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Die
Vertreter des JabrbuDilerts.
Von
Karl Bleibtreu.
L'indiyidn, iii6, ^orasö par le monde modeme,
Ta-t-il reprendre derimportancey Sonhmitons — le!
Flaabert an George Sand 1870.
The conseqnence is: being of no party
I shall offend all parüea. Byron.
^>^ Band 1. ^^-cr
r**\^
Berlin and Leipzig-
Verlag Ton Friedrich Luekhardt
1904.
Inhalt.
S«ite
Das grosse Jahrhundert der grossen Revolation 1 — 40
Der letzte Ideologe: Lamartine 41—64
Italia Unita: Mazzini und Garibaldi 65—89
Der yersohleierte Prophet: Schopenhauer 90—131
Die Ehrlichen des Perfiden Albion: Dickens und Thackeray . 132—154
Der Jesaias des Magenkatarrhs: Carlyle (Emerson, Rnskin) . 155 -181
Der zerrissene Orphons: Richard Wagner 182—211
Lonis der Kleine und Hugo der Orosse 212 — 261
Orossjaden jenseits babylonischer Oefangenschaft: Disraeli,
Gambetta, Lassalle 262—315
Der messianische Hieb: Heine 316 — 359
Index.
Softe
Maistre und Bonald 3, 4
Chateaubriand 4—9, 62—63, 321
CoDstant und „Obermann^* 9, 10
Stael 11, 12
(Zitiert) Taine (Positivismua) . . . . • 22
{Zitiert) Laplaoe, Dabois-RaymoDd, Helmholtz (Entwioklang
der Natarwissenschaft) 23—30
Puckler- Moskaa, Bettina Arnim 30—37
Ida Hahn- Haha 35, 36
Cousin (Eciecticismus) 38—40
Lamartine 40 — 64
Mazzini, Garibaldi 64-89
Cavour r • • 84—86
H»»gel, Fichte, Kant 91—95
Schopenhauer 90—131, 188, 190—192, 209
(Zitiert) Orisebach, Türok, Euler, Nietzsche, Dühring
Bulwer 134—136
Dickens 138—142
Thackeray 143—154
Carlyle 155—163, 171—181
Emerson 163—171
Ruskin 171, 176
Richard Wagner 182—211
(Zitiert) Pechner, Eocken, Chamberlain
Louis Napoleon 212—235
Fiaul»ert 235-238, 241
Balzac 238, 239
Stendhal 17, 239
0. Sand 240
Vi^ny 253
V Hugo 242-253, 259-261
Musset 253-256, 261
— IV —
Seite
Maupassant 256—258, 323
DisraeH 287—295
Gambetta 295—297
LassaUe 297-309
Marx 298
Brandes 285
Hebbel 317
Grabbe 319
Lenau 320, 321
Novalis, Tieok, Sohelling, Schlegel 324— 32G
Whitman, Bret Harte, MiUer 327
Browning 331—332
Teonyson 333 — 336
Heine 318, 336—359
Errata.
Bachstabenfehler anzukreiden ist unnütz. Als sinnstörond sei genannt
Seite 7, Zeile 22 Ues „von dannen*^ statt „von denen^'.
Seite 61, Zeile 15 lies „rombre^^ statt „Ihombre^'.
Seite 51, Zeile 33 lies „euch^^ statt „auch"'.
Seite 320, Zeile 13 lies „Schmelz'' statt „Schmalz''.
Das grosse Jahrbnodert der grossen BevolntioiL
„NationalbilduDg zeigt sich in der Gesamtheit der Künste.
Daher ist die schöne literator vorzüglich charakteristisch
für jede Zeit einer Nation !^^ Dies Eingeständnis, das sich
unter den Aphorismen eines so strengen Denkers, wie
J. F. Herbart, findet, diene uns als Richtschnur, wenn wir
neben den wenigen bedeutenden Tatmenschen des Jahr-
hunderts vorzugsweise die literarischen Persönlichkeiten her-
vorheben. Dichter oder Denker — beides auch in Richard
Wagner vertreten — machen die wahre Erbschaft eines
Jahrhunderts aus oder geben ihm wenigstens die Signatur.
Wann aber beginnt dies neunzehnte Jahrhundert? Sicher
nicht mit Neujahrsglocken, die das Jahr von Marengo ein-
läuteten, sondern mit dem letzten Eanonenschuss überm
Feld von Waterloo. Dort erst ward dem Grossen Jahrhundert
zu Grabe geläutet, dessen Nachfolge einem tintenklexenden
Säkulum anheimfiel, reicher an Grössenwahn, als irgend ein
gewesenes, ärmer an wahrer Grösse, als die meisten Zeitalter,
die einen wirklichen Aufschwung der Menschheit bedeuteten.
Das nämliche Jahr, wo Napoleon von der politischen Bühne
abtrat, gebar Bismarck, das wird allezeit symbolisch bleiben.
Für die scharfen Einschnitte zusammengehöriger Zeitalter
bildet die äussere Gemarkung der Zeitdaten keine Grenze. Ob-
schon Napoleon und Byron erst Anfang der zwanziger Jahre
des neunzehnten Säkulums starben, wird man sie ebensowenig
zu dessen Söhnen und Vertretern zählen, wie Goethe und
Kant. All diese grossen Gestalten entsprangen gemeinsam
dem Schoss desselben kraftschwangeren Milieus, das mit dem
Eönigsphilosophen von Sanssouci und dem Philosophenkönig
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhimderts. 1
— 2 —
— mehr König als Philosoph — Voltaire seine Erstgeburt
in die Welt setscte, Vertreter einer Generation, die sich
in den Satumalien der Grossen Revolution selber verschlang,
um einer riesigen Neugeburt, einer Neuen Welt, unter
Trommelwirbeln Platz zu machen. Vom Schafott des guten
Dr. Guillotin schwang sich die Revolution zu Thronen empor
und erstieg sporenklirrend die Stufen zur Weltherrschaft
Alle Stände sahen sich unter die Waffen fortgerissen.
Da das Leben eine kunstvolle Tragödie und die zeit-
genössische Geschichte mit ihrem Römerstil eine pomphafte
Bühne vorzustellen schien, wo alle Akteure, gleich dem
„ersten Helden^^ Napoleon, bei Talma Unterricht nahmen,
um heroische Posen zu lernen, fehlten sogar die Schau-
spieler nicht als Soldaten und reihten sich den Legionen
ein. Wie später im deutsch-französischen Kriege, der Bis-
marckzeit, der bekannte Mime Sevestre bei Buzenval für
sein geliebtes Paris fiel, den sterbenden Blick noch auf
sein Ehrenkreuz gerichtet, wie Baillet bei Villejuif und
Paul Mounet als Adjutant bei Laval ihre Pflicht taten und
Mounet-Sully das Banner der Dordogne-Mobilen trug, so
fällt ein Talma im Kampf gegen die Briten am Bord des
.,Rivoli'' und Oberst de Brancas vor der Front seiner
10. Kürassiere bei Essling, der grossen Actrice Sophie
Amould Sohn. Eine Apologie des Krieges stammt sogar
von einer Seite her, wo man es nicht erwarten sollte. Der
unerbittliche Feind der Revolution und Napoleons, Josef
de Maistre, preist den Krieg als Weltgesetz und nennt ihn
göttlich. Dieser Kämpe, in Petersburg dürftig lebend und
sterbend, machte seinen Frieden mit dem Imperator nicht
und so gab es noch Viele, sowohl Reaktionäre als Radikale,
die nie verziehen, die nichts vergassen und nichts zulernten,
sondern den Widerstand gegen das neue Cäsarentum weiter-
spannen, bis endlich ein allgemeiner Sklavenaufstand den
Einen niederwarf. Diese Auflehnung gegen die neue Form
der Bevormundung im Namen von Freiheit und Gleichheit
erregte auch das friedliche Reich der Geister. Schon 1796
erschienen gleichzeitig in der Schweiz Maistres „Konsid6-
rations sur la R6volution^^ und Bonaids ,,Th6orie du pouvoir
politique et religieux.'^ Das Bonaldsche Buch wirkte durch
- 3 —
seine bornierte und heftige Einseitigkeit, die kein Paktieren
und keine Kompromisse zuliess. Mit Recht spottete Ghenier
über Bonaids Methode: ,,Er nimmt als unbestreitbares Prinzip
irgend etwas höchst Bestreitbares, oft etwas Unmögliches,
und marschiert dann von Behauptung zu Behauptung, indem
er jede Annahme, die er bekräftigt, einfach durch eine neue
beweist, die er erst hinterher bekräftigen will/^ Condillac
und Gabanis werden von diesem plumpen Baufer mit einem
Faustschlag erledigt ,J)ie Fähigkeit zu denken hängt von
der Beschaffenheit des Oehims ab?*^ Bonald weiss es besser:
^Wären wir nichts als Organe und Organisation, könnten
wir nie mehr wollen, als wir können !!^^ St Lambert hatte
geschrieben : „Der Mensch ist eine organisierte Masse, welche
Geist aus ihrer Umgebung und ihren Bedürfnissen empfängt^^
Dies kehrt Bonald um: „Der Mensch ist eine Intelligenz,
bedient von Organen/^ Unbewiesene Paradoxe schlagen hier
gegenseitig auf einander los oder auch Truisms, die sich
gegenseitig missverstehen. Denn die vier Thesen und Anti-
thesen, die wir oben als Probe zitieren, sind sämtlich
halbwahr, aber von einer Halbwahrheit, die kaum noch Zu-
gänge zur höheren Wahrheit offen lässt, in einen engen
Denkzirkel eingesponnen, aus dem es kein Entkommen in
die lichten Gefilde wahrhaft freien Denkens gibt Wie arm-
selig, wie unreif nimmt sich der sensualistische Materialismus
der französischen und englischen damaligen Bildung ans
gegenüber Kants Ideenflügen! Und als Gegengewicht
kannte man nur die Theologie, das unwissenschafüiche Gesal-
bader der High Ghurch oder den Dogmenzwang des Katho-
lizismus. Man verwechsele also die angeblichen Argumente
gegen Materialismus und Atheismus, wie Ghateaubriands
„Genie des Ghristentums'^ und Maistre und Bonald sie vor-
brachten, nicht mit wirklicher denkerischer Abrechnung.
Was hier und da wie ein transcendentaler Idealismus aus-
sieht, bleibt nur angeschminkte, heuchelnde Tünche: dar-
unter grinst das alte Gespenst hierarchisch-absolutistischer
Wahnvorstellungen mit höchst realistischen Machtgierin-
stinkten. Den Teufel vertreiben durch Beelzebub!
Die charakterologische Unverschämtheit des Jahrhunderts,
die sich Kritik taufte, meldet sich schon frühe. „Bonaparte
— 4 —
war ein Schlax^htengewinner. Aber abgesehen hierron war
der geringste General geschickter als er . . Man glaubt^
dass er die Eriegskonst vervoUkommete, es ist jedoch sicher,
dass er sie bis zur Kindheit der Kunst zurückschraubte,''
schimpft Chateaubriand in seiner Schmähschrift ,,Bonaparte
und die Bourbonen/^ Dieser Ungeheuerlichkeit liess er
schon Verachtung jeder Wissenschaft im ,,Geist des Christen-
tums^^ vorangehen. ,,Sie yertrocknet das Herz, entzaubert
die Natur, führt schwache Geister zum Atheismus und von
da zum Verbrechen/^ Das System von Linn6 passt ihm
nicht „Wäre nicht besser, den Menschen an der Spitze
der Schöpfung zu lassen, wohin ihn Moses, Aristoteles, Buffon
und die Natur gestellt haben ?'^ (Dies „und die Natur''
ist unbezahlbar.) Doch dies ist noch gar nichts gegen de
Maistre. Bacon? War „fremd allen Wissenschaften, all
seine Grundideen falsch/^ Er hatte einen eminent falschen
Geist und von einer ihm besonders zugehörigen Falschheit.
Seine „Unfähigkeit in allen Zweigen der Naturwissenschaft
war absolut und radikal . . Er entbehrt völlig des Talents
zur Analyse, weiss nicht Fragen zu lösen, ja nicht mal sie
aufzustellen.'^ Um so einen mit all seinen Mängeln hoch-
bedeutenden Mann abzutun, genügt ein Federstrich. Noch
fünfzig Jahre weiter und wir werden in der Presse jeden
Affenpintscher über Löwen sein Wauwau anstimmen hören,
als war 's die Posaune des jüngsten Gerichts. De Maistre
weisst auch alles voraus. „Es gab niemals eine Dynasten-
familie plebejischen Ursprungs. Wenn dies Phänomen er-
schiene, wäre es ein Ende der Welt" Gleich darauf krönte
sich Napoleon. „Nichts kann Preussen wiederherstellen.
Dies Gebäude aus Blut und Kot, falschem Geld und Flug-
schriften, ist in einem Augenblick eingestürzt für immer.''
Das war 1807, sieben Jahre später stand der Bau wieder
da. Natürlich hasste de Maistre in Preussen nur den Pro-
testantismus, sozusagen die Illegitimität, keineswegs das
Junkerliche.
„Der Aberglaube ist ein vorgeschobenes Fort der Reli-
gion, das man nicht zerstören darf . .'^ „Jede Autorität, be-
sonders die der Kirche, muss sich jeder Neuheit wider-
setzen, ohne sich von der Gefahr erschrecken zu lassen,
— 5 —
etwa die Eotdeckang einiger Wahrheiten zu verzögern, ein
Nachteil gleich Null, verglichen mit dem, die Institutionen
und bestehenden Meinungen zu erschüttern/' Selbst die
arme Chemie ist eine schädliche Neuheit „Wozu nützt sie
dem Minister, Beamten, Militär, Seemann, Negozianten?^^
Aber natürlich! „Kehrt man nicht zu den alten Maximen
zurück, überlässt die Erziehung den Priestern und setzt
die Wissenschaft überall an den zweiten Platz, so erwarten
uns unabsehbare Übel/^ „Die Andern haben nicht das Recht
über diese Materien der sittlichen Weltordnung zu rai-
sonieren. Sie haben ja die Naturwissenschaft, um sich zu
amüsieren. Worüber beklagen sie sich noch?^' So geht es
unablässig fort in den „Soireen von Petersburgs^, dem
„Versuch über die Schöpfungsprinzipe^^ und dergleichen
Maistrerieen.
Doch der Schöpfergeist der Revolution blies auch den
Abtrünnigen seinen lebendigen Odem ein. In die erste
Auflage seines „Gdnie du Ghristianisme^^ schmuggelte Chate-
aubriand seinen „Ren^^^ ein, der eine literarische Revo-
lution bedeutet In den „Martyrs^^ begonnen gleichzeitig
mit jener Apologie des Christentums und veröffentlicht unter
den Donnern der Weltgeschichte bei Aspern und Wagram,
wollte er die Poesie kirchlichen Christentums katholisch
feiern, doch er feierte sfatt dessen die Gründung des ge-
schichtlichen Romans vor Walter Scott. Wo er sich gegen
das Grosse Jahrhundert wandte und in geradezu kindischer
Weise uns Übernatürliches zumutet, wie es für Dante und
Milton noch eine lebendige Realität war, indem er ein Reise,
handbuch durch Fegefeuer, Himmel und Hölle liefert und
uns albern die Zuverlässigkeit dieses Bädeker versichert
(„J' ai soumis mon Travail ä de pieux et savants eccle-
siastiques^*), da rächte sich dies sogar im altmodischen Ton
seiner Floskeln. Aber wo er Selbstgeschautes und Selbst-
erlebtes als geschichtliche Vergangenheit wiederbelebt, da
sprach aus ihm die Realität seiner geschichtemachenden Zeit
Diese düstere hochmütige Seele, die sich in den Memoires
d' Outre-tombe selber ihr Grabdenkmal setzte, als sei nur
sie selber würdig sich zu bestatten, gehörte innerlich ganz
dem grossen Jahrhundert an. Seine reaktionäre Rolle als
- 6 —
Pamphletist der Eontrerevolution und späterer Minister des
legitimen Ausgiasstails täuscht uns darüber nicht Vor ihm
hatten Bemardin de St Rerre (Paul und Virginie) und
Rousseau (Neue Heioise) Befreiung vom Gesellschaftszwang
in Naturschwärmerei gesucht Doch erst Chateaubriand
führte diese seelische Revolution durch, lange vor Byron
schuf er die Gattung des poetischen Landschaftsbilds als
Yersinnlichung der Seelenstimmung. In Amerikas Wald-
nächten „erschien mir eine unbehannte Muse, ich sammelte
einige ihrer Laute und zeichnete sie auf unterm Stemen-
licht, wie ein Musiker Noten schreibt, die ein grosser Maestro
ihm diktiert/^ (Memoiren.) Selbst das Exotische dieser
Landschafterei, wie es nachher in Byrons griechisch-türkischen
Milieubildem die Welt berauschte, entsprach dem Revolutio-
nären der Weltumwälzung, die alle Grenzen verwischte und
den bisher eng umfriedeten Menschen hinaustrieb in ferne
Zonen einer neuen Welt So gewaltig drängt die innere
Poesie der grossen Zeit, dass sie den französischen Prosa-
styl, bisher so trocken und kühl in seiner Eleganz, völlig
mit neuem Saft durchdränkt und umwandelt In Deutsch-
land vollzog sich dieser Prozess wohl früher, doch lange nicht
so einheitlich. Goethes „Werther^', dies Muster einer natür-
lichen Poesie-in-Prosa, blieb ohne andere Nachfolge, als den
masslos überladenen Schwulst Jean Pauls, wo Phantasie und
Sprache mit dem Autor durchgehen und selbst bei den
herrlichsten Aufschwüngen des Naturempfindens der meta-
phorische Styl durch seine überschwängliche Hypertrophie
den künstlerischen Eindruck lahmlegt und das Rein-
poetische aufhebt Derlei Sünden gegen den guten Ge-
schmack finden wir kaum in der rhapsodischen Rhetorik
der Staelschen „Corinna'*, niemals bei Chateaubriand. Denn
hier entspringt die Naturschwelgerei einem tieferen seelischen
Bedürfnis, dem grossen Geheimnis der Melancholie, welche
das überwältigend Grosse der Revolutionszeit in empfindsame
Seelen hauchte. Das Individuum fühlte sich erdrückt von
der riesenhaften Wucht der mitdurchlebten Geschichtsvor-
gänge, von so viel Ewigkeitsstimmung, über der doch ein
Ahnen der Verwesung brütete, und flüchtete in die noch
riesigere und im Gegensatz unwandelbare unverwesliche
— 7 —
Natur, um wie in der Geschichte so auch hier die Nichtig-
keit VCD Grösse und Glück der Sinnenwelt im Buch der
Schöpfung abzulesen. Doch aus dieser trostlosen Entsagung
die bald als byronischer Weltschmerz die Bunde durch Eu-
ropa machen sollte, erhob sich in ihr selber ein trotziges
und stolzes Erkennen, dass jenseits aller Verwesung der
Mensch noch gross genug sei, der irrende „Faust^^ und ver-
bannte „Kain,'^ wenn er nur den prometheischen Funken
im tiefsten Innern entfache und nähre. Man kann sagen,
dass erst die Grosse Revolution wieder das Höchste im
Menschen freimachte, was selbst in der Renaissance zu sehr
in Sinnenplastik stecken blieb: das Unbewusste. „Ein ge-
heimer Instinkt quälte mich, ich fühlte, dass ich selbst nur
ein Reisender war. Doch eine Stimme vom Himmel schien
mir zu sagen: Mensch, die Zeit ist noch nicht gekommen,
warte, bis der Wind des Todes sich erhebt, dann wirst du
deinen Flug zu unbekannten Regionen nehmen, nach denen
dein Herz verlangt Erhebt euch schnell, ihr ersehnten
Orkane, die zu Räumen eines anderen Lebens entführen!'^
(„Ren6'\) Das ist nicht mehr der Eonquistadorentrotz der
Renaissance, der mit Marlowes Mortimer ,,weltverachtend
nun von denen reist, um unbekannte Länder zu entdecken,^^
das ist eine edlere Sehnsucht nach dem Ideal, den Drang
des Irdischen abzuschütteln, nach dem „bien inconnu.^^
Doch in Ren6, dem allzu spät geborenen Sohn des Grossen
Jahrhunderts, kündigt sich leider auch schon jene Charakter-
schwäche an, die ein Hauptkennzeichen des kleinen Jahr-
hunderts werden sollte. Mit der Selbstquälerei des alten
Pascal und ähnlicher leidender Seelen der Yorzeit verbindet
er nicht deren heroische Stärke des Martyriums, ein dilet-
tantischer Gtock des Glaubensuchens, der unablässig auf seine
eigenen Wunden hinstiert wie hypnotisiert „Wer Kräfte
empfing, soll sie dem Dienst der Menschheit weihen,^^ er-
mahnt ihn streng der Eremitenpriester, Chateaubriand er-
kennt also sehr wohl seine Schwäche, die ihn zum Über-
gangstyp der beiden Jahrhunderte macht Dies gibt
ihm eine Klassicität historischen Wertes und deshalb ver-
weilen wir bei seiner Persönlichkeit, indess die unendlich
grössere seines Zeitgenossen Byron kaum noch einem Jahr-
— 8 —
hundert, sondern aller Zukunft zugehört. Wenn Rousseau
an Malesherbes schrieb : , Jch fand in mir eine unerklärliche
Leere, die nichts ausfühlen könnte, ein Hinsehnen des
Herzens nach einer anderen Art von Freude, von der ich
selber keine Vorstellung hatte und gleichwohl ihrer be-
durfte," so spricht hier das erhabene Bedürfnis, aus dem
die Revolution keimte. Ren6 aber, der den Geist der Er-
innerung an Marmorumen der Vorzeit neben sich stehen
wähnt, muss umsonst zu den Füssen des Altars flehen ,,mich
von der Last des Lebens zu befreien oder in mir den alten
Menschen zu ändern'^ und Pater Souel redet ihm ins Ge-
wissen: „Man ist nicht ein höherer Mensch, weil man die
Welt in bösem Lichte sieht . . Erweitern Sie Ihren Blick
und Sie werden sich bald überzeugen, dass all Ihre Übel,
über die Sie jammern, reines Nichts sind." nein, das
sind sie nicht Das 19. Jahrhundert konnte nichts dafür,
dass es sich alt und krank fühlte, dass die Vorzeit ihm
nichts lehrte, als einen äusseren Bankerott des Grossen Jahr-
hunderts, während dessen unermesslicher Reichtum unantast-
bar innerlich in der Menschheitsökonomie weiter wirkte mit
Zins und Zinseszins. Aber statt sich zu den Füssen aller
möglichen falschen Altäre zu werfen, der Kirche, des Staates,
der Naturwissenschaft, statt den Blick nur in die Aussen-
seite der Natur zu erweitem, hätte es ihn in die neue Welt
des Unbewussten richten sollen, ins unergründliche Innere,
zu welchem erst die Revolution durch Wegräumung alles
intellektuellen Schuttgerölls und ethischen Schmutzes der Be-
vormundung dem Neuen Menschen den Eingang öffnete, ins
Reich der inneren Freiheit. Nun war Ghateaubriand-Ren6
gewissermassen ein grosser Mann, da er einem ganzen Kultur-
volk, das bisher nur Gesellschaftsliteratur kannte, die Quelle
der Poesie erschloss; aber nimmt man ihm die Genialität
seiner grossen Zeit, deren Mosesstab nur an Stein zu klopfen
brauchte, um alle Quellen sprudeln zu machen, dann bleibt
nur ein „Obermann^' übrig. Über dies traurige Buch see-
lischer Entmannung (ausserhalb Frankreichs völlig unbekannt,
jedoch von Georg Brandes schon in seinen ,JIauptströ-
mungen^^ gut gewürdigt) heisst es in Le Bretons „Roman
francais au 19. siöcle" (1901) sehr fein: „La vie qui n' 6tait
— 9 —
pas assez vaste pour contenir Ren^, est trop vaste pour ne
pas 6poayanter Obermann.'^ Dies ist der wahre Mensch des
19. Jahrhandertc und ebenso „Adolfe^^ von Benjamin Gon-
stant Senancours „Obermann'' ward 1804, „Adolfe'' 1816
publiziert, doch sie hätten ebensogut am letzten Fin-de-Sidcle
erscheinen können, so bruderähnlich sind unsere heutigen
Typen. In „Obermann" hat der interesselose Egoismus die
ideale Hülle der Kunst abgestreift und sein monotoner Ich-
schmerz, der dabei wohlüberlegt jedem fremden Elend aus
dem Wege geht und sich einbildet aus Philosophie nichts
lieben zu können, weil er nichts liebt als sich selber, dreht
auch der Schönheit der Natur missmutig den Bücken. ,,Als
ob die Perzeption des Alls die Idee eines positiven Wesens,
wäre und das Ich des Menschen etwas anderes, als der
zufällige Ausdruck einer ephemeren Verbindung! . . Nichts
besitzt man, wie man es sich vorstellt, nichts ist bekannt,
wie es wirklich ist Wir sehen Beziehungen und nicht
Substanzen, wir benutzen nicht Dinge, sondern deren Abbild.
Diese Natur, ausser uns gesucht und undurchdringlich in
uns, ist überall dunkel. Ich fühle ist das einzige Wort
für den Menschen, der nur Wahrheit will." Man sieht,
Obermann kennt philosophische Lektionen gut auswendig.
Aber Gonstant brauchte nichts zu lernen, um aus sich her-
aus nach der Natur den Boman des Egoismus zu schreiben.
Man wirft ihm vor, in „Adolfe" sein Verhältnis zu Madame
de Stael indiskret profaniert zu haben, wie in unsem Tagen
d'Annunzio Ähnliches verübte. Doch da tut man Gonstant
Unrecht und unterschätzt seine liebespsychologische Er-
fahrung, denn es stellt sich bei genauem Forschen heraus,
dass seine „Eleonore", diese femme sup^rieure et imcomprise,
die im 19. Jahrhundert so zahllose Nachfolgerinnen haben
sollte, sogar zwei hervorragenden Frauen gleicht, die ihm
zum Opfer fielen. Es ist Madame de Gharriäre und ihr
schon 1787 erschienener höchst bedeutsamer Boman „Galiste",
die in Gonstants Werk persönlich wie literarisch ihren
Schatten werfen. „Le bien inestimable d'etre tendrement
aim6" wird die Sehnsucht all dieser Jahrhundertfrauen werden,
begabt mit einer zu zarten Sensibilität, die auch in ihnen
durch die Bevolution sich befreit hoffte und die in den
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Briefen von Madame Roland and allen andern Emanzipierten
der Revolution schmerzlich und ungestüm oder leise vor
sich hin schluchzt In den Wirbeln jenes mächtigen Mael-
stroms erweckt, konnte sie sich gleichzeitig damals im
donnernden Schäumen betäuben; als aber die Hut sich ver-
lief, blieb nur die Hyperästhesie der Empfindung zurück
und quälte die früher in schmaler Häuslichkeit umfriedete,
vom Salon befriedigte oder durch Religion getröstete Moderne
Erau bis zu den Hysterien der heutigen Emanzipations-
gelüste. Die schwächliche Melancholie des Jahrhunderts
beginnt schon hier. „Je restai seul dans l'obscuritd, je ne
Tai Jamals revue^^ diese erschütternde Stelle in „Galiste^^
wiederholt sich im „ Adolfe^^ in der Abschiedsszene : „Gomme
tout est calme ! comme la nature se r6signe ! r^e coeur aussi
ne doit-il pas apprendre ä se rfeigner?^^ Einer Erklärung der
Menschenrechte eine Erklärung der Frauenrechte folgen zu
lassen war nur ein Schritt. Was aber bei der Gharriöre,
die schlicht und ohne Sentimentalität ihr Herz ausplauderte,
noch echt und rührend als eine Stimme des Grossen Jahr-
hunderts klang und nicht minder bei der stürmischen Stael,
das hatte später bei George Sand und deutschen Autorinnen
einen misstönig unreinen Ton. Denn worin die Stael sich
schwach zeigt, das ist wie bei Ghateaubriand die schon er-
folgte Ansteckung mit dem kommenden Zeitgeist, dessen
Embryo sich schon in ihnen bildete. Was stark bei beiden,
das ist ihr noch Yerwachsensein mit dem grösseren Geschlecht,
in das sie hineingeboren. In Madame Gottins „Glaire d'Albe^^
und ähnlichen Romanen hat sich das Übel schon entwickelt
und die falsche Sentimentalität mit ihrem „göttlichen Recht
der Leidenschaft^^ gleicht auf ein Haar den poetischen
Effiusionen der Romantik bis zur Mitte des Jahrhunderts.
Schwüre im Mondschein auf Kirchhöfen, Umarmungen im
Schatten der Gypressen, schwindsüchtige Hysterie mit schon
vom Tod geküsster Stime . . wir werden dies alles in
dichterischer Verklärung bei Lamartine wiederfinden. Da darf
auch nicht die Evangelistin der heiligen Allianz fehlen, Frau
von Krüdener, Zar Alexanders inspirierende Sibylle, die
nebenbei in Shawltänzen exzellierte. Was in „Yalerie^^ frisch
und eigentümlich berührt, hat die Farbe jener Übergangszeit,
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wo altes und neues Jahrhundert im Kampfe lagen; alles
übrige darin strotzt von Eitelkeit, Lüge und Falschheit, einer
Trinität heiliger Allianz, die bis 1830 und drüber hinaus
zur Weltphysiognomie wurde. Der brave Gustav, der aus
unglücklicher Liebe für Yalerie-Erüdener Blut spuckt und
aus galoppierender Schwindsucht seine Engelschwingen ent-
faltet, ist ein Opfer, in dessen Blut sich weiblicher Egoismus
ebenso wollüstig badet, wie Lamertines männliche Koketterie
in den Tränengüssen seiner sterbenden Oeliebten. Das Ewig-
weibliche unterminiert allenthalben das Ewigmännliche der
Revolutionsseele : der Feminismus leitet das neue Jahrhundert
ein, ob er klagt oder anklagt oder sich im Spiegel bewun-
dert bei dieser neuen Basse von Frauenschriftstellerinnen,
oder ob er elegisch wimmert in der Gefühlsromantik von
Lamartine und Novalis oder die Liebe in Benjamin Gonstant
psychologisch zerfasert. Dieser frivole Politiker und Pamphletist
erscheint uns eine Doppelkarrikatur: alles Schwankenden und
unechten in Chateaubriand und aller mannhaften Skepsis
von Stendhal, zwei Kämpfern des Empire, die auch in ihr
späteres Leben den Typus des Grossen Jahrhunderts hinüber-
retteten. Und auch die Stacl, so wenig man mit den Lob-
sprüchen ihrer Biographen Sorel und Lady Blennerhasset
übereinstimmen mag, trug diesen Typus. Ihr Herz so weit
und mütterlich wie ihr dicker Busen, die sie beide, Herz
und Busen, recht ofTen und appetitlich zur Schau stellte,
blieb sie eine echtweibliche Madame Boland in all ihrer
anscheinenden Mannweiblichkeit. Ihre Begeisterung, Gross-
mut, Gutmütigkeit, Gerechtigkeitsliebe, ihr weiter Blick in
Bundschau grosser Fragen und dabei ein scharfes Begreifen
politischer Realitäten und philosophischer Subtilitäten, obschon
sie hier aktiv nicht über Intriguen und Gemeinplätze hinaus-
kam, machen sie zu einem enfant ch6ri des genialen Milieu.
Ihre künstlerische Begabung liess viel zu wünschen übrig,
in der berühmten „Corinne" vielleicht noch mehr als in
„Delphine^'. Ihre Entdeckung Deutschlands und Italiens jenseits
der chinesischen Mauer der selbstzufriedenen Pariser Salon-
kultur sah nur die grossen Linien richtig, irrte in allen
Einzelheiten. Allein, dies revolutionäre Pfadfinden bleibt
doch eine kühne Befreiertat, und wenn wir auch Sorel nicht
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beipflichten, dass die Apostrophen an Italien im „Childe
Harold'' nur ein volltönendes Echo aus Corinne seien, so
darf ihr Einfloss auf Eosmopolitisierung der Weltliteratur
nicht unterschätzt werden. Ihre taktlose Zudringlichkeit
haben Napoleon, Ooethe, Byron übereinstimmend als ärger-
liche Belästigung ironisiert und es widerfuhr ihr die Ehre,
von Napoleon als kriegführende Macht behandelt, misshandelt,
unterdrückt zu werden. Aber eine Person, der Napoleon
den Krieg erklärt und sogar mit hässlichen Folizeichikanen
den Kleinkrieg macht — nicht als ob Napoleons Zorn nicht
berechtigt, die Verbannung der Stael ihm notwendig und
die kleinlichen Ilittel eben durch die Umstände geboten ge-
wesen wären, da ein Löwe gegen eine intrigante Dame nicht
seine eigene Tatze anwenden und nur seinem Schakal
(Savary) Verscheuchung der Unbequemen auftragen kann! — ,
das muss schon ein Jemand gewesen sein. Mit anmassender
Oberflächlichkeit fegte sie „wie ein Wirbelwind^' (Goethe) an
die höchsten Menschen und Dinge mit ihrem Unterrock
heran, doch solch ein Wirbelwind reinigt oft die Luft. Byron,
ein unerbittlicher Menschenkenner von der Höhe seiner
Idealität, vergass über ihrer impetuosen Lächerlichkeit, die
sie noch in Genf recht taktlos gegen ihn herauskehrte, nie
dies Gesunde und Frische ihrer revolutionierenden Unruhe.
Ihre Nachfolgerinnen, die Sand, Hahn-Hahn, Eliot mochten
mit reicheren künstlerischen Gaben die zweite Hälfte des
Jahrhunderts beschenken, doch das Original und ihr Vorbild
blieb immer diese kräftige redliche tapfere Tochter der
Revolution, und wie sticht ihre sonnige Wärme und Wahr-
haftigkeit von der unheimlichen Schwüle oder Küble ihrer
Erbinnen ab! Auch hier für den Sehenden eine tiefe Kluft
zwischen dem Jahrhundert des naiven Enthusiasmus und
dem Jahrhundert verlogener Zweideutigkeit.
Schon früher, als noch Napoleons Riesenschatten die
Welt bedeckte, krochen die Molche der Reaktion aus ihren
Schlupfwinkeln empor und begannen ihr trauriges Werk.
Dem heiligen Krieg der Junker und Pfaflen zur „Befreiung^*
vom korsischen Antichrist gingen schon geistige Symptome
einer Kontrerevolution vorauf. Erst nach Napoleons Sturz
regte vornehmlich der altenglische Radikalismus in Byron und
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Shelley wieder seine Schwingen, und indem Byron im Helden-
koltus der Völker Napoleon ablöste und seine weltruhm-
gefeierte Dichtung ein weithin sichtbares Postament bestieg,
sicherte er dem matten und irregeleiteten Empfinden aufs
neue das Erbteil der Grossen Revolution, nicht bloss der
so genannten politischen Frankreichs, sondern der weit
grösseren auf allen Geistesgebieten, in welche das gewaltige
achtzehnte Jahrhundert seine Fülle ergoss.
Man hat sich gewöhnt, die Zeit des Perikles und die
Renaissance als die goldene Ära genialen Schaffens zu feiern.
Doch Sophokles und Piato, Shakespeare und Giordano Bruno
samt ihren geringeren Trabanten strahlen mit vereintem
Glänze kaum so hell wie das gewaltige Fünfgestirn Friedrich,
Kant, Goethe, Byron, Napoleon. Nur in den Bildenden
Künsten erschöpfte sich die Genialität jener früheren Epochen
und hier allerdings hat die Neuzeit nichts Ahnliches auf-
zuweisen. Auch stehen hier Lionardo und Michel Angelo,
beide gleichzeitig Denker und Dichter, in ihrer universalen
Begabung so hoch, dass wir sie den obengenannten vier
Grossen anreihen können. Rafael und Tizian aber, Murillo
und Velasquez wie Phidias und Praxiteles mögen immerhin
dadurch aufgewogen werden, dass das grosse achtzehnte
Jahrhundert die Musik in ungeahnte Sphären erhob und
sein mehr dem Abstrakten als dem Sinnlich-plastischen zu-
gewandter Genius die Meister des Tons beseelte. Jedenfalls
verteilen sich die schöpferischen Kräfte sowohl in dem Jahr-
hundert des Perikles als in den hundertfünfzig Jahren der
Renaissance, deren Schluss freilich noch einen Cromwell und
Milton, einen Calderon und Cervantes dem reichen Register
ihrer Grössen hinzufügte, auf einen un verhältnismässig längeren
Raum, während 1750—1815 eine unübersehbare Menge von
Talenten jeder Ordnung sich über Europa ergoss. Denn
noch unter den kleineren Sternen, die jene fünf Planeten
umkreisen, finden sich Lichter, die sonst ein ganzes Jahr-
hundert wärmen könnten. Die weltgeschichtliche Propaganda
von Voltaire und Rousseau hat nicht ihresgleichen in der
Geschichte der Volksliteratur, ein Schiller erhob den Begriff
des Dichters zu neuer Würde, ein Bums bot das erstaun-
liche Beispiel genialer Volkspoesie,Macphersons Pseudo-Ossian
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erschloss neue Quellen romantischer Naturbetrachtung, ein
Hume begann den Entscheidungskampf strengen Denkens,
den Kant zum Siege brachte. Laplace, Cuvier, Lamarque
begründeten die Naturwissenschaft grossen Stils, wie Hum-
boldt Auch unter den Leuten dritter Ordnung, welche
Namen! Lessing, Herder, Jean Paul, Kleist, Walter Scott,
Shelley, Wordsworth, Chateaubriand, Condillac, Condorcet,
Diderot, Adam Smith, Berkeley, Faraday, Gibbon, Alfieri oder
Pitt, Fox, Nelson, Wellington, Mirabeau, Robespierre,
Katharina II., Josef H., Erzherzog Karl, Scharnhorst, Oneisenau,
Blücher! Die Zahl der sonstigen Hochbegabten auf allen
Gebieten des Wissens und Könnens — auch für Technik
der Dampfkraft gehören Stefenson, Fulton, Watt dieser Epoche
an — ist Legion. Nie hat der Genius der Menschheit eine
kühnere Regsamkeit entfaltet
Was aber bildet die Spiralfeder in diesem unaufhaltsam
rollenden Mechanismus einer entfesselten und nun mit eiserner
Gesetzmässigkeit funktionierenden Geistesfreiheit? Es ist
der wie nie zuvor in allen Schichten und Ständen er-
wachende Idealismus, ob er sich teilweise auch als
Materialismus maskiert, furchtlose Begeisterung für Erhöhung
des Menschentums.
„Und es ist niemals in der Welt ohne Enthusiasmus
etwas Grosses geschehen^^, lautet Kants herrlicher Ausspruch.
(„Versuch über die Krankheiten des Kopfes.'^) Oder laut
Hegel niemals ohne die Leidenschaft als Hebel der Kraft
Während aber Kant durchaus eine moralische Schätzung
dabei im Auge hält, verteidigt Hegel die selbstsüchtigen
Regungen gegen Moralschulmeister, denen freilich der
stürmische Ehrgeiz Alexanders fehlt, die aber dafür auch
Asien nicht erobern und eine neue Kulturerweiterung herauf-
führen. Dieser Zeitgeist war stark genug, Bluttaufen der
Revolution und „GK)ttesgeissel^^ Napoleons als Notwendigkeit
zu begreifen, und auf dem Waterloofeld mit Childe Harold
zu seufzen: „Hier fiel der Grösste und nicht der Schlimmste
der Menschen.^^ Der Korse und sein grosses Reich, der
alte Fritz und sein kleines Preussen ragen immer noch als
die bedeutsamsten Staatsgebilde der Geschichte. Wozu Rom
fünf Jahrhunderte gebrauchte, das vollbrachten die Revo-
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lution und Napoleon in fünfundzwanzig Jahren: Verbreitung
zivilisatorischer Einheitlichkeit des Kulturbegriffs durch die
gesamte Bildungswelt. Nur närrische Oberflächlichkeit kann
daher spotten, dass von allem Lärm der französischen Heroica
kein Echo zurückblieb, während das ganze moderne Europa
und sein neues Jahrhundert ihre dauernde Schöpfung. Yon
der Dauerhaftigkeit des neuen Preussen, wo der Staatsbegriff
zu heroischem Pflichtgefühl geadelt, sahen wir die historischen
Proben. Aber wahrlich nicht junkerlicher Militarismus er-
möglichte es, diese äusserliche Begleiterscheinung hat man
leider für das Wesen genommen in jenen Kreisen, die nie
lernen und nie vergessen. Jene Zopfspartaner, die bei
Leuthen siegten, hatten blutwenig gemein mit jenen Fuchtel-
gendarmen, die bei Jena Fusstritte erhielten und die heute
säbelrasselnd als „erster Stand'^ Deutschland unsicher machen.
Ferdinand von Braunschweig, als echter Feldher natürlich
antimilitaristisch, human und hochgebildet, wie später Erz-
herzog Karl und seine Paladine, und Moritz von Dessau,
der für die Hochkirchniederlage nur eingerissenem Hochmut
und Oenusssucht des Offizierkorps Verantwortung zuschob,
geben uns den besten Begriff von der wahren Beschaffenheit
des Friederizianischen Kriegertums. Und wie verrät eines
Husarenrittmeisters rührender Brief an Geliert, er biete als
schwache Erkenntlichkeit für seine Erbauung durch Oellerts
Gedichte die Hälfte seiner Zorndorfbeute ihm an, den naiven
Idealismus der scheinbar so harten und rauhen Zeit! Zu
dem ernsten Heroen, der sich „den ersten Diener seines
Staates^^ nannte und als Pseudomaterialist in einer Vers-
beichte keine andere Unsterblichkeit seiner Seele verlangte
als de faire des bienfaits au genre humain, ja der einem
Professor das trockene Wort : „So, Er hat über die Unsterb-
lichkeit geschrieben? Was hat Er denn getan, um die zu
verdienen?'^ mit derselben erhabenen Barschheit zuschleuderte,
wie seinen Soldaten das unvergessliche „Ihr Backer, wollt
ihr denn ewig leben?" „Fähnrich, wenn Er stirbt, so sterbe
Er ruhig!" — zu ihm gehörte unzertrennlich der kleine
schwächliche Professor in Königsberg, der in seiner Weise
ein ebenso unbeugsamer Held war. Kants „kategorischer
Imperativ", ein philosophischer Irrtum, aber ehrwürdig im
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Irrtum selber, sprach nur den Gedanken des Preussenstaates
aus. Ebenso bildete Byrons schrankenloses Welt-Ich, das
naturgemäss den Welt-Schmerz in sich schloss, die geistige
Ergänzung zu Napoleons Übermenschentum. Zwischen den
zwei Realidealisten und den zwei Idealrealisten stand Goethe
als Vermittler. Indem wir nun die Erschlaffung des über-
spannten Bogens, die im sogenannten müden Fin-de-Sidcle
endende Reaktion des neunzehnten nach dem von Kraft
überstrotzenden Jahrhundert der Revolution betrachten wollen,
vermögen wir das Einzige, worauf das grössenwahnsinnige
Maschinenzeitalter seine stolzen Ansprüche baut nicht als
etwas Besonderes und ihm Eigentümliches zu betrachten.
Alle Entdeckungen und Erfindungen der Technik nämlich
und alle Fortschritte der Naturwissenschaften verdankt man
ausschliesslich der grundlegenden Gedankenarbeit der Revo-
lutionsepoche. Auch brachte das „Jahrhundert der Natur-
wissenschaft^' überhaupt nur zwei Grössen derNaturergründung
hervor, die sich neben denen jener früheren Zeiten sehen
lassen können, ohne aber eine gleiche Höhe zu erreichen:
Robert Mayer und Helmholtz. Denn Darwins fleissige und
geistvolle Studien können nur als breite Ausführung früherer
Anregungen gelten und besitzen als blosse Hypothese keines-
wegs die Würde eines aufgehellten unumstösslichen Natur-
gesetzes. Doch abgesehen davon, fehlt den Männern der
exakten Wissenschaften durchaus das Gepräge der reinen
Denker, deren Ideengang unwillkürlich eine neue eigen-
tümliche Stufe geistiger Entwicklung darstellt und daher
unmittelbar Richtung und innere Beschaffenheit ihrer Zeit
wiederspiegelt Exakte Wissenschaft ist ein unteilbares
Ganzes für sich, losgelöst von Milieu und Bedürfnissen der
jeweiligen Generation, ein Gebäude, zu dem jede Zeit' ein
paar neue Steine hinzufügt, ohne diesen irgendwie den be-
stimmten Stempel einer Zeit aufzudrücken. Wer die Ver-
treter eines Jahrhunderts sucht, darf sich nicht in Gelehrten-
stuben verirren, wo man ebensogut in jedem beliebigen
andern Jahrhundert zu Hause ist
Balzac meint der Mensch repräsentiere seine Sitten
und Gedanken in seinen äussern Bedürfnissen. Also z. B.
in Kleidung, Wohnung und Einrichtung. Dies traf noch für
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Revolution und Empire, wie für Rokoko und Zopfzeit, in
vollem Masse zu. (Yergl. Jakob Falkos Eostümkunde.) Je
tiefer wir aber ins 19. Jahrhundert hinabsteigen, desto
hässlicher, verschwommener, charakterloser werden Tracht
und Mobiliar. Nur Krinoline, Vatermörder und Zylinderhat
ragen als Monumente aufgeblasener Unnatur und Abkehr
von jedem Schönheitssinn aus dem flachen Brei banaler
Nützlichkeit hervor.
Was Fichte als Signatur seines Zeitalters auffasste
(Werke YII, 40), dass es hochmütig auf alles Ideale herab-
sehe und sich nur labe an der eigenen Pfiffigkeit, kann im
Allgemeinen als Orundzug des ganzen gepriesenen Jahr-
hunderts gelten, in welchem kalter Verstand den Alleinthron
besteigen, alle geistigen Güter entwerten, den Wert des
Lebens umwerten und die Maschine, sein hässliches Symbol,
auch als Prinzip der Gesellschaftsseele einführen wollte.
,,Wenn der Gedanke ein soziales Element ist so ist er auch
andrerseits das Element der Zerstörung", bekennt Balzac in
der Vorrede seiner „Menschlichen Komödie." Von diesem
destruktiven Element sich freizumachen, bestrebte sich redlich
die Bourgeoisie. Immer winziger schien der Kreis jener
Elitenaturen einzuschrumpfen, die sich im Gedanken, um
mit Spinoza zu reden, ,,ein Reich in einem Reiche", ein
inneres Heim in der Heimatlosigkeit der Weltwüste
schaffen. Man verwechsele solche Schaffensmächte des Ge-
dankenlebens beileibe nicht mit der kritischen Verstandes-
arbeit, der sich das Jahrhundert mit perverser Wollust
hingab. Die Kritik zerstört alle Illusionen und damit den
sinnlichen Reiz des Lebens, so dass Wille und Handeln zu
kurz kommen. Deshalb stösst Flauberts heiliger Antonius
den Sehnsuchtsschrei aus: ,,0 wäre ich Materie!" Wenn
Stendhal bündig meint: ,,Das Einzige, was Gott entschuldigt,
ist, dass er nicht existiert", so lallten unzählige Ejretins
dies nur im Munde eines Ghamfort und Stendhal erträgliche
Bonmot wie eine Heilswahrheit nach. Aber derselbe Stendhal,
Sohn einer grossen Zeit, versenkte sich bis zum Tode immer
wieder ins Entzücken jener Herrenjahre, wo er als Offizier
„sein bischen Leben im Gefolge des Grosen Mannes genoss."
