental, sondern hierorts im irdischen 
Leben wirkend! Dass die „Umkehr** nur durch Erkenntnis 
herbeigeführt, hiermit also der Intellekt als Meister des 
Willens klar wird, hat er mit diesem urplötzlichen Schluss- 
einfall vertuschen wollen. Doch wird das Wunder auch 
hiermit nicht klarer. Denn nur Karma und transzendentales 
Ego machen die „Umkehr" und „Verneinung** begreiflich, 
die sonst ausser aller Kausalität läge, sich aber in Wahrheit 
gleichfalls deterministisch durch Vorbestimmung vollzieht, 
durch die transzendente Evolution innerer Eausalbedingung. 
Und was hören wir da plötzlich (II, 699): „In der 
Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den 
Schoss der Natur zurückfällt oder aber dieser nicht mehr 
angehört"?! Sehr wahr, so sagt die Geheimlehre, aber wie 



— 131 — 

kommt Saal unter die Propheten, wo kommt ganz jählings 
und unvermittelt diese Behauptung her, von der bisher 
keine Spur seiner Deduktionen etwas meldete? Ohne sich 
zu irgendwelcher Begründung herbeizulassen, phantasiert er 
dazu in krassem Aberglauben, dass deshalb Beichte, Kom- 
munion, letzte Ölung so nötig sei, damit man die Sterbe- 
stunde benutze. Hätte er die Geheimnisse des Astralen 
geahnt, so würde er wohl nicht so kindisch gewähnt haben, 
die Selbstbestimmung des Sterbenden und Toten sei an solch 
erbärmliche Zufälle geknüpft! 

Hier und da findet er hochbedeutende Sätze wie: 
„Könnte der Mensch jemals nicht sein, so wäre er schon 
jetzt nicht^^ mit den dazu gehörigen Begründungen (II, 559). 
So das geniale Gleichnis auf Seite 388 über die Endursachen, 
wie denn überhaupt die Kapitel 23—27 des U. Bandes wohl 
sein Bestes geben. Dagegen operiert er mit so ungeklärten 
Begriffen, dass er den Buddhismus gelegentlich atheistisch 
nennt, was er ebenso wenig ist wie pantheistisch, wenn 
man nicht beides in unreifster Weise aufiasst. Dann wären 
Meister Eckhardt oder Angelus Silesius eben auch atheistisch 
und der heilige Franz von Assisi ein Fantheist Auch 
die „Heimsuchung des Brahma^^ in Buddhas Parabeln, 
übrigens Schopenhauer natürlich unbekannt, darf man nicht 
„atheistisch^' verstehen, da nach Buddha der letzte Urgrund, 
das Unendliche, sich allem Endlichen, daher nicht nur dem 
begrifflichen Wort, sondern auch dem begrifflichen Denken 
entzieht Wie kommt es endlich, dass Seh. die grosse 
Frage nicht anschneidet, warum Buddha die körperliche 
wehleidige Askese verwirft und auch einsiedlerische Kon- 
templation ihm erst als Lohn eines werktätigen langen 
Lebens der Selbstaufopferung erscheint? Wie kommt es, 
dass seine Ethik, für die er nichts eigenes, sondern nur 
Beispiele und Zitate anzuführen vermag, so kalt und abstrakt 
wirkt und wohl keinen seiner Leser wirklich erwärmte? 

Darauf möge als Bezeichnung seines innersten Defekts 
der erhabene Adept (Initiierte) Paulus antworten: „Wüsste 
ich alle Geheimnisse und hätte allen Glauben und hätte 
der Liebe nicht, so wäre ich nichts.^^ 

^-^^ 

9» 



Die EMchen des Perfiden Albioo: Dickens nnd Tiiackeray. 

Während im lyriscbromantisch yerseuchten Deutschland, 
wo noch auf lange hinaus die Romantische Schule und all 
ihre Ausläufer in ästhetischen Salons schwarmgeisterten, 
Schopenhauer unbemerkt und in der Stille den Menschheits- 
yertreter spielte, bildeten sich im dramatischpraktisch be- 
wegten England Charaktere im Geräusch der Welt Nach 
der strotzenden Renaissancegenialität, die in England erst 
mit Cromwell wie in Deutschland mit Wallenstein endete, 
verfielen beide Germanenländer dem ungesunden französischen 
Einfluss akademischer Klassizität Etwas später als in Deutsch- 
land, da Burns und Macphersoos „Ossian^^ nur yereinzelte 
and unklare Auflehnungen der Naturpoesie bedeuteten, 
zerbrach das literarische England dies geistige Joch. Die 
Revolutionszeit und der Kampf gegen Napoleon um die 
Weltherrschaft entfesselten die verborgenen genialen Kräfte 
des eigenartigen Inselvolkes aufs neue. Während in der 
verflossenen langen Epoche von Dryden bis Campbell be- 
zeichnenderweise Iren und Hochschotten den Ton angaben, 
Pope, Swift, Sheridan den keltischen Formsinn und keltische 
Gesellschaftssatire ausbildeten, trat jetzt das Germanische 
wieder in den Vordergrund, das zuletzt im theologischen 
Pathos Miltons einen ungaren und akademisch verkünstelten 
Ausdruck gefunden hatte. Britannien gewann den Ruhm, 
in einem Lord, dessen Blut aus normannischen, sächsischen, 
keltischen Bestandteilen zusammenfloss, den grossartigsten 
Dolmetsch des gesamten prometheischen Zeitgeistes zu 
spenden, und neben Byron erhob der angelsächsische 
Baronet Shelley die Stimme des abstrakt transzententalen 




— 133 — 

germanischen Idealismus und zugleich des besonderen angel* 
sächsischen Sadikalismus. Der Sachse Wordsworth^ ein 
Mann aus dem Volke, schwelgte in altgermanischen Gemüts- 
tiefen, der Niederschotte Scott stöberte aus geschichtlichen 
Buinen ein breites skalden massiges Behagen ruhig schlichter 
Erzählungskünste auf. Aber nach Byrons Tode, dessen 
poesieumflosseno Erscheinung auf das gesamte Leben 
Britanniens abfärbte und eine gesteigerte Neigung zu 
poetischer Lebensauffassung in der nur äusserlich reali- 
stischen und demokratischen, innerb'ch idealistischen und 
aristokratischen, englischen Gesellschaft verbreitete, ging der 
Jaggemaut wagen des Industriasmus und der Nivellierungs- 
demokratie auch über diese zweite grosse Geistesperiode 
Englands zermalmend hinweg. In Shakesspeares Vaterland 
verschwand das Drama völlig, selbst die vielbejammerte 
Unzuchtkomödie der Stuartzeit stand dem Literarischen 
ungleich näher, als die elende Theaterfabrikation der heutigen 
englischen Bühne. Der Vers ermattete zu den elegischen 
Tändeleien Tennysons und verröchelte in den gequälten 
Erampfzuckungen des Browning'schen allegorischen Tiefsinns 
und den farbenprunkenden Ästhetenmätzchen der Swinburne, 
Morris, Rossetti. In den Wissenschaften versuchten Herbert 
Spencer und J. St Mill, allerlei fremde Anregungen für 
englische Philosophie auszugeben, unfähig zur denkerischen 
Fülle eines Bacon, ja selbst zur brutalen Schärfe der 
Sensualisten Locke, Hobbes, Hume, begnügte man sich mit 
den exakten Dokumenten naturwissenschaftlicher Studien. 
Das grössenwahnsinnige Jahrhundert wusste sich etwas da- 
mit, einen Darwin und Huxley hervorzubringen, als ob derlei 
emsige Forscher je die freischaffende Geistesarbeit ersetzen 
könnten und als ob Newton und Laplace nicht unendlich 
Grösseres im Gebiet der Naturwissenschaften geleistet 
hätten. Eine Reihe mittel massiger oder leidlich tüchtiger 
Historiker, die gar keinen Vergleich mit deutschen und 
französischen aushalten, fand ihren Mittelpunkt im welt- 
berühmten Macaulay, der oberflächlich mit whiggistischem 
Parteilaternchen die vaterländische Geschichte beleuchtete 
und seine leichtflüssige Seichtigkeit hinter gefälliger, oft 
pomphafter und meist chauvinistischer, Vortragsweise 



- 134 — 

versteckte. Unter all solcher Dilettantenwirtscbaft oder 
beschränkter Spezialistenarbeit erschienen Sozialreformer wie 
Owen, wie Cobden, obschon auch hier nur die National- 
ökonomie Adam Smiths aus einem geistreicheren Jahrhundert 
den Grund legte, und vor allem der Dampfgebieter James 
Watt als tüchtigere Kerle, bei denen man doch Wo und 
Wie in positiven, wenn auch äusserlich materiellen, Ergeb- 
nissen sah. Parlamentsrhetorik und Staatsmannschaft ver- 
loren längst den grossen Zug der alten Heroenzeit Yen 
beiden Pitt, Fox, Sheridan, Burke kam man auf Canning, 
Peal, Palmerston herunter, um noch die Besten zu nennen. 
Diese Augenblicksfiguranten von denen keiner auch nur 
den Wuchs eines Gavour erreicht, genossen ein flüchtiges 
historisches Ansehen, das ihnen gar nicht zukam, Hessen 
sich einfach von den Ereignissen innerer und äusserer 
politischer Phänomene treiben, mit allerlei liberalen oder 
chauvinistischen Phrasen kokettierend. Die immer zunehmende 
Demokratie allein bestimmte die Massenentwicklung, und 
in ihren Dienst stellte sich auch das wenige selbständige 
Talent, das nach zeitgemässem Ausdruck suchte, wofern es 
nicht im passendsten Ventil des Massenaufstandes der Yiel- 
zuvielen leeren Dampf verpaffte: der Presse, diesem Industrie- 
geschäft des Aufkläricht Denn wer sich dafür zu vornehm 
dünkte und wirklich etwas zu sagen hatte, der verfiel alle- 
mal auf das nämliche Auskunftsmittel: er schrieb moderne 
soziale Bomane. Das Überwuchern dieser Bastardgattung 
des alten Epos, mit zahlreichen neuen Vorzügen und un- 
ausrottbaren Mängeln, hat auch die schöne Literatur 
demokratisiert, sie dem Verständnis des grossen Haufens 
verknüpft. Seit man anfing, Bomanschriftsteller schlechtweg 
„Dichter^' zu nennen, sank das Durchschnittsniveau der 
Belletristik von Stufe zu Stufe. Freilich, der Erste, dessen 
moderne Gesellschaftsromane einen Weltruf eroberten, Lyiton 
Bulwer, stammte noch aus der Byronepoche, die er als 
Jüngling mit durchlebte, und ein Abglanz davon blieb bis 
zu seinem späten Tode (in Paris während der Kommune) 
auf seinen Werken haften. Seine umfassende Bildung suchte 
Scotts Historien mit tieferen Forschungen nach geschichtlichen 
Beziehungen zu vereinen, in welcher Hinsicht sein „Letzter 



— 135 — 

der Tribunen^^ und ^tzter der Barone^^ achtunggebietender 
als sein anmutiges künstlerisches Meisterwerk „Die letzten 
Tage von Pompeji." Später verirrte sein von Anfang an 
aufdringliches Hervorkehren des Philosophischen sich sogar 
in spiritistisch- okkulte Gebiete. Seinen Weltruf gewann er 
jedoch nur durch seine grossen Qesellschaftsromane, zu 
deren Abfassung ihn seine eigene Zugehörigkeit zur vor- 
nehmen Welt befähigte. Nicht nur das Volk, sondern auch 
der Mittelstand fallen in diesen Schilderungen fast völlig 
ans, das wohlhabende Bürgertum wird nur selten in einigen 
Typen mit geringschätziger Herablassung ironisert, die 
Aristokratie bei aller Schärfe der Analyse eher verherrlicht 
Des Autors eigene Sympathie weilt bei Pelham und 
Maltravers, selbst unangenehmen oder beschränkten Edel- 
mannsgestalten dichtet er noch allerlei vornehme Züge an, 
die in der Wirklichkeit selten hervortreten. Sogar seine 
Gelehrten (Caxton oder der Erfinder im ,,Letzten der 
Barone'') und Dichter müssen von alter „Familie" und Her- 
kunft sein! 

Als Kunstwerke wie als wahrheitsechte Spiegelungen der 
Gesellschaft stehen diese reichbelebten und spannenden Er- 
zählungen nicht höher, als etwa die Romane der Gräfin 
Hahn-Hahn oder die Tagebücher des Fürsten Pückler-Muskau. 
Ebenso geistreich, ebenso manieriert und affektiert, wie die 
Salonromantik der Hahn-Hahn, aber auch ebenso voll 
poetischem Duft und hochfliegender Gesinnung, erhebt sich 
Bulwers Lebenswerk über den Highliferoman, der bis zur 
Mitte des Jahrhunderts die europäische Leserwelt beherrschte 
und der nicht nur bei Eugene Sue, sondern auch noch bei 
Balzac solchen magern Ausschnitt kleiner Kreise als „Leben'' 
und „Welt' vorspiegelt, nur durch eine gewisse Würde der 
Gesinnung und den ungewöhnlich hohen Bildungsstand des 
Autors. Dass Werk und Autor sich fast immer decken, 
zeigte sich auch hier. YoU aristokratischem Tic trotz aller 
humanliberalen Geistesfreiheit, hochmütig, eitel, gallig und, 
wie es scheint, unnahbar selbstsüchtig als Privatmann, be- 
tätigte Bulwer andrerseits seine Idealität durch achtbare 
politische Haltung und generöse öffentliche und geheime 
Wohltätigkeit Dieser Nobleman war wirklich nobel, bot 



— 136 — 

gemeinsam mit Lamartine das letzte emstzunehmende Bei- 
spiel des literarischen Aristokraten mit parfümiert exklusiver 
Haltung, einem fossilen Überrest jener verflossenen Zeitalter, 
wo das Noblesseoblige der Geistesbildung fast ausschliesslich 
in Händen des Adels lag. 

Aber nun brach die Demokratie übermächtig in die 
Literatur herein und formte sie nach ihrem Bilde. Was 
Byron, was Shelley! Revolutionäre mochten sie gewesen 
sein, aber der Aristokrat wird doppelt verhasst, wenn er als 
Oeistesaristokrat auftritt Ein unsühnbares Yerbrechen, wenn 
der angebliche Demokrat doch so vornehm abseits steht von 
der Pöbeldemokratie der Yielzuvielen. Schon dass sie Prosa 
verschmähten und Verse schrieben, stösst ab. Die gebundene 
Rede ist ,die Sprache der Götter'? Wir wollen keine Gtötter, 
und ihr sollt keine andern Götter haben neben mir, heult 
die Weltüberschwemmung der Demokratiebanausen. Weg 
also mit ,Kain', ,Don Juan', Entfesseltem Prometheus', wer 
kann solch altmodisches Zeug verdauen! Menschen soll man 
uns schildern, wie sie sind, nämlich so mittelmässig und 
klein wie wir selber, das praktische Leben in seiner Breite, 
nicht von Lords und Gentlemen, sondern besonders von 
Kreisen des Bürgertums. Es gibt nur eine nützliche und 
demokratische Literaturgattung : den bürgerlichsozialen 
Roman. 

Diese, das Jahrhundert bis zum Ende durchflutende 
Stimmung, die zuletzt als Fin-de-Si5cle in der muffigen Arme- 
leutpoesie ihre Vollendung fand und die Alltäglichkeit oder 
Ausnahmehässlichkeit ihrer „Nachtasyle" als den einzig echten 
Realismus begrüsste, als ob das „Leben" aus lauter Alkoven- 
zänkereien und nicht auch aus heroischen Schlachtfeldern 
bestände, brachte es bald so weit, langweilige, schlecht 
erzählte, eintönige Romane, wie Flauberts „Madame Bovary*' 
und Eliots „Adam Bede" als künstlerische Heilstaten zu 
feiern. Das Seelenleben der Kleinen und Geringen, der 
unbedeutenden und Schwachen, sollte alleinigen Stoff für 
„dokumentierte" Analyse bieten. In Deutschland zwar 
hielten sich der gedankenüberfrachtete Gutzkow und der leb- 
haft-elegante Spielhagen noch an die vornehmen Stände, die 
sie revolutionär befehdeten, ohne ihre eigene intime 



— 137 — 

Sehnsucht nach solch bevorzugter Lebensstellung verdecken 
zu können. Aber da kamen Auerbachs Dorfgeschichten und 
Freytag suchte das „Volk" bei der Arbeit auf, führte das 
Soll und Haben des Bürgertums in die Literatur ein. Das 
gab ein Aufsehen, als ob eine verlorene Handschrift wahren 
Menschentums neu entdeckt sei. Auf der Höhe solcher 
Herrlichkeit hielten sich freilich die Tonangeber nicht lange, 
denen offenbar vor ihrer eigenen realistischen Oottähnlichkeit 
bange ward. Auerbach fing wieder an, spinozistisch zu 
philosophieren, in Freytag, der ohnehin in seinen Mach- 
werken „Graf Woldemar" und „Valentine" in die verpönte 
unechte Highlife -Atmosphäre zurückfiel, erwachte wieder 
ausschliesslich der Historiker. Flaubert schuf eine Gattung 
historischer Zauberballette („Salambo" und ähnliches), die er 
für Realistik ausgab, und George Eliot wagte einen rich- 
tigen historischen Roman alter Schule („Romola"). Doch 
derlei Abirrungen von der geraden Linie, wozu auch die 
späteren Professorenhistorien von Dahn und Ebers gehörten, 
änderten nichts am Sieg des bürgerlichen modernen Romans 
auf der ganzen Linie. Allerdings sanken die Franzosen 
immer wieder in ihr altes Laster des erotischen Salon- und 
Eünstlerromans zurück. Selbst Daudet, der unter ungeheurem 
Eklat als Nachahmer von Dickens debütierte, bewegte sich 
in seinen späteren besten („Nabob", ,,Sappho") und schlech- 
testen („Les Rois en Exil", „L'Immortel") Romanen wieder 
im alten Geleise. Maupassant, Anatole France („Le Lys 
^uge")i Bourget harfen wieder auf der sogenannten Beau 
Monde herum und so könnte man noch manches Ähnliche 
in der deutschen und englischen Moderne anführen. Doch 
das ändert nichts daran, dass der populäre Massengeschmack 
dauernd das Alltäglichkeitsphotographieren des bürgerlichen 
Milieu bevorzugt, wie noch jüngst der schier unglaubliche 
Erfolg einer künstlerisch so schluderigen Bauernerzählung 
wie „Jörn ühl" klarlegte. Den Grossmeister dieser ganzen 
demokratischen Nivellierungsliteratur hat aber England ge- 
boren, in seinem Zeichen wird gesiegt, ihn verehrten Frey- 
tag wie viele andere als Vorbild und bezeichnenderweise 
ward gegen „Jörn ühl" der (übrigens ganz hinfällige) Vor- 
wurf erhoben, es sei darin „David Copperfield" kopiert. 



— 138 — 

Hosianna! Welch ein Triumpf! Ein Londoner aas der 
Hefe des Volkes, dessen Kindheit alle Not des Lebens er- 
fuhr, entrollte angeblich zum ersten Mal ein wahres Bild 
des Lebens. Das war ein gefundenes Fressen, Wasser auf 
die Mühle der Demokratie. Noch ein Jüngling, ward 
Dickens auf den Schild einer Weltberühmtheit gehoben, die 
noch heute fortdauert Wir bedauern, dieser Dickensraserei 
nicht beipflichten zu können. Seinen Anspruch auf dauernde 
Geltung lehnen wir aufs schroffste ab, halten seine Werke 
für heute ungeniessbar jedem geläuterten Geschmack. Wenn 
Bret Harte in seinem Lied „Dickens im Goldlager^^ und 
seiner Parodie „Condensed Novels^^ (nach berühmten Mustern) 
die Eigenart seines Idols damit kennzeichnet, dass die Ge- 
stalten mal in ein unauslöschliches Gelächter ausbrechen, 
mal einen unversieglichen Tränenstrom vergiessen, so besagt 
dies nur, dass alles bei Dickens manieriert, auf die Spitze 
getrieben, masslos verzerrt, also so lebensunwirklich wie 
möglich. Es gibt ein Lachen und ein Weinen, über das 
man sich hinterher ärgert, wenn durch clownhafte oder 
melodramatische Kniffe uns abgelistet Die verrückte Lustig- 
keit der Pickwickier und ihrer weiteren Nachfolger erinnert 
sehr nahe an Yankeeaufschneiderei des Spassmachers Mark 
Twaine, dieser Humor gefällt sich allzusehr in practical 
jokes, bei so handgreiflich naiver Ulkerei bleibt natürlich 
auch handfeste Handgreiflichkeit nicht ferne, diese sittliche 
Weltordnung prügelt meist ihre Übeltäter windelweich. Auf 
die Tränendrüsen drückt er ja auch gefährlich, aber meist 
so unzart, dass man die Koulissenreisserei dabei spürt Mit 
der angeblich so nervigen Charakterschilderung ists nicht 
weit her. Die edeln Frauen und Mädchen dieser höchst 
moralischen und anständigen Erzählungen für die reifere 
Jugend, welche ja manchmal bis zum Alter dauert, sind so 
konventionell wie in jeder Pappschachtelfabrik der häus- 
lichen Familienjournale. 

Die Bösewichte tragen schon im Äussern und der Bede- 
weise, unterstrichen durch Bandbemerkungen des entrüsteten 
Autors dazwischen, eine Tafel um den Hals: Vor Taschen- 
dieben wird gewarnt Die so unbändig beliebten humo- 
ristischen Nebenfiguren sehen überhaupt nicht wie Menschen 



- 139 — 

ans, sondern wie verkörperte Whims. Diese Oalerie von 
Eoriositäten konnte im Aasland nur deshalb als echt be- 
wandert werden, weil dort der drollige Walin herrscht, 
jeder Brite sei ein Original und diese Humorfexe seien 
eben echtbritische Typen. Kann man sich etwas Ge- 
klLnstelteres denken als den heitern Burschen im „Ghuzzle- 
witt^\ dessen strotzende Fröhlichkeit sich nur dort wohl- 
fühlt, wo Bösartigkeit und Unglück ihn seine Lebenslust 
und Bravheit erproben lassen können! Selbst Dickens ein- 
drucksvollste Figuren, wie ebendort den Pecksniff, hat er 
nicht nach dem Leben gezeichnet: so augenfällig kündigt 
ein Heuchler sich nicht an. Das erinnert an die üblichen 
Darsteller von Richard lU., die fortwährend so scheussliche 
Grimassen schneiden und wie die Raben krächzen, dass der 
Zuschauer sämtliche Mitspieler, die sich von einem solchen 
Molch düpieren lassen, für unheilbar Blödsinnige halten 
muss. Im Leben geht das alles viel feiner zu und die 
mannigfachen Formen biderber Heuchelei werden dennoch 
gar leicht ausgefunden. Natürlich bestreiten wir nicht, das& 
sich bei Dickens Stellen von zwerchfellerschütternder Eomik 
and auch erschütternder Tragik finden — man denke z. B. 
an Tom's all-alone in „Bleakhouse" — , aber immer wieder 
stört dabei die theatralische Effekthascherei, um Eunst- 
gesetze ruhig objektiver Erzählung schert sich unser auto- 
didaktischer Naturmensch, der gleichsam in Hemdsärmeln 
burschikos seine Bilder hinhaut, natürlich den Teufel, un- 
aufhörlich redet er dazwischen, lässt auch seine lyrische Ader 
in allerlei seltsamen Ausrufen los. So subjektiv, wie er als 
Mensch sich gab, behandelt er auch als Erzähler Dinge und 
Menschen. Er kennt nie sorgfältig gerechte Analyse der 
Charaktere, seine Force bleibt immer die Karrikatur, immer 
steuert er auf Effekt, Tendenz, Sensation los. Seine Reisen 
nach Amerika brachten seinem Scharfblick nichts ein, als 
die groteske Übertreibung der Satire am Schlussteil des 
„Chuzzlewitt*', die so recht patzig englischem Vorurteil 
schmeichelte. Dabei verschmähte er nicht die uralte Esels- 
brücke des unwahrscheinlichsten Romanhaften, um Spannung 
für gewöhnliches Lesefutter zurechtzuschneiden. Wenn 
Bulwer sein anspruchsvollstes Buch „Alice oder Die 



— 140 — 

Oeheimnisse^^ betitelte, so mag aach der moderasoziale 
VolksmanD Dickens solch schaudervolle Geheimnisse nicht 
entbehren und ebensowenig den beliebten gesegneten Yer- 
lobungsschluss. Sie kriegen sich und der vielleidende Held 
nebst obligater Heldin geht in auskömmliche Verhältnisse 
über. Unvermutete Erbschaften, günstige Heiraten, plötz- 
liches Entdecken nobler Abkunft und Verwandtschaft, nichts 
mangelt am üblichen Requisit der Familienliteratur, auch 
die hochmoralische Respectability ist tadellos. Ohne jeden 
Kunstwort für heutigen Stand ästhetischen Genusses, der 
von Zola und den Russen künstlerisch abgerundete Kom- 
position, einheitliche Kraft des Stils, Echtheit und Fülle 
wahrer Lebensschilderung als notwendige Erfordernisse 
schätzen lernte, hatten Dickens weltberühmte Erzählungen 
nur dort eine literarische Bedeutung, wo er als der erste 
das Londoner Strassenleben und die untersten Schichten ins 
grelle Licht stellte. Was die Götter gnädig bedecken mit 
Nacht und Grauen, wovor man mit zugehaltener Nase und 
Tasche vorübereilt, das führte er unbarmherzig dem Mit- 
gefühl vor, Grauen und Mitleid mit Gewalt erpressend. 
Dieser demokratische Zug, dem er seinen Welterfolg 
verdankte, gab seiner karrikierenden Satire auch eine ein- 
drucksvollere fortreissende Verve, wo sie sich gegen öffent- 
liche Missbräuche richtete. Selbst hier aber schwelgte er in 
barocker Masslosigkeit, sein „Circumlocution-Office" (Rund- 
herumgeschwätz-Ministerium) zeigt deutlich, dass er über- 
haupt nur in sinnbildlichen Karrikaturen reden konnte. 
Alle Dinge stellten sich ihm in verdrehter Hervorkehrusg 
einer einzigen bestimmten Seite dar, nichts sah er von ver- 
schiedenen Seiten, die souveräne Laune und Launenhaftig- 
keit seiner Urteile entsprang seiner dreisten und verwöhnten 
Erfolghascherei, dem gehätschelten Selbstgefühl seiner im 
Grunde weder tiefen noch hohen Natur. Ohne jede Bildung, 
seicht und oberflächlich in allem, was nicht die Aussenseite 
des modernen Tageslebens betraf, liess er auch als Mensch 
jede Würde und Festigkeit vermissen. Geckenhaft eitel und 
phantastisch in der eigenen Lebensführung, brach seine 
naive Selbstsucht in unglücklichen Familienzerwürfnissen 
hervor. Forsters panegyrische Biographie gibt uns nur das 



— 141 — 

unerfrealiche Bild eines ewig aufgeregten, nie za innerer 
Sammlung geneigten, sonderbaren Schwärmers, bei dem es 
manchmal gradeso zu rappeln schien wie bei den erfundenen 
und unmöglichen ,Originalen^ seiner Muse. Dass er aus 
Geldschneiderei und Eitelkeit sich zuletzt ganz in öffent- 
lichen Vorlesungen (Lectures) verzehrte und mit Vorliebe in 
vornehmen Liebhabertheatern spielte, befremdet uns wahr- 
lich nicht bei so augenfälligem Hang zur Schauspielerei. 
Übrigens erwarb nicht das oben gekennzeichnete wirklich 
Verdienstvolle seines literarischen Auftretens ihm solch un- 
geheure Popularität Denn nicht seine lebendigsten und 
gestaltenreichsten Romane „Chuzzlewitt^^ und vor allem 
„Bleakhouse^\ wo neben allerlei jovialen Fratzen sogar aus- 
nahmsweise ein paar leidlich unkarikierte Personen vor- 
kommen und ein gewisser poetischer Hauch schwebt, ge- 
messen solche Beliebtheit, sondern die andern rührsamen 
Familiengeschichten, besonders der falsche Ichroman (ach, 
Mister Charles Dickens glich sehr wenig dem bescheidenen 
schlichten David!) „Copperfield". Aber da fällt uns noch 
etwas auf, das als allgemeines literarisches Symptom sehr 
zu denken gibt: dieser so durchaus moderne, schon seinem 
Bildungsgange nach nur für Gegen wartsschilderung aus- 
ersehene Autor legt seine einzige reife Kunstgabe auf dem 
Altar der Geschichte nieder, seine kurze scharfabgerundete 
Novelle „Zwei Städte", eine der besten, die je geschrieben 
sind. Er, der aus dem modernen Leben nur Zerrbilder zum 
Tendenzgebrauch herausschnitt, hier stellt er in historischem 
Gewände echte Menschen mit Meisterhand vor uns hin. Mit 
so festem Auge beurteilt er ferngerückte historische Ver- 
hältnisse, dass er sogar nationalen Gegensatz von Paris und 
London massvoll und fein zum Ausdruck bringt. Nie gelang 
ihm Ähnliches wie die Abendszene vor Ermordung des 
Marquis, wie der schlichte Opfertod des englischen Lieder- 
jahn. Hier gibt es keine Pose mehr, keine Effekthascherei, 
sondern hochpoetische ergreifende Wahrheit. Also erst in 
der Geschichte lernte er sie finden, nur ihr heiliger Odem 
machte ihn zum Dichter. Dass die Vorgänge ungewöhnliche 
und romantisch gefärbte sind, kann hier nicht mehr stören^ 
da die X7n Wahrscheinlichkeit wegfällt und der grosse Stoff 



— 142 — 

«ach zu einer nicht alltäglichen Handlung stimmt Wir 
staunen. Sollten wir Dickens doch unterschätzt haben? 
Oder vielmehr, passte er weit besser zur Behandlung solcher 
reinpoetischen Stoffe, grosser fester Verhältnisse, als zum 
Irrlichtelieren im schwankenden Sumpf der Gegenwart? 
Hat das« was ihm den Weltruhm brachte, den Poeten in 
ihm erstickt? Ist der ganze Begriff des bürgerlichen Romans 
vielleicht nur eine allgemeine Entgleisung des ästhetischen 
Empfindens? Ist, was die Yielzuvielen wünschen und ver- 
langen, nicht eine Entweihung der Poesie? Die sogenannte 
Wahrheit im Abspiegeln der Alltäglichkeit suchen und nicht 
finden, und für dies Nichtfinden die Schönheit opfern, den 
grossen Freskostil für ein glattes und outriertes Genre- 
bildchen — ist dies vielleicht das gerechte Schicksal der 
ganzen demokratischen Bealistik? 

Nein, nicht immer. Denn neben dem fahrigen Dickens 
stieg eine feste Persönlichkeit empor, die allein unter allen 
das Geheimnis besass, das moderne Leben so leidenschafts- 
los klar anzuschauen, dass die Zeittracht seiner Figuren ihm 
nur nebensächliche Verhüllung des ewig gleichen Menschen- 
lebens war. Er allein hat die Gesellschaft seines Zeitalters 
vollständig und bis ins Einzelne genau abkonterfeit, aber in 
einer ewigkeitlichen Weise, dass dieselben Menschen dieser 
Gesellschaft uns ebenso echt vorkommen würden, wenn sie 
vor tausend Jahren in anderer Milieutracht und etwas ver- 
schiedener Redeweise vor uns hinträten. Denn sie sind 
eben Menschen, tragen in sich das unveränderliche Menschen- 
tum mit allem Bösen, Lächerlichen, Schwachköpfigen und 
manchmal Edeln und Schönen. Nur das Grosse schliesst 
Thackeray aus, da solche Ausnahmeerscheinung ihn als 
kühlen Darsteller des Durchschnitts nicht kümmern kann. 
Um diese Zeit suchte Balzac die „Menschliche Eomödie^^ 
und die verschiedenen Funktionen des Gesellschaftskörpers 
mit wissenschaftlich analytischer Methode in ihre Bestand- 
teile zu zerlegen. Solche Grossmannssucht lag dem grossen 
Engländer fem, auch bedurfte er solcher Zerlegung nicht, 
da er die Gesellschaft mit einem einzigen Blicke klar um- 
spannte. Er wollte einfach wiedergeben, was er geschaut 
und gehört, zu hochtrabendem literarischen Ehrgeiz schwang 



— 143 — 

er sich um so weniger auf, als er sozusagen rein zufällig 
in die Literatur hineingeriet Als unabhängiger Gentleman 
geboren, verlebte er die Jugend eines wohlhabenden Eng- 
länders von guter Familie, war in Cambridge wie in Mayfair 
zu Hause, schlenderte durch Europa, pilgerte auch nach 
Weimar und dilettierte so nebenher in Malerei. Die Ge- 
schichte des jungen Glive Newcome ist die seine, auch das 
jähe Ende von dessen behaglichen Jugendträumen. Er ver- 
lor plötzlich sein ganzes Vermögen, unter gleichzeitigen 
schrecklichen Familienvorgängen — seine, wie es scheint 
auf Mesalliance beruhende Ehe endete mit dem Irrsinn 
seiner schlechten Frau — erbleichte sein Haar schloh- 
weiss, nur als Zeichner des „Punch^' konnte er sein Leben 
fristen, wobei seine angegriffenen Augen schon früh eine 
Brille verlangten. 

Während Bulwer in aristokratischer Künstlerschaft ein 
hohes Alter erreichte und Dickens, schon als Jüngling 
berühmt und wohlhabend geworden, seinen frühen Tod 
nur seiner aufgeregten Selbstverzehrung verdankte, erlag 
auch Thackeray als Fünfziger einem plötzlichen Anfall von 
Apoplexie, aber sicher infolge des durchgemachten Leids 
und Elends, das seine Eraftgestalt frühzeitig untergrub. 
Erst als reifer Mann in die Arena getreten, nahm er seinen 
Ruhm nur als Verpflichtung zu fortgesetzter ernster Arbeit 
hin. Seine Meistervorträge über „Die vier George" und 
„Die Englischen Humoristen", standard-works der Essay- 
gattung, offenbarten, welch tiefgründige Bildung der an- 
scheinende kühle Weltbummler in der Stille aufgespeichert 
Als er am „Punch" gelegentlich des Broterwerbs halber 
Humoresken losliess, die Titmarsh-Papers und Snob-Papers, 
erfand er das in alle Sprachen übergegangene Wort ,Snob\ 
auf den ersten Blick stigmatisierte er eine ganze Menschen- 
klasse. Man machte ihn aufmerksam, da es mit seiner 
Zeichnerei doch nicht weit her sei, ob ers nicht mal mit 
dem Schreiben versuchen wolle. Warum denn nicht! Und 
da schrieb er so gelegentlich einen Roman, der bei vierzig 
Verlegern herumlief, bis sich endlich ein Verlag erbarmte. 

Es war „Vanity Fair", damit wars entschieden, er war 
weltberühmt Denn nie gab ein Erstling derart nicht etwa nur 



— 144 — 

die Tatze des Löwen, sondern einen ganzen reifen Löwen. 
Verwundert sab der gleichgültige Weltmann sich um, was 
er denn so Ausserordentliches begangen habe. Aber warum 
denn night, plaudern wir weiter! Und so plauderte er denn 
noch zwei unsterbliche Werke hin. Ausserdem schuf er 
zwei historische Romane („Esmond", „Die Virginier'^), welche 
seine Bewunderer für die besten dieser Gattung halten. 
Diese Meinung teilen wir nicht Sie sind zu genrehaft 
Obschon episodenhaft sogar Marlborough und Washington 
darin auftauchen, fehlt durchaus der grosse Stil, den die 
Würde historischer Gegenstände nun mal verlangt. Hier 
klafft eben der grundlegende Unterschied des Historischen 
und Modernen. Wer historische Erzählungen nur entwirft, 
um Menschen in verschiedenen Kostümen zu zeigen, ohne 
wahre innere Anknüpfung an historische Grösse, vollendet 
eine kulturhistorische, keine dichterische Aufgabe, und ver- 
geudet seine Mühe. Wenn man nur Alkovenaffaren und 
gemütliches Stillleben pinseln will, wozu dann fremdartige 
Eöcke anziehen! Da liegt das Kostüm der Gegenwart uns 
nicht nur näher, sondern erfordert sogar mehr eigenständige 
Kraft Aus solchem dunkeln Instinkt heraus ward der 
historische Roman heutzutage anrüchig, obschon dabei auch 
höchst banausische Beweggründe der Unbildung mitspielen, 
zumal das heut literaturbeherrschende Judentum sich aus 
guten Gründen nicht für die arische Weltgeschichte be- 
geistert, mit welcher es so gar keine inneren Berührungs- 
punkte hat Wahre historische Dichtung darf sich mit dem 
Gtenrehaften nicht aufhalten, heischt grosse Freskolinien. 
In Thackerays Historien gewinnt man den Eindruck: auch 
hier herrscht unbedingte Wahrheit, denn so mögen damals 
die Menschen, auch nur Menschen wie wir mit etwas anderen 
Sitten und Redeformen, sich in ihrem Milieu bewegt und 
nahe weltgeschichtliche Vorgänge so genrehaft aufgefasst 
haben. Aber wir verschmähen diese Wahrheit, weil sie nur 
halb und einseitig. Wir überschauen heut die tieferen 
historischen Bezüge und Entwicklungsideen einer welt- 
geschichtlichen Phase genauer und besser, als die damals 
Mitlebenden, und von solcher weiten Rotunde und höheren 
Warte aus wollen wir Geschichte behandelt sehen, die uns 



— 145 — 

ja ohnehin schon wie eine Dichtung grossen Stils an und 
ftir sich vor Augen steht, deren stofflichen Reiz der Poet 
nur noch reicher und lebendiger ausgestalten soll. Mit 
tieferer Logik, als man ahnt, will man den Haupt- und 
Staatsaktionen seelisch nähergerückt werden, nicht aber nur 
den sogenannten historischen Treppenwitz in sozialen Winkeln 
belauschen. Thackerays prächtige Familiengeschichten in 
historischer Färbung besitzen daher nur den Wert, erneut 
seine unfehlbare Treffsicherheit für das Menschliche schlecht- 
weg zu beweisen. In jeder Epoche gab es jedoch „happy 
few", welche recht wohl den höheren Stand der Dinge und 
die Idee ihrer Zeit begriffen. Solche fehlen naturgemäss bei 
Thackeray, der sich, wie schon gesagt, nur an den Durch- 
schnitt der Vielen hält. Das gibt ja gerade „Vanity Fair'' 
einen so wunderbaren Reiz, dass hier das weltbestimmende 
Jahr 1815 den Hintergrund bildet und das Schicksal 
der Personen bestimmt, ohne dass diese durchweg mittel- 
mässigen Menschen auch nur die leiseste Ahnung von der 
Bedeutung des um sie Vorgehenden haben. Die Schlacht 
von Waterloo selbst rollt sich episodisch ab — übrigens 
zeigt sich die völlige Kritiklosigkeit landläufiger Kritik darin, 
dass man diese paar episodischen Sätze noch gar bewundert 
hat, als ob nicht jede sonstige Seite des Buches wichtiger 
und bewundernswerter wäre — , aber nicht um den Sturz 
des Weltkaisers handelt es sich dabei, sondern um den 
Sturz der Londoner Konsols an der Londoner Börse. Hier 
hat Thackeray mit echter Genialität einen Stoff gepackt, der 
gleichsam sein ganzes literarisches System, sofern bei so naiver 
Ursprünglichkeit das Wort System anwendbar, unmittelbar 
blosslegt. Geschichte, Ideale? Pose, Phrase, Bagatelle! 
Wir habens nur mit dem Menschen zu tun, der sich ewig 
gleich bleibt, und dieser Ritter von der traurigen Gestalt 
ists doch am Ende, der als Masse Geschichte macht. Wirk- 
lich ? Das ist dein Irrtum, grosser Thackeray ! Die „hundert 
Tage^^ sind keine Jahrmarktmesse der Eitelkeiten und Nichtig- 
keiten („Vanity Fair'), die grossen Schlachtfelder der Mensch- 
heit spielen sich anders ab, als eine Prügelei von Maklern 
auf der Stock Exchange. Zwar könnte eine solche Beleuchtung 
ihren besonderen Reiz haben. Wie genial hätte uns Thackeray 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 10 



— 146 — 

den biederen Rothschild in Ostende zeigen könnea. der mit 
hlscber Nachricht ron Napoleons Sieg nngeheore Baisse in 
London erzeugt, heimlich aber aof die erste Kunde des 
Sieges, die er mit besonders vorbereiteten Mittein rechtzeitig 
erlangt and mit welchen er blitzschnell nach London zurück- 
eilt, im höchsten Umfang auf Hausse spekuliert! Der FaU 
des Grössten und eine Drehung der Weltgeschichte nur ein 
Mittel, um den Grundstein der Bothschildschen Weltherrschaft 
zu legen! Solche Betrachtungsweise wäre schon nicht mehr 
genrehaft gewesen, sie würde einem neuen Styl Ton Welt- 
geschichtsironie entsprechen, zwar keinem heroischen, aber 
Swiftartig dämonisch-satirischen Styl, auch dieser aber wäre 
einseitig und Tor allem unkünstlerisch in Thackerays Sinne 
gewesen. Das Heroische wie das Satirische: beides nur Aus- 
nah meerböhungen des Menschlichen Die verzweifelt objek- 
tive Menschendarstellung verschmäht alle Ausnahmezustände, 
und wenn sowohl das Heroische als das Satyrische, einzeln 
genommen, nur einseitig wirken, so wird man leider All- 
gemeingültigkeit den Thackerayschen genrehaften Durch- 
schnittsmenschen nicht absprechen können. Dennoch, so 
unvergleichlich die Festigkeit und Sicherheit, mit welcher 
Thackeray seine Rebekka, seine Grawleys, Osbornes und 
Sedleys vor uns ihren eiteln Mückentanz praktizieren lässt, 
so fein sogar die kulturhistorische Echtheit dieser Typen 
damaliger englischer Gesellschaft, müssen wir den späteren 
reinmodernen, auch dem Umfang nach grösseren Romanen 
„Pendennis" und „Die Newcomes^^ den Vorzug geben. Denn 
die oben skizzierte Einförmigkeit Thackerayscher Anschauung 
stört hier nicht mehr; fern bleibt uns jede Berührung 
geschichtiieher Gegenstände und auch etwaige Berührung der 
Zeitgeschichte vermissen wir hier nicht am Bilde des Lebens. 
Denn wo wäre etwas wirklich Geschichtliches, Ideales, Grosses 
in der englischen Gesellschaft jener Tage zu Hause gewesen! 
Das Gesollschaftsgemälde Thackerays aus dem Zeitalter 
der Erinoline erscheint uns daher völlig lückenlos, als ein 
Wunder von Lebensechtheit, weit alles Ähnliche des späteren 
Realismus überragend. Gewiss, an Grösse der Konzeption 
kann sich Thackeray nicht mit Zola, an düsterer Tiefe nicht 
mit den Russen messen. Aber Zolas Symbolistik wie die 



— 147 — 

teils mystische (Dostojewsky^ToIstoy), teils nihilistisch-ironisch- 
sentimentale (Turgenieff) Vortragsweise der Rassen verliert 
«n Lebensecbtheit, was sie an dichterischer Kunst gewinnt. 
Zola selbst erkannte sich als anbewasster Romantiker. Ob- 
schon die Realisten das Seelenleben des Volkes in den 
Vordergrund rücken, behandeln sie fast durchweg Ausnahme- 
Eustände, oft Ausnahmemenschen. Nicht zufällig dreht 
sich Dostojewskys tiefste Psychologie um die Moritat eines 
ziemlioh romantisch gefärbten Abnormen, nicht zufällig 
schmückt — von Zolas aufdringlichen Allegorien ganz zu 
schweigen — Turgenieff seine beiden Hauptnovellen mit 
den faustdicken Titelwinken „Dunst*\ „Väter und Söhne^^ In 
dem allen steckt Absicht, Künstelei, subjektives Hineinlesen 
und Zurechtlegen des Lebens. Vielleicht eine ästhetisch 
lichtigere Auffassung vom Wesen der Kunst, sicher aber 
keine „realistische^^ Hingabe an das Leben selber. Wie 
anders Thackeray! Selbst der halbwegs symbolistische Titel 
seines Erstlings scheint ihm vom Verleger abgerungen. 
Fortan kennt er so etwas nicht, wie etwas Unkeusches, 
Selbstgefälliges, das seiner spröden Wahrheitsliebe wider- 
strebt Wozu durch hochtrabende Titel ins Leben hinein- 
lügen ! Er erzählt einfach wahre Oeschicbten, „The Uistory 
of Arthur Pendennnis*', ,,The History of the Newcomes", 
„The History of Henry Esmond". Scherz, Satire, Ironie und 
tiefere Bedeutung, um mit Orabbe zu reden, liegen da 
zwischen den Zeilen und auch die mit Recht so beliebte 
Moral, denn auch Thackeray ist als Stockengländer im Grunde 
ein puritanischer Moralist. Denn bei aller kalten Ruhe und 
allem warmen Wohlwollen seiner spöttisch-geringschätzigen 
und wehmütig- mitleidigen Weltbetrachtung bat er doch die 
strenge Moralität und Korrektheit des englischen Gentleman 
und er kann sich nicht enthalten, zu fragen : „have you got 
morals?^' Mit furchtloser Unerbittlichkeit entlarvt er die 
vier George, unmoralische Ausschreitungen begabter Kollegen 
der Vergangenheit empfindet er peinlich. Ein Stück Philister 
klebt ihm an und in ,Vanity Fair^ fällt er plötzlich aus 
der Rolle des objektiven Erzählers, um das Dandytum 
das Jahres 1814 und seines Lion of the Season grimmig 
anzufauchen. Dass dieser Lion kein geringerer als — Lord 



— 148 — 

Byron war, kam ihm nicht in Betracht Er, der sogar über- 
trieben herzlich Popes kränkliche Galligkeit in Schutz nimmt, 
den er seltsamerweise zu den „English Humorists^^ zählt, 
und Popes Yersgeklapper anerkennend zitiert, hat nirgendwo 
ein verständnisvolles Wort für den grossen Sänger des 
Weltleids. Wo ihm mal das Wort ,,byronisch" oder der- 
gleichen entschlüpft, geschieht es mit unverhohlenem Spott. 

Ist das Beschränktheit oder Verstocktheit? Klang ihm 
Byrons Pathos wirklich wie Phrase und Byrons Ironie wie 
zuchtlose Ausschweifung? Verstand er weder Childe Harold 
noch Don Juan? Man steht vor einem Bätsei, das man 
wohl oder übel damit lösen muss, dass Thackeray auch 
geistig eine Kurzsichtigkeitsbrille trug, wo es über das 
Mittelmass des Lebens emporzuschauen galt. Aber dies 
Mittelmass überblickte er mit Argusaugen, das Panorama aller 
mittleren Zustände und Menschlichkeiten lag vor ihm aus- 
gebreitet wie vor keinem anderen. Daneben macht sich 
jede andere „Lebenswahrheit'', wie Simili neben echtem 
Brillant Von seinen Nachfolgern neuerer Zeit sprachen wir 
schon, doch wie ihn vollends mit seinen Vorgängern ver- 
gleichen! Was war das für eine Wahrheit in Richardson, 
Smollett, sogar Fielding, dem sich Thackeray unstreitig ver- 
wandt fühlte! Die Welt als Wirtshaus oder Unzuchtstube, 
die Menschen von rein animalischen Trieben gelenkt! 

Fieldings ganze Lebensweisheit gipfelte in der Behauptung, 
dass korrekte Tugend in Eigennutz und Heuchelei wurzele, 
dass naivnatürliche Sinnenkraft fast immer ein gutes Herz 
verbürge. Jeder Menschenkenner lächelt über diesen psycho- 
logischen Irrtum, den Fielding, der joviale Liedrian, aus 
seinem eigenen guten Herzen schöpfte. Derlei vorgefasste 
Selbsttäuschungen kennt Thackeray nicht Der eine Crawley 
ist ein bigotter korrekter Narr, nicht ohne unbewusste 
Heuchelei und voll uneingestandenem Eigennutz, aber darum 
doch ein leidlich guter Mensch. Der andere Crawley ist 
ein Wüstling und Spieler, der nahe am Falschspielen steht, 
und bei aller Gutmütigkeit doch so ziemlich ehrlos, bis es 
an seine eigentliche Hausehre geht Dieser Rawdon Crawley 
allein würde Thackeray als Menschenschöpfer unsterblich 
machen. Cynismus und Freigeisterei Zeichen einer freien 



— 149 — 

nobeln Oesinnung? je, darauf mögen der alte Sir Pitt 
und die klassische Miss Crawley Antwort geben. 

Ein dummer Junge, an den ein besseres Mädchen ihr Herz 
hängt, ist nichts neues. Auch Dickens hat uns im ,,Gopper- 
field'^ mit solch einem talentvoll arbeitsunfähigen Jüngling 
aufgewartet Sehr effektvoll, doch nur eine Gliederpuppe 
vom Schlag der „byronisch^' angehauchten problematischen 
Naturen. Da sehe man den jungen Osbome und den jungen 
Pendennis, diese köstlich naiven Egoisten, eine Null in feiner 
Uniform und ein geckenhaftes Muttersöhnchen mit ein 
bischen wohlfeilem Talent! Diese „Helden^^ des Romans 
sind allerdings keine Romanhelden, aber Menschen sind sie 
in jedem Zoll, Vertreter des homo sapiens, wie sie seit 
Adam millionenmal wiederkehren. Gewiss macht Thackeray 
seinen Heroinen allzu auflällige Liebeserklärungen. Er 
fordert uns auf, die insipide Amalia Sedley, die bornierte 
ladylike Helene, die noble Laura, die vomehmkühle Esther 
Newcome, die würdevolle Lady Esmond als Heiligenbilder 
zu verehren. Aber das fällt uns garnicht ein, da dieser seltsame 
Liebhaber seine holden Frauen erbarmungslos in all ihren 
Schwächen aufdeckt und jeden Schleier lüftet Doch er will uns 
zärtliche Nachsicht lehren, da die Frauen trotz alledem das Herz 
mehr auf dem rechten Flecke haben als die Männer. Makellose 
Engel? Bah, wir sind zufrieden mit liebenden Frauen. Ein 
Fleckchen Staub klebt auf jedem Fittich, aber selbstlose Liebe 
ist ein Fittich, der über alles hinaufträgt Das ist das einzig 
Schöne im Leben. Freilich ein seltenes Gut, und der un- 
vergleichliche Major Pendennis plaudert nur das Geheimnis 
von Jedermann mit seinen weltlichen Patriarchensprüchen 
aus. Bei Wüstlingen ein gutes Herz suchen? Lasst euch 
nicht auslachen und haltet euch an Sir Clavering! Höhere 
Bildung erhebt über konventionellen Kleinkram? Ich stelle 
euch Lady Kew vor. Hoher Adel verpflichtet und besitzt 
eine angeborene vornehme Denkungsart? Darf ich Sie mit 
Sr. grossbritannischen Herrlichkeit dem Marquis of Steyne 
bekanntmachen? Ach so, nun schüttet ihr wieder das Eind 
mit dem Bade aus. Jeder Pumpbruder ist naturgemäss ein 
Schmutzian und ein verwahrloster Lump wie Kapitän 
Costigan? Keineswegs, Kapitän Streng ist im Grunde eine 



— 150 — 

ehrliche Haut und der famose Zuchthäusler „Golonel'^ Alta- 
mond ein gutmütiger Kerl. Alle ehrbaren steifleinenen 
nfichtemen Gesellen sind verkappte Taugenichtse wie das 
hochedle Haupt der Newcomes? Oott bewahre! Da seht euch 
den linkischen langweiligen Major Dobbin an, der wie ein 
gutes Schaf an der Leine eines albernen Frauenzimmers 
herumtrottet, hat er nicht ein vornehmes mannhaftes Herz? 
Aber nun sind natürlich gleich alle Aristokraten Schufte und 
alle anziehenden jungen Lebemänner charakterlose Ver- 
führer? Nein doch! Da habt ihr den jungen Lord Kew und 
den prächtigen närrischen französischen Duc, seinen Freund, 
dem man immer mit Lacbthränen um den Hals fallen möchte, 
sind das nicht wahre Spiegel der Ehre? Also die Frauen 
sind Engel mit Rosaflügeln, das ist ausgemacht . . was ihr 
doch sagt! Da ihr an meiner lieben Rebekka noch nicht 
genug habt, so führe ich euch ins Kämmerlein und Herzens- 
kämmerlein so liebreizender Wesen wie der Schauspielerin 
Fotheringhay und der hochidealen Miss Amory, da mögt ihr 
eure Freude haben. Die Männer aber sind mehr oder minder 
jeder Herzensgüte bar und zu sittlichem Ernste unfähig? 
Im Ganzen sehr richtig, doch möchtet ihr euch mal Oberst 
Newcome ansehen und George Warrington? Die sind auch 
echt menschlich, diesen Schlingel Warrington sollte ich wohl 
am besten kennen, denn — das bleibt unter uns — eigent- 
lich heisst er William Makepeace Thackeraj, als besagter 
William an der Schwelle des Mannesalters stand, ein 
ruinierter Mann, aber ein unerschütterlicher Gentleman, in 
dessen gesundem Herzen keine Verbitterung den Strahl der 
Güte ersticken konnte. 

Die hysterische Charlotte Bronte nannte ihn in Vorrede 
zu „Jane Eyre^^ den Propheten, der den Ahabs ins Gewissen 
redet Aber wider besagte Ahabs empfand er nur Ironie 
und nicht Prophetenzorn. Dem ,Marmorzeitalter', welche 
witzige Bezeichnung fürs highlift wohl von Byron selber 
herstammt, ging Th. mit einem grausamen Wohlwollen zu 
Leibe, das seine Lieblinge bei lebendigem Leibe schindet 
Um Gotteswillen, verteidigen Sie mich nicht! zittert man 
vor seiner boshaften Lobsucht, die mit der Sicherheit eines 
Menagerieführers gezähmte Bestien zur Schau hält Gleich- 



— 151 — 

wohl braucht man nur eine bittere Karrikatur wie Warrens 
,fTen Thoasand-a year^^ zu vergleichen, um den Unterschied 
solcher Verzerrung von Thackerays Lebensechtheit zu be- 
greifen. Er beklagt sieh einmal, nur Fielding habe Menschen 
in ihrer ganzen Nacktheit zeichnen dürfen. Doch das Ohne- 
hosentum hätte grade ihm schlecht zu Oesicht gestanden, der 
auch in vielsagendem Verschweigen Meister war. Die per- 
sönliche Note klingt bei ihm häufig genug durch alle ob- 
jektive Ruhe hindurch, sein bestes Gedicht — denn auch 
realistische Verse flössen ihm zwanglos aus der Feder — 
handelt von einer Fischsuppe, die er „long long ago^^ in 
Frankreich ass. ,Jhr sollt fragen: nicht wie ist dies ge- 
schrieben, sondern war der Autor ein Schwindler oder ver- 
suchte er Wahrheit zu reden/^ Diese Anfangszeilen des 
Pendennis bieten ein Motto seines Schaffens. 

Machen wir Schluss: dieser Lcbensschilderer hat alles 
erfasst, nichts entging ihm, sein Lexikon des Menschentums 
ist ebenso vielseitig wie vollständig. Wäre nicht Shakespeare, 
der einer höheren Ordnung der Dinge angehört, der englische 
Romancier stände einzig da. Ihn heisst es herabsetzen, 
wenn man ihn einen ,Humori8ten^ nennt oder seine unüber- 
treffliche ,Satire^ preist Satire ist boshaft, masslos, subjektiv 
wie Swift, Humor im gewöhnlichen Sinne ein Übersprudeln 
lustiger Laune mit dem Motto: Du sollst und musst lachen. 
Doch Thackerays feiner Humor bringt nur zu feinem Lächeln, 
seiDe tötliche Satire wirkt nicht wie ein giftiger Ausfall, 
sondern wie ein gelassener Richterspruch, und beides ist 
hier nicht um seiner selbstwillen da, sondern stellt sich 
unabsichtlich als aus der Situation herauswachsend ein. 

Wenn das Leben oft so komisch ist, wenn es ungewollte 
Satiren formt, wie kann der getreue Protokollführer der 
Lebensprozesse dem Vermerken solcher Vorgänge aus dem 
Wege gehen? Er notiert nur, er glossiert nicht Wenn die 
Welt grausam und die Wahrheit unerbittlich ist so nennt 
nicht ihn selber so, der mit unzerstörbarem Wohlwollen jede 
gute Regung aufstöbert aus dem verstecktesten Winkel! Der 
kleine Krösus Harry Foker („Pendennis") ist gewiss ein 
lächerlich ordinäres Geschöpf, aber irgendwo steckt in seinem 
bescheidenen vertrauenden Gemüt ein Funken von Würde, 



— 152 — 

und siehe da, sein Schöpfer holts heraus, und dieser 
Schöpfer verschwindet so völlig unter der unglaublichen 
Echtheit seiner Gestalten, dass sogar sein eigenes morali- 
sierendes Hineinreden, das ihm manchmal beliebt, den Ein- 
druck nicht zerstört Diese Stimme des Autors klingt nur 
wie ein Chorus der Dinge selber und seine vor uns 
handelnden und redenden Menschen nehmen mit 
optischer Täuschung eine solche fühlbare Blutwärme und 
intime Nähe an, dass wir keinen Eoman zu lesen, sondern 
mit lebenden Wesen zu verkehren glauben. Über allerlei 
Eunstgesetze und wohlgefügte compositionelle Anordnung 
gähnt der grosse Menschenbeschwörer weg. Will er denn 
überhaupt Kunstwerke machen? Nein, er schüttet nur gelassen 
die unerschöpfliche Fülle seiner Beobachtung plaudernd vor 
uns aus. Wenn man jedem Menschen so bis in die Nieren 
guckt, die ganze Anatomie der Seelenwindungen auswendig 
weiss, stellt sich die Plastik der Wiedergabe von selber ein. 

Die Typen der Gesellschaft sind Wachs in seiner Hand 
und eine Verzeichnung kann bei ihm nicht vorkommen. Das 
sogenannte Volk freilich lässt er weg, ein getreuer Photograph 
kann nur wiedergeben, was er persönlich unter seiner Platte 
hatte, nämlich Bourgeoisie und High Life. Das Poetische 
im üblichen Sinne schaltet er aus, Dickens lyrische Auftakte 
und Bulwers pathetische Romantik würden in diesem 
nüchtern weltlichen Aktenprotokoll menschlicher Dokumente 
sich weibisch und geziert ausnehmen. Aber nach den 
outrirten Pecksniffs des Kollegen Dickens und den „byro- 
nischen'' Weltschmerzposeuren Bulwers tuen wir hier einen 
so tiefen Trunk aus dem Quell der Wahrheit, dass nach so 
lauterem stahlhaltigen Sauerbrunnen all der Absynt oder 
süssliche Alkohol der sonstigen Romanliteratur uns förmlich 
physisch widersteht, einen unüberwindlichen Ekel verursacht 

Wir machten noch jüngst die Probe, als uns nach massen- 
haftem Hinunterwürgen heutiger englischer und französischer 
Epik, darunter künstlerisch sehr verdienstliche Sachen, zu- 
fällig mal wieder unser alter Pendennis in die Hände fiel. 
Wie matt, farblos, oberflächlich erschien da auf einmal all 
die gequälte Phychologie der Neuen, die in Bourgets anmass- 
lichen Vorreden sich mit „wissenschaftlicher'' Drapierung 



— 153 — 

umgibt, neben der Frische, blühenden Farbe, reichen Fülle 
and naiven Selbstverständlichkeit solches echten Lebens- 
gemäldes, schlicht und absichtslos nach der Natur ge- 
zeichnet! 

Freilich, Thackeray hätte verdutzt den Kopf geschüttelt, 
hätte man ihn mit der heutigen Entweihung des Ehren- 
namens für jeden Romanschreiber „Dichter^^ genannt. 
Dramatische Krisen und Katastrophen, worin das Dichterische 
gemeinhin seine Stärke sucht, mied er geflissentlich. Es 
gibt nichts Ergreifenderes als Niedergang und Tod des 
braven Oberst Newcome, denn da das Leben ja ab und zu 
wirkliche Tragik zulässt, so muss sein vereideter Dolmetsch 
es eben nachschreiben. Doch Durchschnittsleben ist sonst 
weder tragisch noch heroisch, eher genrehaft idyllisch und 
spassig, man muss es nur nicht tragisch nehmen, sondern 
mit überlegener Männlichkeit tragen und überwinden. So 
wie Thackeray selber. Diese hohe aufrechte Mannesgestalt 
im Oreisenhaar, schalkhafte Freundlichkeit und wohlwollendes 
Lächeln auf dem breiten JohnbuU-Gesicht, stieg makellos 
ehrenhaft ins frühe Grab, von Anfang bis Ende ein Gentle- 
man nach der englischen Erläuterung des Wortes: „manly 
in his gentleness and gentle in his manliness.'^ Wäre un- 
bestechliche Wahrheitsliebe und die ohne Beispiel dastehende 
Gabe der wahren Menschendarstellung das allein hiezu 
Erforderliche, so würden wir Thackeray zu den Grossen, zu 
den auserlesenen Menschheitsvertretorn zählen. Doch um 
sich voll aus dem Dunstkreis des Trivialen zu erheben, darf 
man nicht so viel Pfund Plumpudding an den Sohlen 
kleben haben. Man hat ihn auch wohl mit Hogarth ver- 
glichen. Aber vielleicht hätte seiner spöttischen Klarheit 
etwas von der wüsten galligen Bitterkeit der Hogarth'schen 
Zeichnungen gutgetan, die ja nichts als gezeichnete Romane 
bedeuten und hier an umfassender Anschauung weit alle 
Erzählungen des 18. Jahrhunderts übertreffen. Allzu deut- 
lich sehen wir den Dining-Dress mit Frack und weisser 
Halsbinde in der korrekt steifen Haltung dieses grossen 
Oesellschaftsmalers des 19. Jahrhunderts. Er wollte ein 
Weltmann sein, kein Weltbürger. Mitten in der Welt stand 
er, nicht darüber, wie die göttliche Freiheit des Genius. 



— 154 — 

Sein dicker Joe Sedley ist so echt wie FalstafiT, doch wo 
umweht ihn der Ewigkeitsbauch, der Falstaff und Sancho 
Pansa mit unsterblichem Leben erfüllt? Es ist nicht Thackerays 
Schuld, denn ebensogut wird man fragen dürfen : was wiegt 
Dostojewskys ganze subtile Mörderpsychologie im „Baskol- 
nikow^^ neben der einen Mordnacht und dem Gewissens- 
nachtwandeln der Lady Macbeth? Es ist der Fluch einer 
kleinen Zeit, auf grossstilisierte Kunst gradeso verzichten 
zu müssen wie auf grosse Heldennaturen. Ein Vertreter 
seines Jahrhunderts zu sein, musste diesem öffentlichen 
Ausrufer des ,Eitelkeitsmarktes^ genügen. Denn wo der 
Menschheit grosse Gegenstände im Kurszettel, im Zollstab 
der Geometer und MontaniDgenieure, in Hörsälen exakter 
Spezialwissenschafter, im chemischen Laboiatorium und bei 
physikalischen Experimenten allein gesucht und schmunzelnd 
gefunden werden, da wächst kein Shakespeare, sondern nur 
ein Thackeray, kein Byron, sondern nur ein Lamartine, 
kein Gromwell, sondern nur ein Garibaldi, kein Kant, 
sondern nur ein Schopenhauer und so weiter mit Grazie. Wen 
wir statt eines Napoleon bekamen, werden wir sehen, und 
statt eines Giordano Bruno erhielten wir nur Carlyle. 



— $@I5^ 



Der Jesaias des Magenkatanlis: Garlyle (Emeisoii, Bnskinjl 

Man pflegt zu äussern, dass Autoren die Selbstkritik 
mangele und sie deshalb den unterschiedlichen Wert ihrer 
Werke nie richtig abschätzen. Als bekanntestes Beispiel 
zitiert man Byron, der bei der Bückkehr von seiner ersten 
Weltreise den „Fluch der Minerva" mit Stolz vorwies, da- 
gegen „Childe Harold^' nur mit Widerstreben herausgab. 
Selbst hier stimmt das Exempel nicht ganz. Zuvörderst 
handelt es sich nicht um den heute vorliegenden „Childe 
Earold", dessen zweite Hälfte alle Schwächen der ersten 
wieder gut macht, sondern eben nur um diese erste Hälfte. 
Auch hier aber nicht um die heut vorliegende Form, sondern 
um ein loses Bündel von Stanzen, worunter viel „rubbish^^^ 
der nachher im Druck ausgemerzt wurde, und ohne die 
besten Stanzen, die erst beim Druck hinzukamen. Im „Fluch 
der Minerva" aber befand sich ein Hauptpassus, der später, 
ohne weiteres in den „Eorsaron" übernommen, mit Recht 
allgemeine Bewunderung erregte und weit alles überstrahlt, 
was in der ersten Hälfte des „Childe Harold" an Land- 
schafterei und Glanz der Sprache erreicht. Werden wir also 
Byrons Abschätzung gar so unglaublich und unkritisch 
finden? Wenn er „Kain" und „Don Juan" für seine grössten 
Werke hielt, urteilte er gewiss wahrer, als seine Zeitgenossen. 

Nun wohl, gern möchten wir wissen, für welche seiner 
Leistungen eine so selbstbewusste Persönlichkeit wie Carlyla 
sich am höchsten schätzte. 

Wägen wir Carlyles ungeheueren Buhm und seine fast 
unangefochtene Oberherrschaft im englischen Geistesleben,, 
so forschen wir vergeblich nach dem Grund, so lange wir 



— 156 — 

nur von höherer Warte der Allgemeinheit schauen. Hat der 
Mann eine neue Wahrheit für die Zukunft entdeckt? Nein. 
Hat er aus Dingen und Personen der Vergangenheit etwas 
Neues und abschliessend Wahres herausgeholt? Nein. Sein 
Verdienst wurzelt ausschliesslich in der Gegenwart, in dem 
heilsamen Einfluss, den seine originelle Bärbeissigkeit auf 
eine glatte gezierte schlaffe Gesellschaft übte. 

An die grössten Dinge wagte sein übergrosses Selbst- 
gefühl sich heran, an Gegenstände, die sogar der Sprach- 
gebrauch mit solchem Prädikat behaftet: an Friedrich den 
Grossen und die Grosse Bevolution. Doch da zeigte sich nur, 
wie klein seine grossartigen Gebärden. Preussen verlieh 
ihm den Pour-le-Merite für seine angebliche Verherrlichung 
des grossen Hohenzollern und es lag immerhin ein gewisses 
Verdienst darin, dem bornierten und Ignoranten englischen 
Dünkel, der nichts als England und Englands Helden kennt, 
Preussen und seinen grossen Gründer menschlich näher zu 
bringen. Ehrlich gesprochen, verrät aber seine vielbändige 
Historie, der übrigens ein fachlicher Forschungswert 
ganz abgeht und die nur dur&h anschaulich drastische 
Darstellung wirken will, eine mangelhaft einseitige Erkenntnis 
dieser Gestalt, die unter der äusseren Schale des encyklo- 
pädistischen Skeptizismus mehr Heroisches birgt als Crom- 
wells leid volle Düsternis. Das Wesen der beiden grossen 
germanischen Helden scheint dem britischen Heldenverehrer 
nicht in gleichem Grade aufgegangen, so einseitig germanisch 
er fühlt und denkt und daher einem Napoleon nicht gerecht 
werden kann. Das Merkzeichen wahrhaft genialen Schauens 
besteht darin, eben nie an der Schale hängen zu bleiben 
und sofort in den Kern zu dringen. Daran fehlts Garlyle 
nur zu sehr. Friedrichs äussere französische Afterkultur, 
eine blosse konventionelle Schminke, verwischt für das be- 
gnadete Auge des wirklich Schauenden nicht eine einzige 
Linie und Falte des strengen ernsten Germanengesichts, des 
im tiefsten Sinne frommen Norddeutschen. Sein angeblich 
atheistischer Materialismus, übrigens erst ganz zuletzt aus 
Voltaires idealem Deismus zu La Mettries roher Mechanik 
bekehrt und auch dies vielleicht nur vorübergehend, will 
rein historisch aufgefasst sein. Der Philosoph auf dem 



— 157 — 

Throne fühlte sich ganz und gar als Bevolutionär, als Mit- 
hebel der gewaltigen Revolution des Menschengeistes. Ob 
er wie einer seiner Minister mit Kants Philosophie in Be- 
rührung trat, blieb ungewiss. Möglich, dass ihm, dem nur 
nach französischer Klarheit Schmachtenden, die deutsche 
Darstellungsform Kants noch zu metaphysisch erschien und 
er sich geflissentlich an der klaren Schärfe seiner franzö- 
sischen Freunde genügen liess. Jedenfalls hielt er es für 
seine Pflicht, nach Heldenart bis zu den äussersten Vorposten 
des Befreiungskampfes gegen den bevormundenden kirch- 
lichen und feudalen Wahn vorzueilen. 

Je radikaler, desto tapferer! meinte er. Nur nichts 
mehr von Metaphysik, die so lange zur Knechtung des 
Menschengeistes führte! Je respektloser, desto besser! Er 
vergass nur, dass nicht bei den Vorposten die Entscheidungs- 
schlacht geschlagen wird und dass die schweren Batterien 
und Oewalthaufen anfangs immer im Bückhalt bleiben. So 
trieb er sich irrig bei den Scharmützeln der Helvetius und 
Holbach herum, sich vor der Front des Bevolutionsheeres 
zu zeigen, ^uch diese naive Leidenschaftlichkeit hat etwas 
ehrenhaft Rührendes, wenn man ihre Triebfeder versteht 
Doch wer weiss, was der erhabene Held, dessen tiefe Ver- 
bitterung „müde war, über Sklaven zu herrschen", in seiner 
Todesstunde dachte, als er den Heldenseufzer ausstiess: 
„Der Berg ist überstiegen !" Ob er da nicht an den „grossen 
Allierten" über den Sternen dachte, den er seinem schlichten 
Zieten pietätvoll zugestand! 

Bei Carlyle vermissen wir durchaus diese grosse Auf- 
fassung. Sein Calvinismus und Oermanenstolz kommen 
nicht darüber weg, dass der tiefinnerlich selbstlose und still- 
begeisterte Menschenfreund ein halber Atheist und ein halber 
Franzose sein wollte. Für ihn wird Cromwell einfach der 
Held der Helden, weil er Christ und vor allem Calvinist 
war. Nun, wir mögen Cromwell bewundern, lieben, be- 
klagen, heiligen Schauer vor seinem düsteren Seelenringen 
empfinden, aber Ehrfurcht vor fester ethischer Grösse flösst 
uns nur der eiserne und doch so unendlich wohlwollende 
weit- und selbstüberwindende skeptische Pessimist auf dem 
Throne ein, der furcht- und hoffnungslos bis zum letzten 



— 158 — 

Atemzuge seinem Oott sich opferte: der Pflicht Yon 
solcher Ehrfurcht spüren wir bei Carlyle nichts, im Gegen- 
teil fallen bei ihm an anderen Stellen — ausserhalb seiner 
„History of Frederic the Great" — gelegentlich absprechende 
und widerwillige Äusserungen über den Heros, den er an- 
geblich verherrlicht haben soll. Man wundert sich darüber 
um so weniger, als er auch über Voltaire lauter unhistoiisch 
gedachten Wust zusammenschmierte, nicht mal dessen 
unvergleichliches Fropagandatalent würdigte , geschweige 
denn das Heldische und Edle in diesem grossherzigen Gallier 
begriff, teils aus mangelnder Kenntnis des wirklichen Voltaire, 
was einem historischen Forscher sehr übel ansteht, teils aus 
gehässiger, absichtlicher Verbohrtheit in sein dogmatisches 
Galvinertum. 

Und dieser Mann wollte die französische Revolution 
begreifen! Möglich, dass ihn die revolutionäre r^egende, wie 
sie damals noch vielfach Mode war, anekelte. Aber für 
England, wo man durchweg nur die Gegenlegende des 
gottesfürchtigen Philistertums pflegte und alle Jakobiner als 
scheusälige Antichristen beschimpfte, lag doch kein Bedürfnis 
vor, das grosse Elementarereignis eines falschen Schimmers 
zu entkleiden. Zwar reisst ihn wider Willen seine markige 
Darstellungsweise so weit fort, dass man trotz alledem ein 
anschaulich belebtes und stark koloriertes Gemälde jener 
Vulkanentladung erhält Aber seine ganze Tendenz klingt 
in dem Staunen aus, dass noch nie eine so bedeutende 
Begebenheit von so durchweg mittelmässigen Menschlein 
durchgeführt sei. Der hitzige ideologische Schotte kann sich 
hier mit dem eiskalten Realanalytiker Taine die Hände drücken, 
und der unbefangene Wahrbeitserkenner muss lächeln, wie 
doch immer falsche Ideologie und falsche Realistik ihre 
innere Verwandtschaft bekunden und ihr einseitiger Wahr- 
heitsschwindel unweigerlich der Lüge verfällt. Man sollte 
denken, dass wenigstens Robespierre und St Just, so wider- 
wärtig sie Taines Franzosentum sein müssen, vor Carlyle 
Gnade fänden, weil das asketisch Puritanische im „Un- 
bestechlichen" den schottischen Moralfexen rühren und 
dessen Wiedereinsetzung des „Höchsten Wesens" ihm der 
einzige Lichtpunkt sein müsste. Weit gefehlt! Robespierre 



159 — 



ist ihm nur ein neidischer, ehrgeiziger Heuchler, blutdürstiger 
Plirasendrescher, ganz wie landläufige historische Legende 
fälscht, der Terreur überhaupt nichts als Verbrechertum los- 
gelassener Zuchthäusler, während Gromwells kriegerische 
Massenmorde in Irland natürlich höchst sittlich und not- 
wendig waren. Doch siehe da! Zwei Lieblinge entgehen 
seinem Verdammungsurteil, natürlich Mirabeau und Danton, 
auch hierbei der allgemeinen Legende folgend. Solche 
brüllenden E[raftmeier imponieren ihm, das sind echte 
Menschen mit breiter Brust und weitem Herzen, keine 
Ideologen — denn solche hasst der Ideologe Carlyle! — 
sondern Männer der Tat Gewiss! Dantons Begabung als 
praktischer Wühler, man nennt dies Staatsmannschaft, haben 
sogar neueste Forschungen bekräftigt Nur schade, dass 
unser grimmer Wahrheitsbehorcher, der aus Robespierres 
und der Seinen gedankengesättigten Reden, falls er sie 
überhaupt je las, nur öde, unehrliche Tiraden herauslas, den 
Brustton der Überzeugung aus dem Munde jener zwei 
notorischen Lumpen vernimmt, die nie einen originellen 
Gedanken, nie eine feine Wendung, nie etwas anderes, als 
pomphafte Phrasen und Parteidebatterei zu sagen wussten. 

Wenn irgendwer den Namen Heuchler verdient, dann 
waren es diese animalischen Krafthuber, die allerdings keine 
Tugend der Sitte heuchelten, weil ihr Laster zu derb ins 
Auge sprang und ihre zuchtlose Lasterschwäche nicht den 
kleinsten Zwang der Selbstbeherrschung ertrug, dafür aber 
revolutionäre Begeisterung erfolgreich heuchelten, während 
es ihnen nur ums Karrieremachen zu tun war. 