Er schreibt es gross: „Grand Homme", der Name Napoleon
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. o
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erfüllt den kühlsten furchtlosesten der Menschen mit ehr-
fürchtigem Schauer, so gerne er sich die Jugenderinnerung
kritisch vom Leibe halten möchte. Über solch naive Helden-
rerehrung, solchen Rest von Enthusiasmus schüttelt das
müde Jahrhundert den Eopf. „Man wird müde von allem,
nur nicht vom Yerstehen^^ soll schon der alte Virgil
geäussert haben. unter Yerstehen verstand aber das
Maschinen Jahrhundert: alles verwerfen, was wir nicht ver-
stehen, was über unsern Horizont geht Die geniale
Universalität der Renaissancemenschen, eines Lionardo, und
der Revolutionsmenschen, eines Napoleon, Goethe und
Byron, gehört zu solchen ünbegreiflichkeiten. Was nicht
Spezialismus eines Fachberufs, heisst Dilettantismus. Die
Menschheitsgeschichte, welche Carlyle „nicht als tote, sondern
lebendige und göttliche Sache" und Michelet als eine
Dichtung auffasste, aus welcher mitleidende Sympathie die
(Gefühle der Vergangenheit neubelebt, ward in Händen der
Ranke, Sybel, im Grunde auch der Mommsen oder Taine
bis auf Lamprecht hinunter eine Bibliothek von Akten,
diplomatischen Dokumenten und Rechnungsberichten einer
politischen und sozialen Wirtschaftsökonomie. Das nennt
man exakte Forschung. Da kann man sich nicht wundern,
dass ein Zeitgeist, der nur an Massenmilieu und nicht an
spontane Schöpferkräfte von Genie und Heldentum glaubt,
weder Genies noch Helden hervorbringt oder vielmehr, da
dies Tainesche Erzeugen durchs Milieu auf blossem
Wahn beruht, den schlummernden Genies und Helden
keinerlei Spielraum gewährt Die höchste, ja die wahre
Form des Genies verknüpft sich mit universalem Bewusst-
sein, mit allgemeinem Verständnis, originaler Fortent-
Wickelungsfähigkeit in sich selber zu immer neuen, immer
höheren AllgemeinbegrijBen. Und diese Fähigkeit alles zu
begreifen schliesst fast immer die Fähigkeit in sich,
alles auszuführen und zu tun. Spezialismus unterbindet
jede Spur solcher Begabung und so bildete das Jahrhundert
lauter Einseitigkeiten aus. Da war der Eine ein bedeutender
Diplomat in auswärtigen Angelegenheiten: flugs hiess er
grösster Staatsmann aller Zeiten, Genie vom höchsten
Range, obschon er in allen andern Gebieten des Wissens
— 19 —
und Könnens eine Null, ja sogar auf innerpolitischem Ge-
biete ein blosser Stümper infolge seines beschränkten
Oedankenhorizonts. Da war der andre ein ausgezeichneter
Spezialist militärischer Technik: flugs hiess er der grösste
Feldherr aller Zeiten, obschon ihm jeder Schimmer von
Genialität gebrach. Da fügten andre den genialen speku-
lativen Entdeckungen der Renaissance und des Revolutions-
jahrhunderts einige Ergänzungen hinzu, zum Teil nur
Hypothesen auf Grund fleissigen Dokument- und Experiment-
sammeins: flugs hiessen sie Leuchten des Universums und
es ward ihnen wie dem seligen Yirchow vor ihrer Gott-
ähnlichkeit bange, als Geheimräten der Natur. Die Hegeische
Metamorphose der Ideen nahm bei uns, hocherhaben über
Abstraktionen, prächtig konkrete und exakte Gestalt an:
sozusagen die einer hektographischen Schreibmaschine, die
mechanisch Satz an Satz reiht — die Sätze heissen „Tat-
sachen^' — und sich selbst für den Urheber hält, indess
ein unbekannter Geist ihre technische Fertigkeit diktiert
Denn wozu im Weltplan die „naturwissenschaftliche Idee^^
des Materialismus dienen sollte, nämlich kirchlichen Aber-
glauben zu töten und für wahre Erkenntnis des Im-
materiellen Raum zu schafien, das blieb ihr völlig verhüllt
Nicht unwitzig verspottet Dickens („Hard Times") einen
solchen Durchschnittsphilister unsres Aufkläricht: „Was wir
brauchen, sind Tatsachen. Reissen Sie jede andre Vor-
stellung mit der Wurzel aus! Ihr könnt den Geist eines
verständigen Tieres, wie der Mensch es ist, nur mit Tatsachen
füttern.'' Das Geschlecht der Tatsachenmacher war tot,
symbolisch ins Grab von St Helena versunken, und auf
Goethes Sterbewort „Mehr licht'' folgte das Geschlecht der
Maulwürfe, die im Dunkeln ihre Tatsachen der Engerlinge
sammeln. Der tatsachenlüsterne Materialismus ward sich
seiner eigenen praktischen Ohnmacht kaum bewusst, als die
Revolution von 48 ihre soziologischen Tatsachensysteme
auf die Probe stellte. Unausgesetzt sammelte man Tatsachen,
wie ein Botaniker in sein Herbarium, und hielt diese
eifrigen botanischen Spaziergänge für den Marsch des Fort-
schritts. Ein Aussatz von Mittelmässigkeit überzog die
bourgeoise Gesellschaft wie eine schimmelige Kruste und
2*
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steckte selbst Oesondere an. Jede heroische Auffassung
des Lebens ertrank in einem Tintenstrom und einer
chemischen Sauce, die man für neues Jordanwasser eines
gelobten Landes hielt Die Literatur, allzeit das deutlichste
Sprachrohr des Zeitgeistes, tönte mit phonographischer
Treue die hohle blecherne Stimme der tatsachenunfähigen
Tatsachenwut nach. „Technik^^ hiess der heilige Schiboleth
und Talisman für jedes Können, die „Technik der Kunst'^
ward alexandrinisch proklamiert Natürlich ging die hohe
Kunst dabei zum Teufel, die Inspiration der Phantasie ward
als eine Art Neurose und Nostalgie medizinisch begutachtet,
das Genie aus morbidem Himboden abgeleitet (Dass der
gute Lombroso, abgesehen von seinen flüchtigen Trug-
schlüssen in Verwechselung von Genie mit Talent, physio-
logischen Begleiterscheinungen der Nervenüberspannung mit
Gehimerkrankung, höchstens den „Irrsinn'' selber uns in
ehrwürdigerem Lichte zeigte und der Naseweisheit des
„Normalen" Nasenstüber versetzte, begriff er natürlich selber
nicht. Vielleicht hat er heut, auf dem unreinlichen Wege
des Spiritismus zur Einkehr gebracht, etwas weitere Hori-
zonte ins ünbewusste.) Die Dichter selbst erklärten den
Vers für altmodisch und abgesetzt Nachdem der nach
exotischen Sensationen lüsterne Theophile Gautier sich zu
dem Dogma bekehrt, dass die Poesie in erster Linie tech-
nisch werden und Malerei wie Skulptur in sich ausformen
müsse, musste er sich, um eine Illusion ärmer, zuletzt
einen „alten Reimer, abgenutzt durch Missbrauch der Prosa*'
nennen, da der Zeitgeist den Lyriker zwang, für die Presse
Feuilletons zu schreiben. Die Presse! Seit die Tagesblätter
sich um Feuilletonromane rissen, siechte das Buch dahin,
die wahre Literatur begann abzusterben. Ist das Ich nur
eine unwillkürliche Kette von Begebenheiten, zusammen-
gesetzt aus allerlei kleinen Phänomenen des Bewusstseins,
und die Natur gleichfalls nur eine Serie von Phänomenen
der Bewegung, steht keine dauernde und verborgene Sub-
stanz als Erhalterin in den Qualitäten, überlebt keinerlei
dauernde Einheit in Natur und Mensch die zufälligen und
flüchtigen blinden Begebenheiten, wozu dann noch eine
Einheit des Denkens uud Gestaltens, eine dauernde Idee
— 21 —
des Lebens in den Künsten suchen? Alles zerflattert in
Milieu- Anekdoten, zusammenhanglose Genrebilder. In dieser
Hinsicht stellen Nachtasyle von Hauptmann und Oorki die
typische Krisis dar und die Diagnose der grossen Krankheit
lieferte Taine mit einer Brahminensalbung, als handle es sich
umgekehrt um heilkräftige Gesundung des Menschengeistes.
Was geht uns die Sonne an, lass sie leuchten! Wir analy-
sieren ihre einzelnen Stadien im Brennspiegel, wir stapeln eine
Unmasse Kleinigkeiten als menschliche Dokumente auf und
studieren wie Lumpensammler den Kehrichtabfall des Allzu-
menschlichen, um aus den Zufälligkeiten das reale Wesen zu
konstruieren. Wäscherechnungen von Goethe sind ebenso lehr-
reich, wie die Garderobe Napoleons. Weil dieser eine gute topo-
graphische Auffassung besass, gewann er die Schlacht von
Austerlitz. Und warum besass er solche topographische und
sonstige Gabe? Weil er sie vom schwächlichen Advokaten
Carlo Bonaparte und der Bäuerin Lätitia geerbt hatte. Es
ist sonnenklar. Mittlerweile leuchtet die Sonne weiter auf
Gerechte und Ungerechte als ein unerklärbares Faktum,
das heroische Grosse lebt immer noch, nachdem man es
aufs Prokrustesbett gespannt und ihm das Grossmaul ge-
knebelt: Du sollst und musst klein milieuisiert werden.
Theorie und Praxis decken sich.
Eine niedrige und zu unheilbarer Mittelmässigkeit ver-
dammte Gesellschaftsordnung schnürt jedes freiere Ausatmen
des „Atma^\ des Gottesgeistes, ein. Allerlei kleinliche Polizei-
und Justizquängeleien unterbinden jedes Ausleben der Per-
sönlichkeit in freier Rede und Tat Jesus müsste sich als
Kurpfuscher und undiplomierter Naturheilkünstler oder wegen
Vagabundage und öffentlichem Unfug vor allerlei Dumm-
köpfen in schwarzem Talar verantworten, bis die Wichte
in Uniform und Talar ihn ins Zuchthaus brächten wegen
Aufreizung zum E[lassenhass, Gefährdung der Staatssicher-
heit, Eeligionsverhöhnung und Gotteslästerung. Hier ver-
birgt sich die grausamste Ironie der von Jesus als schwerste
Todsünde gebrandmarkten allmächtigen Heuchelei. Denn
der Inquisitor, indem er bessere Gotteserkenner verbrannte,
handelte doch wenigstens im Bann seiner Borniertheit Der
moderne Staatsanwalt aber, der als Zionswächter von Religion
— 22 -
and Altar gegen jeden wahren Gottsucher ä la Tolstoi
donnert, ist in meisten Fällen selber innerlich ein ,,lTn-
gläabiger'\ schon aus feiger Eitelkeit, um nicht hinter dem
modernen Aufkläricht als gebildeter Mann zurückzustehen.
Kinder der Ohnmacht, bleiben wir weltenweit entfernt von
dem Heldenwillen des wahren Übermenschen, der sein glor-
reiches Testament der Abendmahlsrede — im Evangelium
Johanni voll unvergleichlicher Grösse in jedem Satze, doch
wahrscheinlich wie alle Reden und Parabeln Jesu immer
noch unvollkommen wiedergegeben, so dass wir dies Riesen-
hafte meist nur ahnen, obschon bereits hinlänglich die
wiederholte Notiz begreifend: „Da die Jünger solches hörten,
entsetzten sie sich^^ — mit dem Triumphschrei schloss:
„Freuet euch mit mir, denn ich habe die Welt überwältigt'* *)
Aber auch ein Taine stösst Triumphschreie aus, deren
Dreistigkeit verblüffen würde, wenn sie nicht so erheiternd
wäre. Die heilige Wissenschaft, „bewaffnet mit exakten
durchdringenden Instrumenten, deren Richtigkeit dreihundert
Jahre der Erfahrung bewiesen, macht sich an die Seele
selber heran. Sie bringt mit sich eine neue Kunst, Moral,
Politik, Religion und unsre Sache ists heut, sie zu finden!"
Ja, suchet, so werdet ihr finden, nur meist etwas anderes,
als was ihr sucht „Die Entdeckung kleiner Tatsachen,
wohlgewählt, bedeutend (? ! importants), bezeichnend, um-
fangreich umschrieben (circonstanci6s) und sorgfältig notiert",
das entschleiert sofort das Weltgeheimnis. Die Einschmugge-
lung des Adjektivs „bedeutend" atmet eine groteske Selbst-
ironie. Dass die Welt des Unendlich-Kleinen in ihrer Weise
gradeso wichtig sei wie das Planetensystem, darauf wies
freilich Napoleon in seiner Grösse die Laplace und Monge
gesprächsweise hin und gab hiei*mit den Anstoss zur mik-
roskopischen Forschung. Aber dass man aus den Infusorien-
kreisen die Bahn der Planeten, aus Milliarden Kleinheiten
das Grosse bestimmen könne, diese geniale Überspringung
aller Massverhältnisse und Substanzfunktionen hat wirklich
etwas rührend Metaphysisches, so entsetzlich dies verpönte
') „ÜberwuDden^^ klingt theologisch- passiv, was gar oicht dem Sinne
nach gemeint.
— 23 -
Wort den Positivisten ins Ohr tont Spinoza sagt zwar:
„Der Weise ist der, dessen Gedanke teilnimmt an der
ewigen Notwendigkeit der Natur", aber was ist diese Not-
wendigkeit? Ist es jene, wobei Gesetz und Zufall nur noch
andre Namen für mechanische Notwendigkeit wären?
und was ist jener Denkende, der teilnimmt? Eine Kette
zufälliger Akzidenzen und Apperzeptionen als Bewusstsein?
Ein Nervenbündel von Assoziationen und Impressionen als
Ich? Welch entnerrende Folgen der pessimistische Nihilis-
mus einer solchen mit allem Pomp der Wissenschaftlichkeit
einherstolzierenden und doch nur angeblich wissenschaft-
lichen Betrachtungsweise nach sich ziehe, behandelt unser
Kapitel über die Sophisten. Doch sahen die eigenen Führer
der Naturwissenschaft zuletzt sich genötigt, gegen die
superklugen Hoffnungen vornehmlich der Laien aufzutreten.
So Tyndall und HuxJey in England, ersterer besonders in
„Scope and Limit of scientific Materialism", so Helmholtz
und Dubois-Reymond in Deutschland, letzterer besonders
in seinem Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens".
Wenn wir ankündigten, wir könnten die Vertreter
exakter Wissenschaft nicht unter Vertreter des Jahrhunderts
aufnehmen, da der Zeitgeist nicht in die stille Klause des
reinen Gelehrten dringt und obendrein einem Darwin und
Helmholtz völlig das Typische der Leistung abgeht, das in
einem Newton und Descartes, geschweige einem Giordano
und Kant, hervortritt, so stellen wir doch die allgemeine
Quintessenz der unserm Jahrhundert angehörigen Wissen-
schaften überall in den Vordergrund. Wir suchen dabei
freies selbständiges Denken zu üben ausserhalb des fachlich
schulmässigen Spezialismus, sowie Chamberlain in seinem
bedeutenden Werke über die Grundlagen des Jahrhunderts
sich mit spitzer Ironie als Laien und Nichtgelehrten aus-
gibt oder Dühring jedes gradgewachsene unverfälschte An-
schauen dem Verlehrtentum gegenüberstellt. Der erlauchte
Vorgang eines Goethe und Lionardo und vieler anderer^
da alles wirklich Menschheitfördernde stets nur von auto-
didaktisch freien Geistern — im Grunde fallen fast alle
griechischen Philosophen und indischen Brahmanen unter
dies Schema, desgleichen alle religiösen Genien und
— 24 —
Mystiker — oder von künstlerisch Schöpferischen herstammt,
möge uns hierbei entschuldigen, um im üblichen Be-
scheidenheitsjargon zu reden, oder, richtiger und offen her-
ausgesagt, uns den Weg weisen. Besitzen wir doch Helm-
holtz' geniales Zugeständnis, dass zum Ordnen der Begriffe
und Tatsachen eine dichterische Anlage (Beispiel: Goethes
Tiefblicke ins Naturreich) erforderlich sei.
Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome,
deren Bewegung durch zentrale und konstante Kräfte be-
wirkt wird, kann höchstens dem kirchlichen Aberglauben
bedenklich erscheinen. Wir, die wir — zur Warnung des
empörten Gebildeten sei es vorausgesagt — dem schnöden
Aberglauben des esoterischen Buddhismus d. h. der okkulten
Theosophie der uralten Geheimlehre huldigen, gehen sehr
gerne bis zu den äussersten Eonsequenzen hierbei mit Selbst
Laplaces phantastisches Ideal, dass ein Geist (Menschengeist?)
„in derselben Formel die Bewegungen der grössten Welt-
körper und des leichtesten Atoms begreifen^' könnte, so dass
dann „Zukunft wie Vergangenheit seinem Blick gegenwärtig''
wären, macht uns nicht bange. Denn erstlich würde dies
alles unser Grundgesetz des Earma — der ewigen Kausalität
unsterblicher Transformation — nur auf sogenannte wissen-
schaftliche Basis stellen, wenn es deren für den transzen-
dental Erkennenden noch bedürfte, und zweitens leben wir
der Überzeugung, dass ein solcher Geist (Übermensch) tat-
sächlich schon in mehreren Exemplaren in der Eörperwelt
weilt Wir bezeichnen diese Übergänge vom Menschen zur
höheren spirituellen Wesensreihe als Mahatma und sehen in
den Buddhas und Jesus bereits Inkarnationen davon. Dass
Zukünftiges wie Vergangenes dem seiner selbst bewusst
werdenden Unbewussten schon in der „dritten Schauung"
— noch vor der höchsten Initiation der vierten — klar vor
Augen treten, lehrt Gotamo Buddha ausdrücklieb. Nur mit
dem Unterschied, dass ihm die einfache Eine Formel für
alles Sein und Werden nicht eine mechanische, klügelndem
Rechnen erreichbare, sondern transzendentale, nur im blitz-
hell erleuchteten Unbewussten fassbare ist. Ganz gewiss
ist „das Weltganze eine einzige Tatsache und Eine grosse
Wahrheit" (Laplace 1751): um so weniger darf der blosse
— 25 —
Menschenverstand als ein blosser Teil des Ganzen, ja sogar
nur ein Teil seines eigenen Selbst, sich eine völlige Natar-
erkenntnis jemals anmassen. Dazu müsste erst der Stein
der Weisen gefunden werden, der für die „spezifischen
Energien^' der Sinnessubstanzen (Joh. Müller) und all ihre
Qualitäten die eigenschaftslose unwägbare Ursubstanz des
QrundstofFes entdeckte. Allerdings gestattete das Göttliche
im Menschen einzelnen Naturforschern in heiliger selbst-
loser tiefsittlicher Anstrengung bedeutende Tiefblicke. Es
verdient betont zu werden, dass die Wissenschaft dem
Mystiker Pascal manches verdankt, dass Descartes, Malle-
branche und viele Astronomen auf einem schier kirchlich
religiösen Standpunkt verharrten, dass Keppler und Giordano
als ethische Gottsucher das Naturreich durchdrangen, dass
Newton als tiefreligiöser Mystiker endete und sein eigener
Lebeoswandel völlig den Bedingungen der indischen Yoga-
lehre (absolute Keuschheit, absolute Selbstversenkung) ent-
sprach. Unbefangene Naturforschung erkennt an, dass die
tatsächlichen Bestimmungen für „Differentialgleichungen der
Weltformel'^ zu erlangen schlechterdings unmöglich sei. Ja,
Dubois-Reymond wagt das stolze Wort furchtloser Selbstkritik,
dass unser „Naturerkennen in Wahrheit kein Erkennen ist^^
Die atomistische Theorie läuft eigentlich nur auf eine
Fiktion der Physik hinaus, um unser Eausalitätsbedürfnis zu
befriedigen. Jede Corpuscular-Philosophie wird bei näherem
Zergliedern ein lächerliches Unding. Unsro Teilung der
Materie entspringt nur unserm Unvermögen, uns ein anderes
Bild als das von unserer sinnlichen Anschauung entlehnte
vorzustellen. Wir setzen Materie und Kraft als etwas Be-
kanntes und Gegebenes voraus, indess wir doch nur selber
uns gegeben und bekannt sind. Seit Robert Mayer's „Me-
chanik der Wärme", Helmholtz' „Wechselwirkung der Natur-
kräfte", seit Cuviers „Tableau ölementaire de Thistoire
naturelle des animaux", „Le rögne animal distribu6 d'aprös
son Organisation", seit Erasmus Darwins „Zoonomie" und
Darwins „Descent of man" (1871), Biot's „Lehrbuch der
Experimentalphysik", Fechners „Elementen der Psycho-
physik" (1860) sind wir in dieser Hinsicht nur scheinbar
weitergekommen, wie ein Rad, das auf dem gleichen Flecke
— 26 —
um sich selber rollt. Fechner (Über physikalische und philo-
sophische Atomenlehre 1855) hat im Gründe für den Den-
kenden den Materialismus beerdigt Freilich, gegen die
Theorie des (Jrschleims wäre an sich ebensowenig einzu-
wenden wie gegen die Eant-Laplacesche Theorie der Sonnen-
nebel. Ein Zusammentreten unorganischer Stoffe durch an-
ordnende Bewegung von Molekülen, deren Spannung zum
Stoffwechsel einladet, lässt sich vorstellen und füglich hypo-
thetisch annehmen. Allein, der bekannte Gegensatz der
Krystallisierung zum Organischen, wofür Dubois-Reymond
ein glückliches Gleichnis (blosses Bauwerk — Fabrik) und
beide Verschiedenheiten „incommensurabeP fand, legt uns
noch einen andern, bisher nicht aufgedeckten Widerspruch
nahe. Bei so grundverschiedener Doppel - Produktion der
gleichen Materie nämlich müssten wir offenbar einen Dualis-
mus ihrer Eraftäusserung annehmen, da theoretisch nicht
einzusehen wäre, warum das ewig stabile Gleichgewicht des
Krystalls nicht ebenso gut ins dynamische des Organischen
übergehen könnte, da die ürbedingungen der Bewegung,
kurzum das Wesen der Materie, doch zweifellos als identisch
angenommen werden müssen. Wir kämen also von der an-
genommenen Raum - Teilbarkeit der Materie (Atome) nun
schon gar zur Teilbarkeit ihrer Stoffkräfte. Wie aber Fechner
das bekannte Leibniz'sche Gleichnis von den zwei Uhren
(Leib und Seele) verspottete, dass von den drei Leibniz'schen
Fällen ihm nur der naheliegendste vierte entging: nämlich
die Identität der zwei Uhren, so könnte man umgekehrt hier
folgern, dass der obige Widerspruch gegen monistische Auf-
fassung der Materie sich am Ende gar durch die Möglichkeit
lösen lasse: bei „Beseelung'' der Atome zum Organischen
arbeite neben der Materie ein Anderes, jenes undefinierbare
Etwas, das schon der alte Grieche als ,,Nous" bezeichnete.
Wir vermögen daher Dubois-Reymond nicht zu folgen,
dass hier noch „kein unbedingtes Hindernis'' des Natur-
erkennens liege, dass Urzeugung lebender Wesen nur als über-
aus schwieriges — sagen wir lieber: für unser Verständnis
unlösbares — mechanisches Problem gelten könne. Wir lassen
dahingestellt, ob selbst der Urwald nichts als bewegte Materie
sei — Materie im gewöhnlichen Sinn des Unorganischen
— 27 —
•
verstanden — , da wir von Möglichkeit einer Pflanzenpsyche-
bisher nichts Ordentliches wissen und neuere Forschungen
sogar das Mineralreich als animalisch belebt und zusammen-
gesetzt behaupten wollen. Jedenfalls stellt aber echte Natur-
forschung das Bewusstsein des ,,Lebenden^^ als das schlecht-
hin unbegreifliche hin und wehrt sogar die — zuletzt noch
von Virchow in London angeblich ausgesprochene — Chimäre
ab, dass wir jemals darüber Auskunft erlangen. Dem
frommen Dualismus von Leib und Seele, der Descartes,.
Malebranche, Leibniz zu so kindlichen Absurditäten ver-
leitete, ein Ende gemacht zu haben erscheint der Moderne
als ihr Buhmestitel. Allein, die ürweisheit der Menschheit
am Himalaya hat solchen Dualismus nie gekannt, der auf
Verwechselung von Geist (Bewusstsein) und Seele (Un-
bewusstheit) hinausläuft. Den Ausdruck, dass der ,,Oeist'^
— von Naturforschern als „Seele** missverstanden — eine
,,Wirkung" der Materie sei, halten wir freilich für sehr un-
glücklich. Er enthält sinnfälligen Widerspruch, indem bei
Identität von Geist und Körper doch nicht die Ursache zu-
gleich ihre eigene Wirkung sein kann. Schärfer gefasst muss
Geist heissen: Bewegung der Materie. Die Unmöglichkeit
aber, das Seelenleben hieraus zu erklären, da Bewegung nur
Bewegung, Mechanisches nur Mechanisches erzeugen kann,
ward von der Geheimlehre längst gelöst durch Erkenntnis^
eines dritten über alle Mechanik erhabenen latenten Ele-
ments, für das heute die glückliche Definition ,,das Un-
bewusste" gang und gäbe wurde. Unleugbar erwarb sich
E. V. Hartmann ein grosses Verdienst, indem er diesen
(übrigens schon lange geahnten) GrundbegrifT im gelehrten
Europa einführte, obschon er sich in Auslegung weit genug
von der einzig plausibeln und stichhaltigen Erläuterung durch
den Okkultismus entfernte. Dem unsterblichen du Frei,
dessen „traurige Irrtümer" unsre bornierten Verlehrten-
Maulwürfe wenigstens nicht über seine wissenschaftlichem
Entdeckungen täuschen sollten, blieb es vorbehalten, den
Seelenbegriff wieder zur indischen Urquelle zurückzuleiten.
Aber auch an und für sich, was jene bedenken sollten, die
sich überhaupt noch Ehrlichkeit bewahrten und nicht wie
Haeckel blind und toll ohne jede philosophische Bildung
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rr4.':r-i^:'=:r H:rr.z^»:ir. ir r:::: rr.tsrrechrnier Liiiemnc eines
— 29 —
Organs kann irreführen, ebenso wie die Wirkung eine»
äusseren Drucks (Fall, Schlag) aufs Hirnbewusstsein. Denn
möglichenfalls und für mystische Anschauung sogar sicher
sind diese yerschiedenen Phänomene nur gegenseitig ein-
heitliche Karma-Zustände einer tieferen inneren Erkrankung^
im Organischen. Tm übrigen ist gar nichts mit der gross-
spurigen Synthese erreicht, dass Denken nur eine Abson-
derung des Gehirns sei, wie Ausscheidungen von Leber und
Niere (Carl Vogt), so lange unmöglich anzugeben, wodurch
und weshalb diese Verdauung äusserer Wahrnehmungen al&
Gedanke sich produziert. Ausserdem hinkt obiger appetit-
licher Vergleich noch sehr, ja scheint völlig unpassend, da
Galle und Harn tatsächlich ausgeschieden werden, der Ge-
danke aber nicht nur immateriell im Himleben, sondern
auch auf den photographischen Platten der Erinnerung
dauernd bestehen bleibt. Femer sind alle betrefFendett
Funktionen bei Wirbeltieren von denen bei Wirbellosen ver-
schieden, minimale Klümpchen Nervensubstanz erregen aber
in der Ameise ein gleiches oder gar höheres Seelenleben al&
beim Hunde, Affen oder selbst dem Papuaneger. Die Archi-
tektur der Gehirnwindungen liefert uns also keinen Anhalt
für den Grad der Gehirnqualitäten, sondern höchstens für
innere Elemente der Struktur ihrer Masse. Wie aber
dieser Stoff sich zum Denken kombiniere und vermöge-
weicher unbegreiflichen Kraft, darüber wird sich unser
Denken so lange den Kopf zerbrechen, bis nicht der
Materialismus völlig die Waffen streckt und das, was
man unklar als „Lebenskraft^^ bezeichnete, als das jenseits
jeder Bewusstseinsschwelle liegende „transzendente Ego"
begreift.
Die brahmanische Lehre von den sieben Grundstoffen
und den sieben Ebenen, die unsem blöden Brillenschlangen
des Katheders bloss als Ausgeburt quacksalbernder Exaltation
erscheint, fusst eben auf einer unendlich tieferen Wissen-
schaft der „Kraft", sintemal das Seelische nicht mit seiner
irdischen Unterfunktion des sinnlich -wahrnehmenden Be-
wusstseins, sondern nur mit seiner höchsten Zentralfunktion
des Manas, der unbewussten Vernunft, über sich selber aus-
sagen kann, letztere aber nur auf dem furchtbar steilen
— 30 —
Pfad der Inspiration und Intuition vermitteis übermensch-
licher Willensstärke und seltener Genialität ihr Sichselber-
'bewusstwerden jenseits sinnlicher Wahrnehmung erreichen
kann. Wir werden also die modernen Hauptbegriffe Deter-
minismus und Evolution zwar um so weniger antasten, als
•die indische Urweisheit sie schon zur selbstverständlichen
Basis nahm, zu welcher wir heut nach traurigen Irrfahrten
des europäischen Geistes erst wieder heimkehren, nur mit
•dem unterschied, dass damals schon das ganze Planeten-
system, nicht nur das irdisch Organische, den Manvantara
(Evolutionsperioden) unterworfen wurde. Sobald man jedoch
diese Begriffe buchstäblich nimmt, die Evolution nicht mehr
relativ und figürlich, sondern absolut und konkret auffasst,
•die Unfreiheit der Körperwelt mit der transzendentalen
Freiheit verwechselt, gähnen wieder die Unmöglichkeiten
menschlicher Yerstandesschlüsse uns an, bei denen nur kind-
liche Unreife unphilosophischer Denkunfähigkeit sich zu be-
ruhigen vermag. Laplaces „principe de la raison suffisante^^
kann uns wohl zu der Grenze führen: „La volontd la plus
libre ne peut sans un motif d6terminant leur donner
naissance . . Topinion contraire est une Illusion de Tesprit'^
Aber jenseits dieser Grenze dehnt sich der unendliche Ozean
der Urgründe, an dessen Strand wir umsonst mit Newton
ein paar Muscheln auflesen und in dessen Abgrund erst die
Antwort schlummert, weshalb wir überhaupt „Willen",
„Illusionen'', „determinierendes Motiv" besitzen können. Vom
Unbekannten, das um uns her im Räume spukt, hat vielleicht
Leibniz eine richtige Ahnung, wenn er Bayles Spott, Leibniz
setze Körper voraus, die durch eigene Kraft dem Hafen
zusteuern, trocken bejaht: er könne sich sehr wohl einen
menschlichen Mechaniker vorstellen, der einen solchen Auto-
maten fabriziere (was bekanntlich seither bewahrheitet). Nun
wohl, für das transzendente Ego ist der irdische Mensch ein
solcher Automat, solange er im Reiche der Sansara sein
Pensum abschnurrt Wie aber im Automat etwas Höheres
und Immaterielles sich symbolisiert, nämlich das Gesetz des
menschlischen Logos, so wohnt im Menschen das Allgesetz
des göttlichen Logos, das unverändert fortwährt, ob auch der
Automat in Stücke bricht
— 31 —
Das Gefühl, von dessen Sensation ja unser sogenanntes
Denken überhaupt erst den Anfang nimmt, steht als im
eigenen Organischen wurzelnd dem Organismus des Alls
näher, als die abstrakte Logik des Verstandes. Wie es aber
damit bei den Kindern des Jahrhunderts bestellt ist, dafür
diene als gelegentliche Probe folgendes Selbstbekenntnis der
schönen Seele Fürst Pückler-Muskaus, dessen „Briefe eines
Verstorbenen^^ die europamüde blasierte Gesellschaft der
Reaktionszeit entzückten :
„Vernimm, dass ich fremde Liebe nur dulde, milde bin
nur aus Kälte, dass mit einem Wort die Denkkraft stark,
das Gefühl aber so schwach in mir ist, dass seine Wärme
kaum noch hinreicht an Gott festzuhalten, und den Menschen^
aber schon lange losgelassen habe. Beurteile mich auch
nicht nach meinem Buche, dort bin ich durch und durch
Komödiant und habe höhnisch gelacht dass man darin
die Natürlichkeit als schönstes pries, da es von Anfang bis
Ende die fortgesetzteste Täuschung enthält.^^ (Pückler an
Bettina von Arnim, April 1832. „Aus dem Nachlass, heraus-
gegeben von Ludmilla Assing,*^ I. Band.) Diese Knochen-
gerippe, die sich umsonst mit intellektuellen Blumenkränzen
umwinden, diese halbtoten Vampyre, die sich durch Blut-
saugen ein neues Leben von Sensationen verschaffen möchten,
ein lauernd unheimliches mit perversem Appetit, tragen
nur noch einen Funken in sich, der sie galvanisiert:
die Eitelkeit. ,Jch werde dir dann zeigen, dass ich keine
falschen Waden trage, wie du dir wegen der strengen Form
meines Beins einbildest^M ! Solches geschah im August, aber
noch im Dezember heisst es: „um dich zu überzeugen, dass
ich keine falschen Waden trage, eine Beleidigung, die ich
immer noch nicht verschmerzen kann." Es liegt ein tiefer
Sinn in diesem kindischen Spiele. Sehr richtig redet Pückler
seine berühmte Freundin an: „Wesentlich schauspielerische
Bottina!*' und sagt von sich selber aus: „Ich bin ein Findel-
kind und kenne meine Eltern nicht^' Ferner: „Ich habe an
mir selber solche Dinge erlebt, dass ich an nichts zweifle
und über nichts mich wundere, womit ich zugleich ein
echtes Kind meiner Zeit bin." Hübsch charakterisiert
auch die Bemerkung der verschrobenen, obschon wirklich
— 32 —
genialischen, Bettina: „Olück liegt nur in der Möglichkeit,
die sinnlichen Anlagen des Geistes zu entwickeln/'
Später heissts dann wieder: ,,6ewi8S, was die Sinne
reizt, macht auch glücklich, was glücklich macht, ist gött-
lich . . . was verlangt denn Oott von uns? Dass was in
uns lebt sich vergeistige — und was lebt denn in uns als
nur das Sinnliche? — und wie vergeistigt es sich denn
als dadurch, dass es eine Tagend wird? Ach, ich wollte,
ich könnte hier deutlicher sein . . /' Ei ja wohl! Die
Sinnlichkeit, die zur Tugend wird . . . von dieser erlogenen
Mystik bis zu Schlegels ,,Lucinde^^ ist nur ein Schritt. Ein
andermal schwelgt Bettina wieder: der Leib und die sinn-
liche Natur seien auch berufen selig zu werden. „Wir
dürsten nach Vermählung mit der Schönheit, der Leib zittert
vor Lust in der Empfindung, dass er dem Schönen an-
geschmiegt sei, dies ist doch wohl nicht tierischer Trieb."
Im ffintergrund breitet Schleiermachers platonische Theo-
logie segnend die Hände. Das harte Urteil Yarnhagens über
Bettina, vor der ihn ..ihres Bruders Clemens Bekanntschaft
gewarnt", wird bestätigt, wenn man die Methode dieser
Schauspielerin kennt, immer den einen Freund beim andern
anzuschwärzen. Der Lump Clemens Brentano gibt selber
ein Beispiel, wie bei den Romantikern ihre unleugbare
poetische Begabung im Grunde nur auf artistischem Klügeln,
nicht auf echter Empfindung beruhte. Überaus peinlich be-
rührt auch Bettinas begeisterter Brief über Schleiermachers
Tod, der wahrhaftig Brot und Wein im unmittelbaren Sterben
an seine Umgebung verteilt: „Das ist mein Leib, der für
euch gegeben ward, das ist mein Blut, das für euch ver-
gossen ward." Der impotente Grössenwahn des anempfinden-
den eklektischen Jahrhunderts, das sich mit vergangener
Schöpfergrösse identifiziert, weil seine kritische Geistreichelei
ihm Ebenbürtigkeit mit dem Kritisierten und Analysierten
vorspiegelt, kommt hier zu bezeichnendem Gleichuis. Famos
auch die Kennzeichnung ihrer religiösen Seelengemeinschaft
mit dem neuen Christus: „Ich hab noch mehr mit ihm ge-
sprochen, was sich nicht wiedergeben lässt, denn Witz und
Scherz waren uns die Träger aller geistigen und
mystischen Genüsse". Hier und da blühen zwischen all
— 33 —
dem Unkraut Seelenblumen von reinerem Duft und grade
das Geniale in Bettina macht ihre phraseologische Falsch-
heit, Schauspielerei, versteckte Brunst so widerwärtig. Um
zu würdigen, weshalb wir diese zwei Kinder des Jahr-
hunderts in ihren Briefbeichten belauschen, vergegenwärtige
man sich die Stellung beider. Fürst Pückier, eine faszinierende
Erscheinung etwa im Genre des Prinzen Louis Ferdinand,
spielte bis über die erste Hälfte des Jahrhunderts — er
machte noch als Achtzigjähriger den Feldzug 1866 mit —
die Bolle des Fürsten Ligne zur Wiener Eongresszeit
Natürlich spielte er den Liberalen, spielte mit demokra-
tischen Regungen. So sagt er von Christus: „Es würde nicht
lange dauern heutzutage, so sässe er in Spandau, und wir mit
ihm. Die Frömmler würden alle wieder schreien: Kreuziget
ihn!^^ Ein Geständnis von unsrer Zeiten Schande, das so-
gar noch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts gilt, und
solche geistige Verelendung zäher vis inertiae der reaktionären
Mächte hätte Pückier wohl kaum vorausgeahnt. Denn all
diese Geister befanden sich in der Autosuggestion einer
kommenden Erlösung, eines neuen grossen Aufschwungs
der Menschheit, und dieser Spuk wiederholte sich in jedem
Lustrum — nach 1815, 1830, 1848, 1870, 1889, um immer
wieder in Misdre eines blanken Dilettantismus zu verenden.
Bettina aber, durch ihr verschrobenes Kindesverhältnis
zum alten Goethe weltberühmt, galt ihrer Zeit so viel, dass
Gutzkow in den „Briefen eines Narren^* Rousseau, Jean
Paul, Byron (!), Bettina für Inkarnationen desselben Geistes
hält! Dieser Geist — aber nicht „derselbe", sondern bloss
der Bettinageist — lebte übrigens in einigen Spielarten noch
heute fort. Unter anderen auch in ihrem Schwiegersohn
Hermann Grimm, dem geistvoll feierlichen Salbaderer „vor-
nehmer" Ästhetik, über den Karl Werder, gleichfalls ein
Schössling dieser alten Genialitätsschwelgerei der Impotenz,
das reizende Epigramm uns vortrug: „In einsam abgemessenem
Gang wandelt Herr Grimm sich selber entiang" und dem
ein böses Witz wort ein Werk zuschrieb: „Michael Angelo
über Hermann Grimm." Dies eklektische Alexandrinern
des deutschen Professorentums, sein Schulmeistern in Kunst
und Literatur mit phantastischer Ästhetik, das fortwährende
Bleibt reo: Dio Vertreter des Jahrhunderts. 3
— 34 —
Benagen ehrwürdiger Meisterknochen mit der Andacht eines
Pfaffen vor Beliqoien, gehört mit zur Signatur des Kärrner-
Jahrhunderts, das sich einen bauenden König dünkte.
Der wahre Sinn für Wirklichkeit, sofern man nicht die
ganz gemeine der Kaserne und Börse darunter versteht, kam
so sehr abhanden, dass Pückler von sich aussagt, er lebe
fast nur in der Phantasie, nie in der Wirklichkeit. In ihrem
schauspielerischen Pathos schreibt Bettina am 25. Juli 1834,
dass sie Auftrag gab, den dritten Band ihres „Brief wechseis
Goethes mit einem Kinde^^ wenn sie vorher sterben sollte (!),
„dem Lord Byron zu widmen". Wie wenig Freude hätte
der naive Genius der Revolutionszeit an diesem Phantasieren
über den Genius gehabt! Und wie herrlich offenbart sich
der Genius des 19. Jahrhunderts in Pücklers Brief an Gräfin
Hahn -Hahn (1845): „Doch bleibe ich bei grosser Wahr-
heitsliebe ein geborener Komödiant, der fortwährend ab-
wechselnde Bollen spielt, nicht um damit anzuführen, sondern
nur aus natürlicher Lust daran." Allein, diese komödiantische
Wahrheitsliebe — denn auch sie ist nur Komödie — , die
ein andermal beichtet: „meine Komödiantenrolle ist mehr
eine tragische als eine lustige" (sehr wahr!), möchten wir
doch noch der unerträglichen Ziererei vorziehen, die Ida
Hahn-Hahn in ihrer aristokratisch parfümierten und dabei
jdealisch gaukelnden Correspondance (man muss das Wort
französisch schreiben, um das gesucht Salonmässige dieser
Selbstbespiegelungen zu nüanzieren) so herzig entfaltet.
Freilich, die langen geistreichen Betrachtungen, dass
Pückler „ein Komet" sei, haben tiefen Sinn. Wie er ist dies
Jahrhundert ein entgleister Komet, gemessen am leuchtenden
Planeten seines gewaltigen Vorgängers. In Pücklers Nach-
lass taucht neben damals schwefelnden Nullen wie Steffens
— von dem es in den Befreiungskriegen hiess: „Bei An-
fang des Treffens drückte sich Steffens" — auch Lady
Hester Stanhope auf, Pitts Nichte, die neben jener Mary
Montague der Pope-Zeit den Typ der ewig reisenden eman-
zipierten Extravaganten vorstellte. Und doch, indem er
der beiletristen Ida gegenüber die Erinnerung an jene über-
spannte Greisin aus seiner frühen Jugend beschwört, spürt
man förmlich, wie den modernen Zeitgeist - Pückler ein
— 35 —
Schauer überkommt, als wehe ihn ferner Duft eines besseren
Geschlechtes an: „Ach, wie wenig Oescheidte fand ich, die
wert gewesen wären, dieser Verrückten die Schuhriemen zu
lösen !^^ Lady Hester die Tolle, die noch den jungen Byron
in Athen kannte und Pitts sterbenden „Austerlitz-Blick^^ auf-
fing, glaubte an Wiederkunft des Messias und das gab ihrer
Yagabondage idealen Beiz. Wahrlich, ein starker Glaube
an einen Messias — erst hiess er Aufklärung, dann Bevo-
lution, dann Napoleon — versetzte dem ruhmvollen 18. Jahr-
hundert alle Berge der alten Welt und auch er durfte rufen:
„Ich habe die Welt überwältigt/^ Ida Hahn-Hahn war eine
der bedeutendsten Erscheinungen ihrer Zeit und nur das
Prestige der französischen Sprache lieh der George Sand ein
höheres Postament Doch wie armselig nimmt sich die stete
überheizte Aufregung, die sie für Begeisterung hält, in
Idas Büchern und Briefen aus neben dem werktägigen, im
besten Sinne realistischen Enthusiasmus des Bevolutions-
zeitalters! Auch der Enzyklopädisten brutale Skepsis, was
war sie als begeisterte Propagandawut: 6crasez Tinfäme!
Nicht nur Voltaire und Diderot, nein, alle diese Materialis-
musvertreter miteinander handelten als Idealisten, wie ihr
Freund der Preussenkönig. Helvetius und Holbach predigten
den Egoismus als Systöme de la nature und waren jeden
Augenblick bereit, Leben und Wohlfahrt dafür zu opfern.
Bezeichnend, dass ein Salon-Aufklärer wie Lord Shaftesbury
ausdrücklich den Enthusiasmus für den einzigen Eulturhebel
erklärt, dass selbst bei höfischen Bolingbrokes und Chester-
fields wiederholt ein strenger männlicher Idealismus aus
ihren Spitzenmanchetten hervorlugt Nur echte Humanität,
gesäugt von begeistertem Sehnen nach Seelenfreiheit, konnte
die Grandseigneurs in jener unsterblichen Augustnacht des
Revolutionsfrühlings anfeuern, sich selbst zu verleugnen,
sich selber das Todesurteil zu schreiben. Und nun vergleiche
man die Afferei der Hahn- Hahn und Bulwer in ihren Ro-
manen, wo das Recht, ein vornehmer Mensch zu sein, erst
beim Baron anfängt, dabei aber unaufhörlich von sublimen
Seelenerhebungen geschwefelt wird! Dass die Hahn, vom
bischöflichen Freiherrn Ketteier in den Schoss der katho-
lischen Kirche gerettet — es musste natürlich ein Freiherr
3»
— 36 —
sein, um eine hochgeborene Seele als Bischof zu gewinnen! — ,
in ihrer Schlossperiode (Epoche vor 1870) als krasseste
Reaktionärin aller konserrativen und kirchlichen Bevor-
mundung die Stange hielt und sogar die österreichische Fremd-
herrschaft in Italien als göttliches Recht zu verteidigen
wagte, verrät sinnbildlich das Enden des gesamten euro-
päischen Junkertums im 19. Jahrhundert: nach Tändelei mit
liberalen Anwandlungen, meist aus egoistischem Missver-
gnügen über die Staatsbureaukratie. Beim amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg begeisterte sich der ganze kontinentale
Adel, der französische natürlich voran, für die freie Bürger-
schaft: beim Sezessionskrieg aber stand das gesamte Junker-
tum, das französische voran, auf Seite der Sklavenbarone.
Das idealistische Frankreich Voltaires und Rousseaus zwang
die Regierung, mit Franklin gemeinsame Sache zu machen,
Franklin ward hochgeehrt an Höfen empfangen: das fort-
geschrittene Europa in der Neujahrsnacht des 20. Jahr-
hunderts sah die Buren verbluten und besass keine andre
Hülfsmacht als ohnmächtiges Fluchen und Schimpfen, hoch-
erhaben darüber fraternisierten die Staatshäupter mit den
englischen Henkern und die Burengesandten bettelten um-
sonst um Gehör. So herrlich weit haben wirs gebracht.
Das ist der Jahrhundertgeist, der aus Piickler spricht:
„weil es keine objektive Wahrheit gibt^'. Klit Entsetzen muss
man übrigens einen geistigen und literarischen Zustand sich
vergegenwärtigen, in welchem ein Pückler für seine frivolen
seichten und bloss weltmännisch gefälligen Schreibereien
„30 — 40000 Taler" bezog, wie er selbst bekennt, „in Deutsch-
land, wo es Schiller, Herder, Jean Paul nie so weit brachten
und Goethe erst am Ende seiner Laufbahn." Wenn man die
Honorarrechnungsbücher aller Autoren des Jahrhunderts
vergleichen könnte, so würden wir nur zu oft ein ähnliches
Exempel finden, wie immer das Seichte und Überfiüssige
von diesem „hochgebildeten" Zeitgeist mit Begier ver-
schlungen ward. Doch seien wir nicht ungerecht gegen den
armen Pückler, in dem unser ganzes deutsches Jahrhundert
bis 1870 sich spiegelt, der ein Schwiegersohn Hardenbergs,
ein Jugendfreund Schopenhauers und ein Tafelgenosse der
attischen ümsturzsymposien Ferdinand Lassalles gewesen
— 37 —
ist. Zwar seine kindische Eitelkeitspose blieb ihm treu.
Diese männliche Kokette behielt ihre falschen Waden und
gefärbten Haare. Schier achzig Jahre war er alt und zwei
darüber, hatte so manchen Sturm erlebt, und als sein liebe-
bedürftiges Herz 1868 eine neue platonische Wahlverwandt-
schaft mit einer Frauenseele anknüpfte, sandte er der
anonymen Marlitt, als „Verstorbener" sich vorstellend, des
noch sehr lebendigen Fürsten Porträt in Oala mit sämtlichen
Orden. Aber ein Zug von Güte und vornehmer Liebens*
Würdigkeit kommt doch in diesem letzten Johannistrieb seiner
verliebten Natur zum Vorschein, wie er auch im Brief-
wechsel mit der eingebildeten Ida noch als der minder
komödiantische erscheint. Gegenüber dem plumpen un-
wahren Bürger stolz der „liberalen'' Marlitt erfreut Pücklers
wahrhaft aristokratische Urbanität, seine gelassene Gleich-
gültigkeit gegen alle gesellschafüichen Scheinschranken, als
ein Zeugnis feinerer geistiger Freiheit. Vergessen wir nicht,
dass seine Kindheit noch unter die Revolution fiel, dass er
Napoleons Sturz als Dreissigjähriger erlebte, dass im jungen
Freund der Hester Stanhope noch ein Odem des grossen
Jahrhunderts wehte. Der abgelebte Weltbummler „Semilasso''
hatte in den Befreiungskriegen als Freiwilliger gefochten,
sein Kämpferdrang fand nur kein Feld mehr in der Polizei-
ordnung und korrupten Zahmheit der Modernen und so
begnügte er sich, Schlösser und Parks zu bauen. Als
GartenkünsÜer gross zu sein, ist wenig, aber besser als
nichts. Bäume pflanzen ist auch etwas tuen, der Muskauer
Park überdauert sein zweifelhaftes Andenken. Aber ach,
sein Verkehr mit den drei berühmten Frauen verschiedener
Perioden, die nach den stürmischen Amouretten seiner
Jugend sein Hirn beschäftigten, malt uns traurig das stete
Sinken des grössenwahnsinnigen Jahrhunderts bis zum
Ende. Nach der wüsten Genialitätsspritzerei der Bettina,
auf der noch ein schwacher Abglanz des klassischen Weimar
flimmerte, wo ihr Kinderfuss geweihte Stätten betrat^ zur
Affektation und Nervenhysterie der Hahn und von da zur
spiessbürgerlichen Nüchternheit und bourgeoisen Sentimen-
talität der Eugenie John (Marlitt) — o meine Bömer, welch
ein Fall war das! Da fielet ihr und ich, wir alle fielen.
— 38 -
Von den schlüpfrig mystischen Amphytrio-Geheimnissen
der Romantischen Schale bis zu den Geheimnissen der Alten
Mamsell, von des Knaben Wunderhom bis zu den Bonbon-
reimen des Mirza Schaffy und den Butzenscheibenschildereien
der Spielmannsweisen, Rattenfänger und Trompeter von
Säkkingen — Verpöbelung von Etappe zu Etappe. Und als
dann später eine sogenannte Revolution der Literatur los-
brach, versandete sie alsbald im professoralen Philistertum,
das eine neue Reaktion als Revolutionssieg taufte und eine
rein formale Technik naturalistischer Genremalerei als
ultramoderne Kunst anglotzte. Was hilft das Freilicht, wo
es weder Freiheit noch etwas zu beleuchten gibt! was der
Impressionismus, wenn die Impressionen nur aus überreizten
Nervensträngen stammen! Auch gab sich in dem inter-
nationalen Warenaustausch geistiger Güter, der im Zeichen
des Verkehrs auch die chinesischen Mauern französischer
und britischer Kultur mit exotischen russischen und skan-
dinavischen Werten überschwemmte, jener Eklektizismus
kund, der schon früh dem Jahrhundert der satten Erben
ein verschwommenes Gepräge aufdrückte.
In dieser ELinsicht scheint es lehrreich, auf eine philo-
sophische Schule den Blick zu werfen, die seit der Juli-
revolution in Frankreich schwarmgeisterte und der man den
Namen Eklektizismus verlieh, statt dies abscheuliche unred-
liche Gewäsch gröber beim Namen zu nennen. Victor Cousin
machte damit viel Furore. Wenn man ihn sowie eine
Abhandlung des einstmals gefeierten Schelling zu sich nimmt
und vomiert, fühlt man sich sogar in den dreistesten Aus-
schreitungen des naturwissenschaftlichen Materialismus wieder
wohl, etwas reinere Lüfte atmend, sofern nicht allzu
mephitische Dünste aus der Haeckelei aufsteigen. Herr
Cousin ging von der geschickten Prämisse aus, dass man
als Franzose zuvörderst den Franzosen schmeicheln und
daher vor dem Empirismus der Sensualisten sein Kompliment
machen müsse. Er behauptet daher, von Condillac auszu-
gehen, dem jeder Syllogismus nur eine kombinierte Sensation
war, und stützt sich angeblich auf die Beobachtung. Von
dieser aus will er jedoch zur deutschen Metaphysik zurück-
gelangen. In unglaublich sprunghafter Leichtfertigkeit
— 39 —
Beizt er der Passivität der Sensationen die aktive *,Per-
sonalitäf \ den Willen, entgegen, der natürlich „frei^^ ist und
freiwillige (!) Aufmerksamkeit anwendet. Über diesen
faits Yolontaires steht ausserdem noch die „Yernunft^^ die
in rein rationale Kategorien wie ein Mädchen aus der
Fremde hineinschneit, ohne Anmeldung woher sie kam.
Tiefsinnig äussert Schelling über diese ganze Eonfusion:
„Der letzte metaphysische Gipfel wird erreicht durch die
Yon der Vernunft dem Bewusstsein aufgelegte Notwendig-
keit, von den beiden limitierten Ursachen Ich und Nicht-
Ich zu der illimitierten wahren Ursache fortzugehen, die
jenem das Sein giebt und sie darin erhält'^ Dass er dieser
Platitüde wenigstens hinzufügt, es sei damit „nicht das
Geringste von Wissen verbunden'', erfrischt. Um den un-
säglichen Wirrwarr Cousinscher Deduktionen anzudeuten:
nach ihm „offenbart'' die Vernunft die Existenz der Aussen-
welt, während das einzige Verdienst des Sensualismus gerade
in dem Nachweis besteht, dass wir's durch die Sinne er-
fahren. Das nennt Cousin von Condillac ausgehen! Da
verfuhr der mystische Materialismus Saint-Simons und seiner
Schule, aus welcher die Systeme des Sozialismus sich ab-
leiten, entschieden logischer. Wie Cousin es aber mit den
Empiristen nicht verderben möchte und sich einen Positi-
vismus anlügt, so scheut er andrerseits entsetzt vor der
Unterstellung zurück, auch er vertrete Saint-Simons
pantheistischen All- Gott. nein, sein Gott sei nicht der
tote Gott der Scholastik: „Dieser Gott, von dem unser Be-
wusstsein zeugt, ist ebenso ideell wie reell, zugleich Substanz
und Ursache, Einer und Mehrere, Unteilbarkeit und Totalität,
Anfang, Ende und Mitte, unendlich und endlich.'' Das
könnte in der Baggavad-Gita stehen, nur schade, dass es
einfach unmöglich ist. derlei aus Cousins eigenen Prämissen
zu folgern. Was er gegen Spinoza äussert, dass dessen Gott
bloss Substanz und keine Ursache sei, ist gamicht unrichtig»
aber Spinozas Gott ist wenigstens logisch abstrahiert, während
der Cousins einfach aus der deutschen Naturphilosophie
entlehnt und einem ganz verschiedenen Lehrgebäude auf-
gepfropft ist. Indem der gewandte Franzose Hegels
,,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" plündert,
— 40 —
▼ersteht er andrerseits den Theologen um den Bart zu
gehen. ^Lasst sehen, welch Dogma ist von meiner Theorie
gefährdet r^^ ruft er ängstlich ans. Aber halt! Die Frei-
denker könnten das übel nehmen und so zieht er heftig
gegen das Bestreben los, die Philosophie zur Magd der
Theologie zu machen. Zuletzt findet er das klassische Wort:
„Der Qeist des 19. Jahrhunderts hat sich im
Eklektizismus wiedererkannt^^ Um sein Werk zu krönen,
empfiehlt er endlich die Monarchie mit der Konstitution,
die Aristokratie mit dem Parlamentarismus, just die reizende
011a Potrida, die wir so nahrhaft genossen und die in den
Kindereien von 1830 und 1848 als spartanische schwarze
Suppe von neuen Lykurgen angerührt wurde. Ja, der
ohnmächtige zweideutige mantelträgerische marklose Eklekti-
zismus als Greist des Jahrhunderts . . mit dieser schönen
Selbsterkenntnis wollen wir seinen Ruhmestempel betreten.
--e>{i}^
Der letzte Ideologe: Lamartine.
Alphonse hiess er auch. Das klingt doppelt yornebm
bei einem adligen Namen. Es versteht sieb, dass nur eine
Elvira dazu passte, obscbon sie im gewöbnlicben Leben
minder ansprucbsvoU Julie biess. Der Name Alpbonse be-
kam später im Pariser Spracbgebraucb, der alles Strablende
zu schwärzen liebt, einen Übeln Beigeschmack. Aber dieser
Alphonse de lAmartine hatte es gar mit der platonischen
Liebe. Seine Elvira und Graziella wurden ihm mystische
Jesusbräute, nur mit der kleinen Abweichung, dass Alphonse
selber jesusartig sich anbeten Hess. Da jedoch Abwechselung
des Lebens Würze bildet, so wandte er sich später anderen
transzendentalen Bräuten zu, welche er Freiheit und Huma-
nität benannte. Mit dem gleichen selbstgefälligen Eifer wie
früher den Mirakeln der katholischen Kirche huldigte sein
frommer Schwung den antikirchlichen Idolen. Das kirch-
liche Christentum musste um ihn trauern, wie über den
^Starz eines Engels'', den er so sachkundig beschrieb, und
eitel Frohlocken herrschte unter den Schlachtreihen der
revolutionären Demokratie, als er seine tönenden Phrasen
auf ihr Banner schrieb. Denn seine Phrasen besassen all-
zeit eine verblüffende Ähnlichkeit mit übersinnlich über-
menschlicher Inspiration und seine hochragende Erscheinung
mimte den übersinnlichen Übermenschen mit täuschender
Oeschicklichkeit
Lamartine trat ins Leben unter massig günstigen um-
ständen. ' In der halbgermanischen Bourgogne als Sprössling
eines armen Kleinadels aufgewachsen, durchlebte er die
Stürme der Revolution und des Empire in dem üblichen
— 42 —
Dunstkreis beschränkter Verbissenheit, worin legitimistiscbe
Edelleute, ob emigriert oder nicht, sich vor der neuen Zeit
▼erschlossen, soweit nicht napoleonischer Kriegsruhm sie zur
nationalen Trikolore verlockte. Die alte Kirche, das alte
Königtum, der alte Adel, vor solchen Heiligtümern kniete
des jungen Sängers Seelenleben. Von der beispiellosen
Gewaltigkeit der Weltumwälzung sah er nur die hässliche
Aussenseite, die Abkehr vom verschwommen Schwärmerischen,
was er und seinesgleichen allein für Idealität halten, das
grell Positive, frech Brutale durchgreifender Naturkraft.
Freilich, treffend geisselte er später in einem Auf-
satz (vielmehr einem berühmten Vortrag, der nachher in
Druck ging) „Die Schicksale der Poesie" jenes Zeitalter, aus
dem wir heutigen entspringen. Jedes« seiner Worte passt
vielleicht noch genauer auf das Ende des Maschinen-
jahrhunderts wie auf seinen Beginn: Alles poetische und
ideale Empfinden sei gewaltsam erstickt worden, nur Zahl
und Gewicht, nur Säbel und Gold, nur Stoff und Kraft
hätten regiert. Der Gute übersah, dass die scheinbar trockene
Regelmässigkeit der Gleichheitsdemokratie in Napoleons
Staatsgebäude, über dessen angebliche moralische und geistige
Abscheulichkeit nachmals umgekehrt ein richtiger Sohn dieser
naturwissenschaftelnden Demokratie, nämlich Taine, so
viel geistreichen Unsinn zusammenschwätzte, aus trunken
dithyrambischer Unregelmässigkeit entsprang. Grossartigste
vulkanische Entladung versteinerte hier gleichsam in maje-
stätischer Starrheit und deutlicher tönte nie der Atem des
Weltgeistes, als aus dem erobernden Marschtritt dieser
straffen cäsarischen Legionen. Die Nüchternheit einer Ziffern-
berechnung, die einen Wunderpalast wie aus Tausendund-
einer Nacht gleichsam über Nacht hervorzauberte, den Druck
eines Gewichts, das eine morsche alte Welt aus den Angeln
hob, die Roheit einer eisernen Rauheit, die auf Adler-
schwingen von den Pyramiden bis zum Kreml flog, wird
man sich wohl gefallen lassen. Auch dann, wenn man die
Dinge nur vom kleinlich ästhetischen Standpunkt misst, wie
ein mit Worten hausierender Barde. Mit Lavendelwasser
machte man freilich nicht die Revolution, sondern mit
Strömen von Blut, auf Schäferschalmeien blies der Imperator
— 43 —
•
nicht, sondern auf Trompeten. Aber sie schollen wie Po-
saunen Yon Jericho, vor der alle Mauern bröcklicher Zwing-
burgen einstürzten, und Posaune und Orgel pflegen er-
greifendere Musik zu machen, als Flöten und Zimbeln. Aus
Napoleons eiserner Schlachtenorgel nicht solch gute Bachsche
Musik, solche Beethovensche Heroica herauszuhören yer-
mochte nur ein verdumpftes, mit reaktionärer Watte von
Mummelgreisen und Tanten verstopftes Ohr. Man täusche
sich also nicht über die Strömung, aus welcher Lamartine»
poetischer Weltruhm emportauchte. Platte Ermüdung weich-
licher oder spiessbürgerlicher Gemüter, die sich an Hirten-
idyllen und weinerlichen Elegien wieder aufrichten wollten,
weil die schwungvollen Heldengedichte heroischer Tatkraft
sie niedergedrückt und sich ihrem Kleinheitsverständnis ent-
zogen hatten. Dies nannte man Auferstehung des Poetischen
und Idealen, als ob heroische Epen nicht allzeit für eine
höhere Form der Poesie gegolten hätten, als Schäferspiele.
Daneben die niedrigste Gesinnung lumpiger Interessenpolitik^
das Aufatmen aller Ruinenmolche, dass der reinigende Orkan
vorüberbrauste und man im alten Unrat sich wieder heimisch
machen konnte. Das Ancien Regime, obschon zu Tode ge-
troffen, behauptete mit greisenhaftem geschminkten Schmun-
zeln, dass es sich des altbeliebten blühenden Lebens erfreue,
und tanzte einen Cancan der Reaktion, wie verlebte Greise
mit zittrigem Menuettschritt einen Polterabendball mit einer
jungen Schönen veranstalten. Diese neue junge Welt der
siegreichen Demokratie ward vergewaltigt ins Prokrustesbett
der alten legitimistischen Ausbeutung zurückgeschleppt und
das, was Buckle später so treffend den Bevormundenden
Geist nannte, drapierte sich wieder mit den bekannten
Phrasen seines angeblichen historischen Rechts. Auch die
heilige Messe war wieder Trumpf und der Jesuiten schwarze
Leibgarde umgab schützend die Throne der unheiligen
Allianz, die sich als „heilige'^ taufte, mit dem alten geweihten
Rüstzeug der Verdummung. Aberglaube und Knechtschaft
woben zähe Ketten; Autorität von König und Kirche^
Junker und Pfaffen, hiess wieder moralische Welt-
ordnung und plünderte von Gottes Gnaden dies irdische
Jammertal.
— 44 —
Aber es fehlte noch etwas: fast alle Bildangselemente
standen auf der anderen Seite. Der korsische Koloss ent-
hüllte erst im Sturze, da er am Boden lag, seine volle
Biesenhaftigkeit und tiefere Bedeutung. Orade dort, wo das
Volk alleine Berechtigung zu subjektiver Erbitterung wider
den Imperator fühlte, in Deutschland, ja in Preussen fragte
man sich, was man mit seiner Beseitigung gewonnen habe,
ob die sogenannten Befreiungskriege ihrem Namen entsprächen,
ob nicht noch mehr innere und äussere Freiheit jetzt ver-
loren gehe, denn je zuvor unter dem Weltreichjoch. Die
innere vereitelte hochfürstlicher Treubruch, die äussere das
perfide Oaukelspiel eines europäischen Gleichgewichts, das
für Deutschland und Italien mit dauernder Zerstückelung
und Abhängigkeit zusammenfiel. Der bittern Enttäuschung
über Bückkehr des alten Feudalschwindels, nachdem man
dessen Ausmerzung durch Napoleon sich danklos gefallen
liess, seine Wiederkehr aber naiverweise für undenkbar
hielt, paarte sich patriotischer Ingrimm über Lähmung aller
nationalen Einheitsbestrebungen, deren Erfüllung durch Ab-
schüttelung der Fremdherrschaft verheissen war. Mangel-
hafte Geschichtsforschung entstellte überhaupt das wahre
Gesicht der deutschen Volksseele in den Anfängen des Jahr-
hunderts. Von der angeblichen Fremdtümelei und Fran-
zosenliebschaft fand sich bis zur Schlacht von Jena keine
Spur, wohlgemerkt auch nicht in süddeutschen Bheinbunds-
staaten. Mit Sehnsucht erwartete man überall Napoleons
Niederlage durch Preussen. Auch nach dem betäubenden
Eindruck der völligen Niederwerfung deutscher Mächte
gährte noch zur Zeit der Aspemschlacht allgemeiner Er-
hebungsdrang in allen deutschen Gauen, ja selbst im
Zenith des Empire warnte Beichsverweser Davout unauf-
hörlich vor der drohenden Stimmung. Wenn Bheinbunds-
satrapen und ihr Anhang für den erhabenen Protektor
schwärmten, so bewahrten doch selbst in diesen Kreisen
die Kronprinzen von Bayern und Württemberg stolze Hal-
tung und Gesinnung, besonders der Erstere, was dem
schrullenhaften, aber originalen und idealangelegten Manne
nie vergessen werden soll. Nun aber umgekehrt nach Na-
poleons Fall irrt herkömmliche Auffassung völlig über die
— 45 —
angebliche Verdumpftheit und Betörung des „befreiten"
Volkes, als ob es die Wiederkunft der alten Augiaswirt-
schaft geduldig ertragen habe. Das gemeine Geschimpfe
über den korsischen Wüterich und der biersaufende Fran-
zosenhass mussten sich gar bald in die Eonventikel der
Turner und Deutschbündler flüchten, wo aber gleichzeitig
ein „liberales" und „nationales" Empfinden sich kundgab,
das den Besiegern Napoleons nichts Gutes versprach. Es
gehörte zur weltgeschichtlichen Ironie der Epoche, dass diese
guten dummen Jungen mit ihrem Napoleons- und Fran-
zosenhass, ihrer cheruskermässigen altdeutschen Bären-
häuterei, die am liebsten mit Hermann im Teutoburger Wald
Eicheln gefressen hätte, und ihrer deutschen Treue für an-
gestammte Gebieter alsbald in die Acht getan und als re-
volutionäre „Demagogen" verfolgt wurden. Daneben aber
erhoben sich Stimmen, freier und lauter als man gewöhnlich
wähnt, die über Vermummung der Reaktion in verzerrte
Deutschtümelei spotteten, mit der Restauration scharf ins
Gericht gingen und den Napoleonkult neu belebten. Vordem
sprachen Körners und Kleists Racheverso der Nation aus
der Seele, wie es denn mit unserer kosmopolitischen Welt-
bürgerei nie so weit her gewesen ist, um nationale Würde
ganz zu vergessen, und eigentlich nie eine Franzosenliebe,
sondern nur eine Napoleonbegeisterung in Kreisen deutscher
Gebildeter und Soldaten gegeben hat. bei beiden meist aus
idealen und objektiven Regungen hervorgegangen. Nun
aber stand Platens Spottvers über die Befreiungskriege der
Baschkieren und Kosaken wahrlich nicht allein und dem
damals in Europa volkstümlich verbreiteten Byron riefen
Millionen auf Millionen nach: „Ward der Leu nur gefällt,
damit Wölfe freie Pirsch haben?" „Hier fiel der Grösste
und nicht der Schlimmste der Menschen." Am ärgsten
prägte sich demokratisches Fühlen merkwürdigerweise in
Preussen aus, bis in höchste Stände hinein. Prinz Wilhelm
von Preussen« der spätere Kaiser, klagt wehmütig in einem
Briefe, dass Preussen ganz von jakobinischem Geiste ver-
seucht sei, dass man umsonst „die Revolution 1814 und
1815 niederschlug." Ein Fingerzeig für alle Verblendeten,
die Napoleons geschichtliche Sendung immer noch fälschen
— 46 —
oder nicht begreifen wollen. Allen Monarchen, Jankern und
Pfaffen Europas hiess die Revolution: Napoleon. Oenarrte
Völker mit ihren „liberalen" Schwätzern an der Spitze er-
kannten zu spät, was sie angerichtet Für Napoleons An-
denken ward das Martyrium von St Helena zur Gloriole.
Ja, es steht fest, dass man schon 1815 nur eine sehr
kümmerliche Anteilnahme für den neuen „Befreiungskrieg^^
sogar in Preussen aufbrachte. Der gesunde Yolksinstinkt
wusste schon nach dem ersten Pariser Frieden, wen
man „befreien" sollte, wessen Kriege man gegen den
„grossen Tyrannen" schlug. Aber noch flammte die Hoff-
nung auf, Preussen-Deutschland könnten jetzt am £nde
nachholen, was im Vorjahr versäumt Da aber nun Eng-
land, das bei Waterloo durch Preussen gerettete, sich nicht
minder perfide und undankbar erwies, als die treue turm-
hochstehende Bundesfreundschaft des Zai*ismus, da erlosch
in dumpfem Groll und entrüsteter Verzweiflung bei allen
Vernünftigen die letzte Hoffnung. Bald sollte man auch
inne werden, dass Metternich und Zar den eigentümlich
demokratischen Geist der Gneisenau, Bülow, Boyen und
Grolmann, nicht zu vergessen den herrlichen Scharnhorst
und den nie genug zu verehrenden Beichsfreiherm Stein,
diesen Stein des Anstosses für alle Feudalen wie alle un-
gesunden Demagogen, nicht dulden konnten. Das hatte mit
seinen Siegen das neue Volksheer getan, über dessen Land-
wehr natürlich die Junkeroffiziere den steten Unrat ihrer
Eastenvorurteile ergossen. Der Erstürmer des Grimmaischen
Tores, Friccius, eine der vornehmsten Gestalten dieses ma-
teriell darbenden, aber wahrhaft kraftreichen Zeitgeschlechts,
liefert dafür in seinen Erinnerungen die abschreckendsten
Zeugnisse. Er selbst, als Generalauditeur der Armee, sollte
seinen Abschied nehmen, mit ihm seine Bäte, weil er
bei Demagogenriecherei nicht mittun wollte. Blücher aber,
der dämonische Idealist in rauher Maske, hielt den Linien-
offizieren, die von ihrem Siegesbankett die Landwehrkame-
raden ausschlössen, eine zornrote Standrede und brachte in
Karlsbad den Toast aus: „Ein Hoch dem Schwarzenberg,
der zu siegen verstand, obschon er drei Monarchen im Lager
hatte.^^ Was war auch von einem Berserker anders zu
— 47 -
erwarten, der zu Begina des heiligen Krieges die Prokla-
mation erliess: „Für Freiheit und Vaterland/^ statt des alier-
heiligsten Feldrufs ,,Mit Qott für König und Vaterland", ja
der 1809 seinen Abschied forderte, sintemal er erst in zweiter
Linie preussischer Offizier, in erster ein Deutscher sei,
and der im unvergesslichen Priyatbrief an Scharnhorst sein
letztes Wort sprach: „Wenn die Fürsten nich mitdhun wollen,
müssen sie mit dem Bonaparte alle zum Land hinaus-
gejaget werden!*' Und das wollte ein Mecklenburger Junker
sein! schon frühe gährte in dem ungebildeten tollen
Husaren, dessen derb realistischer Sinn natürlich sonst im
Altvaterischen wurzelte, der unbewusste revolutionäre Sauer-
teig, als er die gefangenen Republikaner in der Rhein-
kampagne mit Achtung behandelte und als Kommandierender
die Anrede „Sie" statt des famosen „Er" einführte. Diese
merkwürdige demokratische Entwickelung in Preussen über-
rascht nur den, der in jener Legende vom Junkerstaat be-
fangen blieb, dessen Zusammenbruch bei Jena man bejubelt
Eine solchen Junkerstaat gab es weder in Preussen noch
in Österreich, wo weit eher die Bureaukratie regierte: ihn und
den wirklichen Militarismus, wie ihn gerade Napoleon gründ-
lich niederhielt, kennt erst die heutige gesegnete Generation.
Man braucht nur das königliche Reskript von 1803 zu
lesen, wo den Offizieren mit Schärfe vorgehalten wird, dass es
überhaupt keinen „ersten Stand" gebe und der steuerzahlende
Bürger den „Rock des Königs" allein bezahle wie auch den
König selber. Schon der hohe Bildungsstand in Berlin
hinderte jene scheusslichen Keime, die erst später in der
Reaktionszeit aufgingen und ausschliesslich im ungebildeteren
Teil des Militäradels (durchaus nicht des ganzen) wucherten,
dessen Typ etwa der so lächerlich überschätzte York, selbst
von zweifelhafter und abenteuerlicher Herkunft, auf welchen
auch Schöns Memoiren kein freundliches Licht werfen.
Doch ein Gneisenau, dessen berüchtigte Denkschrift von
1811 geradezu Einführung eines Milizsystems und Demo-
kratisierung aller Wehrmacht empfahl, stand leider nun
obenan. Argwohn aller politischen Dunkelmänner der
heiligen Allianz richtete sich gegen dies Preussen von Belle
Alliance, das ganz einfach, um es rund heraus zu sagen.
— 48 —
geistige Yormacht alles dessen wurde, was die Reaktion
„Revolution'' nannte. So ward der vernünftige, redliche
und vomehmdenkende Friedrich Wilhelm ÜL, der einzig
anständige und tüchtige Mensch unter dem Fürstengeschmeiss
jener Epoche, in die Formen des Polizeistaats hineingehetzt,
die unserm gewaltigen Preussen so viel Kraft wegsogen und
deren verderbliches Gift noch heut im Staatskörper schleicht,
bis eine revolutionäre Aussatzkrankheit es endgültig ab-
stossen wird. Früher antwortete der schlichte Mann auf
eines Majors devote Untertänigkeit: „Meine Söhne sind alle
für Ew. Majestät gefallen" erschrocken: „Nicht für mich,
das nicht annehmen können! für das Vaterland!" Jetzt
liess er sich, der sonst so Wahrheitsliebende, die Mythe vom
Heldenkönig gefallen, dessen Aufruf an sein Volk aller-
gnädigst die „Freiheit" brachte. Doch es half alles nichts,
nur Gesindel diente dem Liockruf der Reaktion. Selbst
der treuherzige Teutone Arndt, der sich zum ,.patiiotischen"
Bratenbarden zu eignen schien, und der knorrig eitle Turn-
vater Jahn hiessen jetzt Demagogen. Der Gott, der Eisen
wachsen liess, wollte allerdings keine Knechte . . aber nicht
bloss Franzosenknechte, sondern auch Fürstenknechte
fühlten sich davon getroffen! Was ist des Deutschen
Vaterland? So weit hundert Potentatchen ihre angestammelte
Wirtschaft treiben im Schutze der teutschen Treue. Dieses
ist die einzig berechtigte deutsche Eigentümlichkeit. Aber
ein Deutschland von dem Rhein bis an die Weichsel, von
den Alpen bis zum Belt, — das fehlte gerade noch! Für
diesen geographischen Begriff haben wir ja den „Deutschen
Bund", diese echtdeutsche Auferstehung des Rheinbundes,
diesmal nur unter k. k. Metternichtigem Protektorat. Kurz,
Bildung und verwerflicher Idealismus atmeten überall ver-
dächtige Gesinnungen. Sogar Minister von Goethe, Exzellenz,
sonst ein submissest konservativer Herr, vergass sich so weit,
eine den korsischen Parvenü beschimpfende Hofgesellschaft
anzudonnern: „Lasst mir meinen Kaiser zufrieden!"
Freilich hatte man ja eine Romantische Schule, — ohne
Schule tuts der Deutsche nicht! — des Rückwärtsschauens
durch gefärbte Gläser in ein unmögliches Mittelalter biederer
Ritter, frommer Mönche, keuscher Edelfräulein, ein Reich
- 49 —
der Gottesfurcht und Sitte voll urteutscher Treue. Dieser
poetische höhere Blödsinn, erglühend für Ordnung, Orden
und Sittlichkeit, ekelte auf die Dauer selbst die Teutschesten
der Teutschen an und seh warmgeisterte nur noch in
Teesalons. Ausserdem, was wollte damals nnsre aufs eigene
Sprachgebiet beschränkte Literatur für Europa bedeuten!
Der berühmteste, populärste, an Genie riesenhaft über alle
Hitbewerber wegragende Sänger bediente sich als Lord der
englischen Weltsprache und predigte offenkundig Bebellion.
Dieser röteste Bevolutionär zuckte sogar sein Missolunghi-
schwert gegen die legitimsten Baubtierrechte der Osmanischen
Majestät, kein SHeinod der sittlichen Weltordnung blieb ihm
heilig. Und selbst der konservative milde Manzoni, glich
seine Napoleonsode nicht verzweifelt einer Apotheose des
schändlichen Parvenüs? Wo ein Gegengift finden, wo
Balsam für so viel kecke Dolchstiche unehrerbietiger Geister,
wo einen vom heiligen Geist erleuchteten Dolmetsch des
Autoritätsschwindels, der poetischen Firlefanz um nackte
Gemeinheit winden könne? Und siehe, der dichterische
Messias kam.
Jung Alphons lebte bis dahin tief im Dunkel. Nur die
beiden sogenannten Philosophen der Beaktion, Xavier de
Maistre und Bonald, wussten von seiner vielversprechenden
Existenz. Bonald wusste noch etwas mehr, dieser ehr-
würdige Denkergreis schaute patriarchalisch zu, wie seine
junge Frau Julie den Piatonismus ihrer Schwindsucht mit
Alphons auf dem Genfer See spazieren führte. Lamartine
hat uns ja mit dem hochtrabenden Schwulst dieses reinen
Verhältnisses bis in jede Einzelheit bekannt gemacht, man
moss seine Werthernovelle „BafaeP^ lesen als Kommentar
zur sublimen Erotik jener Yersbücher, die als „Meditationen^^
und „Neue Meditationen^ die europäische Salongesellschaft
bezauberten. Der junge Unbekannte, nur als Gehülfe bei
einer kleinen Gesandtschaft kraft seines Adelstitels unter-
gebracht, erwachte wie Byron eines Morgens und fand, dass
er berühmt war. Wie hatte er nicht diesen Peer von
Grossbritannien beneidet, den er am Genfer See — dem
„See", dem sein nun weltberühmtes Gedicht nach Bousseau
und Byron neue Beize abgewann — aus der Ferne sah im
Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhundert«. 4
— 50 —
Train de Laxe seiner Lordschaft und seiner weltweiten
Gelebrität ! Als den Ossian der Hyperkultur glaubte er ihn
zu erkennen und malte sich jenen bizarr yerlogenen spleenig
phantastischen Byron aus, den damaliger Oeschmack nach
dem eigenen Bilde dieses posierenden zerfahrenen Jung-
europas zuschnitt und der heut noch in der Legende spukt
Wahrscheinlich fand Lamartines Dünkel niemals Müsse,
ernstlich Byron einer eingehenden Lektüre zu würdigen,
und in seiner späteren „Grösse^^ empfand er es vermutlich
als Beleidigung, wenn Musset ihn ansang : „Quel aigle,
Ganymöde, ä ce dieu vous portait?^' Er, er, Monsieur de
Lamartine , ein Ganymed, der sich zum Gott Genius empor-
schwang? Er, der selbst als Jehova mit den Adlern spielte!
Seine Jünglings-Meditation „An Lord Byron", ein rhetorisches
Paradestück voll hohler Tiraden, wandte sich schon mit
dem Predigerton christgläubigen Hochmuts an den Über-
menschen. Mit dem andern grossen Zeitgenossen fand die
vielbewunderte „Ode an Bonaparte", übrigens ein ausge-
zeichnetes Gedicht, sofern man dabei pathetisch didaktische
Bhetorik als Poesie gelten lässt, sich etwas weniger kindisch
ab: er scheute sich nicht am Schluss zu fragen, ob
nicht solche Grösse am Ende vor Gott auch eine Tugend
sei. Wenn er auch lächerlicherweise vorm'Schatten Enghiens,
eines mit Fug und Recht nach Gesetz dem Tode ver-
fallenen Verschwörers und Vaterlandsverräters, Napoleons
Gewissen auf St. Helena erzittern Hess, so konnte ein feiner
Aufhorchender doch schon hier einen ünterton vernehmen,
der durchaus nicht zur royalistisch- klerikalen Maskerade
passte. Auch der rechtgläubige Katholizismus des Autors
ging durch seltsam pantheistische Schmelzungen hindurch.
Aber das machte gerade den Beiz aus. Hier bekannte ein
scheinbar hochgebildeter, scheinbar original denkerischer
Mensch sich zu Erone und Ereuz, man brauchte also nicht
revolutionär zu werden, um auf literarische Bedeutung
Anspruch zu erheben. Welch ein Triumph für die Reaktion !
Ein Weltschmerz, der sich in den Beichtstuhl flüchtete, eine
abgeklärte Seelengrösse, die sich demütig- eitel mit dem
Krönungsöl von Rheims den zerwühlten Schädel salbte, ein
keuscher Idealismus, der sich malerisch vor dem Spiegel
— 51 —
drapierte — auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege
entsprach das müde blasierte Jahrhundert seinem dringendsten
Bedürfnis und für seine ganze erste Hälfte bleibt diese Mischung
steifer akademischer Klassizität und pomphaft sonorer Pathetik
mit innerer Zerrissenheit und Unruhe vor- und sinnbildlich.
Für die Franzosen, Gesellschaftsmenschen par ezcellence,
kam noch die angebliche Neuheit der Naturbetrachtung hinzu.
So lange gewöhnte man sich, einen See höchstens als tak-
tisches Objekt bei Zürich und Austerlitz zu werten, dass es
als funkelnagelneue Entdeckung begrüsst wurde, als „Le Lac^^
sozusagen eine eigene Stimme gewann. Diese nach unsem
Begriffen ziemlich frostige Naturbeschreibung klang dem
Faubourg St Germain als erfrischendes Säuseln der Winde
und Wogen. Natur, o Natur! seufzten sämtliche Gecken
und Modedamen. „Souvent sur la montagne ä l'hombre du
Tieux ebene au coucher du soleil tristement je m'assieds,^'
welcher Dandy Hess sich solch malerische Positur ent-
wischen! Man konnte also byronische Grimassen schneiden,
erhabene Leidenschaften im seidenen Busen wälzen, ohne
abtrünnig vom guten Ton der konservatiTen Gesellschaft
abzufallen. Wie prächtig! Ausserdem war dieser grosse
neue Dichter frommer Begeisterung auch darin ein würdiger
Rivale des satanischen Kainsängers, dass er eine seltene
männliche Schönheit besass, distinguiert und aristokratisch
bis in die Fingerspitzen. Selbst der ironische Benjamin
€onstant, den „ce bien ideal que toute äme d^sire et qui
n'a pas de nom au terrestre s6jour^^ gewiss sehr kalt liess
und dem ein späterer beissenderVersSainte-Beuve's „Lamartine
Ignorant qui ne sait que son äme'^ auf der Lippe schwebte,
versicherte Herrn Alphonse de Lamartine in einem Salon, dass
er nur bei Goethe ähnliche Reinheit und Frische des Em-
pfindens antraf. Nun braucht man bloss Goethes Hymnus
„Verteilet auch nach allen Regionen'^ mit den meisten
Hymnen und Harmonien des französischen Phraseurs zu
vergleichen, um den Unterschied wahrer Dichtung von wohl-
tönender Rhetorik festzustellen. Diese verlässt ihn selbst
dort nicht, wo er sein Vaterhaus beschreibt: „Et ce foyer
ch6ri ressemble aux nids d6serts, d'oü l'hirondelle a fui
pendant de longs hivers.^' Allein, bei solch allgemeiner
— 52 —
AbschätzaDg darf man nie ausser Acht lassen, dass ein Yers-
lyriker in gewissem Sinne nur seiner Nation gehört Mag
ein höherer ästhetischer Standpunkt den französischen und
überhaupt den romanischen Geschmack für eine unter-
geordnete Stufe poetischen Vermögens halten, der objektiv
Prüfende fragt sich, ob eine Form, die wir verwarfen, aus
dem inneren Styl der betreffenden Muttersprache entspringt.
Dies scheint bei Lamartine in besonderem Grade der Fall.
Musset und Hugo holten noch mehr Glanz und Wucht aus
dem gallischen Idiom heraus, auch bei ihnen aber waltet
vor, was wir im wesentlichen Rhetorik nennen, und beide
übertrifft Lamartine in Reinheit und Eleganz des Versflusses.
Melodischer und schwungvoller sang noch keiner, aber
Melodie und Schwung sind nur Requisite der wahren Dich-
tung, die erst gestaltend sich auslöst. Bei Lamartine gibt
es meist nur äussere Plastik der Verse, alles übrige ist leb-
los, starr und kalt, abstrakte Reflexion, mit elegischer Senti-
mentalität oder Eanzelpathos gewürzt Allerdings suchte er
im tragischen Idyll „Jocelyn'* zu epischer Gestaltung sich
afuzuraffen, blieb aber auch hier meist in lyrischer Stim-
mung stecken, obschon es hier an wirklichen Schönheiten
nicht mangelt und die öde Rhetorik und Didaktik, die einen
erheblichen Teil seiner Gedichtbände, auch der „Receuille-
ments'^ und „Harmonies", ausmacht, hier Abschied nimmt
„Ossian, Ossian! Lorsque plus jeune encore je revais des
brouillards et des monts dlnistore^\ bekennt er übrigen»
auch hier seine Anempfindung fremder Unklarheit. Der
feinsinnige, obschon gan2 in französischem Geschmack be-
fangene, Lemaitre stellt das allgemein als misslungen be-
zeichnete allegorisch -phantastische £pos „Der Fall eines
Engels" noch höher, wie er denn Lamartine überhaupt zum
grössten französischen Versdichter ernennt und den Begriff
Genie hier missbräuchlich im Munde führt. Wir sind zwar
glücklich, bestätigen zu können, dass in den „Harmonien^'
sich Stellen von erhabener Gewalt der Sprache und des Ge-
dankenschwunges finden, aber daneben auch hier viel taube
Nüsse schwerer Verworrenheit. Fügen wir hinzu, dass der
grosse Versmeister auch im Prosastil seiner Aufsätze und
seiner Ich-Novellen „Rafael'' und „Graziella" alle Süsse und
— 53 —
Feinheit, deren französische Sprache fähig, verschwenderisch
ausstreute, so haben wir sein schmales poetisches Gepäck,
mit dem er die Reise in literarische Unsterblichkeit so zu-
versichtlich antrat, genügend durchmustert Kein Dichter
hat mit so Wenigem eine solche erste Rolle bei Lebzeiten
gespielt, keiner mit so Geringem so ungemessene Ansprüche
erhoben. Ich, ich allein bin der inspirierte, von Jehova selber
auserwählte Sänger! tönt es endlos zwischen den Zeilen
dieser glanzvollen Wortberauschung hervor. Seine masslose
Eitelkeit traktierte den genialen Musset als „Kind mit blonden
Haaren,^^ und machte sich förmlich lächerlich in den an-
mutigen Yersen „An ein junges Mädchen, das Haare von
mir verlangte.^^ Unglücklicher Lamartine! heut wünschen
wir nicht mal seine Yerse mehr.
Zu geringschätzig als Grandseigneur, zu generös als
christlicher Almosenspender, um geregelte Einkünfte zu be-
wahren, versteigerte er seinen Namen und Ruhm an eine
reiche Engländerin, mit der er im übrigen eine Musterehe
führte. Als er trotzdem in finanzielle Nöte kam, da ein
von Jehova selber inspirierter Dichterfürst auch äusserlich
als Fürst auftreten musste, bezahlte die Nation mehrmals
seine Schulden.
Faust, der kein Gretchen vorführt, sondern sein Welt-
weh in den Schoss einer Millionenheirat rettet — wie
zog das Ewigweibliche ihn doch hinan! Seine kalte und
gezierte Keuschheit galt als seraphische Tugend voll Liebe,
Glaube, Hoffnung. „So vermengte Frankreich die Hoffnung
mit dem Glauben^\ kennzeichnet Brandes („Die Reaktion in
Frankreich'^) nicht übel die Lamartinemode. Wenn John
Stuart Mill einmal von modernen Menschen verlangt, „tätigen
Anteil am öffentlichen Leben zu nehmen^\ so betrieb dieser
moderne Psalmist sein Yersemachen als öffentliche Tätigkeit.
Er glaubte einen wühlend aushöhlenden Strom flammender
Begeisterung ins Bett fester Form zu zwängen und seelisches
Metall, zu edlen Gebilden erstarrt, in goldene Kunst um-
zugiessen. Doch das Metall war brüchig und die Flamme
meist nur Bruthitze eines Backofens. Der boshafte St Beuve
erklärt („Montagsplauderei", 29. Oktober 1849) die Prosa-
umschreibung früherer Yersstimmungen, wie der alternde
— 54 —
Dichter es im „BafaeP^ beliebte, für unwahrer und falsch-
pathetischer als die einstigen Strophen. Gewiss! Diese un-
leidliche Affektation fühlte sich nur wohl in der Draperie
feiner Yersgespinnste. Übrigens fehlte auch seiner so
reizenden Form die Eigenart. Selbst die leichte Rhytmik
eines salomonischen Liedes „Ainsi qu'on choisit une rose
dans les guirlandes de Sarons^^ machten ihm die Ghor-
gesänge der beiden Bibeldramen Racines vor. Ja, wenn
dieser würdevoll steife Klassiker seine klösterliche Jugend-
erziehung besingt „Je vois ce cloitre v6n6rable", tut er uns
seelisch wohler, als die grenzenlose Sentimentalität schmach-
tender Sehnsucht nach „ewigem Frieden^^, ohne den Kampf
zu kennen, unseres modernen Jahrhundertverwandten. Natur-
liebe? „Un seul etre vous manque et tout est d6peupI6.'^
Alle Grotten und Haine haben nur wiederzuhallen: „Tout
disent, ils ont aim^s." So macht sich überall das Ich mit
beschränkten Regungen breit, dürftig und bedürftig. —
Wir haben uns nicht enthalten, ironische Töne anzu-
schlagen, wozu sein Dichten wie seine Person reichlichen
Anlass geben, aber so wenig sympathisch seine Erscheinung
in beiderlei Hinsicht, wollen wir keine Ungerechtigkeit und
keinen Zweifel darüber bestehen lassen, dass er unter den
Repräsentanten des Jahrhunderts wahrlich nicht die schlechteste
Figur macht. Wie in seinem Dichten, so masslos überschätzt,
doch gewisse Saiten anklingen, die ein respektvolles Gehör
heischen, so hat auch seine Persönlichkeit trotz ihrer gecken-
haften und unbewusst unwahrhaftigen Auswüchse einen
gewissen grossen Stil. Wer sich den schönen Lamartine
etwa als einen zierlichen Salonlöwen vorstellte oder einen
seraphischen Schmachtlappen, täuschte sich ungemein. Nie
gab es eine männlichere vornehmere Schönheit als die dieses
stolzen Kopfes und dieser ritterlichen Gestalt. Jn jede
Geste, jeden Zug dieser stattlichen Erscheinung schrieb die
Natur gelassen das grosse Wort : Edelmann. Nichts an ihm
war gemein und kleinlich, Höflingsservilität und Bigotterie
lagen ihm fern, als Bourbonismus und Klerikalismus ihn
zum Laureaten krönten. Seine Unwahrhaftigkeit, wohl zu
unterscheiden von berechnender Heuchelei, beschränkte sich
auf Verwechselung überspannter Hochgefühle, die nur dem
— 55 —
Hirn am Schreibtisch entsprangen, mit wirklichen „Schauungen'\
wie der Buddhist es nennt, eines erlösten Herzens, sowie
auf glattpolierende Zustutzung seiner geschraubten Gott-
seligkeit, als ob jemand beim Beten übers Kruzifix weg in
den Spiegel schiele. Überall Pose. Wer lacht nicht ärgerlich,
wenn er einem seiner besten tragischen Gedichte die Note
hinzufügt: „Ich habe diese Yerse nie wieder gelesen, es war
genug sie geschrieben zu haben !'^ Wer lacht nicht, wenn
er von Rafael, seinem Alter Ego, versichert, dass er Romeo
und Julia oder Don Juan und Haidee geschaffen haben
würde, was nun freilich schon vorweggenommen war! Eine
tollere Verkennung seines wirklichen Ranges hat noch kein
Dichter zweiter oder dritter Ordnung wie er gewagt. Aber
darum darf man noch nicht blind sein für die unleugbare
Seelenkraft des eigenartigen Mannes und die Selbstberauschung
seiner Überzeugungen an sich. Seine Weihestunden waren
nicht immer ein Wahn, etwas Prophetisches und Über-
sinnliches trat manchmal ihm nahe, und selten seit den
Indischen Yeden hat jemand für die letzten Seufzer und
Aufschwünge eines Gottsuchers so machtvollen, öfters tief-
sinnigen, mitunter sogar blitzesklaren Ausdruck gefunden.
Das katholische Dogma freilich gingbei solchem Gottsuchen
bald in die Brüche, das Christentum verflüchtigte sich
immer mehr zu einem Deismus, der zuletzt pantheistischer
Theosophie glich. Und siehe da, plötzlich verschwanden
Christus, Kirche, Royalismus wie eine Theaterdekoration und
ein richtiger Demokraterich kam zum Vorschein, wie er
derlei früher so gern als Sprössling Lucifers gebrandmarkt
Und nun wirtschaftete er selber in luciferischem Revolutions-
stil, schrieb die Geschichte der Girondisten, die ihn wiederum
zum Herold einer ganzen Zeit machte, ward 1848 Präsident
der Republik. Von dem Girondistenbuch ist an sich nicht
viel zu sagen. Mit grossem literarischem Talent geschrieben,
sonst ganz ungründlich und oberflächlich, versucht es die
1848 leitende Klasse der bourgeoisen Intelligenz, die mit
Humanität, Liberalität, Brüderlichkeit und schönen Redens-
arten die Menschheit zu befreien hoffte, dem rauhen Realis-
mus des Jakobinertums — jetzt Sozialismus genannt —
gegenüberzustellen. Wie er politisch ein echt girondistisches
— 56 —
Fiasko machte und sowohl Junischlacht als Dezemberpatscb
die wahren realen Mächte offenbarten, so überwältigt auch
in seinem Werke der Schatten Robespierres alle attischen
Symposien der Oironde. Es ist nicht sein geringstes Ver-
dienst, dass er das ruhelose Gespenst des ,,Unbe8techlichen^^
bannte, dass jenes Phantom des blutigen Scheusals, wie es
noch in allen Geschichtsbüchern herumspukt und durch
Taines perfide Fälschungen neue Nahrung schöpfte, endlich
greifbares Leben gewann in tieftragischer achtunggebietender
Gestalt. Nichts empfand Lamartine mit so echter innerer
Ergriffenheit nach, wie Robespierres Untergang. Dies aber
soll uns ein Merkzeichen sein, wieviel gesunde starke
Menschlichkeit, welch ein Stück tüchtiger Natur, welche
innere Läuterung sich immerhin hinter der gezierten Pose
des Salonbarden verbarg.
Ein schöner Mann, der sich von den Frauen anbeten
lässt, bekommt immer etwas Lächerliches und Weibisches.