Garlyles Geschichte der Revolution hat nicht mal das 
früher betonte Verdienst einen wichtigen Stoff dem britischen 
Begriffsvermögen näher gebracht zu haben, es gibt überhaupt 
kein schlechteres Buch über den so oft behandelten Gegen- 
stand. Was daran packt, beschränkt sich immer nur auf 
die urwüchsig eigenartige Vortragsweise, die etwa an 
Johannes Scherr erinnert, aber auch wie bei diesem mehr 
jugendliche Gemüter blendet als reife Köpfe befriedigt und 
zuletzt zu krasser Maniriertheit ausartet. Verhältnismässig 
am reizvollsten behandelt Carlyle Personen und Dinge in 
seinen vielbändigen Essays. Hier hat er z. B. den Vater 



— 160 — 

Mirabeaus, einen unendlich tüchtigeren Menschen als seinen 
berühmten Sohn, trefflich herausgearbeitet, auch Diderots 
Liebenswürdigkeit liebevoll mitgefühlt Dagegen tönt sein 
„berühmter^^ Essay über Gagliostro nur die üblichen Schnur- 
pfeifereien nach, ohne irgendwie ein Verständnis für mög- 
lichenfalls ganz entgegengesetzte Lösung des Bätsels offen- 
zuhalten. Seine Ästhetik steht auf den gleichen schwachen 
Füssen wie seine Historie. Sein poetisches Empfinden an 
sich ist stark, seine Begeisterungsfähigkeit übermässig ent- 
wickelt, aber rein persönliche und subjektive Regungen be- 
stimmen sein Urteil. Was er über Burns zusammen- 
entbusiasmiert, wäre erfreulich und liest sich der Essay 
sehr schön. Doch nur zu ironisch merkt der Garlyle-Er- 
kenner, dass Burns, den er masslos aufbläst, nur deshalb 
seinem schottischen Landsmann so besonders am Herzen 
liegt, weil Burns wie Garlyle ein armer Sohn des Volkes 
war. Er schreibt ferner begeistert und schön über Jean 
Paul und Schiller, wie er denn auch manches von Schiller 
und Goethe übersetzte. Aber bald weiss man, dass Jean 
Pauls Formlosigkeit, Überschwänglichkeit und barocker Humor 
von ihm angepriesen werden mussten, um für Garlyles eigene 
Mängel eine Schutzwand zu bilden. In der Tat hat er in 
„Sartor Resartus^' Jean Pauls Stilart gründlich nachgeahmt, 
nur eine Dosis Swiftschen Spleens beimengend. Und sein 
Kreuzzug für Schillers Idealismus und alles Deutsche geht 
weniger aus selbstloser Versenkung in deutsches Wesen 
hervor, als aus dem Streben, die englischen Realisten, deren 
Oestaltungsgabe er nicht besass, durch etwas angeblich 
Höheres einzuschüchtern und so die Bahn für Garlyles 
Eigenart freizumachen. Daneben fröhnt er natürlich auch 
dem Fluch jeder reineren Kunstauffassung, dem äusserlichen 
Moralmassstab. Sein abgeschmackter Essay über Grill- 
parzer und die Schicksalsdramen, da er ersteren ein für 
allemal nach der „Ahnfrau^' abmisst, entspringt keinem 
ästhetischen, sondern theologischen Missbehagen, weil er als 
gläubiger Ghrist den Schicksalsbegriff und die Willensun- 
freiheit verpönen muss. Was er über Schillers Inferiorität 
gegenüber Goethe andeutet, würde einer gewissen Feinheit 
nicht ermangeln, wenn nur nicht seine Urteile über Schillers 



- 161 — 

Werke im einzelnen, dessen — Gedichte er am höchsten 
zu schätzen scheint, seine volle unreife verrieten. Offenbar 
ist ihm Schiller nur deshalb der kleinere Dichter, weil er 
zu viel gestaltete und nicht ganz so viel Ideen produzierte 
wie Goethe. Diesen macht er zu leibhaftigem Hergott, ^m 
auf seinen Schultern übers moderne England als alleinselig- 
machender Prophet sich aufzuschwingen. Der Garlylesche 
Goethe gleicht natürlich dem wirklichen ebensowenig, wie 
der „grosse Eeide^^ und „objektive Realist^', den Jung- 
deutschland bis zum heutigen Tag sich zurechtschnitzte, um 
teils für jede Sorte von Unglauben und ünsittlichkeit teils 
für praktisches Philisterium eine Deckung zu finden. Gar- 
lyles Goethe ist nichts weniger als Heide und Realist, ist 
vielmehr schlechtweg ein aus vulkanischem Titanismus zur 
Sternenordnung aufschwebender Allweiser, ein mystik- 
trunkener Theosoph, am Ende gar ein gläubiger Christ Er 
gleicht dem Geist, den Carlyle begreift, und jedes künst- 
lerisch Unzulängliche in Goethes Dichtertum hier wird's Er- 
eigniss, sintemal Carlyle sich nur ums Wollen und nie ums 
Können kümmert und Poesie nur als Weisheitsorakel be- 
urteilt. Die formlich sprödesten und abstraktesten Sprüche 
Goethes wiegen ihm im Grunde schwerer als Götz und 
Werther. Aber unterwirft er sich wirklich dieser unfehl- 
baren Weisheit, die er anderen streng als Bibel vorhält? 
Nicht er! Das vielleicht Weiseste Goethes, seine Napoleon- 
und Byronerkenntnis, passt ihm nicht, also taugt sie 
nichts. Er hat die orphisch inspirierten Euphorion-Hymnen, 
den Nekrolog, die zahlreichen Worte über Kain, Don Juan, 
,der Traum^ vor Augen, er kennt den Gedichtzuruf an den 
Geistesgenossen auf dessen Fahrt nach Missolunghi mit dem 
tiefoinnig ergreifenden Schlüsse: „Und wie ich ihn erkannt, 
mög er sich kennen.^^ Aber mit roher Gleichgültigkeit 
und völliger Abwesenheit schuldiger Rücksicht schiebt er 
diese klaren, deutlichen und bestimmten Willensäusserungen 
seines Idols unbeachtet zur Seite. „Der über alle Begriffe 
Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges mit glühendem 
Geistesblick durchdringende Dichter'' (Goethe über Byrons 
Eain) ist laut Carlyle ein hohler seichter Schwätzer, der 
vom Dichter höchstens die äussere Gebärde hat. Wer soll 

Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhunderts. 11 



— 162 — 

nicht stutzig werden über eine solche Hero-Worship, die 
von aller Welt Kniebeugung für den Infallibeln verlangt, 
sich selbst aber als anmassender Pfaffe vorbehält, die Orakel 
seines Gottes ganz nach Belieben zu respektieren oder 
nicht Ob er Byrons Genieoffenbarungen, von denen er an- 
scheinend nicht eine Zeile verstand, je las, geschweige 
studierte, bezweifeln wir. Das wäre intellektuell ein mildern- 
der umstand, ethisch ein erschwerender, würde jedoch diesem 
pseudoethischen Moralfex ganz ähnlich sehen. Er kennt 
Byron nicht, aber er missbilligt ihn. Denn war er nicht 
ein reicher vornehmer Herr? Solche Burschen dürfen kein 
Genie haben. War er nicht unsittlich und ungläubig? Fort 
zur Hölle! Bis zur Albernheit, ja bis zur Gemeinheit unan- 
ständig, bildet Carlyles Ästhetik ein einziges Schimpfgeheul: 
Klappt euren Byron zu! Er soll euch nicht mit seinem 
Weltschmerz anstecken, der natürlich nur Sybaritenschmerz 
über ein verkrumpeltes Rosenblatt seines weichen Lagers 
vorstellt! Leute, die nicht physisch hungern oder mit der 
Hacke arbeiten, haben überhaupt kein Recht auf Seelen- 
schmerz! — Bis zu welcher Besessenheit sich Carlyle in seine 
fixe Idee hinein verbiss, zeigt der unglaubliche Satz als ab- 
schliessender Beweis für die Überlegenheit des Volkes: wie 
unendlich mehr habe der arme Plebejer Burns geleistet als 
der hochgeborene Lord! Wohl jeder halbwegs Vernünftige, 
der ein schmales Lyrikbändchen, Burns' einzige Hinterlassen- 
schaft, mit den Massentaten des Dichterlords verglich, wird 
darüber den Kopf geschüttelt haben wie über das Lallen 
eines Monomanen. In dieser Unverschämtheit gegen Byron, 
verbunden mit versteckter ünehrerbietigkeit gegen Goethes 
Gebote, steckt der ganze Carlyle intellektuell und ethisch. 
Wer die erbärmliche Ursache seines Byronhasses durch- 
schaut, der hat ihn ganz und gar in seiner Kleinlichkeit, 
neidischen Gehässigkeit, bigotten Verbohrtheit und giössen- 
wahnsinnigen Anmassung. Und dabei tobt derselbe Mensch 
gegen die Bigotterie der Clergymen im Schaufelhut, An- 
massung und Kleinlichkeit aristokratischer oder sonstiger 
insularer Vorurteile. Allerdiügs mit scharfem Blick für 
Zeitgebrechen und mit einem Prophetenfeuer jeremiadischer 
Busspredigten, das man mit hohlem Pathos nicht verwechseln 



— 163 — 

darf. So halten wir unsrerseits für seine beste Arbeit die 
,^Latter-day Pamphlets'^ in denen er sich als würdigen 
Nachfahren Miltons zeigt, dessen politische Pamphlete ja 
die gleiche Mischung von echtem Schwung, bizarrer Plump- 
heit, edler Gesinnung, unbeholfener Grobheit zeigen. 

Wo Garlyles Elefantentritt hinstampft, da wächst kein 
Gras, und so unangenehm es klang, Jungengland glaubte 
ihm allmählich selber, dass es einem gefrässlgen Storche 
gleiche, indes einst Ältengland als Adler emporschwebte. 
Hier treffen wir auch Garlyles beste Talentprobe als 
Historiker, nämlich kulturelle Schilderung einer Abtei 
aas der Normannenzeit an der Hand archivalischer 
Forschung. Auch fachmännisch betrachtet von grossem 
Forschungswert, versteht der halbe Dichter, der in Garlyle 
steckt, hier meisterhaft mit wenigen Strichen das ganze 
Innenleben des sogenannten „dunkeln^^ Mittelalters in der 
rauhen echten Tüchtigkeit seines praktischen Ghristentums 
aufzubauen. Selbst die blitzartig auftauchende Silhouette 
eines dieser merkwürdigen Normannenkönige, die das bis 
dahin verduselte England des Angelsachsentums in heilsame 
Zucht nahmen, wirkt als treues Portrait und Garlyle hat 
nie mit so anschaulicher Lebenswahrheit sein Motto, den 
alten Mönchsspruch: „Betet und arbeitet^', uns eingeprägt 
Gromwells „Betet und schüttet frisch Pulver auf die Pfanne" 
trieb ihn desgleichen zu Puritanerstudien, die im Verein mit 
Froudes und Gardiners Arbeiten den eigentlichen National- 
helden und heimlichen Kaiser Grossbritanniens, den viel- 
geschmähten „Königsmörder'^ und „Heuchler", besserem 
Verständnis erschlossen. 

Mit Garlyles besonderem ,Helden', dem alten Oliver, 
sind wir aber nun bei jenem Kultusbuche angelangt, das 
sein Wollen und Wesen am bekanntesten machte: „On 
Heroes and Hero-Worship". Das ist ein sehr berühmtes 
Buch. Ob es sein Ansehen voll verdient? Bei Werken mehr 
oder minder philosophischen Gehalts kommt es wohl mehr 
auf Reife und Gründlichkeit des Denkens an, als auf 
Glanz der Darstellung. Letztere vermissen wir ebenso wenig 
in dem Gegenstück „Repräsentative Menschen", das uns der 
transatlantische Weise Emerson bescherte. Dieser verfällt 

11* 



— 164 — 

nicht in die barocken Unarten und die aufdringliche Origi- 
nalitätshascherei des britischen Jeremias, für dessen bär- 
beissige Orilien und Schrullen der abgeklärtere feinergebaute 
Yankee zu viel weltmännischen Schliff und Geschmack 
besitzt Statt jenes Carlyle - Englisch, gesucht deutschelnd^ 
oft von unerträglicher Geschwollenheit und Überladung, 
bietet uns Emerson elegante und doch nervige Sprachkunst 
Aber die wuchtigen Schatten und nachdrücklichen Licht- 
wirkungen des Garlyleschen Pathos entspringen einer über- 
ragenden Persönlichkeit, und wer Repräsentativgestalten an- 
einanderreiht, dem fällt die Wahl nicht schwer, wer von 
beiden dazu der Geeignetere. An blendenden Worten, glück- 
lichen Wendungen, bestrickenden Gleichnissen fehlt es 
Emerson nicht Doch seine Geschmeidigkeit ersetzt nicht 
den chaotischen Tiefsinn des Weisen von Chelsea, der unter 
so vielem Schlamm auch hier und da echte Goldkörner her- 
vorsprudelte. Originalitätssucht oder nicht, Garlyle bleibt 
eben das Original und der gefeierte Yankee nur eine Kopie 
mit Varianten. Emersons Ergänzung zu des düstern Schotten 
,,Heldenanbetung^^ ladet zum Vergleich ein. Sofort fällt die 
Verschiedenheit in Auswahl ihrer einzelnen Helden auf, sie 
haben nur einen einzigen gemeinsamen Berührungspunkt: 
beide schliessen mit Goethe. Als Typen des „Helden als 
Schriftsteller'^ kennt aber Garlyle noch andere: seinen Lieb- 
ling Bums, der doch grade wie kaum ein anderer den Titel 
eines Natursängers und nicht eines Literaten verdient, sonst 
übrigens ein recht fragwürdiger „Held^\ sowie den zopfigen 
Pedanten Samuel Johnson, den ausserhalb englisch redender 
Lande kein Mensch kennt und dessen „Heldentum'^ mehr 
Lächeln als Bewunderung erweckt. Von der unendlichen 
Reihe viel bedeutenderer und echterer Schriftstellerhelden 
anderer Völker ahnen diese guten Propheten nichts, sollten 
aber dann nicht die Toga weltüberschauender Weltweiser 
tragen. Der „Held als Priester" fehlt bei Emerson. Weder 
Muhamed noch Luther und Knox ziehen ihn an, wie den 
christlichsozialen calvinistischen Freidenker, der doch immer- 
fort vertraute Hinneigung zu theologischen Urquellen be- 
kundet Dagegen sind dem Emerson „Menscbheitsvertreter" 
Philosophen wie Plato, von denen Carlyle nichts wissen will, 



— 165 — 

oder vollends Skeptiker wie Montaigne. Der ein Held! hören 
wir Carlyle sich entsetzen, worin wir ihm freilich beistimmen: 
Wir können diesen bestechenden Stilisten wahrlich nicht als 
hervorstechenden Menschheitsvertreter gelten lassen, nehmen 
ihn nur wie Rabelais kulturhistorisch als bedeutsame Zeit*- 
erscheinung. Emerson fördert ja allerlei Feinheiten zu Tage — 
um nur eins zu nennen: seinen Nachweis der Verschmelzung 
indischen intuitiven Denkens mit europäischer Definierungs- 
logik im Griechen Plato — , doch ein leichter Geruch von 
Oberflächlichkeit weht uns überall an und man wird irre an 
der philosophischen Bildung des Verfassers, der Giordano 
Bruno in einem Atem mit Kathederprofessoren und Literaten 
als „Schuldner" Piatos und nirgendwo Kants heiligen Namen 
nennt Wenn laut Emerson Piatos Weisheit rundweg den 
Eoran vorstellt, neben dem man alle übrigen Bücher ver- 
brennen könne, so leuchtet solche Masslosigkeit uns ebenso- 
wenig ein wie Carlyles Hyperbeln. Und was der Yankee über 
Shakespeare anregend zu plaudern weiss, erschöpft in ein- 
zelnen geistreichen Bemerkungen den Gegenstand fast noch 
weniger, als Carlyles Aphorismen über den Einzigen. Be- 
sonderes Gewicht wie schon bei Plato legt Emerson auf das 
Plagiatorische des Genies, dem durchaus das Becht zustehe, 
sich Fremdes anzueignen, um sein grösseres Zusammen- 
fassendes daraus zu formen. Die Baconfrage scheint er 
absichtlich zu scheuen und zu vermeiden, meint aber: wir 
wüssten nichts von Shakespeare? Im Gegenteil, mehr als 
von andern Sterblichen, denn über jedes Ding unter der 
Sonne vertraut er uns seine Meinung an. Auch sind 
da noch die Sonette, welche Emerson ganz wie 
wir („Geschichte der englischen Literatur*') ebenbürtig 
neben die Dramen stellt. In diesen aber tritt uns 
eine so gewaltige und ihrer Grösse bewusste Persönlich- 
keit entgegen (vergl. das Sonett „Not marble nor the gilded 
monuments of princes shall outlive my powerful rhyme'^), 
dass nur ein Oberflächlicher zu dem Schlüsse kommen kann, 
der Unsterbliche sei im Leben wirklich nur „ein lebens- 
froher Schauspieler und Theaterdirektor^^ gewesen, habe „ein 
obskures Werkeltagsdasein geführt und sein Genie nur zur 
Belustigung des Publikums gebraucht^\ Ei, ei, die wahre 



— 166 — 

Liebe ist das nicht! Was, „dies sind nur Halbgesichte von 
Halbmenschen, die Welt harrt noch immer ihres Dichter- 
priesters, der nicht mit Schauspieler Shakespeare tändeln (!), 
sondern der in gleicher Erleuchtung sehen, sprechen und 
handeln wird^^?! Was, Shakespeare blieb in den Dingen 
stecken, erkundete nie die Bedeutung, die diesen Symbolen 
innewohnt, machte aus ihnen „Unterhaltungsgegenstände^^ 
war „Yergntigungskommissar der Menschheit^'?! Um im 
Stile des transatlantischen Meisters, wie man im Schach- 
Jargon zu sagen pflegt, zu bleiben : dies sind wirklich Halb- 
gesichte eines Halbmenschen! Er hat also rein gar nichts 
begriffen! Prosperos Zaubersprüche sind seinem Oelehrten- 
ohr nicht deutlich genug; Macbeths Monologe und Lears 
Problem, Hamlets Weltironie und Fallstaffs Sanjopansa- 
Humor, diese Symbole der Symbole, bleiben ihm unverständ- 
lich, weil sie nicht plump in starren Allegorien, sondern 
strotzend Yon bewegtem Leben an ihm Yorüberziehen! 

Kicht der göttliche Allbezwinger blieb in Sansara stecken, 
sondern für ihn, den nüchternen Yankee, fiel nicht die 
Binde der Maja vor solchem Weltspiegel. „So voller 
Harmonie sind ewige Geister, nur wir, weil dies hinfällige 
Staubgewand uns grob umhüllt, wir können sie nicht 
hören." 

Ach, armer Zettel, dein langes Eselsohr hört nicht Oberons 
Hom und doch glaubst du Titania Kunst über Zukunft des 
Dichterpriesters belehren zu können! 

Nein, da steckt denn doch mehr echte Schauung, mehr 
Wirklichkeitssinn für das greifbar Ideale in Garlyles seher- 
haften Rhapsodien. Es kommt ihm von Herzen, wenn er 
wünscht, nur eine Stunde Shakespeares Schubputzer sein 
zu dürfen, um in das erhabene Antlitz emporschauen zu 
können. Dagegen hütet sich der amerikanische Weltmann 
vor der Einseitigkeit des schottischen Puritaners, dem nach 
seinem Puritanerkönig Crom well, ihm sozusagen das Mass 
aller Heldendinge, der kleine Napoleon nur wie ein flüchtiger 
Schatten hintendreinhuscht. Emersons „Mann des weltlichen 
Erfolges" oder Tatmensch heisst ihm als berufenster Yer- 
treter der ganzen Gattung schlechtweg Napoleon und kein 
Anderer. So geziemt sichs, denn alles, was „Herrscher^* 



— 167 — 

(Herrenmenschen) von Sesostris bis Bismarck typisch aus- 
zeichnete, tritt vereint und am nachhaltigsten im Korsen 
hervor. Dessen weltumfassende Arbeit und Einsicht rückt 
Emerson ins rechte Licht, belegt mit meist glücklich ge- 
wählten Citaten seine übernatürliche oder richtiger einzig- 
natürliche Klarheit des Schauens. Aber dies Genie malte 
ja auch Taines Pamphlet in prunkenden Farben und im 
Grunde liest sich Emersons Studie wie ein Exzerpt aus 
Taine vor Taine. Denn auch ihn entsetzt die angebliche 
ethische Kehrseite der Medaille, sein Napoleon gleicht dem 
wirklichen Urbild nicht besser, als irgendeine reaktionäre 
Pfuscherei von Treitschke. Allen Kehricht, den falsche 
Zeugen und Fälscher über den Koloss zusammenscharrten, 
nimmt er als granitne Fundamente. „Er betrog beim 
Kartenspiel, stahl, mordete, ertränkte, vergiftete" — man 
glaubt zu träumen, woher hat Emerson all diesen Blödsinn 
aufgelesen als aus erbärmlichen Buchkloaken? Wenn man 
vollends liest, Napoleon habe Bernadotte und Kellermann 
neidisch um den Ruhm ihrer grossen Taten gebracht 
(Bemadottes grosse Taten, es ist gottvoll!), „er konnte 
Lafayette und Bernadotte (!) nicht mit den Kurmachern 
seines Hofes in einen Topf werfen" „die grossen Feldherrn, 
die für ihn kämpften" (vergl. unser Werk über die Marschälle, 
diese Nullen), so hat man endlich genug von solchem 
Geschwätz und wundert sich nicht mehr über sein tiefsinnig 
Bedauern, dass Napoleon wie jeder Bourgeois nur eine 
glänzende Karriere machen wollte. „Assez de Bonaparte!" 
zitiert er. 0, assez d' Emerson! 

Wenn beiden Angelsachsen der Held als Dichter 
begreiflicherweise Shakespeare heisst, so heisst beiden un- 
begreiflicherweise Goethe „Schriftsteller'' (men of letters). 
Was bedeutet das? Wer vom Dünkel der englischredenden 
Basse einen richtigen Begriff hat, der dürfte hierin ein 
unwillkührliches und nicht zufälliges Zusammentreffen des 
Basseinsünkts beider entdecken, um ihrem Helden und 
Menschheitsvertreter einen Vorrang vor dem deutschen zu 
sichern. An sich dies willig zugestehend, vermögen wir 
doch solchen Unterschied der Gattung nicht anzuerkennen, 
da man mit gleichem Grund Goethe einen unabhängigen 



— 168 — 

Sänger und Theaterdirektor, Shakespeare einen Beruf sschrift- 
steller nennen könnte! 

Emerson ernennt Goethe zam Protokollführer der Natur 
und auf den ersten Blick scheint er mit Carlyies Goethekultus 
übereinzustimmen. Doch es scheint nur so. Mit einem 
Wort, er verehrt im Olympier den universalen Gelehrten- 
kopf, nicht einen heroischen Menschen und Dichter. Darüber 
verliert sich das Befremden, sobald man erfährt, dass Emerson 
nur Faust zweiten Teil und Wilhelm Meister als typische 
Hauptwerke herausgreift, also diejenigen, in welchen Goethes 
kosmische Lyrik — denn als solche fassen wir sein Dichten 
auf — bis zur leblosen Allegorie erstarrte und Reflexion 
jede Gestaltungsgabe überwuchert Letztere, ohnehin in 
Goethes üniversalgeist am spärlichsten entwickelt, was die 
Goethepfaffen sans phrase natürlich nicht Wort haben wollen, 
stand fast immer im schroffen Widerspruch zu Goethes 
Mahnung „Bilde, Künstler, rede nicht 1^^ und in diesem Sinne 
hätte Emersons hartes Dictum vollkommen Recht: „Dieser 
Gesetzgeber der Kunst ist kein Künstler." Wenn er dies 
aber so erklärt: „Wusste er vielleicht zu viel, blickte sein 
Auge zu mikroskopisch scharf, sodass ihm der Überblick 
über das Ganze verloren ging?^' und dergleichen mehr, so 
biegt er die richtige Begründung nach der falschen Seite 
um und liefert neuen Beweis, wie man in Goethe alles 
mögliche Fremde hineinliest, statt die einfache Wahrheit zu 
sehen. Goethe, dessen schrankenlose Subjektivität souveränen 
Auslebens grandioser Individualität eine kindische Ästhetik 
zum Vorbild objektiven Schaffens erheben will, indem sie 
des gelehrten Weltbeschauers objektive Weisheit mit der 
Gabe objektiv künstlerischer Dichtung (Shakespeare) ver- 
wechselt, bildet mit Byron eine Gruppe für sich, die ihr 
eigenes Mass und Gesetz in sich selber trägt Diese riesigen 
Individualisten umspannen das Reich der Ideen, alles Schaffen 
entspringt bei ihnen aus der Reflexion, nie aus naiver Hin- 
gabe wie bei Kleineren, sogenannten Künstlern, nie aber 
auch aus souveräner Herrschaft über den Kosmos wie 
bei Shakespeare und in anderem Sinne bei Napoleon. 

„Ich stelle Goethe Napoleon an die Seite: beide sind Ver- 
treter der Auflehnung der Natur gegen den Dummstolz der 



— 169 — 

konYentionellen Sitte, zwei ernste Realisten,'^ predigt Emerson. 
Darin steckt wohl Wahres, aber der Vergleich hinkt wie 
alle Vergleiche. Auch Napoleon war ja ein Ideenmensch, 
woraus allein sein materieller Untergang erklärlich, auch er 
ein Idealist wie jeder, der Materie und Realität nicht als 
etwas Absolutes, sondern als Handwerkszeug für subjektive 
Pläne betrachtet und yerachtet Aber sein und Shakes- 
speares Gegensatz und Überlegenheit über Goethe und 
Byron besteht in der trotzdem unerschütterlichen Objek- 
tivierung des Willens im Werk. Auch Shakespeare war 
sich seines Imperator-Ichs vollbewusst, zwei „grössenwahn- 
sinnige^^ Sonette zeugen dafür, aber beide Imperatoren be- 
sassen die Naturmacht-Fähigkeit, ihre ganze Schaffensmacht 
fortwährend in jeden erfassten Gegenstand vom Grössten 
bis zum Kleinsten hineinzusenken, demnach selbstlos in der 
Allmacht ihres Selbst im Werke sich zu vergessen. 

Goethe aber hegt, genau betrachtet, geradesowenig wie 
Byron eine Liebe zum Werk-an-sich, zu den darzustellenden 
Dingen, sie sind ihm nur Symbole, die reale Welt ein Ge- 
häuse der Ideen. Solche Gedankendichter dürfen sich nicht 
mit kleinlichem Eunstkönnen aufhalten, das würde den un- 
aufhaltsamen Flug ihres über gewöhnliches reales Können 
wegschwebenden WoUens unterbrechen. Was daher Emerson 
und jedem nicht auf den Koran der Goethepfaffen Einge- 
schworenen als Nicht-Kunst erscheint — Sinn für Kompo- 
sition, für das dramatische im höchsten wie technischen 
Begriff, fehlt ganz, Epik wird hier bloss lyrisch abgetönte 
Reflexionserzählung — , das macht gerade Goethes wahre 
Stärke aus. Gewiss strömten diesem Allumfasser auch 
reiche poetische Quellen zu; manche seiner Gedichte, Faust, 
Werther gehen manchmal aus kosmischer Lyrik auch in 
jene alleingültige Darstellungsart über, die man „realistisch^^ 
tauft, während man sie die natürliche oder lebensvolle 
nennen sollte. Aber in allem spricht nur Goethe und 
wieder Goethe. Egmont, Tasso, Iphigenie, Faust, Wilhelm 
Meister, sie alle sind immer das nämliche vielseitige Ich, 
voll subjektiverer Befangenheit, als in Byron ersichtlich, der 
wenigstens überall sachlich ausser ihm Liegendes seinen 
Selbstportraits zufügt. Goethe einen objektiven Realisten 



— 170 — 

nennen, könnte man daher nur in dem Sinne, wie jeder 
Seher und Weise als Erkenner des Ewigen dem Scbein- 
Föbel gegenübersteht, wie etwa Buddha ein Realist wäre 
gegenüber Eirchenbonzen. Die einzig für ihn passende 
Form fand er im Faust, wie Byron im Kain und Don Juan. 
Selbst sein einziges naives Produkt, der Götz, entstammt 
nicht dem Drange, objektiv sein Kunstkönnen in seelischen 
Konflikten zu zeigen, sondern dem subjektiven Trotz, 
selbstherrlich ein paar anschauliche Szenen freien Burschen- 
lebens unter bürgerlicher Einzäunung hinzuhauen. An 
der hier und anderswo (nehmen wir: Auerbachs Keller) er- 
kennbaren burschikosen Lebensfrische im einzelnen, ron der 
sich kindliche Beurteiler zu falscher Auffassung seiner wirk- 
lichen Art verführen Hessen, fehlt es aber Byron im „Don 
Juan^^ erst recht nicht. Ja, in anderen solcher Kunstgaben, 
z. B. dramatischem und historischem ^) Sinn, war er Goethe 
sogar weit überlegen. Verdammt trotzdem abstrakte Ästhetik 
nicht ohne Grund Byrons Dichtart, so konnte nur trostlose 
Unkenntnis aller literarischen Technik diese Verdammung 
nicht mit auf Goethe übertragen, ja sogar ins Gegenteil ver- 
kehren. Aber dies Nicht-Künstlertum ändert an der Grösse 
dieser beiden Gewaltigen nicht das Mindeste, da sie eben 
nur in ihrer Formlosigkeit die für sie nötige Form finden, 
das kleine Kunstkönnen getrost anderen überlassen durften. 
Was englische Denker wie Carlyle — freilich ein sehr 
trübes ästhetisches Licht — an Goethe be wundem, ist 
gerade die Abwesenheit jener realistischen Objektivität, 
von der sie in ihrer heimischen Literatur übergenug hatten. 
Drum dürfte Emersons Bevorzugen von Faust zweiter Teil, 
wo er fast nichts Gestaltendes mehr und dafür die reine 
Ideenabstraktion fand, weniger ästhetischem Missverstehen 
als bestimmter Absieht entspringen. So fassen ausländische 
unbefangene Beurteiler unsern Goethe auf, den sie in ihrer 
tiefen Unkenntnis der deutschen Gesamtliteratur, natürlich 
dabei beeinflusst von dem aberwitzigen Gestammel der 

Dieser Mangel bei Goethe entspringt eben seiner unrealen rein 
idealen Auflösung alles Stofflichen ins Reflektive. Wer immer als Erd- 
geist will wallen im Weltensturm, gewinnt natürlich nur der Natur- 
geschichte, nicht der Menschengeschichte, Interesse ab. 



— 171 — 

Goethepfaffen, für den alleinigen berufenen Vertreter 
deutscher Dichtungsbegabung halten, ohne die vielfachen: 
anderen Kräfte dieser auch geistig dezentralisierten Nation 
zu ahnen. „Dies Streben nach grosser Kultur ist der 
Geist, der seine Werke beseelt Höher freilich steht die 
Idee absoluter ewiger Wahrheit (?), ohne Rücksicht darauf, 
ob ich selber durch sie wachse und gewinne. Höher 
steht die Yöllige Hingabe an den Strom poetischer Be- 
geisterung/^ Diese Worte Emersons, und was Wahres 
und Falsches an ihnen sei, empfehlen wir ernstem Nach- 
denken. 

Wir deuteten schon früher an, dass Carlyles Goethe- 
kultus unbewusst persönlich eigennützigen Motiven entsprang: 
Durch Deutsches seinen Landsleuten sich selber aufzuzwingen. 
Deshalb bewundert er Goethe nicht als Dichter, sondern als 
Weisen, ähnlich wie Emerson Dagegen ofTenbart sich sein 
stärkerer Sinn für das praktisch Geniale in den kurzen 
kräftigen Strichen, die doch einen grossen Zug tragen, mit 
denen er überlebensgrosse Konturen Napoleons bestehen lässt. 
„Unser letzter grosser Mann", der aber natürlich vor Crom- 
well erblassen soll, ist zwar wahrlich nicht mit liebenden 
Augen gesehen. Freilich entschuldigt es Garlyle wie Emerson, 
dass es damals noch keinen Taine als Brevier für alle 
Napoleonsfälscher gab, doch auch nicht die jetzige Fülle 
neuer Napoleonsenthüllungen, die den Schutt wegräumen 
und für richtigen Sehwinkel Baum schaffen. Carlyles 
Napoleon soll ein Stück Cbarlatan und Quacksalber sein, 
wahrscheinlich wusste er nicht, dass der Imperator selber 
von einer Seite seines öffentlichen Auftretens sagte: „Ja, es 
war Gharlatanerie, doch von der höchsten Art'\ und derlei 
Mätzchen braucht jeder Tatmensch für den Heisshunger der 
Menge. Immerhin, während Emersons ,,Schelmenjupiter" 
immer kleiner und unansehnlicher wird, lässt Carlyles bär- 
beissiger Heldeninstinkt den Grössenwuchs unangetastet, der 
unter Emersons sanfter Eleganz bis zur Unkenntlichkeit 
einschrumpft. 

Wie seltsam! Demokrat Carlyle ward Urheber einer 
sozusagen konservativen Strömung. Dem skeptischen 
Materialismus des modernen Zeitgeistes hielt er wie ein 



— 172 — 

'Oorgonenhaupt das starre Antlitz des zerschlagenen Piirita- 
nismus entgegen, dem nivellierenden Massenprinzip seine 
Heldenanbetung. Nicht Volk und Milieu, sondern der grosse 
Einzelne ist ihm der alleinige Träger der Entwickeiung. 
Durch Erweckung des Sinnes für das Heroische, wie einst 
Giordano und neuestens Dühring es lehren, hat er sicherlich 
dem Willensinstinkt der englischen Basse gut Rechnung 
getragen und eine gewisse Vertiefung gefördert. 

Ähnlich erfüllte auch Buskin seine Mission besser durch 
sozialreformatorische Anregungen, als durch seine vielbändigen 
Ijchren über das bildnerisch Schöne. Deutscher Idealismus, 
wie ihn Carlyle importierte, wird in England nie zu Hause 
sein; Ästhetik der bildenden Künste, wie Buskin sie vortrug 
und mit allerlei Ideenschwulst verbrämte, den er willkürlich 
in das Handwerksmässig-Technische der Bildkunst hineinlas, 
gehört nicht auf die nordische Industrieinsel. An ästhe- 
tischer Bildung stand freilich Buskin so himmelhoch über 
Carlyle, dass er noch kurz vor seinem Ende seinen gaffenden 
Landsleuten das Geständnis an den Kopf warf, er halte 
Byron für den reinsten Inbegriff des Poetischen, für den 
höchsten Sänger aller Zeiten. Aber was Carlyle und Buskin 
auf den Gebieten des idealen Geisteslebens erstrebt, blieb 
exotisches Gewächs, triebhaft im britischen Boden wurzelte 
nur ihr Anbau sozialreformerischer Gesinnung. 

Wir haben selbst in unserer Jugend das Städtchen 
Kirkcaldy am Firth of Forth besucht und beim dortigen 
Bürgermeister uns über den grand old man unterhalten, der 
zum Stolze Kirkcaldys hier als junger Schulmeister wirkte. 
Ein Carlyleaner hatte uns dorthin verschleppt, gleichsam 
an eine der Stätten für geistige Mekkapilger, zum heiligen 
Kaabastein, wo der Prophet sinnend am Wege sass. Denn 
Allah ist Allah und Thomas Carlyle ist sein Prophet. Aber 
ein ungläubiger Thomas sind wir geblieben. Armut, Ver- 
kennung? Weil der grosse Thomas ein Stück erster Jugend 
in diesem reizenden Ktistenidyll verlebte? Und wie bald 
heiratete ihn eine vermögende Dame von hoher Bildung 
und feinem Geist! Wie bald erntete er von seinen Lands- 
leuten, die er so gründlich zu verachten vorgab, jene all- 
seitige Anerkennung, die seine geliebten Deutschen ihm nie 



— 173 — 

oder spärlich gewährt hätten. Statt seinem Herrgott zu 
danken, dass er, der selbstsüchtige Ehrgeizige, nicht als 
Deutscher geboren, dass ihm sein England einen Weltrahm 
verschaffte, wo viel bedeutendere Deutsche unbekannt und ver- 
gessen, dass er sein Leben lang wohlhabend und hochgeehrt 
sich als ,,Seher^^ ausleben konnte, schien ihm nichts genug, 
seine Ansprüche zu befriedigen. Mürrisch und zänkisch 
polterte und schimpfte er sich durchs Leben, unterbrochen 
von Inspirationen seines besseren Innern, wo er Himmel 
und Hölle vor sich offen sah, meistens aber die Hölle als 
richtiger Galviner. Man könnte sich vorstellen, dass der 
despotische grimme Fanatiker von Genf in ihm wieder- 
geboren sei. Er stand ewig auf der Kanzel wie ein toben- 
der Hetzkaplan oder ein eifernder Methodistenprediger. 
Höchst unliebsam entschleierte sich später sein Privatleben, 
unglückliche Ehe mit seiner geistvollen Gattin, der er so 
viel verdankte. Seine cholerische Selbstquälerei, die vor 
allem durch schroffe Selbstsucht im Quälen seiner Umgebung 
sich Luft machte, führte zu chronischer Magenverstimmung. 
Er, der über Byrons wahren Weltschmerz albern spöttelte, 
leitete seine JesaiasroUe aus kläglichem Ichschmerz ab, der ganz 
prosaisch und einfach als Magenschmerzen sich ankündigte. 

Nun, wir selber kennen aus lebenslanger Erfahrung 
das Beispiel eines schwer Magenleidenden, dem obendrein 
Gründe zu andrer melancholischer Verbitterung nicht fehlten, 
der aber sein Lebenlang als Muster heitrer menschenfreund- 
licher Milde galt und bis zuletzt wie ein Held seine Leiden 
bezwang. Das Beispiel eines solchen Helden, dessen 
Schwächlichkeit auch auf dem Schlachtfeld den Preis der 
Tapferkeit errang, vor Augen, empfinden wir für Carlyle 
und seine Theosophie der Magenschmerzen gelinde Ver- 
achtung. Nichts Heldisches stak in diesem Heldenanbeter! 
Ein bezeichnendes Gegenstück zum Willensverneiner Scho- 
penhauer, dem Wasserprediger und Champagnerschlürfer! 
Ja, sehr bezeichnend alle beide für unser glorreiches Jahr- 
hundert der Nicht-Helden und Anti-Helden, der charakter- 
losen Schwätzer! 

Methodistenprediger wissen wenig von Methode. Irgend- 
welche methodische Kunst blieb Carlyle versagt, in seinen- 



- 174 — 

chaotischen Widersprüchen wird nichts Positives erkennbar. 
Während Emerson oder als Historiker etwa Ranke eine fein 
abgetönte, aber matte und im höheren Sinne nichtssagende 
Farblosigkeit vorziehen, schweben Carlyles „Helden" sozu- 
sagen in der Luft. Man kann das Geschehene entweder 
positivistisch aus der rohen materiellen Notwendigkeit ab- 
leiten, wie Milieu und Rasse sie auslösen. Diese heut herr- 
schende Weltanschauung arbeitet meist nach dem Satze: 
legt ihr nicht aus, so legt doch was unter. Die fixe Idee, 
alle historischen Transformationen als blosse ökonomische 
Umwälzungen des Wirtschaftslebens aufzufassen, erniedrigt 
zuletzt das inkommensurable X des Genies zu einem mess- 
l>aren Zahlen wert Dieser naiven Falschmeldung des Eausa- 
litätsgesetzes steht die idealistische Lösung des Welträtsels 
gegenüber, welche eine supraaktuelle Freiheit des Endzwecks 
verbürgt Hierbei spielt Inkarnierung devachanischer Geister 
4ils menschliche „Helden"-, Repräsentanten'^ natürlich eine 
bedeutsame Rolle. Ist ein Held oder Prophet von nöten, so 
taucht er blitzartig auf, wo man ihn am wenigsten erwartete. 

Die Unabhängigkeit der Endzwecke entspricht eben einem 
andern Reich, als dem der äusseren Kausalität. Das Er- 
wecken von Erleuchteten, der weder vererbte noch vererb- 
bare Genius, bedeutet eine Tat jenseits menschlicher Eausa- 
litätsbegrifTe. Es hat „Heroenanbetung" insofern ihre Be- 
rechtigung, als in Gedanken und Wirken solcher Begnadeten 
unmittelbarer als sonst Gottesodem uns anweht Diese natür- 
liche Ehrerbietung wird jedoch durch die Erkenntnis getrübt, 
dass wir ja nur Gefässe des Allgeistes vor uns haben, dessen 
Ergiessung im Wesentlichen in uns allen waltet So kommen 
Milieu und Rasse wieder zu ihrem einschränkenden Recht 

Denn dass ein Genie in einem bestimmten Milieu entsteht 
und stets Merkmale einer Rasse an sich trägt, entstammt 
logischem Karmazwang und hat somit sein Zeitalter gewisser- 
massen ein Miturheberrecht an seinem grossen Vertreter. 

Noch mehr: zwischen einem Genie und seinen Anhängern 
besteht ein enges Band der Gemeinsamkeit Wer das Genie 
erkennt, nimmt gleichsam Teil an seinem Werke selber. 

Hiermit wird einseitiger blinder Persönlichkeitskultus 
hinfällig. Denn dass Genius nur ein Rüstzeug des Allgeistes 



— 175 — 

sei, erkannte niemand klarer als Napoleon: ,j8t meine Sen- 
dang erfüllt, kann ein Atom mich fällen/^ War' nicht das 
Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nicht erblicken .. wäre 
nicht in ihm selber Geniales, so könnte niemand Geniales 
erkennen. Aber wie wir bei Schopenhauer vermuteten, dass 
er die Ethik des Buddhismus überhaupt nicht begriffen und 
das Ethische nur ganz äusserlich abstrakt mit dem Verstände 
sich konstruiert habe, so halten wir auch nichts vom Helden- 
kaltus des unheldischen gläubigen Thomas. 

„Keinen traurigeren Beweis seiner eigenen Kleinheit 
kann ein Mensch geben, als Unglaube an grosse Männer.^ 
Wer möchte das psychologisch bestreiten! ,,Er war das 
Geschöpf der Zeit, sagt man. Ach, wir hören Zeiten laut 
genug nach einem grossen Mann rufen, doch ihn nicht 
finden. Er war eben nicht da, die Vorsehung sandte ihn 
nicht" Naiver Carlyle! Vielleicht war „er" da und sogar 
mehrere solche „er", aber die Zeit fand natürlich nicht, was 
sie nicht verstand. Es beruht daher auch der Heroenkult 
auf einer Täuschung, sobald man den Satz aufstellt: es 
müssten nur recht viel „Helden" da sein, dann werde die 
Welt von selber vorwärts kommen. Ahnt Carlyle, der so 
oft das Lob des Schweigens singt, nicht ein noch tieferes 
seelisches Schweigen von Heldenelementen, die unterm Ge- 
wicht der gesellschaftlichen Schmutzschicht erstickten, ehe 
sie aus dem unterirdischen Bergwerk ihres Bingens zur 
Sonne auftauchten, oder gar das gewollte tiefe Schweigen 
stolzer Seelen, die sich nicht dazu herablassen wollten, den 
Helden zu spielen? Denn etwas Vor- und Aufdringliches, 
Theatralisches haftet auch dem reinsten Heldentum an, so- 
fern es dabei sichtbar und vorlaut auf der Weltbühne agiert. 

Wenn man fragen wollte: Wäre Homer minder gross, wenn 
er seine llias verbrannt hätte? so würde man immerhin vor- 
aussetzen, dass er überhaupt die llias vorher schrieb. Und 
nicht nur können wir sein Dichtertum erst an seiner Leistung 
erkennen, sondern dasselbe ward sich selber erst im Schaffen 
seiner bewusst Und doch, können wir uns nicht einen 
grossen Sänger denken, der nicht nur wie der Nibelungen- 
sänger seinen Namen verschweigt, sondern es überhaupt 
verschmäht, der Welt die Schätze seines Innern mitzuteilen? 



— 176 — 

Nun wohL, mit dem allen soll nur gesagt werden, dass 
Helden und Heldenverehrung allein keineswegs genügen, son- 
dern das Zeitalter selber reif sein muss zum Begreifen grosser 
Männer, damit letztere eine Wirkung üben können. Ausser- 
dem liegt in Hero-Worship die stete Gefahr, dass man sich 
in falsche Helden verliebe und eine schlechte Zeit sich 
Götter mache nach ihrem eigenen Bilde, wovon wir in Neu- 
Deutschland gar manche Beispiele erlebten. Dass eine 
Erklärung für das Entstehen von ,Heroes^ nicht vorliege, 
gesteht auch W. Diltheys strenge Forschung („Beiträge zum 
Studium der Individualität^^) unumwunden zu: es sei umsonst, 
den Helden oder Genius aus Umständen aller Art begreif- 
lich machen zu wollen. „Der eigenste Zugang zu ihm ist 
der subjektive.^* Dies Subjektive ist aber grade das Ver- 
führerische und Irreleitende der Hero-Worship. Im Übrigen 
pflichten wir Garlyle gerne bei: „Der Mensch ist der ge- 
borene Sklave gewisser Menschen, der geborene Herrscher 
gewisser anderer und der geborene gleiche noch anderer.^^ 

Ruskin hat dies sogar, als seine „Fors Clavigera^' sozial- 
reformerisch sich Garlyle als bündnissfähige Macht antrug, 
wiederholt noch schärfer betont: „Es bleibt mein unverrück- 
bares Ziel, die Unmöglichkeit der Gleichheit die ewige 
Überlegenheit einiger Menschen über andere, ja manchmal 
eines über alle andern zu zeigen^^ oder „Freiheit ist Irrtum, 
es gibt nichts dergleichen im All und wir Menschen haben 
nur ein Blendwerk davon zu unsrer Strafe^'. Ein Blend- 
werk ist aber auch der Buhm, von des Lebens Gütern allen 
durchaus nicht das höchste. Sondern es gewährt ein dauer- 
hafteres Überleben für jedermann das persönliche Er- 
innerungsbild, das sich dem Privatgedächtnis einprägt Der 
Verstorbene, an dessen Gestalt, Handlungen, Äusserungen 
wir uns erinnern, lebt tatsächlich fort und wird nur etwa 
wie ein Abwesender empfunden, mit dessen Existenz wir 
trotzdem rechnen. Dies merkwürdige Phänomen legt die 
Relativität der BegrifTe Leben und Tod dar, hiermit 
auch des Huhmbegrifb. Heldenverehrung verbreiten 
heisst aber den Helden mit ungesundem Lorbeergemüse 
auffüttern und grade hierdurch das Heroische unter- 
binden. Also sehr mit Vorsicht zu gemessen! 



— 177 — 

„Let the Hero rest! It was not to men's judgement that 
he appealed, nor have men judged bim very weIP\ bekennt 
ja Carlyle selber bezüglicb seines Cromwell. Lasst die 
Helden rohen und die Helden Verehrung dazu! Denn nicht 
viel Gutes würde bei letzterer herauskommen, nur lähmender 
Personenkult Und die erhabene Realität der inneren Not- 
wendigkeit sorgt schon selbst dafür, dass die Bäume nicht 
in den Himmel wachsen: niemals wird die Welt, auf Lüge 
erbaut, das Wahre ,verehren'. Cromwell wird dem Fuchs- 
verstand der Mittelmässigen stets ein Heuchler bleiben. 
^Deshalb ist der Heroenkult die belebende Kraft mensch- 
lichen Daseins''? Dies ,Deshalb' entspricht keiner Konklusion, 
sondern einer falschen Prämisse. 

Es steht manches Gute in diesem Carlyle. So z. B. 
die derben Faustschläge ins Gesicht der grossen Lüge Amerika. 
„Hört auf, mir vorzuprahlen von Amerika und seinen Muster- 
institutionen und -Konstitutionen !" (Latterday-Pamphlets I, 
18.) Hört seine Charakterisierung der modernen Regierung: 
„Verantwortlich keinem Gott, aber 27 Millionen Göttern der 
Schilling-Gallerie." Die Kapitel „Downing Street" und „Hud- 
sons Statue" schlagen mit ihrem Berserkerspott wirklich alle 
bemalten Fenster der Ministerien und Bankhäuser ein. Er 
hat von Swift den mock- heroischen Zweideutigkeitsstil ge- 
lernt, er muntert die Mammonanbeter auf, in ihrer lobens- 
werten Wahrhaftigkeit fortzufahren, weil sie einem Londoner 
„Finanzgenie" vom Schlage amerikanischer Erie- Prinzen wie 
dem Kerl Hudson ein Denkmal errichten wollen. Er ruft 
im „Jesuitisrae" den seligen Loyola als Schutzpatron jeder 
Kirche und jedes Humbugs an. Er empfiehlt dem begabten 
jungen Briten die Karriere eines populären Redners in der 
ergötzlichen Diatribe vom „Stumpfredner" (Stump-Orator). 
Marktnachfrage nach Genie und Edelsinn? Null, unsere 
so geschickt aufgerichtete Zivilisation hält nur zwei 
Karrieren offen: Erstens die stumme oder industrielle, das 
ehrlich-Biberhafte oder unehrlich- Füchsische entwickelnd; 
zweitens die geschwätzige oder gelehrte Laufbahn der pro- 
fessionellen Kirche, Medizin, Juristerei (Politik), welche nur 
eins erfordert: Verlogenheit. Besonders auf die Herren mit 
weisser Halsbinde, Schaufelbut und Mitra, welche früher das 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. ]2 



— 178 — 

Abzeichen der Fieadenmldchen war, deutet Caiirle mit er- 
hobeneni Finger. Bist da aber erst darch Verlogenheit, 
Schwatzbaftigkeit und Bestechung in den Beichstag gewählt, 
dann« janger Mann, lebst da in laater Plisir and Freaden. 
So gewiss man eine geseifte Stange hinanfklettem kann, so 
sicher werden Frechheit und Ausdaaer einen grossen Parla- 
mentarier aas dir machen. — Willst da aber diesen Hexen- 
sabbat nicht mitmachen, dann, janger Mann, fort in deine 
Dachkammer and verfolge die Literatar solange, bis da ihr 
das Geheimnis deiner Talentlosigkeit entrissest Denn hier 
wenigstens bist du frei, die einzige Freiheit, die einem Briten 
blieb. Einem Briten? naiver Cariyle, sieh dich mal in 
deinem lieben Deutschland um — komm, sieh und werde 
besiegt, flüchte schaudernd ins gehasste England zurück! 

Dieser Selbst- Puritaner, der mit dem Schwert des Herrn 
und Gideon alle Amalekiter schlachten möchte, tobt sich 
einsam auf einem feuerspeienden Eiland aus, im Ozean der 
Unendlichkeit schwimmend. Auf pittoresk-zerrissener Hekla- 
formation seiner rauchenden und überhitzten Sprache wächst 
nur bitteres Islandmoos und eine düsterbräunliche Rembrand- 
stimmung taucht uns in unbehagliches Halbdunkel. Was 
kann man von der widerspenstigen Querköpfigkeit eines 
Geistes erwarten, der in seiner lockergefügten ungenauen 
Friedrichsgeschichte uns den einzigen philosophischen Durch- 
blick eröffnet: der sonst zu klein geratene Friedrich der 
Grosse sei wenigstens „nicht ein Charlatan, wie sein ganzes 
Jahrhundert!*^ Wie schimpfte er auf den Woblfahrtsausschuss 
und alle revolutionären Schwätzer und auf alle Buchmacher 
und Ltiteraten! Er selbst aber, der sich eigens zum Wobl- 
fahrtsausschuss für sich allein ernannte und unfehlbare 
Ukase erliess, begeisterte uns einst zu dem Epigrammchen: 

„Buchmacher nur Windmacher sind, haltet den Mund, 
Schreiben ist Wind! So blies Carlyle und, wundervoll, so 
blies er zwanzig Bände voll.^' 

Wieviel stickigen Qualm muss man bei seinen Eruptionen 
in den Kauf nehmen! Die Menschen sind ihm eine Schweine- 
horde, Philantropie gräulicher Unfug. Der Mensch ist zum 
Leiden da, weil überhaupt nichts Besseres wert Nur auf 
(fomütstiefe schauend, stänkert er gegen jeden Pessimismus . . 



— 179 — 

aus Pessimismus. Er beansprucht den Rang eines hebräischen 
Propheten und nimmt Kindheitsvisionen seiner schottischen 
Heide, wo ihm das ,,awful mystery of life^^ gegenübertrat, 
ernst als Offenbarung. Im Grunde hängt er haltlos zwischen 
Himmel und Erde überm Abgrund eines zu enträtselnden 
Mysteriums. An seinem bärbeissigen Humor fand freilich 
Anmassung des Tart pour l'art ihren Meister. Schade, dass 
Oskar Wilde nicht ein bischen Carlyle als Erzieher mit dem 
Enotenstock genoss: „Alles literarische Talent war zu etwas 
Besserem bestimmt^^ Sehr wahr, rhythmische Taten sind 
besser, als rhythmische Worte und eine gewisse Schweigsam- 
keit wohnt dem Genie inne, obschon es nichts weniger als 
„eminent schweigsam'^ Garlyles unendliche Predigten hätten 
daraus die Nutzanwendung ziehen sollen, doch seine eminente 
Schwatzhaftigkeit trat gerade so gebieterisch auf, wie die 
Graphomanie seines späteren Antipols Nietzsche. Das 
Literatenregiment „das bunteste in Ihrer Majestät Diensten . . /^ 
Überfülle von besoffenen Trommlern und keine rechte Mus- 
kete darunter, kein Hauptmann, kein QuartierbiUet ... ins 
Hinterglied gedrängt, die unsterblichen mitten drunter? 
Alles wahr, aber die Unsterblichen sind eine seltene Rekruten- 
aushebung der Menschheit und Carlyle, der sich wie ein 
Eönig-ohne-Land geberdete, ward doch bald genug mit 
gläubigem Lailla-il- Allah aus den Reihen heraus und auf die 
Schultern gehoben. Die schönen Künste sind heut ,,after- 
dinner-amusements, slave adjuncts to cookeries, upholsteries, 
tailories and otber Goarse Arts^^? Jawohl und doch ver- 
fehmt er Byrons Herrscherstolz und preist die züchtige Miss 
Muse Tennysons, die als feile Bajadere dem gemästeten 
Nabob der Philistergesellschaft vortanzt? Zerfahrenheit und 
kein Ende! Er möchte die moderne Gesellschaft zu einer 
Art Tibet machen, wo man ,Helden^ zu Dalailamas heran- 
züchtet: wahre Helden würden sich bestens dafür bedanken! 
Er machte die gleiche Entdeckung wie Swifts Rauflust, 
dass die ganze Welt nur ein Kleiderschrank sei: „They held 
the universe to be a large suit of clothes'^, vergass nur, dass 
auch er selber eine passende Kleidermaske trug, die schwarze 
Robe eines Galvin. Darum war er auf Toleranz schlecht 
zu sprechen, die nur eine Schwachheit sei. „Jedenfalls,^ 

12* 



— 180 — 

führte ihn Jemand ab, ,,hat die Toleranz bewirkt, dass Herr 
Carlyle frei predigen kann." Wenn Goethe singt: „Wir 
heissen euch hoffen," so kann sein düstrer Aasleger das nur 
negativ übersetzen: „Work and despair not! (Arbeite und 
verzweifle nicht!"), da ihm immer eine Byronsche „Darkness" 
finsterer Verzweiflung naherückt. Nicht so originell, wie er 
glauben machen will — seine Gromwellausgrabung hatte 
schon Savage Länder ihm vorgemacht — , entbehrte er nicht 
nur nicht der Eanzelrhetorik und dazu gehörigen Eomödianten- 
art, sondern erklärte selbst in seinen von Froude heraus- 
gegebenen Erinnerungen seine berühmten Vorlesungen als 
„abscheuliches Gemengsei von Prophetie und Schauspielerei." 

Wenn Taine (L' Id6alisme Anglais) meint: „On döcouvre 
enfin qu'on est de van t un animal extraordinaire, d^bris d' 
une race perdue", so wundert er sich bloss als Franzose: 
einem Germanen ist diese deutschenglische Mischrasse von 
Fichteanern und Puritanern ganz verständlich. Dagegen 
wird im Buch eines Garlylianers („Ein Lebensbild und Gold- 
körner aus seinen Werken" von Professor Oswald, 1882) 
völlig klar, dass der alte Weise überhaupt nicht mehr wusste^ 
was er religiös glaubte Darwin wollte er nicht lesen, aber 
das Christentum legte er innerlich ab, ohne je etwas Greif- 
bares dafür einzusetzen. Er sprach oft als Sozialist, sprach 
das tiefe Wort: „Auch der höchste Mensch kann sich vom 
niedrigsten nicht losmachen" (Past and Present). Dann 
aber schwelgt er wieder in wahrer Verachtung der Massen. 

Trotz der edelherzigen Verteidigung seines Privat- 
charakters, die Tyndall veröffentlichte, erregte Froudes Ab- 
druck der Carlyleschen Gehässigkeiten über seine Freunde, 
zehn Jahre lang von Carlyle im Pult verwahrt, gerechten Un- 
willen. Der Mann war eben bitter von schlechter Verdauung 
und sah die Welt als ein seltsames Mathematikerproblem: „Ge- 
geben eine Welt von Schuften, produziere eine Ehrlichkeit!" 

Gewiss, seine Worte passen mehr denn je auf die Jetztzeit: 
„Verlogenheit hängt schon in der Luft, die wir atmen . . . 
Von einer so verderbten Bevölkerung, eifrig nur in niederen 
Strebungen und einem Gewerbfleiss, der nur sinnlich und 
biberhaft, liegt wenig Gefahr einer menschlichen Begeisterung 
vor." Und sehr wahr fragt er in seinem Voltaire-Essay, der 



— 181 — 

übrigens nicht ganz so „verieumderisch^^ oder einfältig 
sich liest, wie Taine behauptet: „War es die öffentliche 
Meinung, die Kolumbus nach Amerika trieb ?^^ Aber wenn 
er die klotzige Elobigkeit der Miltonschen Eeulenpolemik 
nachahmte, so wird man ihm nirgendwo in seinem Lebens- 
wandel als einem würdigen, heroischen Nachfolger Miltons 
begegnen, den er (Life of Schiller) „moralischen König der 
Schriftsteller^^ nennt Und seine boshafte Bemerkung 
(Essays YL Walter Scott): „Es bleibt noch eine grosse Ent- 
deckung in der Literatur zu machen, nämlich Schriftsteller 
nach der Quantität zu bezahlen, die sie nicht schreiben^^ 
trifft ihn selber mit Diesem griesgrämigen Malvolio gegen- 
über brennt uns das trotzige Motto von Byrons Don Juan 
auf der Zunge: „Meinst du, weil du tugendhaft bist, es soll 
keine Torten mehr geben ?^^ Und der Ingwer, den dies 
Shakespearezitat empfiehlt, wäre dem Magenkatarrh eines 
Jeremias ungemein heilsam gewesen, dem Dispepsie „wie 
eine Ratte in der Magenhöhle nagte". Sein Pamphlet 
„Shooting Niagara'^ nennt er selbst „ungekämmt^ 

Ja freilich: „Liebe kann nicht durch Quittungen erkauft 
werden und ohne Liebe können Menschen das Zusammen- 
sein nicht ertragen," aber wem fehlte Menschenliebe mehr, 
als dem Verfasser des Swift nachahmenden Schweinekatalogs 
mit dem grässlichen Spott: „Wer erschuf das Schwein? 
Unbekannt, vielleicht der Schweineschlächter?" Und was 
erschuf Carlyles Werk? Ein geistiges Sodbrennen. 



--^^i^ — 



Der zemssenB Orphons: Maid Wagner. 

„Sollte das deutsche Volk am falschen Golde des 
Nibelungenringes einmal wahren Gefallen finden, so wäre 
es durch diese blosse Tatsache ausgestrichen aus der Reihe 
der Kunstvölker.^' Also schrieb einer der bekanntesten 
deutschen Kritiker noch 1876. Heute muss umgekehrt 
jeder, der an Wagner nicht etwa kein Gefallen findet, 
sondern nur gegen masslosen Kultus sich auflehnt, sich 
gefallen lassen, aus der Reihe der Kritiker, ja der Gebildeten 
ausgestrichen zu werden* Ein so erbitterter Kampf um 
Anerkennung hat selten mit einem so jähen Umschlag eines 
Welttriumphes geendet Wenn aber menschliche Beschränkt- 
heit und Parteilichkeit es fertig brachten, einen so unbe- 
zweifelbar Genialen dreissig Jahre lang als einen halbver- 
rückten Stümper zu verlachen und zwar angesichts von 
Werken wie ,,Tannhäuser" und „Lohengrin", die nicht einmal 
wie Wagners spätere bedeutendste Schöpfungen dem üblichen 
Kanon musikalischer Ästhetik schrofif zuwiderhandelten, 
dann wird man mit Fug auch gegen grenzenlose Yer- 
bimmelung misstrauisch werden. Ungerecht und masslos, 
kindisch und unreif in all ihrem Dichten und Trachten von 
Jugend auf, wissen die Menschen nie die Mitte der Wahr- 
heit innezuhalten. Nichts entscheidet bei ihnen als subjek- 
tiver Eigennutz, den sie aus dem Leben auch auf die Kunst 
übertragen. Wagners geniale Erscheinung störte die mittel- 
mässig weichliche Kunstversimpelung bis zum letzten Viertel 
des Jahrhunderts, sein wirklicher völliger Sieg fiel unmittel- 
bar mit der grossen literarischen Reformbewegung des so- 
genannten Realismus zusammen, der in Wahrheit nur 



— 188 — 

revolutionäre Auflehnung gegen die akademische veilchen- 
blaue Schönheitsduselei gewesen ist. So fern daher Wagners 
romantische Stoffe dem äusseren Schein der literarischen 
Moderne zu liegen scheinen, darf man getrost seinen Triumph 
mit dem Siegeszug der neuen Literatur in Verbindung 
bringen. 

Dies Leben und Wirken ist so reich, strotzt so üppig 
von saftigem Tatendrang, dass es schwer fällt, das eigentliche 
Leitmotiv darin herauszuhören. Doch ein solches besteht 
und es bezeichnet den aufs Äusserliche gerichteten Sinn des 
herrlichen Reklamejahrhunderts, dass dieser Endzweck ein 
wesentlich praktischer war, nämlich die Festspiel-Idee. 
Wagner hatte die Wirkung des Theaterdusels auf die Sinne 
der Menschheit vollbegriffen, da die rein sinnlich veranlagte, 
dem Denken abholde und reingeistiger Versenkung unzu- 
gängliche Masse nur durch Veranschaulichung der Bühne 
einen angeblich tiefsten Kunsteindruck empfängt. Dass dies 
auf Täuschung beruht, dass im Gegenteil im grellen Lampen- 
licht und unterm hypnotisierenden Einfluss einer von 
Schweiss und Parfüm geschwängerten Zuschauermenge alle 
Eindrücke sich vergröbern, alle Feinheiten sich verwischen, 
Oedanke und Oefühl verloren gehen, das Dichterwort im 
leeren Raum verpufft und einzig die grobmassive „Hand- 
lung" eine Sensation der Sinne und Nerven in Schwingungen 
setzt, weiss jeder Wissende, jeder vornehmer Empfindende. 
Ein solcher meidet die Theater wie Stätten des Grauens, 
der Kunstverpöbelung, wie Jahrmarktsbuden für grosse 
Kinder und schaulustigen Pöbel. Kein Shakespearekenner 
lässt sich dazu herbei, mitanzusehen, wie Ewigkeitstragödien 
des Briten auf der Bühne entweiht werden durch das öde 
Gebrüll und Posieren geistloser Histrionen. Immer mehr 
bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass bei unseren heutigen 
Zuständen das wahre Drama grossen Styls überhaupt nicht 
auf die Bühne gehört, dass es wohl eine dramatische 
Dichtung in Buchform, nicht aber eine Bühnendichtung 
im Sinne heutiger Banausen geben kann. Fast möchte man 
frohlocken, dass in England und Amerika diese Bretter, die 
nicht die Welt bedeuten, ehrlich und offen auf jede Kunst 
verzichten und nur noch Vergnügungsfabrikate geschäftlich 



— 184 — 

rertreiben. Solche reinliche Scheidung, welche leider 
unsrer deutschen Bildungsheuchelei widerstrebt, suchte 
nun Wagner auf einem anderen Wege herbeizuführen. Da 
unsere stehenden Bühnen sich als völlig unzulänglich er- 
wiesen, Kunst um ihrer selbst willen zu üben, wollte 
er mit eigenen SeparataufTührungen sauber und deutlich 
künstlerische Absichten herausbringen. Es gelang ihm dies 
freilich nur teilweise, indem er sich genötigt sah, nach dem 
anfänglichen Bayreuther Misserfolg seine Nibelungenopern 
den ständigen Theatern preiszugeben. Doch mit so stolzer 
ünerbittlichkeit behielt er seine Verachtung der zünftigen 
Eunstbetreibung bei, dass er wenigstens seine ernsteste 
Schöpfung, seinen Schwanensang „ParsifaP', ausschliesslich 
der Bayreuther Festspielbühne gewahrt wissen wollte. Be- 
kanntlich ward ihm selbst hierin heut eine Strich durch 
die Rechnung, gemacht Die Deutschen in ihrer tiefen 
Pietätlosigkeit und Respektlosigkeit gegen reingeistige 
Orössen. die sich nicht mit staatlichmonarchischem Nimbus 
umgeben können, beachten nicht einmal den letzten Willen 
eines grossen Toten, dessen Leben ihrem Nationaldünkel zu 
bleibender Nahrung diente. Über dies letztwillige Ver- 
mächtnis kann ein Zweifel durchaus nicht bestehen, denn 
1880 hat Wagner wiederholt schriftlich und öffentlich sich 
ein Monopol des „Parsifal^^ für alle Zukunft vorbehalten, 
dessen alleinige Aufführung in Bayreuth zugleich finanziell 
ermöglichen sollte, die früheren Musikdramen für Bayreuth 
zurückzugewinnen. Wie Wagner den ,,Parsifal" ein Bühnen- 
weihfestspiel betittelte, so wollte er all seine Erzeugnisse 
von einer besonderen Weihe umgeben wissen. Sehr schön 
kommt dies in einem Briefe an Liszt schon 1832 zum Aus- 
druck: „Grosse Städte mit ihrem Publikum sind für mich 
gar nicht mehr vorbanden. Ich kann mir unter meiner Zu- 
hörerschaft nur eine Versammlung von Freunden denken, 
die zum Zwecke des Bekanntwerdens mit meinem Werke 
eigens irgendwo zusammen kommen, am liebsten in irgend 
einer schönen Einöde, fern von dem Qualm- und Industrie- 
pestgeruch unserer städtischen Zivilisation.^^ Das zeugt ge- 
wiss von hoher Einsicht in das wahre Wesen künstlerischer 
Erlebnisse und ihrer Vermittelung an eine gebildete und 



— 185 — 

teilweise entsprechend geschulte Menge. Und wem erfüllt 
es nicht mit Bewunderung, dass ein solches, allen mate- 
riellen Verhältnissen des ebenso grossen wahnsinnigen wie 
ideal- und bildungslosen Jahrhunderts hohnsprechendes 
Ideal durch unermüdliche, zähe Tatkraft verwirklicht werden 
konnte! Lob und Preis verdient es nicht minder, dass die 
merkwürdige und in gewissem Sinne genialische Gattin 
Cosima mit heiliger Treue das Vermächtnis und Erbe des 
gewaltigen Toten antrat und ganz in seinem Geiste ver- 
waltete, hegte und pflegte. 

Wagners Genialität anpreisen wollen, hiesse nach dem 
lateinischen Sprichwort den Herkules loben, den niemand 
tadelt. Doch nochmals: wenn so unleugbare Herkuleskraft 
gleichwohl so lange Zeit mit Hohn und Hass bestritten 
werden durfte von Leuten, die sich für berufenste Eunst- 
richter hielten, so drängt sich der misstrauische Zweifel auf, 
ob solcher Blindheit nicht auch umgekehrt masslose Ver- 
blendung des Gegenteils entsprechen könne. Denn beachten 
wir wohl, dass die Wagnergemeinde, sei sie klein wie im 
Anfang, sei sie weltweit wie heute, den Meister zu einem 
Gotte erhöht, der eigentlich erst das letzte Wort der Kunst 
gesprochen habe, ihn gleichsam zum Mass aller Dinge nimmt. 

Was er so richtig und schön für das Theater angeregt, 
worin sein Wahn Frieden fand, das soll im Grunde nur für 
ihn gelten. Wie das Parsifal-Monopol für Bayreuth, soll ge- 
wissermassen ein Wagner-Monopol für die Gestaltung der 
Kunst gegründet werden. Wenn die Goethepedanten mit 
Goethes Tode einen Strich und ein Punktum unter die 
Literatur setzten, als ob jenseits Goethe eine Weiterent- 
wicklung nicht mehr möglich sei, so lacht man schon heute 
darüber. Was aber die Wagnerianer wähnen, geht noch 
viel weiter. Hier handelt es sich nicht mehr um die Poesie 
des Wortes allein, sondern um Poesie und Kunst schlecht- 
weg, welche ganz und gar im Kultus des Musikdramas 
gipfeln sollen, derart dass sich alle Künste mehr oder minder 
in den Dienst der tonangebenden Musik stellen. Gegen solch 
schamlosen Unfug der Musiknarren, an welchem Wagner 
selber keineswegs unschuldig war, müssen wir uns als gegen 
einen Auswuchs tiefster Unbildung aufs schärfste wenden. 



— 186 — 

Wagner war nicht nur einer der geistvollsten Menschen, 
die je gelebt — auch seine polemisch-theoretischen Schriften 
und Briefe, obschon mehr im Gehalt als in formaler Dar- 
legung bedeutend, legen davon unwiderlegliches Zeugnis 
ab — , nicht nur ein idealer Ringer und Kämpfer von 
athletischen Kräften, sondern er übersprudelte auch so reich 
Ton unerschöpflicher Schöpferlust, dass man ihn förmlich als 
Sinnbild des Oenius und seines Erdenwallens betrachten 
kann. Seine Bedeutung wuchs weit über blosses Kunst- 
vollbringen hinaus, er wurde ein grossartiger Anreger und 
innerer Reformator des gesamten deutschen Geisteslebens, 
das er auf allen Gebieten mit eigentümlich neuer tatkräftiger 
Idealität befruchtete. Was ihn aber den Deutschen beson- 
ders ehrwürdig machen sollte und was ihn unter die höch- 
sten, wo nicht gar an die Spitze aller, deutschen Heroen 
stellt, das ist sein begeistertes Streben, in sich den deut- 
schen Genius darzustellen, nicht nur durch und durch 
genial, sondern auch durch und durch deutsch zu sein. Das 
Metaphysisch- Lyrische des Deutschen, das Idealistische und 
doch sinnlich Gewalttätige des allgemeinen germanischen 
Rassegenius vermählte sich in seinen Werken, einer gedank- 
lichen Doppelmischung von „Tristan'' und „Parsifal". Das 
altgermanisohe Barbaren- und Berserkertum kam in den 
„Nibelungen" zum Durchbruch, das humorvolle Gemüt und 
der Reiz der bürgerlichen Renaissance in den „Meister- 
singern", das christlich - mystische schwermütige Natur- 
empfinden schon im „Tannhäuser", kurz alles, was deutsche 
Alt von Siegfiied bis Luther ausmachte, tönte aus seinen 
Musikdichtungen vernehmlich hervor. An dieser Grenze 
aber endet Wagners Mitgehen, seine Poesie bleibt nicht 
nur stofflich, sondern auch formal und gedanklich eine sagen- 
hafte Spätromantik, von dem eigentlichen Wesen der Neu- 
zeit losgelöst Was man von allgemeiner Philosophie in 
seine Werke hineinlegt oder was wirklich beabsichtigter- 
massen darin steckte, erhebt sich zu vaguen Verall- 
gemeinerungen und oft genug fragt man sich nach Nam' 
und Art dieses fremdartigen Schwanenritters. Der angeb- 
liche Tiefsinn, den man hier aus Tonwellen und aus unklaren 
Worten heraushören will, ist hohler Schall. Und dass er 



— 187 — 

Schopenhauers Pseudobuddhismus und willensverneinende' 
Philosophasterei auf Germanisches, ja Altgermanisches auf- 
pfropfte, ergibt einen unerquicklichen Wirrwarr heterogener 
Bestandteile. Wotan und Brunhilde in altgermanischer 
Heldenreligion hatten weit eher mit Nietzsche als mit 
Schopenhauer zu schafifen, und als Nietzsche sich über den 
„Parsifal^^ als eine Umkehr zu christlicher Mystik erboste, 
zeigte er nur seine eigene Stillosigkeit. da Wagner hier zum^ 
ersten Mal eine logisch stilvolle Schlussnote seiner mystischen* 
Romantik fand, während das von Nietzsche kaum beanstan- 
dete frühere Schopenhauern sogar das Deutschgefühl Wagner» 
beeinträchtigte. Brahma und Schleier der Maja gehören 
nicht zum Wotan, der sein Methorn säuft, nicht zu Tristans 
sehr irdischer Ritterminne. Siegfried und Hagen des Nibe- 
lungenlieds sind unvergleichlich wahrere und noblere Ge- 
stalten, als Wagners skandinavisch - indische Missgeburten. 
Betrachten wir Wagners grossartige Erscheinung lediglich 
von weitem wie einen Berggipfel in verschwommenen Um- 
rissen, so überschätzen wir seine steile und zerklüftete Grösse. 
Erst bei näherem Eingehen werden uns Dimensionen und 
Konturen klarer, schrumpfen dann aber auch wesentlich zu- 
sammen. Einen typischen Vertreter des Jahrhunderts erkennen 
wir weniger im Künstler als im Menschen Wagner. Sein 
allgemeiner Geistesschwung und seine Sehnsucht nach den 
höchsten Zielen reihen ihn freilich schon an und für sich 
unter die grossen Menschheits Vertreter ein, die sozusagen 
das persönliche Signalement eines Jahrhunderts entbehren 
können. Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir ihn ohne 
Weiteres für den Grössten des letzten Jahrhunderts, seinen 
einzigen dauernd Unsterblichen halten. Unter diesem Ge- 
sichtspunkt müssten wir ihn als den Gipfel der neuen Zeit 
betrachten, mit ihm als Krönung des Gebäudes schliessen. 
Denn Keinem, der innerhalb des neunzehnten Jahrhunderts 
sein Ende fand, eignete so umfassende Idealität und Grösse 
der Konzeption. Anders aber wechselt der Massstab, sobald 
wir seine Ausdrucksmittel und die fixe Idee in Betracht 
ziehen, dass sein Musikdrama die höchste Verklärung der 
Kunst bedeuten soll. Hier wurde die Grösse zum Grössen^ 
wahn, die Kraft zur Überspannung. 



— 188 — 

Dass Wagner sich mit solcher Inbrunst Schopenhauer 
zuwandte, hat ausser leicht durchsichtigen inneren Gründen 
noch den subjektivischen Anlass, dass dieser Sophist dem 
Orössenwahn der Musiker einen bedeutenden Vorsprung 
8chafin:e. In seiner Ästhetik nämlich, worin er sehr glücklich 
auseinandersetzt, dass nur das (wahre) Eunstweik aus der 
Welt des Scheins in das Kantsche Ding-an-sich hinüberleite, 
indem es nicht an der Erscheinung selber hafte, sondern die 
(Platonischen) Ewigen Ideen verkörpere, stellt er das un- 
geheuerliche Paradoxon auf: die Musik sei die höchste der 
Künste, da sie zwar nicht Ideen darstellt, sondern selbst 
Idee sei! Vollständige Musik sage in Tönen, was voll- 
kommenste Philosophie nur in Worten erklären könne. Was 
soll nun dieser Gallimathias bedeuten? Wenn Musik eine 
tönende Weltidee wäre, so müsste sie notwendigerweise 
alle Vorgänge der Vorsteliungswelt wiedertönen. Das ist 
aber ein Unding, da sich ihr die ganze wichtigste Seite der 
Seelenschilderung, nämlich psychologische Charakteristik, 
notwendigerweise entzieht Das Komische vermag sie nur 
schwach, das Hässliche nur durch gräuliche Disharmonien 
anzudeuten, durch übelklingende Aufschreie eines Tönestreits, 
der sich zwar zuletzt in Wohlklang auflösen soll, aber dem 
Wesen der Musik widerspricht, das in letztem Grunde es nur 
auf einen wohlklingenden Ohrenschmaus abgesehen hat 

Natürlich fehlte es nicht an Musiknarren, die derlei Ent- 
gleisungen Schopenhauerscher Originalitätssucht mit heiligem 
Ernste aufgriffen und metaphysische ürgesetze der Melodik 
aufstellten. Ein gewisser Kurt May nahm daher auch 
Wagners anmassenden Wahn ernst, dass seine Nibelungen- 
musikdramen ,,Anfang und Ende der Welt bedeuten^'. Das 
Orchestervorspiel stelle die Entwicklung des Chaos bis zum 
Hervorbringen des Menschen dar. Derlei Scherze sind nicht 
neu. Die sogenannte Programm musik ist reich an ihnen, 
Ulibischeff hat aus Mozarts und Beethovens Musikstücken 
•die fabelhaftesten Gedanken und Handlungen herausgelesen. 
Man kann sich das verblüffte Gesicht des naiven Mozart 
vorstellen, wenn er derlei Schwatz über seine angeblichen 
Ideen hätte lesen können, falls sein niedriger Bildungsstand 
ihm überhaupt das Lesen solchen Buches gestattet hätte. 