Dem Lächerlichen entging er nicht und sein weihevolles
Priestertum im Frack ladet zur L-onie ein. Wer stets im
Übersinnlichen schwelgt muss sich doppelt davor hüten, im
äusseren Gebahren nicht dem Sinnlichen der Welteitelkeiten
zu fröhnen. Aber Weibisches haftete ihm, dem Frauenlob
und Kirchensänger, ebensowenig an, wie etwa dem Abb6
Liszt einer ihm sehr verwandten Virtuosennatur, welche
unter scheinbarer Süsslichkeit so edel und grossgeartet die
Löwenmähne schüttelte. Dieser altfranzösische Kavalier war
ein Braver und es mag ein herrlicher Anblick gewesen sein,
wie er als Revolutionsheld sich stolz und todesverachtend
einer aufgeregten Pöbelmenge entgegenwarf. Mit Ironie be-
gannen wir, mit Hochachtung müssen wir enden. Die Ironie
tut gut, um sich solche Phantasmagorie vom Leibe zu halten,
die in höchst irdischem Liebchen den „Baum der Anbetung^^
umarmt und in die Allnatur dumpfige Höhlenkathedralen
hineinbaut, wo im Grunde vor der eigenen Gottähnlichkeit
kirchlicher Weihrauch dunstet. Selbst seine so redliche und
reine Entwicklung zum unkirchlichen Humanitär schmeckt
nach Selbstberäucherung, ward die Phrase nicht los. Freiheit
und Menschheit fasste er, wie seine Girondins, sozusagen
künstlerisch auf, als marmorne Götterbilder, halb Venus
— 57 —
halb Madonne, vor denen man Festzüge eleusynischer
Mysterien veranstaltet Aber Festzüge und künstlerische
Harmonien lösen solche Mysterien nicht Wie den intriganten
und unfähigen Phrasendreschern der Gironde, eignete auch
ihm ein versteckter Streberehrgeiz und nicht zufällig lief
seine allmähliche Bekehrung zum Revolutionären genau dem
siegreichen Anschwellen dieser Strömung zur Seite. So
genoss er noch einmal den Triumph, an der Spitze des Zeit-
geistes zu thronen. Doch der Zeitgeist ist so veränderlich
and wechselnd, wie die Überzeugung Lamartines, und wer
seiner Zeit diente, verzichtet meist auf die Nachwelt Der
sich für einen Ewigkeitsmenschen hielt, ward bloss eine
interessante Episodenfigur der Literaturgeschichte, kein
Repräsentant der Menschheit, sondern nur seines schwan-
kenden Jahrhunderts. Schon beut ist sein Name ausserhalb
Frankreichs so gut wie vergessen, und es wird nicht an
solchen fehlen, die verwundert fragen, warum wir mit ihm
den Beigen eröffnen. Was er unsem Grossmüttern und
Vätern war, wer ahnt das heute noch! Ein bekannter
Lyriker wie andre mehr. Ebensogut könnte man den guten
Oeibel als Jahrhundertvertreter vorführen? Mit Verlaub,
doch nicht. Das hiesse auch dem Dichter Unrecht tun, denn
ein blosser Eklektiker war er kaum, und wir verhehlen nicht,
so skeptische Haltung wir ihm gegenüber bewahren, dass
aus seiner Persönlichkeitsnote oft das Flügelrauscben eines
Adlers erklingt Und den Zeitgenossen war er mehr als ein
beliebiger Poet von Talent, ihnen erschien er ein Prophet
und Sendling höherer Mächte, ein Bote aus der Unendlich-
keit Darin gipfelt seine welthistorische Bolle, vergänglich
in sich selber, aber nicht unberechtigt Einen falschen
Propheten, möchten wir ihn nicht nennen, obschon sein
Einfluss sowohl in seiner ersten reaktionären wie in seiner
zweiten revolutionären Periode kein segensreicher war und
einen bunten Nebel missleitender Enthusiasmen ums unklare
und unreife Jungeuropa spann, zu dessen Dolmetsch er in
beiden Perioden sich erniedrigte, während tief im Unbewussten
seines Innern ein brahminisches Streben nach dem Absoluten
wirkte. Es heisst ihn unwillkürlich sehr hoch stellen, wenn
wir gestehen, dass einiges in den „Harmonien^ an der Inder
— 58 —
unvergleichliche Bagghavad Gita erinnert Ja, wir müssen
gestehen, dass sein Rüstzeug, die tönende rollende Phrase,
mehr ein blosses Handwerksgerät, nicht der deckende Aus-
druck seines hohen Wollens erscheint Pose und Phrase
haften bei ihm an der Oberfläche, nichts davon befleckte
seine innere echte Gottes- und Menschenliebe. Wenn also
dieser Sänger, dessen Weltruhm die ganze erste Hälfte des
Jahrhunderts überstrahlte und dessen Gestalt im ganzen fast
alle sogenannten Sommitäten dieser Jahrhunderthälfte über-
ragt, heut so gut wie verschollen ist, wenn weit geringere
Figuranten der politischen und literarischen Schaubühnen
sich bleibenderes Andenken sicherten, wenn dem immer
blamierten und sich blamierenden Mitteleuropäer der Name
Dickens und dergleichen tausendmal vertrauter im Ohre
klingt als der erlauchte Name Lamartine, so beweist dies
nicht dessen Bedeutungslosigkeit, sondern nur die intellek-
tuelle und moralische Herabminderung der Seelen am Jahr-
hundertende. Da sogar der Riese Byron dies Los des Ver-
gessenwerdens teilt, so werden wir uns des geflügelten Wortes
erinnern, das ein Berliner Literat in den achtziger Jahren
ausspie: „Wenn ich Versehe sehe, muss ich schon lachen.
Er war von je ein Lyriker, Dramatik ist schon schwieriker."
Gewiss, aber nur die Dramatik von Shakespeare, nicht von
Sardou oder Sudermann.
Der kleine Spezialismus einer reintechnischen Auffassung
überflutete heute auch die Ästhetik. Da preist man unsere
so verderblich entnervende romantische Schule wegen ihrer
zweifellos bedeutenden künstlerischen Qualitäten. Da werden
Kleist, Hebbel, Grillparzer auf Piedestale gehoben, von denen
sie himmelhoch auf Lamartine und seinesgleichen herab-
schauen, die Könner auf die inspirierten Woller. Das lächer-
liche Schemasprüchlein vom grossen Woller und kleioen
Könner, das nur ungesunde Verkehrtheit dogmatisch ver-
bohrter Formbegriffe austönt, passt ja auch auf Lamartine.
Der selbstgefälligen Unwissenheit des Auslands gegen-
über verdient es allerdings Betonung, dass die genannten
Deutschen (und noch mehrere andere z. B. Grabbe) an
Stärke und Grösse dichterischer Gestaltung weit alle nicht-
deutschen Poeten des Jahrhunderts hinter sich lassen. Allein,
— 59 —
auch in Frankreich selber erstand ein, ästhetisch betrachtet^
viel grösserer Dichter in Musset, und in Deutschland müsste-
dies für Lamartine Zugegebene in anderem Sinne gleichfalls
für eine allerdings noch immer lebendige Grösse gelten,,
nämlich für Heine. Da sieht man eben, wie wenig bloss
ästhetische Massstäbe bedeuten, wie viel oft das Wollen und
wie wenig das Können bedeutet Nur den paar Oanz-
grossen ward es verliehen, für alle Zeiten und Völker zu
wirken. Und doch nur vermöge ihres gewaltigen Inhalts,
nicht wegen ihrer Form. Romanen oder Leute des 25. Jahr-
hunderts werden nach ihrem persönlichen Oeschmack sehr
viel an Shakespeare, Goethe, Byron zu tadeln haben, aber
vor der Geistesgrösse solcher Schöpfungen kniet die Mensch-
heit sicher bis in fernste Zeit Was aber gilt Grillparzers-
oder Hebbels Können dem Ausländer? Man muss Carlyle»
vorlaut ungerechten Essay über Grillparzer gelesen haben,
um sich davon einen BegrifT zu machen. Dagegen hat Heine,^
dem es an Gestaltungsgabe so sehr gebrach, überall selbst
in schlechter Übersetzung Freunde gefunden. Denn di&
bessere Menschheit sucht in der Poesie, während die minder-
wertige in Boman und Bühne nur leere Unterhaltung und
Spannung begehrt, keine ästhetischen Spitzfindigkeiten, son-
dern den Aufschrei ihres Leids oder Erhebung zu höherem
Sein. Mit welchen Mitteln, gilt ihr gleich, und hoch-
fliegendes Wollen fesselt den unverbildeten Sinn weit packen-
der, als subtiles Können. So bleiben denn Lamartine und
Heine die wirklichen Repräsentanten des Hochpoetischen
im 19. Jahrhundert
Lamartines Sekretär hat eine Geschichte erzählt, die
besser als alles die wahre Yomehmheit dieser schönen Seele
enthült Der Messiasbarde diktierte einen Umriss franzö-
sischer Literaturgeschichte und ging dabei über Musset mit
ein paar wegwerfenden Seichtigkeiten weg. Da warf der
Sekretär die Feder hin: „Meine Verehrung für Sie, Meister^
verbietet mir, das zu schreiben. Lasen sie denn Musset je?^^
„Gott bewahre! Wie werde ich diesen unreifen, unsittlichen
Phantasten auch noch lesen !^^ „Dann werde ich Ihnen
Mussets Werke schicken." „Gut, ich werde sie lesen, ob-
sqhon ich im Voraus weiss, dass mein Urteil das richtige.*^
— 60 —
Da erhielt der Sekretär nach einer Woche die Bände zurück
mit einem Billett: „Unsterblicher Musset! Verzeihe mir in
der Ewigkeit, was ich an dir gefrevelt!''
Hätte man ihn aufgefordert, die ästhetischen Qualitäten
<ler meisterhaft feinen „Contes" und „Proverbes*' zu be-
wundem, so hätte er gleichgültig abgelehnt. Aber als er
wohl in „Rolla'^ „Mainächten^' und der herrlichen Elegie
„Souvenir'', dem schönsten und tiefsten Gedicht französischer
Sprache, auf wahrhaft grosses Wollen und Ringen des Ge-
dankens, auf wahrhaftes Gefühl des unendlichen stiess, da
gab er sich überwunden. Warum nimmt trotzdem der
grössere Dichter neben dem kleineren Lamartine die ge-
ringere Stellung ein? Weil dieser blosse Woller, dieser
reine Tor, dieser naive Parcival, aus einem Gusse war, weil
er kein Künstler wie Musset, sondern bloss ein singender
Mensch sein wollte, weil alles berufsmässige Literatentum
ihm so fernlag wie dem „Dilettanten" Byron.
Wir sind gewohnt, auf die verworrene erste Hälfte des
Jahrhunderts herabzulächeln. Doch dass alle bedeutenden
Sänger unseres tinteuklexenden Säkulums damals erstanden
und allerorts ein Echo fanden, sollte unsre superkluge Nase-
weisheit massigen. Über die Beaktionsherrlichkeit uns zu
erbosen und die damaligen Völker des Polizeistaats zu be-
jammern steht uns am wenigsten an, die wir unter gleichen
oder grösseren Übeln seufzen. Bürgerkönigtum Louis Philipps
mit Guizots Evangelium „Enrichissez- vous!" und die
Achtundvierziger Putsche und ephemeren Gebilde muten
unerfreulich an, aber die heutige R6publique Frangaise ist
auch keine wohlriechende Pflanze. Was sage ich, wohl-
riechend? Sie stinkt von Korruption der Bourgeosie. Selbst
der vormärzliche Sozialismus der St. Simon, Prudhomme,
Fourier hatte etwas anheimelnd Begeistertes, das ihm heute
mehr und mehr abhanden kam. Unser finsterer Realismus
zuckt über den Idealismus jener Tage die Achseln. Aber
wie immer bewährt sich auch hier, dass nur der Idealismus
Serge versetzt und Leben schafft. Seit 1871 arbeitet in
Europa allerorts ein gewalttätiger Materialismus zur Ver-
mehrung äusserer Werte oder zur Verbesserung der äusseren
■Glückszustände. Und was erreichte er bisher? Nichts. Der
— 61 —
rasende Konkurrenzkampf führt aus Prosperitätsschwingungen
immer wieder in Rückschläge und Notlagen. Die latente
Beyolution, überall auf der Schwelle lauernd, bat selber den
Olauben an sich verloren, betrachtet die Möglichkeiten ihrer
Hagenfrage-Lösungen selber skeptisch gestimmt mit düsteren
Augen. Jene Poseure und Phraseure aber haben doch wirk-
lich erreicht, was sie wollten: dort endgültige Verdrängung
des legitimistischen Prinzips, hier die vielgeliebte Verfassung,
in Deutschland und Italien die Einheit, in Ungarn die Un-
abhängigkeit Wenn Deutschland und Italien auch ihre
politische Auferstehung und Einigung erst später auf dem
Scblachtfelde fanden, so sind es doch dieselben Leute ge-
wesen, die dies zu stände brachten, dieselben, die vorher
zwanzig Jahre lang mit ihrem Idealismus danach gewühlt
und gebohrt, nicht etwa bloss geseufzt und geschwatzt.
Eifern wir ihnen nach, ohne in ihre Irrtümer zu verfallen!
Als ehrwürdiger Vertreter dieser mächtigen Vorbereitungs-
epoche, mächtig und bedeutend, wenn wir sie mit der
hochmütigen zweiten Hälfte des Maschinenjahrhunderts ver-
gleichen, wenn auch schwach und ohnmächtig im Vergleich
zum 18. Jahrhundert und dem Titanen-Interregnum 1789
bis 1815, winkt Lamartines Bild zu uns herüber. Und ob
er auch nicht zu der Menschheit wahren Grössen und der
angebliche Halbgott nur in die Reihe schwacher Übergangs-
menschen gehört, Heil der Zeit, die sich solche Götzen
wählt! Wen hatten denn wir, uns seelisch an ihm auf-
zurichten zu edlerer Menschheit? Die sogenannten Männer
von Blut und Eisen, die nebenbei auch dem Gold ihrer
Börsen liebevolle Pflege widmen, wiegen federleicht in der
Schale des ewigen Richters.
Auch gehört stärkerer Heldensinn dazu, als gewöhn-
licher Soldatenmut ihn aufbringt, allein einer siegreichen
wütenden Pöbelmasse zu trotzen und sie nur durch Gewalt
der Persönlichkeit und Glanz der Beredsamkeit zu bewältigen.
So hat sich Lamartine am 25. Februar 1848 unauslöschlich
dem Gedächtnis eingeprägt und ausserhalb der Literatur
einen geschichtlichen Namen erworben. Sein Vorbild Mon-
sieur de Chateaubriand, dessen angebliches Übermenschentum
die Franzosen freilich rührend überschätzen, wäre dazu nie
- 62 -
fähig gewesen. Dieser ausserordentliche Mann, dessen Wesen
in der vorhergehenden Umwälzangsepoche wurzelt, schwebte
der damaligen französischen Jugend als Muster vor, sie
lernte von ihm das stolze Ichgefühl, den eisig in sich selbst
beruhenden Individualismus. Dass die Franzosen noch heut
jene unheimliche Seelenruine mit besonderer Pietät beachten,
hängt nur mit ihrer erstaunlichen Pietät für alles Literarische
zusammen, wodurch sie sich, man mag sagen was man will,
als das vollendetste Kulturvolk ausweisen. Dies soll an sich
kein unbeschränktes Lob sein, denn ein zu hohes Mass von
Zivilisation bringt eine gewisse innere Schwäche mit sich,
etwas Chinesisch-Gekünsteltes, einen Mangel an Originalität
Nicht unter gleichmässig verteiltem Sonnenschein zucken
die Blitze des Genies empor, sondern aus Wetterwolken
einer sonst stickigen und materiell ungünstigen Atmosphäre.
So haben die bildungsheuchelnden Deutschen, deren Literatur
nie entfernt solche soziale Stellung und Bedeutung im Leben
der Nation einnahm, unendlich mehr Geniales erzeugt, als
die abgeschliffenen literaturbeflissenen Franzosen. Aber
Rührung und neidvolle Achtung verdient es doch, deren in-
niges Verwachsen sein mit den Meistern ihrer Sprache! Letz-
tere gilt ihnen als höchster nationaler Schatz, und sie, die
eine reiche Fülle von Talenten, aber kein einziges Genie
vom ersten Bange, ja kaum einen einzigen Yolldichter
nach deutsch-englischem Masstab — nur in Musset stak das
Zeug dazu — hervorbrachten, hegen und pflegen ihr lite-
rarisches Besitztum als Hauptpalladium ihres naiven Grössen-
wahns, an der Spitze der Zivilisation zu marschieren. So
erklärt sich auch die ehrfürchtige Scheu, mit der sie Chateau-
briands grossen Namen im Pantheon einbalsamieren. Denn
mehr als ein grosser Name ist das nicht. Nämlich, sobald
wir die historische Wertmessung verlassen, die ihn sehr
hochstellt als Bahnbrecher der Neuen Poesie, und bloss
ästhetische Abschätzung vornehmen. Wer kann heut noch
diesen deklamatorischen Stilübungen ein anderes als literar-
historisches Gewicht zubilligen! Gewiss, wenn Lamartine in
„Milly ou la Terre natale'' oder in „La Vigne et la maison"
das Dach seiner Väter mit Rhetorik umrahmt: „Puis la porte
a Jamals se forma sur le vide'S so atmet Ren6s Abschieds-
— 63 —
prosa vor seinem Ahneoheim mehr echte Ergriffenheit. Wir
verkennen nicht, dass die noch bei Rousseau ungelenk pomp-
hafte und rhetorisch leblose Sprachform in Ghateaubriands
H&nden eine belebtere Fülle und Wärme erhielt Lamartine
hat oft nur Sätze aus Ren6 in Verse gebracht, wie „emportez
moi comme eile, orageux aquilons"^ eine berühmte Stelle
Chateaubriands wiedertönt Vieles bei letzterem blendet
durch gleissende Lichter und rembrandsche Schattengebung,
auch durch Anmut plastischer Wendungen. Noch in den
^Härtyrem^^, wodurch er der katholischen Reaktion eine
zweifelhafte Huldigung darbrachte, seinem Hauptwerk, finden
sich Stellen von seltener unheimlicher E[raft und als Ge-
stalter steht er ohnehin viel höher als Lamartine. Niemals
aber wird man den Eindruck der Unnatur los. Selbst seine
famosen Naturschilderungen, die damals eine Revolutionierung
des französischen Styls bedeuteten, schmecken nach Theater
und Ballet Diese Ferien in „Attala'^ und ,,Ren6", wo auf
transatlantischen Stromfahrten mal ein Kanoe, mal ein
Ochsenfrosch, mal ein Sonnenuntergang vorüberzieht, je nach
Bedürfnis der Laune, sind künstlich arrangiert. Flaubert in
„Salambo^' hat von ihm dies Geheimnis gelernt, aber es
bleibt Kunst und wird nirgends Natur. Und wie steht es
mit den seelischen Nuancen, die dieser hochmütige Welt-
schmerzler in seine Gebilde auflöste? „Wer Kräfte empfing,
soll sie dem Dienst der Menschheit weihen^\ heisst es in
jfi&nif^ Aber Chateaubriand verstand unter Menschheit nur
sich selber und weihte sich dem Ichdienst mit einer messia-
nischen Überzeugung, als wenn Er der eigentliche Über-
mensch wäre, der wahre Napoleon. Sein Hass gegen diesen
entsprang dem Neid, seiner bourbonisch- klerikalen Polemik
riecht die Unaufrichtigkeit aus allen Poren. Monsieur le
Vicomte kannte vom Noblesse Obligo nur die tadellose
äussere Haltung und den aristokratischen Hochmut ä Tabri
des hommes, den er zuletzt auch auf König und Standes-
genossen ausdehnte. Ihm gab es nur einen Hochgeborenen,
ihn selber. Sein innerer Cynismus, unter feierlicher Maske
versteckt, nicht offen und redlich wie der Skepticismus eines
Montaigne, eines Stendhal, stellte sich auch ä l'abri aller
Überzeugungen. Man besitzt ein Exemplar des „Essay über
— 64 —
die Revolutionen^^ mit Marginalbemerkungen des Autors am
Bande, worin er seine eigenen Sophismen verspottet Das
Überlaufen des bourbonischen Ministers zur Opposition aas
gekränktem Ehrgeiz fiel ihm leicht, denn was kümmerten
ihn Thron und Altar! Er sass auf eigenem Thron des Ich
vor dem Altar seines angeblichen Genius.
Wie anders Lamartine, den man so oft ihm vergleicht!
Die geschwollene Verschrobenheit seiner Schwärmerei erhob
sich oft zu echten Aufschwüngen heiligen Ringens nach
Wahrheit, seine Ichverliebtheit vergiftete nicht seine selbst-
lose Liebe zum Guten, sein geistiges Schwanken verwirrte
nicht die in sich selbst gefestigte moralische Schönheit
Ehre dem Jünglingsalter des Jahrhunderts, Ehre dem
alten Lamartine!
-^iP^f^
Italia ünita: Baribaldi nnil Hazzini
unter Earopens übertünchter Höflichkeit verbergen sich
noch manche biederen Kanadier, die sich gern seitwärts in
die Büsche and dem Nivellierungsdrill der weichlichen
Eoltorbehaglichkeit ein Schnippchen schlagen. Freilich
moss allerlei romantisches Gebüsch dazu vorhanden sein,
und wo fände sich das reichlicher als im paradiesischen
Garten aller Romantik und aller Spitzbuben, dem heissen
Boden, wo das alte Römertum den Begriff des Banditentums
zur Weltplünderung erhob und die Renaissance den Räuber-
hauptmann höflich Kondottiere nannte. Damals hiess er
Fra Diavolo und Fra Moreale und behauptete, ein politischer
Eriegsmann zu sein, der an den Meistbietenden seine Frei-
lanzen verkaufte. Wenn es hoch kam, erbeutete er sich
wie Francesco Sforza ein kleines Reich vorübergehender
Dauer. Und selbst als ein päpstlicher Prinz das Machia-
vellibuch vom ,Fürsten' nur durch Banditenstreiche in Tat
zu übersetzen wusste, endete das weltgeschichtliche Stücklein
als klägliche Posse und der geträumte Einheitskönig Gesare
Borgia fiel nicht als Cäsar, sondern als haltloser Abenteurer.
Nun wohl, unserem gesegneten neunzehnten Jahrhundert
der matten Seelen blieb die Ehre vorbehalten, den ruhm-
reichsten Bandenhäuptling eine Bahn wandeln zu sehen, die
sich unverwischbar dem geschichtlichen Gedächtnis eingrub.
Die alten Kondottiere blieben geflickte Lumpenkönige, die
als Lorbeer mehr oder minder silberne Löffel stahlen und
sich begnügten, auf Kronen verzichtend, lieber güldene
„Kronen^^ in blanker Münze in die Tasche zu stecken. Hier
aber sah man einen selbsternannten Bandenführer wirkliche
Beibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 5
— 66 —
Kronen erobern und verschenken, wie einst das welt-
gebietende Bäabertum in Forum und Eapitol. Dieser
Schlagetod ward ein mörderischer Moreale für alle Unter-
drücker und dieser Diavolo, allen Feinden des italienischen
Volkes ein Gottseibeiuns, erschien allen unterdrückten
Europas ein vorbildlich heiliger Fra Angelico, ein Engel
der Befreiung. Was der düstere Machiavellischüler in
wilder Selbstsucht umsonst erstrebt, sich den Gesare zur
Yerbrecherbestie herabwürdigend, das erreichte der schlichte
Freischärler, weil er naiv und gläubig für eine grosse Sache
focht, selbstlos wenigstens im landläufigen Sinne. Richard
Wagner meinte: deutsch sein, sei etwas der Sache wegen
tun. Nun, dann bekundete Garibaldi, dem Namen nach ein
Abkömmling longobardischer Garibalde, wahrlich seine
deutsche Blutquelle. Freilich darf man die germanische
Mischung und Befruchtung Italiens, welcher dies im Alter-
tum so praktisch nüchterne Lateinervolk seine künstlerische
Genialität und Idealität verdankt, nicht überschätzen.
Meisterhaft wies Taine (Voyage en Italic) nach, dass die
Lombarden schon nach kürzester Frist sich latinisierten, ihr
nordisches Denken und Fühlen ganz im üppigen Strom
romanischer Altkultur untertauchten. Und so gab es auch
nie einen echteren Vertreter Gesamtitaliens als unsem
modernen blondbärtigen Garibald, dem bezeichnenderweise
grade die südlichsten Sizilianer am verständnisinnigsten
zujubelten.
Auch wollte der geheimnisvolle Gang des Schicksal-
karma im Völkerleben, dass gleichzeitig die andere vor-
stechende Charakterseite der italienischen Basse ihren
vollendetsten Ausdruck fand.
Feldherm, Staatsmänner, Hierarchen, Künstler findet
man auch anderswo. Man braucht nicht nach Rom zu
pilgern, um Cäsaren und Kirchenväter zu treffen. Aber
für zwei seltsame Typen blieb das Land der Abruzzen die
klassische Heimat: den Banditen und den Verschwörer.
Nicht mal das rückständige Spanien lässt seine Faulheits-
romantik ähnliche Blüten treiben und selbst hierin zeigt
sich die unerschöpfliche Energie des bevorzugten lateinischen
Mutterlandes aller romanischen Volksgebilde.
— 67 —
Dem Oermanen sind diese Missgebiirten rückständiger
Staatsyerhältnisse völlig fremd. Nur in Englands ältesten
Zeiten renommierte ein fabelhafter Bobin Hood, der gälische
Hochlandräaber und viebstehlende Orenzer suchten sich um-
sonst etwas Romantisches anzuschminken. Hätte Scott sich
nicht des Rob Roy und Burns in seinem prächtigen Volks-
lied des Wegelageres Macpherson angenommen, kein gesunder
'englischer Gommonsense hätte solche Burschen als etwas
Anständiges emstgenommen. Der Out-Law galt im allge-
meinen als Wilddieb oder Yiehstehler und es bezeichnete
•die endgültige Yernichtung der Stuartsache, dass die letzten
Mohikaner des schottischen Hochlands, die Rothäute einer
untergehenden Rasse, ihre gemeinen Räubergelüste als Ja-
kobitenpartei ausleben wollten. Auf dem Feld von Culloden,
wo die Elans für immer vom Eisenpflug englischer Kultur
wegrasiert, erlag die letzte Spur des primitiven Bandentums
im ausseritalienischen Europa. Umsonst schickten Armag-
nacs und Landsknechte sich an, das Condottieretum nach
Zentraleuropa zu verpflanzen. Sie gingen schwächlich dabei
unter oder mussten sich als amtlich offizielle Soldateska dem
nationalen Staatszweck einfügen. Englische Free-Lances in
britischen Eroberungszügen auf Frankreichs Boden schwemmte
Joanne d'Arcs Volkserhebung weg. Als in den deutschen
Religionswirren ein Albrecht Alcibiades, Mansfeld, Christian
von Braunschweig Eondottieresitten einführen wollten, brach
sie alsbald die überwiegende Gewalt der staatlichen Ord-
nung. Selbst in der alle Bande lösenden Zügellosigkeit des
dreissigjährigen Erieges blieb den Soldatenhorden das staat-
liche oder nationale Gepräge gewahrt und der genialste aller
Bandenchefs versenkte gar bald den Wallensteiner im Fried-
länder, im deutschen Reichsfürsten mit echtnationalen
Zukunftsplänen. Die deutsche schwarze Bande bei Pavia
machten Frundsbergs patriotische Landsknechte unter dem
Rufe nieder: „Schlagt tot für Eaiser und Reich !^', da sie
das vaterlandslose Reislaufen in fremdem Sold als Hoch-
verrat empfanden. Dort nahm auch des Schweizers Eriegs-
prestige, in nationalem Zusammenschluss für die Heimat
erworben, ein böses Ende, indem Franzens Schweizer Söldner
vor den patriotisch entflammten deutschen Landsknechten
5*
— 68 —
das Weite suchten. Der letzte Best der Schweizer
Kondottiereunart verblutete im Tuilerienhof und es scheint
bezeichnend, dass auch später die Schweizer in Neapels und
des Pabstes Sold wider Garibaldis nationale Freischaren
nichts mehr vermochten.
Solche Erörterung dünkt dem nicht überflüssig, der das
Oaribaldi-Phänomen in seinen Wurzeln packen will. Denn
umgekehrt gibt es einen Wink für die innere Oleichartigkeit
seines Freischarensystems mit der mittelalterlichen Banden-
gattung, dass diese auf Sizilien und vor Bom, selbst bei
Montana, so kraftvollen Garibaldiner zum ersten Mal eine
trostlose Niederlage (Aspromonte) erlitten, als sie auf reguläre
Truppen des eigenen Nationalstaats stiessen. Sie, die so
tapfer gegen Ausländer und Tyrannenknechte gestritten,
liefen davon, als die Staatsordnung ihres einigen Italien
sich gegen sie wendete.
Taines geistreiche Paradoxen, auch den italokorsischen
Cäsar als Spätling der Borgia-Benaissance, gleichsam ein
letztes giganteskes Aufbäumen des sterbenden Kondottiere-
tums, auszulegen, konnten nur Oberflächliche verwirren. Des
Genie-Löwen imperatorisches Schalten und Beutesuchen lässt
sich überhaupt nicht einer historischen Gattung angliedern,
der „Übermensch" wird immer ein Einziger sein, dem ab-
normen Geschlecht der „Isolierten" oder „Wildlinge" an-
gehörig. Ebensogut möchte man Cromwell einen Banden-
häuptling nennen, der doch tatsächlich, indes der klassisch-
römische Sinn des Korsen sich der bestehenden Staatsmacht
anpasste, als Anwerber einer besonderen Bebellentruppe
begann. Der grundlegende Unterschied, abgesehen von allen
sonstigen historischen Wertmassstäben, steckt hier darin,
dass das revolutionäre Genie mehr oder minder nur aus sich
selber seine Erfolge holt. „Im Kriege sind die Menschen
nichts, ein Mann ist alles," äusserte Napoleon und das
Gleiche gilt überhaupt für die Gesamtlaufbahn solcher Welt-
umwälzer. Nicht Bandenchefs, sondern Feldherrn grosser
Nationalheere, enden sie ganz von selber als Alleinherren.
,Der Einzige und sein Eigentum^* nämlich er allein und
sein Genie. Da aber Genie das Nämliche bedeutet wie
Schöpferkunst, Schaffen, Gestalten, so führt die Weltempörung
— 69 —
eines Napoleon oder in bescheidenerem Masse eines Crom-
well natargemäss zur Ordnung, zur Staatsbegründung, dem
äussersten Gegensatz des zerfahrenen Kondottiere-Unwesens.
Aus den Untaten eines Cäsar Borgia konnte nimmermehr
Ordnung keimen, auch darf man sinnbildlich sagen: was
wären die Borgias gewesen ohne das ,Gift der Borgia,^ klein-
liche Tücken, die ein Genielöwe verschmäht! Ja, was wäre
Gäsare gewesen ohne Yäterehen Papst und Schwesterlein
Lucrezia, toute la lyre, die ganze schwarze Bande dieses
Verbrechergeschlechts! Der Löwe aber jagt allein, nicht
wie Eondottierewölfe in Budein, denn nur das Budel macht
ihre Stärke aus. Und so wird man denn auch in Garibaldi
das echte Muster eines Bandenchefs erkennen: wenig in
sich selber, schöpft er seine Kraft nicht aus der eigenen
Persönlichkeit, sondern aus der Fahne, dem Losungswort,
um das sich seine Horde sammelt. Er beherrscht sie nicht,
darüber stehend, sondern ist eins mit ihr, zugleich ihr
Sklave uud Abhängiger, denn ohne seine Mitläufer ist der
Eondottiere ein Nichts. Das Ergebnis leitet sich natur-
notwendig daraus her: Ordnung kann er nicht bringen, Un-
ordnung schaffen ist sein Handwerk, und nur das unter-
scheidet Garibaldi von all seinen Vorgängern, dass er eine
morsche und schädliche Ordnung umstiess uud seine Un-
ordnung einer neuen Ordnung die Wege wies. Diese selber
aber zu schaffen, gebrach es ihm an jedweden Gaben. Er
konnte nichts als erbeutete Reiche grossmütig an lauernde
Erben verschenken, so wie edle Räuber der Legende in des
Waldes tiefsten Gründen das erplünderte Gold freigebig an
Bedürftige verteilen, ein famoser Rächer der Bosheit, der
nicht um schnöden Gewinn, sondern aus ethischen Gründen
wegelagert Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen!
Den edlen Carlo Moor nahm er sich als Muster vor. Doch ^
ach, die böhmischen Wälder der Poesie sehen in rauher
Wirklichkeit anders aus und bei Abällino dem grossen Ban-
diten pflegt es nicht so edelmenschlich zuzugehen. Bedenkt
man aber, dass noch heute der Korso und Sardinier sich
mit Stolz in die Brust wirft: sein Bruder oder Vetter sei
jener berühmte Bandit, der schon sechs Karabinieri erschoss,
und noch in unseren Tagen ein ruppiger Musolino
— 70 —
allgemeiDe Beliebtheit bei der Bevölkerung genoss, ja das^
elegische Klagen über die gute alte Zeit ertönen, wo so
mancher Forestiere und Inglese seinen ungerechten Mammon
abgeschröpft bekam, wo der heroische Abruzzenr&uber nach
echter alter Kondottieremanier Lösegeld heischte und Ohren
abschnitt, sobald dieser Tribut nicht pünktlich zur Stelle, —
ja, dann wird man sich nicht wundem, warum Garibaldi für
ewig Italiens Nationalheld bleiben wird. Denn dieser Italia-
nissimo begriff instinktiv, dass nur Bandenstiftung einer
Maffia und Kamorra dem innersten Sehnen und Streben
seines Volkes gerecht wird, und nach märchenhaften Eon-
dottieretaten erfüllte er gleichzeitig das nationale Ideal des
grossmütigen edeln Räubers. Abällino war, bei Lichte be-
sehen, immer nur ein schofler Schinderhannes. Hier aber
hatte man einen Musolino, wie die Pöbelphantasie ihn sich
je geträumt, im Gewände eines Washington. Der Naive
untersucht nicht die inneren Ursachen guten und bösen
Tuens, er nimmt die Taten selber für vollwichtig hin und
berauscht sich an äusseren Anzeichen selbstlosen Edelmuts^
ohne zu fragen, ob vielleicht die Trauben zu sauer waren
und ob je ein Sterblicher, der hoch genug hinauflangen
konnte, die Trauben ungekostet liess. Er fällt über Napoleon
und Cromwell drakonisch das letzte Wort, dass diese nur
selbstsuchtsvolle Ehrgeizige gewesen, während Washington
natürlich ein makelloser Heiliger war, weil er sich nicht
gegen die alleinseligmachende Republik auflehnte. Vielleicht
gehört die Washingtonlegende zu den belächelnswertesten
und wir müssen sie heranziehen, um Garibaldi gerecht zu
werden. Des Yankee kriegerische Leistungen halten gar
keinen Vergleich damit aus: was bedeutet der Überfall am
Delaware neben dem Überfall von ganz Sizilien, Neapel und
Kirchenstaat! Im übrigen haben wir in Washington den
richtigen korrekten Gentleman englischer Artung, nicht ohne
Würde und vornehme Haltung, voll redlicher Rechtlichkeit,
der aber sonst Gott einen guten Mann sein lässt und jeden
Sonntag in die Kirche wandelt mit glattgebürstetem Rock
und dito reinem Gewissen, der eine reiche ältere Witwe
heiratete und als solider Eigentumsverwalter die Neger-
sklaverei für ein Erfordernis der sittlichen Weltordnung
— 71 —
hielt Ohne die gesetzliche Sanktion des heimischen Kon-
gresses würde er bewaffnete Auflehnung gegen die hohe
Obrigkeit niemals gewagt haben, das wäre kaum gentle-
manlike gewesen und schickte sich nicht für so korrekten
gottesfürchtigen Mann, sein Unwille über tyrannische Willkür
war rein platonisch und nur sonstige Entwicklung der Dinge
riss ihn fort, für das „Becht^^ einzutreten. Passive Geduld
und angelsächsische Zähigkeit ermöglichten ihm durch stilles
Ausharren einen Enderfolg, wo feurige Tatkraft und stolze
Begabung ihm gebrachen und versagten. Seine repu-
blikanische Bürgerlichkeit wie seine Sittenstrenge wuchsen
auf dem gleichen Strauche nüchterner Mittelmässigkeit, die
ja immer aus der Not eine Tugend macht Es liest sich
ja gut wenn liberale Schwärmer, darunter leider auch der
sonst rapoleonreife Byron, den sogenannten Cincinnatus des
Westens dem korsischen Imperator als Vorbild entgegen-
halten, aber Byron hätte privatim über solche Bänkelsänger-
phrasen selber gespottet, wenn ihm jemand den richtigen
Washington vorgestellt hätte. Nur eine phrasenhaft ideo-
logische, von falschen Abstraktionen ausgehende, Kinderei
versteht nicht das Muss, warum ein Napoleon notwendig als
Weiterschütterer, ein steifleinener Geselle wie dieser Neu-
engländer, der von puritanischen Pilgervätern nur den äusser-
lichen Purismus, nicht die innere Olaubensglut geerbt, not-
wendig als friedlicher Gutsbesitzer von Mount Vernon enden
musste. Der Psychologe aber weiss, dass der Satz „Schweigen
ist Gold'* bei denen besonders beliebt, die nichts zu sagen
haben und deren Schweigen keine Gedanken verbirgt, und
dass die Yersuchung autokratischer Machtfülle nur denen
erspart bleibt, die nicht Kraft dazu spüren. In dieser Hinsicht
gibt uns Garibaldi ein anregendes, obschon leicht lösbares,
Problem auf. Denn an übertriebenem Selbstgefühl und
temperamentvollem Naturell fehlte es ihm wahrlich nicht
und doch Hess seine Uneigennützigkeit alle Ansprüche des
gefeierten Yankee auf diese seltene Tugend weit hinter sich.
Worauf verzichtete denn der, da ihm ernstlich doch gar
kein lockendes Angebot gestellt ward? Garibaldi aber hätte
es vielleicht in der Hand gehabt, auf eigene Faust ein Spiel
der Ehrsucht zu beginnen. An Vorzeichen dafür Hess er's
— 72 —
nicht fehlen. So weigerte er sich, die Diktatur in Sizilien
niederzulegen und die Annexion im Namen Yittorio Ema-
nueles zu vollziehen. Und stets wahrte er eine Sonder-
stellung, ohne Bücksicht auf die Wünsche der Einheits-
monarchie, handelte als echter Kondottiere völlig unabhängig
von fremder Zucht und Ordnung, abhängig nur vom Eigen-
willen und Eingebung des Augenblicks, seiner impulsiven
Natur gemäss. Aspromonte und Montana Messen die Folgen
solcher Abenteurerpolitik, solcher naiven Eondottiere-
gesinnung, die mit ein paar Handstreichen und Putschen
Weltgeschichte zu machen und staatliche Entwicklungen zu
erzwingen glaubt. Aber wo sollte er Selbsterkenntnis, wo
vernünftiges Abwägen der Mittel lernen, wenn märchen-
haftes Glück ihm das Reich beider Sizilien in den Schooss
geworfen hatte? Die Tausend von Marsala, seine famose
Bande, vollbrachten ja einmal tausend Wunder, warum nicht
auch später und immer? Dass solcher Erfolg, worunter Er-
stürmung des von dreifacher Übermacht verteidigten Messina
den Glanzpunkt bildete, weniger seiner zweifellosen Tatkraft
und Umsicht und der ebenso zweifellosen tapferen Be-
geisterung seiner Freischaren zuzuschreiben sei, als vielmehr
dem eigentümlichen Zeitmilieu, das seine Gegner lähmte,
kam dem siegreichen Kondottiere nicht zu Sinn. Der
Mann besass eine grosse Eitelkeit und glaubte an seinen
Stern.
Nicht ganz mit Unrecht Denn ein so fester Glaube an sich
selber entspringt dem geheimnisvollen Erkennen, dass man
ein Rüstzeug des historischen Karma sei, daher unüber-
windlich wie das Schicksal selber. Deshalb minderten Gari-
baldis Fehlschläge nicht nur nicht seinen Ruhm, seine Geltung
als Nationalheros des Risorgimento, sondern nützten praktisch
der von ihm verfochtenen Sache. „Aspromonte^^ diente der
Einheitsmonarchie zum Beweis, dass sie auf gesetzmässige
Ordnung unter allen Umständen hinsteuere, „Mentana^^ löste
Italien vom unnatürlichen französischen Protektorat los, da
die Nation, ohnehin durch das von Frankreich eingestrichene
Trinkgeld für Solferino (Nizza-Savoyen) erbittert, niemals die
ihrem Helden zugefügte Unbill vergass. Beide missglückten
Versuche steigerten nur die allgemeine Verbreitung des von
- 73 —
Oaribaldis putzigem Adjunkten Pantaleone ausgegebenen
Losungsworts: Rom oder den Tod!
Überschauen wir also Garibaldis Lebenswerk, so müssten
wir die Italiener verachten, wenn sie nicht unauslöschliche
Dankbarkeit ihrem Befreier bewahrten. Mit solcher mensch-
lich-schönen Pietät, wie mit den damaligen aufgeregten
Schwärmereien des Auslands für diesen Märchenhelden, hat
jedoch unparteiliche Geschichte nichts zu schaffen. Ihr
bedünkt der weltberühmte Befreier nur ein famoser Banden -
häuptling, das wahre Muster eines solchen, dessen stattliche
Haltung bezaubernd auf die Menge wirkte, weil er selbst
innerlich zu dieser Menge gehörte Nicht um Haupteslänge
ragte er aus ihr hervor, wie die grossen Führer der Mensch-
heit, sondern stak tief mitten drunter. Ein vorzüglicher
Freischärler, wie auch seine Alpenscharmützel an Tiroler
Grenze beweisen, voll natürlichem Mutterwitz und raschem
Blick, ruhelos nach Taten schweifend, was er eben unter
Taten verstand: phantastische Handstreiche, die oft wie
Knabenstreiche aussahen. Natürlich sehr tapfer. Doch man
kann tapfer wie ein Löwe sein, ohne doch die Mähne des
geborenen Herrschers schütteln zu dürfen. Auch an einer
gewissen praktischen Lebensklugbeit gebrach es ihm nicht,
das zeigt manche Einzelheit seiner kurzen Administration
auf Sizilien, seine Erkenntnis, dass er ohne Hülfe piemonte-
sischer Regulärer die Volturnolinie und Gaeta nicht zum
Fall bringen könne, vor allem seine Einladung an Vittorio
Emanuele ins Lager von Capua und dessen erste Begrüssung
dort als „König von Italien". Denn wer nur erhabene Selbst-
losigkeit hier bewundert, irrt närrisch. Es kam Garibaldi
schwer genug an, nicht selber als Oberhaupt einer italie-
nischen Republik die Ernte seines Glückes einzuheimsen.
Er beugte sich einfach der Gewalt von umständen, die sich
ihm unwillkürlich veranschaulichten, als er die Grenze seiner
Leistungsfähigkeit und derjenigen des Freischärlertums über-
haupt vor Gaeta erkannte. Auch dass er alle Titel und
Dotationen ausschlug, entsprach nicht einem Mangel an
Eigennutz, sondern einer grössergearteten Eitelkeit So klein
dachte der Eroberer und Befreier nicht von sich, dass er
durch dynastische Rangverleihung in die Reihe gewöhnlicher
— 74 —
Eronendiener und Handlanger zurücktreten sollte. Gerade
diese scheinbare Selbstlosigkeit hob ihn aufs höchste Piedestal
der Macht, nur so blieb er sein Leben lang der bürger-
liche Nebenkönig des Volkes. Man missverstehe uns nicht:
idealen Sinn möchten wir Giuseppe Garibaldi nicht ab-
sprechen, denn so überaus kläglich erscheint dem Wissenden
die Menschennatur, dass schon viel dazu gehört, den Annun-
ziatenorden oder den Herzogstitel auszuschlagen, und die
Laufbahn grosser Männer sich am hübschesten macht, wenn
ein Herr v. Bismarck zum Grafen, zum Fürsten, zum Herzog
von Stufe zu Stufe .,höher" steigt. Derlei Scherze ersparte
sich der grosse Eondottiere, der sich so gut zum ,,Herzog
der Abruzzen^^ geeignet hätte. Als schlichter Garibald sank
er ins Grab — wohl wissend, dass er nur so heimlicher
König und Abgott der Nation bleiben durfte. Pose und
Pathos in der Sucht, als antiker Römer zu gelten und auf
Caprera als Cincinnatus hinterm Pfluge zu wandeln, daneben
schlaue Berechnung bei dieser Idealität, beides aber un-
bewusst und naiv, wie bei einem in fröhlichem Phrasen-
rausch nachtwandlerisch dabinwandelnden Träumer. Der
Eondottiere, wie er leibt und lebt! Fest überzeugt, selbst-
los einer Sache zu dienen, indess er einfach dem dringenden
Bedürfniss folgt, seiner Naturanlage als individualistischer
Wildling zu fröhnen. In der Tat, wenn man Garibaldis
stürmische Jugendabenteuer als Seemann und sein Vaga-
bundieren in Südamerika bedenkt und des auffälligen Vor-
gangs sich erinnert, dass es ihn nach dem ersten Misslingen
der Einheitsrevolution unwiderstehlich nach dieser süd-
amerikanischen Romantik zurückzog, aus welcher er sich
auch seine tapfere Gattin, eine richtige Räuberbraut, her-
holte, so fragt man sich mit Fug, ob er unter andern
Verhältnissen nicht einfach dem Flibustier Walker geglichen
hätte, der damals Nicaragua und Honduras unsicher machte.
(In seiner Weise ein bedeutender Mann, intellektuell
viel bedeutender, als der welthistorische Italiener gewesen
ist, eine neue Auflage von Byrons ,,Cor8ar", der ja auch
ein Feind der Unterdrücker sein will ) Zu derlei proble-
matischen Naturen zählte Garibaldis schlichtes Heldentum
freilich nicht, er war aus einem Guss ohne inneren Bruch
— 75 —
und Zerissenheit, von keines Gedankens Blässe angekränkelt,,
aber nar weil er, gradeheraus gesagt, zu gewöhnlich, zu
herdenmenschlich war. Von Hamlets Skrupeln wird am
wenigsten geplagt, wer eben nicht in Hamlets reichem
Geistesübermass erstickt. Fast ohne jede Bildung, von
Fähigkeit zum Nachdenken nicht beschwert, stand der „Be-
freier^^ ganz inmitten der beschränkt naiven Masse, zu deren
Idol er sich deshalb so vorzüglich eignete. Das Volk liebt
die Geistesaristokraten nicht, das ist seine eigentlichste
Demokratie, und wie es seine eigenen kindischen und
begehrlichen Auflehnungsinstinkte für ideale Freiheitsliebe
hält, so staffiert es auch seine demagogischen Vertreter,
wenn sie ihren Willen - zur - Macht als Rebellenhäuptlinge
ausleben, mit idealen Tugenden aus.
Noch einmal, wir möchten nicht missverstanden werden:
Garibaldi war trotz alledem, was man gemeinhin eine edle
Natur nennt, er hatte vom Helden nicht bloss die physische
Bravour, sondern heldenhafte Züge des Gemütes. Ganz Ge-
müt und Leidenschaft, sonst nur mit mittlerem rein praktischem
Verstände begabt, glich dieser intellektuell so Geringfügige^
darin dem hochintellektuellen Lamartine, dass nichts
Kleinliches und Gemeines seine etwas plumpe Vornehmheit
befleckte. Doch solch gerechte Anerkennung seiner Lauter-
keit beeinträchtigt dem Tieferblickenden nicht das Ver-
ständnis, das wir in ihm lediglich einen letzten Ausläufer
jenes Geschlechts von Konquistadoren und Kondottiere vor
uns haben, in welchem die romanische Rasse ihre nomaden-
haft individualistischen, nicht aber sozial und politisch im
Gemeinwesen schöpferisch wurzelnden, Kräfte entlud. Von-
den Kreuzzügon bis zur Eroberung Mexikos, von den
Fahrten des Genuesen Kolumbus bis zu dem Zug der
Tausend von Marsala schlingt sich hier eine gleichförmige
Kette. Wenn Taine gewisse korsische Bandenführer, die
als Verbannte mit einem Häuflein landeten und die ganze
Insel erobern wollten, als Ahnen Bonapartes in Anspruch
nimmt, so macht er sich nur lächerlich. Bringt man aber
solche Erscheinungen in Verbindung mit Garibaldi, so wird
die Ähnlichkeit eine schreiende. Ein freundliches Schicksal ge-
stattete eben dem letzten Kondottiere, seine kampffrohe Unrast
— 76 -
und seinen ursprünglich ganz selbstischen Individaalismus
ins Oewand altruistischer Idee zu kleiden, so dass er gleich-
sam als erkorener Bravo der Freiheit sich einen geschichtlichen
Kothurn unterschnallen durfte. Doch stelle dich auf ellen-
hohe Socken, du bleibst doch immer was du bist, kichert
Mephisto dazwischen. Gewiss liebte er heiss sein un-
glückliches Vaterland, zugleich mit dem naiven Hass des
Italers gegen alle ausländischen „Barbaren^^; doch wie be-
zeichnend, dass ihn, als sein angeblicher Lebenszweck
erreicht und sein Vaterland einig auferstanden, kein zu-
friedenes Genügen in seiner ruhmreichen Villeggiattura
festhielt, sondern er eiligst nach neuen Abenteuern aus-
lugte.
Der König ist tot, es lebe der König! die Einheitsidee
tat ihre Schuldigkeit, jetzt kommt die sogenannte Menschheit
dran, und der greise Bäuberhauptmann des Menschheits-
Bisorgimento zieht auf neue Abenteuer ins verhasste Frank-
reich, um als Don Quixote mit Windmühlen zu fechten.
Denn siehe, wohl haben die Franzosen seine eigene Heimat
Nizza heimtückisch eingesackt, aber der Tyrann Louis,
dem man für Magenta und Solferino eigentlich danken
sollte, hat nun einer Bepublik Platz gemacht, und „Bepublik'^
— ah, dies Zauberwort geht allem vor, macht uns alle zu
Brüdern. Auf! wider die Kriegsknechte des nordischen
Barbarendespoten, die sich erfrechen, gegen eine allein-
seligmachende Bepublik ihr brutales Schwert zu zücken.
„Garibaldi kommt? Das fehlte uns grade noch !^^ Dieser
Stossseufzer Oambettas über den harmlosen Phantasten
spricht Bände, zeigt die Kluft, die diesen Sagenhelden einer
überwundenen Vorzeit von dem eisernen Bealismus grosser
sozialer Maschinerie modernen Staatswesens trennte. Doch
bezüglich der Harmlosigkeit täuschte sich Gambetta gründ-
lich. Denn hier zeigte sich alsbald das richtige Merkzeichen
desGondottiere: unbezwiugliche Eitelkeit. Dass der Gewaltige
von Caprera nicht ohne weiteres als fremdländische Jung-
frau von Orleans, als Erretter und Befreier Frankreichs
gefeiert wurde, wurmte den angeblich selbstlosen Idealisten
tief. Seine Bancune, von seinen beiden Kronprinzen
Menotti und Bicciotti und dem Günstling Bordone gestachelt,
— 77 -
machte sich in der bekannten ekelhaften Eriegsgerichtsposse
gegen einen französischen Obersten, sowie seinen verrückten
Prahlereien an seine „jungen Soldaten der Freiheit^^ Luft:
diese seine Strolche in Rothemden seien die ersten gewesen,
die den Rücken deutscher Soldateska sahen ! Die Eroberung
der preussischen Fahne in Dijon machte ihn vollends toll.
Auf die Empfindlichkeit der gedemütigten französischen
Nation, die er doch angeblich wie ein Bruder liebte, nahm
er ebensowenig Rücksicht wie auf die militärischen Ope-
rationen. Freund und Feind sind darüber einig, dass seine
selbstgefällige Lässigkeit einen Hauptnagel zu Boorbakis
Sarge beitrug. Dass französische Militärs bitter lachen,
wenn der heilige Name des weltberühmten Heros genannt
wird, kann man ihnen nicht verdenken. Immerhin gehen
militärische Beurteiler mit ihrem Berufshass gegen Milizen
und Freischaren hier viel zu weit. Garibaldi konnte nichts
dafür, dass man ihn überschätzte, dass jenes Milieu-Olück.
das ihn auf ein Piedestal erhob, den Umriss seiner Gestalt
ins Masslose vergrösserte, bis der Bandenchef sich einen
grossen Heerführer glaubte. Doch worin seine Begabung
lag, davon lieferte er noch in dieser Schlussepisode seines
wechselreichen Lebens genügende Proben: Der Überfall von
Chatillon und die Gefechte um Dijon zeigen ihn immer
noch als den Mann verwegener und geschickter Handstreiche,
vor allem auch als den altbewährten Erreger der Massen.
Seine internationalen Strolche fochten mit respektabler
Tapferkeit, mit ungestümer Begeisterung, man kann es nicht
anders sagen, und alles, was preussischerseits zur Ab-
Schwächung dieser Erfolge vorgebracht wird, ist müssiges
Gerede. Lächerlich mochte der grosse Kondottiere werden,
verächtlich nie. Und so wollen wir bei aller Skepsis doch
mit wohlwollender Achtung von dem merkwürdigen
Menschen scheiden, dessen gespreiztes Ich als mittelalter-
licher und so überaus italienischer Bandenchef noch einmal
den atavistischen Rückfall im primitiv barbarischen Individu-
alismus sogenannter Kraftmenschen, welche sich mit der
ehernen sozialen Ordnung der nivellierenden Moderne nicht
befreunden mögen, dem europäischen morschen und matten
Kulturleben vor Augen führte.
— 78 —
Ob der Dichter mit dem König gehen soll, scheint min-
-destens zweifelhaft Aber dass Verschwörer und Banden-
iührer zusammengehören wie Zwillinge, liegt auf der Hand.
Der grobe Oermane versteht nichts davon, er haut mit
Knüppeln, und mannhaften Protest in tyrannos vermittels
Dolchstössen verschmäht er. Englands sozialdemokratischen
Aufständen unter Wat Tyler und Jack Gade gingen ebenso-
wenig langwierige Oeheimbünde voraus, wie dem Losbruch
-des deutschen Bauernkrieges, dessen „Armer Konrad^^ nur
kurze Zeit und offen genug vorauswühlte. Gesetzmässiger
Widerstand, dann offenes Losschlagen, so spielten sich idle
englischen Rebellionen ab. Nicht so in der Heimat Gati-
linas und der Sicilianischen Vesper. Auch die Jacquerie
des Mittelalters und der Jakobinismus übten lange geheime
Minierarbeit Es steht heut fest, dass die Klubs, lebhaft
unterstützt durch die damals sich ausbreitende Freimaurerei
{Logen der Illuminaten und Rosenkreuzer), allein die sonst
ohnmächtige Missstimmung der Massen revolutionsreif
machten. Dreihundert Jakobiner des Zentralklubs führten
alle gewaltsame Entwicklung der Revolution herbei. Hier-
bei vergesse man nicht, dass das gallo- germanische Nord-
frankreich alles von konstitutioneller Gesetzmässigkeit erhoffte,
dass im latino-gallischea Süden der eigentliche Sitz des Klub-
wesens lag, dass auch das girondistiche Talent zur Intrigue
und Konventikelverschwörung aus dem halbitalienischen
Südosten stammte, dass nicht zufällig die Marseiller die
Marseillaise nach Paris brachten. Diese ungewöhnliche
Neigung und Begabung für Verschwörungen, nach dem
klassischen Beispiel der Brutus und Gassius, durchzieht die
ganze italienische Geschichte. Der ehrgeizige Wühler und
Volkstribun Gola Rienzi berief sich auf Gajus Gracchus und
jeder vornehme Jüngling, der einen Visconti oder Alessandro
Medici mit dem Dolche abmurkste, ernannte sich zum Brutus.
Doch wie der historisch weitaus bedeutsamste und er-
folgreichste Bandenführer unserer Moderne angehört, so auch
der gewaltigste politische Verschwörer aller Zeiten. Und
wie zwischen einem Gonnetable von Bourbon, dem hoch-
geborensten Gondottiere, mit seiner Plünderung Roms und
dem niedriggeborenen Mann aus dem Volke, der seinen
— 79 —
Bothemden zurief: „Rom oder den Tod !^\ eine ethische Eluft
klafft, die unendlich zu Gunsten unserer modernen Ent-
wicklung spricht, so steht auch Mazzini ethisch wie intellek-
tuell am höchsten unter allen Verschwörern der Oeschichte.
Seine G^eschicklichkeit und nie ermattende Spannkraft in
Bearbeitung seines eigentümlichen Berufes sind ohne Gleichen.
„0 weh, die Genuesen !^^ seufzte schon Dante, da diese
mächtige Handelsstadt keine Helden und Künstler, wohl aber
berechnende glatte Plutokraten Ton jeher erzeugte. Die
kühle, geduldig rechnende, zähe Geheimarbeit dieses genue-
sischen Advokaten Giuseppe Mazzini, der als der andere
Hlg. Josef des Risorgimento sich zu Italiens Schutzpatron
neben St Josef Garibaldi aufwarf, hat wohl viel von genue-
sischer Art, welcher man eine gewisse Perfidie zuspricht.
Ja, es war perfides Intrigantentum, aber von der höchsten
Art, und wenn bei Jesuitenmoral der Zweck die Mittel
heiligt, so mochte dieser Advokatus Diaboli in Augen der
Dunkelmänner sich gern damit entschuldigen, dass er per-
fide nur gegen das Perfide, gegen die Feinde der Mensch-
heit, handele. Der historische Ruhm seines Kameraden, des
Bandenführers, überstrahlt natürlich den seinen, da die
Menge ja nie das planende Hirn, sondern nur das Muskel-
spiel des schlagenden Armes versteht Allein, jeder feinere
Italiener weiss, dass Garibaldi nur ein Werk und Werkzeug
Mazzinis, ein Schwert in der Hand des Geheimbündlers war.
Ebenso hochgebildet und weitsichtig — in London ver-
kehrte er intim mit allen geistigen Spitzen, so dem Ehepaar
Carlyle — wie jener beschränkt und unreif, ebenso verstandes-
klar und staatsmännisch, wie jener phantastisch und welt-
unkundig, stellte Mazzini seine unerschöpfliche Organisations-
kraft in den Dienst jener einen grossen Idee, die damals
als fixe Idee aller besseren Italiener Denken beherrschte.
Aber die nationale Wiedergeburt schien ihm eng verknüpft
mit allgemeiner Revolutionierung der Menschheit, sein starrer
Fanatismus schloss jedes Paktieren mit der savoyischen
Monarchie aus und nur mit schwerem Herzen gab er sich einst-
weilen damit zufrieden, dass die Einheit nicht auf dem Wege
der Republik erfolge. Einstweilen, denn seinen Anhängern ver-
machte er nichtsdestoweniger das republikanische Ideal und
— 80 —
tiefer, als man ahnt, hat es sich in weitesten Kreisen Italiens fest-
gewurzelt. Ein durch Bildung und Besitz mächtis^er Teil denkt
noch heut streng mazzinistisch, seinen tötlichen Hass gegen das
Pabsttum insbesondere impfte er dem populären Empfinden
ein. Die unauslöschliche Wut, mit welcher alle Klerikalen
und Reaktionäre noch heut sein Andenken verfolgen und die
noch in Leon Taxils gefälschten Freimaurerfabeln ergötzliches
Echo fand, gibt einen Begriff von seiner „satanischen" Be-
deutung. Zwar traf er bei Beginn seines Auftretens die
Karbonari-Bünde vor, denn ohne Verschwörerei kann ein
Yolk auf primitiver Entwickelungsstufe, dem jede Möglich-
keit offener Opposition fehlt, nun einmal nicht bleiben. Auch
hier begegnet uns das nämliche Symptom wie bei Garibaldis
Kondottiere-Risorgimento: man fasst fälschlich als besondere
Erscheinung auf, was nur dem Allgemeincharakter eines
nationalen Milieu entspricht. Gibt's keine Karbonari mit
politischen Zielen, so gibt's Kamoira und Maffia zu gemeinsten
Verbrecherzwecken, auch sie natürlich mit politischen Tiraden
verbrämt und eng in die „Politik", was man so zu nennen
pflegt, die niedrige Stellen- und Bereicherungsjägerei des
Staatshaushalts eingreifend. Und gibt's keine Mazzinischen
Geheimbünde mit bestimmtem Leitmotiv, so keimt dafür der
Anarchismus, diese entzückende Blüte moderner Kultur, wo
bestiale Verbrecherinstinkte in verdrehten Gehirnen als hohe
ethische Befreiungsideale rumoren, wo Zucht- und Irren-
häusler eine Verschwörung aller Abnormen gegen die soziale
Ordnung als eine heilige Liga der Welterlösung stiften.
Es wäre übertrieben, Mazzini für diese moderne Assas-
sinenwirtschaft mittelbar verantwortlich zu machen, da der
Anarchismus, nirgendwo in Europa sonst triebkräftig, als
nationalitalienisches Gewächs aus dem dortigen Milieukreis
naturnotwendig herauswächst. Allein, leugnen lässt sich
nicht, dass die düstere Hartnäckigkeit dieses Verbrecher-
geheimbundes, der bezeichnenderweise nur im Nihilismus
des barbarischen Moskowiterreichs sein anständigeres Gegen-
stück findet, sozusagen in Mazzinis Schule ging. Denn erst
er, ein Genie des Verschwörertums, brachte diese nationale
Sonderart zu höchster Vollendung. Das zersplitterte und
konfuse Karbonari wesen machte den fremden Gewalthabern
— 81 —
keine Angst, alle Futsche misslangen. Da erschien der
willensmächtige scharfblickende Genuese und wob mit ent-
schlossener Beharrlichkeit über ganz Italien, ja die ganze
Welt, wo immer Italiener weilten, ein feines Spinngewebe,
das sich mehr und mehr zu stählernem Netz verdichtete,
österreichische, bourbonische und weltliche Pabstherrschaft
einschnürend und erstickend. Wirklich ein seltenes Schau-
spiel, diese ungeheure Yerschwörergesellschaft mit Filialen
in allen Zentren Europas! Vor solcher Leistung hätten die
famosesten Verschwörer aller Zeiten sich als ohnmächtige
Waisenknaben gefühlt. Gleichsam auch ein Triumph moderner
Technik und ihrer ausgedehnten Yerkehrsmittel ! Und alles
geleitet von dem einen unheimlichen Grossmeister in London,
der abwesend mit seinem ordnenden Geist das ganze revo-
lutionäre Italien regierte! Welche Machtfülle sprudelt in
dem Vorgang, dass unter den Augen der päbstlichen Re-
gierung Mazzini so uneingeschränkt in Rom die Obmacht
behauptete, dass sein Wink widerstandslos die römische
Bepublik hervorzauberte, deren Kurzlebigkeit doch nur das
rücksichtslos brutale Einschreiten Frankreichs mit ungewöhn-
lichem Machtaufwand verschuldete! Und Mazzinis gewaltiger
Odem blies auch jenen Todesmut seinen Landsleuten ein,
den Europa von ihrer legendären Schwäche nie erwartet
hatte. Zwar straften die Italiener die alte Legende von
ihrer angeborenen Feigheit schon lange Lügen, als ihr
Landsmann Napoleon , auf den sie so stolz waren und aus
seinem Anblick erst Zuversicht auf ihre verborgene Kraft
schöpften, sie zu militärischer Zucht erzog. Viele angeblich
„französische^^ Infanterie- und Kürassierregimenter bestanden
fast ganz aus Italienern, hatten ihre Depots von Forli bis
Florenz, Bologna und Padua, und das piemontesische 111.
de ligne gehörte zu den ruhmreichsten Truppenkörpern.
Doch nach Zerstörung der napoleonischen Einheitsherrschaft
zerfiel auch dies neugegründete Kriegcrtum, und mit leichter
Hühe zerstreuten die Österreicher überall die Karbonari-
scharen. Das änderte sich auf einmal unter Mazzinis
Regiment, wie man es wohl nennen darf. Der reaktionäre
Militarismus, dem leichtgläubig unser trockener modemer
Realismus mit seiner höhnischen Geringschätzung aller
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 6
— 82 -
idealen Momente nachschwatzt, hat hier wie anderswo die
Entstellung verbreitet, das reguläre sardinische Heer habe
allein etwas Ernstes getan. Yerlachenswerte Unwissenheit!
Was haben der heldische Untergang der Pisaner Stadenten-
legion, die grimme Verteidigung von Brescia und Catania,
die für immer ruhmvolle Gegenwehr von Venedig und die
gradezu heroischen Kämpfe um Bom gegen doppelte fran-
zösische Übermacht, wobei Garibaldis Freischar keineswegs
die Hauptrolle spielte, sondern der beste Teil der römischen
Bevölkerung, mit Karl Alberts und Vittorio Emanueles stets
geschlagenen Truppen zu tun! Selbst bei San Martino
(Solferino) dürften die zahlreichen Freiwilligen aus allen
Gauen Italiens den trotzigen Elan der piemontesischen Sturm-
angriffe hauptsächlich verursacht haben. Wer nun dies zu-
gesteht, hat sich hingegen gewöhnt, die todesmutige Hin-
gebung der Freibeitsstreiter immer mit Garibaldis Person in
Verbindung zu setzen. Auch dessen Bothemden bestanden
ja meist aus Mazzinisten und ihre erstaunlichen Taten auf
Sizilien — wo alle vorherigen Aufstände durch Mazzini
selber entfacht — verblassten keineswegs bei Montana, wie
die historische Legende wähnt Wir selber wiesen im Licht
genauer Forschung einmal nach, dass die angeblichen
,, Wunder von Mentana*' höchstens Wunder freischärlerischer
Tüchtigkeit gegen doppelte reguläre Übermacht gewesen
seien. Dass die ungewohnte Wirkung der Faillyschen Ghasse-
pots, nachdem die Freibanden bereits die päbstlichen Kreuz-
ritter überwältigt hatten, eine Panik erzeugte, stimmt, ob-
schon selbst feindliche Berichte zugaben, Garibaldis Nachhut
habe heroisch den Bückzug gedeckt. Dass aber tausend
Tote und Verwundete dem Chassepot erlagen, ist eitel
Flunkerei, vielmehr übertraf der Blutverlust des so viel
zahlreicheren und mit starker Artillerie versehenen Gegners
(Garibaldi besass nur zwei Geschütze!) bei weitem den der
Garibaldiner, und dass viele Rothemden in Gefangenschaft
fielen, scheint lediglich eine Notfolge des verzweifelten
Widerstands der Nachhut Wo bleiben da die „Wunder des
Chassepots" gegenüber den schlechtbewaffneten undiszip-
linierten Freischaren? Auf solche Beispiele sollten die Feinde
jeder Volksmiliz sich doch nicht bonifen! Nun wohl, ganz
— 83 —
ebenso brav schlugen sich die Stadtmiiizen des Risorgimento
überall, wo kein Oaribaldi und sein Olück sie anfeuerten,
und hier, wie in den vielen Intermezzi gescheiterter und in
Blut erstickter Einzelempörungen auf Befehl Mazzinis, fühlen
wir überall den grossen Verschwörer als treibende Kraft.
Dieser kalte Fanatiker goss seine feurige Energie durch alle
Adern des weitverzweigten Bundeskörpers, seine Oeheim-
gesellschaften stählten und vorbereiteten das Volk zu seinem
todesemsten Werke. Aus Mazzini schöpfte Italien seine
rastlos unbeugsame Begeisterung.
Nicht dem „alten Löwen von Caprera", dessen Haupt-
stärke im Brüllen lag, sondern den überraschenden Tatzen-
schlägen und Sprüngen des stets im Dschungel geheimnis-
voller Allgegenwart auf Lauer liegenden Tigers an der
Grenze erlagen die Unterdrücker. Hannibal vor den Toren!
Mazzini an der Grenze! Dieser Schreckensruf hauchte Ent-
setzen in alle Tyrannenseelen. Spaziert man in Lugano
durch das einsame Haus, dessen Erhaltung mit Gedenktafel
eine Mazzini nahestehende jüdische Familie (Nathan) pietät-
voll besorgt, wo Mazzini dicht am Feinde sein Yer-
schwörungshauptquartier aufschlug, so erwehrt man sich
nicht eines Schauers scheuer widerwilliger Ehrfurcht Ehr-
furcht vor so gewaltiger Arbeit mit endlichem Erreichen
des Ziels nach unsäglichen Mühen, Widerwille gegen die
Heimlichkeit solch lichtscheuer Methode, die nur zu sehr
an Yerbrecherpraktiken erinnert. Wenn die Anarchisten
und Mailänder Verbannten, die heut in Lugano hausen, an
Mazzinis Haus vor über pilgern, schauen sie zu ihm als ihren
Stammvater empor. Für Italiener hat seine historische Art
nichts Abstossendes, den Germanen aber wird solch unheim-
lich unterirdisches Maulwurfswühlen niemals anziehen. Uns
blieb des Romanen naive Skrupellosigkeit fremd, der als
Unterdrücker wie als Unterdrückter einfach jedes Mittel der
Grausamkeit und Hinterlist für berechtigt erachtet, um sein
Recht durchzudrücken. Das Gift der Borgia widert uns
kaum mehr an, als Mazzinis Dolche und Bomben. Denn
diese beispiellose Yerschwörerarbeit umfasste alle Mittel
und Möglichkeiten. Wo der Tiger den Sprung verfehlte,
da biss die Schlange. Wo das Schwert des affilierten
- 84 —
Bandenehefs zerbrach, da zuckte das Messer des Heucbei-
mords.
Das Blut des päbstlichen Reformministers Bossi klebt an
Mazzinis Händen und war dies einer jener politischen Morde,
zu deren Entschuldigung man schon Massstäbe jenseits tob
Gut und Böse suchen muss. ,JSr sei yerflucht, weil er mir
das getan !^^ tobt Kleists Hermann, als er eine edle Tat des
Septimius hört. „Nehmt eine Keule doppelten Gewichts und
schlagt ihn tot!^ Grade weil Rossi von seinem Standpunkt
das Beste wollte, ein edler und begabter Mensch, grade
deshalb musste er sofort gemeuchelt werden, damit nicht
das päbstliche Regiment durch ihn ein unverdientes Wieder-
erstarken erlange. Das ist ja ganz folgerichtig, aber mit
solcher politischen Mond, wo der höhere Zweck jede Untat
beschönigen soll, verteidigt selbst der Anarchismus seine
blödesten Frevel. Wie sein ausserordentlicher europäischer
Einfluss durch geheime Verbindungen (Freimaurer) den ab-
geneigten Louis Napoleon zuletzt doch zu bewaSheter
Intervention für Italien bewog, so suchte Mazzini ihn zuvor
durch Orsinis Attentat wegzuräumen, als er sich nicht
gefügig zeigte. Wo Überredung nicht fruchtete, half Ein-
schüchterung und die Geheimgesellschaften übten einen im
Verborgenen schleichenden Terrorismus, dem sich niemand
gefahrlos entzog. — Man wundert sich vielleicht, dass wir
bisher den Namen Gavours nicht erwähnten, der als Dritter
im Dreigestim der Befreier glänzen soll. Wir können diese
Wertmessung nicht unterschreiben Dieser vortreffliche Graf
aus alter Familie, human, liberal, patriotisch, und wie die
schönen Worte alle heissen, mit denen Ordnungs- und
Herdenmenschen einen Wackem aus ihrer eigenen Mitte
abstempeln, leistete dem Haus Savoyen, dem Königreich
Italien unvergängliche Dienste. Unter allen Lords und
GenÜemen, die als besagte Liberale, Humane und der-
gleichen ihre gemässigte Reformfreudigkeit in Salons,
Rednertribünen und Ministerien spazierenführten, bleibt
er die achtungswerteste Erscheinung. Seiner lautem
Vaterlandsliebe kann man ebensowenig Aufrichtigkeit
absprechen, wie seiner Staatsmannschaft planvolles Be-
harrungsvermögen und erfinderische Gewandtheit Gleich-
— So-
wohl heisst es Bismarck herabsetzen, wenn man ihn mit
Cavoor (warum nicht gar mit Grispi, und auch dies geschah!)
TBTgleichen will. Bei der Grundverschiedenheit beider
Nationen yermochte Deutschland keinen Mazzini hervor-
zabringen, eine Garibaldirolle zu spielen fiel dort keinem
ein, solch exotisches Revolutionieren bleibt im Norden eine
innere Unmöglichkeit, da der Deutsche nur auf Kommando
Hat betätigt und alles tollkühn Waghalsige, alles vulkanisch
Temperamentvolle, ihm fernliegt So musste das Schöpferische
der Einheitsbewegung bei uns auf gewöhnlichem ausgetre-
tenem Geleise vermittels eines Ministers amtlich besorgt
werden und alles Dämonische in Mazzini, alles Trotzige in
Garibaldi färbte hier auf einen royalistischen Junker ab.
Man braucht aber nur Gavours ehrliches Spiessbürger-
gesicht anzuschauen, um zu begreifen, dass dieser sehr brave
und sehr kluge Diplomat unmöglich mit einem so idealistisch
antikonventionellen Elementarereignis wie dem Bisorgimento
innerlich zusammenhängen konnte. Für Italiens Einheit und
Freiheit kam es wahrlich nicht darauf an, ob es in monar-
chischer oder republikanischer Staatsform sich gestaltete.
Gavours ganzes Herz hing aber an konstitutioneller
Monarchie, das blieb ihm die Hauptsache, der Patriot ging
durchaus im amtlichen Minister auf. Mit den wirklichen
Erfolgen der Bewegung hatte seine Staatskunst, wie man
derlei naive Yersuche, historische Entwickelung offiziell zu
beeinflussen, zu betiteln pflegt, blutwenig zu schafien. Dass
er und sein origineller biderber König, dessen kleine
behäbige Gestalt monarchische Legende vergeblich über
Lebensgrösse auswattieren möchte, mit beiden Händen zu-
griflTen, als Mazzini ihnen durch seinen Eondottiere ünter-
und Mittelitalien und nachher durch die von ihm heran-
beschworenen französischen Waffen Oberitalien schenken
liess, dürfte doch kaum als historische Tat gelten. Fürsten
und Minister nehmen eben so viel, als sie kriegen können.
Gavours Überschätzung hängt eng mit der Mythe zu-
sammen, die den lustig-schlauen wackeren Schnurrbartstreicher
Tittorio Emanuele zu einem selbstherrlichen Urheber des
Bisorgimento herauflügt, während beide zuguterletzt auch nur
Figoranten des geheimen Oberregisseurs wurden, der ihnen
— 86 —
das Stichwort gab. Als echtem Macchiavellisten kam es
dem unheimlichen Grossmeister der Revolution nicht darauf
an, auch mit dem verpönten Turiner Hofe Fühlung zu
gewinnen. Diplomat Cavour mit der kindlichen Ein-
bildung aller berufsmässig „geschulten'^ Staatsmänner dachte
wohl noch auf dem Sterbebette, dass er Mazzinis unheilvolle
Macht zu Gunsten seiner Monarchie ausgebeutet habe, indess
er nur ein Hebel des grossen Verschwörers blieb. Denn
indem er, durch Einfluss und Anschluss des Mazzinismus
ohnehin gebunden, mit jener feierlichen Überzeugung, die
so viele zuckersiisse Liberale des Kontinents aus falschem
Studium britischen Staatslebens schöpften, den Papierfetzen
„Yerfassung^^ als Fetisch vorantrug und mit Feuereifer die
Parlamentsmaschinerie nach britischem Muster ins Bollen
brachte, vergiftete der arme Cavour, gehasst von den Reak-
tionären, verachtet von den Revolutionären, unheilbar das
monarchische Prinzip. Mit kichernder Schadenfreude sah
Mazzini zu, wie das bigotte Haus Savoyen in unversöhnliche
Todfeindschaft mit dem Klerus geriet und unlösbar in den
Anti-Papismus verstrickt ward, wie sein starres ultra-legitimes
Dynastentum ein unverwischlich revolutionäres GiBpräge
erhielt, das schon im amtlichen Rangstempel »König durch
den Willen der Nation^ sich festlegte. So bleibt Cavours
konstitutionelles Königtum, einerseits auf Schritt und Tritt
gehemmt durch die hier wirklich machthabende Schwätzer-
wirtschaft in Monte Gitorio, andererseits zu tyrannischen
Gewaltraassregeln und Grossmachtkitzel genötigt, um sich
im In- und Ausland zu behaupten, nur eine Etappe zur
Republik uiid zwar einer radikaleren, nach Mazzinis Herzen,
als dieser sie je bei Lebzeiten hoffen konnte. Es ist, als
habe dieser tief verschlagene Weitschauende Cavours
Monarchie als notwendigen Durchgang zu seinem letzten
Ideal vorgeahnt, die sich erst abwirtschaften müsse. Cavours
liberale Staatsweisheit hielt nur für den Augenblick revolu-
tionären Zersetzungsprozess auf. Wen sehen wir also als
einzig Überlebenden auf dem Schlachtfeld? Mazzinis Dämon.
Erst die künftige italische Republik wird der ganzen Grösse
dieses düstern Einsamen gerecht werden, der einen „grossen^'
Nationalhelden, einen „grossen^' Minister und einen „grossen^^
— 87 —
König nur als gehorsame oder störrige Rosse vor sein heim-
liches Triumphatorgespann schirrte.
Grösse, ja, aber immer nur unteren Ranges. Dass er
zo den schöpferischen Herrschematuren gehörte, dafür liegen
keine Proben vor. Sein Metier blieb halt das Verschwören.
Bei so fragwürdigem und vielfach unsauberm Handwerk
kann nichts Monumentales herauskommen. So blieb der
hochbegabte hochgeartete Gründer des modernen Italien wie
sein Leben lang auch nach dem Tode sozusagen hinter den
Coulissen, nur Eingeweihten in seiner vollen Bedeutung
sichtbar. Eine natürliche Vergeltung, wie sie dem Lieb-
haber dunkler Schleichwege meist begegnet Die Welt liebt
das Offene, Sichtbare, Monumentale, die sieghaft strotzende
Kraft, die offen ihre Eartentrümpfe auf den Tisch legt. Was
trotzdem Mazzini eine reinere Weihe verleiht, das ist seine
völlige Selbstlosigkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes.
Nicht nur dass er darbte und litt für seine Sache, als
Geächteter aller Throne vielleicht mehr Gefahren trotzte, als
Garibaldi bei seinen Wagnissen, nach dem Siege aber
jeglicher Belohnung aus dem Wege ging, gibt ihm stille
Würde, sondern vor allem, dass auch Garibaldis geräusch-
volle Ruhmespose, um derenwillen der eitle Eondottiere
leicht auf banale materielle Güter verzichten konnte, ihn
nicht lockte, dass er mit wohlwollendem Lächeln seinen
heroischen Hampelmann die oberste Heldenrolle vor der
gaffenden Menge spielen Hess ohne jedweden Anflug klein-
lichen Neides. In diesem Lichte erscheint Mazzini wahrlich
als der grössere Held von Beiden.
National durch und durch, die vollendetsten Typen des
italischen Volkstums, stehen der grösste Verschwörer und
sein treuer Bravo, der letzte und berühmteste Eondottiere,
vor uns als beredte Vertreter der modernen Demokratie, wie
kein anderes Volk sie aufzuweisen hat. Freilich, Vertreter
ihres Jahrhunderts waren sie, Vertreter der Menschheit
nicht. Auch ihre Einreihung in die rote Internationale,
welche sie doch unbewusst nur zu ihren nationalen Zwecken
benutzten, und ihr aufrichtiger Menschheitsverbrüderungs-
rausch konnten ihre innere Beschränktheit eher vermehren
als mindern. Voltaires gelles Ecrasez l'Infäme klingt un^
— 88 -
heutigen Skeptikern widrig ins Ohr, die wir historisch messen
und nach tieferen Bezügen forschen. Das Infame, ja, ver-
körpert sichs denn wirklich immer in Kirche und König?
Ist ein echter Aristokrat nicht mehr wert als ein unechter
Revolutionär, ein anständiger Fürst liebenswerter als ein
heulender Derwisch revolutionären Hasses, ein frommer
Priester nicht nützlicher für die Armen im Geiste, als ein
au&tachelnder Pamphletist? Wie die katholische Kirche
Jeden, der ihre barocken Dogmen ablehnt, des Seelenheils
verlustig erklärt und selbst eine so geistvolle Person wie
Ida Gräfin Hahn-Hahn in ihren letzten Konvertitenromanen
ernsthaft auseinandersetzt, dass jeder anständige Protestant
notwendig sich zu Rom bekehren müsse, Pio Nono ein makel-
loser Halbgott, Mazzini ein leibhaftiger Teufel, jeder Frei-
maurer ein Sendung der Hölle, jeder Priester ein Heiliger
sei, so lässt der hartgesottene ,Freidenker^, wie sich beschränkt
unfreie Zeloten der Negation zu nennen pflegen, nicht gelten,
dass ein Bruder Freimaurer oder Rothemd je etwas anderes
als ein Heros, ein Pfaffe je was anderes als ein stinkender
Heuchler, Päpste und Fürsten je anderes als Ausgeburten
der Hölle sein könnten. Jedem geifernden Hetzkaplan steht
ein ebenso besessener Radikalapostel gegenüber, der hoch
und teuer versichert, dass nur Ausmerzung aller Vertreter
von Thron und Altar die Menschheit reinigen und sofort zu
einer Legion von Engeln umgestalten, die Erde zu einem
Paradies machen müsse. „Mit des letzten Pfaffen Darm
hängt den letzten König auf ^, was meinte wohl Diderot zu
seinem Yers, wenn er als Spirit auf die Saturnalien des
Terreur herunterschauen konnte? Gibt der zur Macht
gelangende Demagog, gibt das souveräne Volk selber irgend
einem Cäsarenwahnsinnigen etwas nach in Dünkel, Ichsucht
und erbarmungsloser Zertretung fremder Rechte? Möchte der
freidenkerische Zelot nicht gradeso gern mit Inquisitionen-
und AutodaF6s den Frommen ihren Kinderglauben entreissen?
Schwört er nicht mit gleicher Borniertheit auf die halüos
unbeweisbaren Dogmen des Häckelschen Darwinismus? Ja,
um zum empirischen Fall zu kommen, bewerkstelligten die
so radikal modernen politischen Formen des neuen Italien
eine wesentiiche Glückserhöhung des Volkes, das sich vielfach
— 89 —
im alten Augiasstall und Schlendrian wohler fühlte und
unter Steuerlasten und Ausbeutung zusammenbricht? Hat
sich die Maffia nicht ärger entfaltet, denn je zuvor? Brütete
das ,befreite^ Italien nicht den Basilisk des Anarchismus
aus? Nirgendwo stützt das monarchische Prinzip sich so
ausschliesslich auf Beamte, Offiziere, Stellenjäger, die aus
der Staatskrippe fressen wollen, während das Volk indifierent
oder feindlich, der besitzende gebildete Bürgerstand republi-
kanisch gesinnt, aber wird die unvermeidliche sozialistisch-
republikanische Bevolution etwas Besseres bringen, nicht dem
Anarchismus die völlige Anarchie entspringen? Hat die
geschmähte österreichische Fremdherrschaft nicht die Indu-
strie gefördert, den heutigen relativen Wohlstand Ober-
italiens ermöglicht? Ward selbst die Einheit nun absolutes
Out, wo die durch Gebirgszüge und Stammesart getrennten
Provinzen innerlich wieder auseinanderstreben und ein
uralter Föderalismus, den schon Alt-Bom schwer überwand,
immer wieder der Zentralisierung spottet? So bleibt von
Mazzini-Garibaldis Werk nichts übrig als Abschüttelung der
Fremdherrschaft, denn es ziemt sich nicht, dass Fremde ein
grosses Kulturvolk niederhalten. Neben diesen einzigen
positiven laufen negative Ergebnisse. Selbst die künst-
lerischen Anlagen Italiens befinden sich heut in Docadence.
Repräsentanten der Menschheit? nein, nur „Yolks-
repräsentanten^^ im guten und Übeln historischen Sinne des
Worts. Adio, Mazzini, ade, Garibaldi!
-e>l}^-
Der verschleierte Prophet: Schopenhaner.
Zeiten politischen Niederganges und sozialer Ver-
sumpf ang begünstigen ein lethargisch -traumhaftes Hin-
dämmern des Geistes, der sich in sich zurückzieht und
ins Reich der reinen Ideen einspinnt. So nahm die deutsche
Metaphysik ihren Aufschwung aus der Kleinheit und Gedrückt-
heit des deutschen Staatszerfalls. Die Berliner Salons mit
dünnem Tee und dünnen Butterbroten widerhallten nicht
nur von ästhetischem Geschwätz und musikalischer Schwär-
merei, sondern auch von philosophischen Schlagworten der
Hegel, Schelling und Fichte. Dies ging so bis in die
sechziger Jahre hinein, wo realistisches Tatbedürfnis für
immer diese nachdenksame Geistesrichtung verdrängte. Auf
den deutschen Universitäten, sogar auf Landgütern des
Adels und in weiten Kreisen des Bürgerstandes, da der all-
gemeine deutsche Bildungsstand bis Mitte des Jahrhunderts
durchaus die hohen Überlieferungen der Weimarer Zeit
fortsetzte, grübelte und disputierte man über die höchsten
Fragen, jenseits von Gut und Böse der Materie, weil man
über die praktisch naheliegenden einfachen Fragen der
deutschen Wirrungen und Irrungen sich nicht nachzudenken
getraute. Die hohe Obrigkeit verbot so verwickelte Gegen-
stände, wie kritische Erörterung über den Segen der Klein-
staaterei und des Absolutismus, doch die Phänomenologie
des Geistes stand dem beschränkten Untertanenverstand
offen. Talleyxand erzählt in seinen Memoiren ergötzlich, wie
Napoleon dem edlen Zaren ein weites Feld der Philanthropie
mit ffinweis auf die unterdrückten Griechen eröffnen wollte,
um ihn von unedler Befleckung mit schnöden zentral-
— 91 —
europäischen Angelegenheiten abzulenken. So hatten unsere
hochmögenden Demagogenriecher auch nichts dagegen, dass
der biedere Deutsche Freiheit im Reiche der Träume und
Schönheit im Gesänge suchte. Früher freilich, als das
jugendlich aufflammende Deutschland noch nicht ahnte, dass
ihm keine Blütenträume reifen sollten und gegen das
fränkische Joch die Waffen schmiedete, da waren selbst
Philosophen zu Hyänen geworden, die mit zähnefletschendem
Berserkergrimm zum Kampfe riefen. Den Hegel hatten in
Jena Napoleons Kanonen geradeso unsanft geweckt, wie den
Gatten der Christiane Vulpius, der nachher sinnig aufs
Schlachtfeld pilgerte, um osteologische Präparate zu gewinnen,
damit die bleichenden Menschenknochen doch für etwas gut
seien. Das Phänomen Goethe erkannte das Phänomen
Napoleon als jenseits der ephemeren Erscheinungen des
Tages- und Völkerlebens schwebend: „Worüber trüb Jahr-
hunderte gesonnen, er überschauts im klaren Oeisteslicbt,
das Kleinliche ist alles weggeronnen, nur Meer und Erde
haben noch Gewicht.^^ Und Hegel sah unter den Phäno-
menalerscheinungen gleichsam den Erdgeist in Napoleon
verkörpert. Aber der wackere Weberssohn Fichte, dem sich
nach des schottischen Bischof Berkeley Vorgang die All-
Materie vollends in transzendentalen Nebel auflöste, klammerte
sich unterm erschütternden Einfluss nationaler Erregung fest
genug ans Reale, indem er mitten unter französischem
Regiment seine Vorlesungen an die deutsche Nation den
Berliner Studenten vermittelte. Schon hier machte sich
übrigens der Anklang ans Altindische geltend, dessen
Kenntnisnahme mitsamt Sanskritstudium, Buddhismus und
Sakuntala plötzlich, man weiss nicht wie und woher, in
deutschen Bildungskreisen auftauchte und von da ab durch
die Romantiker in der Literatur verbreitet wurde. Fichte
wies darauf hin, dass Deutsch eine Ursprache wie der
Sanskrit, nicht gemischt wie andere europäische Idiome, und
das politisch zertretene deutsche Volk daher neben den
Indem die vornehmste Rasse der Indogermanen sei. Etwas
Wahres in diesem damals zeitgemäss notwendigen und
tapferen Chauvinismus verkennen wir nicht, nur übersah
Fichte, dass gerade das, worin die vornehme Überlegenheit
— 92 —
der Inder und Deutschen beruht, ihre politische Schwäche
in der gemeinen realen Welt verursachte. Die kosmo-
politische Universalbildung der Deutschen, heut als Humani-
tätsdusel von einem slavisierten undeutschen Freussen-
deutschland verpönt, hocherhoben über die brutale Insich-
beschränktheit der Briten und Franzosen, machte jene Grösse
aus, die Fichte uns mit Recht zuerkannte, die aber eben in
Widerspruch zu nationalem Kirch turmspatriotismus stand.
Das bewundernde und begeisterte Verständnis damaliger
deutscher Geistesspitzen, wie Goethe und Hegel, für den
korsischen Mahatma entsprach viel mehr jener von Fichte
gepriesenen Vornehmheit deutschen Denkens, als der
Napoleonshass, den Fichte entzünden wollte, so berechtigt
dem weltlich natürlichen Fühlen die zornige Erhebung
gegen die Herrschaft des unstreitig minderbegabten gallischen
Fremdvolkes erscheinen mag. Transzendentales Denken
passt nicht zu irdischen Aussenphänomenen, es reimt sich
schlecht, wenn ein Professor der absoluten Idealität ins
ephemere Bealgetriebe eingreift. Und so hat Fichtes edler
Patriotismus ihm wohl ein Denkmal im Herzen seines
Volkes gesetzt, ihn selbst als Philosophen aber gerichtet
Das Denksystem eines Fichte oder Schleiermacher hielt
eben die Eigenprobe im Zusammenstoss mit der Wirklichkeit
nicht aus, und die spätere pantheistische Naturträumerei der
Schelling und Schlegel erwies ihre innere Überzeugungs-
schwäche, indem sie unwillkührlich zu reaktionärem Halb-
dunkel verführte. Der Transcendentalist Fichte wollte wie
Kleist alle Wälschen totschlagen, der Pantheist Schelling
und Konsorten fand sich als wohlbestallter Königstreuer
mit jeder Unnatur des Feudalstaates gehorsamst ab, schläferte
mit weltentrückter Passivität die Geister ein, ohne sie in
ein wirkliches erlösendes Jenseits zu befördern, wo man
allerdings keinen Wälschenhass, aber auch keine Ehrfurcht
vor der hohen Obrigkeit kennt Bei Hegel bUdeten sich
ähnliche Symptome aus, auch er suchte seine an sich
staatsfeindliche Lehre, die keine offenbarte Autorität hätte
bestehen lassen können, dem bevormundenden Prinzip an-
zupassen. Dieses gesamte philosophische Sinnieren und
Spintisieren, von dem man so viel Aufhebens machte,
- 93 —
obschon jede nicht angewandte, nicht mit tapferer Logik zum
Aussersten fortschreitende, nicht sozusagen bekenntnisfrohe
Philosophie nur auf spielerische Ergötzung des Verstandes
hinausläuft, wirkte nur erschlaffend und wie ein Yerrat am
wahren Denken Denn nur krass materialistische Logik
kann zur Beschönigung und Rechtfertigung der Gewalt-
haberei führen wie einst die von Hobbes, dessen derbroher
Johnbull- Verstand sogar das göttliche Becht der Stuarts auf
jedwede Unterdrückung folgern durfte. Das Auflösen der
Bealität in Phänomenalerscheinungen und blosse trans-
zendentale Vorstellungen des Geistes müsste hingegen not-
wendig YöUige Absage an die gemeine Wirklichkeit in sich
schliessen, und da die platonischen „Ideen^^ zuletzt alleine
übrig bleiben, so heischt Erkenntnis und Verehrung des
Absoluten, des Schillerschon Wahren, Guten und Schönen
auch notwendig resoluten Abscheu vor dem Unwahren, Un-
guten, Anti- Idealen der Herren dieser Welt Die Philo-
sophieprofessoren aber waren nur tapfer gegen den lieben
Gott, der ihnen nichts anhaben konnte, schon den Pfaffen
gegenüber zogen sie sich in gezierte Würde passiven
Schweigens sicherer Studierstuben zurück.
Da mochte wohl Erinnerung an den viel grösseren, den
geistigen Urvater all ihrer Systeme, den Gründer der
Erkenntnistheorie, den alten Eant erwachen. Wohl zwang
auch ihn die schnöde Bealität in Gestalt eines dicken
dummen bigotten Wüstlings, den die Menschen „Majestät^^
andudelten, die Majestät der Wahrheit zu verleugnen, indem
er zwar keinen Widerruf, aber eine geheime Verpflichtung
zum Schweigen unterschrieb, die er obendrein sophistisch
verklausulierte. Gewöhnliche Entschuldigung dafür gibt es
nicht, da doch einfach nur niedrige Bücksicht auf Stelle
und Honorar seiner Professur zu Grunde lag; immerhin
darf ein Denker einwenden, dass man nach Sokrates' Lehre
stössigen Ochsen aus dem Weg gehen müsse und nicht
deshalb über Zeit und Baum denkerisch erhaben sei, um
jämmerliche Menschlein eines besonderen Kampfes würdig
zu erachten. Doch die Menschheit lässt sich auf solche
Oelehrtenkniffe nicht ein, ihr gilt mit Becht am höchsten die
Überzeugungstreue, das Martyrium für ein Ideal. Unfähig,
— 94 —
den 6eist-an-sich zu werten, nur von Willen und Empfindung
gelenkt, überwältigt sie bloss jene äussere Yeranschaulichung
durch die Tat: wer für seine Wahrheit leidet und stirbt,
der muss nach ihrer Meinung die Wahrheit haben. So hat
sich bekanntlich das Christentum nur durch Verfolgung und
Martyrium zum weltlichen Siege verhelfen.
Wenn schon Jakob Böhme, wenn selbst der Jude
Spinoza sich keineswegs solche Widerrufe abpressen Hessen,
so leuchtet ja für immer durch die Jahrtausende der heilige
Scheiterhaufen, auf welchem der grösste Denker nachindischer
Zeiten, der wahre Ewigkeitsmensch Oiordano Bruno, zum
ewigen Lichte emporstieg. Nie verhallen wird sein Donner-
wort, als das gewaltige Haupt, das ihm die Schergen vor
vor dem Richtspruch niederdrückten, sich wieder erhob:
,,Wohl mit mehr Angst fällt ihr das Urteil, als ich es ver-
nehme/^ wie erblasst unser ganzes gepriesenes Jahr-
hundert der Aufklärung und Demokratie vor diesem einen
wahren Menschheitsvertreter, dem Ewigkeitsmenschen! Dass
nur die Benaissance ihn gebären konnte, gibt einen Mass-
stab unserer eigenen Erbärmlichkeit.
Jawohl, wer als Finder der letzten Wahrheit über den
Dingen schweben will, der beweise in Leben und Tod, dass
er wirklich den Abgrund des irdischen Grauens überschritt
dass er die Dinge nicht mehr fürchtet, sondern ihrer Herr
ward, dass der Tod ihm nur ein leeres Wort Wer die
Wahrheit seiner Lehre vermenschlichen will, der veranschau-
liche sie durch seinen Willen (Charakter), nicht bloss durch
Vorstellung seines Intellekts!
Allein, mag der greise schwächliche Eant auch irdischer
Schwäche verfallen sein, mag auch sein anscheinend wider-
spruchsvolles Verhältnis zu Swedenborg, den er nach Kants
eigener Annahme eines Corpus Mysticum doch unmöglich
obenhin als Charlatan auffassen konnte, ein zweideutiges
Eompromisseln mit Vorurteilen der Weltskepsis bedeuten,
mag er in späteren Auflagen seines Hauptwerkes furchtsame
Abschwächung in wichtigen Punkten beliebt haben —
daneben verleugnete sich doch nie das Edelmenschliche
seiner selbstlosen Natur, seine Redlichkeit, Gerechtigkeit,
Güte und vor allem seine jugendfrische Begeisterung. Was
— 95 -
Schopenhauer einmal ausfährt, das Genie bleibe sein Leben-
lang ein Kind, das passt auf Kant, der ewig ein Jüngling
blieb. Man vergleiche seine ideale Träumerei vom Ewigen
Frieden, sein Aufjauchzen mit Freudentränen über die
französische Revolution, die feste grosssinnige Haltung, die
er auch deren Auswüchsen gegenüber bewahrte, um froh
and herzlich zu erkennen, dass auch dieser Sohn des
erhabenen 18. Jahrhunderts zu den wahren echten Mensch-
heitsvertretem gehörte.
Solche Erwägungen voraufzuschicken erfordert der
Gegenstand. Auf Kant griff Schopenhauer zurück, lehnte
sich an dessen Definitionen und Kategorieen ursprünglich
an. Über Hegel und Fichte ergoss er sich sein Lebtag in
wüsten Schimpfereien, als ob sich aus deren üppigem Wort-
schwall kein einziger vernünftiger Kern herausfischen lasse.