— 189 — 

Derlei Redereien erinnern an die Überschwänglichkeit 
mystischer Kirchenmythen, eine wahre Mythologie der 
Musik. Aufsteigende Melodik bedeutet Werden und Willens- 
bejahung, absteigende hingegen Vergehen und Willens- 
vemeinung? Ach, wie schön! Das würde grade die grenzen- 
lose seelische Armut der Musik bedeuten. Denn die echte 
Willensverneinung ist ja kein „Vergehen", sondern ein 
Entstehen des höheren Menschen (des wahren Übermenschen) 
und heischt daher alles eher als „absteigende" Melodik ! Da 
die Musik aber eine ganz primitive und kindliche Kunst 
ist, ward ihr eben nicht gegeben, andere als die einfachsten 
Seelenzustände nachzutönen, nämlich die Leidenschaften oder 
einen Rausch von Freude („seid umschlungen, Millionen") 
oder Seufzer tiefer Melancholie, niemals aber verwickelte 
psychologische Prozesse und gar tiefe Gedankengänge. Auf- 
und absteigende Melodik soll den unbewussten Individual- 
willen, ab- und aufsteigende Melodik das bewusste Wollen, 
das Erkennen, bedeuten? Das ist doch gar zu lächerlich. 
Mit gleichem Tiefsinn könnte man dekretieren, dass Adagio 
das Säuseln der Kinderseele oder jungfräuliche Brautgefühle, 
Andante das reife Alter, Pianissimo den Schöpfungsmorgen 
und Fortissimo die Götterdämmerung bedeute. Nächstens 
werden auch die Bildenden Künstier sich melden und er- 
klären, dass jedes Gemälde einen Kursus der Philosophie 
darstelle, dass in jedem greinenden Bauern, dem ein Zahn 
gezogen wird, das unendliche Weltweh zu plastischer Symbolik 
kommt, und was dergleichen Scherze mehr sind. Natürlich 
wird jeder Fachmusiker, von solchen unmusikalischen Themen 
wie Philosophie und Bildung weltenfern, verdutzt dazu den 
Kopf schütteln. Derlei Phantasieen über die Gesetzmässig- 
keit chromatischer Tonleitern oder melodische Polaritäten 
von Dur und Moll schliessen übrigens, ohne es zu wollen, 
das Geständnis ein, dass die Musik auf Mechanik beruht^ 
dass der Organismus einer Tonschöpfung mehr oder minder 
nur auf einen Mechanismus hinausläuft. Und in der Tat 
wohnt ja der Musik und der „gefrorenen Musik", wie man 
ganz geistreich die Architektur benannte, nahe Verwandt- 
schaft mit der zahlenmässig mechanischesten Wissenschaft 
inne: der Mathematik. Mit einem seiner unbewussten Selbst- 



— 190 — 

"Widersprüche wies gerade Schopenhauer an andrer Stelle lang 
und breit nach, dass der geniale und freischöpferische Geist 
immer Widerwillen gegen und Unfähigkeit zur Mathematik 
bekunde. 

Wie wenig aber Schopenhauer verdient, als Wegweiser 
^u dienen, wie in seiner Dialektik fortwährend die Begriffe 
sich verwirren und widersprechen, haben wir früher dar- 
gelegt Das Gesicht sei der Sinn des Verstandes, das Gehör 
der Sinn der Vernunft? Er weiss also gar nicht, dass das 
Oenie keineswegs einem inneren Hören, sondern einem 
inneren Sehen gleicht, weshalb der Sprachgebrauch den 
Propheten und Dichter tiefsinnig „Seher" nennt, obschon 
•er doch nichts real Sichtbares „sieht^ Die Sprache denkt 
also richtiger und metaphysischer als dieser Philosoph. Man 
sagt wohl auch bildlich: er hört auf die innere Stimme, 
meint aber hier ausschliesslich mit „Stimme^' die begriffliche 
Vorstellung der Vernunftmahnung. Die Vermittlung der 
Sprache ist etwas rein Begriffliches, ein lautes Denken, was 
mit dem Gehör an sich garnichts zu schaffen hat Das liegt 
ja offen zu Tage, da eine Welt von Taubstummen sich 
-schriftlich genau so gründlich, vermutlich nur klarer und 
besonnener, unterhalten könnte wie mündlich, das Gehör 
nur die Möglichkeit unüberlegten Geschwätzes hinzufügt 
(Deshalb heisst Logos gleichzeitig Wort und Denken.) Dem 
Dichter dient daher die Sprache nur als Handwerkszeug wie 
dem bildenden Künstler Farbe und Stein, und sein ünter- 
-schied vom mittelbaren Vorstellen der Gewöhnlichen besteht 
eben darin, dass er seine Ideen und Empfindungen als Ge- 
stalten und Bilder plastisch sieht Dies ist sogar das erste 
Erfordernis wirklichen Genies. Denn die Einbildungskraft, 
aller Fähigkeiten oberste, als Verknüpfung von Sinnlichkeit 
und Verstand und sozusagen göttlichen Wesens als un- 
mittelbares Anschauen der Vernunft, ist selbst ein 
Gesicht. Man sagt daher „er hat Gesichte", nicht: er 
hat Gehöre, und Buddha bezeichnet die Initiierung als 
.„Schauung". Das innere Gesicht speist sich gerade aus 
dem fessellosen Manas, indes die Musik an den blossen 
Verstand, nämlich Zahl und Zeitmass, sich untrennbar 
bindet. 



— 191 - 

Und siehe da, man höre Schopenhauer: „Daher wirken 
Töne störend und feindlich auf den Geist ein, und 
zwar um so mehr, je tätiger und entwickelter dieser 
ist; sie zerreissen alle Gedanken, zerrütten momentan die 
Denkkraft . . . Demzufolge lebt der denkende Geist mit 
dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem 
Krieg.'' Diese sehr richtige Einsicht führt er mit rücksichts- 
loser Schärfe durch, weist sogar darauf hin, dass geheilte 
Taubstummen den ersten Ton mit Abscheu, geheilte Blinde 
das erste Licht mit Entzücken wahrnehmen. Und was 
folgert aus seiner richtigen Definition, dass Sehen aktiv, 
Hören passiv sei? Alles Passive gehört eben zum bloss 
Organischen, Unvernünftigen, und alle Vernunftäusserungen 
sind eminent aktiv. Deshalb — nicht aber mit seiner un- 
klaren Begründung — , zitiert er auch mit Recht Bichats 
Behauptung: das Wort sei die Sprache des Verstandes, der 
Gesang diejenige der Leidenschafton, des organischen Lebens. 
Wie reimt sich nun dies Alles mit dem hochtrabenden Ge- 
salbader über die Musik zusammen? 

Ist der Wille aktiv oder passiv? Ist er aktiv, dann 
gehört ihm also die Funktion des Sehens und wäre dem- 
nach diese laut Schopenhauers System das Primäre, Ur- 
sprüngliche. Ist er hingegen passiv-unfrei, wie wir meta- 
physisch annehmen — natürlich im Gegensatz zum empi- 
rischen Schein, an den sich gerade Schopenhauer hier 
klammert — , dann allerdings gehört ihm die Musik. Dann 
aber wäre diese angeblich unmittelbarste Kunst so gerade 
Ausdruck des Willens-zum-Leben, den man laut Schopen- 
hauer fliehen und brechen soll. Und siehe da, er ist sich 
dieser Selbstüberführung so bewusst, dass er sein Kapitel 
über die angebliche Metaphysik der Musik mit dem Be- 
denken schliesst: man möge nicht Anstoss daran nehmen, 
dass nach seiner Darstellung diese erhabene Kunst doch 
nur dem Willen zum Leben schmeichele und seine 
Befriedigung freudig bejahe! Den Teufel auch, daran sollen 
wir nicht Anstoss nehmen, wenn wir sein System ernst 
nehmen? Also der Wille ist verwerflich, die Musik 
ist sein Ausdruck, und doch ist sie „die Sprache der 
Vernunft"?! 



— 192 - 

Da man ferner die Architektur gefrorene Musik nennt, so 
kann sie wohl kaum „die beschränkteste und schwächste"^, 
wenn die Musik ,.die ausgedehnteste und wirksamste aller 
Eünste"^ sein, sintemal beide auf dem Zahlenmässigen 
beruhen, wie er selber ausführt! Wenn er Kant dessen 
Geschmack an symmetrischer Architektonik der Begrifie 
Ubcl auslegt, könnte er ebensogut Beethoven die Archi- 
tektonik seiner Symphonien zum Vorwurf machen. Da 
musikalischer und architektonischer Sinn sich fast immer 
zusammenfinden, werden die für Architektur Begeisterten, 
überhaupt alle Kunstverständigen und auch die wenigen 
gebildeten Musiker lange Gesichter schneiden, wenn solch 
eine Banause, der die Gothik für Barbarei erklärt, mass- 
gebendes Orakel sein soll. 

Wahrlich, ein Schopenhauers würdiger Einfall, die Ideen- 
losigkeit der Musik selber für eine Idee zu erklären! Diese 
tönende Weltseele hat ausserdem den seltsamen Geschmack, 
sich in den leersten denkunfähigsten Schädeln zu konzen- 
trieren. Mit wenigen seltenen Ausnahmen bezeichnen die 
Musiker den äussersten Tiefstand der Bildung. Dumm wie 
ein Tenor, sagt man sprüchwörtlich und könnte zufügen: 
unfähig, ein gebildetes Gespräch zu führen, wie ein Musiker. 
Diese Kinder (aber keine gutartigen) stehen auf so primi- 
tiver Vernunftstufe, dass alles, was nicht ihre „Kunst" 
(Handwerk) berührt ihnen eine terra incognita bleibt. Das 
könnte nun auch bei anderen vorkommen und der klägliche 
Bücherwurm, der eine Monographie über einen hohlen Zahn 
des König Ramses für eine Geistestat hält, betrachtet ja 
gleichfalls das ausser seiner sogenannten Wissenschaft 
Liegende als nicht vorhanden. Aber eine so naive Selbst- 
gefälligkeit wie bei Musikanten, in wuseligcm Dusel einer 
Tönewelt dahinträumend, findet man nicht mal bei Anfängern 
der Naturwissenschaft. Wie also eine Weltidee in Köpfen 
wiedertönen solK die kaum fähig sind, auch nur den 
banalsten Gedanken nachzudenken, wissen die Götter. Man 
kann kein Schriftsteller, geschweige denn ein Dichter sein, 
ohne sich ein gewisses Mass von Bildung anzueignen und 
selbständig zu denken. Auch bei den bildenden Künstlern 
leigt sich im allgemeinen ein lebhaftes geistiges Streben. 



— 193 — 

die Neigung, sich literarisch anregen ^u lassen. Unzählige 
Musiker haben nie ein ernstes Buch gelesen, der richtige 
Liederkomponist fasst das Suchen nach Texten als notwen- 
diges Übel auf, sintemal das Lied ja höchstens Lebens- 
berechtigung dadurch gewinnt, dass man es in Musik setzen 
kann. Man sollte denken, dass der zweifellos musi- 
kalische Rhythmus des Verses den Musiker anlocken müsste, 
doch selbst hierzu ist er meist zu blöd. Die Vor- 
stellung, dass banalste Nullitäten Inhaber einer angeblich 
so göttlichen Kunst sein könnten, scheint so absurd, dass man 
eben nur folgern kann, es werde mit der tönenden Welt- 
seele wohl nichts auf sich haben. Doch man möchte noch 
einwenden, dass diese angebliche „Idee^\ Musik genannt, 
sich allerdings nicht in hochentwickelten Gehirnen beherberge, 
dafür aber ein besonders schönes und edles Oemütsleben 
erfordere. Auch dies erweist sich erfahrungsgemäss als 
falsch. Mit vereinzelten Ausnahmen wie Liszt, wahrschein- 
lich auch Beethoven und Bach, besitzen die Musiker gemein- 
hin eine so kümmerliche und niedrige Ethik der Lebens- 
haltung, dass leider in dieser Beziehung auch der ausnahms- 
weise geistesgrosse Richard Wagner keine rühmliche Aus- 
nahme bildet. Von der angeblichen Veredelung und 
Reinigung des Gemüts durch Musikmachen spürt man blut- 
wenig bei Musikbeflissenen, die sich im Gegenteil meist 
durch naiv skrupellosen Egoismus, klobige Sinnlichkeit und 
Geldgier, kurz durch alle nur möglichen unidealen Instinkte 
auszeichnen. Man komme uns also nicht mit der abstrakten 
Idealität der Musik, denn an ihren Früchten sollt ihr sie 
erkennen. 

Wenn Shakespeare den Menschen verpönt, „der nicht 
Musik hat in sich selbst^\ so meint er damit jene innere 
Musik, von der auch Byron singt, sie lebe überall: „Wenn 
nur die Herzen immer offen wären, das All ist nur ein 
Widerhall der Sphären.^' Diese herrliche wahre Musik, im 
weitesten Sinne Poesie genannt, ist unhörbar und reingeistig, 
daher nur in den Ergüssen des Dichtersehers vertonbar, bei 
dessen Rhythmen das ergriffene Herz innerlich diese über- 
irdischen Klänge hört Mit der lauten Musik aber hat sie 
80 wenig gemein, dass sie oft nur von jener erstickt wird. 

Bleibtrea: Die Vertreter des Jahrhunderts. ] 3 



— 194 — 

„Schlechte Menschen haben keine Lieder^'? Wie sehr spricht 
die Erfahrung dagegen! Nicht nur die Dümmsten, sondern 
auch die Schlechtesten schwelgen in musikalischen Genüssen 
und die Popularität der Musik vor allen andern Künsten 
hätte doch Schopenhauer stutzig machen sollen. Er, der so 
weit geht, schon Oeselligkeit für Anzeichen von Hohlköpfig- 
keit auszugeben, musste sich doch fragen, was das für eine 
Kunst sein könne, die so leicht zum Gemeingut der grösst- 
möglichen Menge wird. Die kindliche Anmassung der 
Musikmacher, die mit stierer Gleichgültigkeit auf alles Nicht- 
Musikalische herunterglotzen, ward ja freilich durch den 
Salonschwindel und besonders das leidige Weibervolk genährt 

Sehr treffend belehrt uns hier Max Nordau als Frauenarzt, 
dass die Musik (und besonders die Wagnersche) auf die 
sexualen Genitalien des Femininums kitzelnd wirke und 
heimliche Wollust hervorbringe. Hier stehen wir der Lösung 
sofort gegenüber : Musik knüpft weder ans Reingeistige (Ge- 
danken) noch ans Gemüt (ethisches Gefühl), sondern an 
die Nerven und Sinne an, das niedere Triebleben der 
Leidenschaften, vermittelt durch Nervensensation. Dann 
begreift sich leicht, warum diese „höchste^' Kunst (der Tanz- 
kunst verwandt, wo sie nicht obendrein als blosser Ohren- 
schmaus — sehr bezeichnende Wendung des Sprach- 
gebrauchs — sich der Kochkunst nähert) so populär ans 
Allgemeinmenschliche appelliert und dem Verständnis der 
Dümmsten, Ungebildetsten, Schlechtesten so naheliegt 

Über das Musikalisch - Schöne schreibt ein Professor 
Hand: „Und wäre es nur die Melodie eines Tanzes — ist 
sie schön, so beflügelt sie mehr als die Füsse^^ Ganz recht, 
nämlich Sinne und Nerven! „Auch in ihr schwingt sich die 
Seele empor''. ja, in welcher Weise die IVeude am 
Schönen im Ballsaal sich emporschwingt, das möge ein 
Cyniker erläutern! Wir erlassen uns das Weitere, begrüssen 
aber solchen Hinweis aufs Schwingen des Tanzbeins und 
den Seelenschwung eines Wiener Walzers mit wahrer Be- 
friedigung. Erstlich als klassischen Beleg für die Dreistig- 
keit der Musiknarren, dem sinnlichsten Nervenreiz Rein- 
geistiges unterzuschieben, zweitens als allgemeinen Masstab 
der Musikwirkung. Denn unumstössliches Gesetz will, dass 



— 195 — 

Ausübung der gleichen Mittel, sei sie auch äusserlich in der 
Anwendung verschieden, immer das gleiche Ergebnis liefert 
und im Grunde auch stets den gleichen Zweck verfolgt. Es 
besteht also zwischen einem Strauss'schen Walzer und einer 
Wagnerschen Ouvertüre lediglich ein gradueller Unterschied, 
ihre Mittel erreichen genau das Nämliche: Aufreizung der 
Nerven und Aufwühlung der Sinne, beim ei-steren zu 
gemeinstsinnlichen Zwecken, bei letzterer zu versteckt sinn- 
lichen Antrieben. Der seelische Aufschwung und die Ge- 
mütserregung, die wir dabei zu empfinden glauben und die 
uns betäubt oder berauscht in hohe Seelenferne zu entführen 
scheint, beruht auf vollkommener Täuschung der Sinnen- 
vorstellung. Dass die Musik, wie jeder Pathologe weiss, bei 
den Frauen auf die Sexualorgane wirkt, gibt hier den 
richtigen Fingerzeig. Freilich verfährt Schopenhauer dog- 
matisch logisch, wenn er im Bann seines philosophischen 
Vorurteils die Musik preist. Denn allerdings wirkt sie am 
stärksten aufs rein Organische und dieses als „Wille" wäre 
ja laut Schopenhauer das Wesentlichste. Seine Willkür, welche 
das Gehirnleben im Gegensatz hierzu als das sekundäre 
Animalische auffasst, verführt ihn zu neuen Widersprüchen, 
insofern die „Vernunft", deren Sprache laut Schopenhauer die 
Musik sein solle, dann mit zum Organischen gehören müsste! 

Wir erklären daher kurz und bündig, dass die 
Musik, welche wirklich die Sprache der Vernunft ist, mit 
der rohen Musik der aufs Trommelfell äusserlich wirken- 
den Töne so wenig gemein hat, wie das Sprechen oder 
Schreiben an sich mit der ,4angue des dieux'', der Dichtung. 

Diese unhörbare Musik, welche das Weltall durchzieht und 
deren Sphärenharmonien in menschlichen Sinnen und Nerven 
nicht wahrgenommen, lebt in der Seele, der höheren Ver- 
nunft. Ihrem inneren Schwingen verdankt man den Rhyt- 
mus der gebundenen Rede als einer Beflügelung nicht nur 
des Wortklangs, sondern einer feineren inneren Aus- 
schmückung des Gedankens selber. Diese Musik appelliert 
ausschliesslich an das Gehirn, an Vernunft der Seele und 
Seele der Vernunft. Diese Musik ist die Sprache des 
Transzendentalen und ünbewussten, losgelöst vom Reich der 
Sinne, deren sie nicht bedarf. Das angenehme Entzücken 

13* 



— 196 — 

aber, das wir dem instrumentalen Wohllaut verdanken, unter- 
scheidet sich in nichts von dem schmatzenden Behagen des 
Feinschmeckers, der ein Gericht mit der Zunge prtift 

„So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch 
gegen Musik verteidigen, die zudringlichste aller Künste'^ 
(siehe unten auch Kants gleiche Prädikatbestimmung), 
schreibt sogar der musiktolle Nietzsche an Brandes. 

Die Malerei, welche doch auch an sinnlichen Eindruck 
des Auges sich zu wenden scheint, bleibt schon unendlich 
exklusiver. Denn ein grosser Teil der Menschheit ist gradezu 
färben- und formenblind im künstlerischen Sinne, die gräss- 
lichen Farben eines Ruppiner Bilderbogens oder die schauder- 
haftesten Verzeichnungen flössen ihr keinen Abscheu, das 
Colorit Tizians und die Vatikanischen Fresken kein ehrliches 
Entzücken ein und von sogenannter Erziehung des Auges 
zur Anschauung der Kunst hält kein Vernünftiger etwas: 
das malerisch sehende Auge muss mit unserm Gehirn ge- 
boren werden, sonst fruchtet alles nichts. Eine wohllaut- 
volle Musik als ein Lustgefühl zu empfinden, ward hingegen 
so gut wie allen physisch Normalen gegeben. Wenn nun 
trotzdem manche hochbegabten und vortrefflichen Menschen 
die Musikmacberei nur als lästiges Geräusch auffassen und 
sich ihr möglichst zu entziehen suchen, so beweist grade 
dies, dass es sich bloss um physischen Defekt dabei handelt, 
dass demnach Musikverständnis weder von Beschaffenheit 
des Geistes noch des Gemütes, sondern des Ohres und der 
Nerven abhängt Weil diese so bodenlos anmassende und 
selbstgefällige Kunst eben im Banal-Menschlichen wurzelt, 
findet der Humbug, sie sei etwas besonders ideales, gedanken- 
und gemütreiches, auch so allgemeinen Anklang. Der Dümm- 
ling wie der Schuft sagen sich begeistert: anch' io sono 
pittore, auch ich bin Musikschwärmer, also bin ich weder 
dumm noch gemein, sondern ideal, gedanken- und gemütvoll. 

Zu den idealsten Musikgenüsslingen gehören die Börsen- 
gauner und ihre fetten Gattinnen, deren Busen und noch 
andre Dinge bei den Brunstschreien des Wagnerschen 
Orchesters verständnisinnig wackeln. So begreift sich auch, 
warum die Musikmacberei als täglicher Bestandteil des 
Kulturlebens zu gemeinschädlicher Seuche werden durfte. 



— 197 — 

Denn zur dilettantischesten Pinselei, zum albernsten Blau- 
strumpfgeschmier gehört immer noch ein Fünkchen von 
Besonderkeit, eine ferne Ahnung von Talent. Man kann 
nicht nach der Natur malen ohne Anspannung geistiger 
Sehkraft, geschweige denn aus der Phantasie etwas Bild- 
nerisches komponieren. Der schlechteste Vers und die 
schluderigste Novellette erfordern ein gewisses geistiges 
Streben und Empfinden. Musikmachen aber kann der albernste 
Wicht, die dümmste Gans, falls sie nur durch Fleiss eine 
gewisse Fertigkeit erwirbt. Dass diese lärmendste und des- 
halb pöbelhafteste — pöbelhaft und populär sollte der gleiche 
Sprachbegriff sein! — Eunstübung nun auch noch bei 
Millionen Dilettanten einen Abglanz der unersättlichen Yir- 
tuoseneitelkeit ausbildet, weil man nur mit Musik seine 
Nebenmenschen direkt belästigen darf, gehört mit zu den 
Segnungen des Musiklebens. „Eine zudringliche Eunst^', 
sagte Eant, und was Eant einmal über die Unzulässigkeit 
klagt, mit mathematischen Formeln der Metaphysik aus- 
kommen zu wollen, dürfte wohl auch im Folgenden auf die 
Musik anwendbar sein. Dass dieser Eult erst in unserm ge- 
priesenen Yerstandesjahrhundert sich verbreiten konnte, will 
uns kein Zufall bedünken. 

Wir betonten zwar, dass die Musik mit dem Geist, 
also auch mit dem Verstände schlechtweg, nichts zu 
schaffen habe. Aber dies darf nicht wörtlich, sondern nur 
so verstanden werden, dass diese rein im Reiche Sansaraß, 
der Sinnlichkeit, webende Eunst mit dem höheren Yer- 
nunftverstande nichts gemein habe, welchen „Manas^^ 
brahmanische Lehre sehr genau vom niederen Verstände 
unterscheidet, der im materiellen Eama-Bupa weilt und von 
Banausen auch „praktischer Verstand^' genannt wird. 

Dieser Verstand des Rechnens und Ealkulierens kann 
sich zu einer gewissen Abstraktion entwickeln, die man 
Mathematik nennt, für welche insbesondere die Semiten sich 
beanlagt zeigen, so dass sogar deren Geheimlehre (Eabbala) auf 
der Zahl beruht Solch rabbinisch-rabulistische Ausbildung des 
niederen, nicht veranschaulichenden und nicht schöpferischen, 
Verstandes, welche Schopenhauer bereits an der Mathematik 
verwarf, färbt aber auch auf die Musik ab. Mathematik 



— 198 — 

in Tonwellen ! Teilung einer Oktave in mehrere symmetrische 
Abstände ergibt harte Differenzen: überall das Mechanische 
als ausschlaggebender Faktor. Wer die Geheimnisse des 
Kontrapunkts erforschte, weiss, dass auch diese wohllautende 
Eabbala sich auf den Gesetzen der Zahl aufbaut. Während Musik- 
übung also erfahrungsgemäss weder durch Oeist noch Gemüt 
bedingt wird, sondern durch Nervenirritation, sind wir nicht 
abgeneigt, ihr einen gewissen kalten Verstand des Messens 
undZählens, einen einseitig ausgebildeten Kalkulationsinstinkt, 
eine pfiffige Gelenkigkeit im Organisieren von ziffermässigen 
Worten der Tonleiter zuzusprechen. Unterschiede der 
harmonischen und der disharmonischen Intervalle der Töne 
werden allein durch ihr Zahlen Verhältnis bestimmt: die Ele- 
mente des Schönen sind also hier rein geometrische! 

Eine gewisse Übertreibung mag diesen Ausführungen 
innewohnen. Man muss eine Wahrheit übertreiben und auf 
die Spitze treiben, um sie recht anschaulich zu machen. Es 
fällt uns natürlich nicht ein, leugnen zu wollen, dass Beethoven 
und Wagner sich bei ihren Tondichtungen sehr viel gedacht 
haben mögen, ersterer unklar-spontan, letzterer mit nur zu 
absichtlicher Bewusstheit. Nur eben, dass die erstrebte 
Gedankenwirkung erreicht wurde, das bestreiten wir durch- 
aus. Man kann dem Zauber der Musik als einer an- 
genehmen Nervenerregung noch so sehr verfallen sein, 
wie wir dies für uns selber bekennen, und sich doch mit 
der grössten Entschiedenheit gegen den musikalischen 
Grössenwahn wenden, der die Dichtung sozusagen über- 
dichten will. 

Dass die Tonmalerei gleichsam Sixtinische Fresken oder 
Bembrandtsches Halbdunkel nachschaffen, eine neunte 
Symphonie den Gedankenschwung eines „Faust" und „Cain" 
oder die tragische Gewalt Shakespeares einschliessen soll, 
dieser Unfug allein ruft unsem erbitterten Widerspruch her- 
vor. Nur das völlig verblödete oder verbildete Gehirn der 
Musiksimpel konnte diesen Wahn nähren, nur das gepriesene 
Yemunftjahrhundert ihn weiterzüchten, da alle früheren Zeit- 
alter die Musik nur nach ihrem wahren beschränkten Werte 
abschätzten, nämlich als eine Begleit- und Neben- 
erscheinung der Poesie. Erst unserer konfusen Ära blieb 



— 199 — 

es vorbehalten, die nie bestrittene Höchstgeltung der Dich- 
tung von ihrem Thron stossen zu wollen. Die gewaltigen 
Malerdichter der Renaissance, wie Michel Angelo, Rafael, 
Lionardo, sämtlich selber Dichter oder dichterische Denker, 
fassten ihre hohe plastische Yeranschaulichung der Welt- 
gestalten niemals als die Krone der Künste auf. Michel 
Angelo beugte sich vor Dante, schöpfte erst aus dem Born 
der Dichtung die Steigerung seiner bildnerischen Probleme 
und Ideale. Und es lohnt, sich zu vergegenwärtigen, welch 
glänzende durchgebildete Persönlichkeiten fast alle Meister 
der Bildkunst, ob auch nicht so universal angelegt wie jenes 
glorreiche Droigestirn, gewesen sind, dass sie sich geistig oft 
— Michel Angelo und Denker Lionardo sogar ebenbürtig — 
den grossen Dichterdenkern näherten, zu welchen sie 
pietätvoll aufschauten. Arrogante Musiker hingegen treffen 
wir meist, wie Mathematiker, ausserhalb ihres Be- 
rufes als nichtssagend unbedeutende Menschen. 

Die widerspruchsvollen Mitteilungen über den anerkannt 
Grössten unter ihnen geben durchaus kein Bild einer geistig 
und ethisch hochragenden Persönlichkeit und da sollen wir 
uns Beethoven als „Riesen'^, „Titanen^^, „Halbgott^^ und sonst 
was guts, in Klingers Statue gar als den All umfasser und 
Imperator aufbinden lassen. Das haben mit ihrem Singen 
die Musik verrückten getan. Man muss nur den Leuten so 
lange die Ohren vollschreien, bis einer das aufgeschnappte 
Oeschwätz dem anderen suggeriert und jeder des Kaisers 
neue Kleider herrlich vorhanden sieht. Das Andersensche 
Märchen bleibt ewig neu. Wie soll man nicht Verdacht 
gegen eine Kunst, ja sogar deren Alleinherrlichkeit, schöpfen, 
die tatsächlich in ihrer heutigen Ausdehnung die jüngste ist 
und dem in allem neuschöpferischen achtzehnten Jahrhundert 
ihre Entstehung als eigentliche Tondichtung verdankt! 

Weder empfanden die Alten ein Bedürfnis nach solcher 
Tonkunst, noch die nächstfolgenden Kulturführer, die Araber. 
Die höchstzivilisierten Franzosen , die dichtunggewaltigen 
Engländer trugen am wenigsten zu dieser Kunstgattung bei : 
noch heute gelten sie den Deutschen und Italienern als 
minderwertig wegen ihrer geringen Musikbegabung. Aber 
die prächtigen Italiener der Renaissance entrieten des Musik- 



— 200 — 

dusels gerade so sehr wie die Spanier, erst einer Epoche 
allgemeinen geistigen, sozialen, sittlichen Niedergangs ent- 
sprang die neue Vertonungshysterie in Italien. Die deutsche 
Musik entsprosste wesentlich dem geistig völlig brach- 
liegenden Sumpfboden des alten Osterreich, während der 
hohe Eulturstand des übrigen Deutschland ausschliesslich eine 
grosse Literatur hervorbrachte. Alle Symptome deuten darauf 
hin, dass die Musikberauschung in genauem Ver- 
hältnis zur geistigen und sittlichen Decadence 
einer Rasse und einer Epoche steht, dass wir es 
in ihr geradezu mit einer Decadencekunst zu tun 
haben, wie sie erschöpften Oehirnen, markloser Sinn- 
lichkeit, schaffensunmächtigem Versiegen der wahrhaft 
genialen Antriebe des Ober-Ichs entspringen. Was an- 
geblich in abstrakt transzendentalen Sphärenharmonien 
schwelgt, ist nur wollüstig hysterische Nervenextase 
des unter- Ichs. Dass der Musikdusel jeden heroischen 
Willen lähmt — bei andauernder Anfüllung mit diesem 
hohlen Äolusschlauch tritt oft eine gänzliche Ein- 
schläferung des Pflichtgefühls ein, wie man bei dreisten 
langmähnigen Musikbarden so oft bemerken kann — , leugnet 
nicht nur niemand, sondern sucht sogar einen Vorzug darin, 
indem man mit weihevollem Jargon gleichsam lallt: Mein 
Beich ist nicht von dieser Welt. Bah ! aber von welcher Welt 
denn? Ja freilich, wäre Schopenhauers Auffassung der 
Willensverneinung nicht eine grundfalsche, so wäre die 
Musik auf dem besten Wege zum Heil. Denn während der 
Lesende und Schauende ununterbrochen geistig mitarbeitet, 
ertrinkt der Wille völlig in der Töneflut. Kaum verklingt 
aber der Ton, so endet auch diese Willensaufhebung, ohne 
irgendwie den dauernden schlechten Willen zu beeinträchtigen. 
Den Pfad zur Willenserhöhung, welche allemal die einzig 
erstrebenswerte dauerhafte Verneinung des niederen 
Kama-Willens bedeutet, fand noch niemand anders als in 
dichterischdenkerischer Selbstversenkung, sei es als Schaffen- 
der oder geniessend Nachschaffender, wobei auch theologische 
oder theosophische Mystik den gleichen Prozess vorstellt 
Eine Förderung zu dieser Erhöhung des Menschen gewährt 
die Musik um so weniger, als ihr ephemerer Einfluss 



— 201 — 

zugleich mit dem Tone selber dahinschwindet, ohne eine tat- 
sächliche Bereicherung von Geist und Gemüt dauernd 
zurückzulassen und ihre Spuren dem innersten Ethos des 
Menschen einzugraben, da nur klares heroisches Denken 
und Dichten mit voller Anspannung sämtlicher Geisteskräfte 
das mühsame Aufsteigen des Ichs bedingt. Man kann den 
Himmel nicht stürmen, nicht auf den Schwingen der Musik 
emporfliegen in schädlicher und entnervender Schwärmerei. 
Die völlige Wertlosigkeit flüchtiger Willensersäufung in 
Töneflut macht um so begreiflicher, dass nur die höhere 
heroische Tatkraft — weshalb Plato die Musiker aus seinem 
Idealstaat verbannen wollte — durch Musik eingeduselt 
wird, keineswegs aber die niedere banausische des schmutzigen 
Willens, der vielmehr nach dem kurzen angenehmen Schlaf- 
bad des Musikgenusses frischgestärkt neuen Anreiz empfängt 
Die Schlauesten gewissenlosesten Rechner, die kältesten 
Streber waren allzeit die eifrigsten Musiknarren, und wie 
der Ungebildete und der Dumme nach Einsaugung schöner 
Töne unverändert der nämliche bleibt wie vorher, so bricht 
dies auch dem musikhungrigen Schuft nie im geringsten 
den schlechten Willen, indes die wahre Dichtung unwill- 
kürlich zur inneren Einkehr zwingt und schon manche 
Brechung schlechter Antriebe durch seelische Erschütterung 
hervorrief. So hat man das bemerksume Schauspiel, dass 
irgend ein Finanzprotz, der höchstens Kochonnerien liest, 
über Pariser Zotenkomödien wiehert, gemalte Nuditäten an- 
geilt, im Konzertsaal von erhabenen Kunstgenüssen faselt, 
und dass, was das Bemerksamste, nicht mal Heuchelei dabei 
vorwaltet Denn wer der Dichtung Stimme nicht vernimmt, 
also laut Goethe ein seelenloses Tier bleibt, wer unfähig, je 
eine höhere Empfindung zu hegen, einen höheren Gedanken 
zu fassen, der ist noch gut genug für diese angebliche 
tönende Weltseele, die seines stumpfen Kama-Rupa dicke 
Epidermis lau umschmeichelt und zu schmatzendem Be- 
hagen kitzelt Da wir, Helmholtz physikalischen Entdeckungen 
folgend, die Tonwellen sogar unmittelbar mit Elektrizität 
geladen glauben, so wird immer klarer, dass die Musik 
lediglich, ohne Durchgang durch die Gehimzentren, ans 
Nervenbündel pocht und auf rein physische Sensation 



— 202 — 

hiuausläuft Was wunders also, dass dem borniertesten 
Sinnenmenschen das Yerständniss dieser Sinnenkunst so 
leicht fällt! Bedenkt man obendrein, dass Musik auf alle 
Hysterischen sexual wirkt, so wird man uns wohl nicht 
übelnehmen, wenn wir sie der Opium-Extase oder bei 
geringeren Anfällen dem Alkoholrausch vergleichen. Be- 
kanntlich glaubte die Menschheit noch bis vor kurzem, aus 
dem Wein, der des Menschen Herz erfreuet, Begeisterung 
zu trinken, was gar vielen Poeten den Untergang brachte. 
Heut wissen wir durch unbestreitbare Messungen, dass 
selbst massiger Alkoholgenuss, mag er sonst physisch 
noch keinen Schaden bringen, im günstigsten Falle die Ge- 
hirntätigkeit nicht fördert, meist aber schädigt Wer nimmer 
einen Bausch gehabt, der ist kein braver Mann — am Bier- 
tisch sind wir alle Ehrenmänner — Wein, Weib und Gesang 
fördern besonders die Geselligkeit, welche Schopenhauer als 
unfehlbares Merkmal niederer Lebensstufe brandmarkte. Es 
gehörte Luthers lüstern bäurische Verwilderung dazu, den 
bekannten Vers zu spinnen, den ihm jeder Weise einfach 
umkehren könnte: Wer da liebt Wein, Weib und Gesang, 
der bleibt ein Narr sein Leben lang. Nur möglichst viel 
Quartette ableiern und Klaviere beklimpern, dann werden 
versoffene Sangesbrüder sich so dauernd „begeistern'^ bis 
jede Möglichkeit männlicher Klarheit und Gharakterkraft 
erlischt. Auch darin gleicht der Musikrausch dem des 
Alkohols, dass dabei die innerste Natur zum Vorschein 
kommt: der eine wird weinerlich, der andere hochgemut, der 
dritte sinnlich oder bösartig erregt. Somit berührt Musik 
überhaupt nicht den Intellekt, sondern den rudimentären 
niederen Triebwillen, wie eben jede physische Sensation. 
Das Selbstermuntern des Singens beim Marsche, die An- 
feuerung Kämpfender durch kriegerische Musik beruht auf 
rein physiologischen Ursachen, die mit dem Seelenleben 
nur in losestem Zusammenhang stehen. Auch der unver- 
meidlichen Beaktion der Nerven bis zu völliger Erschlaffung 
im Katzenjammer entrinnt ein Musikverfallener nicht. 
Gewiss würden diesbezügliche Experimente dartun, 
dass Musik- und Alkoholrausch genau die nämlichen Be- 
dingungen und Folgeerscheinungen im Nervenorganismus 



— 203 - 

auslösen. Nie ist nur ein tausendstel so viel Musik gemacht 
worden, wie in diesem Materialismusversunkenen, jeden 
nachhaltigen Ernst scheuenden Jahrhundert, zu schwach, den 
niedern Willen zu verneinen, zu feige, ihn rücksichtslos zu 
bejahen. Für derlei dämmerige Zwitterzustände passt freilich 
dies Musikdudeln zwischen Traum und Wachen. 

Das Zetergeschrei über unsere Barbarei wird sich wohl 
massigen müssen angesichts der überraschenden Erkenntnis, 
dass Wagner, in welchem doch der Musikgrössenwahn seine 
Krise erreichte, selbst so wenig von der alleingenügenden 
Ausdrucksfähigkeit der Töne durchdrungen war. Denn wozu 
hätte er sonst sich als Dichter auftun, seine eigenen Opern- 
texte schreiben müssen! Er hielt also doch das Dichterwort 
für unentbehrlich, und man muss es ihm lassen, dass er 
wirklich wurde, was die „Tondichter" gerne sein möchten: 
ein Dichter und Denker. Freilich die Kunst der Bede be- 
herrschte er nicht, und dass er ein Meister des sprachlichen 
Wohllauts gewesen sei, werden selbst blinde Anhänger kaum 
behaupten. Derlei fand sich noch im „Fliegenden Holländer^^ 
und im „Tannhäuser^^ aber je weiter seine Auffassung des 
Musikdramas um sich greift, desto rücksichtsloser misshandelt 
er die Sprache. Seine Nibelungenstabreime schwanken 
günstigstenfalls zwischen Erhabenem und Lächerlichem, wo 
er nicht geradezu Sprachungetüme fortwälzte, und im „Par- 
sifal" notzüchtigte er die deutsche Grammatik in grässlich 
verkapselten Sätzen. Allerdings rechtfertigte er sich damit, 
dass ihm das Wort nur ein Notbehelf sei, um seiner Musik- 
handlung einen Sinn zu geben, dass nur ergänzende Yor- 
mählang von Wort und Melodik den wahren höchsten Aus- 
druck verbürge. Dies war insofern bequem, als er die Ver- 
ächter seiner Dichtkunst an seine Musik und die Feinde 
seiner Musik an seine Dichtkunst verweisen konnte. Doch 
dieser Spott hebt nicht auf, dass er in der Konzeption wahr- 
lich ein echter und, wenn Orösse der Anschauung und der 
Probleme darauf Anwartschaft gibt, ein grosser Dichter war. 

Das Wollen des Mannes war riesenhaft; ob sein Können 
auf gleicher Stufe stand, darüber sind die Meinungen noch 
immer nicht ganz geklärt, ungeteilt jedoch die Anerkennung 
seines dämonischen Oenius. „Tristan und Isolde" kann sogar 



— 204 — 

ohne Musik als sieghaftes Zeugnis seiner genialen Auffassung 
von Welt und Dingen, „Die Meistersinger^^ als Probe seines 
vielseitigen Reichtums gelten. Auch müssen wir den 
Wagnerianern in einer wichtigsten Hauptsache entgegen- 
kommen. Wagners Opern überzeugen uns nämlich, dass 
die Musik tatsächlich die sinnliche und äussere Dramatik, 
den elementem Ausdruck der Leidenschaften ungeheuer 
steigert und hiermit wäre, wenn man nur diese eine Seite 
und im Drama nichts als Toben der Leidenschaften sehen 
wollte, das Musikdrama voll gerechtfertigt Allein, man 
braucht gar nicht mal so weit zu gehen wie Tolstoy („Was 
ist Kunst?^^), der alle Opern und ganz besonders die 
Wagnerschen für ein Unding erklärt, jedem unverfälschten 
Empfinden unerträglich — und wird sich doch dem pein- 
lichen Eindruck des gekünstelt Unnatürlichen nicht ent- 
ziehen, selbst wenn man sich der rein ästhetischen Totalität 
des Lyrodramas willig hingibt. Da die Musik den breitesten 
Baum beansprucht und alles überwuchert, bleibt für Hand- 
lung und rednerischen Ausdruck nicht Platz genug, erstere 
muss daher einfach und eintönig, letzterer mager und be- 
schränkt bleiben. Feinere Verwickelung der inneren und 
äusseren Vorgänge fällt daher ebenso fort wie tiefere 
Motivierung, Verknüpfung von Schuld und Sühne, indi- 
viduelle Charakterisierung der Personen, die nur in 
Umrissen schraffiert vor uns stehen. Hierdurch be- 
kommen Menschen und Vorgänge etwas Halbfertiges, 
Primitives, wie aus Urzeiten, nicht umsonst spann sich 
Wagner ausschliesslich in Sagenkreise ein. Mit Händen und 
Füssen würde er sich gegen die Bezeichnung „Lyrodrama^ 
sträuben, er glaubte vielmehr wirkliche Dramatik und zwar 
einer nie dagewesenen höchsten Gattung zu liefern. Über 
solche Selbsttäuschung kann man nur lächeln. Diese plump- 
naiven Vorgänge, nur im Sagengewande denkbar, lösen über- 
haupt keine menschliche Dramatik aus, statt widerstreitenden 
Bedens und Handelns wirklicher Menschen stehen vor uns 
Schemen, die einander mit lyrischen Gedichten ansingen. 
Arien sind keine Psychologie, langatmige Leidenschafts- 
schaftsergüsse kein Gharakterdrama. Den sprachlichen Wohl- 
laut lyrischer Dramen (Faust, Manfred, Eain, Shelleys 



— 205 — 

Entfesselter Prometheus) mag immerhin Musik ersetzen, meta- 
physischen Gedankengehalt aber, der jenem Wohllaut erst Un- 
sterblichkeitverleiht, suchtWagner umsonst durch musikalische 
Orgien hervorzuzaubern. Schopenhauersche Doktrinen mit 
dem hohen C der menschlichen Kehle und schmetternden 
Blasinstrumenten lehren zu wollen, ist ein unmögliches 
Unterfangen, das nur musikbenebelten wuseligen Gehirnen 
imponiert, unfähig, sowohl abstrakte Philosophie als denke- 
rische Dichtung zu begreifen. Ja sogar die Leidenschaften 
selber, deren niedere Willensbezeugung doch die Musik 
besonders kräftig austönen soll, haben nichts Wirkliches 
mehr, man hört gleichsam nur abstrakte Symbole von Leiden- 
schaften ihr Lied lallen. Mit der Klarheit und Wirklichkeit 
geht aber auch der erstrebte Tiefsinn verloren; ein konfuses 
Chaos, das weder Philosophie noch Dichtung ist, wühlt sich 
in diesem reichhaltigen Orchester auf. Wir möchten daher 
die Ketzerei aussprechen, dass Wagners Musikdrama nur mit 
Umkehrung seiner Wertmassstäbe eine segensreiche Fort- 
entwicklung grossstilisierter Dramatik herbeiführen könne. 
Nicht die Musik hat die Dichtung ins Schlepptau zu nehmen, 
was nur in unverständiger Anmassung wurzelt, sondern die 
Dichtung soll sich der Beihilfe dieses Nervenmotors ver- 
sichern. Als eine Begleitung der Dichtung, ähnlich der 
Schumannmusik zum Manfred, bei allen lyrischen oder 
dramatisch leidenschaftlichen Hochmomenten einsetzend, kann 
die Musik den sinnlichen Eindruck der Dichtung steigern 
und umrahmend hervorheben. 

Über Wagners Erdenwallen als Privatmensch sagten 
wir bisher kein Wort Berührung dieser Wunde muss auch 
solchen peinlich sein, die sich von aller Moralfexerei des 
Philisteriums und zumal einem solchen Manne gegenüber 
lossagen. Doch Wagners Verfehlungen verstiessen auch 
gegen die höhere Moral, seine Ehebrüche waren wirkliche 
Treubrüche, seine Freundschaften fasste er als Ausbeutungs- 
rechte auf. Einer seiner ergebensten Bewunderer, Hans 
Herrig, sagte uns einmal ironisch: Ein Werk sei uns der 
Meister noch schuldig, eine instruktive Anleitung zum 
Pumpen. Eitelkeit und Genusssucht vereinigten sich in ihm 
zu schrankenloser Selbstsucht und wie ein Nietschescher 



— 206 — 

Übermensch raste seia Ich sich aas, als fülle Er allein die 
Erde. In seinem Verhältnis zu Ludwig von Bayern erscheint 
letzterer bei weitem als die idealere Natur, ganz zerflossen in 
selbstloser Hingebung. Allein ein solcher Mann hat mancherlei 
mildernde Umstände anzuführen. Erstlich darf er trotzig 
erklären, sein Genius schenke der Welt so viel, dass er ihre 
eigene Opferwilligkeit mit Fug und Recht heische, zumal von 
seinen näheren Freunden und Anhängern. Diese Ausrede 
ist zwar insofern hinfällig, als das Genie zu seiner eigenen 
Selbstbefreiung im Selbstgenusse schafft, also weder eines 
Lohnes noch eines Dankes bedarf. Aber zweitens durfte 
Wagner darauf verweisen, dass er noch als Fünfzigjähriger 
nach schon gewaltigen Leistungen nicht wusste, wo er sein 
Haupt hinlegen sollte, dass er demnach reichlichen Grund 
zu verbitterter Menschenverachtung hatte und einer so lieb- 
los ungerechten Welt gegenüber seine Selbstsucht nur eine 
Art wiedervergeltender Selbstbehauptung abgab. Zwar 
müsste er drittens umgekehrt eingestehen, dass er anderer- 
seits wie wenige Andere die Möglichkeit idealer Zuneigung 
und Grossmut kennen gelernt und schier Unglaubliches von 
treuester Freundschaft und begeisterter Hingabe genossen 
habe, von Männern und Frauen. Wahrhaftig, seine Freunde 
konnten ihm nichts versagen, nicht mal ihre — Frauen, 
sie brachten sich ihm selbst zum Opfer. Etwas Er- 
hebenderes als Liszts Vasallentum kannten sie nicht Aber 
Wagner könnte hier eben mit einem gewissen Gynismus 
versichern, dass er auch hierin die Menschheit förderte, 
sintemal sein grosses Ich geringeren Menschen solche 
Ich Verneinung entlockte, die vielleicht sonst in ihnen un- 
betätigt geschlummert hätte: liszt, diese Zierde des Menschen- 
geschlechts, gehört in seiner makellosen Yornehmheit un- 
trennbar zu seinem Meister. Yiertens endlich fühlen wir 
uns so fest durchdrungen davon, dass schöpferische Geistes- 
grösse ohne ein starkes Ethos undenkbar sei, dass wir alle 
Schlacken Wagners, obschon zahlreicher und hässlicher wie 
bei den meisten seines Banges, immer nur für Oberfläche, 
sein Innerstes hingegen für dennoch stark ethisch halten. 
So verrät z. B. seine Absicht, Stipendien für Unbemittelte 
zu stiften, damit ihnen „Bayreuth^^ zugänglich werde, eine 



— 207 — 

bessere Oesinnung. Nietzsche hat zwar über den Fall 
Wagner mit dem Hammer philosophiert und ihn koketter 
Schauspielerei bezichtigt Wir haben aber kein Hebammen- 
organ für die Gebart der Tragödie Nietzsche und möchten 
dieser Fehlgeburt in nichts ein Geburtshelfer sein, also auch 
nicht seine Wagner-Apostasie vertreten, in welcher unser 
schlechtes Herz nur den wachsenden Neid des Unproduktiyen 
auf den Produktiven wittert. Und zuguterletzt schwinden 
alle Bedenken gegen Wagners persönliche Unreinheit in der 
Bewunderung einer so zähen Heldenkraft dahin, die eine 
völlig widerstrebende Welt sich zu Füssen zwang. Das 
kleine unscheinbare Männchen mit dem sächselnden Dialekt 
ging wie ein Cäsar Triumphator aus dem Leben dahin und 
Annunzio hat („Fuoco'^) durchaus wahr die extatische 
Apotheose veranschaulicht, in welcher der „Meister" von 
hinnen schied. Dies Niederringen der Weltbestie, die so 
viele Geniale zerfleischte und verschlang, erklärt auch den 
eigenen Baubtierinstinkt des Tigers und gereicht als 
demütigende Bache für alle Verkannten zur Genugtuung. 
Doch der Sieg ward erworben mit schweren Eriegskosten, 
mit Einbusse an ethischer Würde. Wer so das Seine sucht, 
dem erschliesst sich nicht das Allgefühl. 

Dieser grösste Geist, der je ausserhalb reinen Dichter- 
tums in Künsten wirkte, täuscht keinen Durchdringer des 
dämonischen Phänomens über sein krampfhaft Unnatür- 
liches weg. Beim Überblicken seines Hin und Her zwischen 
brünstigen ,Naturalismus' — ein Wörtchen, was gemeinhin 
Abwendung von der Natur zu bedeuten pflegt — und 
Karfreitagszauber wird man die Empfindung nicht los, 
dass dies alles nicht innerem Erleben, sondern äusserlicher 
und sozusagen von aussen angemachter Anregung seine 
Entstehung verdankt 

Als Denker schwankte Wagner zwischen Schopenhauer 
und Feuerbach, ohne sieh recht schlüssig zu werden, wie 
alle in blossen technischen Kunstkultus Eingespooneuen. 
Wirklieh bedeutend wird er nur dort, wo er Metaphysik 
der Geschlechtsliebe betreibt, wo es insbesondere dem 
Problem Parsifal-Kundr}' an geheimnisvollem Tiefsinn nicht 
fehlt. Dagegen fällt uns die Phrase im Tristan: ,.im weiten 



— 208 — 

Reich der Weliennacht nur ein Wissen dort uns eigen: 
göttlich-ewiges ürvergessen^^ unangenehm ins Ohr. Der 
Esoteriker erkennt hier wieder die Schopenhauersche Ent- 
stellung des Nirwanabegriffs, der im Gegenteil ein ewiges 
Urerinnern verbürgt Dass er sich das Jenseits als um- 
fassendes Erinnern vorstelle, bekannte auch ein von Schopen- 
hauer selbst nicht unbeeinflusst gebliebener neuerer Denker 
wie Fechner („Zendavesta'^). Dessen herrliche Worte lassen 
freilich noch keinen ausdrücklichen Wiedergeburtsglauben 
zu, scheinen wenigstens die Präexistenz zu bestreiten; hin- 
gegen lehrt Fechner rundweg, dass der Mensch sich erst 
mit dem Tode völlig wiedergewinnen werde, wie er sich 
selber nie im Leben hatte. „Der Tod ist eine zweite Ge- 
burt^' Die Geburt eines Jenseits lassen aber Tristans und 
Siegfrieds Tod uns durchaus nicht ahnen und den plötz- 
lichen Sprung zur Farsifalmystik, den Weg vom Tannhäuser- 
motiv zur Gralserlösung über den Nibelungenring hinüber, 
begleitet kein zusammenhaltendes verständliches Leitmotiv. 
Wagners Darstellung des Germanentums als einer mystischen 
Urbestialität verknüpft sich mit keiner idealmetaphysischen 
Willensverneinung, sondern höchstens mit düsterem Schopen- 
hauerlichem Pessimismus über die Flüchtigkeit der Lust, sie 
verneint nichts als die Beständigkeit des Macht- und Lust- 
genusses und schwingt sich nicht heroisch, sondern bloss 
ingrimmig über die allgemeine Vernichtung auf. 

Sehr schön äussert R. Eucken („Wahrheitsgehalt der 
Religion^^ 1901): ,,Alles geistige Leben ist Erhebung über 
die Zeit, Überwindung der Zeit Was immer an geistigen 
Werten entfaltet wird, trägt in sich den Anspruch, ohne 
alle Beziehung zur Zeit ... zu gelten'^ Diesen Anspruch 
erhob Wagners Kunst gewiss, aber es hing sich ihr viel 
Zeitmässiges als Bleigewicht an die Füsse. Eine sittliche 
Freiheit wird selten erkennbar, dafür lagert ein auf die 
Spitze getriebener Determinismus über diesen Wotansträumen. 

„Das grösste Gut, das Gott uns schuf, war des Willens 
Freiheit^^ schwärmt der alte Dante (Paradiso V) und laut 
Kant hat der Mensch seinen bewussten Charakter nicht von 
Natur, sondern erworben. (Ganz recht, durchs Earma, wovon 
Kant nur ahnte.) Heut aber besteht der richtig verstandene 



— 209 — 

Determinismus schon so schroff auf seinem Recht, dass 
Chamberlain kurz und bündig sagt: „Das liberum arbitrium 
ist entschieden eine semitische Yorstellung^^, was dem 
scharfen Antisemiten Kant einen semitischen Anstrich geben 
würde, wenn er' Willensfreiheit im irdischen Sinne gelehrt 
hätte. Es muss aber von uns immer wieder betont werden, 
dass Unklarheiten und Verwechselungen der „transzenden- 
talen Freiheit^^ nicht möglich gewesen wären, wenn Eant 
die indische Mystik gekannt hätte. Allerdings bleibt der 
Mensch, „aus dem der jenseitige Geist kommt'^ (Chamber- 
lain), unter allen Einwirkungen etwas Individuelles; gerade 
diese Unveränderlichkeit der scharf umrissenen Individualität 
beweist aber, dass Willensfreiheit, also Fähigkeit zur Selbst- 
veränderung, ihr nur auf transzendentalem Gebiete zusteht. 
Mit einem Worte, nur das transzendentale Ego ist frei (ob- 
schon selbst hier ans Kausale gefesselt), das reale hiesige 
Ego hat eigentlich gar keinen Willen. Schopenhauer ver- 
wechselt fortwährend Wille und Trieb, wodurch eine neue 
Begriffsstutzigkeit in die Welt gesetzt wurde. Auch wir mussten 
die Terminologie ,yerneinung des Willens^ beibehalten, weil 
sie unausrottbar sich einwurzelte, machen aber darauf auf- 
merksam, dass der ganze scheinbare Widerspruch dieses Aus- 
drucks, womit ja auch Nietzsche triumphierend jongliert, sich 
sofort löst, sobald wir obige Verwechslung aufheben. 

Dass der natürliche Wille-zum-Leben sich selber verneinen 
könne, isteinlogischerNonsens,derinkeinemindischen, sondern 
nur in Schopenhauers verschrobenem Hirn entstand. Wohl 
aber kann der Wille, nämlich der transzendentale Wille, den 
Naturtrieb und die Natur selber verneinen. Der Wille ist eigent- 
lich durchaus ideal, antinaturell, deshalb lässt sich Nietzsches 
Ausdruck ,Wille zur Macht , sofern unter Macht etwas Geistiges 
verstanden werden kann, besser rechtfertigen, als das sinnlose 
,Wille zum Leben\ was im weitesten Sinne einfach ,Trieb zur 
Lust^ bedeuten soll. Der Wille sucht immer einen bestimmten 
Wert, der Trieb immer nur ganz allgemein die Lust 

In Wagners Gedankendichtung handelt kein heroischer 
Wille, sondern alle Triebe tanzen einen dämonischen Cancan. 
Eine sittliche Idee mögen seine Apologeten sich darin zu- 
rechtlegen, wir erkennen nur darwinisch zuchtwahligen 

Bleibtreu: Die Vertreter des Jahiiiondertg. 14 



— 210 — 

ünzachtrausch and jede mögliche triebhafte Machtbegierde 
mit obligatem Katzenjammer eines verzweifelten Ausblicks 
ins Nichts. Natürlich wird man den Parsifal entgegenhalten. 
Allein, wir fürchten, dass Nietzsche mit dem unheimlichen 
Spürsinn der Irren für Verstellung und Komödianten, worin 
sie ja selber Meister sind, diese Bekehrung Wagners auf 
seine alten Tage zu christlicher Frömmigkeit ganz richtig 
als blosse künstlerische Pose auffasste. Das selbstgefällige 
Histrionentum einer weihevollen Kunstheuchelei erscheint in 
Wagner so augenfällig, dass selbst sein Antisemitentum nicht 
von dem Vorwurf freiblieb, starke jüdische Zöge in ihm 
selber überkleistern zu wollen. Gewiss suchte er eifrig 
danach, das eigentlich Arische künstlerisch herauszuarbeiten. 
Er forschte gleichsam, wie Taylors ,,Origin of the Aryans" 
nach dem äusseren Ursprung, nach dem inneren Keim 
unserer Rasse. In einer wenig bekannten Musikauslegung 
„Beethoven et ses trois styles" von W. de Lenz (Peters- 
burg 1832) fanden wir bedeutsamen Aufschluss. Die Juden 
wü&sten nur „d' aqu6rir des facilites m6caniques • . . 
Les psalmodies de la Synagogue sont des types qu'on 
retrouve dans la musique de Mendelssohn.^^ Nun wohl, 
Wagner schmetterte das Verdikt heraus: „Der Jude ist der 
plastische Dämon des Verfalles der Menschheit.^^ Aber selbst 
ein Wagner-Vergötterer wie 0. Weininger muss zugeben 
(„Geschlecht und Charakter", S. 408), dass er „von einem 
Beisatz von Judentum selbst in seiner Kunst nicht freizu- 
sprechen" sei. Etwas Aufdringliches, Lautes, Unvornehmes 
durchzieht Wagners gesamte persönliche Lebenshaltung wie 
seine Instrumentierung. Er, der aufs Theater schimpfte und 
jedes Judentum der Presse und Kunstgescbäfte, hatte nichts 
nötiger als Theater und Reklame. Er schuf sich förmlich als 
musikalisches Hauptorgan eine gewaltige Lärmposaune, um 
die Mauern von Jericho umzublasen. Dieses genialen Menschen 
Oenuss- und Ruhmsucht stanken nach eitler Schauspielerei. 
So berechtigt daher künstlerisch der Wagnerkult auch 
sein mag, in tieferen geistigen Bezügen unterscheidet er 
sich kaum vom Nietzscheschwindel Mögen die Wagner- 
gläubigen bedenken, dass nicht der Parsifal, sondern gerade 
der Nibelungenring und der fälschlich als Sinnlichkeitsorgie 



— 211 — 

der freien Liebe missverstandene Tristan so suggestive Ge- 
walt über die Masse übten, weil die darin unverkennbare 
dämonisch wüste Bejahung der Lust ihrem eigenen rohen 
Triebleben entgegenkam. Wir können uns daher den 
traurigen Eindruck nicht ersparen, dass auch Wagners Genius 
dem verwerflichen AntiChristentum des Zeitalters angehörteund 
ihm naturgemäss schmeichelte, weil Genius und Zeitgenossen 
hier von gleichen Trieben gereizt. Zwischen Heiden- und 
Christentum, Hörselberg und Gralsburg unklar hin und her 
taumeld, suchte eben auch Wagner jenes dritte Reich, 
von dem Ibsen Apostata ahnungsvoll munkelt. Aber die 
Juliane täuschen sich, es gibt gar kein drittes Reich. Es 
gibt nur zwei in alle Ewigkeit. Das eine Reich des Glaubens 
an die Unsterblichkeit ethischer Güter nennt der Europäer 
in Ermangelung eines anderen Namens: das christliche. Ihm 
gehören Päpste wie Philosophen, Cäsaren wie Revolutionäre 
an, Gregor VII neben Giordano, Luther neben Keppler, 
Napoleon neben Robespierre, Friedrich der Grosse neben 
Milton, Crom well neben Kant; auch wohnt hier Goethes 
besseres Ober-Ich. Das andere Reich des heidnischen Anti- 
christs erhebt die Doppelversinnlichung des sinnlichen 
Menschenteils zur Weltreligion und baut dem Unglauben an 
unsinnliche Werte einen Eunsttempel der Sinnenlust, die 
sich hier Schönheit nennt. Dort stecken diverse Strausse 
in Feuersnot den Kopf in den Sand, damit man ihrer 
Frivolität gierige Hälse nicht sehe. Dort ladet der Priapus 
als pompejanisches Emblem ins Allerheiligste der Fleisches- 
emanzipation; Astarte Wollust, Moloch Gewalt, des Mammon 
goldenes Kalb werden angebetet unter allerlei verschleiern- 
den Namen, auf deren Erfindung besonders Nietzsche ein Patent 
besass. Hier wohnt Goethes schlechteres Ünter-Ich mit dem 
heidnischen Hosenlatz, hier eine Anzahl von Nietzschekrüppeln 
und vom Geiste Freien, die sich Freigeister nennen, von After- 
künstlern des Tart pour Tart, von geistigen Genüsslingen und 
idiotischen Säuen, hier thront die Moderne unseres braven Jahr- 
hunderts. Und wir fürchten, auch Wagner opferte hier heimlich 
an gleichen Altären und phantasierte von Vermählung des 
Christen- und Heidentums. Aber es gibt kein drittes Reich! 

^••'^ 

14* 



Lonis der Kleine und Hogo der Biossa 

Am 20. Dezember 1848 erschien in der Konstituierenden 
Versammlung ein junger Mensch mit grosser Nase und 
kleinem Auge, von ängstlicher und unsicherer Haltung, der 
eine schreiende Unähnlichkeit mit dem Gewaltigen zur Schau 
trug, dessen Neffe er zu sein behauptete. Dieser Herkunft 
gedachte man nicht ohne stilles medisantes Lächeln. Denn 
sein sogenannter Vater Louis von Holland hatte vor ganz 
Europa die Bolle eines Hahnreih gespielt und seine Mutter 
Hortense war eine so galante Dame, dass Napoleon ihr aus 
dem Feldlager 1807 die gröbsten väterlichen Strafbriefe 
schrieb, die beiläufig allein genügen, die gehässige Fabel zu 
entkräften, er habe mit dieser Stieftochter in unerlaubtem 
Verhältnis gestanden. Ob Oraf Flahaut oder Admiral Verhuel, 
beide zur Zeit der Geburt Napoleons IIL Liebhaber Hortenses, 
die Ehre solcher Vaterschaft geniessen, blieb ungewiss. 

Der bleiche und schwächlich aussehende Napoleonide 
leistete den Eid: „In Gegenwart Gottes und vor dem fran- 
zösischen Volke schwöre ich der demokratischen einen und 
unteilbaren Bepublik treu zu bleiben und alle Pflichten zu 
erfüllen, welche die Verfassung mir auferlegt^^ Nachher las 
der neue Präsident der Bepublik eine Bede vom Blatte ab, 
worin er feierlich betont: ,,Meine Pflicht ist vorgezeichnet 
Ich werde sie erfüllen als Mann von Ehre. Ich werde Feinde 
des Vaterlandes in allen sehen, die ungesetzlich zu ändern 
suchen, was ganz Frankreich errichtet hat/^ Der Abenteurer 
hatte allerlei dumme Streiche hinter sich. Mit den Carbonari- 
revolten heimlich vertraut, versuchte er 1836 den Handstreich 
von Strassburg, den Bürgerkönig durch den blossen Lärm 



— 213 — 

des Namens Bonaparte zu stürzen. Er nahm die Bei^adigang 
an in einem kriechend demütigen Briefe, emigrierte nach 
Amerika, von da nach der Schweiz, wo er sich zum 
Artillerieleutnannt ernennen liess, aber schon 1840 seine 
unheilbare Putsch- Krankheit, eine Art moralischer Epilepsie, 
in Boulogne austobte. Diesmal rottete ihn nicht der Fluch 
der Lächerlichkeit, der sich an sein Taschenspielerstückchen 
mit dem lebendigen Adler heftete, welches napoleonische 
Emblem sich grossartig auf seinen speckhaltigen Hut nieder- 
senken sollte. Zu lebenslänglicher Haft in Ham yerurteilt, 
schrieb er humanitäre Bücher über ,,die Ausmerzung des 
Pauperismus^^ „Analyse der Zuckerfrage^\ ,.Napoleoni8che 
Ideen^^ Schon 1832 erklärte er sich in der Broschüre 
„Politische Träumereien^^ für einen echten Republikaner. 
1846 entfloh er mit Hülfe seiner Maitresse Miss Howard 
nach England und schwadronierte, durch die Februar* 
roTolution aus seinem Exil nach Paris berufen, von Freiheit 
und Fortschritt Natürlich betonte er auch seine Yer-^ 
wand tschaft mit der Schlacht von Austerlitz und war bei- 
läufig ein Kenner der Artillerie, über welche er ein brauch- 
bares Buch Teröffentlicht hatte. Er philosophierte vor sich 
hin wie ein Besessener mit einer fixen Idee. Unter un- 
scheinbarem Äussern und schüchternem Wesen, das ihn 
oberflächlichen Beurteilem als halben Idioten erscheinen 
liess, verbarg er masslosen Ehrgeiz und tiefe Perfidie. 
DerPräfekt Graf Durkheim-Montmartin durchschaute ihn in 
Ham und richtete Warnbriefe an Guizot, der ihn auslachte. 
Louis' grösstes Talent bestand in vielsagendem Schweigen. 
Doch als Mustertyp eines Glücksritters und Intriganten, gab er 
sich kaum die Mühe, vor Freunden seine humanitäre Maske 
zu bewahren. Sein Buch über den Pauperismus schickte er 
einem Freunde mit der Frage, ob ihm dies wohl nützen 
könne (ä me faire du bien). Sein Verhalten vor dem Staats- 
streich war eines Borgia würdig. Er stellte sich tot, indem 
er das Gift für den Tod der andern präparierte. Wenn er 
den Mund öffnete, log er gewiss. Diese Methode blieb ihm 
bis zuletzt, bis nach Chislehurst hinein. Sein politisches 
System war die Überrumpelung. Seine Kriege sogar kamen 
unerwartet „Mein sanfter Hartkopf ^ nannte ihn seine Mutter, 



— 214 — 

80 blieb er sein Lebenlang: katzenpfotig im Auftreten und 
unerscliütterlich zähe im Festhalten seiner Vorsätze. Seine 
falschen Diebsschlüssel und Einbrecherinstrumente feilte er 
in sorgsamer Heimlichkeit Und dann kam er wie der Dieb 
in der Nacht Sozusagen von einem Tag zum andern ward 
die Fregatte „Konstitution" in „Elysöe" umgetauft, ehe 
noch die Republik sich zum Empire der Tuilerien um- 
wandelte. Seine Heuchelei könnte Tartuffe erröten machen. 
Im November 1848 versicherte sein Manifest: ,Jch 
lege meine Ehre zum Pfände, meinem Nachfolger nach 
vier Jahren die Freiheit intakt und wirklichen Fortschritt 
vollendet zu hinterlassen." Juli 1849 bei Einweihung einer 
Eisenbahnlinie schlug er angesichts der Festung Ham, wo 
er früher fem von Madrid über seinen Stern nachdachte, 
einen rührenden Biedermeierton an, beschuldigte sich selber 
freventlichen Aufruhrs „gegen die Gesetze seines Vater- 
landes". Vierzehn Tage vor dem Staatsstreich, dessen Ein- 
zelheiten schon feststanden, drückte er bewegt einem De- 
putierten beide Hände: „Sie wenigstens halten mich für keinen 
Schuft", weil dieser Dummkopf an die Möglichkeit solcher 
Gedanken nicht glauben wollte. Stets behielt er als Richt- 
schnur, was er in einem Aufsatz „Historische Fragmente" in 
Ham geskribelt: „Grosse Unternehmungen gelingen selten 
auf den ersten Streich." 

Gradezu symbolisch wirkt die versuchte Verführung 
eines Grenadiers Geoffroy beim Boulogner Abenteuer: „Der 
Sergent trug eine Weinflasche für mich, der Offizier einen 
blanken Degen." Zuckerbrot oder Peitsche, Bestechung oder 
mörderischer Überfall — versetzt solch anmutiger Zug nicht 
in die Zeiten der Borgia? „Ich bin Napoleon", geruhte Louis 
einen Voltigeur anzureden, „Du wirst dekoriert und befördert 
werden." Zu einem andern : „Ich bin der Napoleonssohn. 
Wir werden zusammen im Hotel du Nord dinieren." Zu 
allen: „Ihr werdet gut bezahlt werden." Dem Major Mesonan 
schreibt er unverfroren, er möge General Magnan mit 
100000 Franks bestechen, eventuell auch mit 300000. Und 
er wusste sehr wohl, was er tat Denn Magnan, der damals 
sich natürlich über die Frechheit des Abenteuers entrüstete, 
verkaufte sich später dem Präsidenten Bonaparte in 



— 216 — 

Paris. Nur der Preis war etwas liöher. Er kannte seine 
Menschen. 

Aber mitten im kühlsten Gynismus die Träumerei^ die fixe 
Idee: „Ich bin Napoleon^^ oder mindestens ,,sein Sohn'S Das 
spricht er aas, wie Jesus von seinem „Yater^ redet Kraft 
dieser Gotteskindschaft rettet er Frankreich vom Verderben. 
All diese Schlechtigkeiten der freien Rede, der freien Presse, 
des freien Stimmrechts — wehe euch, ihr Pharisäer! Das 
Himmelreich ist nahe herbeigekommen, der Heiland hält 
seine Bergpredigt von der Höhe des Palais Elys6e in die 
Boulevards hinab, die vor Erstaunen über so frohe Botschaft 
im Blut schwimmen. Siehe, ich verkündige euch grosse 
Freude, Napoleon ist auferstanden und treibt wieder böse 
Geister aus, auf dass sie in die Säue fahren. Diese alte Ver- 
rückte Frankreich steckt er in wohltätiges Zwangshemd und 
wacht so über Europas Sicherheit der ausgezeichnete Mann. 
Indem er sämtliche Freiheiten mit einem Federstrich aus- 
merzt, handelt er im Namen der Verfassung, „welche an- 
erkennt, bestätigt und garantiert die grossen Prinzipien von 
1789 und welche die Basis des öffentlichen Rechts sind.^^ 
Der 2. Dezember 1851 im Namen des 14. Juli 1789, in der 
Tat ein Naturwunder erster Ordnung! 

Allerliebst klingt auch die rührende Entrüstung des 
gefangenen Autors in Ham über „unnütze Beamtenstellen, 
Unterhalt einer Armee im tiefsten Frieden, zahlreicher als 
die von Austerlitz^^: als Präludium einer Belastung der 
Steuerzahler mit einer endlosen Horde von Satelliten, Be- 
amten, Polizisten, wie kein legitimer Despot sie je seiuem 
Lande zumutete. Ja, er ist der Neffe des Onkels. Wenig- 
stens einen grauen Überrock trug er schon in Ham. An 
Marschällen und Grosskanziern ist kein Mangel. Rouher 
mag für Fouch6 gelten, St. Arnaud kann als Räuber- 
hauptmann mit Ehren neben Massena bestehen, Morny gibt 
sicher Talleyrand und Bernadotte an Schufterei nichts nach . . 
fehlt nur eine Kleinigkeit, das Talent, fehlen zur Vervoll- 
ständigung nur die anständigen Leute, die Drouot, Lannes, 
Lasalle, Macdonald und hundert andere. Solche um sich zu 
sammeln, nur das geht über des Neffen Vermögen. Doch 
woher nehmen und nicht stehlen? Wenn es so etwas wie 



— 216 — 

Charakter und Ehre in seinem Frankreich, dem Werk 
seines Geistes, zu stehlen gäbe, er hätte es längst gestohlen, 
der Meisterdieb. Aber die ganze Nation scheint eine 
Sklavenherde unter einer Maffia von Banditen, und was noch 
altmodisch anständig, sitzt in Mazas, in Cayenne, oder in 
der Verbannung. Wohl ist Canrobert ebenso dumm wie 
Ney, und Mac Mahon ebenso charakterlos, aber den Marmont 
kann man sogar übertreffen: Das Ende krönt das Werk, 
das Ende des zweiten Empire heisst Bazaine. Auch ein 
Glücksritter, der an seinen „Stem'^ glaubte, nicht um- 
sonst fing auch sein Name mit B an. Einen Murat hat 
man gleichfalls, aber nur den Namen. Persigny, Maupas, 
OUivier, Pietri, Grammont, Benedetti . . . lauter feine 
Diplomaten . . . schade, dass sie sich immer übertölpeln 
lassen ... sie sind so fein, dass man ihnen die Lügen vom 
Munde abliest, ehe sie gesprochen. Der grosse Sozialist 
Ton Ham verschafft der Arbeiterklasse eine Menge Arbeiten, 
er verschönert Paris zu diesem Zwecke, doch natürlich ver- 
birgt er damit nur den wahren Zweck, Barrikadenschlupf- 
winkel aufzuheben Forts und Gürtelbahn werden gebaut, 
um Paris gegen fremde Invasion unangreifbar zu machen? 
nein, um die Stadt im Revolutionsfall zu bedrohen und 
dem Militär sein Eingreifen zu erleichtem. So hat die ganze 
innere Politik des zweiten Empire eine verzweifelte Ähn- 
lichkeit mit den Massregeln eines Dionys von Sjrakus und 
ähnlicher Duodezdespoten. Die tonangebenden Spiessgesellen 
treiben Staatssozialismus in ihrer Art: sie amüsieren und 
bereichern sich auf Staatskosten, pflegen Kommunismus im 
öffentlichen Eigentum. Sogar der Kaiser selber wird ge- 
plündert. Es gibt eine nirgendwo veröffentlichte Erzählung^ 
die uns verbürgt wurde, wie St. Arnaud im kaiserlichen 
Eabinet ein Banknoten-Paket stahl und seinen Adjutanten, 
der finster dem zornig suchenden Kaiser erwiderte: „Ich 
habe nichts genommen^\ unterm Schein eines Duells auf 
der Treppe ermordete. Die Szene, wie Canrobert unterm 
Kopfkissen dieses sterbenden Verbrechers in der Krim ge- 
wisse Geheimpapiere gewaltsam hervorzog auf hohen kaiser- 
lichen Befehl, um dem zu viel wissenden Spiessgesellen 
solch parthischen Pfeil -nach -dem -Tode zu entwinden, ist 



— 217 — 

ja historisch bekannt Ihm, diesem unmilitärischen Louis 
im schwarzen Frack, blieb die Einführung des brutalsten 
Militarismus vorbehalten, der je ausserhalb Neu-Preussens 
die Welt befleckte. Während die Generale des grossen 
NapolQon klagten, sie bekämen bei Zwist mit Zivilfunktio- 
nären grundsätzlich immer Unrecht, und der grösste Feldtierr 
aller Zeiten rücksichtslos als Dogma aufstellte, das Zivil 
habe stets den Vorrang vor dem Militär, hauste die Soldateska 
des kleinen dicken Steinleidenden, der sich kaum zu Pferde 
halten konnte, als freches Prätorianertum. Eine feindliche 
Armee zersprengt oder gefangengenommen hatte man frei- 
lieh nicht, aber dafür wehrlose Bürger auf den Boulevards 
mit Kartätschen zerstäubt und die eigenen Generale arretiert, 
falls sie sich ihres Treueids gegen die Republik besser er- 
innerten als Monsieur Louis. Über den Fahnen schwebte 
zwar keine Gloire, wohl aber der Segen des Weihwedels. 