Wie die Nachschwätzer seiner heut sehr grossen Gemeinde,
blindlings auf Meister Arthur schwörend, als throne er,
König Artbus und Merlin in einer Person, obenan in
der Tafelrunde aller denkenden Köpfe, dies unsinnig ver-
leumderische Geschimpfe des verkannten Privatgelehrten
gegen die glücklicheren amtlich patentierten Philosophie-
kollegen als heilige Weisheit nachlallen, wäre erheiternd,
wenn es nicht so affenmässig wäre. Ja, in äffischer Weise
suchte Schopenhauermode, bis sie heut von der Nitzschemode
verdrängt ward, eine Originalität in possierlich gravitätischen
Pessimismusgrimassen, felsenfest überzeugt, dass im Meister
das Original in seiner Pracht ihnen vorleuchte. „Er hob
empor der Dinge Majaschleier . . Das Licht, das selbst Natur
sich angezündet in Seinem Hirn . . Das grosse Weltenauge
ist erblindet,^^ in solch geschraubtem Ton besingt ihn sein
Schüler und letzter Herausgeber, der interessante Unzucht-
lyriker Grisebach. Sogar ein scharfsinniger Analytiker wie
der junge jüdische Philosophieprofessor Joöl übertreibt in
einem blendend stilisierten Aufsatz Schopenhauers Grösse
aufs massloseste, als sei er sozusagen das einzige Genie
unter Seinesgleichen gewesen. Solchen Auswüchsen gegen-
über tut not festzustellen, dass dem grossen Arthur, was
immer seine Ansprüche auf Genialität sein mögen, das
Hauptzeichen des Genies, schöpferische Originalität, sicherlich
— ge-
fehlte, dass es eine eigentliche Philosophie von Schopen-
hauer überhaupt nicht gibt, sondern brahmanische Gedanken-
kreise, bruchstückartig zusammengeleimt, interpretiert und
exzerpiert, zum Teil nicht einmal richtig verstanden. Femer
dass noch keine Lehre so schamlos lächerlich der eigenen
Lebenshaltung ihres Urhebers widersprach. Zur Erklärung
dieses Widerspruchs heftete der neue Brahmine dem falsch
aufgefassten Karmagesetz einen besonderen Haken an: das
Primat des Willens vor dem Intellekt, und uns bedünkt es
das Lehrreichste, dass sein ganzes sogenanntes System von
diesem ichsüchtigen Entschuldigungsgrund seinen Ursprung
nahm, auch seine Erkenntnis also im Egoismus wurzelte.
Eugen Dühring schüttelt antisemitisch den Kopf, weil
Spinoza gestand, er habe noch ein paar Mal Anfälle von
Gier verspürt Doch solch ehrlich Bekenntnis des Allzu-
menschlichen haben wir bei Schopenhauer nicht nötig,
dessen gierige Selbstsucht und materielle Lüsternheit nie
auch nur den Versuch machten, sich niederzukämpfen, in-
dess sein Intellekt mit grossartigen Yerneinungspredigten
und Entsagungsempfehlungen um sich warf. Darin blieb er
konsequent vom Anfang bis Ende, ?chon als Jüngling be-
jahte er sein teures Leben bis zur Ehrlosigkeit, fragte mit
FalstafT, dessen Gefrässigkeit er teilte: Was ist Ehre!
Wenn Fichtes kampflustiger Chauvinismus mit Eingreifen
in Tagespolitik etwas drollig seinem hochfliegenden Trans-
zendentalismus entgegenhandelte, so macht diese geistige
Unzulänglichkeit doch seinem deutschen Herzen um so mehr
Ehre, als wir aus seinem gedruckten Briefwechsel erfahren,
dass General Bernadotte ihm schon frühe in pomphaftem
Briefe („die grosse Nation ist stets bereit, Männer von
Genie an ihren Busen zu ziehen^^) das französische Bürger-
recht verlieh. Wenn hingegen der junge Schopenhauer als
Einziger unter den Breslauer Studenten sich 1813 dem
freiwilligen Kriegsdienst entzog, so schmeckt dies freilich
ungeheuer logisch, da ein solcher Weltverächter sich nicht
in zweifelhaften Befreiungskriegen zu raufen braucht, aber
das gesunde Urteil erkannte darin nur Feigheit und Selbst-
sucht Nun, hiergegen konnte er mit Becht behaupten, dass
ein geniales Individuum sich nicht den aufgezwungenen
— 97 —
Pflichten gewöhnlicher Staatsbürger anzubequemen brauche,
dass sein Leben und Wirken für die wahre Geschichte der
Menschheit wichtiger sei als die vergänglichen Kämpfe des
Tages, bei denen ja doch der sogenannte Patriotismus nur
zum Vorteil herrschender Kasten ausgebeutet. Er sei dazu
da, dem ,4etzten zureichenden Orunde^^ die Wurzel auszu-
ziehen, nicht aber zureichenden Gründen für seine Ein-
reibung als Kanonenfutter zu frohnden. Lassen wir aber
dies gelten, dann dürfen wir logisch verlangen, dass die
Lebenshaltung des weitabgewendeten Pessimisten im übrigen
gleichfalls dementsprechend sich entrolle, dass ein Yerkünder
buddhistischer Entsagung wenigstens einigermassen zu selbst-
losem Wohlwollen und strenger Askese hinneige. Statt
dessen finden wir hier ein Missverhältnis zwischen Worten
und Werken, wie es charakterloser nicht gedacht werden
kann. Er nannte Leibnizens Optimismus geradezu ver-
brecherisch, obschon Leibniz, nach strengen Ehrbegrifien
mehrfach ein Lump und Streber, wenigstens mit seinem
Eudämonismus als Mensch übereinstimmte. Denn in so
prästabilierter Harmonie des Alls stört es gewiss nicht die
Harmonie, wenn Leibniz sich dazu prästabiliert fühlt, mög-
lichst behaglichem Eigennutz für seine wissenschaftliche
Wohlfahrt zu huldigen. Wie aber soll man Schopenhauers
Verfahren und Beispiel nennen, der mit raffinierter Quälerei
unreifen oder halbreifen Gemütern das Leben vergällte, jede
krankhafte Sensivität der Hysterischen und Decadenten
steigerte, den Hamlet überhamlettete und das Nichtsein an
die Wand malte, während er selber seine sinnliche Natur
so wenig zu bändigen wusste, dass er für zweie frass und
bis in die tiefsten Niederungen schmutziger materieller Gier
derartig hinabreichte, dass sich widerliche Geldgeschichten
(irren wir nicht, sogar eine Alimentationsaffäre) sowohl von
Geiz als Habgier an seinen Namen knüpfen? Charakterlosen
Gelehrten — Verlehrten, wie Dühring das schöne Wort
faod — mag eine solche Antastung geistiger Grösse mit dem
Massstab banausischer Sittengesetze ja höchst überflüssig und
spiessbürgerlich vorkommen. Wir jedoch, die wir im
Menschenleben das Heroische suchen und es vor allem vom
Heros verlangen, verzeihen noch weniger als dem Tat-
Bleibtreu: Die Vertreter des Jahrhunderts. 7
- 98 -
hienschen dem reinen Geistesarbeiter ein Überwiegen des
Allzumenschlichen. Das, was uns alle bändigt, das Gemeine
braucht zwar noch lange nicht in wesenlosem Scheine hinter
ihm zu liegen; wir sind zufrieden, wenn Anspritzer von
Kleinem und Gemeinem doch das Grossmenschliche nirgends
zu überklexen vermögen, wie bei dem schmählich verleum-
deten, nur an seiner Eitelkeit verwundbaren, herrlichen
Voltaire, dem selbst seine Geschäftspraktiken nur Vermehrung
seiner Wohltätigkeitsmöglichkeiten bedeuteten. Dieser naive
französische Elan des guten Herzens voll unzerstörbarem
Wohlwollen stand dem Buddha wahrlich unendlich näher,
als Schopenhauers düstere Jeremiaden und Bousseaus eis-
kaltes Tugendgeschwätz. So sonderbar es klingen mag, wir
möchten den Deutschen als eine Beinkamation des selbst^
quälerischen Jean Jaques betrachten, der immer la vertu
und la nature unnützlich im Munde führte, indess er von
unkeuscher Unnatur und heimlicher Gier strotzte wie kein
anderer, der rührende Brüderlichkeit predigte, indess sein
ganzer Weltschmerz nur aus unbefriedigter Ichsucht keimte.
Die Antike erwartete von Jedem, der als Weisheits-
freund (Philosoph) auftrat, ein weises Leben. Sie verachtete
den Schüler der Stoa, der nicht im Leben sich als Stoiker
bewährte. Selbst der Cyniker bewahrte durch seine ent-
sagende Buppigkeit eine gewisse Würde. Pythagoras, Demo-
krit, Heraklit, Epikur, Plato, Aristoteles, Empedokles führten
ein vornehmes Dasein, wie es ihrer Lehre geziemte, und dem
Sokrates riet sein Daimon den redlichsten Heldentod. Von
Giordano zu schweigen, erwiesen auch Spinozas und Des-
cartes' Charaktere sich nicht unwert ihrer intellektuellen Gaben
und Kants Schwächen trüben nicht dem liebevollen Betrachter
sein reines Bild. Nur den Philosophieprofessoren des neun-
zehnten Jahrhunderts, mit wenigen ehrbaren Ausnahmen,
blieb es vorbehalten, die „Weisheit'* als eine spezialistische
Kathederwissenschaft zu traktieren, die mit dem Leben selber
nur durch Titel und Kollegiengelder zusammenzuhängen
brauchte. Wir lehnen durchaus den Einwand ab, dass der
Philosoph doch kein Theologe, oder, richtiger ausgedrückt,
kein Theosoph sei. Wird ein christlicher Theologe auf un-
christlichem Lebenswandel ertappt, so gibt es allemal ein
- 99 —
grosses Geschrei. Mit Fug, da sich sein Lehren dann als
Heucheln herausstellt Die katholische Kirche stellte ganz
logisch den Grundsatz auf, dass der Priester, als Diener
Gottes, sich alles Irdischen entäussem, in Armut, Keuschheit,
Selbstverleugnung leben müsse. Vom Philosophieprofessor,
der seine Metaphysik als müssige Geistespielerei spinnt,
wäre es freilich unbillig, philosophische Lebenshaltung zu
erwarten, ebensowenig wie man von Dubois- Raymond,
Yirchow, Haeckel oder Raumer, Niebuhr, Mommsen eine
hohe Persönlichkeit heischt Der Fachgelehrte bleibt ein
blosser praktischer Berufsmensch, wie jeder Literat oder
Kaufmann. Und doch stellten der freiblickende intuitive
Helmholtz und der klare vornehme Ranke ein feineres
ethisches Menschentum dar, als irgend ein „Philosoph^^ des
Jahrhunderts. Wir beharren aber dabei, dass der wirkliche
Philosoph, wohl zu unterscheiden vom Philosophieprofessor,
durch sein Leben das Exempel für seine Lehre zu statuieren
habe. Wo das Gegenteil zutrifft, wo das Geschlecht der
Erasmus von Rotterdam sich bläht, da brandmarken wir es
als heuchlerisches Pf äffen tum. Was dem einen recht, ist
dem andern billig. Wenn die „Philosophen" — so nannte
sich in der Aufklärungsära jeder enzyklopädistische Salon-
schwätzer — ein Zetermordio über jeden sündigen Priester
erheben, so dürfen wir dies mit gleicher Befugnis gegen
jeden Philosophaster, dessen Wandel seine Maul Weisheit
Lügen straft Was sollen uns also Schopenhauers unerschöpf-
liche Invektiven gegen die Professoren, die seine Werke
„sekretieren"! Besässe er nur einen Funken buddhistischen
Wohlwollens, so würde er bei den armen Mittelmässigen
ihre Notlage im Daseinskampf berücksichtigen und die
bekannten dreizehn Gründe — eine Frau und zwölf Kinder —
auch dann achselzuckend gelton lassen, wenn sie sich zur
beliebten Totschweigetaktik gegen den hochmütigen Out-
sider zusammentaten. So niederträchtige Formen, wie im
Marktgetriebe der sonstigen ausserwissenschaftlicben Literatur,
für das obige Entschuldigung fast niemals vorliegt, nahm
der angebliche Ring gegen ihn niemals an. Auch wird man
den peinlichen Eindruck nicht los, als ob, bewusst oder
unbewoBBt, einfache Neidwut des „Privatgelehrten^^ auf Titel
- 100 -
und ÜDiversitätsstellung der amtlich besoldeten Schwätzer
Yorliege. Dies wird umso wahrscheinlicher, als er in Bausch
und Bogen alles beschimpft, was seiner Alleingeltung im
Wege stehen könnte, und sein geradezu wahnsinniges Her-
unterputzen Hegels, als sei dieser der jämmerlichste geist-
loseste Quatschkopf, unmöglich ernst gemeint sein konnte.
Wohl würde uns schlecht anstehen, die Pein leugnen zu
wollen, die ein systematisches Totschweigen des Bedeutenden
verursacht hat „Die Schmach, die Unwert schweigendem Ver-
dienst erweisf ', zählt schon Shakespeare durch seines Hamlets
Mund unter den schwersten Übeln auf. Auch Eugen Dühring
nennt in seiner Lebensbeichte die Hemmung des Wirkens
durch gehässige Feinde schwerer zu ertragen, als Armut
und Blindheit. Allein, Schopenhauer hätte sich sagen müssen,
dass sein Pessimismus notwendig die Massen abstiess, dass
unter seinen Gegnern auch viele nicht persönlich übel-
wollende ehrliche Sachfeinde sein mussten, dass der Denker
überhaupt nicht wie der Belletrist im Zeitalter der gedruckten
Massenliteratur auf breite und weite Wirkung bei Lebzeiten
zählen dürfe, und endlich dass seine Schriften trotzdem eine
kleine treue Gemeinde erwarben, wohl immer noch zahl-
reicher als die eines Sokrates! Was soll man von einem
objektiven Wahrheitsucher halten, dessen groteske Frauen-
verachtung sich lediglich auf eine persönliche Erfahrung
mit seiner Mutter — wie man sagt, als Mutter und Gattin
tadelnswert — und dessen Menschenverachtung sich auf
egoistischen Groll über mangelnde Anerkennung seitens
seiner Kollegen aufbaute ! Grössere als er und fast alle ihm
Ebenbürtigen machten unendlich Schwereres durch,
schmeckten alle Bitternisse, Leiden, Gefahren, und erhoben
sich darüber mit dem Stolz des wahren Genius. Wenn je
der vielgemissbrauchte Spott über „verkanntes Genie" zu-
traf, dann angesichts dieses Brahminen, der sich gleich
grenzenlos erkühnt, den Schleier der Maja zu lüften, und
sich dabei so kleinlich in Sansara verstrickt, dass sein Welt-
schmerz immer wieder in den Refrain austönt: Und ich,
der grosse Weltüber winder, werde nicht genug rezensiert
und honoriert! Er sich über den Splitter in fremden
Augen erbosen! Er, dessen eigene Charakterlosigkeit zum
— 101 -
Himmel schreit! Vor den ewigen Richtern, den unbe-
stechlichen Herren des Karma, um theosophisch zu reden,
steht er als ärgster Sünder da, nämlich gegen den heiligen
Geist Sein selbstisches Aufgreifen und Auflegen des Bud-
dhismus, sein falscher giftiger Pessimismus, den seine
Blindheit einem Buddha und Jesus andichtet, in Verein
mit seinem unedeln persönlichen Vorbild haben die soge-
nannte Weltvemeinung salonfähig gemacht, sie als kokette
Maske allen Schiefen, Faulen, Morschen und Versumpften
empfohlen. So wurde er der Prophet aller müden Rou6s
und aller Dekadenten, gründete einen Buddhismus für ab-
gegeilte Wüstlinge, hysterische Frauenzimmer, verlebte und
kampfunfähige Schwächlinge. Nichts bezeichnender, als dass
sein eifrigster heutiger Nachfahre, Grisebach, ein Staatsstreber
und Erotomane, die Erlösung in Sankt Arthur als Neuer Tann-
häuser im Venusberge suchte. Wenn in Grisebachs wohl-
lautvollen sprachschönen Rhythmen die Namen Buddha,
Maja, Nirwana auftauchen, so grinst uns hinter diesem
indischen Domino nicht das ewige Leben, nicht die Erlösung,
sondern die Verwesung an. Solchen wohlfeilen Maskenball
eines sinnenschwülen Weltpessimismus, der über Beschrän-
kung und Vergänglichkeit des Genusses feige wimmert,
solche Beichten wie das bekannte Tagebuch jener russischen
hysterischen Jungfrau, solche Seelenzustände wie in Bourgets
„Disciple*^ hat eine sogenannte Philosophie hervorgezaubert,
zu deren Entlarvung wahrhaftig schon der gegen sie ge-
richtete wohlfeile Spottvers genügt: ,,Auf, du Lebenshasser,
springe frisch ins Wasser! Wir? Wir müssen bleiben,
müssen Bücher schreiben, zu bekehren die betörte Welt!'*
Als einzigen Milderungsgrund für Schopenhauers geistige
Sünde, die nur ein Konterfei seines bösen Willens und
seines schlimmen persönlichen Vorbilds, möchten wir an-
führen, dass er die ihm angeblich gehörende, irrtümlich ihm
zugeschriebene, buddhistische Erkenntnis des Welträtsels
selber nicht verstanden hat, wie dies bei Geistesplagiaten oft
zu geschehen pflegt
An verschiedenen Stellen seiner Schriften äussert er
sich über den Plagiatbegriff, beschuldigt auch einmal Goethe,
ihm etwas entlehnt zu haben. Das mag bei Goethes gross*
— 102 —
artigem ADeignungsvermögen wohl stimmen, zumal Emerson
bezüglich Shakespeare sehr triftig das Recht des Oenies
auf sogenanntes Piagieren in Schutz nahm.
Seh. hingegen stellt mit Strenge Laplace als Plagiator
Kants, Newton des Hooke, Goethe in dessen Pflanzen-
metamorphose als Berauber K. F. Wolffs hin. Nun bewies
schon eine Studie von Romeo Manzoni, dass der gegen
Plagiate wetternde Schopenhauer manche Wendung Giordano
Bruno entnahm, den ja auch Goethe laut Kuhlenbecks Nach-
weis uneingestanden benutzte. Giordanos heiligem Namen,
den er Jordanus tauft, begegnen wir aber selten genug in
Schopenhauers Werken, und der grimme Feind des „Sekre-
tierens" dürfte hier den gleichen Vorwurf einstecken. Wer
Giordano wirklich studierte, und dies scheint bei unserm
Bramanen wenigstens teilweise der Fall gewesen zu sein,
und dann nicht unablässig begeistert auf so lautere Urquelle
verweist, bekundet schon in diesem Zuge eine schielende
Zweideutigkeit der Sachliebe. Bezeichnend, dass der ehr-
geizige Pessimist die Entdeckung der Giordano-Grösse dem
mannhaften Dühring vorbehielt, dessen nicht minder mass-
loses Selbstgefühl doch immer redlich das fremde Grosse
herausspürt. Dass dem angefaulten Jeremias von Frankfurt
die Eroici Fuori des Heldendenkers wahrscheinlich unver-
daulich im Magen lagen und Giordano, wenn er ihn wirk-
lich genau las und verstand, seinem eigenen trostlosen Welt-
bild unbequem im Wege stand, hätte ihn erst recht zu
polemischem Eingehen veranlassen sollen. Derlei Aufmerk-
sammachon auf einen ebenso verkannten und unbekannten
Grösseren konnte aber der absolutistische Pessimist nicht
brauchen, der ein Monopol auf alle nachindische Gedanken-
arbeit beanspruchte, als sei Er der erste originale Wahrheits-
finder. Dass sein ganzes System nur aus indischen An-
regungen hervorging, verhehlte er zwar nicht, doch in einer
Weise, die den Umfang der Anlehnung und Aneignung ver-
schleierte, so als ob erst er allerlei abstruse Mystik in wissen-
schaftlich vprstv^ndüche Formeln geklei'iet habe. Das*i er
diesen Eindruck erwecken will, ist nur insofern halb zu
verzeihen, als seine Kenntnis des esoterischen Buddhismus,
welche überhaupt erst durch die tbeosophische Bewegung
— 103 —
nach Europa drang, dem damaligen Forschungsstand gemäss
noch eine ziemlich lückenhafte war, obschon er zweifellos
hierin seinem Zeitalter vorausschritt Daraus ergeben sich
aber auch seine Widersprüche und Miss Verständnisse.
Wiederholt kommt er mitten in seinen Darlegungen
darauf zu sprechen, das Schicksal habe ihn besonders
begünstigt, indem seine Wohlhabenheit ihm behäbige Buhe
und unabhängige Beschaulichkeit ermöglichte. Jeder Fakir
würde ihn darüber belehren, dass dies, was er als seine
Freiheit auffasst, gar keine Freiheit, sondern Fessel sei, die
ihn an Sansara binde, dass im Gegenteil Not und Leid
noch keines wahren Denkers Contemplation beeinträchtigten,
vielmehr durch Überwindung solcher Beibung erst die wahre
innere Freiheit erworben werde. Und siehe da, der näm-
liche rentengesegnete Privatgelehrte, der obiges mit leckerem
Behagen ausprahlte, versichert dafür in seiner Lehre, dass
alle physischen Güter nichtig, ja feindselig für Erwerben
des Heils seien. Einer solchen Verworrenheit und Halt-
losigkeit gegenüber erinnert man sich an Nietzsches Abscheu
vor intellektueller ünsauberkeit und ünrechtschaffenheit,
freilich eine staunenswert ergötzliche Selbsterkenntnis in
Nietzsches Munde. Für diesen nachgeborenen Stiefbruder
Schopenhauers, der mit gleicher Casuisterei das Weltproblem
nur von der entgegengesetzten Seite anbohrte, hat zuerst
Hermann Türck in einer hübschen Abhandlung das Nenn-
wort „Sophist" gefunden. Nun wohl, die Griechen unter-
schieden reinlich den „Philosophen", nämlich den redlichen
Weisheitsfreund, dessen Lebenshaltung in gleicher sauberer
Bahn verläuft, vom „Sophisten", der dialektisch disputiert
und spintisiert, dessen Forschen nach den letzten Begriffen
nur den kalten ichsüchtigen Verstand und nie das Gemüt
erfüllt In diesem Sinne werfen wir auch Schopenhauer zu
den Sophisten.
Wie schon eingangs erwähnt, war er sich seines Gegen-
satzes von [johre und Leben bewusst und suchte solch
schlagender Vorhaltung zuvorzukommen. Wiederholt erläu-
terte er dies als beste Probe für die Bichtigkeit seiner Welt-
auffassung, dass der Wille das einzig Primäre und Wesen-
hafte sei, der Intellekt nur sekundäres Büstzeug des Willens,
— 104 —
weshalb die schönste Erkenntnis noch lange nicht die
ursprüngliche unveränderliche Natur breche. Merkst du^
treuherziger Schopenhaurianer, den hinkenden Teufelsfuss?
Ist der Wille-zum-Leben so dämonisch selbstherrlich in sich,
dann hört auch jede Selbstverantwortung auf und sowohl
der Meister als du selber mögen getrost im Sumpfe ihres
sinnlichen Egoismus weiterplätschem, da euch das Erkennen
eures seelischen Elends ja doch nichts hilft. Das erhabene
Gesetz der Karma - Kausalität fasst er derartig auf, als sei
das Ich nun wirklich sein eigener Herr und Herr der
Welten, so dass die Beincarnation durchaus allein vom
eigenen Willen abhängt und zwar in der Form dieser Neu-
erscheinung selber. Der böse Wille erbt sich als ewige
Krankheit fort. Woher aber stammt der gute Wille bei
wenigen Auserwählten, die den Willen verneinen? Offenbar
aus einer Art Gnadenwahl, worauf Schopenhauer wiederholt
hindeutet. Woher diese Gnaden wähl?
Keine Antwort Woher der böse Wille zum Sinnen-
leben? Keine Antwort. Da keine Wirkung ohne Ursache
sein kann, gerät also die Kausalität mit sich selbst in Wider-
spruch, obschon sie allein den unentrinnbaren Zwang pessi-
mistischer Weltanschauung erklären soll. Da das Wesen
(Wille) unzerstörbar gleich bleibt und ein supranaturelles
Eingreifen höherer Mächte ausschliesst, so bedingt der an-
geblich so selbstherrliche Wille gleichzeitig die vollkommenste
Unfreiheit, da er durch keinerlei freie EntSchliessung seine
Bahn verändern kann. Lägen die Dinge so, und materia-
listischer Determinismus nickt dazu bejahend, so wird
spöttische Logik fragen : durch welch Naturwunder entzündete
sich dann in Schopenhauers unzweifelhaft bösem Willen das
Licht des Heils, das doch sonst durch besondere Gnaden-
wahl nur dem guten Willen erkennbar wird? Und wie kommt
es, dass dies Licht, das sonst bei den Begnadeten so fromm
erleuchtet, sein eigenes Seelendunkel nicht erhellte und aus
dem Verstände nie erwärmend bis ins Gemüt drang? Endlich,
warum gibt er sich dennoch die Mühe, uns ein Licht auf-
zustecken, da laut seinem eigenen Pessimismus das Dunkel
des Weltleids undurchdringlich bleibt und der seiner selbst
bewusste böse Wille dennoch blind und toll in Sansara
— 105 —
weitertappt? Ist die Welt nur Vorstellung des individuellen
Willens, sind also Welt und Wille gleichmässig differenziert,
nämlich widerspruchsvoll unlogisch eingerichtet, weil jeder
Wille sozusagen eine eigene besondere Welt sieht, zerrinnen
doch selbstyerständlich alle ethischen Massstäbe und jeder
WiUe hat auch seine eigene Ethik. Die einzige logische
Folgerung müsste also zu Nietzscheanismus und Darwinismus
führen, die allein in Auslese des Stärkeren eine grausame
Moral sucht, also in krasser Bejahung von Welt und Wille.
Stattdessen singt uns der böse Wille Schopenhauers, an-
geblich sich selbst erkennend, in allen Tonarten ein Hohe-
lied der Verneinung vor und preist uns die Glückseligkeit
der Selbsterlösung von Heiligen, Büssem oder doch min-
destens edeler als er (Schopenhauer) selbst gearteten Naturen
an. Aus seinem eigenen Denksystem drängt sich aber die
Unmöglichkeit auf, dass der starr in sich beruhende, unver-
ändert fortvererbte, böse Wille plötzlich so völlig aus sich
heraustreten könne, um den ganz entgegengesetzten guten
Willen in voller Klarheit zu erfassen, trotzdem aber gleich-
sam in ohnmächtigem Neid aus ewig getrennter Ferne dar-
auf hinzustarren, ohne im geringsten die eigene niedere
Stufe verlassen und emporsteigen zu können. Man könnte
nun einwerfen, dass Schopenhauer (mit allerlei buddhistisch-
brahmanischen Wendungen) eine ,Metanoia^ oder Umkehr
des Willens offenlasse, durch welche der Pfad des Heils in
Buddhas Sinne genommen und die Heincamationen zu
Nirwana hingeleitet werden könnten. Aber abgesehen da-
von, dass nach seinen eigenen Ausführungen die Ursache
dieses plötzlichen Weltverneinungsstrebens unerklärlich bleibt,
also in solch vereinzelten seltenen Fällen auch nur durch
Uiuminatio einer Gnaden wähl möglich erscheint, was alles
wieder der notwendigen inneren Unfreiheit einer „Welt als
Wille und Vorstellung" widerspricht und in eine vom Pessi-
mismus-System untrennbare Eausalitäts-Mechanik unverein-
bare Launen und Salto Mortale — woher? aus wessen
„Willen'7 — hineintragen würde, hält sich der ernstlich
nachdenkende Schopenhaurianer natürlich ans greifbare Bei-
spiel des Meisters selber. Wenn nämlich sogar dieser neue
Buddha, der den Majaschleier hob, „das grosse Weltenauge",
— 106 —
„das Licht, das selbst Natur sich angezündet'^ (wie könnte
Sansara-Natur sich selber ein Licht entzünden, kraft welchen
Willens?!), aus seiner erkenntnistheoretischen Wahrheitslehre
nichts Wesentliches zur ,Umkehr seines eigenen gemein
egoistischen Willens erwarb, so müssen alle Schwächeren
vollends daran verzweifeln. Wozu dann also noch Moral
und Ethik, wozu sich anstrengen, da wir dem Eausalitäts-
ring ja doch nicht entweichen, also in alle Ewigkeit den
bösen Willen reincarnieren werden? Leben wir ihn also aus,
sintemal wir nicht anders können ! Eine sittliche Weltordnung
gibt es nicht; das Weltleid überkamen wir ohne eigene Ver-
antwortung; Gut und Böse, Schuld und Strafe, im mensch-
lichen Sinne fallen weg, bei so unfreiem Zwang des Lebens-
willens. Also verachten wir Leben und Tod, Welt und
Wille, schimpfen wir gründlich darauf, aber gemessen wir
möglichst die sinnlichen Oüter dieses traumhaften Lebens,
fürchten wir ängstlich den Tod, der die „Vorstellung" auf-
hebt, belustigen wir uns als Selbstherren der Welt, die nur
von unsern eigenen Gnaden als Vorstellung besteht, und
hausen wir als Gott mit unserm Willen, den wir bejahen,
da wir ihn doch nicht verneinen können; wimmern
wir nur dabei tüchtig über die ungerechte Grausamkeit
des Weltwehs, halten wir uns täglich die Nichtigkeit
des Daseins vor, reissen aber vor jeder Cholera aus, wie
der täglich den Tod anpreisende Leopardi, und vergewissem
wir uns vor allem, dass ohne die bewusste Gnadenwahl, die
ja doch zu unsereins nie kommt, sittliche Läuterung und
überhaupt jede Anstrengung entbehrlich und überflüssig
sind! Wir kennen nur eine Pflicht, nur einen kategorischen
Imperativ, nämlich Welt und Wille möglichst nichtsnutzig
zu finden, uns und das All zu verachten, im übrigen die
Farce möglichst bequem zu Ende zu spielen, die abscheu-
liche Sansara zu geniessen, wie und wo wir können, sofern
das ebenso abscheuliche Nirwana, das wir anstandshalber
uls angenehme Erlösung unnützlich im Mundo führen, uns
liicht «Imvli owi;^^ gohoirao Todesanp;st den Genuss vergällt!
So allein hat die sogenannte Philosophie des Pessi-
mismus auf ihre weitverbreitete Gemeinde gewirkt Man
muss brutal die Dinge beim rechten Namen nennen, mit
— 107 —
etwas Übertreibung diesen bewussten und unbewussten
Eindruck auf die Spitze treiben, um das Richtige heraus-
zuschälen und den verderblichen Einfluss zu formulieren.
Wir erlassen uns weitere Erörterung, wie dieser falsche und
faule Pseudo-Buddhismus nicht nur alle Schwächlinge,
sondern auch alle Schufte anreizen musste. Fast alle
,^bildeten" Kanaillen wurden Schopenhaurianer, bis sie —
Nietzscheaner wurden, wo sie noch besser fanden, was sie
brauchten, ohne metaphysisches Brimborium, so dass selbst
die ungebildeten Kanaillen hier ihre Rechnung fanden. Der
Zulauf, den Schopenhauers Lehre in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts gewann, bis sich das 7in-de-Siöcle selbst für
die ünsittlichkeit des Pessimismus noch zu unsittlich und
denkfaul fühlte und einen Cancan des völlig blödsinnigen
„naturwissenschaftlichen^' Optimismus tanzte, bezeugt das
unablässige Sinken aller geistigen und sittlichen Werte von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wie das unvergleichliche Jahrhundert
der Nivellierungsdemokratie es darstellt Den Unbelehr-
baren, die uns etwa schmähen, wir hätten den Meister ent-
stellt und missverstanden, raten wir, ihn erst mal gründlich
zu studieren. Ihre Scheuklappenblindheit — der richtige
Schopenhaurianer verschmäht von vornherein jede andere
Belehrung, wie ja laut Schopenhauers eigener Anmassung
er das einzige Gedankenmass aller Dinge sein soll — müsste
sich freilich dann zu vergleichendem Studium des wahren
esoterischen Buddhismus und dor brahmanischen Geheiin-
lehren bequemen. Dann würde ihnen vielleicht auch die
stille Entrüstung dämmern, welche aus unserer Verdammung
vernehmlich genug ertönt. Denn dass Schopenhauers Donk-
gebäude, auf schiefem Fundament erbaut, unter jedem
Hammerschlag der Logik in lauter Risse zerklafl't, wäre
noch kein Verbrechen. Der schiefe Turm von Pisa bcdui-fte
einer besonderen Berechnung innerer Schwerkraft, die bei
dieser mörtellosen Donktechnik notwendig ausblieb. Aber
dass er den Begriff des Pessimismus, der teils als tatfroher
Entrüstungspessimismiis. teils al- p>habrnscin über das
törichte Aussensein ein Bestandteil edler Mealität und ein
Hebel des allein kulturfördernden Idealismus allzeit bedeutete,
bei allen Gesunden und Braven anrüchig machte, dass er
— 108 —
in Europa für lange Zeit die Quellen Indischer Weisheit
verschüttete, indem er ein nur seiner eigenen Schwäche
konformes Bild der Weltvemeinung entwarf und hiermit
der Ausbreitung des Buddhaheils im so bedürftigen Abend-
lande yerzögerndo Schranken zog, das soll ihm nimmer ver-
geben werden.
Der Plan dieses Buches erlaubt nicht längere fachlich-
philosophische Kontroversen.^) Auch wären sie unnütz für
jene ungeheure Mehrzahl, die von Theosophie und Okkultis-
mus nichts weiss, doppelt unnütz aber für die Kenner
unserer Geheimwissenschaften. Es mögen daher wenige
Winke genügen. Seine Willkür einer Trennung von Wille
und Intellekt könnte schon die heutige Psycho-Physiologie
experimentaj lächerlich machen. Da es ihm an jedem
plausibeln Nachweis fehlt, hilft er sich mit der populär-
naiven Ausrede: man könne die Menschen, z. B. die bösen
Professorenkollegen, intellektuell völlig überzeugen; wenn
sie also trotzdem die Wahrheit nicht anerkennen, so beweise
dies, dass der üble Wille immer stärker sei. Übersah er
xrirklich, dass dieser allerdings unzähligemal vorkommende
und mit zur Lebensökonomie gehörige Vorgang gerade
die Einheit von Wille und Intellekt dartut? Man dürfte
eigentlich umgekehrt sagen, dass der unbewusste Wille, auf den
naturgemäss immer zuerst der Eindruck als solcher wirkt, näm-
lich die veranschaulichende Vorstellung, sofort Wahrheit und
Grösse ahne, empfinde, erfasse. Der Wille selber wird alle-
mal instinktiv die richtige Vorstellung auslösen: dies da ist
ein Riese und der da ein Zwerg. Wenn also trotzdem, wo-
rüber Arthurs verkanntes Genie in zahllosen Wiederholungen
sich ereifert, charlatanische gewandte Zwerge als Biesen und
ofTenbare Riesen als Zwerge ausgeschrieen werden, so ging
solche Mala Fides durch sehr verschmitzten Intellektprozess
hindurch, insofern der anfangs richtig anschauende Wille
nun reflektiv erwägt, dass ungefüges Genie sowohl ihm
persönlich im Wego stehe, als auch die Weltlüge benach-
teilige, während geschmeidige Mittelmässigkeit weder fremde
^) Wir verweisen dieBbezügllch auf miser Bäohlein „Letzte Wahr-
heiten'\ worin manche Fragen kontra Schopenhauer angeschnitten.
- 109 —
Eitelkeit beleidigt, noch den allgemeinen Augiasstall be-
lästigt, oft sogar den Weltinteressen sozusagen gemeinnützig
schmeichelt Die instinktive Abneigung gegen alles wirklich
Oeniale, weil es das Unbequeme sein muss, die auffallige
Tatsache, dass der materielle Erfolg des Unbedeutenden
niemals einen so bitteren Neid erweckt wie die Leistung
des selbst erfolglosen Bedeutenden, erklärt sieh sehr leicht
aus dieser schlauen Überlegung des gedemütigten niederen
Intellekts gegen den grösseren und der böse Wille ent-
stammt demnach hier gerade dem Intellekt Es würde nicht
der Mühe verlohnen, die handgreifliche Identität und Gleich-
zeitigkeit aller Funktionen des Oehirnlebens zu betonen, für
monistische Anschauung ohnehin selbstverständlich, wenn
nicht Schopenhauer, wie wir sahen, aus seiner rein ins Blaue
hingestellten Prämisse die früher gekennzeichneten Schluss-
folgerungen zöge und von ihr sein ganzes System seinen
Ausgang nähme. In der Tat, wenn der rudimentäre „Wille^'
sogar den eigenen Intellekt (der in Wahrheit nur das Be-
wusstsein des Willens ist, mit ihm eins und dasselbe)
derart täuschen und unterdrücken könnte, so wäre auch das
Unding möglich, dass er sich vom Intellekt des Alls und
vom Willen der Weltseele unabhängig halten könnte, in
stierer stumpfer Isoliertheit und Verranntheit in ein dumpfes,
traumhaftdüsteres Triebleben, das bewusstlos den schmutzigen
Weg seiner triebhaften Begierden in tierhaft primitiver
Stofflichkeit dahintrottet. Da die „Wissenschaft" nun heute
ergründete, was nur Umschreibung altbrahmanischer An-
schauung bedeutet, dass unser Ich nur eine Republik von
Zellen, und da wir, aus kosmischen Stoffen bestehend, nur
aus steter Verbindung mit kosmischer Einwirkung unsre
Daseinskräfte schöpfen, so ist ein für sich bestehender
individueller Wille-zum-Leben ein leerer Wahn. Vielmehr
bedeutet auch er, den Schopenhauer als Wurzel alles
Geschehens betrachtet, nur einen trügerischen Schein, ein
täuschendes Phänomen, besitzt nur die Selbstherrlichkeit
eines Schauspielers, der eine eingelernte Bolle agiert In
ihm und dem Individuum veranschaulicht sich lediglich —
80 wie das zusammenfassende unfassliche Ego der unnenn-
baren Gottheit sich in Myriaden Welten manifestiert — sein
— 110 —
transzendentes Ego jenseits alles Willens-zum-Leben. Von
dieser Formulierung du Preis für altbrahmanische Weisheit
wusste Schopenhauer ebenso wenig wie von den sieben
Grundstoffen des Menschen und den sieben Ebenen jenseits
der irdischen Bewusstseinsschwelle, deren Durchschreitung
erst die Reinkarnation ermöglicht. Diese erfolgt keineswegs
durch individuellen „Willen zum Leben", wie ihn Schopen-
hauer mit anthropomorphischem Grössenwahn sich einbildet,
sondern auf Geheiss und mit Beihilfe der „Herren des
Karma^^ in Verein mit dem transzendenten Ego. Obschon
nur letzteres eine Willensfreiheit besitzt und in den Zwischen-
räumen seiner Inkarnationen, im Interregnum zwischen Tod
und Neugeburt, zur Anwendung bringt, so dienen doch alle
Leiden und Erfahrungen eines Eörperlebens dazu, der Neu-
gestaltung einer Inkarnierung wesentlich neue Züge hinzu-
zufügen, so dass der individuelle Wille sich tatsächlich
langsam ändert und bessert, je nach dem Mass seiner
gewonnenen Einsicht, welche freilich nur durch Kampf und
Leiden entstehen kann. Der Weg zur Erlösung steht allzeit
jedem offen, und der erhabene Plan der sittlichen Welt-
ordnung will, dass am Ende alles Wesenhafte zur Verklärung
des Nirwana gelangt. Das allerwichtigste Mittel zur
Brechung des bösen Willens ist aber gerade die
intellektuelle Erkenntnis, weswegen Buddha gar kein
Glauben, sondern nur Begreifen und Erkennen verlangt
Jeder Glaube ist um so wertloser, als niemand den andern
erlösen kann, sondern nur Ego sich selber. „Selbst ist der
Herr von Selbst", nicht Herr einer Welt aus Wille und
Vorstellung, sondern gerade, woran des Pessimismus
Schwäche verzweifelt, Herr seiner eigenen Erlösung. Diese,
die Verneinung des schlechten Willens, erwirbt man nicht
durch irgendwelche Gnadenwahl, sondern allein durch ernstes
Forschen, Suchen und Streben innerer Versenkung und Be-
schaulichkeit. Dass ein Wille, sei er noch so verstockt, in
blinder Bejahung des Ichs beharre, nachdem er die Ver-
gänglichkeit und eigentlich Nichtexistenz des Ichs durch-
schaut, schliesst sich von selber aus. Je nach dem Massstab
seiner sittlichen Kräfte, nach dem jeweiligen Stufenstande
seiner Inkarnation muss jeder, dem Erleuchtung zuteil ward^
- 111 -
eine grossere oder kleinere Änderung und Besserung unwill-
kürlich erfahren. Wenn also Schopenhauer, der volle hudd-
histische Erkenntnis beanspruchte, nicht mal Anstalten machte,
gemäss seiner salbungsvollen Predigt Willen und Leben zu
verneinen, so gibt er uns ein Rätsel auf. Schier sollte man
glauben, dass alle schlechten und nie widerlegten Zeugnisse
über seinen Charakter und Wandel auf Verleumdung oder
Eurzsichtigkeit beruhen. Doch er selbst sorgte durch seine
Schriften dafür, dieser ohnehin unwahrscheinlichen Ausrede
vollends den Boden zu entziehen. Denn selbst hier, wo er
mit seinen besseren Trieben kontemplativ allein war und
jeder Zwang äusserer umstände fortfiel, treffen wir denselben
neidischen, rachsüchtigen, zornwütigen, hochmütigen, selbst-
verliebten und masslos ichsüchtigen Gesellen. Wenn er auf
Frauen und Liebe schimpft, vergisst er nicht mit heimlich
schmatzender Lüsternheit zu betonen: „Auch icb habe gelebt
und geliebet," welche Episode — in Venedig, wie man sagt —
wohl recht danach angetan war, seine Auffassung der Liebe
und des Weibes zu stützen. Ja, er hat Recht, er und
seinesgleichen finden die Liebe, die sie verdienen, die sexuale
Venus des neuen Tannhäuser, nicht die Venus Urania reinerer
Schauung, so wie sie auch die Philosophie finden, die zu
ihnen passt Ihr hochtrabender Pessimismus ist eine anthropo-
morphische Anmassung, die einen Zweck des Leidens mit
der einzigen Begründung leugnet, dass der Sinnenmensch
gebratene Tauben aus Schlaraffenland bequemer schmausen
möchte. Da Lust und Unlust sich gegenseitig bedingen, das
Lustgefühl des Lebens-an-sich aber bei weitem die Unlust
überwiegt, wenn man nur genau abwägen wollte, so wird
freilich nur zu erklärlich, warum solche Pseudo-Possi misten
so krampfhaft am Leben hängen. Pessimismus hätte seine
einzige Berechtigung in abstraktem Idealismus, doch grade
dieser überwindet jede Anfechtung des Weltleids durch
Wohlwollen. Mitleid, Beseligung des eigenen unantastbaren
Himmels im Innern. Deshalb geniesst der wahre Buddhist
und Theosoph eine freundliche und liebliche Heiterkeit, wie
sie auch so entzückend aus den Bekenntnissen wahrer
Heiligen, wie des Franz von Assisi, heraustönt, und nichts
verwirft Buddha in seinen (Schopenhauer natürlich
— 112 —
unbekannten) Reden und Parabeln unerbittlicher als finstre
Askese und selbstpeinigende Frömmelei mit obligater
Scbopenhauerscher Streit- und Zanksucht Rastlose Arbeit
im Dienste des Ideals zur Ausbreitung des Heils verlangt
er von seinen Jüngern, aus unermesslichem Wohlwollen
und treuer Selbstlosigkeit soll die heitre selige Oottesruhe
entspriessen, welche zu den ,,Schauungen^^ Einlass und
endlich Eingang in Nirwana gewährt Nirwana aber, das
Schopenhauer auch nur als „Nichts" erklären kann, obschon
er geistreich zusetzt, dass vom Standpunkt Nirwanas aus
unser Ichleben weniger denn Nichts sei, ist keinerlei räum-
licher und zeitlicher Aufenthalt, wonach sogar der Nichts-
Begriff noch immer schmeckt, sondern ein in sich selbst
beruhender Zustand des Absoluten, das All-Gefühl, der
Universalaffekt Giordano Brunos, ein in der Inspiration
schon hienieden erreichbares höchstes Glücksgefühl, das
Byron mit den Worten aussingt : „Ich lebe nicht in mir, ich
werde ein Teil all dessen, was um mich her." So führt das
wahrhaft Heldenhafte, Brunos Eroici Fuori, gradeso zum
esoterischen Buddhismus, wie die heroisch duldende Ver-
nichtung des Sinnenscheins im Indischen Büsser, und ein
gewaltiger Eingeweihter der Joga-Kunst (okkulter Erhöhung
der Seelenkraft zur Beherrschung der Materie) sprach in
einem englisch geschriebenen Buch das grosse Wort gelassen
aus: „Schwächlinge können wir unter uns nicht brauchen".
Völlige Furchtlosigkeit, ein auf geheimen Gründen be-
ruhendes Selbstvertrauen, heitere Zuversicht auf die unsterb-
liche ewige Kraft in uns und über uns, das sind die Früchte
des stählenden erbebenden wahren Buddhismus, des höchsten
Optimismus, der überhaupt nicht den Willen-zum-Leben,
wie Schopenhauers stilistisch entgleiste Phrase den hehren
Sinn für das europäische Publikum verfälschte, sondern
lediglich den Willen-zum-Ich verneint, nur um den gött-
lichen All- Willen in uns auszubilden, unsern im Körper-
dasein gefesselten unsterblichen Willen zu befreien und zu
tausendfacher Kraft zu erhöhen, kurz aufs allerstärkste zu
bejahen, was Jesus „das ewige Leben" nennt. Wenn
Schopenhauer gelegentlich faselt: Die Begebenheiten (sie) in
Galiläa würden die Urweisheit des Menschengeschlechts am
- 113 -
Ganges und Indos nicht umstossen, so schmeichelt er frei-
lich dem Bildangspöbel, dem jedes Antichristentum imponiert
(Vom „erhabenen Stifter der christlichen Ethik^ spricht er
hier und da mit Yerehrong, schlägt sich aber sonst nur mit
allerlei Kirchenvätern herum.) Ein Initiierter wird aber
solches völlige Mangeln buddhistischer Beife, das jene
mythischen Begebenheiten der symbolistischen EvangeUen-
dichtung für das Wesentliche hält, dagegen die abgrundtiefe
Grossartigkeit der Sprüche und Parabeln des Buddha Jesus
(der nächstfolgenden Inkarnation des Gotamo) für Naivetäten
eines gewöhnlichen Gottsuchers erachtet, nur mit Mitleid
strafen. Hätte übrigens unser trauriger Pessimist von Asoka
Kunde empfangen, dem grössten Herrscher aller Zeiten, der
von sich aussagen durfte: „Es gibt für mich keine Über-
sättigung in der Arbeit,^^ „alle Menschen liebe ich wie meine
Kinder, im Diesseits will ich sie glücklich machen und im
Jenseits sollen sie das Heil gewinnen,^' so würde er geahnt
haben, welch Zerrbild des heldenhaften Buddhismus er uns
vorsetzte. Bedenkt man nun, dass ein kannibalisches Volk
von Bestien wie die erdverwüstenden Mongolen der Steppe
heut unterm Zauber Buddhas ein Geschlecht heitrer sanfter
gottseliger Friedensmenschen geworden ist, wie noch jüngst
ein Beisender wehmütig im Hinblick auf diese einst so
prächtigen Nietzscheschen Bestien beklagte, so lösen wir das
Rätsel, warum Schopenhauers angeblicher Buddhismus weder
ihm noch seinen Anhängern den geringsten ethischen Nutzen
brachte, rundweg dahin, dass dies alles nur etwas von
aussen Angemachtes, sozusagen Angelesenes, innerlich
Fremdes blieb, daher auch nie aus passiv platonischer
Neigung wirklich ins Innere drang. Ein eiüer ehrsüchtiger
Verstand, nicht schöpferisch beanlagt, dagegen in dialek-
tischer Sophistik seine denkerische Stärke erkennend, warf
sich auf diese bisher in Europa unbekannte fremde Grösse.