Der 15. August war gleichzeitig der Festtag von St Napoleon 
und der heiligen Jungfrau. Dieser kaiserliche Tartuffe- 
Sozialismus unterdrückte die Erziehungsmittel der Schule 
nach Kräften und überlieferte sie dem Klerus. Unter den 
Deputierten der Linken, die ein „comit6 de rösistance^^ beim 
Dezemberputsch leiteten, befanden sich zwei historische 
Persönlichkeiten, der später zu trauriger Rolle berufene 
Jules Favre und kein Geringerer als Victor Hugo. Die 
Barrikaden wuchsen aus dem Boden. Der jämmerliche 
Stadtpräfekt Maupas, einer jener feigen Streber, die nach 
dem Erfolg am grausensten wüten, bekam die Kolik. Man 
wagte nicht mal einen Mann zu füsilieren, der das Faubourg 
St Marceau revolutionieren sollte, ein Sergeant Hess ihn 
entkommen. Louis dachte schon daran, in den Invalidendom 
zu flüchten. Der alte Luschtik Jerome richtete an ihn einen 
abmahnenden Brief. Als sein Adjutant, der alte General 
Roguet, der einst zur Garde des Onkels gehörte, dem un- 
beweglich dasitzenden Staatsstreichler in der Nacht zum 
4. Dezember Hiobspost auf Hiobspost meldete, sprach der 
Neffe des Weltruhms das ruhmvolle Wort: „Wohl, St Arnaud 
soll meine Ordre ausführen." ,,Welche?" „Man wird es 
sehen." Man sah es. Er hatte die Brigade Canrobert 
betrunken gemacht. Ein Offizier murmelte: „Das wird die 



— 218 — 

reine Schlächterei.^^ Die 1. Lanziers ritten und stachen 
sofort eine unbewaffnete Menge in der Rue Richelieu nieder. 
Ihr Oberst hiess Rochefort, war aber nicht Marquis wie sein 
berühmter Namensvetter, der Gitoyen Rochefort, Journalist, 
dem man nachher in Cayenne eine passende Redaktions- 
stube gab. Kurz darauf eröffneten Infanterie und Artillerie 
des „braven Canrobert'' Generalsalven ohne jede Spur vor- 
heriger Aufforderung gegen die wehriosen Zuschauerhaufen, 
bombardierten alle Gebäude, töteten alle Insassen. Die 
braven Offiziere, stolz auf ihr Ehrenamt als beste Vertreter 
der Ordnung, säbelten Weiber und Kinder in Stücke. Die 
Elenden, welche an der Leiche ihrer so edel und gerecht 
umgebrachten Gattinnen Rache schworen, ergriff man auf 
frischer Tat und beschleunigte ihre Sendung in einen 
klimatischen Kurort, genannt Cayenne, um sie von ihrer 
krankhaften Erregung zu heilen. Es war ein pracht- 
volles Schauspiel und man hatte nie genug davon, die 
Salven dauerten deshalb eine volle halbe Stunde. Der 
Fistolenschuss eines Spitzels hatte das Signal zu 
diesem originellen Feuerwerk gegeben, das man für 
jeden, der lesen konnte, schon morgens an die Mauern 
affichierte: jede Volksansammlung werde „ohne Sommation^^ 
sofort militärisch zerstreut werden. Wenn die Leute nicht 
lesen wollen und unter Zerstreuen nicht ohne weiteres Nieder- 
metzeln verstehen, müssen sie den Schaden tragen. Alles 
verlief also programmässig. Seit der Bartholomäusnacht ward 
ein solcher Meisterstreich nicht vollzogen. Die Truppen 
wollten einen Schein von Ursache für ihre Heldentat, des- 
halb der einzelne Fistolenschuss, den viele überhaupt gehört 
zu haben leugnen, denn ein so zartes Ehrgefühl wie das 
militärische verlangt nach so was. Von der Porte St. Denis 
bis zur Porte Montmartre auf der ganzen langen Strecke 
erfolgte von sämtlichen pflichttreuen Soldaten gleichzeitig 
auf Signal ihr grandioses Vorgehen. Sie fürchteten nicht 
Weiber noch Kinder, nicht Greise noch Krüppel, helden- 
mütig überwanden sie all diese schrecklichen Gegner und 
besäten alle Strassen mit Leichen. Wer bei den wackern 
Offizieren Schutz ei flehte, erhielt mit schöner militärischer 
Kürze die Losung: ,,Partez", und wenn er den Rücken 



— 219 — 

wandte, traf ihn von hinten die heilsame Eugel. Die tapferii 
Brüder der Soldaten, die Gendarmen, befanden sich in ihrem 
Element: an jedem Strassenwinkel lauerten sie Passanten 
auf und schössen sie waidgerecht an wie Hasen. Andere 
ftbten sich im Scheibenschiessen, wo irgend ein Feigling, der 
nicht sterben wollte, sich verkroch. Mehr als eine Stunde 
raste diese Orgie der von so edler Gloire trunkenen Helden 
Ganroberts fort und die andern vier Brigaden seiner Kollegen 
wetteiferten an nobler Tatkraft. Zuletzt hörte der Sieges- 
eifer nur auf, weil die Truppen in ihrer Begeisterung sich 
selbst in Kreuzfeuer brachten. Die Batterie Ganroberts ward 
völlig demontiert. Aber so unzähmbar erwies sich der £lan, 
dass ein Stabsarzt, der etwas Mässigung wünschte, beinahe 
getötet wurde und ein Korporal einen Leutnant, der seinen 
Arm zurückhielt, anschrie: „Verräter!*^ Und die Offiziere 
liessen sich nicht lumpen. „Schiesst besonders auf die 
Frauen!'* riefen sie ihren Braven zu und ein junger General- 
stäbler fügte das charmante Mot hinzu: ,,Piquez les femme8'^ 
Die Frauen wurden also mit dem Bajonett gekitzelt^ andere 
aus rührender Barmherzigkeit nackt durchgepeitscht Das 
alles unter herzlichem Gelächter und dem Freudengeheul: 
„Los auf die Beduinen!'^ Ihre Pariser Mitbürger, sonst auch 
„p6kin^^ genannt, hiessen ihnen so und der hochherzige an- 
geborene Charakter der Militärs verachtet ja natürlich solch 
Givilistengewürm. Wer je eine Geschichte des cheva- 
leresken Kriegerstandes schreibt, erinnere sich 
dieser Stunden! Jetzt begreift man, warum der alte 
Offizier Henri Beyle, als Schriftsteller „ Stendhal ^^ heut ein 
Buhm Frankreichs geworden, einst bekannte: er habe diese 
uniformierten Bestien zu nahe gesehen, um noch an Phrasen 
zu glauben. Von all seiner Jugendbegeisterung für Krieg 
und Krieger blieb dem kalten Skeptiker im Alter nichts mehr, 
als unverminderte Yerehrung Napoleons des Grossen. Was 
aber blieb hier übrig nach dem Blutbad? Napoleon der 
Kleine. 

Es war vollbracht. Offiziere und Gemeine tranken Cham- 
pagner auf den Strassen, ihre Füsse in Blut badend, und 
klimperten mit den Goldstücken in der Tasche, die man just 
nach vollzogener Tat allerhöchstenorts an sie verabreichte. 



— 220 — 

Dass sogar Reaktionäre laut ihren Abscheu bekundeten, 
lYas kümmerte sie das Gewäsch solcher Givilisten! ,, Sol- 
daten, ich bin mit euch zufrieden,*^ sagte der kleine Mann 
im grauen Rock nach Austerlitz, und der kleine Mann mit 
dem grauen Teint, auch er verhehlte nicht seine Genugtuung 
über St. Arnauds und Ganroberts Brave. Denn der Zweck 
war erreicht Frankreich und seine Armee für immer ent- 
ehrt, „Sedan" und „Metz'' prophetisch auf die Fahnen ge- 
schrieben, aber Paris beseitigt Es gibt Ungeheuerlichkeiten, 
vor denen jeder Mut schwindet Wer eine Riesenschlange 
vor sich zischen hört, wird gelähmt Jeder Widerstand hörte 
auf in blindem Schrecken. Ein Mensch, der so etwas 
befehlen konnte, gehört einer andern Ordnung der Dinge 
an und man kann nur gegen Menschen fechten. Wahrlich, 
es braucht nicht der kindlichen Tiraden Victor Hugos, dass 
die Verbündeten, als sie Paris betraten, von Ehrfurcht vor 
der heiligen Stadt (!) ergriffen wurden, dass nur Franzosen 
Paris wie eine mit Sturm genommene Stadt zu behandeln 
wagten. Aber wer über die Kommunegreuel deklamiert, der 
erinnere sich gefälligst dieser hundertmal ärgeren Frevel, 
nicht zu vergessen die Barbarei, mit welcher dann wieder- 
um das biedre Militär nach Niederwerfung der Kommune 
verfuhr und zahllose Unschuldige hinmetzelte. Am 5. De- 
zember zeigte ein General dem entsetzten Volke seinen 
nackten Säbel: ,,Das ist Eure Republik!*^ Diese schmach- 
vollen Kapitulanten von Sedan und Metz sind die wahren 
Vorbilder und Urheber der Kommune und des Anarchismus. 

Allen offiziellen Lügen zum Trotz sind mindesten 1200 
Menschen getötet, 800 in der Nacht füsiliert worden. Und 
der Schurke, der all dies getan, rief triumphierend einem 
alten General (historisch) entgegen: „Eh bien?*' Dieser 
Mensch besass weder Skrupel noch Scham, nichts von dem, 
was man ein Gewissen nennt Seine Kriegsknechte ebenso- 
wenig. Man pflegt immer nur St Arnaud und Momy zu 
zitieren, aber wenn man vernimmt, dass Canrobert allein 
5876 Personen militärisch verurteilen Hess, so hat man wohl 
genug von diesem „biedern" Militär. 

Was diese betressten Henker — und in jedem Uniform- 
träger comme 11 faut steckt ein solcher, sobald man ihn für 



— 221 — 

Thron und Altar gegen sein Vaterland aufruft — in den 
Provinzen leisteten, spottet jeder Beschreibung. Der Terreur 
der Revolution bewahrte wenigstens den Schein einer Gesetz- 
mässigkeit, mit solch altmodischem Vorurteil brach man 
hier. Das Füsilieren, Deportieren, Verbannen, Sequestern 
des Eigentumes (letzteres natürlich den ehrenhaften Militärs 
die Hauptsache!) ging sprunghaft ins Ungemessene fort 
Seit den Proskriptionslisten der römischen Triumvirn erlebte 
die Welt nichts Ähnliches. Aus dem einzigen kleinen 
Departement THerauIt wurden 3200 Unschuldige deportiert 
oder verbannt. In Baracken Algiers, im Fieberdunst 
Lambessas und Gayennes kamen Tausende um. Förmliche 
Treibjagden auf Verdächtige wurden veranstaltet und ver- 
dächtig war jeder anständige Mensch. Ein Deportierter 
ward in Ketten durch seinen Heimatort geschleppt, bloss 
weil er Deputierter war. Die Janitscharen der „Justiz^V 
immer noch verächtlicher als die Militärjanitscharen, wenn 
so was möglich wäre, nährten die Schafotte mit allen Köpfen, 
die noch einigermassen aufrecht zu sein schienen. Mehr 
hatten auch Timur und Alba nicht verbrechen können, denn 
nur sein Zeitalter verbot dem kleinen Louis, auch noch 
ausgesuchte Martern hinzuzufügen. Wie dieser humanitär 
über Menschenrechte dachte, lehrt seine feurige Einladung 
an Haynau, die Hyäne von Brescia, um ihn für die Lynch- 
justiz der Brauerknechte in London zu trösten. Dass 
natürlich die schamlosesten Lügen über böse Umstürzler, 
welche die Bourgeoisgesellschaft gewaltsam bedroht haben 
sollten, aufgetischt wurden, versteht sich von selber. 

Aber mit sogenannten Umsturzgefahren hielt der Mann 
sich nicht auf, er selbst war ja ein lebendes Umsturzgesetz. 
So aus dem Grunde verstand er das Umbringen, dass 
er sogar nahe daran war, das ewig glorreiche Andenken 
des Herkules zu töten, in dessen Ahnenschatten er herum- 
kroch und auf dessen Löwenhaut er sich mit seiner vor- 
nehmen spanischen Cocotte Eugenie herumräkelte. „Soldaten, 
das ist euer Adler !'^ krächzte er seine neuen Cäsarlegionen 
an, aber dieser leichenschmausende Rabe verreckte in Sedan 
an seiner eigenen Schmach. Nicht Bismarck, sondern er 
hat das Prinzip der Volksvertretung uns zu verekeln gesucht,. 



— 222 — 

er führte das Wort „parlamentarisme" ein, um Freiheit der 
Bede und Presse anrüchig zu machen. Nachdem er Frank- 
reich geplündert und gefesselt, erpresste er in hochnot- 
peinlicher Toter mittels Magistraten, Beamten, Offizieren, 
Polizisten ein Plebiszit von 7V2 Millionen Stimmen, die 
ihm volle Billigung ausdrückten. Denn dieser Brigant blieb 
immer Pedant, eine Art Akademiker des Machiavellismus, 
und legte Wert auf Formen und Formeln. Auch dies 
gehörte zu seiner unheimlichen Macht. 

Wahrscheinlich enthält die ChifiPre 7,500 000 eine grobe 
Lüge, denn wann hätte das zweite Empire nicht gelogen! 
Aber darüber breitete der heilige Geist des Klerus seine 
Schwingen und wehe den Ketzern, die gegen den Willen 
ihrer Beichtväter den Staatsstreich nicht segnen! 

Victor Hugo fand hier ein witziges Wort für die 
religiösen Gefühle der Bourgeoisie: „0 Gott! lass die Lyoner 
Aktien steigen! Herr Jesus, lass mich 25 Prozent an 
meinen Neapel- Botschild-Scheinen gewinnen! Heiige Apostel, 
verkauft meine Weine! Süsse Mutter Gottes, wirf ein 
gnädig Auge auf meine Eaufboutike und lass den Kon- 
kurrenten faillieren!'' Und desgleichen für die Spitzen der 
neuen Kaiser- Armee: „Von der Höhe dieser Pyramiden 
schauen vierzig Gaudiebe auf euch herab!" Der Astronom 
Arago und der Historiker Miohelet, zwei Zierden der 
damaligen Bildungswelt, verweigerten den Loyalitätseid: 
von da ab verfolgte sie jede Art von Bancünen. David 
d'Angers der Bildhauer musste ins Ausland fliehen wie 
viele andere. Der Berühmteste darunter schmiedete in 
Belgien und auf Insel Guernsay Donnerkeile gegen den 
falschen Jupiter: Victor Hugo sollte zuletzt doch Victor in 
diesem Kampfe bleiben. 

Wie aber soll man über die Leute urteilen, die mit 
bedächtiger Weisheitsmiene den elenden Übeltäter historisch 
rechtfertigten und ihm eine Menge mildernder umstände 
andichteten? oder den Dezemberputsch durch das Vorbild 
des 18. Brumaire entschuldigten ? Nichts kann unpassender 
sein. Als Bonaparte die Bepublik der Strassenräuber zum 
Fenster hinauswarf, geschah dies fast ohne jede Gewaltsam- 
keit, so wie man eine reife Frucht vom Baume schüttelt. 



— 223 — 

and in Übereinstimmung mit dem Gesamtwillen der Nation, 
Quod licet Jovi, non licet bovi. Er setzte an die Stelle 
von etwas absolut Schlechtem etwas absolut Gutes, wie nur 
das höchste Genie es verbürgen konnte, er machte aus einem 
völlig bankerotten Staate mit 45 Milliarden Assignaten- 
schulden binnen vier Jahren das wohlhabendste Land 
Europas. Dagegen brachte Louis nach etwas Unvoll- 
kommenem und Fehlerhaftem etwas absolut Schlechtes und 
Schädliches. Die nachfolgende Prosperität, die in Welt- 
ausstellung undLesseps-Suez ihre glänzende Fassade zur Schau 
stellte, wird sehr irrig auf seine Rechnung gesetzt, da sie nur 
natürliche Folge der ganzen wirtschaftlichen Bewegung des 
Guizotschen „Enrichissez-vous^\ Ebensogut könnte man 
Deutschlands Industrieaufsohwung seit letzten fünfzehn Jahren 
für ein Werk Wilhelms IL halten ! In den zwanzig Jahren 
dieses zweiten Empire, das sich der bourgeoisen Gänsehaut 
vor dem roten Gespenst gewaltsam wie eine Schlangenhaut 
überzog, zersetzte alle Arterien des Gesellschaftskörpers die 
Korruption. Die weltgeschichtliche Probe des Zusammen- 
bruchs zeigte ja die Gebrechlichkeit des ganzen Organismus 
in Administration und Armee. Bloss der Terreur des Militär- 
popanz hielt so lan^e die Verwesung im Innern auf, doch 
diese Armee hiess Sedan. Auswärtige Politik? Vom Mexiko- 
abenteuer und dem lächerlichen Kriegmachen gegen Preussen 
gerade im ungünstigsten Augenblick schweigen wir ganz. 
Doch welcher Dilettantismus, sich mit England gegen Russ- 
land zu verbünden, indes gerade das Umgekehrte im In- 
teresse der französischen Politik lag! Auch hier wieder 
kurzsichtige eitle Selbstsucht, weil England als sein früheres 
Asyl ihm nahestand, Zar Nikolaus aber den gekrönten Par- 
venue persönlich verletzt hatte. Welche Verblendung, sich 
mit Österreich zu verfeinden, das gegen Preussen möglichst 
stark zu erhalten das Prinzip der deutschen Zerrissenheit 
verlangte und dessen Schwächung erst die deutsche Einheit 
ermöglichen konnte — und einen blutigen Krieg nur anzu- 
zetteln, um ein einiges Italien zu schaffen, es nach seiner 
vasallischen Abhängigkeit von Frankreich nun selber des 
Gängelbandes zu entwöhnen! Irgendwelche idealen Motive 
muss man freilich bei dieser scheinbaren Phantasterei nicht 



— 224 — 

suchen, denn wie ideal der „Befreier'^ seine Rolle auffasste 
lehrt das Trinkgeld Nizza-Savoyen, das er sich einkassierte. 

Sein Hauptzweck immer dabei : blenden, Aufsehen machen, 
den Adlern Gloria zu fressen geben, um Tom inneren Un- 
frieden abzulenken. Schon hier die Anfänge der nämlichen 
schleichenden Epilepsie des Empire, die in tötlichem Sedan- 
schluss ihrer Fallsucht das Genick brach. Gutmütig gegen 
Diener, anhänglich an Freunde, dankbar für erwiesene Wohl- 
taten? Eameraderie unter Spiessgesellen! Wir haben 
genug an seiner Gutmütigkeit, Anhänglichkeit und Dank- 
barkeit für seine Geliebte Miss Howard, die ihn mit Gefahr 
aus Ham befreite und ihre 3 Millionen Franks dem Aben- 
teurer opferte, die aber der Kaiser und Brautwerber um 
Eugenie Montijo nicht mehr kennen wollte und sie aus 
Paris auf den Schub brachte. Seine erotische Schweinerei 
roch übrigens so übel, dass besagte Eugenie ihn mal 
öffentlich im Park von Fontainebleau mit der Reitpeitsche 
traktierte, da diese vielverleumdete Neuauflage der alten 
Jose&ne wie jene ihre Ehre darein setzte, ihrer bescholtenen 
Vergangenheit eine ehrbare Kaiserinschaft folgen zu lassen, 
und sittlich ihrem sauberen Eheherrn Gardinenpredigten 
halten durfte. Es fehlte ihm nicht an Esprit. In den apo- 
kryphen Memoiren eines Baron Taylor (englisch erschienen) 
werden einige glänzende Witze von ihm mitgeteilt. Im All- 
gemeinen hielt er sich jedoch in einer morosen und zum 
Verzweifeln trockenen Haltung zurück, wünschte als grosser 
Schweiger einen unheimlichen Nimbus um sich zu ver- 
breiten. Was man über die kaiserliche Hofhaltung im Lust- 
schloss Gompiögne und in St Gloud verlautbarte, macht den 
Eindruck steifer und ungraziöser Pracht, eines äusserlichen 
Etikettenpomps bei plumpen Manieren und schamloser Ver- 
derbnis der Sitten. Ein Ancien Regione ohne Würde und 
Anmut, Haremswirtschaft eines schläfrigen entnervten Sultans. 

Selbst Prosper M6rim6e hat Louis und Eugenie, diesem in 
Sardous „Theodora^^ nachgeschaffenen trauten Ehepaar, keine 
kaiserlichen Allüren andichten können. Daudet gibt im 
„Nabab'' ein gutes Konterfei der innerlich verfaulten Ge- 
sellschaft, Zola im „Exzellenz Rougeon'^ ein drastisches 
Portrait der Sorte von Staatsmännern, die in diesem Sumpf 



— 225 — 

obenauf kamen. Louis erscheint in allen unparteilichen 
Schilderungen als eine sphinxartige Persönlichkeit, die im 
Gespräch ungemein enttäuschte und einsilbige Banalitäten 
vorbrachte. Obschon unleugbar sehr gebildet, fand er nie 
ein Verhältnis zu Gelehrten und Eiinstlern, die er mit 
gleichgültiger Munifizenz bestach, ohne ihnen je ein intimes 
Wort zu gönnen. Sein dürres Oemüt hatte kein Herz für 
Literatur und Kunst, nur an historischen Studien nahm er 
teil, sofern sie sein dynastisches Interesse und seine fixe 
Idee förderten, wie Mommsens Julius Cäsar. Diese fixe 
Idee des Cäsarismus bildet die Spiralfeder seines Lebens, sie 
gab seinem schlaffen und schläfrigen Organismus galvanische 
Zuckungen, die wie Herrschergenie aussahen, sie brach aber 
rostig entzwei mit einem Klirren wie von Waffenstreckung, 
wie von Cbassepots, die in den Staub rasseln. Wie bald 
man dahinter kam, dass hinter seiner fatalistischen Ruhe, 
die ihm noch bei Sedan wie beim Dezemberputsch einen 
Anstrich kalten persönlichen Mutes lieh, nicht verhaltene 
Stärke eines geheimnisvollen Staatsdenkers, sondern nur 
cynische Indifferenz eines vabanquespielenden Glücksritters 
sich verberge, zeigt die klägliche ünbedeutenheit, zu der 
ihn 1870 seine eigene Umgebung herabdrückte. Bazaine, 
Mac Mahon, Palikao, Leboeuf, Stoffel, Eugenie, alle handeln 
über seinen Kopf weg oder zwingen ihm ihre Ansichten 
auf, als ob sie sich aus ihm nicht das Geringste machten, 
weil sie ihm zu intim in die Karten guckten. So sah der 
einst gefeierte Gesellschaftsretter, der sich mit lästerlicher 
Persiflage des grossen Urbilds auch „den Mann des Jahr- 
hunderts^^ nennen Hess, sich als quantit6 n6gligeable bei 
Seite geschoben, seinen Stern als Irrlicht in einem Morast 
versinken, und musste sich selbst überleben. Die gerechteste 
und furchtbarste Vergeltung des Karma. 

Denn eine ursprünglich vielleicht nur passiv unsitt- 
liche, nicht aktiv verbrecherische Natur ward hier durch 
dämonischen Ehrgeiz aufgestachelt, auf welthistorischen 
Brettern einen neuen Justinian darzustellen. Und während 
sein massiger Wuchs nicht mal hierzu auslangte und eher 
byzantinische Korruption, Scheusslichkeit und Frömmelei zu- 
stande kam, als Justinianisches Gesetzbuch, befand er sich 

Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhimderts. 15 



— 226 — 

obendrein in der Wahnvorstellung, er stelle den Erben des 
Riesen dar und schaffe einen Code Napoleon neu. Das by- 
zantinische Kaiserreich des Justinian erneuern in einer 
modernen Welt der Demokratie wäre aber minder gewagt 
und unerhört, als den heiligen Schatten des Herkules zu 
beschwören und ihn um seine blitzende Keule zu bitten. 
Fürwahr, ein klägliches Schauspiel, wie dieser Zwerg mit 
dem hinterlassenen Rüstzeug des Hydratöters und Augias- 
stallsäuberers sich herumschleppte, wie er die Last auf seine 
schmalen engbrüstigen Schultern nehmen wollte, die einst 
Atlas, der Himmelsstürmer, trug. Die Napoleonische Idee, 
über die sein Büchlein piepste, wie ein Zaunkönig den 
Adlerschrei nachahmen möchte, hat ihn erdrückt, mit 
ihrem Gewicht zur Tiefe gezogen, ihn und sein Reich zermalmt. 
„Hätte nicht das durch meine Oeburt mir angewiesene 
Schicksal durch die Ereignisse eine andere Wendung ge- 
nommen, so wäre ich als Neffe des Kaisers ein Verteidiger 
seines Thrones . . ., Feind jeder absoluten Theorie und jeder 
moralischen Abhängigkeit habe ich gegen keine Seele irgend- 
welche Verbindlichkeit . . . hebt die Phantasie des Ver- 
bannten an, Carlton Terrace im Juni 1839. Wer hört nicht 
hier schon die Leitmotive? Neffe des Onkels und ohne 
moralische Verbindlichkeit, ja wohl! Was er über den 
grossen Gegenstand vorbringt, ist nicht ohne Geist, ja sogar 
nicht ohne eine gewisse Ehrlichkeit. Denn indem er 
Regierungen als wohltätige Hebel des sozialen Organismus 
verehrt, sogar die Erblichkeit des monarchischen Systems 
verteidigt, dagegen jede bestimmte politische Formel ablehnt, 
da diese ihre Vorbedingungen nur im wechselnden Zustand 
der Gesellschaft habe und in der Politik das Gute stets 
nur relativ sei, bekennt er einerseits seine Neigung zu starker 
Autorität, lässt andererseits seine Wurschtigkeit bezüglich aller 
theoretischen Doktrinen durchschimmern. Das ist der Rechte 
dafür, um nachher öffentlich republikanische Gesinnung zu 
beschwören und gleich darauf die Freiheit abzuwürgen. 
Nur eine europäische Regierung „erfüllt ihren providentiellen 
Beruf, höret und staunet: Das moskowitische Zartum. Aber 
gleich darauf flötet Louis Schmeichellieder vor der Freiheit, 
deren Farbe auch die Feinde der französischen Revolution 



— 227 — 

nachher annehmen mussten, als es Napoleons Sturz galt 
^Die Adoption war nicht aufrichtig, die Freiheit sah sich 
genötigt, ihre Kriegsrüstung wieder anzulegen. Hoffen wir, 
dass sie bald ihr Festkleid und zwar für immer anlegen 
wird." Wie rührend, Sire! Blätterten Sie vielleicht in 
diesen sy billin ischen Prophezeiungen, als Sie in der Dezember- 
nacht Ihre philantropische Eriegsrüstung mit Blut färbten? 

Die schlaue Behauptung, die Existenz einer Bepublik 
ohne Aristokratie lasse sich schwer begreifen, soll sodann die 
Brücke zum Cäsarismus schlagen, dessen eine antiaristokra- 
tische Gleichheitsdemokratie bedürfe. Wohl möglich, aber 
keines Cäsars aus der Operette. Wenn sein angeblicher 
Onkel als Testamentsvollstrecker der Revolution alle Wunden 
verband, welche heilte sein Neffe? Sein Empire war selbst 
eine offene Wunde, ein nicht mal notwendiges Erebsgeschwür. 

Wenn der Grosse neben den Freiheitsmützen auch die 
Lictorbeile entfernte, so führte der Eleine höchstens neue 
Beile ein. Die in Frankreichs historischer Entwicklung 
beruhende übermässige Zentralisierung der Verwaltung 
behielt der Neffe bei, ohne die Büge im Memorial von St. 
Helena über notwendige Lokalisierung der Militärbehörden 
zu beherzigen, was sich 1870 in dem Wirrwarr der Mobi- 
lierung genugsam rächte. Von der grandiosen Finanzwirt- 
schaft Napoleons begriff Louis höchstens, was von selber 
seinen Gang ging: „Ein auf gute Agrikultur gegründetes 
Finanzwesen ist unzerstörbar.^' Binnen acht Jahren tilgte 
der 1802 eingesetzte Liquidationsrat die gesamten Staats- 
schulden der Revolution (Thibeaudeau,VIII, 28) und Napoleon 
verbrauchte nicht die Hälfte seiner Zivilliste, die andere 
opferte er zur Unterstützung der Manufakturen. Man ver- 
gleiche die gräuliche Verschwendung des Louis-Hofes, der 
wohl an Louis Quatorze oder richtiger Quinze anknüpfen 
wollte, und die Überbürdungen der Staatsbudgets unter seiner 
Regierung. Ob er wohl die Stirn hatte, später durchzulesen, 
was er über Napoleons sparsame Budgets von 600 — 800 
Millionen schrieb, indes diese seit 1815 bei ruhmlosem 
trägem Stagnieren um 400 Millionen überschritten wurden? 
Schon 1802 bestand zwischen Einnahme und Ausgabe ein 
Gleichgewicht und als das Budget 1807 auf 720 Millionen 

15* 



— 228 - 

hinaufschnellte, standen stets genau gebuchte Leistungen 
(Krieg, Kanäle, Häfen, Chausseen) gegenüber. Dabei muss 
man noch berücksichtigen, dass das damalige Frankreich 
Piemont, Rheinlande, Belgien umfasste; sogar nach Ein- 
verleibung von Rom, Ulyrien, Holland, den Hansestädten 
stieg das Budget nur auf 796 Millionen. Erst durch das 
Unglück von 1812 schwoll die Last auf 1150 Millionen. 
Bei einem Reiche, dessen ökonomische Werte 10 Milliarden 
betrugen und dessen Überschuss der blossen Handelsausfuhr 
126 Millionen betrug, indes die günstigste Bilanz früherer 
Epochen, die des Jahres 1788^ nur 25 Millionen und schon 
die von 1789 nur 12 Millionen Überschuss ergab, war diese 
„Belastung^^ wahrlich ein Kinderspiel gegen die heutige mit 
ihren Milliarden Staatsschulden. Die Darlegung des Ministers 
des Innern, Graf Montalivet, vor dem Corps Legislatif 
25. Februar 1813 entrollt statistisch und aktenmässig ein so 
beispielloses Bild von Ergebnissen erhabenster Staatsfürsorge, 
dass Einem schwindelt und man sich der Rührung kaum 
erwehren kann. Den albernen Schwätzern, die in Napoleon 
einen Moloch und Yolksaussauger dem dummen Publikum 
vorzugaukeln sich erfrechten, kann man wirklich nur ihre 
trostlose Unwissenheit zu Gute halten. Napoleons Brief- 
direktive über die Kommunen bleibt ein unsterbliches 
Dokument höchster Staats Weisheit, ebenso seine Rede im 
Staatsrat über Reform des Steuersystems und parzellarische 
Kataster. Schon 1810 schien überall erfüllt, was er 1807 im 
Corps Legislatif verkündet : „Ich will, dass selbst in dem kleinsten 
Weiler der Wert der Grundstücke sich bedeutend hebe, ver- 
möge meines allgemeinen Systems.^^ Als Schöpfer der Industrie, 
Agrikultur, des Binnenhandels, der neuen Justiz, schuf er 
auch das für Frankreich passendste System des öffentlichen 
Unterrichts. Konnte sich Louis später ohne Scham seiner 
Beleuchtung dieses Verdienstes erinnern, er, der Alles tat, 
die freie Schule zu lähmen und sie möglichst dem Klerika- 
lismus wieder auszuliefern? „Nie wird es einen festen 
politischen Zustand geben, wenn man nicht eine Lehrer- 
klasse mit fixen Prinzipien hat,^' von diesem Grundsatz 
des Grossen, der allerdings dabei wie jede Regierung ein 
gewisses Mass regierungsfreundlicher Gesinnung als not- 



— 229 — 

wendige Beschränkung staatlich angestellter Lehrkräfte ver- 
langt, fasste der Kleine nur die „fixen Prinzipien*^ auf, näm- 
lich sklavische Huldigung vor seiner fixen Idee. Er wagt 
es, daran zu erinnen, dass Leute (z. B. Lobau, Drouot), die 
gegen das lebenslängliche Konsulat stimmten, nachher des 
Kaisers volle Gunst genossen, dass die republikanischen Ge- 
lehrten Biot und Arago auf Staatskosten wissenschaftliche 
Reisen (zur Messung des Meridians) machen dürften, dass 
Künstler und Literaten gleichmässig des kaiserlichen Schutzes 
teilhaftig. Nun wohl, Cavaignac, Lamoricidre, Charras, die 
sich dem Dezemberputsch widersezten, mussten in Ver- 
bannung oder Vergessenheit verkommen. Ein Militär ersten 
Banges wie Lamorici^re wunderte sich (Trochus Memoiren), 
dass sein Adjutant Trochu ihn einmal besuchte, weil all 
seine dankbaren Untergebenen ihn wegen kaiserlicher Un- 
gnade wie einen Pestbefallenen mieden: so korrumpierend 
wirkte Louis' bornierte Tyrannei aufs militärische Ehrgefühl. 
Arago, Michelet und unzählige andere wurden nach Mög- 
lichkeit unterdrückt, alle unabhängigen Schriftsteller verfolgt, 
die Malerei nur gefördert, wenn sie der napoleonischen 
Schlachtengloire dienen wollte, eine elegante Null wie der 
Portraitmaler Winterhalter besonders protegiert Als hingegen 
der Grosse in gerechten Zorn über royalistische Umtriebe 
des von ihm freigebig unterstützten Dichters Chenier geriet 
und Gambac6rös bat, man möge doch dem Undankbaren 
aus Mitleid für den Familienvater nicht seine Pension ent- 
ziehen, sah ihn Er gross an: .,Halten Sie mich für einen 
Krämer? Die Pension behält Chenier bis an sein Lebensende.^^ 
Mitten unter liberalismustriefenden Phrasen entschlüpft 
dem künftigen Usurpator und Diktator die Naivetät: „In 
England führte der Mangel an Vertrauen des Volks zu 
Jakob II. die traurigsten Folgen (!) herbei^\ nämlich die 
endgültige Begründung der inneren Freiheit Dagegen 
schimmert in Louis' phantastischer Behauptung, Napoleon 
habe später alle annektierten Länder wieder freigeben wollen, 
am eine solide europäische Assoziation zu stiften, bereits die 
spätere Heuchelei durch, mit der er seine auswärtige Politik 
betrieb. Wenn der Onkel die eiserne Krone der Lombarden 
sich von Signor Melzi (Botta berichtet es so) mit der 



- 230 — 

schonenden Floskel aushändigen Hess: ,,Ich nehme sie an, 
aber nur so lange, als es meine Interessen gebieten, ich 
wollte stets Italien frei und unabhängig schaffen", so meinte 
er schwerlich damit, dass er ein wirklich selbständiges Italien 
gründen wollte. Der ihm zweifellos vorschwebende Staaten- 
bund sollte sich immerhin um Frankreich krystallisieren, 
sowie der geplante europäische Kassationshof in Paris die 
Rechtsprechung ganz Europas gängeln sollte. Aber Louis 
sah hier gleichsam prophetisch das Gaukelspiel voraus, das 
er mit Pabst und Krone Savoyen abwechselnd erproben und 
sich den Schein der Uneigennützigkeit wahren wollte. Wenn 
Napoleon einmal hinwarf: „Ich will nicht, dass die Macht 
meinen Nachfolgern bleibe, denn diese könnten sie miss- 
brauchen", so geschah dies, ehe er einen eigenen Sohn hatte. 
Louis arbeitete jedenfalls auf nichts eifriger hin, als die 
Erblichkeit einer absolutistischen Dynastie. Sein kaiser- 
licher Prinz Lulu ward von Jugend an als „Kind Frank- 
reichs" mit ekelhafter Devotion gehätschelt, wie kein Dauphin 
des Ancien Regime, um so traurig im fernen Afrika zu 
enden. So gerecht straft das heilige Karma. Wenn Napoleon 
in einer Moniteurnote vom 13. Dezember 1808 energisch für 
sich den Titel des obersten „Yolksrepräsentanten" reklamierte, 
so umgab sich Louis mit einer chinesischen Mauer, die alles 
Volkstümliche fernhielt Wenn Er nach der Schlacht von 
Eylau eine Hilfskasse für Manufakturisten gründete, um 
ihnen über schwierige Absatzkrisen wegzuhelfen, so hatte 
Louis eher seine Hand in jedermanns Kasse, um seinen 
eigenen Finanznöten abzuhelfen. Wenn Er jeden Sonntag 
das Theater Fran9ais für 20 Sous dem Volke öffnen wollte, 
um sich zu bilden, so ward das Theater unter Louis ein 
Lupanar der Bourgeoisie. 

Louis preist die Institution des „Senats", die auch 
Eignen (Eüstoire de l'Empire) als „nicht fehlerhaft^' be- 
zeichnet Was aber hat er daraus gemacht, als er den 
Senat wiederbelebte? Eine Sklavenschule, schlimmer als 
jene in den letzten Jahren des ersten Empire, von Napoleon 
verächtlich gebrandmarkt: „Der Senat bewilligte immer noch 
mehr, als man von ihm verlangte.^^ Einen Tummelplatz 
höfischer Intriguen, auf den Napoleons Wort an Benjamin 



— 231 — 

GoDstant über die erbliche Pairskammer taugte: „Ihre 
Kammer wird bald nichts mehr als ein Feldlager oder ein 
Yorzimmer sein/^ Der grosse Meister schuf sogar eine 
Pilanzschule der Staatskunst: „Ich erzog eine neue Schule, 
die zahlreiche Klasse der Auditeurs des Staatsrats/^ [n 
welcher Verfassung sich die Staatsmaschine bei Louis' Zu- 
sammenbruch befand, lehrt das völlige Versagen aller Prä- 
fekten wie aller Pariser Ministerien, so dass erst Gambetta 
dort und die Provisorische Regierung hier Ordnung schaffen 
und Tätigkeit erwecken mussten. „Niemals hatte ein Staats- 
oberhaupt ein so aufgeklärtes Konseil, wo alle Fragen der 
Ordnung und Verwaltung mit mehr Offenheit und Unab- 
hängkeit verhandelt worden wären. Auch erriet nie ein 
Oberhaupt die wahre öffentliche Meinung so treu und genau^^ 
(Thibaudeau). Louis fälschte systematisch die öffentliche 
Meinung, täuschte damit zuerst Europa und dann sich selber, 
bis er seine erlogenen Plebiscite für bare Münze nahm. 
Seine Minister terrorisierte er derart, dass er, wenn jemand 
ihm Gegenvorstellungen machte, schweigend in die Luft 
starrte und das beanstandete Dekret in den Papierkorb warf: 
am andern Tage stand es zum Entsetzen der düpierten 
Minister im Moniteur. Wenn Napoleon überall nur Kapa- 
zitäten und nicht politische Satelliten zu den Ämtern berief, 
einen Gaudin (Herzog von Gaeta) zum Finanzminister, 
MoUien zum Schatzmeister, Denen zum Direktor der Museen, 
Chaptal (den berühmten Chemiker) zum obersten Industrie- 
rat u. s. w., so finden wir als Louis' Berater Olivier mit dem 
,4eichten Herzen", den „erzbereiten" Leboeuf, den Gauner 
Fould. Der einzige Tüchtige, den er je angestellt, Kriegs- 
minister Niel, musste sich schämen zu sitzen, wo St. Arnaud 
und Morny sich geräkelt. „Mit einigen alten Edikten von 
Chilperich und Pharamond kann niemand sagen, er sei frei 
vom Zufall, jeden Tag auf völlig legale Weise an den 
Galgen zu kommen", sprach der Schöpfer, dem sein Code 
Napoleon noch nicht genügte und der einen Code Universel 
plante. Dem Louis genügte der Code Napoleon, um legal 
alle Missliebigen in Masse zu deportieren. „Die Konkurrenz 
ist vierzig Millionen Seelen eröffnet. Das Verdienst allein 
unterscheidet, verschiedene Grade der sozialen Stufenleiter 



— 232 — 

belohnen sie/ Bei Louis unterschied aliein die Enecht- 
schaffenheit, verbunden mit der Korruption, ^ch kann mich 
nicht daran gewöhnen, die Willkür sich überall einschleichen 
zu sehen und Magistrate zu haben, ohne dass sich jeder- 
mann mit allen seinen Klagen an sie wenden könnte/^ 
(Staatsrat 1810.) Bei Louis ward jede Klage der Liberalen 
durch infame PseudoJustiz unterdrückt, jeder Fräfekt hauste 
als Pascha. „Ich will, dass man den Staat durch gesetzliche 
Mittel regiere. Die für frei ausgeschriene Presse befindet 
sich absoluter Willkür unterworfen. Die Polizei lässt Blätter 
Umdrucken, unterdrückt Bücher und nicht mal der Minister 
tut das, sondern sein Bureau.^^ (An den Staatsrat 1811.) 
Yiel Skandalöseres kam unter Louis Polizeiwirtschaft alle 
Tage Yor, zugleich mit Verfolgung aller unabhängigen Jour- 
nalisten, die sich zuletzt wie Girardin den Mund stopfen 
liessen. Paul -Louis -Courier wäre nicht lebendig aus den 
Klauen dieser neuen Bastillefütterer entronnen, deren Lettres 
de Cachet nur noch ungesetzlicher als unter den Bourbonen. 

Wenn ein Günstling wie Junot 1806 als Gouverneur von 
Paris sich eine kleine Verletzung des Jagdrechts erlaubte, 
musste er wie jeder andere sich der Justiz beugen: unter 
Louis drehte jeder Höfling dem Gesetz eine Nase, da es 
doch schon die bekannte wächserne Nase trug. Napoleon 
führte Pensionen der Zivilbeamten ein, um jeder Entschul- 
digung für untreue im Amt vorzubeugen, unter Louis 
dienten Pensionen nur dazu, eine Anzahl bureaukratischer 
Müssiggänger an die Staatskrippe zu locken und festzu- 
binden, eine Form verkappter Bestechung. 

Er wagt es, dieser Louis, an die streng demokratische 
Form zu erinnern, wie der Imperator die Armee rein vom 
sozialen Gesichtspunkt aus betrachtete. Doch nie hat ein 
nach unten brutalerer, nach oben kriechenderer Militarismus 
die bürgerliche Ordnung entnervt und untergraben wie 
unter Louis. (Obschon natürlich das Kulturniveau der revo- 
lutionären Errungenschaften, die sogar auf Preussen schon 
vor Jena abfärbten, nicht einen solchen Tiefstand erlaubte 
wie im modernsten Militarismus des Deutschen Beiches.) 

Es ist ein ewiges Gesetz für den Kenner: je säbelrasselnder 
das Militär bramarbasiert, je gröber es sich als erster Stand 



— 233 — 

proklamiert, je frecher es aus der ihm zustehenden be- 
scheidenen Stellung im Staatshaushalt hervortritt, je aus- 
schliesslicher man militärische Interessen an die Spitze stellt 
— was alles ebenso für die Bureaukratie gilt — , desto 
gelähmter die wahre innere Eraft des Volkes nicht nur, 
sondern desto geringer auch die kriegerische Fähigkeit. 
Jeder Militarismus führt nach Jena und Sedan. Und so ist 
denn die ruhmreichste aller Armeen, hervorgegangen aus 
der Bürgermiliz wie Gromwells Eisenseiten („the most 
disciplined, the most highly-trained we ever had^^, be- 
kennt Lord Wolseley), zugleich die bürgerlichste und anti- 
militaristischste gewesen. Die Eroberer von Berlin und 
Wien klagen in ihren Briefen über Krieg und Soldatenhand- 
werk und sehnen sich nach bürgerlicher Stille in Pflege 
der Wissenschaften. Hingegen die Generale des zweiten 
Kaiserreichs, diese öden Kommissmenscheu der Routine 
ohne jede höhere Bildung selbst in ihrem Berufe, die alko- 
holisierten Troupiers von Algier und Lager von Chalons . . 
ihre Promenade nach Berlin spazierte natürlich über Sedan 
in die Deutschen Gefangenenlager. Nie wäre unter der 
humanen Kriegführung des Meisters (man muss das wohl- 
wollende schonende Verhalten in allen eroberten Haupt- 
städten kennen) eine Sprache der Presse möglich gewesen, 
wie die von 1870, wo die „Goums" zu Brandstiftung und Not- 
zucht als patriotischer Pflicht aufgefordert wurden und der 
Gharg6 d' Aifaires in Karlsruhe eine Note überreichte, die 
mit Melactaten die Pfalz bedroht: „Les femmes ne seront pas 
m6nag6es". Das waren die notwendigen Früchte der „Frei- 
heit'', die er meinte, denn Louis führte Freiheit und Ordnung 
bei jeder unpassenden Gelegenheit unnützlich im Munde, 
der katholischen Religiosität, die er, der Atheist und in- 
differente Skeptiker, als Freund Pio Nonos vertrat, des 
Gäsarismus, den er mit Räuspern und Spucken so glücklich 
seinem Vorbild abgeguckt Man vergleiche mit obigen Daten 
der ökonomischen Wohlfahrt des ersten Empire das Werk 
Laroque's ,,De la guerre^^ über den Zustand, in welchem 
Frankreich das Sedanabenteuer begann. Das angebliche 
Umtauschen jeder Freiheit für materielle Mästung endete 
passend mit 10 Milliarden Verlust des einen Schlussjahres 



— 234 — 

der Louiskomödie. Erst unter ihm entfaltete der Kapitalismus 
seine volle Schamlosigkeit, überall ahmten Industrieritter den 
kaiserlichen Schwindler nach. Er sass in seinen Tuilerien 
und formte Menschen nach seinem Bilde, die ihm gleich 
seien, sich zu freuen und Oott nicht zu beachten, wie er 
selber, naive Schwindler, wie Saccard in Zolas „L' Argent^^ 

Er sass da wie lauernde Spinnen, fett vom Blute harmloser 
Fliegen, und spann Netze, die nachher wie Spinnweben zer- 
rissen. Dass man ihn in deutschen Witzblättern immer 
„Er" nannte, wie einst den grossen ,,Er" der Vendömesäule, 
war unbewusste Selbstpersiflage des Zeitgeistes, der in ihm 
sein würdiges Ebenbild erkannte. Das stellte er dar auch 
im Grössenwahn des Epigonen. Wenn ihn später Mohren- 
wäscher einen Träumer nannten, so hatten sie recht, insofern 
er wie das Jahrhundert sich in allerlei altklugen überspannten 
Oottähnlichkeitsträumen wiegte. Doch solche gemeinschäd- 
lichen Träume von Besessenen muss man immer mit bitterem 
Erwachen am Baum der Erkenntnis bezahlen. Schieds- 
richter Europas... o süsse fixe Idee! Als Louis die Ab- 
tretung Venetiens an Ihn als Geschenk für Italien er- 
gatterte, statt irgendwelcher solider „Kompensationen", illu- 
minierte Paris vor kindlicher Freude über solches Prestige. 

Wie mag der Realist Bismarck in seinen Bart geschmunzelt 
haben! Und Louis ging weiter mit seiner fixen Idee schlafen 
wie das Jahrhundert, das sich so wundervoll realistisch 
dünkte und voll Phantasmen seiner Überhebung immer den 
„praktischen" Schein für das Wesen der Dinge nahm. Ging 
schlafen, bis Sedan ihn weckte, so wie ein schlimmeres Welt- 
sedan die Erben des 19. Jahrhunderts wecken wird. 

Adieu, Louis, schlaf wohl! Den Fluch der Lächerlichkeit 
hatte Victor Hugo („Napoleon le Petit", „Les Chfitiments") 
ihm angedroht und eine gewisse Lächerlichkeit haftet ja 
seinem Ende an. „N' ayant pu mourir ä la tdte de mon 
arm6e" entfesselte Heiterkeitsstürme, obschon ers ernstlich 
versuchte. So endete seine tigerhafte Furchtbarkeit: man 
nahm ihn nicht mehr ernst. So endete mit ihm geistig das 
Schakal-Jahrhundert, das den Löwen Revolution und Napoleon 
auf der Fährte nachschleichen wollte und sich dabei selber 
zum Löwen träumte. Auch sein ohnmächtiger Eklektizismus 



— 235 — 

Tersinnbildlichte sich in diesem Empire, dessen Münzen an- 
fimgs auf der einen Seite ,36publique Francaise^\ auf der 
anderen „Empereur Napoleon^^ tragen. Das wahre Schlass- 
wort der Louisfarce gibt ein Satz von Daunon, das er einst 
selber zitierte: „Politik ist Anwendung der Geschichte auf 
die Moral der Gesellschaft^ Das ist die Moral von der 

Geschichte. 

In der französischen Literatur, einst so kühl korrekter 
^Ecole du bon Sens^ bildete das kranke Jahrhundert 
bizarrere Originalitäten aus, als in der englischen Ästheten- 
bande der Swinburne, Rossetti, Morier, Wilde. Da ist jener 
Ahnherr der Verlaine, Becque, Mallarmö und andrer an- 
ziehender Decadents, neben denen der akademisch-rhetorische 
Sully-Prudhomme bloss durch den Nobelpreis zu unverdienter 
Würde gelangte und der kühle Plastiker Leconte de l'Isle 
im Grunde nur an die alte deskriptive Didaktik erinnert — 
da ist der schreckliche Baudelaire, eine wirkliche Persön- 
lichkeit, verwandt dem Amerikaner Poe, aber als Franzose 
klassizistischer in der Form und die Mystik mit gallischer 
Sinnlichkeit verquickend. Mitten in die Orgien seiner 
erotischen Ausschweifung schleicht sich verzweifeltes Sehnen 
nach dem Nichts oder nach „etwas jenseits der Welt, gleich- 
viel wo" ein. Nervöse Halluzination vibriert unter seiner 
Theorie der Decadence. Geistige Verwesung phosphorasciert 
in seinen „Fleurs du Mal", alles löst sich auf ohne Knochen 
und Muskeln in Paradoxe und Mystifikationen. Da ist sein 
Gegenpart Flaubert, der alles Verschwommene fliehen und 
als Anatom die innere Muskulatur der Sprache nachbilden, 
peinlich alles Subjektive meiden und seine Sensibilität 
ganz ins Objekt versenken will. Doch seine Sensibilität 
bleibt trotzdem eine krankhafte, ungesunde Romantik schläft 
auf dem Grunde dieses scheinbar so glatten Eisspiegels^ 
Er geht vom Hugo-Kultus aus, er taucht tief unter 
in die Mondscheinmelancholie Chateaubriands, die alten 
Bäumen und antiken Gestaden ihr Geheimnis ausplaudert. 
Selbst der nüchternen Haltung der „Madame Bovary" ent- 
strömen elegische Seufzer. Erotische Sehnsucht nach unfass- 
bar Idealem treibt ihn zu exotischen Extasen mit Hamilkar» 
Tochter und dem heiligen Antonius. Ein nicht schwächerer 



— 236 — 

Pessimismas als der Baudelairesche verbittert ihm Leben 
und Literatur. Er ftUüt den Menschen, d. h. sich selber zum 
XJnglücklichsein organisiert, glaubt an keinerlei Glück, das 
Leben flösst ihm Ekel zum Brechen (ä faire vomir) ein. Dem 
Gespenst verstorbener Antike entreisst er das Geheimnis, 
dass ihre von uns beneideten Sterblichen geradeso litten wie 
wir. Sohn einer optimistisch sanguinischen Hasse, arbeitet 
^r trotz seiner Resignation wie ein Lasttier. Die Kunst um 
der Kunst willen, dies von ihm und Theophile Gautier (wie 
mag wohl dessen phrasenhaft sentimentale „Mademoiselle 
de Maupin^^ zu ihrer literarhistorischen Celebrität gekommen 
sein?) und den Brüdern Goncourt (fleissigen geistreichen 
Theoretikern und Artisten ohne jede Spur Zolascher Schaffens- 
kraft) erhobene Feldgeschrei bedeutet entweder einen Truism, 
da noch jeder wahre Künstler die Kunst um ihrer selbst 
willen liebte, oder das sterile Anklammern einer halt- und 
ideallosen geistigen und moralischen Ohnmacht an die Form, 
<las Kunsthandwerk. 

„Ich glaube, die grosse Kunst ist wissenschaftlich und 
unpersönlich. Man muss sich in die Personen versetzen 
und nicht sie an sich heranziehen. Das ist die Methode,^^ 
schreibt er 1867 an G. Sand. Dagegen wäre um so weniger 
«inzuwenden, als noch alle grossen Dichter „unpersönlich^^ 
ihre Gestalten liebten, bloss dass es bei ihnen keiner Me- 
thode bedurfte. Aber wenn man Flaubert seufzen hört: „Sie 
wissen nicht, was das ist, den ganzen Tag den Kopf in beiden 
Händen zu halten, um das unglückliche Hirn zum Finden 
«ines Worts zu pressen'', so billigt man mitleidig erst recht 
seinen Seufzer, dass neben Shakespeare alles mittelmässig 
sei. Ach ja, der brauchte keine Methode! Und das Ein- 
führen des Wissenschaftlichen in die freie Geistesschöpfung 
iührte zu ergötzlichen Scherzen der Jüngstdeutschen in den 
achtziger Jahren, wo einige Schreihälse wie der Haeckelianer 
Bölsche das Studium der Naturwissenschaften als unum- 
gängliche Grundlage des Dichtens empfahlen, nur um später 
Paul Heyse als hochzu verehrenden Meister anzududeln! 
Auch ein Kursus der Mathematik wäre wohl empfehlens- 
wert, ehe man die Feder zur Hand nimmt! Wo aber bleibt 
•die wissenschaftliche Haltung solcher Verbildeten? Flaubert 



— 237 — 

gesteht, er studiere ,,za dem einzigen Zweck, auf meine 
Zeitgenossen all meinen Ekel auszuspucken, meinen Hass zu 
vomieren^^ Diese romantische Subjektivität zwang sich ge- 
waltsam zu outrierter Objektivität. Die „Trois Gontes'^ sind 
z. B. künstlerische Meisterwerke. Doch vergleicht man 
darin „Herodias" mit Wildes „Salome", ja sogar mit Suder- 
manns „Johannes", so fällt der Vergleich gar nicht so völlig 
zu Flauberts Gunsten aus, wie seine Bewunderer möchten. 
Selbst der Effekthaschor Sudermann hat in seinem Herodes 
packende Zöge gefunden, indess bei Flaubert uns alles in 
einer antiken Fremdheit bleibt, die wahrscheinlich wahrer, 
aber nicht eindrucksvoller. Für die ballettartige „Salambo'^ 
muss sogar sein fanatischer Anbeter Maupassant zugeben, 
dass sie sich abspiele wie eine Oper. Der angebliche Realis- 
mus dieses Yersetzens in barbarisch - primitive Gemüts- 
zustände zerflattert zuletzt wie eine gequälte Phantast 
magorie. In „Bouvard und P6cuchet" nimmt jede Gestaltung 
Abschied und Goethes vielmissbrauchtem „Bilde Künstler, 
rede nicht" hat niemand mehr zuwider gehandelt, als hier 
Flaubert, dem es aus der Seele gesprochen sein sollte. In 
der allzu berühmten „Madame Bovary" mischt sich platte 
Dokumentierung mit sentimentaler Romantik, in Welt- 
schmerz und melancholischen Empfindungen der Sünderin 
spricht einfach Monsier Flaubert, der doch so unpersönlich 
in seinen Figuren aufgehen wollte. Von der „Versuchung 
des heiligen Antonius" gilt noch mehr das oben Gesagte. 
Hier gibts schon keine Personen mehr, sondern Systeme und 
Phantome. Er, Flaubert selber, ist der Heilige, der durch 
tausend Widersprüche aller Doktrinen und Dogmen verführt 
und verwirrt wird. In dieser chaotischen Konfusion einer 
angeblich unpersönlichen Subjektivität erkennt man immer 
nur eine Person, den Autor. Ein einzigmal hat er mit 
seiner Theorie Ernst gemacht, in der ebenso unerquicklichen 
wie technisch meisterlichen „Sentimentalen Erziehung". 
Doch was bedeutet uns dieser Roman heut? Eine technische 
Vorstudie für Zola. 

Dass in Flauberts berühmter Methode, sofern nicht 
Zolas Faust sie in ihrer wahren Konsequenz unter 
hohen ordnenden Allgemeinsymbolen handhabt, gar nichts 



— 238 — 

Besonderes oder Schwieriges steckt, zeigt die vorzügliche 
Nachahmung der „Tentation^^ in Anatole Frances „Thais^ 
zeigen die feierlichen Grimassen, mit welchen der überaus 
geistreiche Bourget seine bescheidene dichterische Fähigkeit 
hinter unwahr zurechtgemachter Analyse einer phantastischen 
Psychologie versteckt, während er nur dort etwas Tüchtiges 
vermag, wo er wie in „Cosmopolis^^ sich recht unmethodisch 
als charmanter Plauderer über mondaine Dinge gehen lässt 
France 's feines „Lys Bonge", Huysmans düsteres „La-bäs", 
Bourgets „Disciple" sind die endlichen Früchte einer Me- 
thode, die ihr Glück im Winkel perverser Sinnlichkeits- 
emotionen oder abnormer Nachtseiten der Menschennatur 
sucht und aus reiner „Wissenschaftlichkeit" ihrer krank- 
haft bohrenden Psyche eine Psychologie schöpft, die mit 
der Wirklichkeit in ärgeren Zwiespalt gerät, als aus- 
schweifendste Bomantik. Daudet, gleichfalls in der künst- 
lerisch bedeutenden „Sappho" solch unanständig erbitterter 
Analyse sein Scherflein darbringend, als wolle er mit Belots 
„Mademoiselle Giraud ma femme" konkurrieren, ward wenig- 
stens durch seinen Dickens kopierenden Humor — Tartarin 
ist einfach ein Pickwickier — in gesundere Lüfte entführt 
und Loti's wollüstig koloristische Empfindsamkeit haucht in 
die stickige Atmosphäre einer aus Studierstubenqualm und 
Salon parf um gemischten „wissenschaftlichen" Literatur- 
methode etwas Seebrise hinein, während in den Niederungen 
des Literaturlebens nach wie vor Leute wie Feuillet und 
Cherbuliez ihr sauberes Äckerlein vieux jeu brav bestellten 
und tiefer zum Sumpf hinab heut noch die Ohnets den 
quakenden Hunger der Frösche stillen. 

Wahrlich, etwas anders hatte Balzac den Begriff Analyse 
verstanden, bei all seiner künstlerischen Unzulänglichkeit ein 
wahrer Analytiker grössten Stils, ein genialer Didaktiker 
belletristischer Soziologie, die wirklich manche Elemente 
einer Wissenschaft in sich trägt Weder Flaubert noch seine 
schwächeren Nachfolger, niemand als Zola trat sein Erbe an. 

In der Tat schnitzelt Flaubert am Prosastyl so lange her- 
um, bis diese mühsam ertiftelto Ciselierung anwidert, da sie 
niemals den sonoren Ausbruch spontaner Leidenschaft 
ersetzt. Goethe brauchte sicher nicht viel am „Werther" zu 



— 239 — 

feilen, denn die elementare Sprache des Herzens trägt in 
sich selber vollendeten Wohllaut 

Da steht endlich abseits, wenig verwandt seinem 
voluminösen Zeitgenossen Balzac, der seltsame Stendhal, 
heut wieder ä la mode und chic im literarischen Paris. 
Voll überschäumender animaler Lebensfrische, endet er 
als kalter Ernüchterter. Mit ironischem und mokantem 
Spott Dinge und Menschen verachtend, vermag er nicht 
ohne Begeisterung an Napoleon zurückzudenken und 
Byron leibhaftig die Hand zu drücken bewegt ihn bis 
zu Thränen. Selbst während der Feldzüge, die er als 
tapfrer Offizier mitmachte und in „La Ghartreuse de 
Parme^^ ein Echo davon nachklingen liess, denkt er in Wien 
und Smolensk nicht ohne Herzklopfen an das Land seiner 
Sehnsucht, Italien. Auch er krankt innerlich an über- 
triebener Nervenfeinheit, versteckt unter eiserner Maske. 
Wohl schafft er als Mann der Tat nur tatkräftige Roman- 
helden, doch diese beobachten sich selbst wie mönchische 
Monomanen, sezieren ihre Empfindungen und registrieren 
sie wie zu wissenschaftlichem Experiment Wohl war auch 
der kräftige mutige Stendhal, der das grosse Wort ge- 
lassen sprach, das einzige Mittel gegen Unglück sei stolzester 
Mut, von der Krankheit des Jahrhunderts angefressen. Doch 
gibt ihm ein volles Übergewicht über Literaten wie Flaubert 
und Baudelaire die Wahrheit und Einheit seines Wesens, 
kurz dass er ein lebender Mensch, keine verbogene Schreib- 
maschine war. Er handhabte die Feder fechtermässig, wie 
ein alter Dragoner, der er war, den Säbel, jede Blosse be- 
lauernd. Kosmopolit im Lebenswandel, hatte sein weiter 
Horizont für keine Kleinlichkeit Raum, weder für St Chau- 
vinisme noch für l'art pour Tart Aber die grosse Kunst 
ist das nicht Sie will, wie Carlyle fordert, „a spiritual 
picture of nature" bieten. Das geht auch über die Kräfte 
des Realismus, wie ihn zuerst Balzac anbahnte. Wir wollen 
diesem grossen Geist nicht die Schmach antun, ihn als 
Romankünstler zu betrachten, wo dann unser Urteil höchst 
absprechend lauten müsste. Obschon er mit seiner gewöhn- 
lichen Bescheidenheit proklamierte : „Das Jahrhundert hat drei 
grosse Männer, Napoleon, Cuvier und Mich'', so hat ihm die 



— 240 — 

Nachwelt nicht Wort gehalten. Heut ist er nur noch ein 
grosser Name. Napoleon glich er, wenn Vergleich mit etwas 
so unermesslich Grösserem statthaft wäre, nur in der um- 
fassenden Planmässigkeit, mit der er das ganze Panorama 
des sozialen Lebens umspannen und gleichsam literarisch 
neu organisieren wollte. Mit Guvier hatte er gemein den 
Eifer, gleichsam aus Skeletten eine animale Welt neu zu 
konstruieren, unter Anhäufung von Dokumenten die Orga- 
nismen analytisch zu zerlegen. Seine künstlerischen Gaben 
waren jedoch so wenig seinen grossartigen Absichten an- 
gemessen, dass er lange nicht mehr unter die Vertreter des 
Jahrhunderts gehört, weil in dem Fach, das er als Autokrat 
verwalten wollte, ein sehr viel Grösserer ihn ablöste. Der 
Schriftsteller Balzac hat sich aufgelöst, als Zola die literarische 
Bühne betrat Übrig bleibt nur der scharfsinnige Gesell- 
schaftsdurchdenker, oft von überraschender Originalität der 
Einblicke, obschon von ausschweifender Phantasie fort- 
gerissen, die er für realistische Analyse ausgab. Wo er 
Bahn brach, nahm die altfranzösische Tradition des psycho- 
logischen Realismus auch der Stendhal geistverwandte M6- 
rim6e („Double möprise'') auf. Ungezügelte Phantastik aber 
führt ebensowenig zu hoher Kunst wie nüchterner Realismus: 
Das bewiesen Dumas und Sue. Dem Letzteren freilich, 
heut ungebührlich unterschätzt, kann man Fähigkeit zu 
grossen allgemeinen Gesichtspunkten in Balzacs Sinne nicht 
absprechen. Der „Juif erranf will doch mehr als blosse 
Spannung erregen und auch in den übrigen Sensations- 
stücken trifft man auf lebendiges soziales Empfinden. Be- 
sondere „soziale" Bedeutung sprach man der George Sand 
zu, die allen männlichen Kollegen ihrer Zeit an künst- 
lerischem Takt sich überlegen zeigte. Doch ihr einseitiges 
Verrennen in die Frauenfrage, ihr völliger Mangel an echter 
Charakteristik und lebensvoller Natürlichkeit, stossen bald 
ab und machen ihr heutiges Vergessensein begreiflich. Ihre 
Immoralität bekommt durch das verbrämende ideale Pathos 
ein Gepräge unbewusster Heuchelei, wie denn ihr reifstes 
Produkt „Jaques" eine gradezu brutale Gesinnung in ver- 
führerische Maske steckt In ihren aufrichtigsten Aus- 
strömungen „Lelia" und „Indiana" gemessen wir jenen alten 



— 241 — 

Sentimentalitätskram mit lüsterner Verzückung wieder, der 
Rousseaus Neue Heloise heut ungeniessbar macht. Eine düstre 
byronisch sein wollende Weltschmerzelei — in L61ia findet 
man eine begeisterte Apostrophe an Byron als ihren Stamm- 
vater — kopiert den Stil Chateaubriands, ohne in prächtiger 
Wortberauschung die strenge Schönheit jener Prosalyrik er- 
reichen zu können. Was sie übrigens bescheiden zugibt: 
„nous, friluquetts form6 ä son 6cole, ne pourrions jamais 6crire.'' 
Im Briefwechsel mit Flaubert wird offenbar, dass diese beiden 
hochgefeierten Persönlichkeiten mit Vorliebe Fachsimpelei 
trieben, was ohnehin immer Beschränktheit verrät, bei 
Dichterdenkera aber höchstens bezeugt, dass sie — keine sind. 

In der Tat, was soll man von einem Flaubert erwarten, 
der ohne ünterlass wiederholt (Maxime Ducarap „Souvenirs 
litteraires'', I, 168): „Was man sagt, ist nichts, wie man 
sagt, alles. Ein Kunstwerk, das etwas beweisen will, ist 
schon deshalb Null. Ein schöner Vers ohne Sinn ist einem 
ebenso schönen Vers überlegen, der Sinn hat (!!). Ausser- 
halb der Form kein Heil!" Solche scheussliche Doctrin, die 
wahre Verheerungen anrichtete und grade dem hirnlosen 
Reimer zu dichten erlaubt, sprach ein angeblicher Realist 
aus, den man als einen literarischen Chirurgen feierte, wie 
sein Vater ein tüchtiger Operateur gewesen ! Flaubert selbst 
musste darüber lachen, er war von je ein Lyriker, Realis- 
mus ist schon schwieriker. In seiner haltlosen Unreife be- 
wunderte er anfangs V. Hugo über alles, dann — man höre 
und staune — die „Lucrezia" von Ponsard, ein gottverlassenes 
Machwerk, endlich übertrug er seine Verehrung auf den 
guten Augier, einen tüchtigen Theaterhandwerker. Der Name 
„Schule des gesunden Menschenverstands", wie die Ponsard 
und Augier sich dreist tauften, hatte es ihm offenbar an- 
getan, dem Romantiker und Pessimisten, der sich mit feier- 
licher Objektivitätspose die literarische Serviette vorsteckte, 
um Sensationen mit Haut und Knochen zu tranchieren. 

„Ohne die Sensation meines Kummers zu mindern, analy- 
sierte ich sie als Künstler", schreibt er einmal an Ducamp. 
Ein andermal gesteht er: ,,Ich lebte zu Rom, so viel ist 
sicher, unter Nero." So sehen die Träumer aus, die eine 
törichte Kritik als Naturalisten preist. Er verfasste 

Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhunderts. IQ 



-- U2 — 

Versehen wie: „Savez vous pas loin de la froide terre, lä-haut 
lärhaut dans les plis du ciel bleu, un astre d'or, un monde 
solitaire, roulant en paix sous le souflle de dieu?^^ Und so 
weiter. Ausser Y. Hugo gab es ihm keine Poeten. B6ranger 
war ein Greuel, Musset ein Ekel. Wo Ducamp seine Beise 
mit Flaubert an die Geburtsstätte Ghateaubriands erzählt, 
haben wir eine Erleuchtung: Flaubert, der nervös zerrüttete 
starke Normagner, stammt von Ghateaubriands Geschlecht 

Niemals kann er nach dem Rat La Bruydres: „Wenn es 
regnet, sage einfach: es regnet^^ es regnen lassen. Der Regen 
regnet jeglichen Tag, aber Flaubert filtriert ihn zehnmal 
mit seiner Rhetorik, die sich für Natur hielt. Man nennt 
dies Naturalismus. 

Just um die Mitte des Jahrhunderts machten nach den 
frostigen Historien von Delaroche und Ingres, den Schlachten- 
bildern von Horace Yemet, die in mancher Beziehung den 
früheren Leistungen yon David, G6rard, Gros unterm ersten 
Empire nachstehen, gewisse Panoramen des Oberst Langlois 
Furore, der Borodino, Eylau und die Pyramidenschlacht in 
grossen Leinwandfetzen verarbeitete. Alles sollte weit und 
breit, jumfangreich und massig sein, auch die Poesie. Die.se 
Ansprüche erfüllte nun Y. Hugo in vollem Masse. Seine 
Romane hatten unzählbare Bände, seine Dramen zahllose 
Yerse, seine Gedichte nahmen kein Ende. Seiner Sieger- 
laufbahn als Bühnenherrscher war dagegen ein Ende be- 
schieden. „Die Burggrafen^^ vermochten selbst solchen Ruhm 
nicht zu überdauern, diese ehrwürdigen Ruinen begruben 
ihren erhabenen Schöpfer. Wie grausig schön klang es 
doch: „Quand ils ^taient en marche, ils enjambaient les 
ponts, dout on leur brisait l'arche!^^ Ein hundertjähriger 
Burggraf Job, ein ebenso betagter wiedererstandener Bar- 
barossa, nie waren Sterbliche greiser und weiser. Wie 
romantisch ist doch dieses! Doch die undankbaren Pariser 
hingen in den Buchläden eine Karikatur aus, Y. Hugo einen 
Kometen betrachtend, mit der Unterschrift: „Hugo, lorgnant 
les vofites bleues, se demande avec embarras, pourquoi les 
astres ont des queues, quand les Burggraves n'eu ont pas.^^ 

Dies letzte Auftreten Hugos als Theatermeister, diese 
entscheidende Niederlage des sogenannten romantischen 



— 243 — 

Dramas, bedeutete nichts anderes, als dass Frankreich 
der gespreizten Unnatur müde wurde: eine Veränderung 
des Geschmacks, nicht eine Veränderung Hugoscher 
Kräfte. 

Denn sein erstes Drama „Hernani^', das solchen Kampf 
entfesselte und ihn zum Triumphe führte, war es etwa minder 
lächerlich? Karls V. Tiraden am Grabe Karls des Grossen 
und der schauerliche alte Grande Gomez gaben wahrhaftig 
den Standreden Barbarossas und den schauderösen alten 
Burggrafen nichts nach. Man kann einen Prüfstein an all 
diese Alexandrinerstücke anlegen: sie in Prosa übersetzeuJ) 
Das ist, als ob man einem Pfau seinen Schweif ausrisse. 
Was bleibt übrig? Nur eine pompöse Pfauenräder schlagende 
Rhetorik, die trotz ihrer ermüdenden endlosen Langatmig- 
keit eindrucksvolle eindringliche Verve atmet, versteckt die 
innere Hohlheit Solch überladene Ausstattung mit rheto- 
rischem Prunk sollte dazu dienen, die Schwierigkeit 
realistischer Charakteristik zu umgehen und die Ge- 
schwollenheit der ohnehin auf Stelzen wandelnden Hoch- 
gefühle noch koturnmässiger stolzieren zu machen. Doch 
rächte sich dies, indem auch dort, wo dem Dichter 
sonst ein realistisches Historienporträt, wie sein Franz I. in 
„Le Roi s'amuse^^, gelungen wäre, feinere Züge in der 
Rhetorikflut ertranken. Zweimal versuchte er durch An- 
wendung der Prosaform seinem eigenen Unwesen zu steuern 
und der dritte Akt der „Lucrezia Borgia^^ gehört zum 
Besten, was die Bühneneffektmache der Franzosen je zu 
Stande brachte, der Alfonso d'Este zu den besten kultur- 
historischen Personalveranschaulichungen des Renaissance- 
milieu. Aber das Ganze klingt auch hier hohl und gekünstelt, 
sowie sein anderes Prosastück „Marie Tudor'^ umsonst aus 
einer gemeinen Intrigue ein Gharakterdrama zu schöpfen 
suchte. Die ganze Theatermanier Hugos läuft auf eine 
wilde Jagd nach Effekten und Sensationen hinaus, er er- 
greift nicht das Gemüt, sondern kitzelt die Nerven, und 
betäubt den Verstand mit wirrer Phantastik. Wie seine 

So haben wir es mit ,,Ray Blas^^ gemacht. Diese Übersetzung 
ward 1902 pabiizieri Yereübersetzongen aus ,,Le8 Orientales^^ finden 
sich in unsrer „Geschiohte der Englischen Literatar*^ 

16* 



— 244 — 

Rhetorik erbaut sich seine Dramatik auf einem System 
gesuchter, geschraubter Antithese. Die von ihm konstru- 
ierten Gegensätze stammen nicht aus dem Leben, sondern 
klügelnder Einbildung. Sein Drama ist nicht dramatisch, 
sondern theatralisch. Obschon er durchweg die Historie zu 
stofiFlicher Unterlage nimmt, schaltet er darin mit solcher 
Willkür, nutzt sie so brutal zu Bühnenkniffen aus, dass be- 
zeichnenderweise dasjenige seiner Stücke noch verhältnis- 
mässig die reinste Wirkung auslöst, wo das Historische nur 
als ECntergrund und Kostümmilieu verwertet wird: 
„Marion Delorme^^ Wie bezeichnend aber auch, dass dies 
Drama von der reuigen und durch liebe geläuterten 
Sünderin, so feinfühlig der falschen Sentimentalität des 
Jahrhunderts angepasst, jene Hochflut von Magdalenen- 
rettungen im Stil der „Kameliendame^^ nach sich zog! Der 
angeblich hoch über Menschheit und Geschichte thronende 
Gigant entpuppt sich hier als richtiger Yertreter des misel- 
süchtigen, zwerghaften Jahrhundertgeistes, der nur in 
erotischen Sentiments einer angefaulten Lebenshaltung das 
Ewigmenschliche sieht. So fälschte übrigens schon Yigny 
im „Ginq-Mars^^, dem dann die schwächliche Gründung des 
romantischen Dramas in seinem „Marschall d'Ancre^^ und 
„Ghatterton" folgte, die Geschichte zu Gunsten erfundener 
Gemütsmenschen, machte aus Richelieu einen grausen Popanz, 
aus seinen elenden Widersachern edle Märtyrer. Hugos 
Erstlingsstück „Gromwell^^ beleidigt geradezu die Geschichte. 

Yon Hugos Romanen ist nicht viel anderes zu sagen. 
Wie man die endlosen Tiraden seiner Monologe und Dialoge 
erbarmungslos streichen und kürzen muss, um Aufführung 
zu ermöglichen, nach solcher Ausmerzung aber den eigent- 
lichen Kern der Handlung immer winziger einschrumpfen 
spürt, so könnte man von den Dutzend Druckbänden seiner 
Erzählungen getrost die Hälfte in den Papierkorb werfen. 