Wenn andere wie Egmont spanisch kamen und spanische
Luftschlösser mit Grandezza bauten, so versprach er sich
viel davon, uns Indisch zu kommen, als scheinbares Original
einer neuen Mode. Wie alle ungeschickten Plagiatoren, zog
er aber das gelbe Gewand des Chela verkehrt an, besudelte
indische Weisheit mit seinem eigenen schlechten Willen und
Bleibtren: Die Vertreter dei Jahrhunderts. 8
— 114 —
führte als feierlicher Magus aus dem Morgenland allerlei
Ochsen in seinen neuen Stall von Bethlehem, voll seiner
eigenen Dalai Lama-Exkremente, aber ohne Heiland und
Verkündigung der Engel Er sah sich gleichsam eine
Buddhastatue von aussen mit artistischen Augen an und
knetete danach ein Figürchen. Literarisches Experiment,
nichts weiter, seine Kapitel über Ästhetik, Kunst, Oenie
daher eine Oase in der verworrenen WtLste seiner denkerisch
haltlosen Yerworrenheit Sein blendender Esprit, sein um-
fassendes Wissen, sein oft nerviger Gelehrtenstil gewähren
erlesenen Oenuss. Aber philosophisches System? Lauter
Parerga und Paralipomena!
In der Struktur seines Hauptwerkes fällt gleich unan-
genehm auf, dass er den Stoff gespalten hat, indem er einen
zweiten Band „Ergänzungen^^ dem ersten anhing, wodurch
der Eindruck sich nicht verstärkt, sondern verflüchtigt Dies
beweist mangelhafte Yer- und Durcharbeitung, indem er so
gleichsam für klaffende Lücken separat einen Mörtel bei-
fügte und Unklarheiten nachträglich zu erhellen suchte.
Auch dürfte es ein vernichtendes Urteil sein, dass gerade
der zweite Band den höheren Wert hat, denn in ihm über-
wiegt das sozusagen Feuilletonistische, das geistreiche
Plaudern über alle möglichen Dinge, das vielfache Zitieren
aus alten und neuen Autoren, das Heranziehen einzelner
physiologischer Entdeckungen. Einzelne Kapitel darin, wie
das über Metaphysik der Oeschlechtsliebe, verschafften ihm
allein seine spätere weite Verbreitung, so dass Schopen-
hauers Einfluss doppelt unheilvoll wurde, weil die meisten
seiner Leser nicht mal fähig waren, der rein philosophischen
Deduktion zu folgen, und sich einzig an solche Feuilletons
über das Elend und die Gemeinheit der Welt hielten. Wie
die Oberflächlichkeit den „grossen Messias^^ verstand, wird
so recht klar aus Zolas „Joie de Vi vre", wo ein jugend-
licher Schopenhaurianer, von Zola meisterhaft als Typ dieser
Verseuchten geschildert, sich in ewiger Todesfurcht windet,
weil er den Glauben ans christliche Jenseits verlor. Ganz
recht! Also hat sich Schopenhauer umsonst bemüht, die
indische einzig mögliche Auffassung der Unsterblichkeit den
Occidontalen zu demonstrieren, sie verstanden nichts davon
— 116 —
als die Vernichtung ihres individuellen Ichs, nämlich des
bestimmten Öottlieb Schulze. Dies jämmerliche Missverstehen
wäre ja an sich nicht seine Schuld, doch es liefert den
schlagenden Beweis, dass seine Bemonstrierung des Buddhis-
mus, den er ja freilich als seine eigene Lehre vortrug, an
unerträglicher Halbheit krankt, daher missverstanden werden
mnss. Die Unzerstörbarkeit des „Willens zum Leben'^ in
jeder Erscheinung kann dem Durchschnittgebildeten über-
haupt nur verständlich werden durch die genaue und gründ-
liche Fortsetzung der brahmanisch-theosophischen Lehre über
das Jenseits. Ohne solche Ergänzung wird niemand begreifen,
dass selbst von Vernichtung des individuellen Ichs — wohl
zu unterscheiden vom physischen Individuum — nicht die
Bede sein kann, dass daher der horror vacui — wir ver-
missen diesen bekannten Ausdruck bei Schopenhauer als
treffendste Erklärung der Todesfurcht — sich völlig trösten
mag. Wenn seine Gemeinde also eine entnervende HofT-
nungslosigkeit aus seiner Lehre allerdings irrig herauslas, so
wird dies verschuldet durch seine eigene Unklarheit und
offenkundige Unsicherheit Wer soll aus seinen flüchtigen
Andeutungen sich einen Begriff von der Metempsychose
machen! Das völlige Fehlen des Karmabegriffs, seine Un-
kenntnis dieses höchsten Gesetzes, bringt das fundamenüose
Schwanken des ganzen Gebäudes zu stände. Da aber noch
heute viele Anhänger Schopenhauers es verschmähen, zu den
indischen Urquellen niederzusteigen, und sich mit diesem
ungeschickten Abguss begnügen, so hat selbst seine an sich
verdienstliche Anknüpfung an die wahre Weisheit des
Menschengeschlechts mehr Schaden als Nutzen gestiftet.
Darüber sagten wir ja schon vorher das Nötige.
Die Grundlegung Kants, dass der Satz vom Grunde
(Kausalität) nicht, wie Hume behauptete, aus der Erfahrung
hervorgeht, sondern etwas ursprünglich Gegebenes sei, durch
welches erst alle Erfahrung möglich werde, wird heut eigent-
lich wieder bestritten (Schmidts Erfahrungsphilosophie), wie
wir an andrer Stelle noch sehen werden. Jedenfalls möchten
wir richtiger es ausdrücken, dass nicht der Kausalitäts-
begriff, welcher in der Succession der Zeiterscheinungen in
onsrer Vorstellung wurzelt, das Gegebene sei, sondern die
8*
- 116 -
{Fähigkeit der „Vernonit'^, diesen Begrift früher oder später
za bilden und das gesamte Vorstellen danach za regeln.
Wenn nun aber Eant und mit ihm Schopenhauer nach-
weisen, dass alle Anschauung nicht sensual — Schopenhauer
sagt hier „nicht bloss sensual^, das ist aber ein zweideutig
schiefes Paktieren mit dem unreifen Sensualismus — , son-
dern intellektual als reine Yerstandeserkenntnis ist, so
sollte Schopenhauer doch logisch folgern, dass grade
der Intellekt, den er als sekundär vom Willen scheidet,
etwas recht Ursprüngliches sei Dass alles Vorstellen
rein intellektual ist, zeigt die Tatsache des Traumes
sowie das von Schopenhauer nirgendwo berührte Phä-
nomen, dass im Halbtraum bei geschlossenen Augen döh
Farbenprismen, Landschaften, Physiognomieen ganz unwill-
kürlich einstellen mit fast frappanterer Deutlichkeit als beim
äusserlich sehenden Wachen. Wie willkürlich aber selbst
ein grosser Denker sich mit derlei unwiderlegbaren und an
sich einfachen Tatsachen abfindet, zeigt Kants Diktum : „Der
Zusammenhang der Vorstellungen unter sich nach dem
Gesetze der Kausalität unterscheidet das Leben vom Traum",
wozu Schopenhauer bemerkt: Nein, auch im Traume hänge
alles einzelne ebenfalls nach dem Satz vom Grunde zu-
sammen — was so selbstverständlich ist, dass jeder Beliebige
dem grossen Kant dieselbe Belehrung hätte widmen können.
Dagegen verkennt Schopenhauer im Nachfolgenden die
wichtige Anmerkung, die wir hier zusetzen: dass auch
zwischen dem Lihalt der Träume und dem Inhalt des vor-
herigen Denkens im Wachen ein kausaler Zusammenhang
besteht Wenn nun Schopenhauer richtig betont, dass alle
grossen Entdeckungen eine unmittelbare intuitive Einsicht
„und als solche das Werk des Augenblicks, nicht das
Produkt langer Schlussketten in abstracto seien^^, — wir
fügen hinzu : ganz wie im Traum und Halbtraum sich blitz-
artige Einsichten und Anschauungen ungerufen eindrängen
mit Überspringung vieler Zwischenglieder, weil hier im
Unbewussten der täuschende und lähmende Schein der
äusseren empirischen Kausalität wegfällt, — so müsste er
sich doch von der sozusagen supranaturellen Beschaffenheit
des Intellekts eine hohe Meinung gebildet haben. Bekannt-
— 117 -
lieh sagte Goethe, dass man derlei EingebuDgen als ein
freiwilliges Geschenk der Götter dankbar zu verehren habe.
Wenn nun laut Schopenhauer der Materialismus schon bei
seiner Geburt den Tod im Herzen trägt, „denn ,kein Objekt
ohne Subjekt^ ist der Satz, der auf immer allen Materialis-
mus unmöglich macht," so ist eben der Intellekt dies
Subjekt, das auch diesen weltbezwingenden Satz zuwege
brachte. Und solches widerstreitet obendrein dem blinden
„Willen^^, welcher überall nur empirisch herumtastet
and weder Objekt noch Subjekt richtig auseinanderhält,
ja sogar wie der Materialismus nur vom Objekt einer
für real gehaltenen Welt ausgeht Schon beim Eingang der
Schopenhauerschen Deduktionen stutzen wir also über den
anbegreiflichen Einfall seines Intellekts, eben diesen allein
das Ewige erkennenden Intellekt für das Vergängliche und
blinden Diener des Willens auszulegen. Ging doch der
grosse Eeppler als Astronom so weit zu behaupten, dass die
Planeten erst Erkenntnis (Intelligenz) haben müssten, um
ihre Bewegungen — sagen wir: Willensschwingungen —
auszuführen. Wer aber will überhaupt philosophisch ent-
scheiden können, in welcher Kausalität Wollen und Erkennen
zaeinanderstehen , da sie doch sichtlich in eins zusammen-
fallen und gar oft, um rein empirisch im Menschen dies
Verhältnis zu betrachten, das Erkennen erst der Anstoss
zum Wollen ist Ja, mit einem ihm so oft passierenden
Selbstwiderspruch gesteht Schopenhauer letzteres ja gerade-
wegs zu: ein plötzliches Erkennen des Weltleids, wofür er
Beispiele anführt, breche oft den vorher ganz Übeln Willen
nach der entgegengesetzten Seite um ! Also dieser sklavische
Diener Intellekt kann so rebellisch werden, dass er seinem
anbezwinglichen Herrn Wille einfach den Hals umdreht!
Sollen wir die Ungereimtheit noch deutlicher machen?
Da ist seine Definition des Genies: V3 Intellekt, V3 Wille.
Diese Mischung also vollbringt das wahrhaft unver-
gängliche, reisst die Menschheit mit übermenschlichem
Willen vorwärts — und doch soll der Intellekt das Ver-
gängliche sein? Umgekehrt hat gerade das Genie einen
besonders heftigen Willen, wie Schopenhauer ausführ-
lich darlegt, während es im Verhältnis zu den übrigen
-T- 118 —
Menschen, die aus V3 Wille bestehen, offenbar einen
schwächeren haben müsste und bei dem enormen Über-
wiegen des Intellekts in obiger Mischung ein besonders
heftiger Wille gar nicht denkbar wäre, also alle Genies einen
hervorragend ruhigen selbstbeherrschenden Charakter haben
müssten! Bekanntlich ist genau das Gegenteil der Fall,
und er wollte nur die einfache Wahrheit nicht sehen, dass
das Genie eine gleich massige Steigerung des Intellekts
und Willens bedingt. Wie aber bei dieser Spitze des
Menschentums, so muss wohl auch überall die Mischung
einfach V2 Wille V2 Intellekt ergeben, da beide sich
genau zu entsprechen pflegen, wie empirische Beobachtung
stets ergeben würde, wenn man auf den Grund geht und
nicht kurzsichtig irgendwo auf äusserem Anschein fusst.
Dies bezieht sich sogar auf den guten und bösen Willen
im Verhältnis zum Intellekt. Schopenhauer führt zwar
lang und breit aus, dass man ein Dummkopf und doch
sehr edel, sehr klug und doch sehr schlecht sein könne.
Aber ersteren beliebten Satz hebt er selber sogleich wieder
a\if und deduziert in seiner geistreichen Art, warum die
Dummen fälschlich in den Geruch der Gutartigkeit gekommen
seien, ja gibt sogar zu, dass dumm und boshaft sich meist
bedingen. Wie kann dann ein Logiker noch zweifeln, dass
auch das umgekehrte Axiom „klug und schlecht^^ durch
solch indirekten Gegenbeweis zerfällt? Hat er sich nie ge-
fragt, ob Personen, die wir meist von Hörensagen her für
„klug^^ halten, nicht bloss die ganz gemeine triebartige Klug-
heit des Raubtiers besassen, und ob umgekehrt zweifellos
bedeutende Menschen, die wir ohne eigene oder mindestens
ohne tiefgehende Prüfung für „schlecht^^ halten, nicht im
tiefsten Innern edle Regungen verbergen? Es scheint be«
deutungsYoll, dass Richards HI. und Gesare Borgias Unter-
gang, die wir doch als besondere Scheusale verabscheuen,
von vielen ihrer Zeit beklagt wurde, wie denn Shakespeare
nicht umsonst seinem hässlichen, bucklichen, keifenden Dämon
(der historische war bekanntlich ein honigzüngiger hoch-
gebildeter Jüngling von schönem AnÜitz) Ausbrüche von
leidenschaftlichem Patriotismus und im grossen Monolog
Gewissenssätze ethischer Erkenntnis in den Mund legt, auch
— 119 —
seine historisch beglaubigte Tapferkeit und Todesyerachtong
herrorhebt
Um YOQ solchen bei Schopenhauer beliebten Ab-
schweifungen populärer Yeranschaulichung zum Begriff-
lichen zurückzukehren, wie denkt er sich den Salto Mortale,
dass der angeblich yom Willen stets abhängige und ge-
knechtete Intellekt sich in einzelnen Individuen auf zwei
Drittel des ganzen Wesens verstärken könne? (Beträgt
er vielleicht bei Übergangsstufen zwei Fünftel oder wieder
anderen drei Fünftel?!) Und wäre dem so, wofür er uns
natürlich jedes Warum schuldig bleibt, was würde daraus
folgern? Doch offenbar, dass die in blinden Willen
gebannte Menschheit unerklärlicherweise aus sich eine
höhere Basse (Genies) erzeugen kann und dass dieser
Prozess vermöge siegreichen Anschwellens des Intellekts
erfolgt Was wäre also das stärkste Element im Menschen?
Der Intellekt — Natürlich wollen wir hiermit nur das
„Primat des Willens'^ ad absurdum führen, denken aber
unsrerseits nicht etwa daran, wieder den alten Irrwahn der
Philosophen und Theologen seit dem „Nous^' des Anaxa-
goras bis auf Cartesius und Leibniz aufzuwärmen, wonach
der Mensch gleichsam nur „Intelligenz^^ sein soll. Das
berühmte „Cogito, ergo sum^' kann man heut in Denker-
kreisen einfach berüchtigt nennen, obschon es, was Kant
anscheinend nicht einsah, einen notwendigen Übergang in
der Entwickelungskette zum echten Transzendentab'smus vor-
stellte. Nein, sum, ergo cogito! Das esse ist die einfache
grosse Tatsache, in welcher es keine Mischung, keine Hälften,
kein V2 • Vsi K^^t, sondern eine einzige konkrete kompakte
Masse, in welcher Aktion von Willen und Intellekt, Phy-
sischem und Psychischem, unlöslich zusammenhängt, so dass
der Wille zum Denken oder Handeln mit dem Denken und
Handeln identisch. Freilich besteht diese Einheit nur für
unsere Vorstellung und die Inder wussten viele Jahrtausende
vor unserer Zellentheorie, dass der Mensch sich aus ver-
schiedensten Bestandteilen zusammenfügt, die im Leben das
Bewusstsein des Ichgefühls als Präsidenten anerkennen,
im Tode sich aber scheiden. Auch hat Schopenhauer seinen
bunosen Willen - zum - Leben, auf dessen Erfindung sein
— 120 —
Weltrahm sich gründet, einfach aus dem Indischen über-
nommen, aus unvollständiger Bruchstückkenntnis unklar
herausdestilliert
Denn dies ist nur das ,,Kama Rupa'\ dessen Begriff er
wahrscheinlich nicht mal kannte, die Yerknotung des Eörper«
liehen in die Sansara, beleuchtet vom höheren „Manas^' der
Vernunft Während sich bei den Eantischen einfachen
Definitionen : «^Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft^^ nichts Posi-
tives denken lässt — denn wo liegt die genaue Orenzscheide
von Verstand und Vernunft, wie entwickelt sich Vernunft
aus Verstand oder wieso war sie gleichzeitig mit dem Ver-
stand gegeben? — ,gibt das Indische Schema von den sieben
Grundstoffen ein völlig klares anschauliches Bild. Da
Schopenhauer nicht mal vom Astralen wnsste, so dürfte ihn
noch mehr überrascht haben, dass auch seine Meinung,
der nämliche „Wille^^ belebe die ganze Materie, längst
Gemeingut der ürweisen am Ganges war. Wenn übrigens der
Astronom Euler das Newtonsche Attraktionsgesetz als eine
„okkulte Qualität'^ verbannt und die Gravitation auf eigene
„NeigangundBegierde^^ der Körper zurückgeführt wissen wollte,
so empfehlen wir einerseits die köstliche Ironie der Blavatzky
(„Secret Doctrine'^ über das Gravitationsgesetz; andrerseits
fragen wir die gewöhnlichste Logik, ob diese „Neigung und
Begierde^^ wirklich nur einen instinktiven Willen bedeute
und nicht vielmehr grade so gut als intelligente Absicht
ausgelegt werden könne. Dies geschieht denn auch in der
Indischen grossartigen Anschauung des Planetensystems als
einer durchaus belebten Selbstbestimmung und Selbstregierung,
allerdings unterm Ansporn des Karma, das auch alle Evo-
lutionsperioden (Manvantara) heraufführt Dass die Vielheit,
das principium individuationis, nur durch Zeit und Raum,
letztere aber nur durch unsre Modalität der Erkennbarkeit
bestimmt sind, diese ungeheure neue Entdeckung Kants
bildete sozusagen den Anfangsbuchstaben der uralten Ge-
heimlehre. Alles was man aber hier über das Allein-
bestehen der Platonischen ,Jdeen^^ und die sonstige Gleich-
heit des ewigen Werdens, der Identität in der Vielheit,
sagen könnte, beweist gleichzeitig die innere Einheit des
Seins im Menschen. „Daher könnte man auch behaupten,
- 121 —
dass, wenn ein einziges Wesen gänzlich vernichtet würde,
mit ihm die ganze Welt untergehen müsste", prägt Schopen-
hauer etwas paradox, aber konsequent, es aus. Nun wohl,
ebenso müsste in der Vielheit des Individuums alles unter-
gehen, wenn ein einziger Bestandteil desselben, also der
Intellekt, wegfiele. Dem nun hinwiederum zu widersprechen
ist Wasser auf Schopenhauers Mahle. Sein Nachweis wäre
hier der naheliegende rohempirische: Wenn der Intellekt im
Blödsinn zerfällt, lebt der organische Wille unbehindert fort,
woraus also das Primat des Willens folgert Hier liegt aber
bloss eine banausische Auffassung des Intellekts zu Grunde.
Zwar gesteht Seh. selber zu, dass der Wahnsinn oft geniale
Erscheinungen zeitige, obschon ihm nur ein dürftiges Material
für diese heut dokumentär belegte Tatsache zu Gebote
stand, vermag aber den Grund nicht zu erkennen. Nämlich
weil dort der Yorstellungsschein des „normalen'^ Eausalitäts-
begrifb teilweise gesprengt wird und dafür latente Yor-
stellungsreihen aus dem „Unbewussten'^ auftauchen. Letzterer
durch Hartmann bei uns eingebürgerte Begriff war ihm
fremd, ohne ihn hätte er aber dem Indischen Erkennen,
auch ohne dass man schon bis zum Okkultismus vorge-
schritten zu sein braucht, vielfach ratlos gegenübergestanden.
Mit taschenspielerischer Verwechselung, von der es in
seiner spitzfindigen Dialektik wimmelt, versteht er unter Intellekt
test durchweg den blossen Verstand, etwa den des täglichen
Erwerbslebens, von dem man allenfalls sagen könnte, dass
er der blosse Diener des gemeinen Willens sei. Doch mit
kühnem Sprung heisst ihm Intellekt auch wieder die un-
mittelbare unbewusste Intuition des Genius, vermutlich
wären ihm also Hellgesicht und Prophetie auch intellektuale
Zustände, obschon der Mediumismus und Somnambulismus
doch augenscheinlich im Organischen (nach seiner Nomen-
klatur „Willen'^) ihren Sitz haben. Dieser höhere, un-
bewusste, wahre Intellekt ist aber, wie ihm eine Menge
okkulte Experimente lehren könnten, unzerstörbar, ist latent
in jedem Lebenden, also auch noch im Blödsinnigen, vor-
handen und erweist sein wunderbares Vorhandensein erst
recht, wenn der Satz vom Grunde nicht mehr tyrannisch
wie im Normalzustand wachender Logik die Vorstellung
— 122 —
leitet. Es ist das innere Bewusstsein dessen, was er
„Willen" nennt, nicht wie der gewöhnliche Verstand ab-
hängig vom Zustand der Gehirnmasse, welchen materia-
listischen Trugschluss auf die „Seele" er unverzagt wenigstens
auf den „Intellekt^^ anwendet Auch ist die Hypothese von
etwas Primärem und Sekundärem wieder ein Widerspruch
zu obiger richtiger Allgemeinabstraktion über die Identität
der Vielheit und die absolute Gleichwertigkeit des. Kleinsten
und Grössten, da aus Primat des Willens eine ungeheure
Wertdifferenz, wie er ja auch annimmt, und hiermit eine
Verschiedenheit der Vielheit hervorginge. Die Lehre von
der Identität gipfelt naturgemäss in der Identität des
Menschenseins in sich selber. Was daher unzerstörbar bleibt,
ist etwas, wofür „Wille" und „Intellekt" nur zwei falsche
Namen, besondere Namen für eins und dasselbe. Übrigens
könnten wir, wenn wir nicht derlei Unterscheidungen und
Absonderungen für grundsätzlich verkehrt hielten, mit
gleichem oder besserem Recht das ganze System umkehren
und den Willen erklären für blosse Funktion und Eausal-
wirkung des Manas (höheren unbewussten Intellekts, wohl-
gemerkt nicht des bewussten niederen Verstandes, der mit
„Eama Bupa" verschwindet als dessen steter Begleiter). Dies
konmit der letzten Wahrheit und der von Seh. angeblich so
inbrünstig verehrten Indischen Weisheit auch ungleich näher,
zumal das Prinzip der Erlösung nur aus dem Manas keimen
kann, dieses aber den Zweckbegriff des ganzen Weltphänomens
darstellt Allein, es waltet doch gleichzeitig das gestaltende
Gesetz des £arma und dies bedarf des Eama (Leib,
Willen), was den Manas, ehe er nicht in Nirwana einging,
so unlöslich in der Wiedergeburt dem „Willen zum
Leben" verkettet, dass beide wenigstens für unsre mensch-
liche Vorstellung des Seins als zusammengewachsene
siamesische Zwillinge erscheinen. Eine Klärung der ganzen
erhabenen Angelegenheit bringt nur das Prinzip des trans-
zendentalen Ego, zu welchem weder Kant noch Schopen-
hauer den Durchbruch fanden.
Seh. verkennt nicht sein Taumeln in einem fremden, vor
ihm allerdings von Europäern unbetretenen Gebiet (Es sei
denn Giordano ausgenommen, der ganz von selber ohne es zu
— 123 —
wissen als Neaplatoniker zu Indischer Urweisheit — trans-
formierender Seeienwandelung, allausgleichender Gerechtig-
keit in den Wiedergeburten der Seelenmonade, gleichzeitiger
Transzendenz und Immanenz der Gottheit — zurückgelangte.)
^ch wollte, dass mir möglich wäre, durch Klarheit
der Darstellung die dem Stoffe anhängende Dunkel-
heit zu überwindend^ (Buch II, S. 173 der Frauenstädtschen
Gesamtausgabe, 1873). Wie es mit dieser Klarheit steht,
sahen wir nun schon zur Genüge. Wenn er aber eine zer-
setzende Kritik der Kantischen Philosophie, soweit sie ihm
Dicht passt, hier und da mit Recht, als Anhang seinem
Hauptwerk hinzufügt, so können wir ihm die Büge nicht
ersparen, dass er Kants geniale Unterscheidung des em-
pirischen vom intelligibeln Charakter gründlich missverstand,
indem er letzteren mit seinem Kunstausdruck „Willen^' iden-
tificierte und Kant vorwarf, Kant sei hier eben nicht wie sein
grosser Nachfolger auf den Grund gegangen. Vielmehr
schwebte Kants Sehergeist hier offenbar grade das vor, was
wir heut das transzendentale Ego nennen oder mindestens
das ünbewusste des Manas.
Die Definition der Welt als „Wille zum Leben^^ erscheint
als eine ohnehin höchst einseitige und mangelhafte. Die
AuffiEtösung des Menschenwesens als blosser „Wille^^ hält
schon anfangs der Logik nicht stand, um nachher in zahl-
reiche unlösbare Zwischenfragen zu verwickeln: Weil hier
die logische Verknüpfung des Karmagesetzes als einer
moralischen Weltordnung fehlt, obschon Seh. wiederholt eine
ewige Gerechtigkeit ahnen lässt und diese schlechteste aller
Welten als notwendiges Spiegelbild und Bestrafung des
bösen Menschen willens gleichsam mit gleichem Eifer ver-
teidigt, wie Leibniz seine erlogene beste aller Welten, wo-
mit aber eigentlich der Begriff des Pessimismus hinfällig
wird. Auch in Voltaires „Gandide^^ wird Leibniz zwar
glänzend verspottet, am Schluss aber, dessen Maxime auch
Kant so gefiel und von ihm angelegentlichst empfohlen ward,
im Grunde eine gewisse Behaglichkeit erreicht: mit Verzicht
auf jede Spekulation und selbstgenügsamem Bebauen des
eigenen Gärtchens. Überhaupt wird man mit Ausnahme
des durch und durch gekünstelten Leopardi, der deshalb
— 124 —
dem künstelnden Seh. so sehr behagt, nirgendwo in der
wahren Dichtung, diesem unmittelbaren intuitiven Anschauen
des Intellekts, ein eigentlich pessimistisches Endurteil über
das Leben finden. In dem erhabensten Hohelied einer
tragischen Weltspekulation, Byrons „Kain", in dem wie in
vielen philosophischen Stanzen des „Don Juan'' mehr echte
Metaphysik steckt — nämlich anschaulich intuitive — als
in fast sämtlichen aussenndischen Philosophen, fühlt der
Mensch sich niemals niedergedrückt, sondern befreit und
erhoben, toU einer gewissen transzendentalen Hoffnung:
^,Duldet und denkt! Schafft eine eigene Welt im Innern,
wenn die Aussenwelt versagt! So kommt der geistigen
Natur ihr näher und kämpft mit eurer eigenen bis zum
Sieg!'' Es blieb Seh. vorbehalten, jene erhabene Melancholie,
welche die Erkenntnis unsrer ünheiligkeit in den besten
Qemütem hervorbringt, immer gepaart mit der Freudigkeit
des Kampfes und der Hoffiiung auf eine unbekannte Er-
lösung, zu einem Zustand endlosen miselsüchtigen Janmiems
über unsern Aussatz zu vergröbern und diesen auf die ganze
Menschheit zu übertragen. Sein Verfahren hierbei ist ebenso
einfach wie naiv, in widerlichem Sinne populär, weshalb
alle Flachköpfe bei diesen vielgelesenen Kapiteln tiefsinnig
Amen nicken. Der Schmerz ist positiv, die Freude negativ,
denn ersterer dauert, letztere ist flüchtig, weil Begierde selbst
nur Unlust und dem Oenuss sofort wieder neue Begierde
folgt? Wiederum willkürliche Unterscheidung für eins und
dasselbe. Zuvörderst hätte Byron, den er oft zitiert und
dessen intuitive dichterische Philosophie — sehr oft mit In-
dischem Empfinden sich deckend — dann wie ein Lichtblick
durch dunstigen Nebel wirkt, ihn belehren können: „Alles
Leiden zerstört oder wird vom Leidenden selber zerstört",
was dann genial noch weiter ausgeführt wird. Der Schmerz
ist also ebensowenig dauernd wie die Freude. Was aber
versteht Seh. unter letzterer? Ausdrücke wie Begierde und
Genuss wirken da immer verdächtig. Gewiss, der ganz rohe
Sinnengenuss löscht den Durst nicht (wie Salzwasser, sagen
die Inder), nichtsdestoweniger ist er als solcher im Augen-
blick genau so positiv wie der physische Schmerz. Dass
Begierde ein nur peinlicher Zustand sei, ist psychologisch
— 126 —
falsch, weil mit ihm die Hoffnung auf seine Stillung ver-
banden, Hoffnung aber stets ein indirektes Lustgefühl (An-
reiz) ist Ausserdem erinnert uns dies an Aussprüche
Ooethes und Bismarcks, dass sie nicht mehr als im Ganzen
etwa vier Wochen reinen Behagens im Leben genossen, und
die entrüstete Glosse aller tüchtigen Leute dazu, was diese
grossen Herren denn eigentlich vom Leben verlangten! In
dieser Hinsicht hat wenigstens Nietzsche einmal ein wackeres
Wort: „Glück? Ich bin da, um mein Werk zu tun" und
„Der Held ist heiter^^ Der geistige Genuss, als Lektüre
Unzähligen zugänglich und als Selbstschaffen nicht allzu
Wenigen, ist ein so positives Gut, dass er allein das Leben
lohnt, und die Arbeit schlechtweg bringt eine dauernde
Selbstbefriedigung. Begierde? Gibt es keine Begierde nach
idealen Gütern, nach Werken und Taten? Vollends die
Begeisterung, einem Schopenhauer natürlich fremd, und alle
Gefühle reiner Liebe, werktätigen Mitleids, opferbereiter
Bewunderung geben dem ganzen Wesen einen freudigen
Elan, der sogar aufs Physische reagiert: Ein gutes Herz
fördert die Gesundheit! Doch wozu uns in tausend Einzel-
heiten verlieren! Wenn wir laut unserm Schwarzkünstler
aus dem Schmerz immer nur in die Langeweile taumeln —
Mittelzustände erkennt er unmassgeblich nicht an, son-
dern dekretiert, was ihm beliebt — , so müssen wir be-
dauern, dass er so viel an Langeweile litt, und können
ihm und seinen Jüngern nur dringend empfehlen,
zur Langeweile keine Zeit zu haben, weil es immer was zu
arbeiten gibt. In der verlästerten Phrase Dubois-Beymonds,
Faust hätte lieber Gretchen heiraten und die Luftpumpe
erfinden sollen, würde, wenn sie nicht läppisch mit Gelehrten-
anmassung sich an ein Kunstwerk gerichtet, sondern dem
Leben selbst gegolten hätte, viel Wahres gesteckt haben.
Übrigens komme man uns nicht mit der Ausrede, Meister
Arthur habe nur das Leben des Durchschnittsmenschen zur
Grundlage genommen. Dies kennt er ja gar nicht gründlich
nach logischer Anwendung der Subjektivitätsthese, da wir
das Objekt immer nur von uns selber aus beurteilen; auch
betont er ja an anderen Stellen ausdrücklich das Behagen
der Philister. Wie der Mensch, so sein Gott, so seine
~ 126 -
Philosophie: Seh. stöhnt sein eigenes Elend aus. Wie
verzweifelt er übrigens nach Dokumenten seiner Ver-
elendungstheorie herumsuchen muss, zeigt ergötzlich sein
einziges triftiges Beispiel aus der Natur, indem er bis Java
laufen musste, um Schildkröten zu finden, die von wilden
Hunden lebendig gefressen werden — bei dem geringen
Schmerzgefühl der Schildkröte nicht so ungeheuerlich — oder
den Fall eines Eichhörnchens, das einer Schlange hypnotisiert
in den Bachen fiel! Wenn er Kriege und dergleichen,
wobei er deutlichst auf den Erzbösewicht Napoleon hinzielt,
uns schaudernd vorhält, so kann man von ihm, dem Deserteur
von 1813, freilich nicht erwarten, dass er die Wonne des
Kampfes kennt für eine gerechte Sache. Yon uns aber
erwarte er nicht, dass wir seine weichlich spiessbürgerliche
Unmännlichkeit als der Weisheit letzten Schluss verehren.
Bein abstrakt gesprochen, wovon wir vorübergehend
abgekommen sind, weil seine eigene populäre Beweisführung
so wenig der Würde des Gegenstandes entspricht, durch-
dringen Schmerz und Lust sich gegenseitig, sind beide
positiv und negativ. Das Leben, Schauen, Empfinden,
Arbeiten, Kämpfen ist an sich ein Gut; er selbst sieht übrigens
an einer Stelle ein, dass die in mechanischer Handarbeit
frohndenden Millionen durchschnittlich zu gar keiner anderen
Arbeit fähig wären, also ihre Lebenslage genau ihren An-
lagen entspricht. Dass tausend Widerwärtigkeiten dies Gut
vergällen, stimmt Darob ist aber die Erde noch nicht
ein Jammertal und nur, wer in streng materialistischer
Dummheit nur materiellen Genuss bejaht, wird deshalb das
Leben als wertlos verneinen. Wer über das einmalige Dies-
seits hinausschaut, und das will ja Schopenhauer, wird nie-
mals das Leben verneinen, sondern nur den Willen-zum-Ich.
Welche Konfusion Seh. hier angerichtet hat, betonten wir
schon früher.
Wenn er auf die Kunst zu sprechen kommt, befindet
sich Seh. erst in seinem Fahrwasser. Da kann er nach
Herzenslust geistreicher Dialektik fröhnen, Begriffe hin und
her wenden. Wir haben aber in all seinen Äusserungen
über die einzige ihm technisch verständliche Kunst, die
Dichtung, nicht einen einzigen tiefen Gedanken gefunden,
— 127 —
als ob er gleichsam hier die Konkurrenz grösserer Geister
fürchte. Yen der Würde der Dichtung hat er so un-
genügende Ahnung, dass er die Musik darüberstellt, bloss
weil er hier allerlei abstruse Haarspaltereien auftischen kann.
Wobei es dann übrigens wieder an Widersprüchen nicht fehlt.
Wir werden bei Richard Wagner darauf zurückkommen.
Dass er die Dichter für Spender hoher Weisheit erklärt,
ist erfreulich. Leider muss man ihm sagen, dass Byrons Yers
„Sind nicht die Wellen, Berge, Wolken nur ein Teil von mir,
wie ich von ihnen ?^^ sein betreffendes Kapitel klarer be-
leuchtet, als alle seine Deduktionen : So viel höher steht die
unmittelbare intuitive Anschauung. Es ist ja ganz richtig,
dass die „Erkenntnis^^ nämlich im äusserlichen Sinne als
blosse Vorstellung, das Ding-an-sich nicht fasst, weil sie
„stets von aussen zu den Dingen kommt^^ und daher auch
draussen bleibt. Dass wir uns aber mit dem „Willen^' im
Innern der Dinge befänden, ist eine Verwechselung mit dem
Unbewussten, nämlich der höheren Vernunft des Intellekts,
dem „Manas^\ welcher als irdischer Vizekönig des transzen-
dentalen Ego wirkt. Dass Seh. diese Unmittelbarkeit, wie
dem künstlerischen Genius eigen, nicht besass, bezeugt auch
seine Entdeckung, das Gesicht sei der Sinn des Verstandes,
das GtehöT der Sinn der Vernunft, indem er sich roh empi-
risch an Vermittelung von Wort und Sprache hält. Darüber
im Wagnerkapitel das nähere. Einen so groben Selbst-
widerspruch aber hätten wir sogar ihm nicht zugetraut, wie
die Feststellung „Über das metaphysische Bedürfnis^^, dass
Not und Unsicherheit des Lebens allein das Nachdenken,
also die Ausbildung der Vernunft verursachten. (Was aller-
dings nur relativ zutrifft, da auch Glück und Sicherheit ein
Spekulieren über die letzten Dinge nicht ausschlössen.) Nun,
dann hat ja also das WelÜeid einen äusserst bestimmten
Zweck und verdanken wir ihm allein eine Erhöhung des
stumpfen Willens, womit der Pessimismus wiederum nur
als ruppiger Katzenjammer enttäuschter Genusssucht übrig
bleibt, sonst aber jedes Becht verliert Wenn die Vemunft-
erkenntnis Folge der Not und sie fähig wird, den angeblich
allmächtigen Willen zu verneinen, so erfüllt also das Leben
vorzüglich seinen Zweck: nur unsere verstockte Schwäche
— 128 -
will diesen Zweck nicht erkennen. Da es sich obendrein
nicht um Verneinung des Lebens handelt, was eine Un-
möglichkeit wäre, da niemand aus dem Sein fallen und durch
Nirwana trotzdem in höheres Sein eingehen kann, sondern um
Verneinung des Ichs, so steht jedem jederzeit frei, das Leben
richtig zu leben und in dessen Zweck das eigene Glück zu
finden. Natürlich verwechsle man diesen theoretischen
Optimismus nicht mit der rohempirischen Selbsttäuschung
des satten Philisters, denn das himmelschreiende Elend so
Vieler auf Erden stopft derlei niedrigem Eudämonismus das
Maul. Der Denker aber hat die Dinge im Grossen anzusehen,
nicht um das einzelne „Eichhörnchen^^ sich zu kümmern,
auch nicht um Millionen Erschlagener, sondern um die
„Idee^^ der Schlachtfelder: die Lehre vom Earma bringt
die Gerechtigkeit der Leiden sofort ins rechte Geleise. Auch
gibt es eine „Wonne des Leids^^ Vor allem aber sollte man
mit Maeterlink fragen, ob nicht neun Zehntel alles Menschen-
leides nur durch der Menschen eigene Torheit verschuldet.
Nun, Übel möglichst zu beseitigen, dazu gibt nur
theoretischer Optimismus den Anstoss, nie feiger Quietismus,
der die Hände in den Schoss legt und der, mag er auch bei
den Brahmanen stagniert haben, von Buddha geradeso ver-
fehmt wurde, wie die im Selbstpeinigen selbstsüchtige Askese.
Wahr genug meint Seh., dass die alten Inder, dem Urquell
des organischen Lebens näherstehend, grössere Energie der
Erkenntniskräfte und richtigere Stimmung des Geistes hatten,
um zur unmittelbaren Auffassung des Naturwesens zu ge-
langen; ja, er nennt die Upanischaden „übermenschliche
Konzeptionen^^ was er noch für Höheres (Geheimlehre usw.)
hätte aussagen dürfen, wenn ers gekannt hätte. Dann wird
er gestatten, dass wir uns nicht an seine Verzerrung uralter
Weisheit, sondern an das erhabene Urbild halten. Hier aber
gibt es keine Verwechselung von Verstand (Gehimleben;
mit dem höheren Vernunftintellekt, kein Primat des orga-
nischen Lebens, das er „Willen^^ tauft, sondern einheit-
lichen Lebensakt des Earma, überwacht vom unsterblichem
Freiheitslicht des Ding- an- sich, von welchem unser deter-
ministisch gebannter Wille nur ein trüber, störender
Schatten.
— 129 —
Willen und Intellekt (Verstand) sind beide nur in sich
verschmolzene Sekundärerscheinungen der einen grossen Ur-
sache, der zugleich immanenten und transzendenten Welt-
yemunft, die uns freilich ,,das Unbewusste^^ bleibt, uns
aber bewusst leitet, wie denn Seh. mit seltsamem Ge-
dankensprung sich sogar der Möglichkeit einer persönlichen
Yorbestimmung yermittels einer scheinbaren Vorsehung nicht
entzog. Das Wie ist allerdings „Pratschna Paramita", jen-
seits aller Erkenntnis, worunter aber nur begriffliche Er-
kenntnis verstanden werden muss, während unmittelbare
Intuition („Schauung^') es entschleiert.
Dass Schopenhauer so klare Einsichten und vortreffliche
Gesinnungen zeigt, sobald er sich von allem Metaphysischen
zur blossen Ethik zurückwendet, und eigentlich nur auf
diesem Gebiete Unwiderlegbares äussert, das ihm doch ver-
möge seiner eigenen ethischen Beschaffenheit am fremdesten
sein sollte, gehört zum Merkwürdigsten dieser merkwürdigen
Erscheinung. So hat er auch richtig die unerträgliche Auf-
pfropfung des Judentums, das er hasst und verachtet, auf
das Urchristentum und hierdurch die Verfälschung des
sogenannten Christentums herausgefühlt; ebenso den
modernen platten Protestantismus als einen noch ärgeren
Abfall vom buddhistischen Urchristentum, das die katholische
Kirche doch in manchen Dogmen wenigstens unter mythisch-
mystischem Gewände bewahrt und in Keuschheit, Armut,
Gehorsam der ecclesia militans ausdrücken wollte. Das sind
freilich lauter billige Einsichten. Dagegen fällt unangenehm auf,
dass Schopenhauer, der doch mehrfach seinen Groll gegen
das, was man Christentum nennt, ausdrückt, am Schluss sich
damit brüstet, seine Lehre stimme mit der christlichen „so-
wie der brahmanischen^^ überein. Also letztere nennt er
verstohlen hintennach, indess er doch seine ganze Anregung
aus ihr schöpfte. Nun unterscheidet sich aber schon die
archristliche Ethik, soweit wir sie unter der kirchen-
christlichen noch erkennen können, von der brahmanischen
völlig in den Motiven. Denn sie geht, wie das Judentum
vom Gehorsam gegen mosaische Gesetze eines Jehova, wenig-
stens von der Liebe zu einem himmlischen Vater aus: „auf
dass ihr werdet Kinder eures himmlischen Vaters.^' Dies
Bleilitren, Die Vertreter des Jahrhunderts. 9
— 130 —
mag ein genialer Eompromiss des Buddha Jesus sein, um
den denkfaulen Occidentalen das „Oöttliche^' anschaulicher
zu machen, worauf denn auch der Unverstand alsbald
reagierte und sich neue Oötzen schuf, und wenn Jesu
Aussprüche, sobald sie sich nicht auf praktisch popularisierte
Ethik beziehen, eine streng theosophisch-okkulte Metaphysik
atmen, so unterscheidet sich auch diese gewaltig von Schopen-
hauer, der zwar die Symbolik der Erbsünde und der
Ereuzigung-Entsühnung richtig erfasst — natürlich im vollen
Gegensatz zur rohempirischen wörtlichen Auslegung der
Kirche — , aber das Mysterium der Trinität gradezu spass-
haft paraphrasiert „Gottvater'^ soll nach ihm der „Wille^'
sein, während Jesu Wort ,4ch gehe zum Vater*' natürlich
auf den transzendentalen „Urgrund^' der Dinge zielt Hier
begegnet man übrigens auf einmal folgender erstaunlicher
Enthüllung: dass „Bejahung und Verneinung entgegengesetzte
Akte des selben Willens sind, dessen Fähigkeit zu Beiden
die alleinige wahre Freiheit ist** Da hört doch Alles auf!
Zwei dicke Bände lang hat er uns den Willen schlechtweg
als Wille-zum-Leben und stets bejahend vorgesetzt, und jetzt
ganz am Ende (II, 724) ist auf einmal die Verneinung des
Willens-zum-Leben ein „freier^* Akt dieses nämlichen blinden
tollen Willens!! Und dies, nachdem er ununterbrochen sehr
richtig jede Freiheit innerhalb der Erscheinungswelt bestritt!
Denn solche grandiose Freiheit der Selbsterlösung wäre doch
schon nicht mehr transzendental, sondern hierorts im irdischen
Leben wirkend! Dass die „Umkehr** nur durch Erkenntnis
herbeigeführt, hiermit also der Intellekt als Meister des
Willens klar wird, hat er mit diesem urplötzlichen Schluss-
einfall vertuschen wollen. Doch wird das Wunder auch
hiermit nicht klarer. Denn nur Karma und transzendentales
Ego machen die „Umkehr" und „Verneinung** begreiflich,
die sonst ausser aller Kausalität läge, sich aber in Wahrheit
gleichfalls deterministisch durch Vorbestimmung vollzieht,
durch die transzendente Evolution innerer Eausalbedingung.
Und was hören wir da plötzlich (II, 699): „In der
Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den
Schoss der Natur zurückfällt oder aber dieser nicht mehr
angehört"?! Sehr wahr, so sagt die Geheimlehre, aber wie
— 131 —
kommt Saal unter die Propheten, wo kommt ganz jählings
und unvermittelt diese Behauptung her, von der bisher
keine Spur seiner Deduktionen etwas meldete? Ohne sich
zu irgendwelcher Begründung herbeizulassen, phantasiert er
dazu in krassem Aberglauben, dass deshalb Beichte, Kom-
munion, letzte Ölung so nötig sei, damit man die Sterbe-
stunde benutze. Hätte er die Geheimnisse des Astralen
geahnt, so würde er wohl nicht so kindisch gewähnt haben,
die Selbstbestimmung des Sterbenden und Toten sei an solch
erbärmliche Zufälle geknüpft!
Hier und da findet er hochbedeutende Sätze wie:
„Könnte der Mensch jemals nicht sein, so wäre er schon
jetzt nicht^^ mit den dazu gehörigen Begründungen (II, 559).
So das geniale Gleichnis auf Seite 388 über die Endursachen,
wie denn überhaupt die Kapitel 23—27 des U. Bandes wohl
sein Bestes geben. Dagegen operiert er mit so ungeklärten
Begriffen, dass er den Buddhismus gelegentlich atheistisch
nennt, was er ebenso wenig ist wie pantheistisch, wenn
man nicht beides in unreifster Weise aufiasst. Dann wären
Meister Eckhardt oder Angelus Silesius eben auch atheistisch
und der heilige Franz von Assisi ein Fantheist Auch
die „Heimsuchung des Brahma^^ in Buddhas Parabeln,
übrigens Schopenhauer natürlich unbekannt, darf man nicht
„atheistisch^' verstehen, da nach Buddha der letzte Urgrund,
das Unendliche, sich allem Endlichen, daher nicht nur dem
begrifflichen Wort, sondern auch dem begrifflichen Denken
entzieht Wie kommt es endlich, dass Seh. die grosse
Frage nicht anschneidet, warum Buddha die körperliche
wehleidige Askese verwirft und auch einsiedlerische Kon-
templation ihm erst als Lohn eines werktätigen langen
Lebens der Selbstaufopferung erscheint? Wie kommt es,
dass seine Ethik, für die er nichts eigenes, sondern nur
Beispiele und Zitate anzuführen vermag, so kalt und abstrakt
wirkt und wohl keinen seiner Leser wirklich erwärmte?
Darauf möge als Bezeichnung seines innersten Defekts
der erhabene Adept (Initiierte) Paulus antworten: „Wüsste
ich alle Geheimnisse und hätte allen Glauben und hätte
der Liebe nicht, so wäre ich nichts.^^
^-^^
9»
Die EMchen des Perfiden Albioo: Dickens nnd Tiiackeray.