Auch hier dasselbe Manöver wie bei den Dramen, bewusst 
oder unbewusst: durch Überfütterung mit einem Neben- 
gericht die Hungersnot in der Hauptnahrung ausgleichen 
zu wollen. Wie dort den Mangel an echter dramatischer 
Kraft und Gharakterisierungsvermögen eine erstaunliche 
rhetorische Sprachmeisterschaft verstecken sollte, so hier das 



-^ 245 — 

spärliche Sprudeln epischer Gestaltung ein Überwuchern der 
blossen Schilderung, verknüpft mit einem Ballast rhap- 
sodischer Reflexion. So besteht der Wert von ,,Notredame 
de Paris^' einzig in der kulturhistorischen Umrahmung. 

Wenn er möglichst barocke Wechselbälge der Phantasie 
geworfen, präsentiert er sie als Löwenjunges. Quasimodo 
und Esmeralda bereiten vor auf das Monstrum „L' homme 
qui rit^^ Die angebliche Psychologie erinnert an Balzacs 
famose Finanzphantasien, die immerfort mit Summen aus 
dem Märchenland operieren, dabei aber die strenge Exaktheit 
eines Statistikers vorgaukeln. Es ist nicht die Psychologie 
der Natur, wie bei den grossen Lebensdarstellem, sondern 
einer grübelnden Anmassung, die Natur nach ihrem Be- 
lieben auszudeuten. Freilich wird ein nicht selber befangenes 
und in Durchschauung der Hugoschen Mache vorein- 
genommenes Urteil die deskriptive Bravour selbst in der 
Lächerlichkeit des „Lachenden Manns^^ nicht verkennen. 

Doch Hugos Erhabensein über jede landläufige Behandlung 
der Epik, sein Schildern um des Schilderns willen, sein 
Schwelgen in jedem Einfall und jeder Episode, die zu mass- 
losen Abschweifungen seiner Reflexionswut Aulassgeben kann, 
wird auf die Dauer unerträglich. In den „Mis6rables^^ wird, 
sobald ein Kloster in der Handlung auftaucht, Kapitel nach 
Kapitel einer Psychologie des Klosterlebens und Mönchtums 
eingeschoben. Die bekannte Schilderung der Schlacht von 
Waterloo, sehr oberflächlich im Inhalt, in der liebevollen 
Phraseologie über das Wörtchen „Merde^^ daran erinnernd, 
dass bei Hugo vom Erhabenen bis zum Lächerlichen immer 
nur ein Schritt ist, steht völlig unvermittelt am Eingang 
des zweiten Teils, füllt dessen ganzes „Livre Premier^^ ohne 
den geringsten Zusammenhang mit der Bomanhandlung. Denn 
alles, was zu pomphafter Freskomalerei oder Ideen über Gott, 
Welt und umliegende böhmische Dörfer einladet, muss ihm vor 
die Klinge, ob das vorliegende künstlerische Thema, das er dem 
Leser ankündigte, sich noch so sehr dagegen sträubt. Sogar 
mit seiner eigenen Person belästigt uns dieser feinfühlige 
Erzähler mitten im Text Mal teilt er uns mit, dass der 
Bischof von Ptolemai's sein Ahnherr war, mal soll die Schlacht 
von Waterloo offenbar ein höheres historisches Interesse 



— 246 — 

dadurch gewinnen, dass Er, der grosse Hugo, den Spuren 
seines Kollegen Napoleon als Besucher der Walstatt folgte. 

Darum entspringt der völlige Mangel an stofflicher Kom- 
position und technischer Ökonomie organisch aus dem Wesen 
des Verfassers, der immer Sich als geistigen Mittelpunkt 
und als von Gott selber gesetztes Mass aller Dinge betrachtet. 

Diese souveraine Gleichgültigkeit gegen epische Zurück- 
haltung und Versenkungdes Ichs ins Werk— was einem Flaubert 
Bauchgrimmen hätte yer Ursachen sollen, diesen pathologischen 
Phantasten trotz aller Schroffheit seiner Theorie aber nicht 
abstiess, weil die Hugo-Idolotrie nun mal zum guten Ton 
der französischen Kultur gehörte — paart sich dabei mit 
gekünstelter äusserer Symmetrie, sauberer Architektur des 
Aufbaus in „Teilen^' „Büchern^^ „Kapiteln^^, als ob ein Kant 
philosophische Kategorieen wohlgefällig ordne. Auch hier 
wieder das unerfreuliche Vertuschen des inneren Manko 
durch scheinbare Sauberkeit der äusseren Darstellung und 
Form, während Hugo überall von innerer Formlosigkeit 
strotzt. Also überall peinlich pedantische Mache und Technik 
in Äusserlichkeiten neben mystischem Orakelton, sibyllinische 
sieben Bücher in gefälligem kokettem Einband, deren 
geheimnissvolle Siegel der erhabene Prophet uns löst mit 
den Manipulationen eines Taschenspielers. Das Sibyllinische 
aber stellt sich dar als eine Reihe unklarer Phrasen, unter 
denen hier und da ein genialer Treffer aufblitzt. Oft schläft 
ja auch der gute Vater Homer und Vater Hugo kann seinen 
Anbetern nicht immer göttliche Weisheit spenden, er lallt 
daher in Träumen unverständlichen Tiefsinn. Das ewige 
Orakeln greift an und man muss gestehen, dass der ruhm- 
volle Weise sich selten in wachem Zustande befand. Aber 
auch der unglückliche Gläubige, der nach allen Brosamen 
hascht, die von diesem reichen Altartische fallen, fühlt sich 
zuletzt sehr angegriffen und duselt ein. So entsteht zwischen 
Hugo und seiner Gemeinde ein Band gegenseitigen Träumens, 
das sich die Wirklichkeit so zusammenknüpft, wie Hugo 
und Frankreich und die alleinseligmachende Demokratie sie 
sich wünschen. Paris ist das neue Jerusalem, die „Stadt 
des Lichts*^, das „Hirn Europas^S Frankreich ist der Christus 
der Menschheit, der sich in der grossen Bevolution gekreuzigt 



— 247 — 

hat, nachdem er allerlei Mirakel verübte and Tote wieder 
zam Leben erweckte: Hugo hat sich nicht gescheut, dies 
geschmackvolle Gleichnis lang und breit durchzuführen. 
Wie sollte „das erste und grösste der Völker'^ nicht dazu 
fähig sein, da dessen erster und grösster Sohn, Er, Yictor 
Hugo, doch selber als wundertätiger Sohn Gottes ein Wunder 
der Schöpfung bildet! „L' illustre Angleterre'' „1* auguste 
Allemagne^\ wir geruhen euch anzuerkennen, aber beugt 
euch vor dem Lichtvolk, das einen Hugo erzeugte! Als Sohn 
eines bonapartistischen Generals den Chauvinismus mit der 
Muttermilch einsaugend, behielt er unter allen Veränderungen 
der Zeitläufte und seiner eigenen Überzeugungen dies 
nationale Erbteil. Nachdem er dem Napoleonkult genügend 
geopfert, wandte er sich als Jakobiner davon ab und pflog 
einer kritischen Haltung achtungsvoller Nekrologie, als 
beerdige Er in Napoleon das letzte Hindernis der inter- 
nationalen Demokratie. Der internationalen, aber wohl- 
gemerkt mit dem nationalen Frankreich an der Spitze, das 
natürlich sein Recht bewahrt, so national wie möglich als 
Spitze der Völker zu marschieren. Deutschland ist wie 
Indien unsre liebe Grossmutter, die wir ehrerbietig in die 
Ecke stellen, wo sie mit der Brille in allen möglichen 
philosophischen Postillen studieren darf. Aber sich als 
gepanzerte Germania aufzupflanzen, dazu fehlt ihr jede 
Berechtigung, solcher Eingriff in die moralische Weltordnung 
Victor Hugos kann nicht streng genug als herzlos und ver- 
werflich gerügt werden. So donnerte denn der Erhabene 
während der Belagerung von Paris, nachdem sein Manifest 
an das unehrerbietige Deutschland mit dem so gross- 
mütigen Grossmuttervergleich leider im Gelächter verhallte: 
,jedes Haus speie seine Möbel auf die Vandalen, 
jedes Eind an der Mutterbrust schwinge das Chassepot^, eine 
kolossale Lev6e en masse wird die frechen Besudier des 

« 

heiligen Bodens verscheuchen. Was sage ich! Dieser Boden 
selber genügt schon, sie von sich wegzuschnellen ! Ist er 
nicht mit Elektrizität geladen, mit Victors Siegergenius? So 
zog Paris eine „Idee^^ nach der anderen aus der Scheide . . . 
Victor Hugos. Jede Phrase ist nämlich eine Idee im Hugo- 
schen Französisch. Aber ach, die rauhe Wirklichkeit lehnt 



— 248 — 

solche Münze ab, sie behauptet dass Phrasen keinen Kurs 
haben, und das Traumland kapitulierte! 

Gleichwohl stak hier mehr als blosse Phrase und die 
Wirklichkeit sprach mit dieser augenblicklichen Antwort 
historischer Kausalität nicht ihr letztes Wort. Der Germane 
versteht nicht die romanische Bealität Er übersieht zu leicht 
in seiner nüchternen Buhe, dass der nervösen Unruhe auch 
magische Kräfte innewohnen, dass dem Erhabenen zwar das 
Lächerliche, aber dem Lächerlichen auch manchmal das Er- 
habene verwandt. An letzteres zu glauben fällt ihm schwerer, 
als dem Bomanen, obschon er es, wenn einmal erkannt, auch 
um so treuer ehrt. Ein Phrasenschmied scheint dem Deutschen 
und Briten gleichbedeutend mit einem Lügner. Aber was 
im Bomanen verlogen, ist oft nur die Ausdrucksweise, nicht 
das Gefühl selber. Und so erkennen wir zwar deutlich 
Hugos Yerlogenheit als Künstler, seine grelle Effekthascherei, 
seine blendenden Täuschungen durch äusserlichen Formprunk, 
sein raffiniertes System, mit allerlei nebensächlichen Hand- 
griffen derBhetorik, der Schilderungsvirtuosität, des Beflexions- 
bombastes sich und anderen über sein beschränktes schöpfe- 
risches Vermögen wegzuhelfen, sein schillerndes Kupfer als 
lauteres Gold herauszuputzen. Aber etwas solides Gold unter 
so viel trügerischen Papierassignaten enthielt seine Bank 
doch und er wusste es in Umlauf zu setzen, obschon mit 
selbstbetrügerischer massloser Hausse einer schwindelhaften 
Kurssteigerung: Das war die Echtheit seines Gesinnungs- 
pathos in Entrüstung wie Begeisterung. Phrase die Form. 
Wahrheit das Gefühl. Wo immer das Heroische vor ihm 
auftaucht, da vibriert in ihm eine verwandte Ader, da klingt 
eine Saite seiner Leier, die in uns ein Echo findet. Ans 
Modern -Soziale hätte er sich nicht heranmachen sollen, 
weniger aus Spekulation auf den plumpen Zeitgeschmack, 
als aus schnaufendem Bedürfnis, seine Prophetentoga auch 
im Gedränge sozialer Kämpfe weihevoll auszubreiten. Seine 
edlen Galeerensklaven, wie Jean Valjean, sind weder sozial 
noch modern gedacht und wirken in ihrer Engelhaftigkeit 
geradeso grotesk, wie die Grimassen des L' Homme qui rit. 

Der Mann, der lacht, ist bei so was meistenteils der Leser 
selber. Auch einzelne Wirklichkeitstypen, wie der Polizei- 



— 249 — 

inspektor und der dummpfiffige Klostergärtner, erscheinen 
mehr outriert, als charakteristisch. Diese ,.Mis6rabIes'^ und 
„Travailleurs de la mer^^ sind Gebilde von Eugen Sue, ohne 
dessen Lebendigkeit. Aber wo Hugo, wie in „Quatrevingt- 
treize^\ auf das Heroische stösst, da gewinnt seine An- 
schauung Leben. Unter allen Gemälden der Revolutionszeit 
gibt dies noch am kräftigsten die Blitze, Wolken und Schatten 
des Elementarereignisses wieder. 

Auch findet sich in den „Mi86rables^^ eine Stelle von 
wahrer, schlichter Erhabenheit 

Das ist die Szene, wo der gute Bischof, diese liebens- 
würdige und echte Menschengestalt, die Hugo einmal aus- 
nahmsweise geschaffen, den sterbenden Eonventrepublikaner 
bekehren will und dieser als Antwort sein Leben erzählt, in 
welchem sich gleichzeitig das gewaltige Bild der von allen 
Dummköpfen und Philistern verlästerten Befreiungstaten er- 
hebt. „Ich sterbe, was verlangen Sie denn von mir?" 
„Ihren Segen!'' erwiderte der Bischof und er kniete nieder. 
Als er das Haupt erhob, war das Antlitz des Jakobiners 
weihevoll geworden. Er hatte zu leben aufgehört'^ 

Bravo, alter Hugo, alter Löwe! Diesmal hast du gut 
gebrüllt und wir wollen den Ton im Ohr behalten. 

In diesem Poseur stak also doch ein Dichtertum. Dass 
dies am reinsten in seiner Lyrik sich loslöse, wird vielfach 
behauptet. Wir können nur bedingt beipflichten. Freilich, 
wer für Dramatik und Charakteristik nicht durch Theaterspuk 
und Schwulst, für Epik und Handlung nicht durch Schilderei 
und Schwätzerei entschädigt werden mag, lässt sich dies 
alles viel eher in der Lyrik gefallen, zumal wenn dieser 
schillernde Schaumwein in feinziselierter Schale höchst 
vollendeter Versformen dargeboten. Hier darf Hugo sich 
ganz gehen lassen, seinen Durst stillen und seine unbändige 
Gier nach Gedankenmetaphem befriedigen, ohne die Gebiete 
der Kunst zu verwischen und zu sprengen. 

Die Titel „Lichter und Schatten^' und „Kontemplationen^^ 
wählte er sehr bezeichnend für zwei Hauptsammlungen 
seiner Gedichte. Allein, auch hier wird man ermüdet und 
abgeschreckt. Schon sein Erstiing „Die Orientalen'^ machte 
lediglich durchs exotische Kolorit Furore. Nicht mit 



— 250 ~ 

Unrecht, gestehen wir. Denn die Farbenglut dieser Phantasie- 
flüge — sah doch Hugo den Orient nur in seines Geistes 
Auge, nicht wie Byron durch eigene Anschauung — blendet 
und fesselt in hohem Orade. Das grosse Prachtstück „Feuer 
des Himmels^^ hat erstaunliche Kraft, „Türkenmarsch^^ einen 
dämonischen Schwung, „Bounaberdi^^ eine feierliche Weihe. 
Aber das Meiste bleibt kalt und tot, frostige Bhetorik trotz 
aller brennenden Hyperbeln, und wenn in seiner späteren 
Lyrik, auch in der letzten Sammlung des Greises vor seinem 
Tode, manchmal wirklich lyrische Töne anklingen, — so in 
den reizenden Einderidyllen, worin er seine Enkel besingt, 
als ob ganz Frankreich sich mit solchen Dauphins des 
königlichen Hauses Hugo familiarisieren müsse — , so er- 
stickt doch auch hier Bombast alle einfachen Naturlaute. 

Es bleibt im weitesten Sinne Didaktik, so auch in der gross- 
spurigen „Legende des Sidcles^\ oft mit einem Anflug von 
Grossartigkeit, meist aber gespreizt, gekünstelt und endlos 
weitschweifig. Selbst die gleichmässig vollendete Form 
schleppt sich eintönig fort trotz häufigen Spielens mit 
wechselnden Rhythmen und Yersmassen. Man braucht 
noch gar nicht auf dem abstrakten Standpunkt der deutschen 
reinen Lyrik zu stehen, um das tJnlyrische einer Vers- 
schwelgerei zu spüren, welcher stets Byrons spöttische 
Selbstironie „Description is my forte" als ernstes Motto vor- 
schwebt. Am besten gelingt daher noch das Balladeske, 
wie das bekannte „Gastibelza, l'homme ä la carabine chantait 
ainsi." Als Soldatenkind schlägt er in den „Ghätiments" 
und „Chants du cröpuscule'' für die Eiieger von Arcole bis 
Waterloo die Trommel. Hier und da findet er tiefere Töne 
wie die schöne Grabbetrachtung: „La foule des vivants rie 
et suit sa folie, tantöt pour son plaisir, tantöt pour son 
tourment, mais par les morts muets, par les morts qu'on 
oublie, moi roveur je me sens regard6 fixement." Aber 
das Didaktische oder Deskriptive drängt sich immer wieder 
zwischen die lyrische Empfindung ein. 

Das Endergebnis der ganzen hundert Bände Hugos 
bleibt also die Tatsache einer zweifellos ungewöhnlichen 
Begabung, eines umfassenden überreichen Geistes, der seine 
Fülle in allen nur möglichen literarischen Gattungen zu 



— 251 — 

entladen strebt, eines Talents von seltener Stärke und hohem 
Range, das aber von der fixen Idee geplagt wird, es sei 
ein Genie. Unter Shakespeare, Byron, Goethe tut er's 
nicht, wenn er in seinen monumentalen Vorreden — be- 
sonders bei den Dramen, deren Schwäche freilich solche 
hochtrabenden Vorreden als Kommentar nötig hat — seine 
Pairs und Ahnen aufzählt, denen er angeblich nacheifert 
Wie er sie missverstand, wie völlig er der Natur sich ent- 
fremdete, immer nur auf den Effekt hinarbeitete, dafür 
bietet er auf jeder Seite eine Selbstbeschuldigung. „Ah, tu 
m'as tu6, je suis ta möre!^ dieser Knalleffekt am Schluss 
der „Lucrtee Borgia^\ wo die Geheimnisbombe erst beim 
vor Verblüffung fallenden Vorhang platzt, hat etwas Typisches 
für seine Unnatur, die mit Beelzebub den Teufel der 
klassizistischen Naturlosigkeit des Bacinedramas vertrieb. 

Gleichwohl unterschätzen wir seine literarhistorische Be- 
deutung nicht, die gerade in seinem dichterisch unreifsten 
Wirken als Theatermacher sich ausprägt Als die europäische 
Romantik alle Zeiten, Länder und Zonen für ihre Kostüm- 
pose plünderte, suchte er doch wenigstens Ideenperspektive 
eines universalen, nicht bloss literatenhaft beschränkten 
Horizonts und machte sich an die Geschichte heran. Dass 
er darin etwas Besonderes entdeckt habe, behaupten zwar 
nur seine Vorreden. In den Arbeiten selber überwiegt 
ausschliesslich, wie wir schon früher berührten, die erotische 
Intrigue. Platens Rüge an Schiller „Etwas weniger Lieb- 
schaften!^^ traf bei Schiller nur ein übertrieben verwertetes 
Requisitenmittel, bei Hugo aber wird dies zum Selbstzweck. 
Auch erfand er sich, wo er mal tiefere historische Bezüge 
auffinden wollte, einfach unhistorische Vorgänge. Wenn 
seine Burggrafen das Räuberlied anstimmen: „Dans les 
guerres civiles nons avons tout les droits, nargue ä toutes 
les villes, et nargue ä tous les rois!^\ fragt man sich ver- 
wundert, in welchen böhmischen Wäldern dieser poetische 
Spiegelberg die Spiegelfechterei solcher Karl Moors des 
Mittelalters entdeckte, da uns weder von einer Kaste 
rheinischer Burggrafen noch von ihrer Raubritterherrlichkeit 
unter den Hohenstaufen etwas bekannt ist Gleichviel, ein 
Fortschritt lag hier trotzdem, etwas mehr Ehrfurcht vor der 



— 252 — 

Geschichte, als die Alexandriaerpathetik von Corneille bis Vol- 
taire sie bewies. Für Racine gab das Römertum nur die Maske, 
um Cheyalerie und Galanterie am Hofe des Sonnenkönigs 
einzukleiden, für Voltaire waren Cäsar und Mahomed nur 
Frügeljungen, um an ihnen mit dröhnenden Aufklärungs- 
sentenzen den Vers Diderots zu vollstrecken: „Mit des letzten 
Pfaffen Darm hängt den letzten König auf !'^ Kurz, diese ganze 
Geschichtsdramatik trug eine Allongeperücke. Hugo aber 
führte die bis dahin in Frankreich undenkbare Neuerung 
ein, dass seine Geschichtsmenschen wirklich Sitten und 
Redeweise ihres Zeitmilieu ausprägen sollten und dass 
nicht lauter glatte Eonventionalitäten in eintöniger Gleich- 
mässigkeit eines falschen Heroenpathos sich als Menschen 
gebärdeten, sondern eine auch das Groteske und Lächerliche 
nicht scheuende Charakteristik die abstrakte historische Feme 
belebte. Freilich bleiben für uns, die wir von Shakespeare, 
Schiller, Kleist, Grabbe herkommen, Hugos Anläufe nur 
fromme Wünsche, die bald in einem neuen Alexandrinertum 
stecken bleiben. Auch entschädigt er sich für sein Milieu- 
kopieren — immer im Äusserlichen sucht er seine Stärke, 
weiter kommt er nicht — durch höchst anachronistische 
Tiraden seiner Helden. Sämtlich vom Stamm der Asra, 
welche sterben, wenn sie lieben, ausserdem noch von Marquis 
Fosas und Don Carlos Samen gezeugt, deklamieren Hemani, 
Didier, Triboulet, Gennaro, Ruy Blas von der Tribüne des 
19. Jahrhunderts, lauter kleine Hugos, die in gar keiner 
Zeit zu Hause sind. Doch unter den Blinden bleibt der 
Einäugige König und diese Sensations-Intriguenstücke ver- 
treten noch allein in der französischen Literatur den grossen 
Stil auf eigentümliche Art, während die paar historischen 
Romane wie Vignys „Cinq-Mars^^ und Dumas „Drei Musketiere^' 
nur aus Nachahmung Walter Scotts hervorgingen. Be- 
zeichnenderweise hat nur £iner Hugos Manier aufgegriffen, 
nämlich Sardou in „Patrie^^ und „Theodora^^, mit noch derberer 
Effekttechnik, stellenweise sogar mit stärkerer Charakteristik, 
aber ohne Hugos melodramatischen Schwung. Legt aber 
diese Seltsamkeit, dass der raffinierteste begabteste Theater- 
spekulant der neufranzösischen Salonkomödie sich an Hugos 
Beispiel erbauen und ihn erfolgreich nachahmen konnte, 



— 253 — 

nicht den Schluss nahe, wie undichterisch im Orunde Hugos 
Art? Das Oenie kann man nicht nachahmen. 

Nicht nachahmen, selbst wenns in der scheinbar plau- 
sibelsten, nämlich durch und durch nationalen Art auftritt, 
derart dass grade das spezifisch Rassige sich in ihm ver- 
körpert Ja, in dieser an wahrer Poesie ärmsten Literatur, 
die so unendlich viele Talente der Prosa und einen so 
gleichmässigen Sonnenschein feiner Kultur besitzt, dass die 
wolkige schwüle Atmosphäre, aus der die Blitze des Genies 
aufzucken, sich nicht zu ballen vermag, zuckte doch einmal 
ein solcher Blitz auf, leider zuletzt unter schwachem Wetter- 
leuchten im Sumpf verlöschend, überhaupt mehr Blitz als 
•Donner. Und dieser Geniale war der echteste Franzose, 
ein unverfälschtes Pariser Eind, ein Zeitgenosse des grossen 
Hugo, der mit seinem Eolossusschatten die Arena bedeckte, 
so dass so kleine Leute wie Alfred de Musset kaum zwischen 
seinen Beinen Platz fanden. Die sogenannte Romantische 
Schule leistete ja sonst nicht viel. Neben morosen Originalitäts- 
haschern wie Eerr und Nerval, die mehr Callot-Hofmann 
als Tieck und Novalis nachwandelten, fiel noch am günstigsten 
die finstre Männlichkeit de Yignys auf, der nach der an- 
schaulichen und lebendig pittoresken, doch nicht sonderlich 
erfrischenden Historie „Cinq-Mars^' wenigstens in einzelnen 
straffgespannten Poemen wie „Eloa" „Der Tod des Wolfes" 
jene horbe stoische Verzweiflung und in der Erzählung 
eines alten Militärs der Napoleonszeit („Grandeur et Servitude", 
auch „Stello^^) ein scharfes Profil zeigte, das in seinen 
entzückenden Briefen an seine Nichte noch sterbend dem 
Tode eine hohe klare Stirne aufrecht entgegentürmt. Sonst 
aber in der geschwollenen Phraseologie der Romantik begrüsste 
man B^rangers Chansons als Auferstehung des alten esprit 
gaulois und vergass sich so weit, diese reizende Volkstüm- 
lichkeit als hohe Dichtung anzupreisen, obschon ein Ver- 
gleich mit den beiden anderen Volksdichtern Bums und 
Petöfi seine Eleinheit deutlich macht. Aber da kam ein 
eleganter Boulevardier, ein blasierter und früh verlotterter 
Salonmensch, der sich selbst zu frühem Ende verwüstete. 
Mit dreiundzwanzig Jahren schuf er das Meisterwerk fran- 
zösischer Poesie „Rolla'' und die letzten dreizehn Jahre 



— 254 — 

seines kurzen Lebens — er starb als Fünfziger — hörte 
man nichts weiter 7on ihm, als dass er immer noch Laudanum, 
Absynth, Opiam und Alkohol huldige und von George 
Sands Untreue phantasiere. Ein klägliches Schauspiel 
mimosenhafter Schwäche, wo ein Ewiges und Orosses an 
krankhafter Neigung für brutale Zeitlichkeit eines dämo- 
nischen Weibes zu Orunde geht. Möglich, dass Mussets 
Version seines Liebesverhältnisses mit der Vertreterin einer 
Freien Liebe, deren Theorie bei George Sand aus praktischer 
Begierde keimte, auf Wahrheit beruht Möglich, dass George 
Sand Entschuldigungen hatte. „Lui et Elle'^ „Elle et Lul^\ diese 
widerliche Alkoven-Polemik lässt jedenfalls bestehen, dass 
dem genialen Menschen Musset das Rückgrat fehlte. Eine Art 
sittlicher und geistiger Rückenmarkschwindsucht siechte in 
ihm dahin, aber er mochte Recht haben, dass dies nur eine 
Maladie du Siöde sei, die in seinem überfeinen verzärtelten 
Nervensystem ihre pathologische Krise erreichte. 

Ursprünglich noch reicher beanlagt als seine unter sich 
so verschiedenen, doch ihm gleichmässig verwandten Ge- 
nossen Heine und Lenau, mit denen er auch die Selbst- 
zersetzung der Romantik literarhistorisch gemein hat, litt er 
als Mensch weit ärger Schiffbruch als jene. Lenau wehrte 
sich wie ein Mann gegen den Wahnsinn, Heine trug mit 
skeptischer Stoa sein Elend. Musset, wollüstig in blosse 
Seelenschmerzen eingewühlt, brach darunter zusammen wie 
ein greinendes Muttersöhnchen. Denn das Genie kann sich 
im Leben nur behaupten, wenn es sich selbst zum Herois- 
mus erzieht Heroisch waren aber in Musset nur einzelne 
Adlerflüge, wo er sein Ich-Leid über sich selbst erhob und 
Byrons echten Weltschmerz nachempfand, alles Übrige blieb 
in sinnlich frivoler Salonbummelei stecken. Deshalb konnten 
wir ihm nicht als einem Jahrhundertvertreter besondere Be- 
achtung schenken, weil das Ewige in ihm ausserhalb des 
Jahrhunderts steht, die superkluge Eigenart unsres Zeitalters 
aber bei anderen viel schärfer zum Ausdruck kam. Sein 
„Bekenntnis eines Kindes des Jahrhunderts^^ blieb notwendig 
ein blosses geistvolles Fragment, weil ihm die Kraft gebrach, 
sein Seelengeständnis wirklich zu einem typischen zu er- 
weitern, wie nicht nur im Werther, sondern auch im Ren6 



— 255 — 

es gelang. Wo man Heine hat, braucht man sich nicht mehr 
um Musset zu kümmern, da das Charakterologiscbe der Zeit 
im ersteren so ungleich mächtiger sich auslebt. In der 
liebevollen Bmderbiographie von Faul de Musset entrollt 
sich ein blosses dürftiges Literaturleben, ohne Beziehung zu 
sozialen und politischen Fragen. Als er sich einmal als 
Chauvin versuchte, in der Antwort auf Beckers banales 
Rheinlied, verfiel er in nicht minder kindischen Ton und 
höchstens seine prachtvollen Strophen „Zur Oeburt des 
Grafen von Bordeaux^^ greifen tiefer ins Mark des Zeit- 
historischen. Im allgemeinen verfing er sich stofflich im 
engen Gebiet auschliesslicher Herzenskonflikte, oft mit 
scheinbar bedenklicher Hinneigung zum Frivolen, was je- 
doch dem Tieferblickepden nirgends einen edeln schmerz- 
lichen Ernst verhüllt. Nur einmal wagte er sich ins 
Historische und so überlegen zeigte sich auch hier seine 
Genialität, dass er in Hugos äusserlicher Stoffdomäne .des 
Renaissancedramas ihn schimpflich aus dem Felde schlug. 

Nirgends theatralisch, mit souverainer Gleichgültigkeit 
der Bühnentechnik spottend in meist Grabbe-artig zerhackten 
Szenen, weshalb Sarah Bernhardts Yirtuosenlüsternheit sich 
durch neuerliches Aufführungsexperiment an Mussets Manen 
nur versündigt, bleibt „Lorenzaccio^^ gleichwohl das einzige 
geniale und wirklich dichterische Drama der französischen 
Literatur, gleich meisterhaft in subtiler Charakteristik wie in 
echtem Renaissancekolorit, neben „Rolla^^ das Werk, in dem 
Musset sich selber und sein Seelengeheimnis aufgedeckt. 
Übrigens hinterliess er den Torso einer historischen Vers- 
tragödie „Fredegonde", von der man Grosses erwarten durfte. 

Dies Historische hätte man ihm am wenigsten zugetraut, 
echte Genialität zeigt sich eben stets als eins und un- 
teilbar, universal, fremd jedem Spezialismus, jeder Manier, 
wie unser Epigonenjahrhundert es wünscht und liebt. Der 
graziöse feine und schlichte Musset der Erzählungen und 
Komödien (Proverbes) scheint ein ganz anderer, als der ge- 
waltig Ergreifende seiner wundervollen Lyrik, in welcher 
wiederum die wilden Sinnlichkeitsaffekte der Jugend („Avez- 
vous vu dans Barcelone une Andalouse an sein bruni^^ oder 
die kleinen Versepen und Versmelodramen) und jovialen 



— 256 — 

Heiterkeiten (Baliade ä la Lune, Voyage en Italie, La mie 
Prigioni) von der tiefinnigen Innerlichkeit und erhabenen 
Gefühlsreinheit der „Dezembernächte", „Hoffnung in Gott" 
„Brief an Lamartine " „Stanzen an die Malibran" u. s. w. ab- 
stechen. Ja wahrhaftig, was ein Naseweiser über Byron 
phrasierte: „C'est du g6nie mal log6," hier stimmt es wirk- 
lich. Man ärgert sich, ihn in solchem menschlichen Gehäuse 
eines sentimentalen Boulevardiers zu trefTen, aber man muss 
den Hut bis auf die Erde ziehen vor dem apollinischen 
Sänger. Mit wundersamem künstlerischen Takt begabt, schuf 
Musset überall etwas Rundes, Fertiges, in sich Vollkommenes: 
wohin er seine weiche Hand tändelnd legte, formte sich der 
Stoff wie Wachs. Das Tändeln haftete zwar nur auf der 
Oberfläche seines Parisertums, darunter fand er stets das 
schwermütig Elegische. „Man tändelt nicht mit der Liebe^^ 
(On ne badine pas avec Tamour) heisst der Titel seines 
feinsten Proverbe. Erst durch ihn gewann das gallische 
Idiom Ausdruck für intimste Gemütsregungen und Idealität 
der Leidenschaft Der so unermesslich überlegenen Poesie 
der Germanen hat Frankreich nur zwei Dinge gegenüber- 
zustellen: „RoUa" und die unvergleichliche Elegie ,,Souvenir". 
Doch das sind Dinge, sofern man sich vom beschränkten 
Rassegeschmack losmachen und das klassizistisch-rhetorische 
Wesen der französischen Verssprache als berechtigte Eigen- 
tümlichkeit hinnehmen mag, die unter den obersten Erzeug- 
nissen der Poesie ihren Rang behaupten, nur kulminierende 
Hauptwerke der Weltdichter ausgenommen. 

Dieser nationalste Vertreter des gallischen Geistes, in dem 
sich feinste Eigenart des Franzosentums auslebte, hat keine 
Schule gemacht. Nur eine Seite seines Wesens führte der 
schneidigeMaupassant weiter. Weil dieser grobkörnig bis zur 
Unflätigkeit sein konnte und seinem naiven Pessimismus ent- 
täuschter Sinnlichkeit die Fabrikmarke „hochmodern" aufklebte, 
eroberte er natürlich einen Ruhm im Leben, wie der arme 
Musset ihn nie gekannt Maupassants Kraft, die in Romanen wie 
„Une vie", „Mont Oriol," „Notre coeur" es auch nicht weiter 
als bis zur erotischen Episode und Genremalerei mit allerlei 
Stilleben bringt oder in „Bel-ami" ihr Erlöschen in unheil- 
barer Schwermut vorausahnt, errang freilich in vielen Skizzen 



— 257 — 

(„Miss Harriet," „Haus Taillier") technische Meisterschaft 
Das Genre selbst aber, die Melancholie der Erotik, ist 
Musset entlehnt. 

Freilich einerseits mit einem Zusatz Rabelaisschen 
Humors („Boule de suif. „Les soeurs Rinaldi" u. a.) und 
andrerseits einer unheimlichen Einbohrung in die Natur, 
die ihm bald als schreckhafte Sphinx bald als furchtbare 
Cybele das decadente Nervensystem durchzittert. („Sur 
Teau" „Une partie de carapagne'*, „ün soir"). Solche Roheit 
und solche Feinheit des Überraffinements, mit welchen die 
Krankheit des Jahrhunderts in ein neues gefährliches Stadium 
trat, blieben freilich Musset fremd, der in höherer lichterer 
Region weilte. Wie viel Pathologisches in dieser geschlecht- 
lichen Auffassung von Natur und Leben schlummerte, lehrte 
Maupassants trauriges Schicksal, der aus Illusionslosigkeit 
immer rapider ins Halluzinative hinabglitt („La horla^^ „Un 
fou" u. a.) Dieser Maupassant kurz vor der Katastrophe, 
dessen mystisches Leid „stark wie der Tod" (sein bestes 
Buch), ist aber nicht der satirische Misantrop und Genüssling 
seines Hauptschaffens, das ihm so viele Freunde gewann. 
Hier alles ins Thierische hinabgezogen, Cochonnerie bis zur 
Langweiligkeit so dass man eigentlich nur unreife Jünglinge, 
überreife Yetteln und zahnlose Rou6s für passionierte Leser 
eines Autors halten kann, der seine unleugbar gross- 
dichterische Anlage verzettelt und vergeudet und seine 
Schmutzereien mit der Inbrunst eines Handlungsreisenden 
an der Table d'hote vorträgt, der nach Tische als Schwere- 
nöter seine elegante Weltkenntnis dekouvriert In seiner 
Studie über Flaubert, worin der in Wahnsinn endende 
robuste Neurastheniker aus der Normandie landsmannschaft- 
lich den robusten Epileptiker aus Ronen einbalsamiert, findet 
gleichwohl Maupassant den Mut zu folgenden Scherzen: 

„Musset, dieser grosse Poet, war kein Künstler. Die Menge 
findet in Musset die Befriedigung all ihres poetischen groben 
Appetits, ohne die Extase zu begreifen, in die uns gewisse 
Stücke von Baudelaire, V. Hugo, Leconte de Lisle versetzen." 
Die Menge? Es ist unwahr, dass Musset je populär wurde. 
Wo ragt sein Denkmal in Paris, das dem grossen Hugo, 
dessen Begräbnis sich zur Nationalfeier gestaltete, wie einer 

Bleibtrea: Die Vertreter des Jidirhiuderts. 17 



— 258 — 

antiken Gottheit huldigte, das jeder literarischen Gelebrität 
bis zum öden St. Beuve herunter Standbilder weihte? 
Musset kein Künstler! Bis zu welcher Verdrehtheit wird 
sich der Jargon des Tart pour Tart noch versteigen? 
Musset sagt bloss charmante Sachen in einer leichten ver- 
führerischen Sprache, die Jeden kalt lässt, der sich nach 
höherer vergeistigter Schönheit sehnt? Sind das schon 
Schatten des Wahnsinns, dem dieser unreife Jouisseur und 
katzenjämmerliche Pessimystiker zutrieb, dessen angebliche 
naturalistische Gesundheit alle grünen Jungen mit schmalzigem 
Zungenschnalzen einschlürfen? Es genügt zu bemerken, dass 
Mussets Torso der „Confessions d' un Enfant du Siöcle'^ als 
seine Gestaltungskraft dazu nicht ausreichte, wenigstens 
jenes stilistische Meisterstück hervorbrachte, das fast zu 
einem householdword geworden ist: jene berühmte Kenn- 
zeichnung der zwischen Napoleons Trommelwirbeln geborenen 
Generation. Überall also sehen wir Mussets Genialität als 
Künstler und Sprachmeister selbst dort noch ungeschwächt, 
wo der Dichter nicht mehr hinaufreichte. Wahrlich, Musset 
blieb ein Torso, wie seine „Konfession^\ aber ein marmor- 
schöner Torso wie eine verstümmelte Gestalt des Pergamon- 
frieses, wo man das Fehlende kaum noch bedauert und 
sogar im Fragmentarisch-Trümmerhaften einen neuen be- 
sonderen Reiz entdeckt Die obscönen Ansichtskarten ,nur 
für Herren^ welch Maupassant als Dichtertaten zirkulieren 
Hess, die Ghambre separ6e von Nuditäten, die er für 
Naturalismus ausgab, als ob das Wörtchen „Merde^' die 
ganze Schlacht von Waterloo bedeute, waren wohl ,künst- 
lerischerM ,Intimer^ waren sie gewiss! 

Und wie belohnte das literaturbildungsstolze Frankreich 
seinen einzigen Dichter? Als Musset vierzig Jahr alt war, 
erhielt er von der Akademie den Preis zur Ermutigung 
junger Anfänger, und als er, ein Wrack, am Ende in die 
Akademie aufgenommen ward, warben seine Freunde Stimmen 
mit der Begründung, dass er zwar ein schlechter Poet, aber 
ein guter Mensch sei, der getröstet werden müsse. Um 
diesen Preis verzieh man ihm sein Genie und der unerträg- 
liche Kritikpabst St. Beuve, der ihn sein Lebenlang tot- 
schwieg, schrieb nach Mussets Tod Worte der Anerkennung! 



- 259 — 

Der grosse Mann der Epoche aber, nicht nur als 
Literat, sondern wie Lamartine als historische Persönlich- 
keit, hiess Victor Hugo. 

Dieser Historienmaler und Freskomaler, im Styl von 
Delaroche und nicht von Michel Angelo, tronte als Pontifex 
Maximus. Nach Errichtung der dritten Republik tat man 
geradezu, als ob der grosse Hugo in eigener Person den 
kleinen Louis verjagt habe. Bei so unbestrittener Legitimität 
der Dynastie Hugo konnte der „erhabene Qreis" sogar den 
Gemütlichen herauskehren. „Je Tai trouv6 charmant! Pas 
du tout grand homme!" staunt Flaubert (Briefwechsel mit 
6. Sand, 1872). Ehrlich gestanden, missfällt Hugo uns am 
meisten, wenn er aus seiner Rolle fällt und die heroische Pose 
durch sentimentale Gemütstöne ersetzt, wie in „Pauvres 
Gens", wo er die Mutterherzen anbiedert: „0 möre! Tu dis: 
S'ils etaient grands! Leur pöre est seul . . Chimöre! Plus 
tard, quand ils seront pr^ du pöre et partis, tu diras en 
pleurant: Oh, s'ils ötaientpetits!", oder melancholische Liebes- 
seufzer ausstösst: „Si vous n'avez rien ä me dire, pourquoi 
venir auprös de moi?" In den „Herbstblättern" ergreift frei- 
lich manchmal eine echte Herbststimmung absterbender 
Resignation mit naturwahren Lauten und schon der „Tristesse 
d'Olympio" lag eine düstere Weihe aufgedrückt Doch in 
der „Legende des Siöcles" würde man den Erhabenheitston 
gerne missen für schlichte Prosa der historischen Tatsachen. 

Frankreich war jedoch andrer Meinung, und wenn Musset 
sang: „Nous, vieillards n6s d'hier, qui nous rajeunira?'^ 
so hatte Hugo nichts Eiligeres zu tun, als sich auf die 
Heldenbrust zu klopfen: Ich. 

Kein Wunder, da dieser Schutzgeist Frankreichs sogar 
bei der Vorsehung angestellt war. Er stand mit Gott auf 
dem Duzfuss. Beschränken wir uns auf eine beliebige Stich- 
probe, sein abschliessendes letztes Wort über Waterloo, 
gegen das es keine Berufung mehr gibt, denn Hugo ist das 
Sprachrohr der Allseele. „War möglich, dass Napoleon die 
Schlacht gewann? Nein. Warum? Wegen Blücher, wegen 
Wellington? Nein. Wegen Gott. . . Das Übergewicht dieses 
Menschen im menschlichen Schicksal störte das Gleich- 
gewicht. Dies Individuum zählte allein mehr als das 

17* 



— 260 — 

Universum. . . Er genierte Oott Waterloo ist keine Schlacht, 
sondern ein Frontwechsel des Universums/' Bum! Nun 
wissen wirs. Früher sang er „Lui, partout Lui" von Napo- 
leon, aber nun nahm Er selbst dessen Stelle ein. Sich, 
überall Sich sah er im Universum, dessen Gesetze er 
orphisch besang und als Epopö eines andern Victor Hugo 
auffasste, den man Gott zu nennen pflegt Dass die ge- 
liebte Menschheit ihm Altäre bauen und alle möglichen 
Opfer bringen musste, verstand sich von selber. Er ruinierte 
mehrere Verleger, starb aber selbst als mehrfacher Millionär. 
Alle Parteien machte er wechselnd durch, vom Ultraroyalisten 
bis zum Jakobiner, aber hier machte er halt, denn „Kom- 
munist wird der nie!" spöttelten seine Gegner. Dieser 
blutige Spott, dem sich noch mancher andere gesellte, 
brachte niemals sein selbsterrichtetes und von der Nation 
fromm gehütetes Postament ins Wanken. Das spottsüch- 
tigste, zu boshafter Medisance nur zu geneigte, Volk liess 
sich eine Pseudogrösse gefallen, die so viele Blossen der 
Lächerlichkeit gab. O'est le ridicule qui tue? Ihn hat es 
nie getötet Nachdem er das Publikum mit Liebe und 
Liebesgedichten für seine Frau gefüttert, dachte er: es ist 
nicht gut, dass die Frau allein sei, ich will ihr eine Ge- 
hülfin schaffen. Die Schauspielerin Drouet lud er in sein 
eigenes Haus und siehe da, es war sehr gut Einem solchen 
Jehova muss ein demütiges Eheweib sich opfern und die 
Wirtschaft zu dreien des neuen Grafen von Gleichen ward 
bald sehr chic und gradezu sublim befunden. Als man ihm 
ein öffentliches Bankett in Brüssel gab, wobei Madame Hugo 
und die Maitresse zur Rechten und zur Linken des Halb- 
gotts Sassen, schmetterte er als einzige Antwort auf Yer- 
götterungsansprache den Toast: „Ich trinke aufs Wohl von 
Fräulein Drouet, der einzigen Person nächst Mir 
selber, die den Victor Hugo verstand"!! Ein solcher 
Gipfel von Arroganz verblüfft freilich durch seine Ungeheuer- 
lichkeit, benimmt die Lust zum Lachen und betäubt förm- 
lich wie ein Eeulenschlag den Ochsen Für welche Ochsen 
muss er uns halten, uns solches zuzumuten! Ahnt man 
jetzt, warum wir Louis den Kleinen und Hugo den Grossen 
zusammenkoppeln? Zeigen nicht beide das nämliche 



— 261 - 

Symptom der Besessenheit mit fixer Idee, eines Grössenwahns 
angeblicher apostolischer und weltgeschichtlicher Mission, 
der nicht mal das Gewicht der allzuschweren Aufgabe spürt 
und sich mit gespreizten Beinen wie St. Christof hinstellt, 
um das Jesuskind zu tragen, ohne zu merken, dass er 
längst mit gekrümmtem Rücken niedergewuchtet wird? 
Wohl begreifen wir aber auch, warum Frankreich sich in 
seinem Hugo selbst beschmeichelte: weil er der typische 
Vertreter eines ewig in Extremen schwankenden und nur 
im Grössenwahn sich treubleibenden Jahrhunderts gewesen ist. 
Die Weide, welche er in gleichnamiger Elegie auf sein 
Grab gepflanzt wünschte, flüstert über Mussets Leiche am 
Pdre Lachaise die unsterblichen Verse: „J'ai vu sous le 
soleil tomber bien d'autres choses que les feuilles des bois 
et r^cume des eaux^^ und die Ewigkeit haucht ihr jüngstes 
Gericht über die flüchtigen Grössen der Zeit, tröstet ihre 
wahren Kinder: „Ton äme est Immortelle et va s'en souyenir.^^ 



-^^i^- 



Brossjnden jenseits babylonisclier Befimgenseliaft: 
Disraeli ßambetta, Lassalle. 

Wer einen einzelnen Juden beurteilt, hat sich vot 
manchem Fallstrick für und wider zu hüten, den einerseits 
Juden und Philosemiten, andrerseits Antisemiten bereit 
halten. Er hat sich eine Reihe von Grundsätzen zu yer- 
gegenwärtigen, wenn er Gerechtigkeit üben will. Der Arier 
hegt zuvörderst eine oft sogar physische Abneigung gegen 
den Juden, die zugleich aufs Moralische abfärbt Entstammt 
sie bloss brutaler Verachtung des muskelstarken und in naiv- 
atavistischen Begrifien persönlicher Tapferkeit erzogenen 
Nordländers gegen den schwächlichen und (angeblich) feigen 
Orientalen? Ward sie genährt durch religiösen Aberglauben? 

Ja, beides muss.bejaht werden. Der Hass gegen die Juden, 
während.[der Muselmann sie nur verachtet, bei den christ- 
lichen Kulturvölkern stärkte sich jedoch durch eine besondere 
psychologische Konstellation. Nichts nämlich kann so er- 
bittern, als wenn Menschen, die man unter sich sieht und 
herablassend behandeln möchte, bei äusserer Kriecherei und 
Demut durchblicken lassen, dass gerade sie sich innerlich 
uns überlegen erachten. Nur mangelndes Feingefühl und 
äussere Herrschaftsverhältnisse täuschen den Europäer da- 
rüber, dass der Inder und Chinese gleichfalls unter demütigem 
Wesen dies Überlegenheitsgefühl versteckt Wo der Chinese 
als Konkurrent des Weissen auftritt, wie in Nordamerika, 
kommt auch hier der Rassenhass zum Vorschein und trifR; 
den Ghinaman gerade so gut, wie den Neger. Allein, jene 
Konkurrenz tritt nur episodisch auf und zwar nur in den 
untersten Schichten, kann auch jederzeit eingedämmt werden. 



— 263 — 

Bei den Juden liegt die Sache ganz anders. Ohne ihre 
frühere Heimat als Bückhalt zu bewahren, filzten sie sich 
überall im Erdball ein, in jeder Bitze, die offen steht und 
betrieben schon seit zweitausend Jahren eine Konkurrenz auf 
wirtschaftlichem, später aber auf jedem nur denkbarem Gebiet. 
Der Jude konkurrierte nicht wie der chinesische Kuli mit 
dem arischen Arbeiter, sondern behielt sich das Gebiet des 
Zwischenhandels vor, um von dort zu Wucher und Bank- 
wesen (seit es in Florenz, Mailand, Venedig begründet) und 
zu allgemeiner Plutokratie fortzuschreiten. Schon im Mittel- 
alter sammelte sich mobiler Beichtum so erstaunlich schnell 
in jüdischen EUinden, dass es dem Nachdenken unbegreiflich 
bleibt, in Anbetracht der primitiven damaligen Geldverhält- 
nisse, falls die Juden nicht aus ihrer einstigen palästinensischen 
Herrlichkeit noch erhebliche Kapitalien ins Bömerreich und 
von da auch in die germanischen Beiche hinübergerettet 
haben. Genug, zu Widerwillen und Verachtung gesellte 
sich der pekuniäre Neid und die Judenverfolgungen boten 
meist nur Anlass zur Plünderung, besonders seitens der 
regierenden Herren, wobei das religiöse Vorurteil als Vor- 
wand diente. 

Allgemein hiess es, der Jude sei ein Blutsauger am 
Mark des Volkes und erst aus diesem tatsächlichen Bitual- 
raub ging die Vorstellung des Bitualmords hervor, die 
freilich schon aus alten Zeiten stammt und von den Bömern 
(auf Anstiften der Juden selber, wie man sagt, die sich z. B. 
hinter Neros Poppäa steckten und sie zum Jehovakult bekehrt 
haben sollen) den Christen zugeschoben wurde. Wenn man 
übrigens den Beligionshass der Christen gegen die Juden 
bloss auf Christi Kreuzigung zurückführt, so liegt hier noch 
eine umfangreichere atavistische Erinnerung im Blute, da 
die Juden stets ihr redlich Teil an den Christenverfolgungen 
der Bömer hatten und hinter den Kulissen unablässig gegen 
das Urchristentum hetzten, das allerdings ihrem kapitalistischen 
Mammonskult, ebenso wie dem römischen Herrenrecht, ein 
Dom im Auge sein musste. Jedenfalls steht fest, dass 
Beligions- und Bassenhass sich hier durch reinmenschliche 
Antipathie nährten: Warum sollten unchristliche Blutsauger 
nicht auch Blutmörder sein? folgerte das naive Volk, Der 



— 264 — 

Jude schien das Prototyp feiger Hinterlist. Hätte dies nicht 
mitgesprochen, so würde im religiösen Aberglauben weit 
stärker ein gleichzeitig mit ihm verschmolzenes Fietätsgefühl 
für das angeblich „auserwählte Volk" gewirkt haben. Aus 
dieser Scheu vor dem „alten Bund" und dem „Messias vom 
Stamme David'' schützte die katholische Kirche die Hebräer 
im Ghetto, behielt überhaupt bis heut ein unbewusstes Zu- 
sammengehörigkeitsgefühl, als ob mit dem Alten Testament 
auch Pabsttum und Kirche stehen und fallen. Wenn die 
wotansgläubigen Allheilbrüder der Deutschvölkischen das 
Christentum ohne weiteres mit dem Judentum in einen Topf 
werfen, so lehrt solch trauriger Irrtum nur, wie unkenntlich 
die Kirche das Idealbild des gewaltigen Seelenbefreiers von 
Nazareth entstellte, der schwerlich selber Jude, jedenfalls ein 
Todfeind alles Jüdischen war, freilich auch in dem Sinne, 
dass er Feind jedes Pharisäertums, ob jüdisch oder arisch, ob 
mosaisch oder christlich, gewesen ist. Wenn aber ein Ultra- 
klerikaler, wie Leroy-Beaulieu (Freund Leos XIII.) seine 
Apologetik des Judentums „Israel chez les nations" (1893) 
losliess, so folgte er einem logischen Instinkt und warnte 
den jüdischen Liberalismus mit Recht, dass er mit seiner 
Untergrabung der Klerisei den verwandten Ast absäge, auf 
dem er sitze. Wer den Katholizismus als eine Wohltat der 
Völker ansieht, was fürs Mittelalter auch ohne Frage zutrifft, 
der muss hiermit zugleich die jüdische Theokratie und alles 
jüdische Wesen zelotischer Herrschsucht und Intoleranz, so- 
wie im internationalen Jesuitismus die gleiche zähe unbeug- 
same, obschon im Dunklen schleichende, Gewalt bewundem. 
Ihm gleicht jener internationale Judaismus, der heimlich 
und offen unter der Maske von Knechtschaft und Idealismus 
die Weltherrschaft und den Sieg des jüdisch-plutokratischen 
Materialismus anstrebt 

Sobald es an die Judenfrage herangeht, pflegt der ge- 
bildete Mitteleuropäer sich seitwärts zu drücken. Nur geistig 
minder Bemittelte bleiben auf der Tenne und heulen mit 
Dreschflegeln und Flegeleien sich gegenseitig an: „Schlagt 
ihn tot, den Hund, er ist Antisemit!" „Tut nichts, der Jude 
wird verbrannt!" Houston Stewart Chamberlain ver- 
schmäht es zwar in seinen ,Grundlagen des 1 9. Jahrhunderts' 



- 265 — 

den blamierten Europäer herauszukehren und den toten Mann 
zu simulieren^ wie so viele andere, die sich tot stellen, so- 
bald man die Judenfrage anschneidet. Doch auch Ghamber- 
lain wendet sich scheu ab, sobald die Sache ernst wird, und 
verheimlicht geflissentlich die antisemitische Fachliteratur, 
als ob es sich dabei um lauter Hetzer und Radaubrüder 
handle. Den Pöbelantisemitismus wird jeder anständige 
Mensch von sich abweisen, ihn um so weniger begünstigen, 
als fast durchweg konservative und klerikale Interessen sich 
dahinter verstecken, wo nicht gar roh atavistische Rück- 
fälligkeiten zum Hepphepp anreizen. So lange die Juden- 
frage mit irgendwelchen kirchlichen Stöckereien und 
Muckereien oder junkerlichen Fücklereien sich vermengt, 
wird das Judentum sogar Schützer unter seinen natürlichen 
Gegnern finden. 

Erst der grosse Pourtalös, Napoleons juristischer Beirat, 
stellte die wahre Judenfrage auf ihre Füsse, indem er sein 
berühmtes — allerdings sehr judenfeindliches — Memoire 
an den Kaiser damit begann: „Man begehe den fundamen- 
talen Irrtum, das Judentum für eine Sekte zu halten, es sei 
vielmehr eine in sich abgeschlossene und allen andern 
Rassen feindliche Nation.^' Das Grosse Jahrhundert hatte 
auch hierin Licht zu schaffen gesucht. Denn Joh. Andreas 
Eisenmengers „Entdecktes Judentum^^ ward auf Staatskosten 
in Preussen gedruckt, nachdem jener gelehrte Orientalist 
Vermögen und Leben (f 1704) für sein "Werk geopfert und 
alle Bestechungsversuche abgelehnt, Kaiser Leopold I. jedoch 
auf Drängen der Juden es konfisziert hatte. Es soll seit 
1787 beim Kammergericht zu Berlin ein Dokument deponiert 
sein: „Die von Eisenmenger aus klassischen jüdischen 
Schriftstellern gelieferten Auszüge sind mit einer Treue ge- 
liefert und übersetzt, die jede Probe aushält.^' Ein Jahr- 
hundert später verschwand auch Professor Rohlings deutsch 
geschriebener „Talmud jude^^ geheimnisvoll aus dem Buch- 
handel, ward jedoch von Karl Paasch aus dem Französischen 
zurückübersetzt, dem verdienstvollen Verfasser von „Eine 
jüdischdeutsche Gesandschaft und ihre Helfer^^, worin wir 
den wahren Keim und Ursprung der späteren Gesandten- 
ermordung in Peking und der deutschen Hunnenfahrt 



- 266 — 

entdecken. Der internationale jüdische Kapitalismus ist halt 
überall der wahre Weltmarschall und Feldmarschall, woYon 
auch die Buren ein Lied zu singen wissen. 

Als reine Rassenfrage hat Chamberlain das Jüdische 
behandelt, ohne auf Talmudmoral und Schulchan Aruch ein- 
zugehen, und wenigstens den Ausweis der ofPenliegenden 
Historie sowie das Alte Testament energisch vor Augen ge- 
rückt Er erklärt den Anspruch des „auserwählten Volkes^' 
auf besondere Religiosität für Fälschung, da den phantasie- 
losen, jeder gemütvollen Herzenstiefe ermangelnden Juden 
jener religiöse Trieb, den Kern der Natur im eigenen Innern 
zu suchen, völlig fehle. Vielmehr seien sie infolge ihres an- 
geborenen Materialismus die einzigen wirklichen Götzen- 
anbeter gewesen, so dass nicht mal die Münzen Köpfe haben 
durften, um Verführung zum Anbeten des Metalls nicht 
nahezulegen. 

Das stimmt. Ihre Messiashof&iung, reinweltlich, sym- 
bolisierte gleichsam nur ihre Macht- und Goldgier und bildet 
hiermit eine Gefahr für alle anderen Völker, wie schon 
Giordano Bruno, Goethe, Herder, Friedrich d. Gr., Luther, 
Voltaire, Robespiere, Napoleon erkannten. Hätte Chamber- 
lain Drumonts „La FrauQO Juive^' zu Rate gezogen und die 
scharfen Konventsgesetze gegen den Wucher im Elsass so- 
wie Napoleons Verhältnis zum Sanhedrin gekannt, so würde 
ihm dies manches wertvolle Material zugeführt haben. Dass 
Jesus ein Vollender des „alten Bundes^^ sei, läuft natürlich 
auf infame Fälschung hinaus, welche das Judenchristentum 
des ungebildeten Zeloten Petrus verewigte und das Hohe- 
priestertum nebst allen Übeln der Theokratie im römischen 
Pabsttum wieder einsetzte. Ob der Galiläer der Rasse nach 
„Jude^^ war, was Chamberlain heftig verneint, wäre auch 
ohne Belang, da sein ganzes Sinnen und Denken schroffete 
Verneinung des Jüdischen bedeutet Den naheliegenden 
Hinweis auf Vernichtung einer drohenden semitischen Welt- 
herrschaft, welche Karthagos und der so nahe juden- 
verwandten Phöniker Finanzmonopol heraufführte, durch das 
arische Rom zieht Chamberlain mit Kraft: Dem Cartha- 
ginem esse delendam müsse ein Delenda est B[ierosolyma 
folgen. Dass die Arier den semitischen Bann eines Religions- 



— 267 — 

monopols bracbeD, möchten wir jedoch nicht unterschreiben. 
Das hierarchische Christentum, dem Jesustum entrückt, 
nahm so viel Jüdisches in sich auf, dass die gesamte arische 
Entwickelung dadurch ein schleichendes Gift erhielt. Doch 
lag so viel Heroisches und Buddhistisches deuüicb in Leben, 
Leiden und Lehre Jesu, dass der naive Volkssinn und die 
ehrliche Auffassung vieler katholischer Priester, zu denen 
wir auch den grossen Gregor YIL zählen, trotzdem einen 
arischen Idealismus in der Lebensführung ganz in Jesu 
Geiste beibehielt Dass übrigens bei einzelnen Juden starkes 
religiöses Empfinden auflodert, etwa im Geiste des Buch 
Hieb, ändert nichts an obigem Urteil. Der einzelne anstän- 
dige Jude ist nicht verantwortlich für das Judentum als ab- 
geschlossenen Typ. 

„Du wirst alle Völker fressen, die der Herr dein Gott 
dir geben wird^', heisst es so schön 5. Buch Mose 7. 16. 
Dies 5. Buch soll angeblich 622 v. Chr. bei Tempelemeuerung 
gefunden worden sein, es ward aber erst damals verfasst, 
um die Theokratie neu zu begründen. Hesekiel brachte 
sodann im babylonischen Exil den fanatischen Glaubenshass 
gegen alle Feinde Israels zur vollen Reife und diese In- 
toleranz in Verfolgung Andersgläubiger impfte sich später 
der katholischen Kirche ein, deren Inquisition dem alten 
Jehova des Zornes und der Rache opferte. 

„Der Mensch ist Herr auch über den Sabbat!'^ Dies 
gewaltige, für unendliche symbolische Beziehungen frucht- 
bare, Jesuswort bedeutet die stolzeste Emanzipation des 
Menschengeistes, die je ein Mund gesprochen, und weder 
Moses noch Muhamed wären solcher echten Herrenmoral 
fähig. Das lässt freilich auf arische Herkunft schliessen, 
wie denn Altes Testament, Talmud und Koran den semi- 
tischen Religionsbegriff als radikal verschieden vom indo- 
germanischen (Veden, Buddha, Zoroaster, Jesus) belegen. 

Bei unsrer persönlichen Auffassung der Inkamationslehre 
kommt es übrigens auf „Rasse^^ hoher Genien wenig an, da 
diese devachanischen Sendlinge sich ganz nach Belieben ihr 
Milieu setzen. Dass auch Moses ein Egypter gewesen sei, 
wie ein Ingenieur Born in einer anregenden Schrift nach- 
zuweisen suchte und wofür ja der biblische Bericht selber 



— 268 — 

Anhalt gibt, scheint uns insofern zweifelhaft, als seine zehn 
Gebote meist einen ausgesprochen jüdischen Zug verraten 
wie das: „damit dirs wohl gehe und du lange lebest auf 
Erden^^, was sogar dem natürlichsten aller Gebote angefügt 
wird. Freilich klingt „du sollst dir kein Bildnis noch irgend 
ein Gleichnis machen^\ „du sollst den Namen Gottes nicht 
unnützlich brauchen^' umgekehrt nach egyptischer Geheim- 
lehre, und die Mär von der Errichtung der eisernen 
Schlange gegen die Fest hat einen Anflug von okkulter 
„Magie", wie auch die „Plagen" gegen die Pharaonen. Die 
famose Bibel- und Babel- Entdeckung kann sich überhaupt 
nur auf das 1. Buch Mose beziehen. Es kamen aber offen- 
bar noch andre fremde Elemente hinzu und bleibt als Er- 
gebnis, dass auch in seinen Beligionsbüchern das Judentum 
völlig eklektisch von Fremdem zehrt und seine Ohnmacht 
für jede geistige Originalleistung bekundet, da nur sein 
Nomadentalent für Ausbeutung andrer Völker ihm eigen- 
tümlich angehört. Rohling fasst daher in einer geistvollen 
Abhandlung das Eindringen des Semitentums als eine Razzia 
auf, wie etwa Beduinen und Tuaregs sie noch heute veran- 
stalten. So sehr dies aber auf alle Eroberungszüge des 
arabischen Islam bis zum modernen Mahdi passt, wird man 
doch nicht verkennen, dass der Ausdruck „Antisemit" eine 
starke Sinnverfälschung enthält und danach aussieht, als ob 
er von einem Juden selber erfunden wäre, um den „Anti- 
juden" ein Stigma allgemeinsten Rassenhasses aufzuprägen. 
Der Araber, ritterlich, poetisch, phantasie- und gemütvoll, 
hasst den Juden noch mehr als den Giaur, wie die Vorgänge 
in Algier dartun, und es wäre eine Beschimpfung dieses 
grossen Kulturvolkes, seine unsterblichen Verdienste in 
Wissenschaft und künstlerischer Zivilisation mit dem jüdisch- 
karthagisch-phönikischen Erämerpack in Parallele zu setzen. 
Dass freilich auch letzteres in hoher egoistischer Rassen- 
erregung zur Behauptung des Stammeshochmuts ein finstres 
Heldentum erzeugen konnte, dafür ragen ja im Tempel der 
Geschichte die Gestalten der Makkabäer und des Hannibal; 
Dies warnt uns, das Eind mit dem Bade auszuschütten, und 
rundweg den Palästinensern jede ideale Anlage abzu- 
sprechen, d. h. dies sonst absolut richtige Urteil gleich auf 



— 269 — 

jedes EiDzelindividuum auszudehnen. Im Gegenteil tröstet 
es zu bemerken, dass selbst diese zu krassem Materialismus 
geborene Rasse des Idealen nicht ganz entbehren kann. 
Wie Jesaias oder einige jüdische Dichter des Mittelalters, so 
bekundet auch Heine ein starkes Gemütsleben und der 
schon in mosaischer Gesetzgebung erkennbare sozialistische 
Trieb lebte ganz logisch in Lassalle und Marx wieder auf. 
Ein gewisser idealer Zug wohnt diesen Erscheinungen inne, 
selbst der praktischen Machtgier von Gambetta und Disraeli, 
aber freilich tritt dies Ideale in so unreiner Form auf, dass 
es sich wesentlich vom Arischen unterscheidet. 

Zur allgemeinen Entschuldigung schlechter jüdischer 
Eigenschaften lässt sich anführen, dass sie durch Verfolgung, 
Verhöhnung, Versklavung förmlich gezüchtet seien. Der 
Geknechtete wird bösartig. Hiergegen richtet sich aber, so 
logisch diese Folgerung an sich erscheint, ein schwer- 
wiegender Einwand. Als nämlich die Juden noch nicht 
geknechtet, noch nicht religiös verfehmt waren, ge- 
nossen sie bei den Römern und vordem den Egyptem 
und Babyloniem den gleichen Ruf der Bösartigkeit, 
des arroganten Hochmuts gegen andere Völkerschaften, des 
ünterjochungstriebs, wie die palästinensischen Eanaaniter ihn 
schmeckten und wie er bei einem so winzigen Stamme den 
grossen Kulturvölkern doppelt unausstehlich vorkam. Die 
Geschichte vom Exodus aus Egypten, wo die Egypter den 
Abziehenden noch eine Masse Geld und Gut mitschenken, 
damit sie nur endlich abziehen, gibt sehr zu denken und 
der Finanzminister Josef dürfte wohl mit den sieben mageren 
Kühen eine Verelendung Egyptens durch hebräische Heu- 
schreckenplage veranschaulichen. Möglich, dass wir zu 
pessimistisch auslegen, denn beim Fehlen aller Urkunden 
sind wir ja nur auf die eigene Chronik der Hebräer ange- 
wiesen. Allein, was steht nicht alles in dieser Chronik 
selber, die man als Altes Testament und Heiliges Buch 
schamloser und lächerlicher Weise den Kindern zu lesen 
gibt, als wollte man sie vorzeitig in allen Schmutz der Sinn- 
lichkeit und Grausamkeit einweihen! 

Jede Art viehischer Unzucht, Sodomiterei, Kebs- 
weiberei bis zur salomonischen Haremsorgie wird breit und 



— 270 — 

umständlich geschildert, ebenso die abscheulichsten Gewalt- 
taten und Brutalitäten. Doch das alles wäre noch nicht so arg, 
würde ausserdem zur Beurteilung des Judentums nicht viel 
bedeuten, da es bei anderen semitischen Völkern wohl nicht 
besser aussah, wenn nicht ein dem Juden noch heut eigen- 
tümliches Behagen an Unsauberkeit sich in der allzu wahr- 
heitsgetreuen Schilderungswut (auch bei den Propheten die 
schlüpfrigsten stinkendsten Gleichnisse) zu erkennen gäbe, 
und wenn nicht femer mit solcher Bestialität sich die 
niederträchtigste Gesinnung verbände. Ob nun diese alten 
Scharteken, zum Teil meisterhaft geschrieben, lauter Tat- 
sächliches oder Wahrheit und Dichtung enthalten, ein 
hübsches Bild entrollen die Historiker oder Dichter vom 
Moralzustand ihrer Rasse. Da ist der Erzvater Abraham, 
der seine Frau als Schwester ausgibt, aus Furcht, der Pharao 
könne ihn sonst beseitigen wollen — der Sinn der dunkeln 
Geschichte kann nur sein, dass er Sarah als Schwester dem 
Pharao auslieh — , der seine Geliebte Hagar mit seinem 
Söhnchen in die Wüste treibt, der seinen einzigen Sohn 
schlachten will. Da ist der schlaue Jakob, der Esau um 
die Erstgeburt betrügt und nachher in dem unsauberen 
Handel mit den Stecken und Schafen sich nicht anders 
benimmt, wie heute irgend ein aufgeweckter Jakobsleben 
Galiziens. Da ist der glatte Josef, der böse blutopfer- 
heischende Samuel, der entnervte sentimentale Wollüstling 
Salomo, der all seine tausend Kebsen „eitel^ findet, die in- 
famen Ahab, Rehobeam, Herodes samt ihren ebenbürtigen 
Weibern, da ist vor allem der Geliebte Jehovas, der ewige 
Stolz Israels, der Eönigspoet David. Dieser Kerl ist ein 
solcher Schurke, dass es an der perfiden Gemeinheit des 
„üriasbriefes^^ noch nicht genug ist, sondern er noch auf 
dem Totenbett seinem Sohn ans Herz legt, den braven 
Feldhauptmann umzubringen, weil David selber leider durch 
Eid verhindert, sich an ihm zu „rächen^^, zu rächen wegen 
einer längst verjährten, nur vom Despotendünkel als Ver- 
schuldung aufzufassenden Sache. Einer ähnlichen ünaus- 
rottbarkeit der Niedertracht begegnen wir erst wieder bei 
dem schuftigen amerikanischen Milliardär Gould, wenn wahr 
ist, dass er sterbend keine andere Sorge hatte, als seinen 



— 271 — 

Nachfolger zu mitleidloser Sprengung einer Börsenmine an- 
zufeuern, d. h. neuen Ruin vieler Existenzen als Trost ins 
Orab mitzunehmen. Dass aber solche Schändlichkeit frank 
und frei dem „frommen^' Nationalhelden zugeschrieben und 
offenbar beifällig vermerkt, das Ungeheuer aber als sitt- 
liches Ideal Israels aufgestellt (und nachher als Ahnherr 
Jesu von christlichen Frömmlern weiter angedudelt) wird, 
das zeugt von einer Bassenunfähigkeit zur Ethik, die 
uns schaudern macht. 

Man zeige uns in Literatur und Geschichte irgend 
eines Volkes eine ähnliche cynische Frechheit! Und diese 
scheussliche schriftliche Eünterlassenschaft eines nichts- 
nutzigen, ebenso ungebildeten wie eingebildeten Barbaren- 
tums, wobei Moses und die Propheten fast auf jeder Seite 
den Juden zu Oemüte führen, was für Schmutziane und 
Götzendiener sie seien, gilt obendrein bis heute — lediglich 
wegen des Messiaskniffs mit dem Davidsohn von könig- 
lichem Ursprung, da man den Heiland als Plebejer nicht 
für weltliche Kirchenzwecke brauchen konnte — als Heiliges 
Buch zur religiösen Verehrung ! Solch dalailamahafte Kotan- 
betung rechtfertigt den verachtenden Hochmut des Aus- 
erwählten Volkes. Eine Menschheit, die sich so etwas gefallen 
Hess, ist in ihrer Verblödung nichts anderes wert, als von den 
Juden beherrscht zu werden. 

Andererseits war freilich dies Überlassen ihrer säubern 
Historie an die Christenkirche naive Unvorsichtigkeit des 
Judentums. Denn sonnenklar steht hier zu lesen, dass unser 
arisches Gewissen nihig sein kann, dass nicht unsere Ver- 
folgungssünden den jüdischen Charakter erzeugten, sondern 
dass dieser unveränderlich von Anbeginn so feststand wie 
heute: kriechend schlau, wenn unter der Fuchtel, wobei 
die Sarahs und Esthers allezeit Israels Geschäfte mit be- 
sorgten, und gewissenlos brutal oder nervös-fanatisch hetzend, 
wenn in Machtfülle. Wenn also Talmud und Schulchan 
Aruch alle die geheime Antiethik enthielten, wie gelehrte 
Antisemiten behaupten, so könnte dies nach Massstab ihrer 
offenen Chronik nicht Wunder nehmen. Es wird jedoch 
jüdischerseits behauptet, diese Schriften seien widerspruchs- 
volle Konglomerate von Babbinerscholastik und enthielten 



— 272 — 

umgekehrt auch eine Masse Humanität, die einen Berg- 
predigt-Altruismus vertreten. 

Mag sein, zumal ja auch bei Hillel-Philo sich Ähnliches 
findet. Böswillige könnten freilich argwöhnen, dass derlei 
spätere Einschiebsel bloss Atrappen seien, um den Grund- 
kern zu Terhüllen. Deshalb scheint auch die Argumentierung 
nicht überzeugend, dass Bitualmord grade bei Jaden undenk- 
bar sei, weil allerdings schon früh Ritus und Lebens- 
haltung jeden Blutgenuss untersagten und auch das bei den 
Römern noch ungeschwächt bestehende Tieropfer zum min- 
desten bekrittelt, wenn nicht abgeschafft, wurde. In einer 
Rabbinerreligion, die so Viel mit Geheimschriften hantiert, 
könnte sich auch wohl ein dunkler Aberglaube solcher Art 
verstecken, der erst viel später in nachtalmudischer Zeit 
aus Eabbala und Zohar, d. h. Schwarzer Magie, sich einer 
Geheimsekte einverleibte, welche mit dem europäischen Juden- 
tum in loser Verbindung steht und ihren Sitz im Orient 
(Turkestan) hat. Wenigstens soll Moltke angeblich geschrieben 
haben (wir haben das Zitat nicht verifizieren können), dass 
die internationale Judenschaft einem geheimen Oberhaupt 
in Asien gehorche. 

Nun, dies alles mag phantastischer Spuk sein und die 
höchst aufiFalligen Kindermordprozesse, deren Kern sich ja 
stets rätselhaft verschleiert und deren Indizienverdacht stets 
auf den Juden sitzen bleibt, würden die Missstimmung un- 
befangener Beurteiler noch keineswegs gegen das gesamte 
Judentum lenken, das für eine Geheimsekte und etliche 
Rabbiner nicht verantwortlich zu machen wäre, wenn nicht 
sämtliche Juden der Welt dieserhalb ein wahnsinniges 
Geschrei über Attentate auf Freiheit und Aufklärung erhöben. 
Dies Wutgezeter muss stutzig machen und den Verdacht 
nahelegen, dass doch etwas mehr an der Sache sei, als man 
glauben sollte. Das völlig reine und gute Gewissen würde 
sich entgegengesetzt verhalten, vielmehr im eigensten Interesse 
des Judentums auf strengste Untersuchung dringen und jede 
Solidarität mit einer solchen Geheimsekte ablehnen. Statt 
dessen setzt das Judentum den ganzen ungeheuren Apparat 
seiner internationalen Presse, Finanz und bis in die höchsten 
Schichten reichenden Einflüsse, wo besonders getaufte Juden- 



— 273 — 

stämmliDge insgeheim seine Geschäfte fähren, in rastlose 
Bewegung, um selbst schwerste Verdachtsmomente gegen 
Jaden abzulenken, die Behörden moralisch oder praktisch zu 
terrorisieren (vielleicht auch Bestechungsmittel anzuwenden) 
und lieber jeden Antisemiten als planmässigen Urheber der 
„Ritualmorde^' zu brandmarken. Dass selbst ein anständiger 
Mensch wie Leroy-Beaulieu sich so weit vergessen kann, zu 
behaupten: in fast allen Fällen sei nachgewiesen, man 
habe die Leiche nachträglich ins Judenquartier geschleppt 
oder die Spuren dorthin geleitet, macht uns schamrot über 
die Leichtgläubigkeit, mit der jede philosemitische Schwindelei 
als „bewiesen'^ aufgeschnappt wird. Ist ihm wirklich der er- 
wiesene Bitualmord in Damaskus an einem französischen 
Pater, also jemand, der seinem katholischen Herzen teuer 
sein sollte, unbekannt geblieben?! Und dass die akten- und 
gerichtsmässig verurteilten geständigen Juden durch ein 
geradezu ironisch gehaltenes Irade des Sultans Begnadigung 
erhielten, weil die reichen Weltjuden, an ihrer Spitze Sir 
Moses Montefiore (,,Philantrop'') und Cremieux („Patriot"), 
eine unerträgliche Pression auf den kranken Mann am Bos- 
porus übten?! Nun, dies Verbrechen mag ebenso eine Aus- 
nahme sein, wie — die Verurteilung. Wir enthalten uns 
jedes Urteils in so zweifelhaftem Dunkel. 

Es ist ferner wahr, dass der Talmud unter den „Gojim", 
gegen die jeder Hass und Meineid (letzteres vnrd von Tal- 
mudisten bestritten) erlaubt sei, früher nur Babylonier und 
Römer verstand. Aber nur ein Verblendeter wird leugnen, 
dass der galizische und rumänische und russische Talmud- 
schüler darunter heut natürlich die Christen versteht, nämlich 
alle Nicht-Juden, was „Gojim" bedeutet. Wir haben endlich 
als Deterministen und Earmagläubige ohne weiteres zuzu- 
geben, dass der natürliche Mensch überall ebenso empfinden 
würde, wie der Jude gegen seine jahrtausendelangen Ver- 
folger, dass wir ihm also jeden Vorwurf ersparen müssen, 
sobald wir uns an seine Stelle versetzen. Mit allen anti- 
ethischen und materialistischen Instinkten ausgestattet, da- 
neben aus visionärem Auserwähltheitswahn einen gewissen 
wilden Idealismus für Stamm und Stammgott („Gott seiner 
Väter^^) schöpfend, kann der Jude nicht anders denken und 

fileibtreu: Die Vertreter des Jahrbnndertg. ]8 



— 274 — 

handeln, als mit düstrer Verbissenheit gegen andere Kassen 
und internationalem Streben, alle Macht und vor allem alles 
Kapital in jüdische Hände zu zentralisieren und zu mono- 
polisieren. Es wäre wunderbar und würde übermenschlich 
ethische Anlage einer ganzen Rasse bezeugen, wenn es 
anders wäre. Dass man sich aber durch gewisse orienta- 
lische Züge ostentativer Wohltätigkeit und einer gewissen 
leidenschaftlichen Hingabe an grosse Ideen und Menschen 
(man denke an jüdische Fanatiker für die Judenfein de Dühring 
und Wagner; im Einzeljuden nicht täuschen lassen darf, 
lehrt gerade die Ethik desjenigen, den man als Beinsten und 
Besten der Juden auch in seinem stoischen Lebenswandel 
aufTasst: die geradezu schäbige Nützlichkeitsmoral Spinozas 
mit ihrer dem Arier unverständlichen Gleichgültigkeit und 
Erbarmungslosigkeit gegen das Tier. 

Gewiss, wir erkennen auch dies als Ruhmestitel der 
Grossen Revolution an, dass ihre echte Humanität und Ge- 
rechtigkeitsliebe die Emanzipation der Juden durchsetzte. 
Nur zu begreiflich erscheint die Folgerung Lessings, der in 
Moses Mendelssohn einen aufgeklärten und edlen Juden als 
Freund umarmte. Ob Dührings masslose Ausfälle gegen 
Lessing und Mendelssohn irgendwie auf Wahrheit beruhen, 
lassen wir dahingestellt, jedenfalls hat er Lessings sittlichen 
Ernst und geistige Bedeutung gehässig unterschätzt, der 
sein Aufklärungslehrgedicht von „Nathan dem Weisen^ dem 
von ihm subjektiv vorausgesetzten Judentum auf den Leib 
schrieb: dass der Jude erst als Befreiter zeigen könne, 
was er sei. Ähnlich „befreite'^ Robespierre in berühmter 
Rede die Juden, indem er zugab, sie taugten allem Anschein 
nach nichts, aber sie würden etwas taugen, sobald es in 
ihrem Nutzen liege, wohltätige Staatsbürger zu sein. 

Wahrlich, wir hätten gradeso gesprochen, und ein- für 
allemal sei es gesagt: jede Antastung der „jüdischen Mit- 
bürger" in ihren Staatsrechten, was als Präventiv- und Pro- 
hibitivmassregel allen Antisemiten vorschwebt, widerspricht 
der Ethik, die ihrer nicht spotten lässt. Der jüdisch-jesuitische 
Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel, ist nicht nur ver- 
brecherisch, sondern dumm, da jeder theosophisch Erleuchtete 
weiss, dass böse Mittel früher oder später auf ihre Urheber 



— 275 — 

zurückfallen. Mit irgend welchen Lösungen der Judenfrage 
haben wir uns nicht zu beschäftigen. Der Antisemitismus 
wird determiniert seinen Weg gehen, das Judentum des- 
gleichen, und Earma- Kausalität wird die Lösung von selber 
bringen. Wir haben hier nur ein Amt und keine Meinung, 
verzeichnen nur Tatsachen und Symptome. 

Also Bobespierre befreite die Juden und diese feiern 
die Revolution mit Davidpsalmen. „Der ,Berg^ des Konvents 
ist unser HoreV^, „Moses war ein Konventsmitglied, vom 
Gipfel des ,Berges' redend", „die Offenbarung sprach die- 
selbe Sprache auf dem Sinai wie in den Salons des 18. Jahr- 
hunderts", schwärmt James Darmesteter (Darmstädter). Wenn 
er meint: „was durch Voltaire triumphiert, das ist die Bibel, 
mit Voltaires Epigrammen bespickt" so dürfte er Voltaires 
Kapitel über die Juden („das verabscheuungswürdigste Volk") 
wohl schwerlich gekannt haben. Denn sowie ein grosser 
Mann ungünstig über die Judenschaft urteilt, wird er sofort 
ein kleiner Mann, was heut die Judenpresse sofort in der 
Hand hat So konnte Zola seinen verhüllten Antisemitismus 
in „L'Argent^\ der ihm sofort eine literarische Baisse ein- 
trug, nur durch den Dreyfussschwindel wieder gutmachen. 
Jetzt auf einmal erkannte Oeorg Brandes, den Zolas massive 
Kraft früher wenig anheimelte, wie gross er sei, und Nordau, 
der ihn als krankhaften Schmutzfink geisselte, weinte Tränen 
der Rührung über „J'accuse", das unsterblich bleibe, wenn 
leider Zolas Schmieralien alle vergessen sein würden! 

Die Revolution war also „die Erfüllung der alten Pro- 
pheten Israels"? Holla! Diese lehrten doch den Messias, der 
alle Völker Juda unterworfen werde? Und richtig hören wir 
auch bald die bodenlose Unverschämtheit: „das Credo der 
neuen Welt ist nur das Credo der alten hebräischen". Ein 
jüdischer 0. Strauss, amerikanischer Gesandter in Konstan- 
tinopel, behauptet unverfroren, dass die Amerikanische Union 
nach dem Pentateuch und 3uch der Richter^ geformt wor- 
den sei. Und nun sehen wir mal zu, was der Jude als 
Befreiter, oder, wie er schwindelt, Schöpfer des modernen 
Europa wert sei. 

Kaum besah sich St. Just das Elsass, als er wütende 
Briefe an Robespierre über den jüdischen Wucher schrieb, 

18* 



- 276 - 

der dies unglückliche Land verzehre. Welche Rolle jüdische 
Bankiers bei Plünderung der Kirchen- und Nationalgüter 
gespielt oder wie sie, Robespierres catonische Strenge fürch- 
tend^ hinter den Kulissen zu seinem Sturze beigetragen 
haben mögen, wieviel die zuerst von England aus wirkende 
Freimaurerei als Intriguen-Organ des Judentums in Herbei- 
führung der Revolution zum Zwecke der Judenemanzipation 
mitwirkte, bleibe ununtersucht. Man braucht nicht Leon 
Taxils Schwindeleien (besonders „La Loque Noire'\ ein 
Buch, in dem das unwahrscheinlichste wahrscheinlich wird) 
zu trauen, um zu ahnen, welche ungeheure Wühlarbeit die 
von Juden gelenkte Freimaurerei — ausserhalb Frankreichs 
heut nur eine gegenseitige Versicherungsanstalt für Streber 
ohne direkt politische Ziele — zu weiterer Revolutionierung 
Europas vollbrachte. Nicht umsonst hiess die Mazzini be- 
freundetste FamiUe: Nathan, und der heutige Grossmeister 
der italienischen Logen: Nathan. 

Sollen wir dies etwa bedauern? Beileibe nicht, vielmehr 
die Weisheit der Kausalität bewundern, die jene durchaus 
selbstsüchtigen Absichten der Jüdischen Kräfte für unsre 
eigenen Interessen in Fluss brachte. Besonders der deutsche 
Michel ward durch die kreischende Unrast der Hebräer 
mächtig aufgerüttelt und am Oberziehen der Nachtmütze 
gebindert. Die Satire der Heine, Börne u. s. w. biss so 
giftig, die Nadelstiche trafen so gut, dass Michel rabiat 
wurde. Jeder abstrakte Antisemitismus, der diese Nützlich- 
keit des Judentums ableugnet, verkennt kindisch dasOrganische 
und Kausale solcher Vorgänge, die heut wieder in Judas 
Begünstigung der Sozialdemokratie ihre Fortsetzung finden. 
Die Juden glauben dabei immer nur für sich zu arbeiten, 
ein Rothschild I. als Weltimperator gaukelt ihren Träumen 
vor und Besetzung aller Führerstellen im sozialen Staat mit 
lauter Juden, von den dankbar befreiten Oojim-Karyathiden 
auf den Schultern getragen. 

Ob sie sich nicht höllisch dabei verrechnen würden, 
wird die Zukunft lehren. Fürs erste werden sie zur Ab- 
wechselung hochnational-hochdeutsch wie Maximilian Harden 
und sein Genosse Rathenow oder wie Kipling und die Trans- 
vaalauspresser in England oder die chauvinistisch-klerikalen 



— 277 — 

Journalisten in Paris, grösstenteils getaufte Juden. Sie 
behaupten, jedes Gängelband des alten Ghetto abschneiden 
und Yöllig im Arischen Yolk, unter dem sie hausen, auf- 
gehen zu können. Wie schwierig dies Unterfangen und wie 
ehrlich es gemeint, sehen wir daran, dass die meisten fran- 
zösischen und ungarischen Juden „deutscher^' Herkunft sind, 
dass England und Amerika von polnisch russischen Juden 
wimmeln: das werden nun alles eingefleischte Franzosen, 
Magyaren, Briten, Yankees nach dem Grundsatz: ubi bene, 
ibi patria. Bekanntlich schüren sogar die Juden überall am 
eifrigsten Nationalitäten hader und Chauvinismus, besonders 
in Ungarn und Osterreich, und so was ültrafranzösisches wie 
die deutschen Juden in Frankreich (darunter auch Familie 
Heine) hat man noch nie gesehen! Für Kipling sind alle 
Deutschen „Goten und Hunnen^' und nur die Heilige 
Britannia hat als Auserwähltes Israel über alle Lande den 
Union Jack zu breiten: „Du wirst alle Völker fressen, die 
der Herr dein Gott dir geben wird.'^ Ob also ein böses 
Bänkelsängerlied in den Londoner Gassen den Transvaalkrieg 
„the Jews War" taufte, wehe dem, durch den Ärgemils 
kommt! Das ganze freie Albion gürtet sich mit Kiplings 
Stolze und sieht im radikalen Britentum seiner Juden seine 
eigene bessere Hälfte. 

Um aber die volle Wahrheit zu sagen: haben die 
Antisemiten Recht, dass die Judenschaft immer ein fremdes 
aufsässiges Element, ein Staat im Staate, bleibe? Vom Staats- 
standpunkt aus trifft dies entschieden nicht zu. Der durch 
Generationen in einem Lande ansässige Jude nimmt unwill- 
kührlich an gemeinsamen Interessen teil, ihm kann es nur 
lieb sein wie jedem andern, dass „wir Deutsche" materiell 
gedeihen, und wenn nur recht viel getaufte Juden Minister 
und kommandierende Generale werden, dann wünscht der 
Jude von Herzen dem Deutschen Reich alles Wohl. Des- 
gleichen anderswo. Ein Land, wo man Sir Montefiore, 
Lord Rothschild, Lord Goschen und gar Premierminister 
Lord Beaconsfield und Gladstone (Freudenstein) werden 
kann, erfüllt das jüdische Herz mit warmen Patriotismus. 
Frankreich, das einen Fould, Cremieux, Gambetta so hoch 
brachte, hatte 1870 unter opferwilligen Patriotinnen auch 



— 278 — 

eine Madame Cohn. Seither freilich sank es tief in Europas 
— soll heissen: Judas — Achtung, weil es einen zweimal 
verurteilten Coquin für einen Verräter hielt, trotzdem die 
alleinseligmachende Internationale das Gegenteil versicherte. 
Jetzt auf einmal schlug der dankbare Patriotismus für das 
Land der Judenemanzipation ins Gegenteil um und Frank- 
reich wird so lange boykottiert, bis die unvergessliche 
Begierung Loubet-Gombes den Juden blindlings sich über- 
lieferte. Denn natürlich, jeder Chauvinismus des Juden 
nimmt sofort ein Ende, sobald man einem Juden ein Haar 
krümmt: alsdann ist ein solches Land jedes Patriotismus 
unwert, denn Charity begins at home, des Juden Chauvinismus 
fängt zuerst bei sich selber an. 

Aber wäre deshalb schon wahr, dass der Jude immer 
nur Jude bleibe und weiter nichts? Nein. Wie Freimauer, 
wo immer sie sich begegnen, sich brüderlich in die Hand 
kneten, so grüsst zwar jeder Jude verschiedener Sprache 
seinen Bassegenossen, ja findet ihn sofort heraus, ob der 
eine aus Odessa, der andre aus Chicago, oder ob beide 
getauft oder Eeformjuden. Aber dass darum alle nur ein 
gemeinsames Interesse verfolgen, ist falsch. Wie der fran- 
zösische Sozialist doch eben Franzose bleibt und das „Proletarier 
aller Länder, vereinigt euch !^' sofort Schranken findet, sobald 
nicht ihr gemeinsames Mageninteresse in Frage kommt, 
so kann man sich gut vorstellen, wie ein französischer Jude 
einem deutschen Juden an den Kopf fährt, sofern dieser 
reichsdeutsche Ideen verteidigt, wie der englische Jude den 
deutschen Juden mit Britendünkel traktiert, oder wie der 
deutsche Jude heftig aufflammt, wenn man in seiner Gegen- 
wart deutsche Bildungsschätze bespöttelt. Denn intellek- 
tuell wird jeder Jude notwendig ein Angehöriger derjenigen 
Nationalkultur, in der er aufwuchs. Wer derlei unterschätzt, 
macht sich schon von der Bedeutung der Muttersprache 
keinen Begriff. Sprechen ist Denken, der Deutschsprechende 
denkt anders, als der Englischredende und wir behaupten, 
dass in vielen wichtigen Fragen der deutsche Jude dem 
Deutschen verwandter denkt, als ein stammverwandter 
Brite, ja sogar als ein mit deutscher Bildung gesäugter 
Skandinave. 



— 279 — 

Durch 80 unzählige unmerkbare Poren strömt das geistige 
Blut der Sprach- und Erziehungsgemeinschaft in den anders- 
rassigen Körper. Wir gehen sogar noch weiter und behaupten, 
dass der durch Generationen ansässige Jude ein starkes 
Heimatsgefühl an das Land seines „Exils^^ bekommt und 
unter Umständen auch dafür tapfer sein Blut yergiesst. In 
Frankreich weiss man dies lange, wie denn überhaupt 
die Mär von der persönlichen Feigheit der Juden reine 
Legende. 

Jeder Jude ist kampflustig, sobald seine Eitelkeit, Gewinn- 
sucht oder nervöse Wut erregt wird. Auch bestiegen sie im 
Mittelalter die Massenscheiterhaufen mit grossem Mut, lieber 
als dass sie den Glauben abschworen, ihr religiöser Dünkel 
/hielt sie aufrecht Ihre behutsam verhüllte Leidenschaftlich- 
keit geht gern zum Extrem, wie die getauften Renegaten 
als spanische Inquisitoren (Torquemada) einen besonders 
grimmen Fanatismus herauskehrten, damit sie in Eetzer- 
autodaf6s unbewusst ihr Yolk rächten und die katholische 
Kirche in Spanien ruinieren halfen. So stellte Massena 
(Manasse) das Äusserste rücksichtsloser Bravour in den 
napoleonischen Legionen dar, mit Heroismus erkaufte er 
Millionen auf Millionen, Titel auf Titel, machte als Bäuber- 
hauptmann eine Razzia über die Erde. Auch Bemadotte 
fehlte es nicht an Bravour und man könnte Beiden sonst 
alles Mögliche vorwerfen, dass sie Schandflecke der Armee, 
Diebe, Gauner, Räuber, Intriganten und sogar Yerräter seien 
— Bemadotte verschwor sich mit einem General, der auf 
den arischen Namen „Simon^^ hörte, schon gegen den Ersten 
Konsul — , aber nur keine Feigheit. Die jüdische Ab- 
stammung beider Marschälle wird von den Franzosen stand- 
haft geleugnet, obschon beide Namen und ihre Physiognomie 
nachweislich jüdisch sind und ihre moralische Eigenart von 
der aller andern Marschälle, auch der schlechtesten, merklich 
absticht. Doch dies dürfte wohl nur schamhafter Wahrung 
der National würde entspringen, um nur ja nicht einzugestehen, 
dass zwei „Gloires de la France^' Juden und dies obendrein 
als Krieger gewesen seien. Auch Italien hat im Pantheon 
seines Risorgimento einen Sprössling des Ghetto; Daniel 
Manin, den heroischen Diktator von Yenedig. 



-- 280 — 

Dass der Ghetto sich nicht mal zu öfihen brauchte, um seine 
Insassen durch Kultur und Sprache zu nationalisieren, beweist 
der frühe Einflnss jener Berliner Aufklärungszirkel der Hertz 
und Rahel. Dass eine orientalische Rasse sich derart akkli- 
matisierte, um sich durchaus die okzidentale Kultur zu 
assimilieren, beweist die Selbstverständlichkeit, mit der sie 
sich blitzschnell in alle Gebiete als Konkurrent eindrängte, 
sobald freie Bahn gegeben, mit Ausnahme des Ackerbaus, 
dessen rauhe Arbeit sie den Gojim überliess. Selbst das 
Militär wird überall, wo keine Schranken gezogen, von 
Juden überschwemmt Der frühere Militärgouvemeur des 
heutigen Königs von Italien, Ottolenghi, ist Jude und im 
Prozess Dreyfuss sahen wir überall jüdische Offiziere auf- 
treten; anderswo sind es nur Judenstämmlinge und Getaufte, 
die nach oben dringen. 

Mit dem hier Gesagten werden die Antisemiten freilich 
wenig zufrieden sein. Denn das Fazit bleibt doch eben: 
es geht nicht an, die Juden schlankweg als „Ausländer'' zu 
betrachten, da sie, mit gleicher Sprache und Kultur durch- 
tränkt, unwillkürlich unsre Landsleute und Staatsgenossen 
werden; genau mit gleichem Recht, wie Refugi6s äusserlich 
echte Preussen geworden, obschon sie ihr Französisch viel 
zäher unter sich bewahrten als die modernen Juden ihr 
Hebräiscl\. (Die allgemeine heilige Sprache der Juden im 
Osten Europas ist übrigens das Deutsche). Wenn also 
trotzdem eine völlige ümwandelung des Juden in einen 
Arier unmöglich, er günstigstenfalls ein Dreivierteldeutscher, 
meist nur ein Halbdeutscher, Halbfranzose, Halbbrite wurde, 
so müssen fundamentale Verschiedenheiten der Gesinnung 
obwalten, welche nicht wie der Intellekt von Sprache und 
Kultur berührt wird. Wie hat sich diese nun nach öfEhen 
der Ghettos bewährt? In Dankbarkeit, Bescheidenheit, 
Brüderlichkeit? Weit gefehlt! Zuvörderst setzten die 
Juden ihre kommerzielle Tätigkeit — schon in Palästina 
und später im Römerreich von ihnen fast ausschliesslich 
betrieben, also nicht wie man sagt durchs Mittelalter auf- 
gezwungen — rücksichtslos fort, indem sie sich der er- 
weiterten ökonomischen Bedingungen bemächtigten und all- 
mählich in Europa das meiste mobile Kapital monopolisierten. 



— 281 — 

bis ihre Rothschilds Herrn über Krieg und Frieden im 
Staatshaushalt wurden. Natürlich verdrängten und ver- 
nichteten sie hierbei zahllose arische Existenzen und ihr 
Auffressen der Nationalvermögen griff mit dem Erstarken 
des modernen Kapitalismus immer rapider um sich. Die 
Bauern von Orund und Boden jagen, den Handwerkerstand 
aufsaugen, überall mit unlauterm Wettbewerb ihrer „Pleiten'^ 
und Gründungen, Panamas und Hondurasbanken, arische 
Konkurrenten überwältigen, so sah sie aus, die Siegesfahrt 
der jüdischen Philoxera durch den Weinberg des Herrn. 

Neben dieser dankbaren und brüderlichen Segnung 
ihrer gutmütigen arischen Herrenbefreier, die in völlige 
Zinssklaverei zu schlagen ihr sehnlichster Wunsch, machten 
sie sich mit vorlauter Dreistigkeit auf allen Plätzen des 
öffentlichen Lebens breit, riefen allerorts Empörung über 
ihre prahlerische Protzerei hervor, stürzten sich in Justiz, 
Beamtentum, Universitäten. Ob sie in Staat und Kommune 
so auflösend und immoralisch wirkten, wie manche Ahl- 
wardtiaden behaupten, können wir nicht untersuchen. Eben- 
sowenig, ob in der katholischen Kirche ihr Einfluss nicht 
minder um sich griff wie in der protestantischen. Ob Pio Nono 
jüdischer Abstammung, bleibt eine offene Frage, eine offene 
Tatsache hingegen der Erzbischof von Olmütz, Herr Gohn, 
mit seinen zwanzig Beleidigungsprozessen gegen seine 
erbitterte Diöcesanen. Diese gewaltige Bazzia des eman- 
zipierten Judentums ward aber ermöglicht durch ihre 
Meisterleistung: die Nutzbarmachung der Presse. Sie 
machten Goethes Befürchtung wahr und schufen dies inter- 
nationale Teufelswerkzeug, das man anfangs als Auf- 
klärungshebel begrüsste, heut aber als Institut zur General- 
verdummung und Düpier ung erkannte, vermittels dessen 
der grosse Haufe, dessen Mittelmässigkeitsinstinkten sie 
schmeichelt, zu so unbedingter Gläubigkeit erzogen wird, 
wie sie nur irgendein Hetzkaplan von seinen Bauern 
fordern kann. 

Kapital und Presse, das sind die zwei Säulen der 
Bundeslade Israels. Hat dieses nun selber eine besondere 
Nationalkultur, vermöge deren es uns entnationalisieren 
könnte? Leroy-Beaulieu verneint es sehr richtig, natürlich 



— 282 — 

in judenfreundlichem Sinne, um die „Jadengefahr" in Ab- 
rede stellen zu können. Der Orund, wamm Israel keine 
Nationalkultur besitzt noch je besessen hat, ist freilich sehr 
— antisemitisch, nämlich weil dies Verstandesvolk überhaupt 
unfähig zu eigener Kultur (die ja nur aus ethischem Idealismus 
keimt) und auch geistig nur aussaugen und sich Fremdes 
aneignen kann. Wenn man aber einen besonderen jüdischen 
Bassegeist leugnen wollte, so braucht man nur in das heilige 
Buch des Alten Testaments zu blicken und es aufmerksam 
mit der Gegenwart zu vergleichen. Ein undefinierbares je 
ne sais quoi, im Mittelalter foetor Judaicus genannt, strömt 
uns überall entgegen, wo wir das Judentum als „Element 
der Dekomposition" (Philosemit Mommsen spricht so) wirken 
sehen: Ein Hauch von Streberei, Geldgier, Genusssucht, 
Materialismus, Ideallosigkeit, öder Beinkultur des Verstandes, 
Gemütsentäusserung, Seichtigkeit und Yeräusserlichung der 
Lebenshaltung. 

Man wird uns entgegenhalten, dass dies ja nach unserer 
eigenen Auffassung der allgemeine Geist des Jahrhunderts 
sei. Allerdings, und die Bazillentheorie irrt, denn der 
„Erreger" zerstört nur dort, wo ein Krankheitsherd vor- 
handen: der jüdische Bazillus wuchert nur auf geeignetem 
Nährboden. Allein, das hiesse doch krampfhaft die Augen 
schliessen, wollte man den offenbaren zeitlichen Zusammen- 
hang verkennen zwischen Entwickelung des Jahrhundert- 
elends und seiner epidemischen Geistesseuche mit Emanzi- 
pation des Judentums. Da letzteres nun durchaus an- 
produktiv, so warf es sich auf die Zweige der Beproduktion, 
auch hier des Zwischenhandels im Geistigen: nämlich 
Presse, Theater, Musikvirtuosentum, sowie technischempirische 
Ausbeutung der Naturwissenschaften, obschon es in letzterem 
Fache, wo noch eine gewisse selbständige Produktivkraft 
erforderlich, nur unbedeutendes vermag. Diese Beprodoktions- 
arten, leichter und müheloser Baubbau fleissiger Handwerkerei 
auf dem von Produktiven gedüngten Felde, machte es gleich- 
zeitig, um seine spezifisch jüdische Begabung ausgiebig zu 
verwerten, hervorragend lukrativ und verschi^e ihnen eine 
ungeahnte Ausdehnung und Bedeutung. Wenn man im 
übrigen eine Kunst nennen soll — eine Wissenschaft 



— 283 — 

gibt es nicht, wonn ein moderner Jude wirklich hervorragend 
Bahnbrechendes geleistet hätte, und selbst Spinoza wäre ohne 
Descartes und Giordano Bruno undenkbar — , wofür sich 
die Juden besonders talentiert erwiesen, so ist dies die an- 
geblich so ,4deale'^ und aus dem „Gemüt^^ schöpfende Musik. 
Ein Beweis mehr, dass diese Kunst physiologisch mit nervös- 
sinnlicher Erregbarkeit und intellektuell mit dem arithme- 
tischen Bechenverstande zusammenhängt, welche zwei Be- 
dingungen die einzigen sind, die dem Juden zu Gebote 
stehen. Ob Mendelssohn und Meyerbeer wirklich nur 
Enoblauchduft in die Musik hineinbrachten, wie Wagner 
schimpfte, vermögen wir nicht zu beurteilen, finden des 
Ersteren Kompositionen einschmeichelnd genug, des letzteren 
Opern voll dramatischem Töneschwung, ohne natürlich den un- 
geheuren Unterschied z. B. zu Schumanns Manfredmusik ver- 
kennen zu können. Wichtiger ist uns der Vorwurf, dass die 
Musik vieler Juden von Beminiszenzen und Plagiaten wimmelt, 
was freilich das Schicksal der meisten Kompositeure zu sein 
scheint und hierin die grenzenlose Beschränktheit des Musik- 
vermögens anzeigt Das eigentlich Bassehafte der jüdischen 
Musik nennt sich OfFenbach, Strauss, Sullivan, die prickelnde 
frivole Operette. In der bildenden Kunst haben die Juden 
ein paar „realistische^^ Genremaler wie Israels, liebermann, 
Meyerheim (letzterer obendrein nur Halbjude, wie die Begas) 
erzeugt und durch masslose Beklame weit über Gebühr auf- 
geblasen. In der Literatur, wo sich ihre findige Intelligenz 
hätte betätigen können, ist das Ergebnis von hundert Jahren 
so jämmerlich, dass man mit einer einzigen glorreichen 
Ausnahme, die ja Jedem auf der Lippe schwebt, wahrhaftig 
nur Auerbach ernsthaft nennen kann. Und nächst ihm den 
Mischling Faul Heyse. Sodann Ebers mit seinen Teetisch- 
egyptern und Fanny Lewaldscher Aufklärungsblaustrumpf. 
Denn solche Geringfügigkeiten, wie Zangwills englische und 
Komperts deutsche Ghettogeschichten sind doch kaum der 
Erwähnung wert. Was für eine Figur machen denn Karl 
Beck und Moritz Hartmann als Bevolutionslyriker neben 
ihren Landsleuten arischen Geblütes Lenau und Meissner?! 
Sacher- Masochs ursprüngliche Begabung (er scheint nur 
Halbjude gewesen zu sein) und Mauthners oder K. E. Franzos' 



— 284 — 

unbestreitbare Talente erwiesen sich als brüchig nach kurzer 
Arbeit; neuerdings haben Holländer, Wassermann, Hoffinanns- 
thal und vor allem Schnitzler (falls wir dem ganz verjudeten 
Hermann Bahr seine arische Abkunft glauben sollen) einige 
Spuren von Dichtertum verraten, während der „Dichter'' 
Fulda überhaupt nie etwas anderes als ein geleckter Forman- 
empfinder war. Der Best ist Schweigen, gemischte Freunde, 
Probepfeile, bei Philippi sehen wir uns wieder. Weisse Rössl, 
die ins alte Romantische Land der vollen Theaterkassen 
reiten. Bei dem Ahnherrn des Berliner Salonstücks und des 
Feuilletons, beides nach französischem Muster, bei Paul 
Lindau, dem ein ernsteres Streben tiefversteckt im Busen 
wohnt, und seinem Bruder, dem feinen Globetrotter-Novellisten, 
wird übrigens das Judentum bestritten und handelt es sich 
höchstens um Mischlinge. Bei den Franzosen gibts allein 
Halövy, bei den Briten einen holländische Romane schreiben- 
den Cohn (Martens). Was soll man also von dieser Aus- 
lese des Stärkeren in der Literatur sagen, da auf jeden der 
Obengenannten immer zehn gleichbedeutende und viele 
bedeutendere Arier kommen? 

Was aber soll man vollends dazu sagen, wenn nicht 
nur ein Jude Jacobs eine erlogene Statistik „The compara- 
tive distribution of Jewish abiUty" 1886 zu Gunsten der 
Juden gegenüber den Engländern aufstellt und ein andrer 
Anglohebräer, namens Wolf („What is Judaism?''), die Juden 
für einen „superioren Evolutionsgrad der Menschheit'^ aus- 
gibt, sondern Leroy-Beaulieu solche frechen Fälschungen 
noch sanktioniert! „Es gibt viermal mehr Chancen, einen 
hervorragenden Gelehrten oder Künstler unter tausend Juden, 
als unter tausend Engländern, Franzosen, Deutschen zu 
finden"? Wäre dem so, könnten wir Leroy-Beaulieu den 
Grund dieser albernen Prozentstatistik nennen: weil die 
ungeheure Majorität der arischen Völker in Lohnsklaverei 
schmachtet und nur ungefähr ebensoviel Deutsche wie Juden 
überhaupt zur ökonomischen Möglichkeit höherer Bildung 
gelangen. Aber es walten obendrein hier nur Lüge und 
Schwindel. Selbst ihre übermässige Begünstigung durch 
ökonomische Wohlfahrt (auf Kosten der Wirtsvölker) hat 
unseren jüdischen Gästen nicht produktive Fähigkeiten 



— 285 — . 

verleihen können. Das höchste, was sie wissenschaft- 
lich überhaupt erreichen konnten, waren Ricardos 
Nationalökonomie, Marx' „EapitaP^ Lombrosos „Oenie und 
Wahnsinn^', ergänzt durch Max Nordaus tragikomische 
„Entartung^. 

Was man allenfalls dem Judengeiste zusprechen könnte, 
wäre eine Art Vermittlerrolle zwischen Orient und Occident. 
Aber für das euphonische ,, Vermittler^' sagen wir richtiger: 
Zwischenhändler. Der jüdische Literat ist ein Kommerzieller, 
seine beliebteste Warenbranche die Kritik. Doch selbst auf 
diesem Gebiete hat das Judentum nur eine einzige hervor- 
ragende Erscheinung hervorgebracht: den Dänen Brandes. 
Seine Feinde mögen ihm vorwerfen, was sie wollen, dieser 
persönlich wenig sympathische Mann hat sich unvergäng- 
liche Verdienste erworben als Zwischenhändler literarischer 
Werte zwischen sämtlichen Völkern, womit er nicht nur das 
kleine Dänemark, sondern auch das grosse Deutschland 
universal aufklärte. Seine Ästhetik dringt nicht immer tief, 
vieles in Byron z. B. entging ihm, doch bleibt bemerkens- 
wert, dass er den „Gain'\ welchen Taines Oberflächlichkeit 
ganz für „Manfred^' vernachlässigte, in seine Rechte ein- 
setzte. Immerhin wüssten wir keinen Ästhetiker in Europa, 
vielleicht die Gebrüder Hart ausgenommen, von gleicher 
Bedeutung. Man sieht also, das Internationale des Juden- 
tums kann auch sein Gutes haben. Allein, wenn es sich 
um Abschätzung der Originalität handelt, kommt selbst hier 
der Jude schlecht weg. Etwas Neues und Bahnbrechendes 
wie Lessing brachte Brandes nicht und seine Methode 
kopierte er eingestandenermassen von Taine, dem er sein 
Hauptwerk, als seinem Meister, widmete, ohne übrigens — 
um gerecht zu sein — in Taines Masslosigkeit zu verfallen. 
Die auffallende Leichtfertigkeit, mit welcher Brandes fremde 
Arbeiten auch wörtlich benutzt, haben übrigens seine Feinde 
recht perfide übertrieben und ausgebeutet; böswilliger Anti- 
semitismus könnte freilich in solcher Aneignung fremden 
geistigen Eigentums einen jüdischen Zug entdecken. Doch 
derlei Kleinlichkeiten beeinflussen unser Urteil nicht, wir 
wissen Brandes gerecht zu werden. Nur sei betont, dass er 
seinen Weltruhm natürlich nie erlangt hätte, wäre er nicht 



— 286 — 

als beweglicher Hebräer in der Lage gewesen, die ganze 
Reklamemaschine der Internationalen Presse spielen zu 
lassen. 

Und dies ist der andere Punkt, weshalb ein Vor- 
eingenommener, wie Leroy-Beaulieu, so viele hervorragende 
und bekannte Juden aufzählen darf und weshalb sich die 
Legende von der überlegenen jüdischen Intelligenz ver- 
breitet hat Das Judentum, indem es sich der Presseorgane 
auf der ganzen Linie bemächtigte, auch der „vornehmen^^ 
Monatsschriften von der „Saturday Review'^ bis zur 
„Deutschen Rundschau^^ des Herrn Levy, genannt Roden- 
berg (oder wie er früher sich nannte: „Julius von Roden- 
berg^^), wurde selber die alleinige Instanz zur Verteilung 
des Ruhmes für die Arier. Das Publikum besitzt im all- 
gemeinen nicht den geringsten Geschmack und lässt sich 
wie ein Säugling von der schwarzen Zauberfiasche der 
Pressetinte aufpäppeln, Alles, was zu pseudorevolutionärer 
Zersetzung und „Dekomposition^^ dienen kann, begrüsst der 
Jude als Bundesgenossen. Und daneben, wie fördert er 
nicht denselben Trieb in seiner niedrigsten Form, das 
Seichte, Sinnlichgefällige, Brünstige, Rohsensationelle, Frivole, 
Unsittliche ! Ihm wäre Bahrs Schlüpfrigkeit oder Schnitzlers 
„Reigen^^ ein Hochgenuss, selbst wenn Schnitzler kein Jude 
wäre, er schmunzelt nicht nur Fulda, sondern auch Blumen- 
thal und Philippi zu, und kaum dass er in Hauptmanns 
Miselsucht etwas Verwandtes aufsäugte, musste auch der Knabe 
Hirschfeld seine Hauptmannskopien als autochthone Spende 
Israels daneben setzen. 

Denn darin eben besteht die skandalöse Heuchelei der 
Juden, dass sie über Unterdrückung schreien, sobald man 
im kleinsten ihren Übergriffen entgegentritt, dabei aber 
recht wohl wissen, dass sie eine einzige ungeheure Eame- 
raderie bilden, um sich und die von ihnen abhängigen Re- 
nommierchristen durch Dick und Dünn zu poussieren. Wer 
in diesem Kampf ums Dasein Sieger bleiben wird, die Arier 
oder die „überlegene jüdische Intelligenz^^ (Gerissenheit), 
sehen wir nicht voraus. Sollte aber über Juda einmal ein 
Strafgericht hereinbrechen, so wird man jedenfalls zugeben, 
dass das Mass voll war und dies Vordrängen einer fremden 



— 28? — 

Rasse auf allen nur möglichen Herrschaftsgebieten not- 
wendig die Notwehr herausforderte. 

Es wird immerdar lehrreich bleiben, dass im politischen 
Kalender der Torys, der Republikaner und Sozialisten ein 
Jude als heiliger Schutzpatron obenanstand: Disraeli, Oam- 
betta, Lasalle. Gambetta stieg bei seiner Leichenfeier in 
einer Weihrauchwolke von Apotheose in die Unsterblichkeit, 
die Arbeitermassen der ganzen Welt singen die Sozialisten- 
marseillaise: „So gehen wir den Pfad, den uns geführt 
Lassalle^^ und vor Disraelis Statue streuen die Damen der 
stolzesten Aristokratie jeden Frühling in besonderer Feier 
des Primrose-Day seine Lieblingsblumen, ja die gesamte 
konservative Partei schloss sich als Primrose-Ligue zu- 
sammen. Wie dieser schwarzlockige Dandy den unver- 
fälschtesten Judentyp mit talmudischen Schmachtlocken 
darstellte, so Gambetta einen mehr arabischen Typ, der 
etwas offen Löwenhaftes auslöste und nur im orientalisch- 
verschleierten Auge ein gewisses Lauem verriet Den 
blonden stattlichen Lassalle hätte man für einen Arier halten 
können, wenn ihm nicht in höchster Erregung, besonders 
wenn er auf die Juden schimpfte, ein jüdisch Fistel- 
tönchen entfahren wäre. 

Über Disraeli und Gambetta können wir uns kurz 
fassen, da in ihnen einfach der Streberwille zur Macht sich 
auslebte und sie als Jahrhundertvertreter kaum mehr Be- 
deutung haben als Eossuth, Castelar oder Grispi. Geschaffen 
haben sie nichts, wie Mazzini-Garibaldi und Bismarck-Moltke. 
Die dritte Republik war nicht Gambettas Werk allein und 
auch der britische Imperialismus ist nicht von gestern her, 
dass Disreali ihn hätte gründen müssen. Wäre letzterer der 
einzige Haupttyp des modernen Judentums, so würden wir 
jede andere als radikal - antisemitische Behandlung der 
Judenfrage für Zeitvergeudung halten. Denn alles das, was 
die Radikal- Antisemiten den Juden vorwerfen, kam in 
dieser unerquicklichen Erscheinung zum Ausdruck. Man 
braucht nicht von Parteileidenschaft gestachelt zu werden, 
wie der Parlamentarier O'Gonnor in seinem dicken Buch- 
pamphlet über den venezianischen Judendandy, der als 
Earl of Beaconsfield abschloss, um die widerlichen Grund- 



— 288 ~ 

Züge skrupelloser Streberei festzustellen. Disraeli bietet 
den klassischen Typ des „Arrivisten^\ welch gutfranzösisches 
Wort der neueste Jargon durch das ungeschickte ,,Struggle- 
forlifeurs" ersetzte, in Daudets „Llmraortel" eingeführt. 
Disraeli ist auch ein solcher ,Jmmorter^ . . . unsterblich, so 
lange er lebt. 

In allem nur ein Kopist. Ihm war Macaulay Vorbild, 
der eine staatsmännische mit literarischer Laufbahn zu 
kreuzen wusste. Sein toryistisches Renegatentum — er 
begann als Radikaler, dann als liberaler Leader of the 
Opposition — erinnert an Grispi. Die Engländer sind 
sonst sehr kitzlich auf diesem Punkt, sie halten es für 
eines Mannes unwürdig, seine politische Überzeugung zu 
wechseln, da in ihrem freien parlamentarischen Staate eine 
Zwangspression sich ausschliesst und jeder Übertritt zur 
Gegenpartei nur durch Spekulation auf Ministersessel sich 
erklärt. Alle Phrasen Disraelis vermochten daher nicht die 
Überzeugung zu erschüttern, dass es ihm von Anfang an mit 
keiner Gesinnung ernst war und er immer nur daraufhin 
arbeitete, sich an oberste Stelle zu drängen. Erstaunlich 
bleibt immerhin, dass dieser hässliche Flecken, auf den man 
ihm lebenslang den Finger wies, seiner Fortüne wenig 
anhaben konnte. Der englische Toryismus strotzte eben so 
überaus von Talentlosigkeit, dass man sich bequemte, den 
„damned Jew^\ einen Abenteurer und Glücksritter, wohl oder 
übel zum Leiter zu wählen, sobald er seinen Übertritt an- 
bot Da nun die Vis Inertiae der englischen Verfassung und 
sozialen Konstruierung dem konservativen Element immer 
noch einen festen Block angestammter Machtfülle unter- 
schiebt, so konnte ein so rühriger und rüstiger Intrigant die 
latente Macht wieder in Fluss bringen und ihre dicke Be- 
sitzmasse dem vorschreitenden Liberalismus und seiner 
, Amerikanisierung' entgegenstemmen. Er benutzte hierbei 
gegen seinen Gegner Gladstone, einen konfusen Doctrinär, 
die äussere Weltpolitik des British Empire, da er in innerer 
Politik die gegnerischen Argumente nicht widerlegen konnte, 
und spielte auf dem lockenden Leitmotiv des chauvinistischen 
Imperialismus Wenn die dummen Mäuse und Ratten des 
britischen Volkes nur die Speckschwarte des Nationaldunkels 



— 289 — 

riechen, dann kriechen sie heran und der Rattenfänger kann 
sie leiten, wohin er will. 

Seien wir jedoch ehrlich: sein Widerpart Oladstone 
(Freudenstein), dessen jüdisch - deutsche Abkunft ihn nicht 
hinderte, den altenglischen Ideal- Oentleman zu mimen, 
nimmt noch weniger für sich einJ) Seine abstrakte Maul- 
ideologie hat etwas entschieden Rabbinerhaftes dürrphari- 
säischer Oesetzesheiligkeit Sein Fach: Finanzstatistik, also 
eine reinpraktische Anschauung neben dem Phrasenschwulst 
seines pomphaften Ethos, seine Bildung: akademische Oxford- 
klassizität, sein Ethos: Highchnrch, seine politische Basis: 
freihändlerischer Manchesterliberalismus der Bourgeoisie. 
Eine gewisse Ähnlichkeit mit Ouizot und Thiers fällt beim 
Vergleich nur ungünstig für ihn aus, besonders letzterer 
zeigt eine starke Überlegenheit französischer Feinheit und 
gesunden Wirklichkeitssinns, abgesehen von dem geistigen 
Übergewicht seiner Leistung als Historiker. Die Yielzu- 
yielen in ihrer unheilbaren Mittelmässigkeit sind immer noch 
geneigt, den Intelligenzumfang der sogenannten Staatsmänner 
zu überschätzen, uneingedenk des Oxenstjemaschen Geständ- 
nisses, mit wie wenig Hirn die Welt regiert wird. Ein 
„grosser^^ Staatsmann steht oft tief unter jeder schöpferischen 
Intelligenz auf irgend welchem Oebiete, sei es auch die des 
Maschinenbauers. Er baut meist gar nichts, sondern sucht 
nur die Räder mit dem Ol seiner kleinlichen Augenblicks- 
einfälle zu schmieren. Gladstones sittliche Entrüstung — er 
hatte immer etwas, um seinen Fond von Sittlichkeit zu ent- 
rüsten — über „Bulgarian atrocities^^ Zarenukase und deut- 
schen Militarismus verwickelte England nur in Fährlich- 
keiten von Erimkriegen bis zu „splendid isolation'\ und 
zuguterletzt war es nicht seine tobende Ideologie, sondern 



') Ein uns nahestehender Verstorbener, freilich der toryistisohen 
Aristokratie angehörig, doch anf freister Bildungsstufe stehend, Teiacherte 
uns einst in London, er habe als Anhänger der Oallsohen Theorie die 
Schädel beider ihm gleich antipathischer Staatsmänner untersucht und die 
Organe Disraelis verhältnismässig anständiger befunden als Oladstones. 
Man mag über Oalls Lehre heut spotten, besonders solche, die sich nie 
damit beschäftigten, in einzelnen Punkten hat sich experimentell ihre 
Richtigkeit bewährt 

Blelbtren: Die Vertreter des JahrhimderU. 19 



— 290 — 

Bismarcks und Disraelis Realismus, was türkische Greuel 
einerseits beseitigte und andrerseits Russlands Ungebühr im 
Berliner Kongress über den Löffel barbierte. Auch blieb 
dies Moralgezeter nur altenglische Heuchelei, die den Splitter 
im fremden Auge anklagt, so lange Irlands Knechtschaft- 
geschwür am eigenen Leibe offenstand. Als aber Gladstone 
hier nach Disraelis Tode, wo er sich voll und ganz gehen 
lassen konnte, gravitätisch den heilenden Chirurgen spielte 
und seine grenzenlose Eitelkeit als Befreier an jubeln liess, 
geschah dies so dilettantisch, dass die falsche Diagnose des 
Homerule den irischen Radikalen vom Schlage Parnells 
nur neue Kampfmittel lieh, ohne irgendwie den Grundsitz 
des Übels zu treffen, das allerdings jeder „korrekten" 
Besserung spottet. Bismarcks wegweisendes Urteil über den 
„Grand Oid Man'' kann man nur unterschreiben, er war 
ein Grand Old Fool und nebenbei ein ebenso tüchtiger 
Machtstreber wie sein jüdischer Gegenfüssler. 

Nun, von solchen Schwächen abstrakter Pathetik fühlte 
Disraeli sich völlig frei. Wo er falsches Pathos anwendete, 
blieb es nur rhetorische Figur und an Würze eines offen- 
herzigen Gynismus fehlte es nicht. Bismarcks „Macht geht 
vor Recht' wusste er lange vor Bismarck, und dass vor 
allem Besitz Macht sei, illustrierte sein Erfolg. Nachdem er 
den Reichtum einer älteren vornehmen Lady erheiratet, 
stand ihm nichts mehr im Wege, sich als Peer von Gross- 
britannien zur Ruhe zu betten und damit hatte er ja alles, 
was seines Lebens Idealen vorgeleuchtet. Es ist erreicht. 

Wie kaltsinnig er alle idealen Elemente des Real- 
politischen abschätzte, zei^t seine verächtliche Ablehnung 
der Bismarckschen Einheitspläne, von denen ihm vorzeitig 
Kunde kam: ,.The moonshine of a Gerraan Baron." Als er 
nachher den Mondschein auf Bismarcks Glatze persönlich 
beim Beriiner Kongress bewundern durfte, ging ihm wohl 
eine Laterne auf, dass selbst naseweise Superklugheit sich 
irren könne. Den insularen Sneer, mit welchem die britische 
Oligarchie von je auf alle kontinentalen Aspirationen von 
oben herab hohngrinst, eignete sein schmiegsamer Semiten- 
verstand sich jedenfalls naturgetreu an und so thronte er in 
Mitte der „noble lords" zuletzt wahrlich wie ein Autochthone. 



— 291 — 

Sein Tric, die arbeitenden Massen durch Erbitterung über 
die starre Unfruchtbarkeit des Manchesterliberalismus, der 
ja einzig die Geschäfte der Bourgeoisie besorgt, ins toryistische 
Lager zu locken, verführte später Bismarck zu ähnlichen 
Praktiken mit dem bekannten Misserfolg, konnte aber in 
den grundverschiedenen britischen Verhältnissen, wo die 
Sozialdemokratie als Revolutionspartei keine Grundlage hat, 
nicht so verwirrend wirken. Der Erfolg gab Disraeli daher 
teilweise Recht. Nur muss man dies schlaue Parteimanöver 
nicht als einen ethisch idealen Impuls betrachten, denn 
GerechtigkeitsverpflichtungerkannteDisraeliinnerlichhöchstens 
an, wo es Gleichstellung und Erhöhung des Judentums galt 
Dagegen war er wohl mit dem Herzen dabei, als er die 
alte Victoria — eine mittelmässige und ethisch zweifelhafte 
Dame, welche zu einer neuen ,«jungfräulichen Queen Bes8^\ 
^grossen Königin^' und sonst was Guts hinaufzuschrauben 
als ein Meisterstück der englischen Verlogenheit und gleich- 
zeitig der feigen heuchlerischen Jahrhundertschwäche be- 
wundert werden darf — durch den Titel einer „Empress 
of Jndia" kirrte, damit die grösste Herrscherin der Welt 
doch nicht in Hofetikette hinter Kaiserinnen zurückstehe. 
Derlei Drücken auf den britischen Chauvinismus entsprac 
seiner eigenen phantatischen Ader, die ihm seine orientalische 
Abkunft oft ins Gedächtnis rief. Diese Phantastik, rein 
sinnlich und gemütskalt, dies Berauschen mit glänzenden 
Machtbildern war von jeher den Hebräern eigen und die 
Hartnäckigkeit, womit sie ihre messianischen Hoffnungen 
festhalten, lässt sich d'Israeli nicht abstreiten. „The EngUsh 
want Gyprus'^ schrieb er in einem seiner Romane und er 
ruhte nicht, bis er später diese These realisierte. Auch 
ziehen sich gewisse prinzipielle Sym- und Antipatien wie 
ein roter Faden durch seine literarischen Gebilde, worin er 
sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit treu blieb. Seine 
Snob- Verliebtheit in die Aristokratie bekundete er von 
„Vivian Grey" bis „Endymion", ein gewisser toryistischer 
Reformsozialismus macht schon frühin„Sybir^und„Goningsby^^ 
seine Aufwartung, seine Neigung für den Orient und seine 
Apotheose des Judentums bricht immer durch. Überhaupt 
sind Fiktionen wie „Tancred" ihm nur ein Vorwand, um 

19* 



— 292 — 

allgemeine politische, soziale, religiöse Reflexionen aufza- 
speichern. Literarisch bleibt seine Hinterlassenschaft so gut 
wie wertlos. Dass er mit der yorlaut frechen Beichte seiner 
jugendlichen Streberei und seines anfänglichen politischen 
Scheiterns als Intrigant ,yiyian Orey^ und mit der gecken- 
haften Schlussbeichte des Earl of Beaconsfield ,Endymion^ 
Anfang und Ende seiner Laufbahn bezeichnete, das heisst 
mit seinen wertlosesten und dem Fluch der Lächerlichkeit 
verfallenen Büchern, gibt hier den Massstab. Merkwürdiger- 
weise enthüllte er wirkliches Talent nur in seinen zwei 
ziemlich unpolitischen Herzensgeschichten „Contarini Fleming^ 
und „Henrietta Temple^, wobei er in ersterem dem ganzen 
OroU des isolierten Semiten in einer arischen Gesellschaft 
kräftige Töne lieh. Seinem gereizten Judenstolz verdankt 
man übrigens die unvorsichtige Ausplauderung, dass ein 
grosser Teil des blaublütigen Adels, auch des preussischen, 
mit Judenblut geschwängert sei. Der holde Benjamin spielte 
als Dandy „about town^^ zusammen mit dem aus Byrons 
Aufenthalt in Oonua bekannten Gomte d'Orsay, Lady 
Blessingtons Gicisbeo, eine tonangebende Oeckenrolle und 
im Hause besagter Lady Blessington, durch ihre „Conver- 
sations with Lord Byron" Mode geworden, fing er frühzeitig 
an, sich zu gesellschaftlichem Mittelpunkt auszubilden. Mit 
besonderer Virtuosität wagte er als Liebhaber in der 
erotischen Roulette auf „Trente et Quarante", einflussreiche 
Damen von 30 — 40 Jahren, seinen Einsatz. 

Das Publikum, immer nur Stoffliches begreifend, schob 
den anonym erscheinenden „Vivian Grey" Bulwer zu, weil 
dessen „Pelham" kurz vorher mit gleichem jugendlichen 
Behagen an glitzernden Äusserlichkeiten, doch mit über- 
legenem Esprit, das Dandytum personifizierte. Schon die 
Episode darin mit dem berüchtigten historischen Stutzer 
Brummel ging weit über Benjamins Fassungsvermögen, der 
ganz naiv und als gläubiger Snob in diesen Salonintriguen 
das „Leben" und die „Yornehmheit^^ sucht Höchstens in 
der tötlich gekränkten Eitelkeit des boykottierton Debütanten, 
dem sich Edens Salontore wieder verschliessen, fand er Natur- 
laute seines edeln Linem, während Bulwer sich von den Vor- 
urteilen und Seichtigkeiten seiner Kaste zu erlösen strebte 



— 293 — 

Man sieht hier wieder den unterschied des vomehmen 
Herrn vom ^Tufthunter^ und ,Detrimental\ der als Outlaw 
und Outcast beginnt, um als snobischer Parvenü in Amt 
und Würden zu enden. Wir haben über Bulwer nicht 
günstig urteilen können, so hohe Achtung uns sein ernstes 
tiefes Streben und seine unleugbare Idealität, nur leider in 
parfümiert aristokratischer Maske, einflössen. Aber wir 
können nicht umhin zu ergänzen, dass er in „The Caxtons^^ 
und „What will he do with it^^ erspriessliche Versuche 
machte, aus dem aristokratischen Zirkel herauszubrechen 
und breiteren gemütlichen Humor des Home- Life zu erhaschen. 
Freilich bleibt auch hier das Aristokratische so unwahr 
betont, dass man manchmal versucht wäre, nicht einen echten 
Lord Lytton, sondern einen Parvenü im Autor zu vermuten. 
Dass in „My Novel'^ noch gar der politische Flüchtling Doktor 
Riccabocca sich als Herzog und der bäurische Dichter Leonard 
als legitimer Sprössling eines hochgeborenen Ministers ent- 
puppen, geht doch über den Spass. Sogar in seinen spiritistisch- 
okkultistischen, übrigens auf tiefgründigen Studien aufgebauten, 
„Zanoni^^ und „A stränge story^ will dies Highlifemässige 
nicht Abschied nehmen. Doch nun vergleiche man die 
augenfällig Bulwer nachempfundenen Kopien von Disraeli! 

Sein unglaublicher „Young Duke^^ scheint von Theodore 
Hook geschrieben, nur ohne die Paul de Eock-artige rot- 
bäckige Behäbigkeit, die dessen Highlifegeschichten zwar 
von der Hintertreppe sieht, aber mit einiger naiv-snobiger 
Richtigkeit Bezeichnend, dass Benjamin auch hier elende 
Vornehmtuerei mit einem politischen Thema: Emanzipation 
der Katholiken verquickt Wo er mal wie in einigen 
Episoden von „SybiP^ wohlfeile Lronie aufblitzen lässt, ver- 
pufft sie matt an der Oberfläche, und wo nicht ödes Salon- 
geschwätz aufgetischt wird, da werfen geheimnisvolle unbe- 
kannte Weltherrscher wie Sidonia in „Coningsby" allerlei 
phantastische Zukunftsbrocken hin, die heimlich vom 
goldenen Tische der Zukunftsherrlichkeit Israels fallen. 
Man kommt bei Prüfung Disraelis zu dem nämlichen Ein- 
druck, wie etwa bei Auerbach und Heyse, nur in viel 
stärkerem Masse, dass der jüdische Geist weder zu 
realistischer Lebensabformung noch zu idealischem Schwünge 



— 294 — 

fähig sei. Möglich jedoch, dass uns eines Tages ein Aus- 
nahmemensch jüdischer Rasse Lügen straft, da schon einmal 
in Heine eine grosse Ausnahme aus dem allgemeinen 
Rahmen herausfiel. 

Es hat etwas Bemühendes, aus solchem Munde fort- 
während den Preis Byrons zu vernehmen, dass dieser „uns^^ 
nötig sei, offenbar um die Erschlaffung der durch Napoleons 
Niederwerfung gesättigten Aristokratie aus dem Dreck zu 
reissen, was hier im kindisch unklarem Lallen über Byrons 
weltmännische Lebenskenntnis sich versteckt. Dass Leute 
wie Disraeli für Byrons wahre Grösse kein Organ haben 
und höchstens die beissende Oesellschaftssatire des ,,Don 
Juan^', dies sportlustigverwegene Spielen mit den Dingen, 
begreifen können, liegt auf der Hand. Doch hat Disraeli, 
der 1877 als Präsident des Byronkomitees (zur Errichtung 
der schlechten Statue im Hydepark) sich natürlich nicht 
entbrechen konnte, als gereifter Konservativer sein Bedauern 
über Vieles in Byron — nämlich das Unsterbliche — aus- 
zudrücken, seiner Byronverehrung ein seltsames Denkmal 
gesetzt Sein Roman „Venetia" wirft nämlich in einer nur 
Eingeweihten erkennbaren Weise das Leben Byrons und 
Shelleys bunt durcheinander, so dass Lady Byron Shelleys 
Gattin, Byrons Tochter Adah als Venetia Shelleys Tochter 
und Byrons Flamme, gleichzeitig identisch mit Byrons 
Jugendliebe Mary Chaworth wird. Man mag sich denken, 
als was für Schemen Byron (Lord Cadurcis) und Shelley 
(Marmion Herbert) in diesem Tohuwabohu herumhuschen. 
Besonders drollig wirkt die neue Versversion, welche hier 
der unvergleichlichen Ewigkeitspantomime „Der Traum^' ge- 
legentlich gegeben wird, da Disraeli (wie übrigens auch 
Bulwer) der Ehrgeiz plagte, Gedichte dichten zu wollen. 
Bezeichnenderweise gelang eine Partie sehr gut: Byrons 
Lionship in der Londoner Season, wobei auch das historische 
Ehepaar Melbourne- Lamb nicht übel getroffen. Die freie 
ümdeutung, die als Ursache der Ächtung Byrons unter- 
geschoben wird, nimmt die geheimnisvollen Gründe sehr 
leicht, verrät übrigens den geheimen Groll Disraelis gegen 
die konventionelle Bigotterie der englischen Gesellschaft, die 
ihm selbst oft übel mitspielte. Immerhin hat die Szene^ 



— 295 — 

welche zwar so nicht historisch vorfiel, jedoch in Dover bei 
Byrons Abreise sich ähnlich abspielte, wo Lord Gadurcis 
alleine dem Strassenpöbel trotzt, einen persönlichen Ton 
eigener ErgriflPenheit Man erinnert sich, dass der ver- 
spottete ausgepfiffene „JudenbengeP^ Benjamin nach ver- 
unglücktem Maiden Speech im Parlament dem Hause trotzig 
zurief: „Ihr werdet mich noch hören !^^ Nun, wie man ihn 
hörte, das werden wir noch an andrer Stelle ausführlicher 
behandeln müssen. 

Dieselbe Zähigkeit im Festhalten des einen Ziels, näm- 
lich der eigenen Erhöhung, dieselbe Ellenbogenrücksichts- 
losigkeit, sich Raum zu schaffen, treffen wir bei Oambetta 
wieder und vor allem den gleichen ,,flair^^ für Erfolgmöglich- 
keiten, dasselbe Glück, das überall den Juden lächelt Er 
verheimlichte übrigens seine jüdische Abkunft (sein Vater 
war schon getauft) und wir sind nicht sicher, ob er nicht 
mütterlicherseits arisches Blut in den Adern hatte. Seine 
Laufbahn vor und nach 1870 wäre ohne jede typische Be- 
deutung, da er sich vorher in nichts von Jules Favre, 
Rochefort, Louis Blanc und Ähnlichen und nachher nur 
wenig von Waldeck-Rousseau, Gombes oder solchen Arri- 
visten unterschied. Aber das Jahr 1870 liegt dazwischen 
und sichert ihm eine unver wischliche Unsterblichkeit Die 
Kraft, mit welcher er damals über alle militärischen Be- 
hörden weg die am Boden schleifenden Zügel der Zentral- 
gewalt ergriff und als Zivildidaktor alle Gewalten Frank- 
reichs straff zusammenfasste, wird stets bewunderungswürdig 
bleiben. Ihm allein verdankt die ,Grosse Nation^ dass sie 
ihrer würdig unterlag und ohne Schamerröten auf den 
grössten Nationalkampf der Kulturgeschichte zurückblicken 
darf. Sein Organisationstalent erwies sich so ohne Gleichen, 
dass man auf Napoleons Leistung im Frühjahr 1813 (nach 
dem Zusammenbruch seiner alten Armee) zurückgreifen 
muss, um einen geeigneten Masstab zu finden. Gambettas 
Kriegsimprovisierung stampfte gradezu Armeen aus dem 
Boden. Arbeitskraft, Umsicht, Energie standen bei ihm auf 
gleicher Höhe. Man braucht nur den klassischen Brief an 
Fregattenkapitän Jaur^ zu lesen, aus welchem das 21. Armee- 
korps wie durch Zauberschlag hervorging. Allerdings darf 



— 296 — 

man nicht vergessen, dass dem kleinen Ziviijuden ein ebenso 
fähiger kleiner Zivilarier de Freycinet zur Seite stand. 

Diese Zwei und ihre Zivilkommissare wie de Serres, 
auch Thestelin im Norden, schufen allein die Heere und 
alles Vernünftige bei deren Leitung. Die Generale waren 
Statisten, selbst der eigenwillige und räumlich Oambetta 
entrückte Faidherbe folgte dessen Weisungen. Chanzy, den 
er fand und erfMid, ihm einen Buhm verschaffte, der ihm 
als Feldherrn nicht zukam, blieb bis zuletzt nur sein Werk- 
zeug. Eine Reise nach Besancon genügte ihm. Cremer zu 
entdecken und Cambriels abzusetzen, dessen angezweifelte 
Bechtschaffenheit er im übrigen sofort als rein erkannte. 
Sein Blick durchdrang alle Verhältnisse und Menschen. 

General Thoumas kann sich in seinen Memoiren der Be- 
wunderung für den kleinen Mann mit der Löwenmähne 
nicht erwehren, dessen rastlose Beweglichkeit überall zu 
Feuereifer selbst Widerwillige fortriss. Seine Organi- 
sationsarbeit musste von Berufsmilitärs an und für sich als 
staunenswert hingenommen werden, doch knüpft man daran 
die bekannten Tiraden über Nutzlosigkeit und Untüchtigkeit 
von Volksaufgeboten. Vergebens hat auch der französische 
Berufsdünkel der Militärkaste dem Unmut gefährdeter 
Standesinteressen nörgelnd und mäkelnd Luft gemacht 

Wir gehen noch weiter und haben in ausführlichen 
Studien, auf die wir hier nur verweisen können, Gambetta 
sogar ein Feldherrntalent zugesprochen, einen grossen freien 
Blick für operative Massenbewegungen. Seine Korrespondenz 
mit seinem ersten Generalissimus Aurelles lässt keinen Zweifel 
darüber, wer hier von Strategie eine Ahnung hatte, Gam- 
betta-Freycinet oder der Berufsmilitär. Auch hat nur Un- 
wissenheit ihm vorgeworfen, dass er seine armen Generale 
ins Unmögliche hetzte, im Gegenteil mässigte er Chanzys 
rührenden Optimismus, und den Belfortzug hat Bourbacki 
selbst in Gemeinschaft mit Trochu auf dem Gewissen, 
während Gambetta die richtige Offensive gegen Friedrich 
Karls Flanke bei Montargis wünschte. 

Gambettas Beredsamkeit bestimmte wie seine Tatkraft 
nur sein Temperament, es waren rollende dantoneske Töne 
ohne weiten Ideenkreis, Augenblicksreden und Augenblicks- 



— 297 — 

poIitik. Sein Privatleben hat Drumont „La France Juive^^ 
vielleicht zu düster gemalt Jedenfalls bereicherte er sich 
durch Börsenmanöver, hielt sich mit der prahlenden Gier 
des Parvenüs den bestbezahltesten Koch und die teuersten 
Maitressen. Eine davon wurde so teuer, dass sie ihm das 
Leben kostete und er noch kläglicher als Lassalle durch 
ekle Weibergeschichte zu Grunde ging. Gambettas Verdienst 
als Eriegspatriot wird nicht vergessen werden. Doch lasse man 
nicht ausser Acht, dass auch die Zivilregierung in Paris Er- 
staunliches hervorbrachte und dass ein gut Teil der gross- 
artigen Gesamtleistung aufs Konto des Prinzips und Systems 
selber, des revolutionären Elans der Massenerhebung, kommt 
Am Ende hat ja auch der aus ähnlichen Laien bestehende 
Wohlfahrtsausschuss des alten Terreur nebst den jungen 
Yolksrepräsentanten ähnlich Ungeheures gewirkt Genialität, 
wie man's landläufig nennt, wird man Gambetta sicher zu- 
erkennen, von da bis zum schöpferischen Genie ist's aber 
noch gar weit Gemessen an grossen arischen Staatshelden 
erscheint dieser erste jüdische Mann, der eine welt- 
geschichtliche Figur vorstellte, doch menschlich recht klein. 
„Das fehlte uns bloss noch!^^ rief er verächtlich bei der 
Kunde von Garibaldis Ankunft und ermangelte dieser 
historischen Beliquie gegenüber in fast unanständiger 
Brutalität jedes Bespekts. Die Pietätlosigkeit des Juden 
für arische Geschichtlichkeit tritt hier hervor. „Mein Herz 
ist gross genug, um Voltaire und die Pucelle gemeinsam 
zu umfassen^\ dies sein schönstes Wort, das ein National- 
franzose vielleicht nicht hätte sprechen dürfen, bekundet 
die Fähigkeit des Juden, seiner Vergangenheit nach parteilos 
das Tüchtige der Gesamtheit zu empfinden. Dass hierin 
eine wohltätige Mission des Judentums liegen könnte, 
leugnen wir nicht Bisher hat man aber dafür kein anderes 
Anzeichen. Freilich gab auch noch einer sich redliche 
Mühe dazu: Ferdinand Lassalle. 

„Wenn der Junge da erwachsen ist, dann wird man 
meine Gebeine ausgraben !^^ hörten wir selbst als Kind den 
Messias des Sozialismus perorieren. Wir sehen ihn noch, 
wie er in der Stube auf und ab schritt und seinem Freunde 
Bleibtreu, dessen Gemälde aus den Befreiungskriegen er 



— 298 — 

besonders hochschätzte und über dessen ^Napoleon bei 
Waterloo^ er eine sprühende zündende Rezension schrieb, 
die Notwendigkeit der neuen sozialen Ordnung zu Oemüte 
führte. Wir sehen noch den starren Funkelblick, mit dem 
er uns liebevoll anherrschte: „Junge, was guckst du?'^ 
Lassalle war ein bezaubernder Mensch und alle, die ihn 
näher kannten — darunter Leute wie Humboldt, Boeckh, 
Fückler-Muskau und der alte Scherenberg, dessen Schlacht- 
dichtungen in Lassalle einen gleich warmen Gönner fanden 
wie im Prinzen von Preussen! ~, ehrten in ihm den 
Dämon, der seine hohe Stirn geküsst. 

Lassalle hatte einen unheimlichen Doppelgänger, den 
Babbinersohn Karl Marx, der übrigens nebenbei dem Juden- 
tum bittere Wahrheiten sagte und beichtete, dass dessen 
wahrer Gott allzeit der Mammon gewesen sei. Er muss ja 
wissen. Dabei blieb er aber selbst im Banne dieser An- 
schauung, indem er den Sozialismus einzig auf eine ökono- 
mische Basis stellte. Auch ihm erschien das Geld als der 
allein bewegende Faktor und so schrieb er sein „Eapital^\ 
worin er die Selbstauflösung des Kapitalismus bei zunehmen- 
der Verelendung der Massen predigt Es steckt in dieser 
Hegelianischen Formeldialektik viel Talmudisches und seine 
kalte Abstraktion, womit dieser praktische Spinoza gleichsam 
als ,)Substanz'* das Kapital herausschälte, hat sich bisher 
empirisch, durch die Tatsachen widerlegt. Die Verelendung 
schritt nicht fort, sondern ging zurück, der Kapitalismus 
hörte noch lange nicht sein letztes Stündlein schlagen und 
der am Jahrhundertende erwartete grosse Kladderadatsch 
wird noch lange ausbleiben. 

Neben diesem düsteren Talmudisten steht Lassalle wie 
etwas Reales, wie blühendes Leben. Obschon begeisterter 
Hegelianer, verlor er sich nicht in Abstraktionen und ver- 
kannte nicht die lebendigen und wechselnden Triebfedern 
der Dinge. Wenn man Marx den Robespierre und Lassalle 
den Danton der sozialen Revolution (vorerst nur in der 
Theorie) nennen wollte, so setzt dieser Vergleich Lassalle 
herab, da gerade er den Gedankenreichtum Robespierres 
und dessen ideale Begeisterung mit Dantonischer Tatkraft 
vereinte. Freilich haftete ihm auch Dantons Genusssucht an. 



— 299 — 

seine erotischen Abenteuer mit der Hatzfeld und Dönnige» 
sind weltbekannt geworden, weniger seine Aventüren mit 
Frau Dunker (Jüdin) und jener Russin, die uns mit ,,üne 
page d'amour de Ferdinand Lassalle^^ beglückte. Allein, 
wenn er auch parvenühaft den Geldsack seines Papas, eines 
üblichen Schachermoses, prunkliebend zur Schau stellte und 
einen Alcibiades-Lebenswandel im Stile der berüchtigten 
Geniezeit bis in die nüchternen sechziger Jahre fortsetzte, 
wobei auch oft der Schwanz des Alcibiadeshundes pour 
6pater le bourgeois nicht fehlen durfte und selbst die Erotik 
zur Pose ward, so kann man ihm wenigstens nicht Danton- 
sche Schmutzereien in die Schuhe schieben. Wohl hat er 
der Arbeitersache selten einen Groschen geopfert, doch sich 
auch nie mit Arbeitergroschen bereichert, vielmehr uneigen- 
nützig und unter Gefahr und Widerwärtigkeit die Sache des 
Volkes vertreten. Dass bei dem allen viel Eitelkeit und 
Ehrgeiz sich verbarg, vielleicht auch verfrühte Machtchimären, 
die seinen sonst gesunden Sinn für Realitäten verblendeten, 
mag sein. Aber bei bedeutenden Tatmenschen schwimmen 
persönliche Ruhmsucht und idealer Schaffenszweck oft in- 
einander über, und wer hier alle Unterschiede zwischen den 
brutalen Ganz-Egoisten und den idealistischen Halb-Egoisten 
verwischen möchte, erinnert an Larochefoucoulds Phrase: 
die Tugend sei nur verfeinertes Laster. Möglich, aber wir 
müssen eben diese Verfeinerung sorgsam von dem Wald- 
und Wiesenlaster trennen. Darum halten wir als Kriterium 
fest, dass derjenige noch Idealist genannt werden dürfe, der 
ohne materiellen Eigennutz einer Sache dient Und dies 
trifft für Lassalle um so mehr zu, als ihm, einem Liebling 
der Berliner Salons und einer Hoffnung der Gelehrtenwelt, 
jede universitäre, und wenn er sich taufen Hess, sogar eine 
Staatskarriere offengestanden hätte. Er zog ein ungebundenes, 
aber mühseliges und verfolgtes Wirken als Volkstribune vor. 
Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne! 
konnte er dabei nicht singen. Den dummen Revolverschuss, 
der ihn im kräftigsten Mannesalter wegraffte, hat nicht jener 
rumänische Abenteurer, die offizielle Gesellschaft hat ihn ab- 
gefeuert Selbst in seiner Erotik offenbarte sich etwas 
Ritterliches und Ideales, so sehr seine Zuchtlosigkeit abstösst 



— 300 - 

Wir Termögen ihm sein Yerhältnis zur Hatzfeld, die er sich 
in jenem berühmten Prozess erbeutet hatte, nicht zu ver- 
übeln und die dauernde Kameradschaft, nachdem die Leiden- 
schaft erloschen, war im besten Stil. Der wahre Ethiker 
wird nie zum kleinlichen Moralisten herabsinken und die 
sinnlichen Leidenschaften eines genialen Menschen ver- 
dammen wir erst dann, sobald das Allzumenschliche sein 
Ideales anfrisst. Das war aber bei Lassalle nur in geringem 
Masse der Fall und selbst seine Begierden adelte er als 
Herzensempfindungen. Überhaupt hatte seine Rhetorik, so 
kalt real seine forensische Beredsamkeit sich an Tatsäch- 
liches hält, dichterischen Schwung, wie seine Tragödie 
„Hütten" zeigt Er schwelgte in tönendem Freiheitpathos 
und ahndete Julian Schmidts (Jude) öde Abfertigungen 
Schillers und Platens (an sich nicht unberechtigt, aber ein- 
seitig und lieblos vorgetragen) als Majestätsverbrechen. 
Dass wir freilich dieses literarische Pamphlet für sonderlich 
geistreich halten, können wir nicht sagen. >) Er bleibt eben 
immer nicht Denker und Autor, sondern Mann der Tat und 
Propagandist. 

Wie Gambetta ein französisch Herz im Busen trug, der 
Ministor Luzzatti als Italianissimo sich gebärdete, so brannte 
auch Lassalle von patriotischem Feuer für die deutsche 
Einheit, sofort bereit, mit Bismarck zu paktieren, den er 
früher als Irgendeinanderer als Schicksalsmann erkannte. 
Nein, wir sagen es aufrichtig : so drollig es manchmal klingt, 
unsre Juden in Teutonismus schwelgen zu hören, als hätten 
sie mit Hermann dem Cherusker Eicheln gefressen, es rührt 
uns doch. Den Juden die Fähigkeit zum Patriotismus 
abstreiten wollen, verdammen wir als grobe Ungerechtigkeit 
und Fälschung. Die zweitausend Juden, die man 1885 



') Oft reine Silbenstecherei und masslose Grobheit Doch dass jener 
ekelhafte Ignorant nnd Klugschwätzer, ein Ahne solches heatigen Gezüchts 
k la Schienther, Moritz Meyer, Erich Schmidt und Konsorten, durch die 
Grenzboten-Clique zu einer Autorität aufgeblasen wurde, musste ja einem 
echten Gelehrten, wie Lassalle, die Galle überlaufen machen. Vortrefflich 
ist die Stelle, wo er für Schmulian Jüds Hass gegen Fichte eine Fichte- 
8che Steile über das Zeitalter der „leeren Freiheit^' (Journalistik) zitiert: 
„Pfui, Herr Schmidt, wer wird so rachsüchtig sein?^^ 



— 301 — 

allein in Berlin als Mitkämpfer von 1870 zählte, haben ihre 
Knochen gradesogut zu Markte getragen. Nur wenn es dem 
Judentum irgendwo schlecht geht, verflogen ist dann das 
Patriotentum. Das ist menschlich. Die Errichtung des deut- 
schen Reiches unter Auspicien der Bleich röderschaft war 
eine Neuerrichtung von Jerusalem, Lasker und Bamberger 
führten das nationalliberale grosse Wort Heut wo der 
jüdische Liberalismus als Partei zertrümmert, wo nicht jeder 
Antisemit als „Schandfleck des Jahrhunderts^^ geächtet und 
das Judenregiment nicht blindlings anerkannt wird, obschon 
es noch immer tout Berlin ausmacht und einen Monopol- 
druck auf die öflPentliche Meinung nach wie vor ausübt, 
heut schwindet merklich die Teutonenliebe der Juden. Nur 
nach England schielen sie heut wie nach ihrer festen Burg 
und nur aus Profitfurcht, um nicht ihre Leser abzustossen, 
bekannte die jüdische Presse nicht offen ihren Beifall für 
den Transvaalraubzug. Kurz, sie lieben ihr Adoptivvaterland 
absolut, wenn es ihnen den Willen tut. Wollen sie doch in 
Allem die Leiter und Gründer sein, sowie man sogar be- 
hauptet, ein Jude Rodrigo de Triana habe zuerst Land 
bemerkt und ein Jude Luis de Torres es zuerst betreten . . 
bei Golombos Entdeckungsfahrt Und so tritt denn in jedem 
Augenblick, wo antisemitische Stimmung sich regt, die inter- 
nationale Solidarität an die Oberfläche und lehrt, dass der 
jüdische Patriotismus im letzten Grunde doch nur der eigenen 
Rasse gehört Ein Jude, der den Glauben seiner Väter auf- 
gibt, trennt sich darum keineswegs vom Judentum. „II est, 
pour moi, une autre patrie^^ bekannte ein solcher. Auch 
das humanitäre Treiben der Friedensliga, bei dem eine 
eitle ütopistin wie die Suttner nur ein Werkzeug und die- 
Judenschaft den Motor bildet soll den jüdischen Interessen 
zu Gute kommen. Während Isaac Pereira noch gütigst den 
heiligen Stuhl als Schiedsrichter einsetzen möchte, enthüllt 
Salvador den innersten Gedanken: Jerusalem soll die Heilig» 
Stadt werden, von welcher die Vereinigten Staaten von 
Orient und Occident Friedensgesetze erhalten! Wohl be- 
komms! Die katholische Kirche wird ihr Placet darauf 
drücken, nachdem die Brüder Ratisbonne und Brüder Lemann 
in apostolischem Eifer dem heiligen Liebermann, Gründer 



— 302 ~ 

-der Kongregation der Missionäre des heiligen Geistes, vor- 
arbeiteten und 80 ihren Rassegenossen canonisationsreif 
machten. Die Literatur canonisiert nicht minder. Auf 
Browning's Rabbi ben Esra folgt der Mordecai der Eliot, 
Dumas Fils gibt seine Visitenkarte beim allmächtigen Zion 
mit Daniel (,,La femme de Claude^') ab, Bourget mit der 
edlen Jüdin Hafner in „Gosmopolis^\ Grillparzer macht seine 
Verbeugung mit „Esther'" und der „Jüdin von Toledo", was 
diesem Stück sofort die Meistaufführung nach seinem Tode 
sichert Und so sieht eine Rasse, für die das Leben eine 
Börsenafiare bedeutet und nur hier und da ein hektisch 
krankhaftes Aufflammen für perverse Phantome von Sophisten 
gestattet, sich idealisiert Denn Fin de Si^cle heisst all- 
gemeine Verwirrung von Widersprüchen. Eine nichts- 
nutzige, von Habsucht, Geiz und Geilheit verzehrte Ghetto- 
jun«^fer Namens Rachel figurierte als Interpretin der Heroismen 
Corneilles. Eine ihrer würdige Reklameschwester, die Grosse 
Sarah (Bernhardt, aus Frankfurt) mimt chauvinistische Ge- 
fühle und verschmäht Deutschlands Theater: „100000 Francs 
genügen Mir nicht, Ich will Elsass und Lothringen." Doch 
sobald sie merkt, dass der Chauvinismus daheim sich end- 
lich abkühlt, und als Quittung für die Droyfussaffare geruht 
sie Berlin doch noch zu beglücken, wo sie ja ihre Stammes- 
^enossen als Claqeure findet und tout Berlin (Jerusalem) 
sich ihrem Zepter beugt 

So sehr die Juden heut Lassalle und Heine als National- 
heilige ehren, so fielen sie doch zu sehr aus dem materia- 
listischen Eudämonismus der Jndengesinnung heraus, um 
nicht bei Lebzeiten lebhaften Anstoss zu erregen. Die reichste 
Fundgrube für alle Antisemiten, die Heine als Schmutzian 
brandmarken wollen, bieten die gehässigen Mitteilungen des 
Juden Alexander Weill. Denn die schadenfrohe Bosheit, 
deren Gift so oft aus ihrer Ghettoerziehung spritzt, kehrt 
sich oft gegen sie selber. Wie die Frauen unter sich ihre 
Verengelung durch die Feministen belächeln und sich gegen- 
seitig mit immer regem Neid und Misstrauen belauern, so 
die Juden unter sich. Irren wir nicht, verdankt man Herrn 
Julius Levy aus Rodenberg die pikante Anekdote, wie 
Lassalle mit der Dönniges aufs Brandenburger Tor herab- 



— 303 — 

blickt und prahlt, er werde mit ihr als Triumphator der Re- 
volution hindurchfahren, während er zugleich auf einen 
,,kleinen hässlichen Juden^ stichelt, der grad yorüberging. 
Dieses war nämlich Herr Rodenberg selber, der natürlich eine 
sittlich entrüstete Bemerkung daran knüpft.^) Würde nichts 
beweisen, als Lassalles sattsam bekanntes Selbstgefühl und 
seine persönliche Abneigung gegen seine Rasse. Wir wissen 
aber ausserdem, dass er im persönlichen Umgang mit Leuten, 
die er achtete — und seine Achtung erwarben nur seelische 
Eigenschaften — nicht nur frei von jedem Hochmut, sondern 
rührend bescheiden, verträglich und versöhnlich war, sich 
sogar derbe Rügen gefallen liess. Wir lassen, persönlich gut 
unterrichtet auch über Lassalles Charaktermängel, nichts auf 
sein Andenken kommen, da wir nie kleinlich mit Moralin- 
säure solche Orossnaturen bespritzen. Eine unverkennbare 
Idealität trat in ihm deutlich zutage, wie er denn trotz 
seiner jüdischen Sinnlichkeit den Umgang anständiger hoch- 
gebildeter Frauen, wie es deren leider in seinem näheren 
Zirkel nur eine gab, mit besonderer Verehrung suchte. 
Wir haben davon Zeugnisse in Händen. 

Dieser geistige Aristokrat stand freilich mit seiner 
Hochkultur in sozialistischen Kreisen ganz allein. 

Genie? Kunst? Lächerlich! „Es braucht mehr Genie, 
um RhoneschiflPer zu sein, als um Hugos .Orientalen^ zu 
schreiben!" geifert Proudhon. Und dies Geschwätz entsprach 
nur dem allgemeinen antikünstlerischen Zuge der Zeit. Die 
Griechen taugten nichts, sie waren bloss Genies. „Dies 
glänzende Volk hat nichts begründet, nichts dauerndes er- 
richtet, und es blieb an ihm nichts als Andenken von Ver- 
brechen und Unheil, von Büchern und Statuen. Es fehlte 
ihm immer an gesunder Vernunft ^^ So fällt Lamennais, aus 
dem Friesterwahn in den Freigeistwahn hinüberspringend, 
in die Kloaken des Rationalismus. Die Tollwut gegen jede 



^) Berthold Auerbach fanden wir mal in Lachkrämpfen auf dem 
Sofa: „Ach^ ich freu mich so! Denk' Dir, der infame Rodenbeig bat ein 
Buch geschrieben und es ist so schlecht!'^ Dagegen erzählte uns Karl 
y. Heigel, wie die Todfeinde Auerbach und Rodenberg sich als Juden über 
seinen Kopf einigten, nachdem Heigel sich Auerbachs Schimpfen gegen 
Rodenberg Terbai 



— 304 — 

religiöse VorstelluDg schäumt mit dem Mande: ,,Die Weiber 
in Egypten prostituierten sich öffentlich den Krokodilen!^ 
rast Proudhon und bereichert so die Naturgeschichte kirch- 
licher Kulte um ein neues Faktum. Die Krokodile sind 
natürlich die Priester im Beichtstuhl, um sich den Bildungs- 
zustand zu vergegenwärtigen, der aus allgemeiner Erhöhung 
des geistigen Niveaus die Stunde des Sozialismus gekommen 
wähnt, lese man den von Flaubert festgenagelten 1860 
öffentlich gesprochenen Satz: „Die Stadt Cannes, doppelt 
berühmt durch den Sieg Hannibals über die Römer und 
durch die Landung Bonapartes/^ Man glaube ja nicht, dass 
in Deutschland — anderswo unterscheidet er sich gar nicht 
vom französischen — der Bildungsstand ein so viel höherer 
sei. Noch im Jahr 1883 erlebten wir, dass ein grosses 
deutsches Blatt „La Convention" mit „Die Convention" über- 
setzte, ohne zu wissen, dass dies einfach „Der Convent" 
heisst, also über einen der wichtigsten historischen Namen 
im Nebel tappte. Aus dieser Atmosphäre der Halbbildung 
und des seichtesten Positivismus erklärt sich der gemeinsame 
flass der Rück- und Fortschrittler gegen jeden echten 
Idealismus. „Byron, sehr gerecht von Familie und Vater- 
land ausgestossen, würde einfach, wäre er ein Mensch von 
gesundem Verstand gewesen, Busse getan haben, um das 
Recht zurückzuerlangen, seine Tochter zu erziehen und 
seinem Staate zu dienen." (Veuillot, ,Freidenker'.) Vor dem 
obersten Gesetz, alles Strahlende kritisch zu schwärzen und 
nörgelnd in den Staub zu ziehen, beugt sich auch der 
heimlich vor sich selbst einer unkritischen Bewunderung 
für irgendwen Verdächtige. „Wenn man Napoleon in Ver- 
bindung mit Moralqualitäten beurteilt, ist es schwer ihn zu 
würdigen, weil man schwerlich Oüte bei einem Soldaten, 
Freundschaft bei einem Manne ohne Gleichen, Ehrlichkeit 
bei einem Weltherrscher vermuten kann. Indessen, etwas 
ausserhalb der gewöhnlichen Regeln wie dieser Sterbliche 
war, ist nicht unmöglich, hier und da gewisse Züge seiner 
moralischen Physiognomie zu erfassen." Wer redet so? 
Napoleons glühender Bewunderer Thiers. — 

Zur Entstehungsgeschichte des Sozialismus muss wieder- 
um festgelegt werden, dass auch hier die beiden jüdischen 



— 306 — 

Propheten Lasalle und Marx, so viele Achtung und Neigung 
wir ersterem entgegenbringen mögen, nur auf den Schultern 
von Ariern standen und deren Anregung folgten. Ausser 
Proudhon und Fourier war es hier besonders St Simon, von 
dem Taine meint, er habe mit Shakespeare und Balzac zu- 
sammen die meisten ,menschlichen Dokumente^ aufgehäuft 
unter diesen Dokumenten fehlt nur eins: der grosse Mensch. 
Alles bleibt auf Herdeninstinkte zugeschnitten. „Grosse 
Menschen kann, ja darf es nicht mehr geben^^ gestand un- 
verfroren J. W. Drapers materialistische Kulturgeschichte, 
wie sie nur in einem Yankeehirn entstehen konnte. Schon 
gegen Herders Humanistik hatte Gk)ethe die Befürchtung 
geäussert, die Welt werde so ein grosses Hospital werden 
„und Einer des Andern humaner Krankenwärter^^ Gewiss 
ging Renan zu weit, wenn er, Nietzsche vorahnend, in seinen 
philosophischen Dialogen versicherte: „Zweck der Menschheit 
ist einzig Erzeugung grosser Menschen/^ Das sind im Grunde, 
obschon bei Garlyle mit religösem Brimborium versehen, 
genau solche Auswüchse eines atheistisch-mechanischen 
Materialismus, wie die sozialistische Massenlyrannis. Der 
demokratischen Menschen Vergötterung, die jedes Einzelnen 
Becht auf Glück fordert, steht aristokratische Menschen- 
verachtung gegenüber, die dem Durchschnittsmenschen über- 
haupt kein Lebensrecht gönnen will. 

Beim heutigen Geisteszustand der Massen wird aber 
der Sozialismus sich noch unbedingt Flauberts Dictum ge- 
fallen lassen müssen: „Das einzig Sichtige ist Regierung 
von Mandarinen, vorausgesetzt, dass sie etwas können.^^ 

„Quant au bon peuple, Tinstruction, gratuite et obligatoire, 
l'achövera. Quand tout le monde pourra lire le Petit Journal 
et le Figaro, on ne lira pas autre chose. . La Presse est 
une 6cole d'abrutissement, parce qu'elle dispense de penser.'^ 
So richtig drückte Flaubert (Brief an G. Sand) die unheil- 
vollen Einflüsse des Bildungsnivellements aus, das die soge- 
nannte Yolksbildung mit sich bringt ,The schoolmaster is 
abroad^ dies Schlagwort der englischen Demokratie hat fast 
nur die trostloseste Halbbildung begünstigt, wie es Bulwer 
in ,Kenelm Chillingly^ nur zu treffend darlegt Die norwegischen 
Bauemuniversitäten, wie wir an Ort und Stelle beobachteten, 

Blei btren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 20 



— 306 — 

liefern ähnliches Ergebnis. Doch freilich, wie Bieht denn 
die Eulturgesellschaft aus, die der Sozialismus bedroht? 

Man höre Flaubert über die Epoche vor 1870: ,,Tout etait 
faux! Faux realisme, fausse arm6e, faux credit et meme 
fausses catins. On les appelait ,marquises\ de meme que 
les grandes dames se traitaient familiörement de ,cochon- 
nettesS^^ Und logischerweise die Heuchelei als Frucht dieser 
Falschheit. ,,0n demandait ä Tart d'etre moral, ä la Philo- 
sophie d'etre claire, au vice d'etre d6cent, et ä la science 
de se ranger ä la port6e du peuple^^ Hat sich seither 
Wesentliches daran geändert? Das Eingeständnis Flaubert 
über den „faux realisme^^ scheint beiläufig besonders be- 
merkenswert. Ja wahrlich, ein falscher Realismus öder 
Empirie, der nicht nur nichts Schöpferisches hat, sondern 
jede schöpferische Fähigkeit untergräbt, scheint die Signatur 
des letzten Jahrhundertviertels noch ärger denn zuvor. 

Eine Zeitlangzog die Sozialdemokratie noch einen gewissen 
Elan gross, eine tumultuarische Begeisterung vornehmlich 
des Biidungsproletariats. Aber was mit unsicherem Idealismus 
aufgesäugt, siechte bald an der stofflichen Ernährung mit 
der blossen Magenfrage dahin. Der Sozialismus hat als 
allgemeine Negierung des Bestehenden Gutes gefruchtet, 
doch nur zu bald verblasste der ideale Flitter seiner Idole. 

Eine hoffnungslose Skepsis griff bei Wissenden um sich, 
etwa folgenden Sinnes: „Die Erfahrung lehrt, dass keine 
Form an und für sich gut ist. Eonstitutionalismus, Republik, 
Kaiserreich wollen gar nichts sagen, da die widersprechendsten 
Ideen sich in jeden dieser Behälter einfüllen können. Alle 
Fahnen sind so besudelt mit Blut und Koth, dass es Zeit 
wird, überhaupt keine mehr zu haben. Nieder mit den 
Worten! Keine Symbole mehr! Die grosse Moral dieser 
Zeit wird sein, dass das allgemeine Stimmrecht gradeso 
dumm ist, wie das göttliche Recht der Könige, obschon 
etwas weniger hassenswürdig." Diese Zersetzung demo- 
kratischer Idole in ihrem eigenen Schoosse erzeugte das 
Verwesungssymptom Anarchismus. Wenn Dührings Ab- 
handlung über „Transzendentale Befriedigung des Rache- 
gefühls^' das Strafrecht einzig in den Wiedervergeltungstrieb 
legt, so könnte der Anarchismus diese sehr zweischneidige 



— 307 — 

Auslegung recht gut für sein angemasstes Strafrecht in 
Anspruch nehmen. Ja^ die Menschen werden immer finden, 
dass ihr einziger ernster Lebenszweck sei: zu gemessen. 
Aus dem vermeintlichen Anrecht darauf ging der Saint- 
Simonismus hervor, dessen Hauptinspirator, Rodriguez, natür- 
lich ein Jude war. Nicht ohne einen gewissen Gynismus 
sprach Lassalle es aus: „der Rechts Standpunkt ist ein 
schlechter Standpunkt im Leben der Völker.*^ Soll heissen: 
was ist Recht? Macht. Ob der Sozialismus Recht hat, ist 
eine Machtfrage. 

Wie nun Lassalle diese Machtfrage förderte, überlassen 
wir späterer Betrachtung an anderer Stelle. Hier scheint 
hingegen der Ort, uns über die Frage selber auseinander- 
zusetzen. 

Jede Begründung des Sozial-Eudämonismus als einer 
höchsten Gesellschaftsmoral verwickelt sich in Widersprüche, 
sei's Benthams utilitaristische Rechtsphilosophie, sei's John 
Stuart Mills berühmter Essay über das Nützlichkeitsprinzip. 
Hier meldet der Commonsense nur seinen eigenen Bankerott 
an, nachdem er sich durch alle möglichen Verwechslungen 
allgemeiner Begriffe hindurchgewürgt und auf schiefen 
Prämissen ein wackeliges Kaufhaus für eine besondere 
Ware merkantiler englischer Baumwollenmoral errichtet 

Indem Mill alles Heil in Belehrung durch Erziehung 
setzt, erregt er das Lächeln jedes Psychologen wie jedes 
Earma-Theosophen , da die unveränderliche Naturanlage 
jeder Erziehung spottet, um diesen Unsinn möglich zu 
machen, muss er die Fiktion einer spezifischen allgemeinen 
Seelenfunktion, der „Sympathie^^, dem „Interesse^^ entgegen- 
stellen d. h. wieder auf das Gefühl zurückgreifen. Wo 
aber dies Gefühl nicht ohnehin mächtig vorhanden, wird 
man vergeblich die buddhistische Einheit des Individuums 
mit seinen Mitgeschöpfen als Religion lehren, wie Mill vor- 
schlägt und hiermit direkt ins Metaphysische flüchtet Sehr 
natürlich! Denn der Utilitarismus ist ein so naher Ver- 
wandter des Egoismus, dass diese Siamesischen Zwillinge 
nur eine Operation auf Tod und Leben von einander trennen 
könnte, welche Operation eben nur das antiutilitarische 
Ethische vollbringen kann. Der Sozialismus täuscht sich 

20» 



— 308 — 

also gänzlich über die Beschaffenheit s^einer Moral- 
befagnisse. 

Stützt er sich utilitarisch auf „wohlverstandenen^^ Egois- 
mus, dann bleibt seine Moral nur so lange wirksam, als seine 
Anhänger wirklich für ihren Egoismus darin eine Olück- 
seligkeitsbürgschaft finden, was bei dem moralischen und in- 
tellektuellen Niveau dieses siegreichen Proletariats schweriich' 
erwartet werden kann, da der soziale Staat keine gebratenen' 
Tauben liefert. Um vorher den Egoismus der Besitzenden 
zu überwinden, gibt utilitarische Moral schlechterdings nur 
das Mittel der Gewalt in die Hand, da das „Interesse^^ des 
Philisters sich nie und nimmer aus .,S7mpathie" zur Selbst- 
entäusserung entschliessen wird. Nach erfolgter Expro- 
priation würden die ^Jnteressen^^ der Sozialisten unterein- 
ander wohl auch schwerlich jene „Sympathie^^ bewahren, die 
sie in gemeinsamem Kampf gegen die Besitzenden vorher 
zu empfinden wähnten. 

Stützt sich hingegen der Sozialismus auf die „Einheit'^ 
des Altruismus, dann hört jeder Utilitarismus auf und wir 
kommen wieder zur religiösen (christlich-^buddhistischen) Qe- 
fühlsmoral. Wenn ein anderer Engländer, WoUastone, der 
sich an Kant überlesen hatte, das Ethische ins Erkennen« 
der „Wahrheit^^ setzen wollte, so hat auch dies viel 
Komisches, da die Wahrheit etwas Wechselndes und Ab- 
straktes, das eigentlich Ethische etwas unfehlbar Bleibendes 
und tagtäglich Lebendiges vorstellt Die Wahrheit, z. B. „Du 
sollst nicht stehlen^^, legt der Sozialist aus: „Eigentum ist 
Diebstahl' und es bleibt wieder lediglich Gefühlssache, 
welche von beiden Lesarten man als wahr annehmen 
soll. Einen gerechten Ausgleich zwischen beiden zu er- 
zielen wird immer nur dem Gefühl überlassen bleiben, da 
selbst eine plausible Vernunft- Modifizierung wie: „Er- 
arbeitetes Eigentum ist niemals Diebstahl' sich logisch 
nicht aufrechthalten lässt und vom Standpunkt des ab- 
strakten Sozialismus auch das Mass meiner Arbeit mir 
kein Anrecht auf Eigentum gibt Da ich aber nun selber 
ein Eigentum vorstelle — ,)Der Einzige und sein Eigentum^^ 
(Stimer) — , wird man mir logisch auch das Besitzrecht 
m^ner physischen und psychischen Kräfte absprechen,. 



— 309 — 

«ofem sie das Durchschnittsmass überwiegen? Die absolate 
Ungleichheit der Menschen hat daher die Eigentamsfrage 
bereits bejaht und kann es sich im sozialen Staat genaa 
wie vorher nor danun handeln, ob die natürliche Aristo- 
kratie der Menschheit, die alleinige Trägerin des Fortsohritts, 
altruistisch für die Anderen arbeitet Dies tat sie aber mi- 
be wusst schon immer. Ein König Asoka vermag mehr für 
<iie Wohlfahrt der Menschen, als jede soziale Gleichheits- 
republik. 

Hören wir nun mal Lassalle schwadronieren („Arbeitei^ 
Lesebuch^^ 1863): „So lange ihr nur ein Stück schlechte 
Wurst habt und ein Glas Bier, merkt ihr gar nichts und 
wisst nicht, dass euch etwas fehlt Das kommt aber von 
«urer verdammten Bedürfnislosigkeit! Wie, ist denn Be- 
dürfnislosigkeit nicht Tugend? Ja, vor dem christlichen 
Moralprediger! Bedürfnislosigkeit ist die Tugend des In- 
dischen Säulenheiligen und christlichen Mönchs, aber vor 
Geschichtsforscher und Nationalökonomen da gilt eine 
andere Tugend. Fragen Sie alle Nationalökonomen: Welches 
ist das grösste Unglück für ein Volk? Wenn es keine Be- 
dürfnisse hat Denn diese sind der Stachel seiner Ent- 
wicklung und Kultur. Darum ist der Lazzaroni so weit 
zurück in der Kultur, weil er zufrieden sich ausstreckt und 
in der Sonne sich wärmt, wenn er seine handvoU Maccaroni 
erworben. Warum ist der russische Kosak so weit zurück 
in der Kultur? Weil er Talglichte frisst und froh ist, wenn 
«r sich in schiechtem Fusel berauscht. Möglichst viel Be- 
dürfnisse haben, aber sie auf ehrliche und anständige Weise 
befriedigen, das ist die Tugend der heutigen, der national- 
<)konomischen Zeit! Und so lange Ihr das nicht begreift 
und befolgt, predige ich ganz vergeblich.^' 

Ist es möglich, mehr verderblichen Walm in wenige 
Sätze zusammenzupressen? Lassalle fehlte es gewiss nicht 
an philosophischer Bildung. Als Hegelianer übte er seinen 
Scharfsinn, sein Buch über Herakleitos den Dunkeln machte 
nicht unverdientes Aufsehen. Und dieser Mann predigt, 
offenbar in gutem Glauben, dass die Glückseligkeit mit der 
Kultur sich steigere und dass man zu diesem Behuf die 
Bedürfnisse steigern müsse! Blieb ihm, dem Kenner 



~ 310 — 

griechischer Philosophie, so unbekannt, dass die so logische 
und naheliegende Erkenntnis des Oegenteils die Gyniker 
zur möglichsten Herabschraubung aller Bedürfnisse auf ein 
Minimum bewog? Da Kultur und Bedürfnisse notwendig 
die ünbefriedigung steigern, so müsste Sozial-Eudämonismus 
richtiger das anarchistische Ideal aufteilen: Zertrümmerung 
der Kultur, damit der Mensch sich wieder in barbarischen 
einfachen Primiti^zuständen wohlfühle. Da aber die sozia- 
listischen Denker und Führer selber einen Kultus der 
Wissenschaft und Kultur pflegen, so träumen sie sich in 
der letzten Konsequenz ihrer Utopien einen Zustand, wo 
der Mensch alle materiellen Segnungen der Kultur ohne 
ihre Schäden geniesst Das ist aber ein Widersinn, da die 
Kultur nichts abgeschlossenes jemals sein kann, die ..ver- 
dammte Bedürfnisslosigkeit^^ also niemals in ihrem Bereiche 
eintritt und mit neuem Streben und neuen Bedürfnissen 
neue Ünbefriedigung sich einstellt, ausserdem aber der 
Kulturmensch schon an und für sich wegen seiner gesteigerten 
Nervenempfindlichkeit seine Leiden verschärft fühlt. Das 
wahre Ideal wäre also eine hohe materielle technische 
Kultur mit lauter naivrohen Primitivmenschen. Da dies 
natürlich ein Unding und jede Art von Kultur den viehisch 
glückseligen Stumpfsinn ausschliesst, so beruht die Idee des 
sozialen Staates auf unlöslichen Gegensätzen. Entweder 
muss er auf die Kultur verzichten und die ganze bisherige 
Arbeit der Menschheit kassieren, weshalb der Anarchismus 
so viel logischer als der Sozialismus. Oder er muss sich 
im Gegenteil als bester Träger der Kultur fühlen, dann 
aber theoretisch ganz darauf verzichten, eine bessere Be- 
friedigung der Glücksansprüche zu schaffen. 

Wir mögen nicht lang und breit erörtern, weshalb 1) die 
Vernichtung einer besitzenden Minderheit die Möglichkeit 
geistiger Arbeit zerstören oder mindestens äusserst erschweren 
würde, 2) das allgemeine materielle Niveau durch gleich- 
massige Aufteiler von Gütern und Produktionsmitteln sogar 
anfangs nicht wesentlich sich bessern, 3) im Laufe der Zeit 
von Stufe zu Stufe sinken müsste. Ausserdem würde mit 
dem geistigen auch das ethische Niveau sich ungünstig 
verschieben und die zur Überwachung sozialer Ordnung 



— 311 — 

nötige Beamtenschaft sich wie in jeder Ochlokratie aas den 
Schlechtesten, Schreiern und Strebern, zusammensetzen, so 
dass neue Wirren unvermeidlich würden und der Anarchismus 
stets im Hintergrund lauern würde. Hat sich femer die 
sozialdemokratische Führerschaft in ihrer blinden Anhäng- 
lichkeit an den radikalen linken Flügel des sozialdemokra- 
tischen Materialismus wohl je yergegenwärtigt, wie das Ton 
ihr religiös verehrte Dogma der Erblichkeit und Milieuauslese 
notwendig die Überlebenden und Nachkommen der privi- 
legierten Klassen zu einer steten sozialen (aristokratischen) 
Gefahr machen würde? Nur ihre radikale Ausmerzung schützt 
davor. Durch derlei Blutbäder werden aber die bestialen 
Instinkte des Pöbels geweckt und genährt, wie denn bei- 
läufig auch die Erblichkeit des Alkoholismus und des Ver- 
brechertums in den unteren Schichten — immer voraus- 
gesetzt, dass man an dies darwinische Dogma glaubt wie 
alle Sozialdemokraten — zu schweren Störungen und IJnzu- 
träglichkeiten führen müsste, da höchstens in der vierten 
Generation eine Umgestaltung böser Erblichkeit durch das 
Milieu — dies andre Dogma des Sozialismus — erhofit 
werden könnte. Bei obenerwähnten bestialen Instinkten 
der sozialen Revolution wäre aber Einrichtung sozialer 
Ordnung durchaus unmöglich, da diese von vornherein ein 
massvolles vernünftiges Verhalten aller Glieder bedingt 
Man könnte noch einwerfen, dass doch auch die Fran- 
zösische Revolution nicht nur allen Vornehmen und Reichen, 
sondern zuletzt auch allen Höhergebildeten den Tod schwor 
und doch angeblich viele geistigen Kräfte aus dem Volke 
erzeugte. Letzteres ist aber eine Fabel, einzig ein paar 
kriegerische Koryphäen entsprossten dem Proletariat und 
auch sie bewahrten moralisch (Augereau u. a.) und geistig 
(Ney u. a.) alle Sünden der ungebildeten Ochlokratie. Alle 
sonstigen Talente der Revolution und des Kaiserreichs ge- 
hörten den gebildeten Ständen an, und wenn sich mal 
gelegentlich ein rülpsender Plebejer zu dem drakonischen 
Lakonismus verstieg: „Die Republik bedarf keiner Gelehrten^, 
so fand er sofort seine Korrektur durch die herrschenden 
Demagogen, welche alle (so auch in Cromwells Revolution) 
Bildung und Kultur als „republikanisch^' ausschrieen, ganz 



— 312 — 

im Sinne der heutigen Soziaidemagogen. Die heut gang und 
gäbe Phrase, dass die grosse BevoUition bloss von der 
„Bourgeoisie"' gemacht sei, womit die Sozialdemokratie selber 
offenbar den historischen Folgerungen für die Zukunft einen 
Riegel vorschieben möchte, hat daher höchstens den Sinn, 
dass sie von den Gebildeten gemacht wurde. Weil aber 
eben das Yolk, und zwar mit sehr kommunistischen Ten- 
denzen, die Revolution möglichst sozialdemokratisch ge- 
staltete, so bedurfte es des grössten Genies, also des grössten 
Vertreters der natürlichen Ungleichheit, um im Empire die 
notwendige Herrschaft der Gebildeten wieder in Ordnung 
zu bringen. 

Die einzige richtige Logik des Freiheitsbegriffs ist die 
Anarchie und in gewissem Sinne die Reaktion, nämlich das 
Auflösen in den Naturzustand, wie ihn John Lubbok in einer 
hübschen Schrift real geschildert und Rousseau phantastisch 
geträumt hat Will und kann man das nicht, weil diese 
faktische Unmöglichkeit auch mit dem Eulturwollen der 
Sozialisten zusammenstösst, so lasse man die Chimäre fallen, 
dass grössere materielle oder gar ideelle Wohlfahrt vom 
sozialen Staate zu erhoffen sei, da vielmehr in weiterer Fort- 
dauer eines sozialistischen Terrorismus zur Organisierung der 
Arbeit nicht nur wenig Glück, sondern auch materieller und 
ideeller Nachteil der Gesamtheit und nur für das äusserste 
Elend des Proletariats eine entschiedene Besserung erwartet 
werden kann. Es sei denn, die heilige Naturwissenschaft, 
dieser neue Aberglaube, gewähre Wunder neuer Produktions- 
und Ernährungsmittel, worauf die Sozialdemagogie bekannt- 
lich bei ihrem Normalideal der Acht- oder Sechsstnnden- 
arbeit ausdrücklich verweist. Für ihre Ideale braucht sie 
also Wunder, u. a. die Kleinigkeit einer hochgesteigerten 
Idealität der sittlichen Auffassung in den breitesten Massen. 

Das ewige Berufen auf ,,unsre nationalökonomische Zeit^ 
und die strenge Wissenschaft ist also ein leeres Geflunker, 
wie denn die Grundtheorie von Marx' ,.Eapital^^ längst von 
der Zeit zersetzt und aus den eigenen Reihen der Partei 
angefochten wurde. Denn die Nationalökonomie will von 
der kollektivistischen Arbeit nichts wissen und die aristo« 
kratische Wissenschaft bekreuzigt sich heimlich vor der 



— 313 — 

sozialen Kivellierung. Wenn also Gelehrte und andere Mit- 
. glieder der gebildeten Stände sich zum Sozialismus bekennen, 
so geschieht dies keineswegs aus Überzeugung ihres Ver- 
standes, sondern ihm zum Trotz, vielmehr aus hoher, autonomer 
Sittlichkeit, dem Gefühl mitleidiger Gerechtigkeit, des wahren, 
sich opfern wollenden Altruismus, während die altruistische 
Begeisterung der umgekehrt Opfer verlangenden und etwas 
Materielles erlangen wollenden Massen eine bewusste oder 
unbewusste Lüge bedeutet. 

Lösung der sozialen Frage und Versöhnung des eisernen 
Lohngesetzes, mit dem sich Lassalle und Marx dialektisch 
herumschlugen, wird also nicht von Kultur und Wissen- 
schaft, Vernunft und Logik, die sich sämtlich skeptisch dazu 
verhalten, sondern einzig und allein von der Ethik ge- 
fordert Wir bitten dies für das Kapitel Nietzsche vorzu- 
notieren. Da aber das ethische Pathos in all seinen 
Formen den einzigen fruchtbaren Kulturträger be- 
deutet, so wird seine unüberwindliche Macht auch 
dem Sozialismus zum Siege verhelfen, nicht durch 
egoistischen Sozialeudämonismus der Demagogen 
und Massen, sondern selbstverleugnenden Idealis- 
mus einiger Mächtigen, Besitzenden, Gebildeten. 

Wenn aber allein das Gefühl den Sozialismus gewähr- 
leistet, wird man wohl fragen dürfen, ob denn Buddhismus 
und Urchristentum nicht dies schon genügend ver- 
mittelten? Zwar hat sich heut das religiöse Gefühl aus 
den absterbenden und ihren Marasmus nur durch Heuchelei 
und Borniertheit fristenden Kirchen bei allen sittlich Ge- 
bildeten in die Sozialethik geflüchtet und man glaubt 
hierbei des Metaphysischen entraten zu können. Aber 
dieser naive Trugschluss erklärt sich leicht aus der 
philosophischen Halbbildung der mechanistischen Welt- 
anschauung unsrer Moderne, welcher der einfache Syllogis- 
mus abhanden kam: Sozialismus, der sonst nur in den 
kleinsten und simpelsten Anfängen der Urzeit vorkommt, 
ist in sich selber ein Erzeugnis der Kultur, Kultur 
andrerseits im weitesten Sinne ein Erzeugnis des 
Ethischen im Menschen, dies Ethische aber ein Aus- 
fluss des Unbewussten, d. h. Metaphysischen. 



— 314 — 

Dass Physisches und Metaphysisches in sich un- 
trennbar seien, ist eben das tiefste Geheimnis der okkul- 
tistischen Forschung. Wir halten daher mit der Prophezeiung 
nicht zurück, dass die heut noch so verachtete Theosophie mit 
all ihren Abzweigungen berufen sei, sowohl die soziale Revolu- 
tion zu leiten, als dem sozialen Staat in der grauenhaften 
Leere, welche er nach OfFenbarwerden der Unvollkommen- 
heit seiner irdischen Utopien allseitig verbreiten wird, erst 
sozusagen eine Seele einzuhauchen. Der römischen Theo- 
kratie, die allein auf den Trümmern der alten Gesellschafts- 
ordnung übrig bleibt, wie leicht vorauszusehen, wird all- 
mählich eine wahre Theokratie der Besten, die neue Welt- 
religion der esoterischen Theosophie, die Herrschaft ent- 
winden. Dass der Raubtierinstinkt des Staates und der 
Kirche den verborgenen Feind und kommenden Sieger ebenso 
ahnt, wie die materialistische Sozialdemagogie, zeigt der ge- 
meinsame Argwohn und Hass, mit welchem Staatsorgane — 
wir sehen es an der Verurteilung harmloser Spiritisten, harm- 
los, ob sie nun Schwindler oder Getäuschte oder halbe 
Wahrheitsspender seien — , päbstliches Obskurantentum 
und sozialistische Presse alle Oßenbarungen „aus dem 
Reiche des Blödsinns^^ verhöhnen und verfolgen. Erst 
kommt der Hohn, dann der Hass, dann die Angst, dann 
die Niederlage. 

Allerdings handeln Staat, Kirche, Sozialdemokratie — 
diese scheinbar widerstrebenden, doch alle gleichmässig auf 
Schein und Illusion aufgebauten Elemente — eigentlich un- 
logisch. Denn der Staat sollte für sein Ideal (einer mög- 
lichsten Daseins verekelung zu Gunsten des Genusses einer 
verschwindenden Minorität) unsre theosophische Einsicht in 
die Nichtigkeit der Sansara möglichst verbreitet wünschen, 
um die Notwehr gegen seine Vergewaltigung zu lähmen. 
Die Kirche mit ihrem Hass gegen Aufklärung und Wissen- 
schaft sollte die Theosophie im Kampf gegen die religions- 
vemichtende Moderne als Bundesgenossen begrüssen. Die 
Sozialdemokratie hingegen müsste für die Glückseligkeit der 
grössten Masse notwendig die Verbreitung aller glück- 
bringenden Illusionen fördern, also von ihrem Standpunkt 
aus die Verdummung und den „Jenseitswahn^\ ohne den 



— 315 — 

nun einmal eine Befriedigung der Menschen, insbesondere 
der Frauen, undenkbar scheint Allein, die Mächte de» 
Scheins handeln logisch genug aus ihrem Unbewussten her- 
aus, da sie ahnungsvoll wittern, dass ihre Zwecke und 
Illusionen ganz und gar nicht von diesem unwillkommenen^ 
Helfer gefördert werden! 



-s^D^ 



Der messianische Hiob: Heinricli Heine. 



„Die grosse soziale Suppenfrage'' wollte schon vor 
Lassalle ein Grösserer als er poetisch anblasen, womit dieser 
Grosse, namens Heinrich Heine, sich in der Vorrede 
seines Jugendversuches „Radcliff'^ brüstet Doch er hätte 
sich nur die Finger dabei verbrannt, da er nicht jene dicken 
Fausthandschuhe trug, die zum Anpacken solcher Dinge ge- 
hören. Deshalb kochte er lieber selber Süpplein aus bitteren 
£j:äutern für Germanias kranken Magen oder verlegte sich 
aufs Schätzegraben und romantische Alchymie. Dachte aus 
manch ungeläuterten Metallen, die ein sich wieder- 
entdeckendes und auf sein altes Ich besinnendes neues Deutsch- 
tum aus tiefem Schacht zu Tage förderte, Gold zu machen. 
Indem er sich aber also vergrub und grub und schmolz, 
schaufelte er der Romantik selber ein Grab. — 

Wir kennen keine blosse Weltgeschichte für die Deut- 
schen, keinen Herrgott von Dennewitz. Deutsches bean- 
sprucht daher in dieser Analyse des Jahrhunderts nur den 
ihm gebührenden Raum, nicht mehr und nicht minder. Wir 
ersparen uns also Einzelausschnitte deutscher Literatur- 
geschichte, die wir bei gebildeten Deutschen als bekannt 
voraussetzen. Einzelne Schriftsteller berühren wir nur, wo 
sie europäischen Einfluss gewannen, wie dies den fran- 
zösischen beim beherrschenden Ansehen ihrer Sprache und 
Literatur zufiel, oder wenn sie das Interesse ausgeprägter 
Gharakterköpfe besitzen, wie es gleichfalls den vielen von 
uns kurz skizzierten französischen zukommt und ein paar 
englischen Romanciers. In der deutschen Literatur des 
Kleinen Jahrhunderts hat nur Einer weltweite Popularität 



— 317 — 

gewonnen. Es ist seltsamerweise, was sonst fast niemala 
zutrifft, auch der Einzige, der sein Jahrliundert überleben 
wird. Ausser diesem Heine sehen wir nur noch eine gross- 
geschnittene Gestalt, doch yon viel geringerem Wüchse and 
minderer Eigenart: Lenan. Natürlich werden die Hebbe- 
lianer darob ein grausses Geschrei erheben, diese ger- 
manischen Schmule wie Bartels, die alle Unarten jüdischer 
Oberflächlichkeit und Coteriegehässigkeit scheinheilig deutsch- 
tümelnd gegen die Yerjudung ausspielen. Nun, es sollte 
sie stutzig machen, diese Teutschesten der Teutschen, dass 
als Hebbels fanatischer Apostel bei Lebzeiten ein Jude Kuh 
fungierte und heut Hebbels tollster Aufblaser im Juden 
Maximilian Harden steckt Weshalb wohl diese jüdische 
Sympathie für den Dichter der „Judith""? Nicht als ob der 
finstre Holsteiner nicht im Germanischen wurzelte, er tut es 
nur zu sehr, doch nicht im Südgermanischen der Deutschen, 
sondern im Nord germanischen der ethnographisch ihm 
näherliegenden Skandinaven. Sein grüblerisches Ein- 
siedeln, das wie ein nordischer Saga -Gnom mit 
dem Grubenlicht flackernder Dialektik in unterirdischen 
Höhlen schürft, das Spitzzerfaserte seiner psychologischen 
Problematik mahnt an Ibsen und Strindberg. Seine Tage- 
bücher lesen sich „hochmodern^\ ein Selbstlob im Munde 
der Moderne, das uns Übeln Beigeschmack hat Hebbels 
jüngstes Modewerden gehört daher zur Logik der Zeit- 
psychologie. Yon Wirklichkeitssinn keine Spur, seine „Maria 
Magdalena^^ ein Urtyp all jener pseudorealistischen pseudo- 
modemen Sittenbilder, die künstlich mit dem Verstand zu- 
rechtkonstruiert Er hat eine Phantarie, die unterm Eise 
brütet — dies Heysesche Epigramm trifft noch immer nicht 
das Rechte, denn was hier brütet, ist gerade nur der Ver- 
stand, der nichts Lebendiges schaffen kann, sondern nur 
Abstraktionen. Was real- oder naturalistisch sein soll, ist 
bloss erkünstelt brutal und das Brutale obendrein phrasen- 
haft Man braucht nur seine zerfahrenen ,Nibelungen\ worin 
nur eine Szene: Brunhild daheim in Island eine düstre 
lyrische Pracht ausatmet, mit dem Nibelungenlied zu ver- 
gleichen, um den Unterschied echter Gtoniekraft von krampf- 
hafter Geschwollenheit zu erkennen. Der Adler, der in 



— 318 — 

unserer Nationalbibel deutscher Mannheit über dem Blüten- 
wald Tristans und Isoldes und dem Maienhag der Yogel- 
weide emporrauscbt, bat den „modernen^^ Theaterästheten 
nicht auf seine Schwingen emporgenommen. Wie Siegfried 
im Brunhildenzweikampf seinen Speer über fernste Grenzen 
hinauswarf und König Günther im Sprunge mit sich trug, 
so kann es vom grossen unbekannten heissen: „Von seinen 
schönen Künsten empfing er Kraft genug, dass er in dem 
Sprunge das ganze Deutschtum mit sich trug/^ Und mit 
geschlossenem Visier, seinen irdischen Namen vornehm ver- 
hehlend, steht der riesige Rittersänger in voller Rüstung da, 
aus einem Guss. Und nun vergleiche man den Modernen 
,Titanen\ wie er mühselig schwitzend mit theatralischen 
Gesten an Siegfried und Hagen und Krimhild herumbosselt, 
bis sie nicht nur kleiner, sondern auch unwirklicher werden. 
Sein Dietrich von Bern veranschaulicht seine Grösse, indem 
er einen Eichbaum ausreisst und einem Hunnen auf den 
Rücken legt: der richtige Hebbel, der auch immer Eichen 
zu entwurzeln glaubt, wenn er irgendein .psychologes^ Un- 
kraut hoch in die Lüfte hebt. Sein Holofernes, dieser liebe 
gute Übermensch mit der hohlen Kraftmeierei seiner dekla- 
matorischen Bramarbasohnmacht, scheint eine JSTietzsche- 
parodie vor Nietzsche. Da wir aber dies Prachtexemplar 
selber haben, kümmert uns Hebbel nur als Symptom der 
Jahrhundertkrankheit 

Aus Grillparzers erotischen Sentiments klingt heimlich 
der Kleistsche Angstschrei: „Verwirre das Gefühl mir nicht!'* 
In schwerer Gefühlsverworrenheit zwischen Klassizität, 
Romantik und Jungdeutschem, das er reaktionär verabscheut, 
wird seinem österreichischen Faust im Gapua der Geister 
der Traum ein Leben, wird ihm der Weisheit letzter Schluss: 
„Die Grösse ist gefährlich, der Ruhm ein eitles Spiel.*' Des 
Herzens stillen Frieden und die schuldbefreite Brust scheint 
er freilich auf diesem stillvergnügten Bummel kaum ge- 
wonnen zu haben. Er war halt a Weaner, voll natürlichem 
Geschmack am Schönen und Äusserlichen der Kunst, sinnlich 
gutmütig und a bissei Raunzer. In seinem Lager war 
Osterreich, gut kaiserlich allzeit Als er Napoleon in Ottokars 
Glück und Ende verkörpern wollte, ward daraus der böse 



— 319 — 

Mann philiströser Wahnvorstellung. du mein Osterreich! 
Den hohen künstlerischen Qualitäten wollen wir nicht zu 
nahe treten, die ihm unter Vertretern des klassischen abge- 
storbenen Jambendramas den obersten Bang zuweisen. Aber 
schon hiermit ist gesagt, dass sein Bestes nicht dem 19. 
sondern dem Weimarer 18. Jahrhundert gehört Dem Zeit- 
psychologen bietet diese glatte Physiognomie so gut wie 
nichts. 

Unendlich höher steht der Mann, den Hebbels Grössen- 
wahn der ,Ohnmacht^ bezichtigte und den heut noch Salon- 
kathederprofessoren und jene grünen Jungen, die in ihren 
Hörsälen den Doktortitel ihrer Halbbildung erwarben, den 
,törichten Orabbe^ schimpfen. Über seine selbstverwüstete 
Hannibalsleiche spreiten Prusiasse den Teppich ihrer Mittel- 
mässigkeitsästhetik. Doch mit Hebbels Holofernesohnmacht 
hat seine Muse nichts gemein, die sich, obschon öfters nach 
Fusel riechend und delirierend, als germanische Velleda und 
Seherin der Geschichte reckenhaft erhebt. Zu oft haben 
wir anderswo Grabbes eherne Epigrammatik, seinen dröhnen- 
den Marschtritt des Yölkerschicksals gewertet, auch liegen 
seine Gebresten leider dem Blick zu offen, als dass wir hier 
länger dabei verweilen sollten. Wie er auf dem Sterbelager 
mit letztem Odem die Marseillaise sang, so hätte dieser zer- 
fallene, verstümmelte Heroengeist ins Zeitalter der Grossen 
Bevolution hineingepasst, denn auch seine Zerrissenheit und 
Unfertigkeit verschuldet die kleinliche Zeit. Anders aber, 
als unsre törichten Salonprofessoren, dachte über ihn der 
Glückliche, dem es beschieden war, Leichtigkeit und Anmut, 
wie sie Götterlieblinge umatmet, mit wilder Kraft und 
Leidenschaft zu vereinen: mit hoher Achtung gedachte 
Heine seines unseligen Zeitgenossen. 

Eklektiker Platen, dessen politisches Zeitlied „Der Bubel 
reist, der Bubel fällt, was ist der Mensch? ein Schuft^^ allein 
noch Erinnerung verdient, zeugete Eklektiker Geibel den 
frummen. Weiter haben uns beide ,Eünstler^ nichts zu sagen. 
Nicht viel auch Uhland, Eichen dorff, Möricke, deren 
echter poetischer Stimmangsgehalt, Feingefühl für Beinheit 
des Yersstils, Beinheit sittlichen Empfindens mit fiktivem 
Mittelalter oder fiktivem Volksliedton in eine bessere Yor- 



— 320 — 

zeit oder Traumzeit hintiberdaselten. ,^Aus der Yerwirrimg 
dieser Zeit hab ich zu Gott mich hingesehneV^ heisst es in 
ühlands einzigem Oedankengedioht. Doch seine verlorene 
Kirche ist selber nur Fiktion. Nur wer die Wirklichkeit 
der Ewigkeit in Zukunft wie Vergangenheit heraushört, der 
habe ,,des Geläutes acht, das aus dem Grunde dumpf ertönet^. 
Diese Zukunft aus der Feme rauschen zu hören als Prophet, 
wünschte ein einsamer Wanderer am Niagarafall: er hiess 
Lenau. Seiten ward die Gabe des Verses einem Sterblichen 
so voll zuteil, man muss sich schon bei Byron und Musset 
umsehen, um gleich Starkes oder Stärkeres in meisterlichem 
Bau und Schwung sonor dahinroUender Sprachrythmen zu 
finden. Allein, der reine lyrische Schmalz gebrach ihm, oder 
wo er sich ihm näherte, versank er in weinerliche Schwärmerei 
pathologischer Seelenzustände. Weinend muss sein Blick sich 
senken, durchs Leben begleitet ihn sinnende Melancholie, und 
nur dort rafft er sich auf, wo er in eigentümlicher Lyro-Epik 
ins Grosse geht. „Alpen, Alpen, unvergesslich seid meinem 
Herzen ihr in allen Tagen, bergend vor der Welt ein herbes 
Leid, hab' ich es zu euch emporgetragen", hebt seine tief- 
innigste Elegie an und so suchte er sein krankes Gemüt zu 
Höhen von Geschichte und Denkertum zu erheben. Die 
Alpen hiessen ihm Albigenser, Savonarola, Faust und Don 
Juan. Von diesen epischen Cyklen blieb der epischeste 
„Savonarola^* am schwächsten, obschon voll herrlicher Einzel- 
heiten. Im „Faust" gibt es wahrhaft grossartige Vers- 
bewältigung tiefster ürprobleme, doch es bleibt bei reflektiver 
Didaktik. Das Fragment „Don Juan" enthält unvergleich- 
liche Natursymbolik, die „Albigenser^^ aber wirken am ge- 
schlossensten und reinsten, indem hier noch eine gewisse 
Wirklichkeitsfrische das Allegorische anhaucht (Beiläufig 
hat der glänzende „Ziska" von Meissner die gesamte innere 
Form von hier entnommen, sich auch von Lenaus prächtigen 
Ziskaliedern anregen lassen.) Die sonst etwas starre Fathetik 
Lenaus belebt sich hier glutrot wie von innerem Brand in 
revolutionärer Begeisterung für Befreiung der Menschheit: 
„Wie die Faust einst Brand und Eisenruten wird der Geist 
sein Schwert, sein Feuer brauchen, bis die Herzen der Des- 
poten bluten und in Flammen ihre Burgen rauchen." Die 



— 321 — 

schlau klügelnde Sozialdemokratie mit ihrer Phrase von der 
friedlichen Evolution, auf deren gebratene Tauben sie nun 
schon seit fünfzig Jahre wartet und die allerdings nicht mal 
einen Herwegh erzeugen kann, wird schwerlich einverstanden 
sein : „Waffen braucht die Welt, kein Liebeslächeln kann das 
Elend ihi* von dannen fächeln, wärs ein Lächeln auch wie 
das vordem auf dem Kreuze zu Jerusalem/^ 

Dies Herz, das für der Menschheit Erlösung schlug, dies 
Hirn, das von eigenem Überschwange brodelnd überkochte, 
brach und riss in tiefer Nacht Aber erhaben dröhnt die 
Geisterstimme zu uns her, ihr heiligstes Weh verkündend: 
„Tiefer schmerzt als das Geroll Zeit und Tod zu meinen 
Füssen, dass ich nicht erblicken soll, wie sich Welt und 
Freiheit grüssen. Doch mein Geist, der bald den Riss 
enden wird durch diese Hülle, lebt in andern einst gewiss 
seine Freiheit, Macht und Fülle/' . . . 

.,Als mich die düstre Stunde gebar und nur der Gram 
mein Vater war,'* sang im fernen Kaukasus der junge Ler- 
montow. „Seul le silence est grand, tout le reste est fai- 
blesse,^* sang Alfred de Vigny. Damit wäre aber den Poeten 
wenig gedient gewesen, die nicht in ihrer Qual verstummen 
wollten, sondern lieber untersuchen, ob ihnen Gott die Gabe 
gab, zu sagen, was sie litten. Sie dachten eher: Nur das 
Singen ist gross, alles übrige Schwäche, und machten aus 
ihren grossen Schmerzen die kleinen Lieder. Wie Chateau- 
briand den Gewittersturm im Urwald beschreibt: „Le ciel 
s' ouvre coup k coup et ä travers ces crevasses on aper9oit 
de nouveaux cieux et des campagnes ardentes,^^ so glaubten 
sie unterm donnernden Sturm der Leidenschaft neue Himmel 
sieh öffnen zu sehen, brennende neue Welten, blitzbeleuchtet. 

Ein graues Perlenlicht des Mondes tropfte auf 
diese aufgewühlten Herzen nieder, die mit Ghateaubriands 
Priester seufzten: „Ich welke wie eine Blume, ich verdorre 
wie das Kraut der Felder.^^ Das morgenländisch Exotische, 
das auf Flügeln des Gesanges zu den Ufern des Ganges 
sich wegträumte oder mit Lenaus ausgebälgtem Geier am 
Ganges Unsterblichkeitsgedanken flattern liess, ward ein 
neuer glitzender Rahmen der modernen abendländischen 
Melancholie. Immer mehr erbleichte auch jener Zauber der 

Bleibtrea: Die Vertreter des Jahrhunderts. 21 



— 322 — 

Natarfreiheit. den Rousseau und St Pierre und allerlei 
deutsche Träumer im Urzustände ferner Lande als Gegen- 
stück des Glücks zum Eulturunglück heraufbeschworen. 

Schon bei Chateaubriand ist diese gepriesene Urnatur in all 
ihrer wilden Schönheit nur dazu da, des Menschen Nichtig- 
keit zu erdrücken, vor seinem Nichts noch tiefere Abgründe 
aufzureissen. Weltschmerz überall, ob im Bauschen des Ur- 
waldes oder im Lärm der Städte. Und wie bitter enthüllt 
uns der stolze Poseur in seinen Memoiren, dass seine lieb- 
lichen Indianerjungfrauen Atala und Geluta ihre Entstehung 
einem Reiseabenteuer mit zwei mestizischen Freudenmädchen 
verdankten! Solche Enttäuschung sparte man uns damals 
noch, die Dichtung idealisierte. Heut stellt uns Loti die 
exotische Eva der orientalischen Paradiese nackt genug vor 
Augen, sinnlich wie eine Houri, dumm wie keine Kuhmagd, 
eine Art von wilder Äffin mit den Allüren eines Panter- 
weibchens, allerdings voll roher Treue und Zärtlichkeit. 

Barahu und Azyad^ sind nicht mehr Rousseauische Ideale, 
sondern unselig wie wir Europamüden selber, und die wider- 
spruchsvolle Zusammensetzung der modernen Eulturseele 
schöpft aus Berührung mit bestialer Einfalt nur neue 
raffinierte Qualen. Doch auch diese Entwicklung der 
Jahrhundertkrankheit entspinnt sich nicht als Influenza von 
aussen, sondern der Bazillenherd steckt in ihr selber. 

Auch Byron hatte sein griechisches Feuer aus einer 
griechisch-türkischen Exotik entlehnt, die in Wirklichkeit 
nicht ganz so romantisch aussieht, wie er sie malte. Aber der 
Anblick hellenischer Buhmesgräber, verfallener Tempel und 
schauriger Mondnächte mit schakalbenagten Leichen — ver- 
gleiche besonders „Die Belagerung von Korinth^', wo auch die 
Schakale nach Selbsterlebtem gemalt — riss ihn aus Ver- 
zweiflungsanfällen nur wieder zur Begeisterung fort. 

Alle Gewitterstürme des Genfer Sees, alle Gletscher- 
schrecken des Bemer Oberlands vermögen nicht den hohen 
Stolz seiner selbstgewissen Hoheit zu brechen. Vor der Ma- 
jestät des Weltmeeres pflanzt er sich hin, legt seine Hand auf 
die Wogen mahne und fühlt sich eins mit aller Grösse der 
Natur. Selbst der Flug durch den unermesslichen Raum 
schreckt ihn nicht, halb Eain, halb Lucifer, schwingt er sich 



— 323 — 

darch die Planeten hin, berauscht von Ewigkeit, und ruft 
dem AU entgegen: „Mein Qedanke ist dein nicht unwert, 
bin ich auch nur Staub/^ Man vergleiche damit den Zorn- 
schrei Maupassants („L' iuntile beaut6!^0' n^^^ Natur! Ich 
sage dir, dass wir gegen die Natur unaufhörlich ankämpfen 
müssen, sie führt uns ewig zum Tier zurück !^^ In solchem 
Ekel gegen das Sinnenleben endet zuletzt der Arme, der so 
lange die Natur vergöttlicht und in der heuchelnden Zivili- 
sation, welcher er das ehrlich Bestiale gegenüberstellte, zu- 
gleich das Geistige verspottet hatte. 

Warum MaupassantsUmkehr und Bekehrung? Weil unterm 
Spaten seelischen Leides in ihm eine tiefere Schicht des Unbe- 
wussten lossprang: er, der gegen ideale Illusionen ins Feld 
zog, kehrte heim, geschlagen und gedemütigt, in sein innerstes 
Ich und erkannte gerade seine Götzen der Natursinnlichkeit 
als Ulusionen. „Duldet und denkt ! Schafft eine eigene Welt 
im Innern, wenn die Aussen weit versagt! So kommt der 
geistigen Natur ihr näher und kämpft mit eurer eigenen 
triumphierend!^' hinterliess Byron im Eain sein letztes Wort 

Aber merkt man den Abstand der zwei Jahrhunderte? 
Merkt man den langen Irrweg, auf dem das pfiffige, an- 
massende, immoralische Säkulum sich wieder zum alten 
Tempel des Bealidealismus, wo Byron, Goethe, Napoleon 
thronten, zurückarbeiten muss? Jeder Best wiedererwachenden 
Wahrheitsgefühls macht also die entgegengesetzte Ent- 
wickelung durch, wie Nietzsches kranke Sophistik. 

Das Volk emporzuzüchtigen wünschst jeder aufgeklärte 
Despotismus. Ein oft undankbares Beginnen von zweifel- 
haftem Ausgang. Heine meinte in seinem Witz Aladins 
Wunderlampe zu besitzen, wie der Däne Oehlenschläger sie 
romantisch als Attribut und Sinnbild des Genius besang, 
und Hess ihr Licht erstrahlen über Gerechte und Ungerechte. 
Doch das Geniale herrscht meist nur im Beich einer eigenen 
Einbildung als aufgeklärter Despot, die Materie draussen 
weiss nichts von seinem Herrscherrecht und will nichts 
davon wissen. 

Die Bomantik suchte wie Ibsens Frau vom Meere das 
Wunderbare. Sie duftete selbst als blaue Wunderblume. 
Der Fichtesche Transzendentalismus fasste die Phantasie als 

21» 



— 324 — 

die treibende Kraft des Ichs und all seiner schöpferischen 
Wirksamkeit auf, in gewissem Sinne sehr logisch, weil die 
Welt als Einbildung (Vorstellung) natürlich von der Ein- 
bildungskraft abhängt. Die folgenden Natuq)hilosopheme von 
Schlegel und Schelling, im Grunde auch von Hegel, stärkten 
diese Anschauung, die natürlich dem £ultus des Genialischen^ 
neue Nahrung lieh. Das Genietreiben der Romantiker ward 
zur fixen Idee und die Fiktion sollte laut Novalis sogar 
wundertätig weiden, das Nicht- Wirkliche wirklich machen. 

Das innere Wissen einer genialen Anlage offenbare sich al& 
Urfunktion, von der alle sonstigen Äusserungen und ihre 
Formen abhängen! Die Natur sei nur eine Wahrnehmung 
der Phantasie, die also gleichzeitig Physik lehrt! Ganz wie 
ein indischer Joga wünschte die Romantik eine Überwindung 
der Materie durch standhaften Glauben, doch durch Glauben 
des Ichs an sich selber, indem Dichtertum gleichsam zum 
Naturkern wird. Solche Apotheose der Poesie ward selbst 
zum Märchen. Der vollkommenste Dichter sollte der Höhe- 
punkt im Naturschaffen sein, dessen Geheimnisse im Abgrund 
unsres eigenen Wesens schlummern, geheiligter Priester der 
ewigen Hervorbringung, in ihr seine eigene Harmonie findend. 

Deshalb sei des Dichters Ahnung ein Fackelträger für die^ 
nachhinkende Forschung, Goethe habe seine Naturerkenntnisse 
nur seinem Dichtertum zu verdanken (Steffens), weil dessen 
Gedanken eins mit dem Wesen der Naturgedanken. Tieck 
liess sich solches nicht zweimal sagen und las seine Gefühle 
in den Formationen und Physiognomieen von Bäumen,. 
Pflanzen, Bergen, Wolken und gestiefelten Katern. Recht 
als Vorbild des Impressionismus Fin-de-Si6cle vermengte 
er Töne und Farben, erstere ergossen sich in Strahlen, letztere 
erklangen musikalisch. ,, Wahre Liebe denkt in Tönen, denn 
Gedanken stehn zu fern^^ . . ein sehr verdächtiges Geständnis,, 
das freilich dem Musiktaumel zu Gute kommt Gewiss, in 
tönender Yerschwommenheit „lässt sich gern alles was 
man will versöhnen^M Denn Sinn und Logik müssen sich 
gefallen lassen, dass alles, was der Dichter will, eine 
imaginäre Versöhnung erhält, ein Bündnis mit den Natur- 
mächten, welche sich in jeder Menschenseele selbst wieder- 
finden und spiegeln. Dass Geist unsichtbare Natur und 



— 325 — 

Natur sichtbarer Oeist sei, diese innere Harmonie verknüpfte 
Scbellings Romantikphilosophie in der Poesie, die er als das 
Höchste and Letzte auffasst, sintemal aas ihr alle Natur- 
Weisheit entspringe. Zu diesem ihren Ursprung kehrt die 
Philosophie heim, indem sie das Kunstschaffen als Ver- 
schmelzung von Notwendigkeit und Freiheit, Bewusstheit 
und Unbewusstheit erkennt und den Dichter gradezu ver- 
göttlicht Die Oenielehre verhöhnt grübelnde Wissenschaft 
als Pedanterie, das Yerstandeserkennen vermag nichts mit 
ödem Fleiss! Poesie und Genie erhaschen alles im Fluge 
und setzen sich auf den Weltthron, den ja bekanntlich 
auch Napoleon durch naive Einfalt und Faulheit im Schlafe 
durch geniale Eingebung gewann! Bewusstes und ünbe- 
wusstes trennen sich nicht mehr und verbinden ihre Strahlen 
zu einer Wunderflamme, einer Freiheit der Natur?! 

Das „System des transzendentalen Idealismus^^ erschien 
just im Anfangsjahr des Jahrhunderts, Scbellings Wirksamkeit 
griff stetig im ersten Viertel des Jahrhunderts um sich und 
durchsickerte die ganze erste Hälfte. Der marklos ent- 
nervende Genius der Romantik spann sein Spinnwebennetz 
über Norden und Westen Europas, ein gut Teil natürlicher 
Eraftanstrengung erstickend. Die Poesie sollte der allgemeine 
Ozean werden, in den alle Wissenschaften münden, fürs 
erste aber zerfloss sie nur als gestaltloser lyrischer Brei! 

Die Natur als bewusstlose Poesie des Geistes sollte dem 
Kunstwerk inferior sein, da sie nur als Ganzes das Unend- 
liche bedeute, jede einzelne Eunstschöpfung aber schon das 
Ewige enthalte, einziges Organen und Dokument des Er- 
kennens. Aber die Natur rächte sich an dieser Selbstver- 
götterung der Poesie — und der Poeten. Denn ihnen, die 
so dreist den „magischen Idealismus" (Novalis) ihrer Genialität 
betonten, versagte sie eben diese erstrebte dämonische Magie: 
Goethe-Faustens unsterblich Teil und Erbteil. Zwar war 
sein eines Auge von Alltags „Sorge'^ erblindet, bis er selber 
ein Philister, „von Furcht und Sorge angefüllt*. Dies blinde 
Auge Exzellenz v. Goethes aller Bildungsphilister Sonne und 
Wonne! Doch strahlt sein andres Auge uns magisch voraus, 
weil e r bescheiden und ehrfürchtig zu den Müttern hinabstieg 
und von der Poesie nicht mehr verlangte, als sie geben kann. 



— 326 — 

Denn nicht die Poesie als Kunst ist das Letzte und 
Höchste, sondern das ünbewusste, das gleichzeitig Gefühl 
(Poesie) und Denken (Philosophie) aus Urquellen speist. Diese 
aber entdeckt nicht der gewaltsam bohrende gierige Genie- 
sucher, der ünbewusstes zu haschen meint, wo er noch ganz in 
eitelm Bewusstsein webt, sondern der unablässige Allsucher, 
der immer strebend sich bemüht, ichlos dem Allwesen sich 
zu nähern. „Den können wir erlösen/^ Der indische Joga 
und christliche Mystiker, anders als diese ichverliebten 
Poeten sucht er die Glaubensstärke in sich selber, die alle 
Berge der Materie versetzt, „durch hohe Wissenschaft, 
Kasteiung, Wagnis'' (Manfred), Ichüberwindung, nicht durch 
Ichvergötzung. „Der alte Kerl hat faule Nieren und wirds 
nicht lange mehr machen'', grinste Friedrich Schlegel, als 
von Goethes Erkranken die Rede, Oehlenschläger an. So 
sah die schöne Seele und die überschwängliche Empfindsam- 
keit dieser Ästheten aus! Ach, Goethe war zuletzt auch für 
Heine nichts Hechtes mehr. „Süsser Reiz der Mitternächte, 
stiller Kreis geheimer Kräfte, Wollust rätselhafter Spiele, 
wir nur kennen euch", liess Novalis die Toten singen, aber 
er dachte dabei an die seligen Lebenden, die Genialen der 
Romantik, die sahen und hörten, was vor ihnen kein Sterb- 
licher erkannt. Doch auch wir kennen euch nun und eure 
Romantik als einen Kirchhof. Nie war von Poeten so viel 
die Rede, wie in England zu Popes Zeit, und nie gab es 
weniger Poeten; nie ward vom Genie so viel gemunkelt, 
wie in dieser ersten Jahrhunderthälfte, und nie gabs so wenig 
wirkliches Genie. Erst als die Romantik, ehe sie noch alters- 
schwach geworden, sich im Lebenselixir des Heineschen und 
Lenauschen Freiheitspathos verjüngte und dann in Selbst- 
ironie zersetzte, überlebte sie sich selbst in Heine und 
Lenau. — — 

Wie weit überragen unser in sich fertiger Sänger Lenau 
und unser unbeholfener Geschichtspoet Grabbe doch alle 
Dichter anderer Völker im Jahrhundert seit Byrons Tode mit 
alleiniger Ausnahme Mussets! Wer erreicht selbst Grill- 
parzer und Hebbel, ja auch nur den Hebbel zweiter Hand, 
Otto Ludwig, im Gebiete des Dramas! Die Briten freilich 
brüsten sich noch mit verschiedenen ,grossen' Poeten. Doch 



— 327 — 

Swinburnes sinnlicher Schwulst und Brownings fürchter- 
licher Tiefsinn drücken uns und sich selber nieder, als 
müssten sie alles mit Hebebäumen aus sich herausholen. 
Besonders Browning war eine Plage für Götter und 
Menschen. 

Schlimmer noch die unerträglichen Streckverse oder 
richtiger: wahllos zerhackten Prosaperioden, die Walt Whitman 
in Amerika für die Neue Poesie der Demokratie ausgab, was 
wie jeder Humbug eine gläubige Gemeinde um ihn sam- 
melte — ein Victor Hugo ohne jede technische Gabe dieses 
Phrasenkolossus, ohne Phantasie, Gestaltungskraft, ja sogar 
ohne Wortschwung, kläglich wirres Lallen als Ideen 
feilbietend, ein atavistischer Rückfall in eine Art literarischer 
Hinterwäldlerprimitivität ! Dies grossen wahnsinnige Dollar- 
ländchen, dessen Erdmasse auf der geistigen Welt -Karte 
zu einem Dörfchen einschrumpft, pfeift den Yankeedoodle 
seines Monroe-Kirchturmspatriotismus immer gellender dem 
altersschwachen Europa zu, bis sich der Bildungsmensch 
die Ohren zuhält. Das „Land der GleichheitsflegeP (Heine) 
produziert natürlich aus seiner jungfräulichen Erde unge- 
heure Genies, etwa von dem Wüchse eines deutschen 
Almauachpoeten. Ein niedlicher Essayist wie Washington 
Irving ward mit Homer verglichen, ein langweiliger Eklek- 
tiker Longfellow, alle Zonen nach Stoffen plündernd, mit 
den grössten Engländern, natürlich erst recht mitTennyson, 
der für solchen Yergleich doch noch etwas zu gut ist. Der 
Hanswurst Mark Twain, selbst in seinen krampfhaftesten 
Bajazzosprüngen („The New Pilgrims Progress") nur Plagiator 
Dickensscher Karikaturistik, soll göttlichen Falstaffhumor 
gepachtet haben. Als Bret Harte sein kalifornisches Gold- 
suchen anfing und allerdings tüchtige Körner und Klumpen 
in kunstvoller Verpackung auf den Markt warf, trat Hausse 
in literarischen ,Bonds' transatlantischer Goldshares ein. 

Aber ach, die Mine schöpfte sich im Handum- 
drehen aus, jeder Ansatz über die Skizze hinaus miss- 
lang. Ebenso verpuffte nach kurzem Aufleuchten die 
Byronische Korsarenpoesey von Joaquin Heine Miller: 
Songs of the Sierras^ ^Songs of the Sun-lands\ eine starke 
und ursprüngliche Pflanze, aber auf sonst ganz unfrucht- 



— 328 — 

barem Boden gewachsen, etwa wie Orisebachs .Neuer Tann- 
häaser^ eine einmalige Yerheissung bot. 

Heil, Columbia! Möge dein Sternenbanner noch lange 
Jahrhunderte sich blähen und du, o geologisch älteste der 
Erde, dich auch fürderhin als ,Erstgeborene der Zeit^ (Bayard 
Taylor) in der Atlantis bespiegeln! Volle zweihundert Jahre 
besteht nun die Yankeekultur der Oststaaten und immer 
noch führen sie sich auf, als wären sie Neugeborene mit 
jugendlicher Kraftfülle. Möge Emerson, der transatlantische 
Weise, sie belehren, dass ihre „Prominent Men*^ leider 
immer noch keine „Representative Men" geworden sind, 
obschon mit köstlichem Selbstwiderspruch zur Jungsein- 
Legende der Rektor von Hanrard Kollege den Prinzen 
Heinrich begrüsst haben soll: das alte Kulturland Amerika 
begrüsse achtungsvoll das junge (!) aufstrebende Deutschland ! 

unter denkbar günstigsten Kampfbedingungen, mit 
allen Trümpfen in der Hand, yermochte dies Volk nicht mal 
ein einziges Oeistesgebiet ergiebig zu beackern, selbst Edison 
ist ein Schwede. Doch genug von diesem ekligen Thema! 
Ein einzig Mal wogte eine Welle von Poesie durch die 
amerikanische Seele, und diese trug nur Byrons Weltmeer- 
gewoge an den transatlantischen Strand: auch Poe der 
mystische Künstler gehört geistig nicht in unser Jahrhundert, 
sondern in die Byronzeit. Das 19. Jahrhundert, mehr oder 
minder unterm Zeichen der Amerikanisierung stehend, 
bewies also auch in Amerika selber seine volle Un- 
fruchtbarkeit. 

Im Vaterlande der grossen Leidenschafts- und Wirk- 
lichkeitsdichter nahmen heroische Leidenschaft und echter 
Wirklichkeitssinn Abschied von der Dichtung, diesem einzig 
massgebenden und bestimmenden Ausdruck der höheren 
Volksseele: Ärger denn irgendwo ersetzte in England ge- 
meine Oier nach weltlichen Gütern die ideale Leidenschaft, 
welche Byron als gleichbedeutend mit „poetry which is but 
passion^^ erkannte Statt kontemplativen Erfassens des Ewig- 
Realen blieb nur das niedere äffische Behagen und Sptü*eü 
nach Äusserlichkeiten der Gesellschaftsvorgänge, ohne dass 
der Realismus des englischen Romans auch nur im Ent- 
ferntesten die technische Reife des französischen erreichte. 



— 329 — 

In der Verspoesie machten nar die Allegoriker Keats und 
Shelley Schale. Bei Anstaanung von Swinbumes plastischen 
Bildungen, die einen Renaissancestil erneaem möchten, aber 
ins Barocke und Schwulstige verfallen, vergisst man gar zu 
sehr, dass solche Stilideale der Schönheitsästheten in Eeats 
^Hyperion^ schon genügend vorlagen, um keiner zweiten Auf- 
lage zu bedürfen. Browning aber knüpft eng an Shelley an, 
mit dem Jungengland heut nach zeitlicher Yerkennung eine 
masslos kindische Vergötterung treibt. 

Ganz logisch ward daher ein Literarhistoriker der 
,Victorian Poets^ Stedman, im selben Atem ein panegyrischer 
Shelleybiograph. Hier tritt die kritisch-ästhetische unreife 
der Engländer zutage, die Schattenseite dessen, was gerade 
ihre eigentümliche Orösse ausmacht. Bei ihnen nämlioh 
entspringt alles Grosse sozusagen spontan und autodidaktisch, 
deshalb eben mit ursprünglicher Originalität, die sich zum 
Genie steigert, aus dem Born des Unbewussten. Doch der 
feste Untergrund der deutschen universalen Hochkultur 
mangelt, und derselbe Instinkt, der in ihnen unbewusst und 
wie im Blinden die wahren Urgesetze der Ästhetik erfüllt, 
tappt ebenso blind daneben, sobald der bewusste Verstand 
sich eine Ästhetik geben will. Bis dahin strotzte die britische 
Literatur stets von pausbackiger Lebensfülle, lehnte alles 
abstrakte Idealisieren und Philosophieren ab. Die roman- 
tische Strömung verlor in Byron sofort ihr eigentliches 
Wesen, setzte sich in gewaltigen Realismus der Ewigkeits- 
stimmung um. Selbst Wordsworths moralplatonische 
Träumerei verwandelte sich ihm zwischen den Händen zu 
naturalistischen Idyllen altenglischen Land- und Hauslebens. 
Ja sogar Moores Irische Melodien strafften ihre Weichheit zu 
realistischem Freiheitspathos, der auch seine orientalische 
Phantasmagorie durchdrang, und suchte im blendenden 
Kaleidoskop der „Lalla Rookh^^ wenigstens realistische Echt- 
heit des Kostüms Byrons Epyllien nachzuformen. Nun aber 
fand das Eindringen deutscher Philosophie und Idealität, von 
der ,Seeschule^ befürwortet, in Shelleys reiner Reflexionspoesie 
einen scheinbar kongenialen Vertreter. Scheinbar, denn ihm 
gebrach das feine ästhetische Empfinden der deutschen 
Romantischen Schule, das wenigstens ein notwendiges 



— 330 — 

ümgiessen der Reflexion in poetische Anschauung be- 
griff. 

Shelley dichtete mit so völliger Verachtung des l'art pour 
l'art drauf los, dass ihm immer zuerst die Reflexion und 
dann erst das poetische Requisit dazu ins Bewusstsein kam. 
Derlei darf sich das Genie erlauben, das aus dem ünbewussten 
schafft, da bei ihm Reflexion und lebensvolle Gestaltung 
sofort gleichzeitig emportauchen. So sind Byrons 
Wunderwerke ,Manfred\ ,Himmel und Erde', ,Cain' voll- 
ständig naiv und improvisatorisch binnen kürzester Frist aus 
dem ünbewussten ins Bewusstsein der Menschheit hinein- 
geschleudert worden. Shelley aber ist nur ein Halbgenie, 
der selten wie in der „Ode an den Westwind^' und anderen 
lyrischen Ergüssen sich dem Ünbewussten hinzugeben ver- 
mochte und im übrigen, was seine Verehrer natürlich als 
Ketzerei betrachten werden, mit dem Verstände arbeitete. 

Seine meisten sehr ungleichwertigen Produkte sind revo- 
lutionäre Flugschriften und Traktate, in äusserlich poetische 
Form gegossen. Was ihm dichterisch Halt gab, war lediglich 
das oft herrliche Hervorbrechen einer Naturlyrik grossen 
Stils („Die Wolke", „In der Bucht von Neapel"), obschon er 
auch hier das abstrakte Allegorisieron nicht lassen konnte: 
^Alastor oder der Geist der Einsamkeit' heisst be- 
zeichnender Weise sein lyrisch reinstes grösseres Erzeugnis. 
Ferner seine Durchtränkung mit altenglischem Radikalismus. 
Ein Erbteil der „Great Rebellion", nur dass dieser „Icono- 
clastes^ nicht wie Miltons Puritaner bloss Monarchie und Staats- 
kirche, sondern Staat und Kirche überhaupt, ja sogar Miltons 
Jehova, entthronen wollte. Solch innere Leidenschaft hauchte 
nicht nur der jugendlich unreifen ,Queen Mab\ sondern auch 
der blassen Allegorie in hellenischer Dramolytform ,Der 
Entfesselte Prometheus^ begeistertes Feuer auf die hektischen 
Wangen. Das war aber ein verderbliches und tückisches 
,griechisches Feuer^ für seine Nachahmer und Erben, die 
von dem allen nur die starre Reflexion und allegorische 
Kälte erfassten, ohne die glättenden und mildernden Zu- 
sätze des Shelleyschen echten Lyrismus und ohne seine 
persönliche Revolutionsleidenschaft. Schon bei ihm braucht 
man nur seine Allegorismen, „The Revolt of Islam" in 



— 331 — 

blanke Langeweile sich auflösend, mit Byrons metaphysischen* 
Dramen zu vergleichen, um den unermesslichen Abstand 
vom gestaltenden Genius zu gewahren. Wer merkte nicht, 
dass ,Gain\ dessen alles Vergangene, Gegenwärtige und Zu- 
künftige mit unbegreiflich glühendem Dichterblick umfassende 
Ideenkraft schon Goethe so richtig abschätzte, den hingegen 
ein schwatzhafter Publizist wie Harden als ,parfümiert' (t) 
vor Nietzsches (!) Lucifertum abfallen liess — es tut immer 
gut, solche Selbstentlarvungen tiefer zu hängen — ge- 
danklich auf einem anderen Planeten thront, als Shelleys 
anthropomorphische Konfusion! Jungengland aber fasste 
nun alles Reflektive und Revolutionäre auch literarisch als 
Selbstzweck auf und belehrte die englische Poesie, dass sie 
sich bisher auf falschem Wege befand und mit der Philo* 
Sophie wie die Deutschen anfangen müsse. 

Garlyles Germanismen unterstützten noch und so ent- 
stand der ,grosse^ Browning. Dessen Dramatik scheint in- 
sofern ein Rätsel, als er im Yaterlande Shakespeares sein 
endloses Deklamieren wagte. Im ,Paracelsus^ sind die 
Dialoge, ja die Einzelreden von einschläfernder Länge, 
letztere manchmal sechs Druckseiten lang. Seine sogenannten 
Gedichte nehmen kein Ende, als wisse er selbst nicht den 
Schluss zu finden: was er für hohe Urkraft ausgab und hierfür 
zahlreiche gläubige Anhänger fand. Dass der klare Tiefsinn 
des majestätischen Byron noch ärger als bei Shelley ver- 
misst wird, wiegen hier weder lyrische Anmut noch revolu- 
tionärer Schwung auf. Entschädigt soll man werden durch 
einen gewissen didaktischen Realismus von Psychologie, der 
sich in abstruse Reflexionsdeklamationen einmischt, und 
einen Anflug realistischer Satire wie in „Bishop Broug- 
hams Apology^' (ein endloser Jambenmonolog in dem Ge- 
dichtcyclus „Men and Women"). In „A Souls tragedy** 
„Luria*' „The return of the Druses'^ „In a balcony'^ „A blutch 
in the scutcheon" „Golombas Birthday" wird in oft unver- 
ständlicher, meist verboser und schwülstiger, nur stellen- 
weise kräftiger Tonart ein dramatischer Stil geschaffen, der 
weder lyrisch noch episch noch dramatisch, im Übrigen für 
ein feineres Gehör auf Shelleys „Beatrice Cenci^^ zurück- 
geht. Nur zwei dieser seltsamen Dramen, deren geistig 



— 332 — 

beträchtlichstes „Paracelsus^^ völlig unklar und dem paracelsus- 
gläubigen Theosophen ebenso unverständlich bleibt wie dem 
Sceptiker, nehmen einen Anlauf zum historischen Charakter- 
drama: ^Stafford^^ und „King Victor and King Charles^'. 
Doch auch hier erstickt der Eindruck in endloser Yer- 
bosität, wo jeder Rest von Handlung durch Reden, Reden, 
Beden ersäuft wird, dies Reden aber den Leser vollends 
unwillig macht durch die gesuchte Arroganz einer spezifisch 
Browningschen Sprechweise. Wenn der Stil den Mann macht, 
«0 genügt es doch nicht, sich eine Besonderheit dadurch 
anzuschminken, dass man alle natürlichen Dinge umständ- 
licher und verschnörkelter ausdrückt, als es Irgendwem ein- 
fallen könnte, und in dieser Dunkelheit der Redeform ist 
nur zu sehr System, da es uns zu der Meinung hypnoti- 
sieren will, es steckten tiefe Gedanken in diesem Dunkel. 
Entwirrt man aber das Chaos des merkwürdigen Epos „Sor- 
dello^\ so behält man lauter Redensarten in der Hand, ab- 
gerissene Gedankenfaden, die sich nirgendwo verknüpfen. 
Vergeblich schmiert Browning die Tünche einer drama- 
tischen oder epischen Handlung über seine Reflexionen, 
innerlich gähnt immer nur die abstrakte Leere. Findet er 
mal einen lyrischen Ton wie in den seltsamen Liedern 
.James Lees Wife" und den Weisheitssprüchen „Rabbi ben 
Esra'\ flugs verfliegt der Sonnenblitz und dunkel dehnt sich 
die Wüste einer Lyrik hin, die er selbst als „Dramatic 
Romances", „Dramatic Lyriks", ja gar „Dramatic Personae" 
aus dem Bereich der Lyrik entfernt und die sich wie in 
der allerdings markigen und witzigen Satire „Sludge das 
Medium^^ als sogenannte Monodramen darstellen. Etwas 
Alberneres als das Gereime „Le Byron de Nos Jours," 
etwas Harscheres als „Cavalier Lieder^^ lasen wir selten, und 
all die seltsamen Stoße, die er zum Gedichtemachen wählt, 
erwecken nur Befremden ohne Befriedigung. Selbst die 
populäre Napoleonsballade „Tou know, we French stormed 
Ratisbonne^^ hat etwas Schwerfälliges und Harsches. Wie 
denn eine gewisse Roheit der Kunstbehandlung überall stört, 
als ob es Browning in erster Reihe darauf ankäme, alle be- 
liebigen Einfälle seines begnadeten Hirns pelemele in ver* 
sifizierter Plauderei auszuspeien, unbekümmert um Kunst- 



— 333 — 

form und poetischen Ausdruck. Daher die prosaische- 
Stimmungslosigkeit all dieser hochtrabenden Keflexions- 
didaktik. Der ganase Browning nur ein barocker Einfall, eine 
an den Haaren herbeigeschleifte Originalitätswut, die nur für 
gaffende Grünlinge verbirgt, wie winzig der Dichter in die- 
sem scheinbaren Krösus von Talmigedanken. Auch hier er- 
kennen wir ein Wahrzeichen des Jahrhunderts: ihre von- 
unverdauter Philosophie gelähmte Zeugungsohnmacht füh- 
lend, doch zu eitel, sie einzugestehen, glaubt die Aftermuse 
sich des Ewigalten der natürlichen Poesiebedingungen ent- 
binden zu dürfen und preist ihre „whims^^ und „practical 
jokes^* als Inspirationen neuen Stiles an. 

Browning ward von denjenigen Elementen vorgeschoben^ 
die sieh mit des gekrönten Nationaldichters Alfred Tennyson 
Lovelyness-Poesey nicht zufrieden geben wollten. Möglichen- 
falls spielt Brownings unverständliches Gedicht „The lost 
leader'^ auf dessen Übertritt ins amtlich konservative Lager 
als Poet Laureate an. Die ätherische Yictoria erhob ihn 
sogar zum „Lord^*, obschon so unliebsame Erinnerung an 
einen andern Dichterlord erwachte, zu welchem sein 
Dichten und Trachten in überaus erheiterndem Gegen- 
satz stand. 

Allein, wir müssen diesen Alfred den Kleinen, obschon nur 
Halbdicbter, wenigstens als Künstler viel ernster nehmen als 
seine Rivalen. Die Reinheit und Sauberkeit seines Vers- 
stils hebt eine wollüstig träumerische Empfindsamkeit reiz- 
voll geiin:^ hervor. Man sollte ihn eigentlich für weiblichen 
Geschlechtes halten, doch die Female Poets wie Felicia 
Hemans besitzen viel männlichere Saiten pathetischen 
Schwunges auf ihrer Leier. Bei Tennyson hingegen dreht 
sich alles um das Weib. Bezeichnend, dass er aus Shake- 
speares tiefsinnigem «Mass für Mass^ sich bloss Mariannas 
Liebesschmerz als lyrische Episode herausholte und ihn in 
formvollendetem kleinem Liedercyklus hin und her wendete. 
Sein populärstes Gedicht heisst ,Die Maikönigin', auch 
,Müllerstochter^ und Gophetuas Bettlerbraut stellen sich vor, 
ein barokmythologischer Cyclus heisst ,,Die Prinzessin'^ 
dessen süssliche Süsse („Come into the Garden, Maud^' 
u. s. w.) alle Misses wie Syrup einschlürften. 



— 334 — 

Dieser Frauenlob wird nicht müde, Weibes Liebe und 
Leben in allen nur möglichen Varianten vorzuspielen. Wir 
•müssen ,Wiegenlieder' und Witwenschmerzen auskosten. 
Selbst eine stilvolle Ballade aus altheidnischer Opferzeit hat 
nur den Zweck, Mutterliebe zu veranschaulichen. Das Meer 
dient nur dazu, Nixen locken zu lassen. Yon Altenglands 
•Geschichte weiss er nichts zu erzählen als die Mär von 
Oodiva. Vom Griechentum berichtet er nichts als die Klagen 
von Paris verlassener Geliebten, übrigens in ganz meister- 
hafter Form. Selbst sein schärfster Ton, wo er gradezu 
unheimlich wird, entquillt weiblicher Eifersucht (Ballade ,,die 
zwei Schwestern") und in den ,Königsidyllen\ seinem Haupt- 
werk, subtilisiert er eine Art Metaphysik der Liebe wie 
Petrarca oder Guido Gavalcante in sinnvollen Reimen. Das 
Erzählende darin wird mit grosser Vollendung des stilistischen 
Vortrags, doch ohne jeden Schwung, eintönig abgehaspelt, 
und sein Streben nach Schlichtheit und Einfachheit wird 
auf die Dauer nur störend, weil gesucht und aufdringlich. 

Das kleine Idyll ,Enoch Arden\ in dem dies Streben kulmi- 
niert, hat seine lächerliche Aufblasung zu einer dichterischen 
Meistertat lediglich der ,Reinheit^ und ,Sittlichkeit^ seiner 
keuschen Zahmheit zu verdanken, sowie man etwa Byrons 
,Gefangenen von Chillon^ deshalb so hoch einschätzt, weil 
jedes Kind es lesen dürfte. Denn der allertiefste Grad des 
Kunstverständnisses, nämlich die Ästhetik der Familien moral, 
spukt noch lebendiger herum, als man in Künstlerkreisen 
wähnt. Aber ach, von Byrons schlichtem Chillon-Meisterwerk 
.zu Tennysons Schlichtheitskoketterie führt keine Brücke 
hinüber: dort edler wahrhaft keuscher Mannesschmerz und 
rührendes Martyrium verbunden mit strenger sittlicher 
Würde des Freiheitsideals, hier ein sanftes Drücken auf 
Thränendrüsen schöner Leserinnen vor zwar sehr trauriger, 
aber sehr banaler Ehetragödie des Zufalls. Es ward ja der 
Dichtung schlimmster Fluch, dass das Kleine Jahrhundert 
sie rettungslos dem Weibergeschmack überlieferte. 

Die Frau, ihrem Wesen nach philisterhaft und kunstfeind- 
lich angelegt, unfähig, andere als erotische Motive auch nur 
stofflich zu begreifen, liebt ja nicht wie der Kunstgärtner 
die Rose um der Rose willen, sondern um sich damit zu 



— 335 — 

schmücken. Die Eanst dient ihr nur als Diebshehler der 
im Dunkeln munkelnden Erotik, weshalb sie die Musik, 
ohnehin ihrem unklaren Fühlen wahlverwandt, besonders 
bevorzugt. Wie hätten Griechen und Römer staunend 
gelacht, englische Ladies als Patronesses so hoher und ernster 
Dinge wie der Literatur zu sehen! Ihnen verdankt Alfred 
der Kleine seinen ungemessenen Ruf, den wir ihm als 
Dichter völlig versagen und nur als Stilkünstler einräumen 
müssen. Nur ein paar Mal erhob er sich zu Männlicherem 
in „Ulysses", dem Tod des Lucrez, dem Tod Artus' mit 
Versinken des Schwerts Exzalibar, während die Bänkel- 
sängerreimerei „Attake der Leichten Brigade^^ nur vom 
britischen Chauvinismus als ein tyrtäischer Fäan empfunden 
wird. Und einmal wollte er gar sich dem Leidenschaftlichen 
nähern in der kraftvollen Elegie „Locksley Hall", wo ein 
byronischer Jüngling auf Gott und die Welt und besonders 
die Frauen schimpft. Da erhob sich ein Schrei des Entsetzens 
bei allen alten und jungen Weibern, dass ein so edler 
Frauenlob sich so arg vergessen habe, und er tats nie wieder. 
Seine Werke gleichen als Ganzes einem Keepsake mit 
Goldschnitt, aus dem unter zierlichen Arabesken und Blumen- 
guirlanden allerlei errötende oder nicht errötende Frauen- 
bildnisse mit ladyliker Grazie hervorlugen, rosig oder lilien- 
haft Er selber trägt immer evening-dress und lispelt mit 
sanfter Salbung wie ein begüterter Clergyman highly- 
connected seine melodischen Sermone. Die eintönige Toten- 
klage „In memoriam" zum Gedächtnis des Prinzgemahls 
Arthur glich einer sinnigen Eanzelberedsamkeit. Seine 
Melancholie passte zur heimischen Regenstimmung, ein 
bischen Spleen tut dem Gemütlichen keinen Eintrag, und 
hütete sich wohl, je in die Tiefe zu graben. Sein feinstes 
Lied „Tears, idle tears, I know not what they mean" — eine 
Feinheit, die allerdings vom näselnden Yankeepathos Long- 
fellows, seines Rivalen als Familiendichter, so weit abstach 
wie englische Eulturseele von amerikanischer — muss man 
mit seinem technischen Meisterstück „Die Lotosesser" zu- 
sammenhalten, um seine winzige, doch immerhin vorhandene 
Eigenart zu erfassen. Diese Zartheit eines faulträumerischen 
Geniessens, wenn die Lotosesser eines locker behaglichen 



— 336 — 

Wohllebens in einer Cottage on tbe seaside traulich ver- 
dauend am Kamin bocken and hübsche Oinevras mit lilien- 
händen einen ästhetischen Tee von Lotosblüten bereiten, 
erklärt den Erfolg eines solchen ladies-man der Poesey. 
Ob der pastorale Liebling der Damenwelt auch solchen 
hochgestellten Zierden, deren Neigung sonst mehr geistigen 
Getränken zugewandt, etwas Geistiges dünnflüssig ein- 
trichterte? 

Eine ewige Schande für England aber wird es bleiben, dass 
dies im tiefeten Grunde geistlose Gedudele, dessen technische 
Feinheit nur ein Kenner von gewöhnlichster Geibelei zu 
unterscheiden vermag, von allen führenden Geistern, Carlyle 
obenan, weihevoll als Stimme der Götter hingenommen und 
dem unreif ungesunden unkünstlerischen Posieren des ver- 
flossenen — Byron herablassend entgegengestellt wurde. 
Wie muss es im Seelenleben einer Bildungskaste aussehen, 
wo so etwas möglich wird! .... 

Leider muss zugestanden werden, dass auch Heinrich 
Heines Beliebtheit grade durch jene Sächelchen sentimentaler 
Verliebtheit erworben ward, die uns heut gelinden Brechreiz 
verursacheu, wenn sie bis zum Überdruss am E^lavier von 
Philistern und Philisterinnen geflötet werden. Aus seinen 
grossen Schmerzen machte er gar zu viel kleine Lieder und 
manchmal sieht er hier einem hebräischen Schmok ver- 
zweifelt ähnlich, der schreiben will nix wie Brillanten. Im 
wunderschönen Monat Mai verstreute er Diamanten und 
Perlen, Kosenwängelein und Liebchen fein und Schlängelein. 

Man kann die Erbitterung des alten Gutzkow in seiner 
Broschüre „Dyonisius Longinus oder der ästhetische Schwulst^' 
ehrlich nachfühlen, dass dies Zeugs sangbarer Lyrik dem 
deutschen Musikantenvolk als einzig berechtigte Poesie gilt, 
weil sie seinem Spatzenhimchen allein nach Noten verständ- 
lich! Doch nur böswillige Voreingenommenheit heftet sich 
an diese Popularität, die der grosse Heine mit dem Trompeter 
von Säkingen und Julius Wölfchen teilt. Wobei wir nicht 
vergessen dürfen, dass Heine, als er das Buch der Lieder 
herausgab, durchaus nicht auf derlei spekulieren und das 
Übereinstimmen seiner schwächeren künstlerischen Absicht 
mit dem Geschmack unberufener Banausen unmöglich ahnen 



— 337 — 

konnte. Denn schon die ,,Jungen Leiden"" ergossen sich in 
höchst naiver schmerzlicher Leidenschaft die grade durch 
eine gewisse jugendliche Unbeholfenheit des Ausdrucks wie 
in den Eirchhofliedern mächtig packt. Gellen Aufschreien 
wie ,,Ich lache ob den abgeschmackten Laffen^^ wird man 
wohl schwerlich klügelnde Schneiderellentechnik nachsagen, 
die ihre Liedchen zusammenstreicht und zurechtflickt. Auch 
stand hier schon das Meisterlied von König Duncans Töchtern 
und der Achtzehnjährige schuf jenes Lied von den zwei 
Orenadieren, das schwerer wiegt als die gesamte sonstige 
Napoleonspoesie von Hugo, Beranger und Zedlitz. 

,,Ja, er ward ein grosser Sänger, Stern und Fackel 
seiner Zeit,^^ wie Heine selber von seinem Stammesgenossen 
Jehuda ben Halevy singt. ,,Der Gelehrte geht vor dem 
König,*^ dieser talmudische Grundsatz bezog sich wohl nur 
auf Talmudgelehrte. Nichtsdestoweniger kann man nicht 
verhehlen, dass der Jude nächst dem Gelde Geistesarbeit 
am höchsten schätzt, womit er vorteilhaft vom plumpem 
Arier absticht, dem noch physische Roheit der Feudalzeit 
im Blute steckt. Nur mit dem Unterschied, dass der arische 
Idealismus, wenn er erwacht, eine viel lichtere Reinheit und 
heroische Höhe erlangt, der jüdische hingegen meist unreine 
Vermischung mit materiellen Zweckdienlichkeiten aufweist 
Auch protegiert die jüdische Geistesaristokratie — denn da- 
für hält sie sich — mit sicherm Instinkt nur das Arische, 
ja sogar nur das Jüdische, was ihr in ihren Kram passt 

So entzückte Heines Ironie und scheinb.n falsche Senti- 
mentalität jene tonangebenden jüdischen Zirkel von Spree- 
athen, denen theatralische Schöngeisterei ein Lebensbedürfnis, 
die mit ihren Sentiments Theater spielten oder in frivolem 
Spötteln ihre Überlegenheit markieren wollten. Der Wirk- 
liche Geheimrat Witz, um mit Heine zu reden, liegt hier 
darin, dass sein Genius wohl heimlich mit seiner bekannten 
Witzanekdote achselzuckt: .,Wat jehn Ihnen die jrienen 
Beeme an !^^ Seine Abneigung gegen Börne, den das Juden- 
tum als Heines Ebenbürtigen für jüdische Zersetzungszwecke 
verehrte, und sein schwankendes Verhältnis zur Hohe- 
priesterin der Schöngeisterei, Rahel v. Varnhagen, erklärt 
sich so. 

Bleibtrea, Die Vertreter des Jahrbnnderts. 22 



— 338 — 

Varnhagen hatte nicht nur eine Jüdin zur Frau, 
sondern auch eine zur Nichte: Ludmilia Assing, die sieh 
nachher bekanntlich an Pückler-Muskau heranmachte. Diese 
exaltierten Frauenzimmer unterschieden sich von der noch 
exaltierteren Bettina Brentano (v. Arnim) durch ihre völlige 
ünproduktivität Bettina hat in Treitschke einen warmen 
Verehrer gefunden, aber Treitschkes Juden- und Heinehass 
hat ein entschieden reaktionäres (Gepräge und man denkt 
sich oft sein Teil: hinc illae irae! Wenn er Bettina v. Arnim 
hoch über die Rahel erhebt, müssen wir ihm freilich bei- 
pflichten. Dass aber umgekehrt der deutschtümelnde jüngste 
Literarhistoriker Bartels die Bettina „sehr bedenklich^' 
findet, begreifen wir, und man vergleiche hierzu unsre 
eigenen Belege in der Einleitung. Bartel weiss, wo er den 
Most holt: dass in Brentanos jüdisches Blut enthalten 
sein könnte, und beruft sich darauf, dass Clemens, 
Bettinas Bruder, die Heinesche Poesie mannigfach vorgebildet 
habe. Gewiss, solches Schnüffeln nach jedem Oeblütstropfen 
hat selber etwas „sehr Bedenkliches^' und doch kann man z. B. 
Heyses Art erst verstehen, sobald man in seinem Ooethischen 
Epigonentum rabbinerhafte Spitzfindigkeit aufspürt. Vor 
allem begreift man jene besondere Ruhmesreklame, die 
manchen anscheinend nicht jüdischen Talenten ein über- 
triebenes Ansehen verlieh, erst durch ihre indirekte Zu- 
gehörigkeit Die Eliot hatte den jüdischen Schriftsteller 
Lowes zum Mann und der Germane Stahr verstiess seine 
Gattin für die Jüdin Fanny Lewald : flugs ward erstere zur 
grössten Schriftstellerin aller Zeiten und letzterer, ein ganz 
unbedeutender eitler Dutzendautor, zu einer Leuchte in 
Israel ernannt. Wenn beide Brentanos wirklich jüdischer 
Abkunft wären, so würde dies zu seltsamen Betrachtungen 
führen. Wir würden Clemens' angeblich Urdeutsches der 
sogenannten „reinen'^ Lyrik, das Yolksliedmässige und 
süsslich Naive, als eine ungermanische Gattung, Bettinas 
wahnwitzige ausschliessliche Goetheanbetung als einen Ab- 
spliss des Jehovakults erkennen, weniger aus Verständnis 
für das Echtdeutsche in diesem umfassenden Beflexions- 
poeten, als aus Seelenverwandtschaft für sein (angebliches) 
Heidentum entsprungen. Stammt doch das Wort „goethe- 



— 339 — 

reif^ von einem Juden (Auerbach)! Auch das Zudringliche, 
Lüsterne, Zweideutige der Geschwister Brentano würde dann 
in ganz neue Beleuchtung fallen. Doch solche Rassen- 
psychologie nimmt sofort Reissaus, sobald wir an Heine 
herangehen. Während wir sonst bei jüdischen Literaten 
jede Gewaltigkeit der Anschauung vermissen, wie sollen 
wir dies aufrecht halten angesichts der gewaltigen Herodias- 
Vision in „Atta Troll", der noch gewaltigeren auf dem Dom- 
platz zu Eöllen im „Wintermärchen" und so vieler anderer 
Proben! 

Heine fasste sein Judentum nicht als eine Religion, 
sondern als ein Unglück auf. Seine sardonischen Lippen 
spieen giftige Lronie auf blaue Blumen und bleiche Lilien. 
In der merkantilen Atmosphäre, die seine Abkunft umgab, 
verwelkte naiver Jugendwahn und nur orientalische Sinn- 
lichkeit träumte noch in ihm von Zionstöchtern mit Nasen 
wie der Turm, der gen Damaskus schauet Doch sein 
Idealismus, untrennbar von Genialität, ist nur scheintot, sein 
kalter Spott zurückgetretene Wärme unter zu jähem Frost 
der Wirklichkeit. 

Renan (Histoire gönerale des langes sömitiques) urteilt: 
„Der eminent subjektive Charakter der hebräischen Poesie 
hängt mit einem andern Zug des Semitengeistes zusammen, 
der völligen Abwesenheit schöpferischer Phantasie." Trifft 
dies und der sonst bei Juden immer bemerkbare Mangel an 
Originalität für Heine zu? Sicher nicht. Die Rezept! vität 
seiner Rasse beschränkte sich in seinem Dichten nur auf 
scheinbares Aneignen äusserer Formen: Goethes, des 
Volkslieds, Clemens Brentanos. Aber man braucht nur 
Brentanos Loreleilied, von dem das Heinesche angeblich 
plagiiert sei, mit Heines Meisterwerk zu vergleichen, um 
das völlig Neue im Tonfall zu unterscheiden. 

Dieser Erbe der Psalmisten spannte auf die deutsche 
Harfe eine neue feinklingende Saite. Wer ihr zartes 
Vibrieren und ihre reizvollen Dissonanzen nicht ver- 
nimmt, der sollte nicht vorschützen, dass er für andere Lyrik 
Gehör habe. Gewiss, man merkt schon, dass er Jude ist: 
Einen bitteren Beigeschmack wie von Tränensalz lässt 
sein Seelenduft zurück und in die reiche Melodik schrillt 

22* 



— 340 — 

etwas Boshaftes und Spitzes hinein. Der Ghettovogel glaubt 
noch immer im Käfig zu sitzen und schlägt mit angstvoll 
trotzigem Flattern die Flügel, als wolle er sie an Eäfigstäben 
wundschlagen. Er ist ihnen ja entwischt, ist frei, doch ein 
dumpfer Gefangenentraum lastet noch üher ihm. „Brich aus 
in laute Klagen, du düstres Martyrerlied!" Daher das Ver- 
bissene, Unruhige, daher auch die schrillen Trotzschreie, 
schrill bis zur Unverschämtheit, schadenfroh kreischend, 
wenn er sich seiner Freiheit bewusst wird. 

Er soll nur ein seltenes Nachahmertalont sein? So 
behaupten Treitschke, Scherer, Bartels als ob sie mit ihrer 
magistralen Aufgeblasenheit überhaupt berufen wären, über 
so hohe Dinge zu urteilen. Das sind dieselben Leutchen, 
die einen blassen Eklektiker wie Geibel unter die Dichter 
rechnen. Zwar scheint es obenhin , dass Heines Stimmungs- 
duft wie Heines Ironie, äusserlich betrachtet, nicht Neues 
und Eigenes, sondern Gemeingut der romantischen Schule 
seien. Aber der innere Gehalt verändert sich bei Heine 
ununterbrochen, auch die Formen, ja die Technik selber in 
Yers und Prosa entfernen sich ruckweise aus dem dumpfig 
schwülen Moderhauch dieser geistigen Kirchhofblumeu. Wie 
er politisch als demokratischer Freiheitssänger den denkbarsten 
Gegensatz zu der konservativen Dumpfheit und gezierten 
Yornehmthuerei der Romantiker und der Goethepigonen bildet, 
so wandert er von Anfang an einsam fürbass, fern dem 
romantischen Haufen, fern den Ateliers eines deutschen Tart 
pour Tart, um als Freilichtmaler im Sonnenlicht des Lebens 
zu baden. Und auch sein Mondlicht, das so oft seine Poesie 
gespenstig überflutet, glich nicht dem grünlich-magischen 
künstlichen Flimmer, den die Romantik über ihre unter- 
irdischen Höhlen ausgoss. Dies war das lebendige Mondlicht 
in Natur und Menschenseele, in dem er sich selber wie eine 
dunkle Säule stehen sah, das dämmrig die Geisterinsel der 
Sehnsucht umspielt oder auf den Wolken ruht wie eine Riesen- 
pommeranze und das Meer mit breitem Goldstreif säumt. 

Unter ihm bewegt sich am Kreuzweg langsam die 
Armesünderblum . . . der jungen Leiden. Doch Heines Mond 
buhlt auch mit der Lotosblume, wo stille bleiche Menschen 
am Ganges knien, wo rotblühende Gärten mit Gazellen und 



— 341 — 

kichernden Veilchen sich duftende Märchen erzählen. Dieser 
Spätling des Orients träumt von Palmen fern im Morgenland 
und den Rosen von Saaron, aber auch ihm rauschen die 
Tannen des Harzes alte Sagen deutscher Herrlichkeit ihm 
rauschen die Quellen von Prinzessin Ilse. Ihm rauschen die 
Wogen der Nordsee germanische Wehmut und germanischen 
Zorn, ob auch in den Wolken die Götter Griechenlands 
vorüberziehen. Die deutsche Erde hat ihn nicht nach seinem 
Taufschein gefragt, als er ihr ablauschte, was an verschwiegenem 
Beiz in ihren Tiefen schläft Aus alten Märchen winkt es 
hervor mit weisser Hand . . und dies Zauberland der Schönheit 
blüht, klingt und singt in Heines Liedern wie in keinem 
andern Lyriker der Welt Eine schwermütige traumhafte 
Heiterkeit, ein sehr feines und inniges Lebensgefühl, lässt 
brütendes Leidversinken nicht aufkommen. Liebliches Geläute 
durchsäuselt die Gestade des Rheins, und der Himmel wird 
blauer und die Seele wird weit „Märchenhaft vorrüberzogen 
Strom und Burgen, Wald und Au, und das alles sah ich 
glänzen in dem Aug' der schönen Frau *^ Ein Echo von 
Walter v. d. Vogelweides Minnegesang, ein Geigen wie vom 
Hörselberg . . . aber immer lauter übertönt von rollenden 
Trommelwirbeln Le Grands, von Fanfaren einer Zukunft 

„Denn ich selber bin ein solcher Ritter von dem 
heiligen Geist'^ Immer wilder und trotziger schmettern die 
Töne, auf Felsen am Meer will er ein neues drittes Testament 
bauen : „Das Leid ist ausgelitten.'^ Da plötzlich ein schauriger 
Missklang, die Symphonie reisst ab . . . und der Geschichte- 
deuter des „Romanzero'\ der wie Richard Löwenherz durch 
der Wälder einödige Pracht gesprengt und dem grüne Zungen 
zuriefen : „Willkommen Herr Eönig^\ er liegt nun elend am 
Boden, ein Hieb der „Lamentationen^^ Nicht mehr stösst 
er ins Hörn gar seelenvergnügt und heiter. Ihm war so 
wohl in der freien Luft, wie neugeboren gab er dem Rosse 
die Sporen und dachte im alten Zauberwald, wo die Linden- 
blüte duftet so für sich hin: „Mein Harnisch ist von 
festem Erz, noch fester ist mein Gemüte. Das ist Herr 
Heinrich Löwenherz, der deutschen Ritterschaft Blüte.^' 

Ja, zum deutschen Helden hatte er sich geträumt — 
und die Deutschen hielten ihn für einen Hanswurst, einen 



— 342 — 

Herrn y. Schnabelewopski, der sich die Lippen nach allerlei 
|ukanten Gerichten leckt — und nun lag er wieder 
winselnd am Boden^ ein von Jehova mit Lähmung Qe- 
Bchlagener, mit dem ganzen krümmenden Weh des Ewigen 
Joden im Rückenmark. Der mit soviel ungezogener 
Grazie auf Atta Troll's Bärenfell sieh gewälzt, der mit 
aristophanischem Hohn den Deutschen ein ,,Wintermärchen^^ 
zugeraunt, dass ihnen die Ohren gellten, den umfing nun 
lebendiges Begrabenwerden in seiner Matratzengrnft und die 
Sorge sang ihm ein graues Märchen von „Affrontenburg^. 

Wie langsam kroch sie ihm dahin, die Zeit, die schauder- 
hafte Schnecke, ihm, der eine neue Zeit bejubeln wollte! Der 
anbändige Fegasusreiter blieb immer auf demselben Flecke, 
er, der so gern das Bad deutscher Dinge ins Bollen brachte. 
Doch unverwüstlich harrte der Genius aus an seinem 
Schmerzenslager; ob er kaum noch das Lid bewegen konnte, 
sein geistiges Auge strahlte ungetrübt und die Marterblume, 
die der Jüngling als Armesünderblume erblickt, entfaltete 
noch dem Hinscheidenden ihre Süsse. „Geschlossen war 
mein Aug\ doch angeblickt hat meine SeeF beständig ihr 
Gesichte, sie sah mich an beseeligt und verzückt und geister- 
haft bestrahlt vom Mondenlichte^^ Was die Marterblume 
und ihr Toter kosen, das Geheimnis nahm er mit ins Grab. 

Ja, diese Blume war von ganz besonderer Art Sie war 
keine deutsche Rose, die sich grüssen lässt, keine Lotos, die 
bloss zittert, duftet und leuchtet und am Ende vergehen 
will vor Liebe und Liebesweh. Diese oberste und reifste 
Blüte lyrischer Empfindungswelt strömte einen betäubenden 
Duft aus, mit einem Wurm im Marke, der etwas Giftiges 
in den exotischen Wohlgeruch mischte. Ob dieser Wurm 
wirklich das Jüdische in Heine war oder nicht vielmehr 
das allen Genialen jeder Rasse gemeinsame Nagen der 
unteren Erkenntnis, die noch nicht den Einklang zwischen 
dem Allzumenschlich-Gemeinen des sinnlichen Ichs und den 
oberen Aspirationen des Unbewussten fand? 

Die blaue Blume der Romantik aber war es nicht, es 
sei denn, man fasse dies verwaschene Wort in so weitem 
Sinne, dass man Byron und auch den jungen Goethe darin 
unterbringen kann. Die deutsche Romantik befliss sich des 



— 343 — 

verbohrten Rückwärtsschauens und strich die Wirklichkeit 
als färb- und bedeutungslos, um sich in bleiche Traum- 
lande einzuspinnen. Heine schaute immer vorwärts und 
strotzte von rotem Blut der Lebensfreude, die sich mit 
durstigen Sinnen an das Irdische klammerte und ihm unge- 
ahnte Schönheitsnuancen abgewann. 

Die Gestaltungsgabe der Fabulierer und das Dramatische 
blieben ihm versagt Seine Tragödien „RadclifP'^ und 
„Almansor", bei denen er das Flügelrauschen eines Adlers 
zu vernehmen glaubte, zerschmolzen in Nachtigallklagen und 
sein Gedicht Almansor wirkt (im Buch der Lieder) dramatischer 
als sein Drama. Die gut angesetzte Novelle vom Habbi 
von Bacharach blieb Fragment Aber welche meisterliche 
Gestaltung des Realen steckt in einzelnen runden Stimmungs- 
stücken, wie in dem vom einsamen Pfarrerhaus und vom 
Försterhaus (,,zu ihren Füssen schmiegt sich des Yaters 
Dachs'*) und vom Harzmädel. Seine besten Lyrika — man 
braucht nicht an Balladeskes wie „Es folgte Edith Schwanen- 
hals der Leiche ihrer Liebe'' zu denken — knüpfen an reale 
Gegenständlichkeit einer Landschaft an. Ein klassisches 
Beispiel dafür: „Am fernen Horizonte erscheint wie ein 
Nebelbild die Stadt mit ihren Türmen in Abenddämmrung 
gehüllt Ein feuchter Windzug kräuselt die graue Wasser- 
bahn, mit traurigem Takte rudert der Schiffer in seinem 
Kahn". Das ist Hamburg ganz und gar, in poetischen Duft 
getaucht. 

Dass der jüdische Esprit viel Ähnlichkeit mit dem 
französischen habe, ward von jeher bemerkt Heine und 
der geistreichelnde Börne, dessen Geschwätz über Goethe, 
den .,gereimten Knecht", man ihm hätte um die Ohren 
schlagen sollen, hatten ihre Klingen tief in französische 
Essenzen getaucht Dass Heine sich eine gewisse französische 
Leichtigkeit und Natürlichkeit des Tons und der Lebens- 
haltung aneignete, wie es der Deutsche sonst nicht vermag, 
könnte wohl als jüdisch und deshalb als ein Stück seiner 
besonderen Eigenart innerhalb der deutschen Literatur 
angenommen werden. Assimilieren, Adoptieren, die ver- 
schiedensten Elemente assoziieren, die verschiedenen National- 
geister begreifen und all dies Fremde kombinieren, dürfte 



— 344 — 

wohl sonst die einzige Gabe der künstlerisch physiognomie- 
losen Judenkunst ausmachen. Ihrer orientalischen Abkunft 
erinnert sie sich mehr mit dem Kopfe als mit dem Herzen, 
die Palmen und Cedem Palästinas winken nur sehr fem in 
ihre ultramoderne Welt herüber. Jeder Jude möchte 
im Zionistenstaat der Herren Herzl und Nordau nur aus- 
wärtige Gesandtschaftsposten einnehmen, da es in der alten 
Heimat weder „Papierche^^ noch literarische Börsenmanöver 
noch zu beschummelnde Gojim als bewundernde Zuschauer 
gibt Wenn also in der von Juden in arischer Sprache 
verfassten Poesie das Jüdische zum Ausdruck kommt, so 
sicher nicht als etwas Orientalisches. Doch Versuche, das 
spezifisch Jüdische in Heine und Anderen festzustellen, 
machen sich die Sache sehr leicht. Denn diese ,4ranzösische^^ 
Leichtigkeit und Brillanz des Stils, welche man auch bei 
jüdischen Publizisten wie Harden entdecken kann, wird man 
in ziemlich gleicher Art bei manchen Teutonen der Heine- 
zeit wiederfinden, z. B. bei AuMtzen von Gutzkow, Laube 
und anderen Jung-Deutschen, bei der epigrammatischen 
Eleganz von Georg Büchner, endlich in unseren Tagen bei 
Nietzsche, der freilich nur ein polnischer Halbdeutscher, 
doch alles eher als Jude war. Und die Ironie, der beissende 
Witz? Steht er etwa dem Urgermanen Byron im „Don 
Juan^^ minder zu Gebote? Der sinnliche Gynismus? Strotzen 
nicht viele Franzosen davon, liebten nicht Grabbe und 
Büchner, beides Zeitgenossen Heines, dergleichen? Immer- 
hin dürfte ein gewisses Behagen an Unfläterei, obschon man 
hierbei an Rabelais und unsern alten Papa Wieland, an 
Heinse und Callot-Hoffmann sich erinnern sollte, als ein 
Nachgeruch des schmutzigen Ghetto in Heine herumspuken. 
Er selber aber denkt anders. In „Shakespeares Frauen 
und Mädchen^^ feiert er die Verwandtschaft des Deutschen 
mit dem Jüdischen Geiste: in Tiefe des Gedankens, Ernst 
des Gefühls und Sittlichkeit! Das klingt sehr anmassend und 
sehr spassig, und doch glauben die Juden merkwürdiger- 
weise an diese innere Verwandtschaft, hegen oft eine Art 
unglücklicher liebe für das Deutschtum. Ach! wenn ein 
englischer Jude etwa umgekehrt sich dem Engländer ver- 
wandt erklären würde wegen praktischer Klugheit Unter- 



— 345 — 

nehmuDgslust und Zähigkeit, so würde wohl Keiner wähnen, 
dass ausser solchen Äusserllchkeiten des niederen Lebens 
irgendwelche Ähnlichkeit im höheren obwalte, dass Shakes- 
speare und Byron irgendwie dem Jüdischen verwandt seien! 

Allein, obiges Selbstlob Heines für seine Rasse ist nicht 
ganz so töricht, wie es aussieht Er verwechselt nur Tiefe 
des Gefühls, mit einer nervös leidenschaftlichen, begehrlich 
hingebenden Empfindsamkeit Die Vermählung dieser 
angeblich Verwandten sah Heine nun wohl in sich selber, 
und nichts kann daher falscher sein, als ihn geflissentlicher 
Französelei zu bezichtigen. Im Gegenteil fühlte er so aus- 
schliesslich, ja fast borniert deutsch, dass man eher sagen 
könnte: grade seine Unfähigkeit, Engländer und Franzosen 
richtig zu würdigen, sei etwas Undeutsches gewesen, was 
unserm kosmopolitischen Verständnis für fremde Eigenart 
fernlag ! Er staunt, dass die Engländer Shakespeare hervor- 
brachten, ein Volk, so stupid, so geistlos, so englisch! Er 
bespöttelt die französische Literatur und lässt gegen seinen 
Pariser Seelenverwandten Musset, den er anlässlich seines 
Kheinlieds einen ,Gassen jungen^ schimpft, den glänzenden, 
aber schnöd ungerechten Witz los: „Er gleicht jenen künst- 
lichen Buinen in herrschaftlichen Parks, die mit der Zeit 
wirklich verwittern/' Dass sein Napoleonkult damals von 
den besten Deutschen geteilt wurde, Heine selbst aber sogar 
unpassend davon zurückkam, hat Holzhausen ,Heine und 
Napoleon' dokumentär dargelegt, welches glänzend geschrie- 
bene Buch wir nur allseitig empfehlen können. Heines 
Franzosenliebe, teils in den politischen Zuständen Deutsch- 
lands begründet, teils gefühlsmässiger allgemeiner Freiheits- 
poesie entsprechend, kühlte sich im Exil völlig ab. Sein 
Buch ,Lutetia' lässt durchaus die Wärme vermissen, womit 
seine Abhandlungen über Deutsche Poesie und Romantische 
Schule auch den Franzosen Ehrfurcht vor allem Deutschen 
beibringen wollen. Mit tiefem Verständnis und in genialen 
Gleichnissen erhebt er den Genius des Nibelungenlieds. 
Selbst Uhland, dessen lächerliche Überschätzung ihn zum 
Spott reizen musste, kommt sehr glimpflich bei ihm weg. 

Dass man sein Urteil über zeitgenössische Dichter un- 
fein und gehässig fand, lässt sich nur durch blöde Vor- 



— 346 — 

eingenommenheit erklären, die Heines gutes Recht dazu 
nicht begreifen, seine eigene überragende Grösse nicht er- 
kennen will. Gewiss, Flatens Abschlachtung in den „Bädern 
7on Lucca^^ geht an sich über die Grenzen des Zulässigen 
hinaus und der tolle Rabelaissche Humor überschlägt sich 
hier in burschikoser ünflätigkeit Die jüdische Bachsucht, 
eine Basseneigentümlichkeit, tobte sich überhaupt öfters bei 
ihm aus, wie sein langweiliges Spottverfolgen des trefflichen 
Massmann traurig belegt Aber andre Leute sind auch rach- 
süchtig und wir hörten als Eind selber Massmann auf Frage 
Major Beitzkes (des Historikers der Befreiungskriege), was 
er wohl Heine getan haben möge, triumphierend antworten: 
„Durchgewalkt hab' ich ihn/^ Der Grund, weshalb dies ge- 
schah — weil Student Heine sich über Student Massmanns 
Mutter lustig gemacht habe — , würde dem Hebräer gewiss 
Unehre machen, doch liegt das Warum offen zu Tage, dass 
nämlich Massmann mit ostentativstem Diogenesstolz diese 
brave Waschfrau öffentlich paradieren Hess und hiedurch 
Heines ohnehin gegen die Teutomanen gereizte Ironie her- 
ausforderte. Man darf und soll all die kleinen Läppereien, 
die über Heines Boshaftigkeit in Umlauf gehen, nicht prü- 
fungslos übernehmen. Lassalle selbst erzählte mal, er habe, 
den kranken Heine in Paris besuchend, ihn voll Begeisterung 
verlassen und dann wegen seines vergessenen Stocks um- 
kehren müssen: da habe er Heine sich in Lachkrämpfen 
winden sehen, offenbar höchlich belustigt über die Sozialismus- 
tiraden und wahrscheinlich posierenden Prahlereien seines 
jungen Verehrers. Natürlich verzieh Lassalle dies nie, zu- 
mal Heine ihm seinen geliebten Platen zerpflückte. Aber 
hätte nicht noch Anderen dies Unglück passieren können, 
einen jugendlichen Phraseur, den er für einen Faiseur hält, 
auszulachen , geschweige dem durchdringenden Spott- 
geist des grossen Ironikers? Und bot nicht Platens 
platonische Päderastie ihm sozusagen ein gesundes 
Fressen? Hatte der Grössenwahn des ,edlen Dichters' 
nicht gegen den , frechen Juden jungen^ einen hoch- 
gräflichen Ton angeschlagen? Wahrlich, bei solchen 
Vorgängen im wahren Reiche des Geistes, wohin freilich 
jüdisches Literatentum sonst nirht vorzudringen pflegt, wenn 



— 347 — 

man eigene Inferiorität bloss mit dem Mantel des Ghristlich- 
gennanischen decken will, stehen wir ganz auf Seite des 
Juden. Auch verleugnet sich selbst hier in persönlicher 
Fehde nicht die echte Genialität, die hinterm Zufällig- Indivi- 
duellen immer das Typische, die „Idee^^ sucht. Denn die 
späteren unsterblichen Verse: ,,Eine grosse Tat in Worten . . 
wahre Prinzen aus Genieland zahlen bar, was sie verzehrt^^ 
geissein eine ganze nie aussterbende Gattung: „Tot ist zwar 
der alte Junker, doch sein Same lebt noch heut. . . Meine 
teuern Hallermünder, o ich kenn* euch gar zu gut/^ 

Man sagt, Heine habe sich selbst gegen den besten 
Freund einen Witz nicht verkneifen können. Nun, seine 
Freunde waren danach! Und wenn er Bekannte in dem 
klassischen Lobgesang auf die zwei edeln Polen — wohl- 
gemerkt auch hier nur als Allgemeintypen des Polentums 
— verhöhnte, so weiss man andrerseits, dass Heines Tasche 
den politischen Flüchtlingen immer ofTenstand und seine 
Gutmütigkeit sich oft genug brandschatzen Hess. Die ihm 
von Guizot bezahlte Pension, worüber die Maulpatrioten sa 
viel Lärm schlagen, sieht im Lichte neuerer Forschung recht 
harmlos aus und neunzig Prozent der Moralheuchler hätten 
in gleichen Umständen gradesogut diesen Ehrensold einge- 
steckt. Grabbe, dessen urdeutsche Art Heine pietätvoll 
ehrte, schimpfte auf den .Judenjungen^: der ,rachsüchtige'^ 
Heine schrieb über ihn das ehrendste Urteil nieder. Handelt 
so ein Charakterloser? 

Er lebte nicht wie ein Hermhuter, sondern wie jeder 
Pariser, vor seiner törichten Ehe mit der dummen dicken 
Mathilde, seiner Christiane Vulpius . . o der Schandkerl! 
Er wusste nicht Haus zu halten und machte Schulden . . 
o der Lump! Von steinreichen Verwandten, die heut noch 
mit seinem unsterblichen Namen herumstolzieren und sich 
mit seinem Ruhme brüsten, — eine Heine heiratete bekannt- 
lich den Fürsten von Monaco und brannte gelegentlich mit 
dem jüdischen Komponisten Lara durch — , verlangte er 
pekuniäre Unterstützung . . o der Elende! All diese unbe- 
zahlbare Komik hat wenigstens das ernste Verdienst, dass 
Heine auf sie das unbezahlbare Wort „die zahlungsfähige 
Moral" münzte. 



— 348 — 

Da sehe man übrigens, wie verlogen das Judentum 
seinen Kultus des Geistes und seine Opferfreudigkeit für 
geistige Oüter vorschwindelt! Welche pekuniären Opfer hat 
seine Rasse denn für den Einzigen gebracht, der ihr Ein- 
lass in arische Oemütswelt und arischen Besitzstand ver- 
schaffte? Und glaubt man wirklich, dass die Juden das 
Ewige in Heine bewundern, das freilich weder jüdisch noch 
arisch, sondern im Oenieland geboren ist? Nie vergessen 
wir, wie ein Jude vor uns für Heine schwärmte und als 
Beleg was zitierte? Das schweinische Schelmenlied „In einem 
P — sspott kam er geschwommen." Fjassen wir also alle 
chemischen Blutuntersuchungen bei Seite und kümmern 
wir uns gar nicht mehr darum, ob er Hebräer oder Deutscher 
war. Ein Oenius war er und das Genie hat in gewissem 
Sinne kein Vaterland. Aber gleichzeitig wurzelte er national 
genug im heimatlichen Boden, und wenn dieser „vater- 
landslose Geselle" überhaupt etwas Nationales hatte, dann 
war er in denkbar prononziertester Weise ein Deutscher, 
deutscher als die Romantiker, als der Gräkophile Platen 
und Ungar Lenau, deutscher als alle modernen Schriftsteller. 

„Deutschland, du meine ferne Liebe, gedenk ich deiner, 
wein ich fast", seufzte dieser „undeutsche" grosse Dichter 
der Deutschen in seinem Pariser glänzenden Elend, sehr 
undankbar gegen die einst geliebten Wälschen: ,,Dies leichte 
Volk wird mir zur Last." Und mit jener spöttischen Weh- 
mut, die er so wundervoll in dem herrlichen Lied „Jetzt 
wohin?" austönt, wo er „seinen eignen Stern nirgendwo 
erblicken kann", seufzt er tief: „Die Grobheit, die ich einst 
genossen im Vaterland, sie war mein Glück." Ihr aber, 
die ihr achselzuckt über die tränenstille Silage: „Ich hatte 
einst ein schönes Vaterland" „Das flüsterte auf deutsch 
und sprach auf deutsch" — ihr, dass ich es nur sage, ihr 
seid undeutsch! Seid unwürdig, dass dieser Jude in eurer 
Sprache das Deutscheste gedichtet hat. Und wenn ihr 
Schwätzer faselt, dies Deutscheste sei eben gar nicht deutsch, 
dann kann man auch nur mit Heinescher Ironie antworten: 
schade, dann haben wir leider das Deutschtum überschätzt! 

Doch es wird euch gar nichts helfen. Die Veilchen 
Heinescher Lyrik werden duften und blühen, wenn nur das 



— 349 — 

dürre Gras auf euren Gräbern wuchert. Ja wahrlich, kaum» 
seid ihr begraben, da wuchert das Gras schon wieder . .. 
ihr biederen Zinshäufer des Althergebrachten seid immer 
wieder da. Was den Heine verlästert, ist das nämliche 
Geschlecht abgedörrter Eathederästheten und lederner 
Kritikaster, das selbst einen Ganzgrossen, das ByroA 
zu den Toten warf. Aber indem dieser heilige Name 
unsrer Feder entfliesst, müssen wir freilich bekennen^ 
dass selbst hier der jüdische Geist in seinem berühmtesten^ 
Vertreter nicht günstig abschneidet. Denn es bedarf keiner 
Erörterung, dass wiederum der Arier das originale Urbild 
und der Jude nur eine eigenartig geniale Kopie bedeutet. 

Während Byrons tragisches Pathos und Gedankenflug 
von Lenau aufgenommen wurden, so dass naive Unkenntnis 
ihn den „deutschen Byron*^ zu nennen wagte, setzt sich die 
,mobility', die universale Beweglichkeit des ,Herolds der 
Weltliteratur', wie ihn Goethe taufte, in Heine fort Aller- 
dings kann von wirklicher Anlehnung an Byron keine Bede 
sein, so frühzeitig Heine sich in ihn vertiefte und einige 
zwar etwas unbeholfene, aber hochpoetische Übersetzungen 
(Geisterszene aus Manfred und An Jnez) ihm ablauschte. 
Er wehrt sich einmal dagegen, dass man ihn vom ,spleenig 
schwarzgalligen^ Lord ableite, sich seiner Lebenslust rühmend, 
ohne zu ahnen, wie naiv er damit sein Jüdisches bekennt 
Ein andermal freilich verspottet er den Boykott gegen Byron 
besonders von selten der englischen Damen, die heimlioli für 
ihn erglühen, und erklärt: „Es ist ihr (der Briten) grösster 
Dichter.'' Man wäre nun versucht, die ganze Heinepoesie 
eine Paraphrase des ,Don Juan' zu nennen, dessen Mischung 
von Erhabenstem und Frivolstem, flammender Idealität und 
realistischer Spottsucht, Heldenpathos und burlesker Travastie 
sich bei Heine übers gesamte Schaffen verbreitet. Doch 
würde man damit Heine wohl ebenso Unrecht tun, wie der 
heut gang und gäben Meinung, er habe Romantik und Ironie 
schlankweg von der Romantischen Schule übernommen. 

Heinesche Ironie ist eine ganz andere als die eines Tieck, 
seine Romantik grundverschieden von der eines Novalis oder 
selbst eines Lenau. Nicht als ob ihm die romantische Flucht 
ins Mittelalter und die Kirche fremdgewesen wäre. Kein 



— 350 — 

Bomantiker hat so tief und gross das Wesen der Gothik 
ergründet, wie Heine an einigen Stellen seiner Prosaschriften. 
Märchenhaftes zaubert im «Buch der Lieder^ herum, wovon 
er sich freilich bald völlig losmachte. Die wundervolle 
Ballade der Muttergottes von Eevelaar hat unzählige katho- 
lische Gemüter beseligt, die grossartige Ghristusvision auf 
der Nordsee nicht minder. Dennoch merkt man durch, dass 
Heine dies Rückschauen nur historisch aufPasst, als Wurzel 
und Urquell des Ghristlicbgermanischen, das er so gern sich 
assimilieren möchte. Seine Romantik ist sozusagen ein 
kulturhistorisches Gewand, in dessen Eleidsamkeit sich seine 
Muse, modern vom Scheitel bis zur Sohle, aus Schönheits- 
gründen einschmiegt. Seine Ironie ironisiert nicht wie die 
affektierte Vornehmtuerei Tiecks die Realität an sich, sondern 
nur das Schlechte, Hässliche und vor allem Komische der 
einzelnen Scheinrealitäten. Die dämonisch olympische Ironie 
in Byrons ,Don Juan', wo ein leibhaftiger Gott Lucifer sich 
über Eitelkeit der Eitelkeiten zu belustigen scheint, konnte 
Heine schon deshalb nicht erreichen, weil er als Augen- 
blicksrevolutionär an Zeiterscheinungen klebte. Ihm fehlt 
apollinischer Humor homerischen Gelächters, das dort der 
höchste Genius über Welt und Dasein anschlägt, verbunden 
mit subtilster Aushöhnung philosophischer Systeme und 
theologischer Schrullen. Grade der weniger bewunderte 
Schlussteil des ,Don Juan^ enthällt zahlreiche Strophen 
von nie dagewesener Denkerkraft, indem hier das im 
,Cain^ mit grossartigem Ernst Gedachte sich in lustvolle 
Freiheit einer (freilich nur scheinbaren) triumphierenden 
Skepsis verwandelt, neben der Montaigne und Swift matt 
und ledern verblassen. Neben solcher Genietat kommen 
einem selbst Heines aristophanische Orgien ziemlich harm- 
los vor. Und wenn wir gar den ganzen Byron mit dem 
ganzen Heine vergleichen, so steht der bedeutendste Jude 
doch nur wie ein Knirps neben dem arischen Riesen. 

Dies betonte, unserm Beispiel folgend, auch Professor 
Harnack beim Heinejubiläum und es wirft ein Licht auf 
jüdische Unverfrorenheit, wenn von dieser Seite wir — aus- 
gerechnet wir — als ,,Berufenster*' aufgefordert wurden, 
gegen diesen sonst überaus heinefreundlichen Aufsatz 



.— 351 — 

Harnacks Stellung zu nehoieu. Wir erwiderten wörtlich: 
wer Heine herabsetze, weil er Jude sei, verdiene nicht mehr 
Verachtung, als wenn man umgekehrt Heine raasslos auf- 
blase, gleichfalls weil er Jude sei. In der Tat, viel vom so 
ungerechten Rückschlag gegen die Heinevergötterung lässt 
sich entschuldigen durch die gerechte Entrüstung über 
die ausschliessliche Weltreklame des Judentums für den 
Stammesgenossen, den man allein von allen deutschen 
Dichtern im Ausland — nicht nur in Frankreich, sondein auch 
England und Italien — populär gemacht hat Selbst wenn 
man nicht abgeneigt, ihn wirklich als ,,grössten deutschen 
Dichter nach Goethe^' anzuerkennen, so wird man solche Rang- 
abstufung immerhin erst prüfen müssen, wo es sich um 
einen Nur-Lyriker handelt Da liesse sich lang und breit von 
Unter- und Überschätzung der Lyrik reden. Denn einerseits 
belächelt oder begähnt sie der Kunstbanause, andrerseits 
wird ihr traditionell über Gebühr gehuldigt 

Tollstes in dieser Hinsicht leistet der Burnskult: Ein 
gebildeter Schotte sagte uns einmal ernsthaft bei einer Fahrt 
durchs ,Biii^QS-Land^ (Dumfriesshire), dass man ,,in tbis 
country" Burns in seiner Weise für giadeso gross als 
Shakespeare halte, und Carlyles kindische Burnsraserei 
stellte seinen Landsmann hoch über Byron. Demgegenüber 
muss der schwereren Arbeit des Epikers und Dramatikers 
ihr Recht gewahrt bleiben. Ein schlechtes Drama und einen 
massigen Roman schreiben, erfordert mehr Talent als einen 
Band mittelguter Gedichte zurechtbringen. Wenn wir Hebbel 
und Grillparzer abstraktpoetisch tief unter Heine und Lenau 
stellen, so stehen erstere andrerseits hoch über Uhland, 
Platen, Geibel. Erst dann wird der Lyriker, also der 
eigentliche Sänger, ein Ebenbürtiger des Dramatikers, wenn 
er aufs maningfaltigste die Tragödien und Komödien seiner 
eigenen Subjektivität vor uns abspielt Alsdann kann er 
der berufenste Vertreter seiner Zeitseele werden. 

Dies triflft wie bei kaum einem Zweiten bei Heine 
zu, dessen ,Buch der Lieder', obschon vielfach sein 
schwächstes Buch und von den Nordseebildern, Neuen 
Gedichten und Lamentationen künstlerisch weit übertroffen, 
ein vollständiges Tagebuch eines Menschen vormärzlicher 



— 352 — 

Ära darstellt Grade dass hier auf ergreifende Herzens- 
sohreie flotte leichtsinnige Schnarren folgen, dass tiefsinnige 
Meisterljrik wie „Der Tod, das ist die kühle Nacht^^ neben 
barschikosem Scherzo wie „Mir träumt ich bin der liebe 
Oott'^ als Tagebuchblätter geschrieben stehen, macht den 
besonderen Reiz aus. Übrigens will hier auch sentimentaler 
Überschwang kulturhistorisch genossen werden, da er damaligem 
Milieu entsprach. Das unglückselige Weib, das mit ihren 
Tränen vergiftet, gehörte mit zur Theatergarderobe dieser 
zerrissenblasierten Schöngeistergesellschaft, „sie sassen und 
tranken am Teetisch und sprachen von Liebe viel.^' Übrigens 
möchten wir alle, die sich vor des unglückseligen Weibes und 
anderen Tränenbächen Heines ekeln, erst auffordern, den 
herrlichen Yersfluss und die innere Melodik dieser Lieder 
nachzumachen, die ihre Weltberühmtheit immer noch teil- 
weise verdienen. 

Fassen wir nun kurz Heines wirkliche Verdienste zu- 
sammen. Er war so ziemlich der geistreichste Mensch, der 
je die Feder zu espritvoller Prosa ansetzte, nnd schuf einen 
neuen Stil, rettete ihn von den Unarten der Goetheschen 
Steifheit und Wichtigtuerei, die alle himmlische Urfrische 
des Werther später einbüsste und auf gezierten Sprachstelzen 
wandelte. Und wenn die besten deutschen Stilisten der 
Jahrhundertwende, Freytag und Treitschke, wieder in den 
Geheimratston verfielen, so schuldeten sie die gewandtere 
Leichtigkeit des Satzbaus gleichfalls nur Heine. Dieser — 
und gar Börne, den Heine als seine eigene Karikatur hasste 
— schadete freilich auch, indem er das seichtelegante 
Feuilleton der hebräischen, besonders Wiener Schule be- 
fruchtete Selbst der blendendste Publizist deutscher Zunge, 
Felix Wittkowsky — getauft als Maximilian Harden — , 
stammt von ihm her, nicht von kleinen Französchen wie 
Sarcey und Lemaitre, die er immer im Munde führt. Solche 
Früchte wird man sich gefallen lassen, wenn man das 
sonstige banale Zeitungsdeutsch damit vergleicht Dass aber 
diese Heinesche Prosa, deren Glanz in Landschafterei, 
Stimmungsträumerei, Seelenskizze, kulturhistorischer und 
ästhetischer ernster Betrachtung, vornehmer Ironie und 
unvornehmer Lustigkeit überall gleichmässig strahlt, reinweg 



— 353 — 

..französisch^^ klinge, gehört mit zu den Urteilen jener Klasse, 
von der Tolstoi grob die Wahrheit zum Besten gibt: „E[ritiker 
das sind die Dummen, die über die Klugen schreiben". 

Denn französisch ist gamichts daran, als dass Heine 
bewies, man könne auch im Deutschen die knappen und 
klaren Sätze des Französischen anwenden , statt endloser Ein- 
schachtelungen und Perioden. Was aber hier klingt und 
duftet, ist viel lebendiger, anschaulicher und blühender, hat 
weit mehr Frische, Farbe und Fleisch als die französische 
Glätte, die wie ein spitzes schmales Floret hin und herzuckt: 
Heine aber handhabt sein geliebtes Deutsch wie einen 
Flamberg in funkelnder Sonne. 

Heine ist ferner der grösste Satiriker der Deutschen 
und der mittelalterlichen Plumpheit Huttens weit überlegen. 
Seine juvenalische Ader blutete so reich sich aus, dass 
kaum Swift mit grellerem Blutrot morsche Torschwellen 
beschmiert als Bote der heiligen Yehme. Man denke nur 
als beliebige Probe an die klassischen und noch heute 
„aktuellen" Spottverse über die Achtundvierziger-Schwärmerei : 

,,Aach eine Flotte will Oott uns bescbeereo, die patriotische 

Überkraft 
Wird rüstig mdem aof dentscben Galeeren, die Prügelstrafe 

wird abgeschafft 
Der Frühling kommt, es platzen die Soboten, frm atmet der 

Mensch in der freien Natur, 
Und wird unser ganzer Verlag verboten, verschwindet am 

Ende von selbst die Zensur." 

Der grosse Künstler des Prosastils war endlich der 
grösste Lyrikkünstler aller Zeiten, falls man darunter eine 
bewusste und durchdachte Technik versteht. Die Goethe- 
bonzen wollen dies natürlich nicht Wort haben. Dem Ge- 
schwätz, Heine habe seinen Yersstil von Goethe entlehnt, 
könnte man mit gleicher Münze des Unsinns dienen, Goethe 
habe den seinen vom Yolkslied entlehnt, was bezüglich Erl- 
könig und Haideröslein sogar in plagiatorischem Sinne zu- 
trifft. Dass ein kleiner Kern Goethescher Lyrik — die 
Mignonlieder, König von Thule, Grenzen der Menschheit, 
Füllest wieder Busch und Tal, Über allen Wipfeln ist Ruh 
u. s. w. — aus lauter Krondiamanten besteht, hebt nicht auf, 
dass die Hauptmasse seiner Reflexions- und Gelegenheits- 

Bleibtren: Die Vertreter des Jtbrhandertfl. 23 



— 354 — 

gedichte vom Standpunkt künstlerischer Technik aus fast 
gar keinen Wert besitzt. Heines Technik meistert hingegen 
gleichmässig in allen Gattungen der Lyrik. Ein geschicht- 
liches Bomanzerolied wie ,, Frohlockst, Plantagenet, und 
glaubst^^ oder ,,Bichard Löwenherz^^ trägt genau die gleichen 
Kennzeichen knapper Abrundung und hingehauchter Frische, 
wie seine Liebes- oder Naturstimmungslieder. Dass Heine 
auch der Breite ihr Becht liess, wo diese angebracht, zeigen 
„Finsternis", „Nordseebilder", ,,An die Mouche" und ähnliches. 
(In „Atta Troll" tut er in epischer Breite sogar des Guten 
zu viel.) Im Allgemeinen aber stellte er zuerst als Gesetz 
auf, das Lied habe auf knappsten Baum grösstmögliche Fülle 
zusammenzudrängen. Das eigentliche Heinesche Lied bat 
also nur vier, oft nur zwei, am besten aber drei Strophen, 
die wie Prämisse, Hypothese, Konklusion aufeinanderfolgen. 

Als künstliche Antithese wirkt es aber nie, weil das Ganze 
als fertiger plastischer Organismus vor uns ins Leben springt 
und wir von den Atelierspänen des rastlos zusammen- 
streichenden Feilens nichts gewahren. Musterhaft spielt 
auch die Kunst der Introduktion, des unwiderstehlichen Auf- 
rollens der Vorstellung gleich mit der ersten Zeile. Was 
völlig mühelos hingehaucht scheint, hat tiefer Kunst- 
verstand eraibeitet. Und so hat sich Heine einen eigenen 
Ton geschaffen, der ihn völlig von jeder anderen Vortrags- 
weise unterscheidet Mag man Goethes beste Lyrik wie 
Blume schweren Bheinweins schlürfen, bei Heine gibt es 
eine reiche Auswahl von schäumendem Champagner, perlen- 
dem Mosel, klarem Bordeaux und süssschwellendem Tokayer. 
Dies Gleichnis hinkt jedoch, denn in seiner Musterkarte sind 
alle Weine deutsch mit nur leichtem Beisatz jener Trauben 
von Kanaan, die schon Josuas Kundschafter rühmten. For- 
schen wir aber, worin der unnennbare Beiz seiner Melodie 
bestehe, so widerlegt die Begründung gleichzeitig den so oft 
erhobenen Vorwurf der Unwahrhaftigkeit aufs schlagendste. 

Es ist nämlich einfach die ungewöhnliche Natürlichkeit 
und Ehrlichkeit des Tons, was die Menschen aller Stände hier 
so eigentümlich fasciniert Wer hat nicht Naive schon 
äussern hören, Heine sei so „natürlich", das sei alles wie 
hingesprochen! Allerdings fiel dies Natürliche nicht gleich 



— 355 — 

Tom Himmel, die zwei berühmten Strophen „Du bist wie 
eine Blume^^ oder ,,Ein Fichtenbaum steht einsam^^ ent- 
standen aus Brouillon zahlreicher Strophen. Allein, das 
Ursprünglich - Natürliche des sprachlichen Wurfs, der sich 
intuitiv der Konzeption vermählt, bleibt hier nichtsdesto- 
weniger ein inspirierter Naturlaut Dieser Dichter spricht 
wie die Natur, die Natur spricht durch ihn. Sie hat freilich 
verschiedene Töne und bei Goethe spricht sie weihevoller, 
getragener, um so alberner die Behauptung, dass solche 
Orundverschiedenheit sich decke. Nein, auch Heine hatte, 
wie Goethe von Byron singt, einen „eigensten Gesang". Mit 
gleichgültiger Sicherheit wählt er oft scheinbar banale und 
prosaische Wendungen, die aber bei ihm wie lauterste 
Poesie klingen, und seine souveraine Beherrschung der 
Sprache wählte absichtlich das an sich Disharmonische, um 
daraus den herben Vollklang zu gewinnen. Die paar von 
uns früher gekennzeichneten Süsslichkeiten im ,Buch der 
Lieder' abgerechnet, wird Heines Verssprache immer derber, 
vollsaftiger, realistischer. Selbst sein Suchen nach ungewöhn- 
lichen Reimen, was man als raffinierte Mätzchen auslegte, 
kam ihm ganz unwillkürlich im Streben, alles Konventionelle 
der „schönen" Sprache abzustreifen. Das Harsche, Harte, 
dem Banausengefühl Prosaische wirkt bei ihm immer 
dämonisch. „Die Raben krächzten abscheulich" in der 
Hastingsballade ist kein ausgeklügelter Notreim auf „Lailich", 
sondern ein unheimlicher Naturschrei. Unter seinen Ge- 
dichten letzter Periode findet sich eins, in dem sich klar 
ausprägt, was wir meinen: 

„Wenn dich ein Weib verraten hat, so nimm dir flugs eine andre! 
Noch besser wär*8, da licssest die Stadt, nimm den Ranzen 

und wandre! 
Du kommst zu einem blauen See, umkränzt von Trauerweiden, 
Dort wirfst du ab dein kleines Weh und deine engen Leiden. 
Und wenn du auf die Berge steigst, wirst du beträchtlioh 

ächzon, 
Doch wenn du dann den Gipfel erreichst, hörst du den Adler 

krächzen. 
Dort wirst du seihst zum Adler fast, du fühlst dich wie 

neugeboren, 
Du fühlst dich frei, du fühlst, du hast da unten nicht viel 

verloren !'* 

23^ 



— 356 — 

Das ist die höchste Poesie, erhebend, gewaltig, grade 
weil dies Gewaltige so schlicht and schmucklos hingeplaudert. 
„Beträchtlich ächzen^, mein Gott, wie prosaisch! seufzt der 
Bierphilister. Dem Eunstgeniesser aber ist dies beträchtliche 
Ächzen ein Hochgenuss auserlesener Feinheit 

Unaufrichtig seine Liebes- und anderen Schmerzen? 
Was ihr nicht sagt! Wir fürchten sehr, dass nur der so 
blasphemiert, dem nie eine Leidenschaft und nie die Mystik 
der Liebe im Herzen gewohnt. 

„Mir träumte, traurig schiene der Mond und traurig 
schienen die Sterne . . es zog mich zur Stadt, wo 
Liebchen wohnt, vielhundert Meilen ferne. Ich stand vor 
ihres Hauses Tür, ich küsste die Steine der Treppe, die oft 
ihr kleiner Fuss berührt und ihres Kleides Schleppe. Die 
Nacht war still, die Nacht war kalt, es waren so kalt die 
Steine . . es lugt aus dem Fenster die bleiche Gestalt, beleuchtet 
vom Mondenscheine.^^ Dass dies unendlich einfach in seiner 
düstem Schönheit ist, bestreitet wohl niemand: weshalb denn 
unaufrichtig? Die Heuchelei pflegt sich gewählter auszu- 
drücken. Das berühmte „Und das Wort hab' ich vergessen^^ 
wuchs auf sehr leiddurchwühltem Acker des Genies. Wer 
aber vollends das antithetische Meisterwerk „Ich hab im 
Traum geweinet" wegen seiner äuseren Tränenseligkeit 
anpöbelt, dem sind solche psychologischen Tiefen der 
Liebestragödie verschlossen. Nein, hier ist alles echt Echt 
die trotzige Wildheit, die ihre Liebe selbst den Weltensturz 
überdauern lassen will. Echt die unendliche Wehmut des 
„Ich will dir nie gestehen, dass ich dich geliebet hab', und 
wenn du stirbst, so will ich weinen auf deinem Grab". Echt 
das brünstige Lallen, das dumme Banausen als grellen 
Misslaut empfanden: „Madame, ich liebe Sie^ Ja, selbst 
eine offenbare Geschmacklosigkeit wie in den Nordseebildem 
der Harpyenschwanz des spöttischen Anhängsels zur Christus- 
vision, entspringt dieser inneren Ehrlichkeit. Dass ein so 
grosser Künstler sonst recht wohl verstanden hätte, wie 
sehr er damit ästhetisch seine Schöpfung schädigte, liegt 
auf der Hand. Aber Heine wollte um keinen Preis 
seine wahre Überzeugung verleugnen, noch die Vermutung 
aufkommen lassen, ein so inniger Anbeter Christi flüchte 



— 357 — 

am Ende in den Muttersohooss der Eiichlichkeit Und echt, 
wir wiederholen es, war sein Deutsch-Empfinden. 

Wenn er sich aach als Jude bekennt, wie in dem 
höhnischen Gedieht von der hochgeborenen hebräerhassenden 
Spanierin, deren Liebster sieh als Jude entpuppt, so lässt 
er sich andrerseits den lieben Nationalhelden David nicht 
entgehen in dem fürchterlichem Romanzerosymboi: „Sterbend 
lächelt der Despot . . dass ich Joab dir empfehle, einen 
meiner Generäle'^ Es hat eine tiefere Bedeutung, wenn er 
düster singt: „Keine Messe wird man singen, keinen Eadosch 
wird man sagen, nichts gesagt und nichts gesungen wird an 
meinen Sterbetagen'^ Denn er stand dem Jüdischen innerlich 
geradeso fem wie dem Kirchlichen. Sein Messias war ihm 
Napoleon gewesen, dessen Hindurchreiten durch die Düssel- 
dorfer Allee er im „Le Grand'^ so genial symbolisierte 
und dessen Aschenheimkehr nach Paris ihm noch das 
Bekenntnis entpresste: „Ich seufze tief beklommen, da ich 
den alten Liebesruf, das Yive TEmpereur vernommen''. Von 
deutschen Kaisern wollte er freilich nicht viel wissen und 
seine geniale Kyffhäuserparodie im „Wintermärchen^' ver- 
stehen wir heute besser denn je, wo wir dies von ihm 
Geahnte bewahrheitet und alten Feudalplunder mit Barbarossa 
wieder auferstehen sahen. Dies „so brauchen wir gar keinen 
Kaiser' bat ihn natürlich bei allen Hurrapatrioten anrüchig 
gemacht Aber deshalb die deutsche Gesinnung dessen zu 
verdächtigen geht wohl nicht an, der alle deutschen Braten- 
barden mit dem einen unvergleichlichen Vaterlandslied tot- 
schlug: „Deutschland ist noch ein kleines Kind, doch die 
Sonne ist seine Amme^\ das kein echter Deutscher ohne 
Herzklopfen hören sollte. Nirgendwo hat echter deutscher 
Nationalstolz so grosse Worte gelassen ausgesprochen. 

Jene Horden des unechten Pöbelantisemitismus, die ihre 
albernen Reimereien „Deutschland über alles" oder „Wacht 
am Rhein'' herbrüllen und mit „Juden raus" untermischen, 
sollten mit Erröten sich des Juden erinnern, der in Pariser 
Verbannung und Leid, verzehrt von bitterm gerechtem Haas 
gegen hundsfeige deutsche Michelei und unsagbare Stänkerei 
der Reaktion, seinem innersten Herzen dies majestätische 
Trutzlied deutscher Herrlichkeit entriss. Heut kann das 



— 358 — 

jeder Wicht; damals spuckte ganz Europa auf uns herab, 
und dieser Jude, den Deutschland ausstiess und das eitle 
Frankreich huldvoll als Franzosen empfing, wagte der Welt 
zuzurufen: „Ihr Nachbarskinder, hütet euch, mit dem jungen 
Biesen zu hadern!^' Er hat es nicht mehr geschaut, was 
sein Auferstehungsjauchzen uns zurief: 

„Ja, du wirst einst wie Siegfried sein and töten den 

hässlichen Drachen: 
Heisa, wie freudig vom Himmel herab wird deine Frau 

Amme lachen T^ 

Wenn, der solches sang, kein guter Deutscher, wer ist 
dann einer !^) 

Wie ein prophetisches Sinnbild seiner eigenen scheiden- 
den Sonnengrösse, die ihr Liebstes, ihr Deutschtum verlor, 
erhebt sich strahlend der Schlussakkord jenes wie in drei 
Stockwerken einer stossweisen Inspiration aufgebauten drei- 
strophigen Meistersangs, wo fern am Horizonte wie ein 
Nebelbild zu des Lebensruders traurigem Takt die Er- 
innerung erscheint: 

,,Die Sonne hebt sich noch einmal leuchtend vom 

Boden empor 
Und zeigt mir jene Stelle, wo ich das Liebste verlor.^ 

Wenn, der solches sang, kein grosser Dichter, wer ist 
dann einer! 

«,Und sie seufzet: Pauvre homme! Feuchte Wehmut in 
den Blicken^^, sah der Sterbende bloss die dicke Mathilde 
sein Orab besuchen. Er irrte. Kaiserinnen und Fürsten 
des Geistes pilgerten zu seinem Grab und haben es mit 
Kränzen überschüttet. Pauvre homme! Armer Heine! Sein 
altes Mütterchen, Rachelchen aus Geldern, das er in einer 
Widmung mit durchsichtiger, aber wohlfeiler Selbstironie 
„geborene v. Geldern^^ taufte, hat er sein Lebenlang zärtlich 
und treu geliebt Und seine grosse strenge Mutter Deutsch- 
land, an deren Busenquell, den heiligen Rhein, seine Wiege 



^) Wir erinnern uns, dass wir als Jüngh'ng in London, von jedem 
dentBchen Verkehr getrennt, von einem alten englischen Freund ein seltenes 
EäLemplar der ersten Originalausgabe der ,Jungen Leiden^^ bekamen und 
dass dies Buch uns mit einem Gefühl des Deutschtums mitten in unsrer 
Engländerei übermannte, das wir niemals vergessen haben. 



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