Während im lyriscbromantisch yerseuchten Deutschland,
wo noch auf lange hinaus die Romantische Schule und all
ihre Ausläufer in ästhetischen Salons schwarmgeisterten,
Schopenhauer unbemerkt und in der Stille den Menschheits-
yertreter spielte, bildeten sich im dramatischpraktisch be-
wegten England Charaktere im Geräusch der Welt Nach
der strotzenden Renaissancegenialität, die in England erst
mit Cromwell wie in Deutschland mit Wallenstein endete,
verfielen beide Germanenländer dem ungesunden französischen
Einfluss akademischer Klassizität Etwas später als in Deutsch-
land, da Burns und Macphersoos „Ossian^^ nur yereinzelte
and unklare Auflehnungen der Naturpoesie bedeuteten,
zerbrach das literarische England dies geistige Joch. Die
Revolutionszeit und der Kampf gegen Napoleon um die
Weltherrschaft entfesselten die verborgenen genialen Kräfte
des eigenartigen Inselvolkes aufs neue. Während in der
verflossenen langen Epoche von Dryden bis Campbell be-
zeichnenderweise Iren und Hochschotten den Ton angaben,
Pope, Swift, Sheridan den keltischen Formsinn und keltische
Gesellschaftssatire ausbildeten, trat jetzt das Germanische
wieder in den Vordergrund, das zuletzt im theologischen
Pathos Miltons einen ungaren und akademisch verkünstelten
Ausdruck gefunden hatte. Britannien gewann den Ruhm,
in einem Lord, dessen Blut aus normannischen, sächsischen,
keltischen Bestandteilen zusammenfloss, den grossartigsten
Dolmetsch des gesamten prometheischen Zeitgeistes zu
spenden, und neben Byron erhob der angelsächsische
Baronet Shelley die Stimme des abstrakt transzententalen
— 133 —
germanischen Idealismus und zugleich des besonderen angel*
sächsischen Sadikalismus. Der Sachse Wordsworth^ ein
Mann aus dem Volke, schwelgte in altgermanischen Gemüts-
tiefen, der Niederschotte Scott stöberte aus geschichtlichen
Buinen ein breites skalden massiges Behagen ruhig schlichter
Erzählungskünste auf. Aber nach Byrons Tode, dessen
poesieumflosseno Erscheinung auf das gesamte Leben
Britanniens abfärbte und eine gesteigerte Neigung zu
poetischer Lebensauffassung in der nur äusserlich reali-
stischen und demokratischen, innerb'ch idealistischen und
aristokratischen, englischen Gesellschaft verbreitete, ging der
Jaggemaut wagen des Industriasmus und der Nivellierungs-
demokratie auch über diese zweite grosse Geistesperiode
Englands zermalmend hinweg. In Shakesspeares Vaterland
verschwand das Drama völlig, selbst die vielbejammerte
Unzuchtkomödie der Stuartzeit stand dem Literarischen
ungleich näher, als die elende Theaterfabrikation der heutigen
englischen Bühne. Der Vers ermattete zu den elegischen
Tändeleien Tennysons und verröchelte in den gequälten
Erampfzuckungen des Browning'schen allegorischen Tiefsinns
und den farbenprunkenden Ästhetenmätzchen der Swinburne,
Morris, Rossetti. In den Wissenschaften versuchten Herbert
Spencer und J. St Mill, allerlei fremde Anregungen für
englische Philosophie auszugeben, unfähig zur denkerischen
Fülle eines Bacon, ja selbst zur brutalen Schärfe der
Sensualisten Locke, Hobbes, Hume, begnügte man sich mit
den exakten Dokumenten naturwissenschaftlicher Studien.
Das grössenwahnsinnige Jahrhundert wusste sich etwas da-
mit, einen Darwin und Huxley hervorzubringen, als ob derlei
emsige Forscher je die freischaffende Geistesarbeit ersetzen
könnten und als ob Newton und Laplace nicht unendlich
Grösseres im Gebiet der Naturwissenschaften geleistet
hätten. Eine Reihe mittel massiger oder leidlich tüchtiger
Historiker, die gar keinen Vergleich mit deutschen und
französischen aushalten, fand ihren Mittelpunkt im welt-
berühmten Macaulay, der oberflächlich mit whiggistischem
Parteilaternchen die vaterländische Geschichte beleuchtete
und seine leichtflüssige Seichtigkeit hinter gefälliger, oft
pomphafter und meist chauvinistischer, Vortragsweise
- 134 —
versteckte. Unter all solcher Dilettantenwirtscbaft oder
beschränkter Spezialistenarbeit erschienen Sozialreformer wie
Owen, wie Cobden, obschon auch hier nur die National-
ökonomie Adam Smiths aus einem geistreicheren Jahrhundert
den Grund legte, und vor allem der Dampfgebieter James
Watt als tüchtigere Kerle, bei denen man doch Wo und
Wie in positiven, wenn auch äusserlich materiellen, Ergeb-
nissen sah. Parlamentsrhetorik und Staatsmannschaft ver-
loren längst den grossen Zug der alten Heroenzeit Yen
beiden Pitt, Fox, Sheridan, Burke kam man auf Canning,
Peal, Palmerston herunter, um noch die Besten zu nennen.
Diese Augenblicksfiguranten von denen keiner auch nur
den Wuchs eines Gavour erreicht, genossen ein flüchtiges
historisches Ansehen, das ihnen gar nicht zukam, Hessen
sich einfach von den Ereignissen innerer und äusserer
politischer Phänomene treiben, mit allerlei liberalen oder
chauvinistischen Phrasen kokettierend. Die immer zunehmende
Demokratie allein bestimmte die Massenentwicklung, und
in ihren Dienst stellte sich auch das wenige selbständige
Talent, das nach zeitgemässem Ausdruck suchte, wofern es
nicht im passendsten Ventil des Massenaufstandes der Yiel-
zuvielen leeren Dampf verpaffte: der Presse, diesem Industrie-
geschäft des Aufkläricht Denn wer sich dafür zu vornehm
dünkte und wirklich etwas zu sagen hatte, der verfiel alle-
mal auf das nämliche Auskunftsmittel: er schrieb moderne
soziale Bomane. Das Überwuchern dieser Bastardgattung
des alten Epos, mit zahlreichen neuen Vorzügen und un-
ausrottbaren Mängeln, hat auch die schöne Literatur
demokratisiert, sie dem Verständnis des grossen Haufens
verknüpft. Seit man anfing, Bomanschriftsteller schlechtweg
„Dichter^' zu nennen, sank das Durchschnittsniveau der
Belletristik von Stufe zu Stufe. Freilich, der Erste, dessen
moderne Gesellschaftsromane einen Weltruf eroberten, Lyiton
Bulwer, stammte noch aus der Byronepoche, die er als
Jüngling mit durchlebte, und ein Abglanz davon blieb bis
zu seinem späten Tode (in Paris während der Kommune)
auf seinen Werken haften. Seine umfassende Bildung suchte
Scotts Historien mit tieferen Forschungen nach geschichtlichen
Beziehungen zu vereinen, in welcher Hinsicht sein „Letzter
— 135 —
der Tribunen^^ und ^tzter der Barone^^ achtunggebietender
als sein anmutiges künstlerisches Meisterwerk „Die letzten
Tage von Pompeji." Später verirrte sein von Anfang an
aufdringliches Hervorkehren des Philosophischen sich sogar
in spiritistisch- okkulte Gebiete. Seinen Weltruf gewann er
jedoch nur durch seine grossen Qesellschaftsromane, zu
deren Abfassung ihn seine eigene Zugehörigkeit zur vor-
nehmen Welt befähigte. Nicht nur das Volk, sondern auch
der Mittelstand fallen in diesen Schilderungen fast völlig
ans, das wohlhabende Bürgertum wird nur selten in einigen
Typen mit geringschätziger Herablassung ironisert, die
Aristokratie bei aller Schärfe der Analyse eher verherrlicht
Des Autors eigene Sympathie weilt bei Pelham und
Maltravers, selbst unangenehmen oder beschränkten Edel-
mannsgestalten dichtet er noch allerlei vornehme Züge an,
die in der Wirklichkeit selten hervortreten. Sogar seine
Gelehrten (Caxton oder der Erfinder im ,,Letzten der
Barone'') und Dichter müssen von alter „Familie" und Her-
kunft sein!
Als Kunstwerke wie als wahrheitsechte Spiegelungen der
Gesellschaft stehen diese reichbelebten und spannenden Er-
zählungen nicht höher, als etwa die Romane der Gräfin
Hahn-Hahn oder die Tagebücher des Fürsten Pückler-Muskau.
Ebenso geistreich, ebenso manieriert und affektiert, wie die
Salonromantik der Hahn-Hahn, aber auch ebenso voll
poetischem Duft und hochfliegender Gesinnung, erhebt sich
Bulwers Lebenswerk über den Highliferoman, der bis zur
Mitte des Jahrhunderts die europäische Leserwelt beherrschte
und der nicht nur bei Eugene Sue, sondern auch noch bei
Balzac solchen magern Ausschnitt kleiner Kreise als „Leben''
und „Welt' vorspiegelt, nur durch eine gewisse Würde der
Gesinnung und den ungewöhnlich hohen Bildungsstand des
Autors. Dass Werk und Autor sich fast immer decken,
zeigte sich auch hier. YoU aristokratischem Tic trotz aller
humanliberalen Geistesfreiheit, hochmütig, eitel, gallig und,
wie es scheint, unnahbar selbstsüchtig als Privatmann, be-
tätigte Bulwer andrerseits seine Idealität durch achtbare
politische Haltung und generöse öffentliche und geheime
Wohltätigkeit Dieser Nobleman war wirklich nobel, bot
— 136 —
gemeinsam mit Lamartine das letzte emstzunehmende Bei-
spiel des literarischen Aristokraten mit parfümiert exklusiver
Haltung, einem fossilen Überrest jener verflossenen Zeitalter,
wo das Noblesseoblige der Geistesbildung fast ausschliesslich
in Händen des Adels lag.
Aber nun brach die Demokratie übermächtig in die
Literatur herein und formte sie nach ihrem Bilde. Was
Byron, was Shelley! Revolutionäre mochten sie gewesen
sein, aber der Aristokrat wird doppelt verhasst, wenn er als
Oeistesaristokrat auftritt Ein unsühnbares Yerbrechen, wenn
der angebliche Demokrat doch so vornehm abseits steht von
der Pöbeldemokratie der Yielzuvielen. Schon dass sie Prosa
verschmähten und Verse schrieben, stösst ab. Die gebundene
Rede ist ,die Sprache der Götter'? Wir wollen keine Gtötter,
und ihr sollt keine andern Götter haben neben mir, heult
die Weltüberschwemmung der Demokratiebanausen. Weg
also mit ,Kain', ,Don Juan', Entfesseltem Prometheus', wer
kann solch altmodisches Zeug verdauen! Menschen soll man
uns schildern, wie sie sind, nämlich so mittelmässig und
klein wie wir selber, das praktische Leben in seiner Breite,
nicht von Lords und Gentlemen, sondern besonders von
Kreisen des Bürgertums. Es gibt nur eine nützliche und
demokratische Literaturgattung : den bürgerlichsozialen
Roman.
Diese, das Jahrhundert bis zum Ende durchflutende
Stimmung, die zuletzt als Fin-de-Si5cle in der muffigen Arme-
leutpoesie ihre Vollendung fand und die Alltäglichkeit oder
Ausnahmehässlichkeit ihrer „Nachtasyle" als den einzig echten
Realismus begrüsste, als ob das „Leben" aus lauter Alkoven-
zänkereien und nicht auch aus heroischen Schlachtfeldern
bestände, brachte es bald so weit, langweilige, schlecht
erzählte, eintönige Romane, wie Flauberts „Madame Bovary*'
und Eliots „Adam Bede" als künstlerische Heilstaten zu
feiern. Das Seelenleben der Kleinen und Geringen, der
unbedeutenden und Schwachen, sollte alleinigen Stoff für
„dokumentierte" Analyse bieten. In Deutschland zwar
hielten sich der gedankenüberfrachtete Gutzkow und der leb-
haft-elegante Spielhagen noch an die vornehmen Stände, die
sie revolutionär befehdeten, ohne ihre eigene intime
— 137 —
Sehnsucht nach solch bevorzugter Lebensstellung verdecken
zu können. Aber da kamen Auerbachs Dorfgeschichten und
Freytag suchte das „Volk" bei der Arbeit auf, führte das
Soll und Haben des Bürgertums in die Literatur ein. Das
gab ein Aufsehen, als ob eine verlorene Handschrift wahren
Menschentums neu entdeckt sei. Auf der Höhe solcher
Herrlichkeit hielten sich freilich die Tonangeber nicht lange,
denen offenbar vor ihrer eigenen realistischen Oottähnlichkeit
bange ward. Auerbach fing wieder an, spinozistisch zu
philosophieren, in Freytag, der ohnehin in seinen Mach-
werken „Graf Woldemar" und „Valentine" in die verpönte
unechte Highlife -Atmosphäre zurückfiel, erwachte wieder
ausschliesslich der Historiker. Flaubert schuf eine Gattung
historischer Zauberballette („Salambo" und ähnliches), die er
für Realistik ausgab, und George Eliot wagte einen rich-
tigen historischen Roman alter Schule („Romola"). Doch
derlei Abirrungen von der geraden Linie, wozu auch die
späteren Professorenhistorien von Dahn und Ebers gehörten,
änderten nichts am Sieg des bürgerlichen modernen Romans
auf der ganzen Linie. Allerdings sanken die Franzosen
immer wieder in ihr altes Laster des erotischen Salon- und
Eünstlerromans zurück. Selbst Daudet, der unter ungeheurem
Eklat als Nachahmer von Dickens debütierte, bewegte sich
in seinen späteren besten („Nabob", ,,Sappho") und schlech-
testen („Les Rois en Exil", „L'Immortel") Romanen wieder
im alten Geleise. Maupassant, Anatole France („Le Lys
^uge")i Bourget harfen wieder auf der sogenannten Beau
Monde herum und so könnte man noch manches Ähnliche
in der deutschen und englischen Moderne anführen. Doch
das ändert nichts daran, dass der populäre Massengeschmack
dauernd das Alltäglichkeitsphotographieren des bürgerlichen
Milieu bevorzugt, wie noch jüngst der schier unglaubliche
Erfolg einer künstlerisch so schluderigen Bauernerzählung
wie „Jörn ühl" klarlegte. Den Grossmeister dieser ganzen
demokratischen Nivellierungsliteratur hat aber England ge-
boren, in seinem Zeichen wird gesiegt, ihn verehrten Frey-
tag wie viele andere als Vorbild und bezeichnenderweise
ward gegen „Jörn ühl" der (übrigens ganz hinfällige) Vor-
wurf erhoben, es sei darin „David Copperfield" kopiert.
— 138 —
Hosianna! Welch ein Triumpf! Ein Londoner aas der
Hefe des Volkes, dessen Kindheit alle Not des Lebens er-
fuhr, entrollte angeblich zum ersten Mal ein wahres Bild
des Lebens. Das war ein gefundenes Fressen, Wasser auf
die Mühle der Demokratie. Noch ein Jüngling, ward
Dickens auf den Schild einer Weltberühmtheit gehoben, die
noch heute fortdauert Wir bedauern, dieser Dickensraserei
nicht beipflichten zu können. Seinen Anspruch auf dauernde
Geltung lehnen wir aufs schroffste ab, halten seine Werke
für heute ungeniessbar jedem geläuterten Geschmack. Wenn
Bret Harte in seinem Lied „Dickens im Goldlager^^ und
seiner Parodie „Condensed Novels^^ (nach berühmten Mustern)
die Eigenart seines Idols damit kennzeichnet, dass die Ge-
stalten mal in ein unauslöschliches Gelächter ausbrechen,
mal einen unversieglichen Tränenstrom vergiessen, so besagt
dies nur, dass alles bei Dickens manieriert, auf die Spitze
getrieben, masslos verzerrt, also so lebensunwirklich wie
möglich. Es gibt ein Lachen und ein Weinen, über das
man sich hinterher ärgert, wenn durch clownhafte oder
melodramatische Kniffe uns abgelistet Die verrückte Lustig-
keit der Pickwickier und ihrer weiteren Nachfolger erinnert
sehr nahe an Yankeeaufschneiderei des Spassmachers Mark
Twaine, dieser Humor gefällt sich allzusehr in practical
jokes, bei so handgreiflich naiver Ulkerei bleibt natürlich
auch handfeste Handgreiflichkeit nicht ferne, diese sittliche
Weltordnung prügelt meist ihre Übeltäter windelweich. Auf
die Tränendrüsen drückt er ja auch gefährlich, aber meist
so unzart, dass man die Koulissenreisserei dabei spürt Mit
der angeblich so nervigen Charakterschilderung ists nicht
weit her. Die edeln Frauen und Mädchen dieser höchst
moralischen und anständigen Erzählungen für die reifere
Jugend, welche ja manchmal bis zum Alter dauert, sind so
konventionell wie in jeder Pappschachtelfabrik der häus-
lichen Familienjournale.
Die Bösewichte tragen schon im Äussern und der Bede-
weise, unterstrichen durch Bandbemerkungen des entrüsteten
Autors dazwischen, eine Tafel um den Hals: Vor Taschen-
dieben wird gewarnt Die so unbändig beliebten humo-
ristischen Nebenfiguren sehen überhaupt nicht wie Menschen
- 139 —
ans, sondern wie verkörperte Whims. Diese Oalerie von
Eoriositäten konnte im Aasland nur deshalb als echt be-
wandert werden, weil dort der drollige Walin herrscht,
jeder Brite sei ein Original und diese Humorfexe seien
eben echtbritische Typen. Kann man sich etwas Ge-
klLnstelteres denken als den heitern Burschen im „Ghuzzle-
witt^\ dessen strotzende Fröhlichkeit sich nur dort wohl-
fühlt, wo Bösartigkeit und Unglück ihn seine Lebenslust
und Bravheit erproben lassen können! Selbst Dickens ein-
drucksvollste Figuren, wie ebendort den Pecksniff, hat er
nicht nach dem Leben gezeichnet: so augenfällig kündigt
ein Heuchler sich nicht an. Das erinnert an die üblichen
Darsteller von Richard lU., die fortwährend so scheussliche
Grimassen schneiden und wie die Raben krächzen, dass der
Zuschauer sämtliche Mitspieler, die sich von einem solchen
Molch düpieren lassen, für unheilbar Blödsinnige halten
muss. Im Leben geht das alles viel feiner zu und die
mannigfachen Formen biderber Heuchelei werden dennoch
gar leicht ausgefunden. Natürlich bestreiten wir nicht, das&
sich bei Dickens Stellen von zwerchfellerschütternder Eomik
and auch erschütternder Tragik finden — man denke z. B.
an Tom's all-alone in „Bleakhouse" — , aber immer wieder
stört dabei die theatralische Effekthascherei, um Eunst-
gesetze ruhig objektiver Erzählung schert sich unser auto-
didaktischer Naturmensch, der gleichsam in Hemdsärmeln
burschikos seine Bilder hinhaut, natürlich den Teufel, un-
aufhörlich redet er dazwischen, lässt auch seine lyrische Ader
in allerlei seltsamen Ausrufen los. So subjektiv, wie er als
Mensch sich gab, behandelt er auch als Erzähler Dinge und
Menschen. Er kennt nie sorgfältig gerechte Analyse der
Charaktere, seine Force bleibt immer die Karrikatur, immer
steuert er auf Effekt, Tendenz, Sensation los. Seine Reisen
nach Amerika brachten seinem Scharfblick nichts ein, als
die groteske Übertreibung der Satire am Schlussteil des
„Chuzzlewitt*', die so recht patzig englischem Vorurteil
schmeichelte. Dabei verschmähte er nicht die uralte Esels-
brücke des unwahrscheinlichsten Romanhaften, um Spannung
für gewöhnliches Lesefutter zurechtzuschneiden. Wenn
Bulwer sein anspruchsvollstes Buch „Alice oder Die
— 140 —
Oeheimnisse^^ betitelte, so mag aach der moderasoziale
VolksmanD Dickens solch schaudervolle Geheimnisse nicht
entbehren und ebensowenig den beliebten gesegneten Yer-
lobungsschluss. Sie kriegen sich und der vielleidende Held
nebst obligater Heldin geht in auskömmliche Verhältnisse
über. Unvermutete Erbschaften, günstige Heiraten, plötz-
liches Entdecken nobler Abkunft und Verwandtschaft, nichts
mangelt am üblichen Requisit der Familienliteratur, auch
die hochmoralische Respectability ist tadellos. Ohne jeden
Kunstwort für heutigen Stand ästhetischen Genusses, der
von Zola und den Russen künstlerisch abgerundete Kom-
position, einheitliche Kraft des Stils, Echtheit und Fülle
wahrer Lebensschilderung als notwendige Erfordernisse
schätzen lernte, hatten Dickens weltberühmte Erzählungen
nur dort eine literarische Bedeutung, wo er als der erste
das Londoner Strassenleben und die untersten Schichten ins
grelle Licht stellte. Was die Götter gnädig bedecken mit
Nacht und Grauen, wovor man mit zugehaltener Nase und
Tasche vorübereilt, das führte er unbarmherzig dem Mit-
gefühl vor, Grauen und Mitleid mit Gewalt erpressend.
Dieser demokratische Zug, dem er seinen Welterfolg
verdankte, gab seiner karrikierenden Satire auch eine ein-
drucksvollere fortreissende Verve, wo sie sich gegen öffent-
liche Missbräuche richtete. Selbst hier aber schwelgte er in
barocker Masslosigkeit, sein „Circumlocution-Office" (Rund-
herumgeschwätz-Ministerium) zeigt deutlich, dass er über-
haupt nur in sinnbildlichen Karrikaturen reden konnte.
Alle Dinge stellten sich ihm in verdrehter Hervorkehrusg
einer einzigen bestimmten Seite dar, nichts sah er von ver-
schiedenen Seiten, die souveräne Laune und Launenhaftig-
keit seiner Urteile entsprang seiner dreisten und verwöhnten
Erfolghascherei, dem gehätschelten Selbstgefühl seiner im
Grunde weder tiefen noch hohen Natur. Ohne jede Bildung,
seicht und oberflächlich in allem, was nicht die Aussenseite
des modernen Tageslebens betraf, liess er auch als Mensch
jede Würde und Festigkeit vermissen. Geckenhaft eitel und
phantastisch in der eigenen Lebensführung, brach seine
naive Selbstsucht in unglücklichen Familienzerwürfnissen
hervor. Forsters panegyrische Biographie gibt uns nur das
— 141 —
unerfrealiche Bild eines ewig aufgeregten, nie za innerer
Sammlung geneigten, sonderbaren Schwärmers, bei dem es
manchmal gradeso zu rappeln schien wie bei den erfundenen
und unmöglichen ,Originalen^ seiner Muse. Dass er aus
Geldschneiderei und Eitelkeit sich zuletzt ganz in öffent-
lichen Vorlesungen (Lectures) verzehrte und mit Vorliebe in
vornehmen Liebhabertheatern spielte, befremdet uns wahr-
lich nicht bei so augenfälligem Hang zur Schauspielerei.
Übrigens erwarb nicht das oben gekennzeichnete wirklich
Verdienstvolle seines literarischen Auftretens ihm solch un-
geheure Popularität Denn nicht seine lebendigsten und
gestaltenreichsten Romane „Chuzzlewitt^^ und vor allem
„Bleakhouse^\ wo neben allerlei jovialen Fratzen sogar aus-
nahmsweise ein paar leidlich unkarikierte Personen vor-
kommen und ein gewisser poetischer Hauch schwebt, ge-
messen solche Beliebtheit, sondern die andern rührsamen
Familiengeschichten, besonders der falsche Ichroman (ach,
Mister Charles Dickens glich sehr wenig dem bescheidenen
schlichten David!) „Copperfield". Aber da fällt uns noch
etwas auf, das als allgemeines literarisches Symptom sehr
zu denken gibt: dieser so durchaus moderne, schon seinem
Bildungsgange nach nur für Gegen wartsschilderung aus-
ersehene Autor legt seine einzige reife Kunstgabe auf dem
Altar der Geschichte nieder, seine kurze scharfabgerundete
Novelle „Zwei Städte", eine der besten, die je geschrieben
sind. Er, der aus dem modernen Leben nur Zerrbilder zum
Tendenzgebrauch herausschnitt, hier stellt er in historischem
Gewände echte Menschen mit Meisterhand vor uns hin. Mit
so festem Auge beurteilt er ferngerückte historische Ver-
hältnisse, dass er sogar nationalen Gegensatz von Paris und
London massvoll und fein zum Ausdruck bringt. Nie gelang
ihm Ähnliches wie die Abendszene vor Ermordung des
Marquis, wie der schlichte Opfertod des englischen Lieder-
jahn. Hier gibt es keine Pose mehr, keine Effekthascherei,
sondern hochpoetische ergreifende Wahrheit. Also erst in
der Geschichte lernte er sie finden, nur ihr heiliger Odem
machte ihn zum Dichter. Dass die Vorgänge ungewöhnliche
und romantisch gefärbte sind, kann hier nicht mehr stören^
da die X7n Wahrscheinlichkeit wegfällt und der grosse Stoff
— 142 —
«ach zu einer nicht alltäglichen Handlung stimmt Wir
staunen. Sollten wir Dickens doch unterschätzt haben?
Oder vielmehr, passte er weit besser zur Behandlung solcher
reinpoetischen Stoffe, grosser fester Verhältnisse, als zum
Irrlichtelieren im schwankenden Sumpf der Gegenwart?
Hat das« was ihm den Weltruhm brachte, den Poeten in
ihm erstickt? Ist der ganze Begriff des bürgerlichen Romans
vielleicht nur eine allgemeine Entgleisung des ästhetischen
Empfindens? Ist, was die Yielzuvielen wünschen und ver-
langen, nicht eine Entweihung der Poesie? Die sogenannte
Wahrheit im Abspiegeln der Alltäglichkeit suchen und nicht
finden, und für dies Nichtfinden die Schönheit opfern, den
grossen Freskostil für ein glattes und outriertes Genre-
bildchen — ist dies vielleicht das gerechte Schicksal der
ganzen demokratischen Bealistik?
Nein, nicht immer. Denn neben dem fahrigen Dickens
stieg eine feste Persönlichkeit empor, die allein unter allen
das Geheimnis besass, das moderne Leben so leidenschafts-
los klar anzuschauen, dass die Zeittracht seiner Figuren ihm
nur nebensächliche Verhüllung des ewig gleichen Menschen-
lebens war. Er allein hat die Gesellschaft seines Zeitalters
vollständig und bis ins Einzelne genau abkonterfeit, aber in
einer ewigkeitlichen Weise, dass dieselben Menschen dieser
Gesellschaft uns ebenso echt vorkommen würden, wenn sie
vor tausend Jahren in anderer Milieutracht und etwas ver-
schiedener Redeweise vor uns hinträten. Denn sie sind
eben Menschen, tragen in sich das unveränderliche Menschen-
tum mit allem Bösen, Lächerlichen, Schwachköpfigen und
manchmal Edeln und Schönen. Nur das Grosse schliesst
Thackeray aus, da solche Ausnahmeerscheinung ihn als
kühlen Darsteller des Durchschnitts nicht kümmern kann.
Um diese Zeit suchte Balzac die „Menschliche Eomödie^^
und die verschiedenen Funktionen des Gesellschaftskörpers
mit wissenschaftlich analytischer Methode in ihre Bestand-
teile zu zerlegen. Solche Grossmannssucht lag dem grossen
Engländer fem, auch bedurfte er solcher Zerlegung nicht,
da er die Gesellschaft mit einem einzigen Blicke klar um-
spannte. Er wollte einfach wiedergeben, was er geschaut
und gehört, zu hochtrabendem literarischen Ehrgeiz schwang
— 143 —
er sich um so weniger auf, als er sozusagen rein zufällig
in die Literatur hineingeriet Als unabhängiger Gentleman
geboren, verlebte er die Jugend eines wohlhabenden Eng-
länders von guter Familie, war in Cambridge wie in Mayfair
zu Hause, schlenderte durch Europa, pilgerte auch nach
Weimar und dilettierte so nebenher in Malerei. Die Ge-
schichte des jungen Glive Newcome ist die seine, auch das
jähe Ende von dessen behaglichen Jugendträumen. Er ver-
lor plötzlich sein ganzes Vermögen, unter gleichzeitigen
schrecklichen Familienvorgängen — seine, wie es scheint
auf Mesalliance beruhende Ehe endete mit dem Irrsinn
seiner schlechten Frau — erbleichte sein Haar schloh-
weiss, nur als Zeichner des „Punch^' konnte er sein Leben
fristen, wobei seine angegriffenen Augen schon früh eine
Brille verlangten.
Während Bulwer in aristokratischer Künstlerschaft ein
hohes Alter erreichte und Dickens, schon als Jüngling
berühmt und wohlhabend geworden, seinen frühen Tod
nur seiner aufgeregten Selbstverzehrung verdankte, erlag
auch Thackeray als Fünfziger einem plötzlichen Anfall von
Apoplexie, aber sicher infolge des durchgemachten Leids
und Elends, das seine Eraftgestalt frühzeitig untergrub.
Erst als reifer Mann in die Arena getreten, nahm er seinen
Ruhm nur als Verpflichtung zu fortgesetzter ernster Arbeit
hin. Seine Meistervorträge über „Die vier George" und
„Die Englischen Humoristen", standard-works der Essay-
gattung, offenbarten, welch tiefgründige Bildung der an-
scheinende kühle Weltbummler in der Stille aufgespeichert
Als er am „Punch" gelegentlich des Broterwerbs halber
Humoresken losliess, die Titmarsh-Papers und Snob-Papers,
erfand er das in alle Sprachen übergegangene Wort ,Snob\
auf den ersten Blick stigmatisierte er eine ganze Menschen-
klasse. Man machte ihn aufmerksam, da es mit seiner
Zeichnerei doch nicht weit her sei, ob ers nicht mal mit
dem Schreiben versuchen wolle. Warum denn nicht! Und
da schrieb er so gelegentlich einen Roman, der bei vierzig
Verlegern herumlief, bis sich endlich ein Verlag erbarmte.
Es war „Vanity Fair", damit wars entschieden, er war
weltberühmt Denn nie gab ein Erstling derart nicht etwa nur
— 144 —
die Tatze des Löwen, sondern einen ganzen reifen Löwen.
Verwundert sab der gleichgültige Weltmann sich um, was
er denn so Ausserordentliches begangen habe. Aber warum
denn night, plaudern wir weiter! Und so plauderte er denn
noch zwei unsterbliche Werke hin. Ausserdem schuf er
zwei historische Romane („Esmond", „Die Virginier'^), welche
seine Bewunderer für die besten dieser Gattung halten.
Diese Meinung teilen wir nicht Sie sind zu genrehaft
Obschon episodenhaft sogar Marlborough und Washington
darin auftauchen, fehlt durchaus der grosse Stil, den die
Würde historischer Gegenstände nun mal verlangt. Hier
klafft eben der grundlegende Unterschied des Historischen
und Modernen. Wer historische Erzählungen nur entwirft,
um Menschen in verschiedenen Kostümen zu zeigen, ohne
wahre innere Anknüpfung an historische Grösse, vollendet
eine kulturhistorische, keine dichterische Aufgabe, und ver-
geudet seine Mühe. Wenn man nur Alkovenaffaren und
gemütliches Stillleben pinseln will, wozu dann fremdartige
Eöcke anziehen! Da liegt das Kostüm der Gegenwart uns
nicht nur näher, sondern erfordert sogar mehr eigenständige
Kraft Aus solchem dunkeln Instinkt heraus ward der
historische Roman heutzutage anrüchig, obschon dabei auch
höchst banausische Beweggründe der Unbildung mitspielen,
zumal das heut literaturbeherrschende Judentum sich aus
guten Gründen nicht für die arische Weltgeschichte be-
geistert, mit welcher es so gar keine inneren Berührungs-
punkte hat Wahre historische Dichtung darf sich mit dem
Gtenrehaften nicht aufhalten, heischt grosse Freskolinien.
In Thackerays Historien gewinnt man den Eindruck: auch
hier herrscht unbedingte Wahrheit, denn so mögen damals
die Menschen, auch nur Menschen wie wir mit etwas anderen
Sitten und Redeformen, sich in ihrem Milieu bewegt und
nahe weltgeschichtliche Vorgänge so genrehaft aufgefasst
haben. Aber wir verschmähen diese Wahrheit, weil sie nur
halb und einseitig. Wir überschauen heut die tieferen
historischen Bezüge und Entwicklungsideen einer welt-
geschichtlichen Phase genauer und besser, als die damals
Mitlebenden, und von solcher weiten Rotunde und höheren
Warte aus wollen wir Geschichte behandelt sehen, die uns
— 145 —
ja ohnehin schon wie eine Dichtung grossen Stils an und
ftir sich vor Augen steht, deren stofflichen Reiz der Poet
nur noch reicher und lebendiger ausgestalten soll. Mit
tieferer Logik, als man ahnt, will man den Haupt- und
Staatsaktionen seelisch nähergerückt werden, nicht aber nur
den sogenannten historischen Treppenwitz in sozialen Winkeln
belauschen. Thackerays prächtige Familiengeschichten in
historischer Färbung besitzen daher nur den Wert, erneut
seine unfehlbare Treffsicherheit für das Menschliche schlecht-
weg zu beweisen. In jeder Epoche gab es jedoch „happy
few", welche recht wohl den höheren Stand der Dinge und
die Idee ihrer Zeit begriffen. Solche fehlen naturgemäss bei
Thackeray, der sich, wie schon gesagt, nur an den Durch-
schnitt der Vielen hält. Das gibt ja gerade „Vanity Fair''
einen so wunderbaren Reiz, dass hier das weltbestimmende
Jahr 1815 den Hintergrund bildet und das Schicksal
der Personen bestimmt, ohne dass diese durchweg mittel-
mässigen Menschen auch nur die leiseste Ahnung von der
Bedeutung des um sie Vorgehenden haben. Die Schlacht
von Waterloo selbst rollt sich episodisch ab — übrigens
zeigt sich die völlige Kritiklosigkeit landläufiger Kritik darin,
dass man diese paar episodischen Sätze noch gar bewundert
hat, als ob nicht jede sonstige Seite des Buches wichtiger
und bewundernswerter wäre — , aber nicht um den Sturz
des Weltkaisers handelt es sich dabei, sondern um den
Sturz der Londoner Konsols an der Londoner Börse. Hier
hat Thackeray mit echter Genialität einen Stoff gepackt, der
gleichsam sein ganzes literarisches System, sofern bei so naiver
Ursprünglichkeit das Wort System anwendbar, unmittelbar
blosslegt. Geschichte, Ideale? Pose, Phrase, Bagatelle!
Wir habens nur mit dem Menschen zu tun, der sich ewig
gleich bleibt, und dieser Ritter von der traurigen Gestalt
ists doch am Ende, der als Masse Geschichte macht. Wirk-
lich ? Das ist dein Irrtum, grosser Thackeray ! Die „hundert
Tage^^ sind keine Jahrmarktmesse der Eitelkeiten und Nichtig-
keiten („Vanity Fair'), die grossen Schlachtfelder der Mensch-
heit spielen sich anders ab, als eine Prügelei von Maklern
auf der Stock Exchange. Zwar könnte eine solche Beleuchtung
ihren besonderen Reiz haben. Wie genial hätte uns Thackeray
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 10
— 146 —
den biederen Rothschild in Ostende zeigen könnea. der mit
hlscber Nachricht ron Napoleons Sieg nngeheore Baisse in
London erzeugt, heimlich aber aof die erste Kunde des
Sieges, die er mit besonders vorbereiteten Mittein rechtzeitig
erlangt and mit welchen er blitzschnell nach London zurück-
eilt, im höchsten Umfang auf Hausse spekuliert! Der FaU
des Grössten und eine Drehung der Weltgeschichte nur ein
Mittel, um den Grundstein der Bothschildschen Weltherrschaft
zu legen! Solche Betrachtungsweise wäre schon nicht mehr
genrehaft gewesen, sie würde einem neuen Styl Ton Welt-
geschichtsironie entsprechen, zwar keinem heroischen, aber
Swiftartig dämonisch-satirischen Styl, auch dieser aber wäre
einseitig und Tor allem unkünstlerisch in Thackerays Sinne
gewesen. Das Heroische wie das Satirische: beides nur Aus-
nah meerböhungen des Menschlichen Die verzweifelt objek-
tive Menschendarstellung verschmäht alle Ausnahmezustände,
und wenn sowohl das Heroische als das Satyrische, einzeln
genommen, nur einseitig wirken, so wird man leider All-
gemeingültigkeit den Thackerayschen genrehaften Durch-
schnittsmenschen nicht absprechen können. Dennoch, so
unvergleichlich die Festigkeit und Sicherheit, mit welcher
Thackeray seine Rebekka, seine Grawleys, Osbornes und
Sedleys vor uns ihren eiteln Mückentanz praktizieren lässt,
so fein sogar die kulturhistorische Echtheit dieser Typen
damaliger englischer Gesellschaft, müssen wir den späteren
reinmodernen, auch dem Umfang nach grösseren Romanen
„Pendennis" und „Die Newcomes^^ den Vorzug geben. Denn
die oben skizzierte Einförmigkeit Thackerayscher Anschauung
stört hier nicht mehr; fern bleibt uns jede Berührung
geschichtiieher Gegenstände und auch etwaige Berührung der
Zeitgeschichte vermissen wir hier nicht am Bilde des Lebens.
Denn wo wäre etwas wirklich Geschichtliches, Ideales, Grosses
in der englischen Gesellschaft jener Tage zu Hause gewesen!
Das Gesollschaftsgemälde Thackerays aus dem Zeitalter
der Erinoline erscheint uns daher völlig lückenlos, als ein
Wunder von Lebensechtheit, weit alles Ähnliche des späteren
Realismus überragend. Gewiss, an Grösse der Konzeption
kann sich Thackeray nicht mit Zola, an düsterer Tiefe nicht
mit den Russen messen. Aber Zolas Symbolistik wie die
— 147 —
teils mystische (Dostojewsky^ToIstoy), teils nihilistisch-ironisch-
sentimentale (Turgenieff) Vortragsweise der Rassen verliert
«n Lebensecbtheit, was sie an dichterischer Kunst gewinnt.
Zola selbst erkannte sich als anbewasster Romantiker. Ob-
schon die Realisten das Seelenleben des Volkes in den
Vordergrund rücken, behandeln sie fast durchweg Ausnahme-
Eustände, oft Ausnahmemenschen. Nicht zufällig dreht
sich Dostojewskys tiefste Psychologie um die Moritat eines
ziemlioh romantisch gefärbten Abnormen, nicht zufällig
schmückt — von Zolas aufdringlichen Allegorien ganz zu
schweigen — Turgenieff seine beiden Hauptnovellen mit
den faustdicken Titelwinken „Dunst*\ „Väter und Söhne^^ In
dem allen steckt Absicht, Künstelei, subjektives Hineinlesen
und Zurechtlegen des Lebens. Vielleicht eine ästhetisch
lichtigere Auffassung vom Wesen der Kunst, sicher aber
keine „realistische^^ Hingabe an das Leben selber. Wie
anders Thackeray! Selbst der halbwegs symbolistische Titel
seines Erstlings scheint ihm vom Verleger abgerungen.
Fortan kennt er so etwas nicht, wie etwas Unkeusches,
Selbstgefälliges, das seiner spröden Wahrheitsliebe wider-
strebt Wozu durch hochtrabende Titel ins Leben hinein-
lügen ! Er erzählt einfach wahre Oeschicbten, „The Uistory
of Arthur Pendennnis*', ,,The History of the Newcomes",
„The History of Henry Esmond". Scherz, Satire, Ironie und
tiefere Bedeutung, um mit Orabbe zu reden, liegen da
zwischen den Zeilen und auch die mit Recht so beliebte
Moral, denn auch Thackeray ist als Stockengländer im Grunde
ein puritanischer Moralist. Denn bei aller kalten Ruhe und
allem warmen Wohlwollen seiner spöttisch-geringschätzigen
und wehmütig- mitleidigen Weltbetrachtung bat er doch die
strenge Moralität und Korrektheit des englischen Gentleman
und er kann sich nicht enthalten, zu fragen : „have you got
morals?^' Mit furchtloser Unerbittlichkeit entlarvt er die
vier George, unmoralische Ausschreitungen begabter Kollegen
der Vergangenheit empfindet er peinlich. Ein Stück Philister
klebt ihm an und in ,Vanity Fair^ fällt er plötzlich aus
der Rolle des objektiven Erzählers, um das Dandytum
das Jahres 1814 und seines Lion of the Season grimmig
anzufauchen. Dass dieser Lion kein geringerer als — Lord
— 148 —
Byron war, kam ihm nicht in Betracht Er, der sogar über-
trieben herzlich Popes kränkliche Galligkeit in Schutz nimmt,
den er seltsamerweise zu den „English Humorists^^ zählt,
und Popes Yersgeklapper anerkennend zitiert, hat nirgendwo
ein verständnisvolles Wort für den grossen Sänger des
Weltleids. Wo ihm mal das Wort ,,byronisch" oder der-
gleichen entschlüpft, geschieht es mit unverhohlenem Spott.
Ist das Beschränktheit oder Verstocktheit? Klang ihm
Byrons Pathos wirklich wie Phrase und Byrons Ironie wie
zuchtlose Ausschweifung? Verstand er weder Childe Harold
noch Don Juan? Man steht vor einem Bätsei, das man
wohl oder übel damit lösen muss, dass Thackeray auch
geistig eine Kurzsichtigkeitsbrille trug, wo es über das
Mittelmass des Lebens emporzuschauen galt. Aber dies
Mittelmass überblickte er mit Argusaugen, das Panorama aller
mittleren Zustände und Menschlichkeiten lag vor ihm aus-
gebreitet wie vor keinem anderen. Daneben macht sich
jede andere „Lebenswahrheit'', wie Simili neben echtem
Brillant Von seinen Nachfolgern neuerer Zeit sprachen wir
schon, doch wie ihn vollends mit seinen Vorgängern ver-
gleichen! Was war das für eine Wahrheit in Richardson,
Smollett, sogar Fielding, dem sich Thackeray unstreitig ver-
wandt fühlte! Die Welt als Wirtshaus oder Unzuchtstube,
die Menschen von rein animalischen Trieben gelenkt!
Fieldings ganze Lebensweisheit gipfelte in der Behauptung,
dass korrekte Tugend in Eigennutz und Heuchelei wurzele,
dass naivnatürliche Sinnenkraft fast immer ein gutes Herz
verbürge. Jeder Menschenkenner lächelt über diesen psycho-
logischen Irrtum, den Fielding, der joviale Liedrian, aus
seinem eigenen guten Herzen schöpfte. Derlei vorgefasste
Selbsttäuschungen kennt Thackeray nicht Der eine Crawley
ist ein bigotter korrekter Narr, nicht ohne unbewusste
Heuchelei und voll uneingestandenem Eigennutz, aber darum
doch ein leidlich guter Mensch. Der andere Crawley ist
ein Wüstling und Spieler, der nahe am Falschspielen steht,
und bei aller Gutmütigkeit doch so ziemlich ehrlos, bis es
an seine eigentliche Hausehre geht Dieser Rawdon Crawley
allein würde Thackeray als Menschenschöpfer unsterblich
machen. Cynismus und Freigeisterei Zeichen einer freien
— 149 —
nobeln Oesinnung? je, darauf mögen der alte Sir Pitt
und die klassische Miss Crawley Antwort geben.
Ein dummer Junge, an den ein besseres Mädchen ihr Herz
hängt, ist nichts neues. Auch Dickens hat uns im ,,Gopper-
field'^ mit solch einem talentvoll arbeitsunfähigen Jüngling
aufgewartet Sehr effektvoll, doch nur eine Gliederpuppe
vom Schlag der „byronisch^' angehauchten problematischen
Naturen. Da sehe man den jungen Osbome und den jungen
Pendennis, diese köstlich naiven Egoisten, eine Null in feiner
Uniform und ein geckenhaftes Muttersöhnchen mit ein
bischen wohlfeilem Talent! Diese „Helden^^ des Romans
sind allerdings keine Romanhelden, aber Menschen sind sie
in jedem Zoll, Vertreter des homo sapiens, wie sie seit
Adam millionenmal wiederkehren. Gewiss macht Thackeray
seinen Heroinen allzu auflällige Liebeserklärungen. Er
fordert uns auf, die insipide Amalia Sedley, die bornierte
ladylike Helene, die noble Laura, die vomehmkühle Esther
Newcome, die würdevolle Lady Esmond als Heiligenbilder
zu verehren. Aber das fällt uns garnicht ein, da dieser seltsame
Liebhaber seine holden Frauen erbarmungslos in all ihren
Schwächen aufdeckt und jeden Schleier lüftet Doch er will uns
zärtliche Nachsicht lehren, da die Frauen trotz alledem das Herz
mehr auf dem rechten Flecke haben als die Männer. Makellose
Engel? Bah, wir sind zufrieden mit liebenden Frauen. Ein
Fleckchen Staub klebt auf jedem Fittich, aber selbstlose Liebe
ist ein Fittich, der über alles hinaufträgt Das ist das einzig
Schöne im Leben. Freilich ein seltenes Gut, und der un-
vergleichliche Major Pendennis plaudert nur das Geheimnis
von Jedermann mit seinen weltlichen Patriarchensprüchen
aus. Bei Wüstlingen ein gutes Herz suchen? Lasst euch
nicht auslachen und haltet euch an Sir Clavering! Höhere
Bildung erhebt über konventionellen Kleinkram? Ich stelle
euch Lady Kew vor. Hoher Adel verpflichtet und besitzt
eine angeborene vornehme Denkungsart? Darf ich Sie mit
Sr. grossbritannischen Herrlichkeit dem Marquis of Steyne
bekanntmachen? Ach so, nun schüttet ihr wieder das Eind
mit dem Bade aus. Jeder Pumpbruder ist naturgemäss ein
Schmutzian und ein verwahrloster Lump wie Kapitän
Costigan? Keineswegs, Kapitän Streng ist im Grunde eine
— 150 —
ehrliche Haut und der famose Zuchthäusler „Golonel'^ Alta-
mond ein gutmütiger Kerl. Alle ehrbaren steifleinenen
nfichtemen Gesellen sind verkappte Taugenichtse wie das
hochedle Haupt der Newcomes? Oott bewahre! Da seht euch
den linkischen langweiligen Major Dobbin an, der wie ein
gutes Schaf an der Leine eines albernen Frauenzimmers
herumtrottet, hat er nicht ein vornehmes mannhaftes Herz?
Aber nun sind natürlich gleich alle Aristokraten Schufte und
alle anziehenden jungen Lebemänner charakterlose Ver-
führer? Nein doch! Da habt ihr den jungen Lord Kew und
den prächtigen närrischen französischen Duc, seinen Freund,
dem man immer mit Lacbthränen um den Hals fallen möchte,
sind das nicht wahre Spiegel der Ehre? Also die Frauen
sind Engel mit Rosaflügeln, das ist ausgemacht . . was ihr
doch sagt! Da ihr an meiner lieben Rebekka noch nicht
genug habt, so führe ich euch ins Kämmerlein und Herzens-
kämmerlein so liebreizender Wesen wie der Schauspielerin
Fotheringhay und der hochidealen Miss Amory, da mögt ihr
eure Freude haben. Die Männer aber sind mehr oder minder
jeder Herzensgüte bar und zu sittlichem Ernste unfähig?
Im Ganzen sehr richtig, doch möchtet ihr euch mal Oberst
Newcome ansehen und George Warrington? Die sind auch
echt menschlich, diesen Schlingel Warrington sollte ich wohl
am besten kennen, denn — das bleibt unter uns — eigent-
lich heisst er William Makepeace Thackeraj, als besagter
William an der Schwelle des Mannesalters stand, ein
ruinierter Mann, aber ein unerschütterlicher Gentleman, in
dessen gesundem Herzen keine Verbitterung den Strahl der
Güte ersticken konnte.
Die hysterische Charlotte Bronte nannte ihn in Vorrede
zu „Jane Eyre^^ den Propheten, der den Ahabs ins Gewissen
redet Aber wider besagte Ahabs empfand er nur Ironie
und nicht Prophetenzorn. Dem ,Marmorzeitalter', welche
witzige Bezeichnung fürs highlift wohl von Byron selber
herstammt, ging Th. mit einem grausamen Wohlwollen zu
Leibe, das seine Lieblinge bei lebendigem Leibe schindet
Um Gotteswillen, verteidigen Sie mich nicht! zittert man
vor seiner boshaften Lobsucht, die mit der Sicherheit eines
Menagerieführers gezähmte Bestien zur Schau hält Gleich-
— 151 —
wohl braucht man nur eine bittere Karrikatur wie Warrens
,fTen Thoasand-a year^^ zu vergleichen, um den Unterschied
solcher Verzerrung von Thackerays Lebensechtheit zu be-
greifen. Er beklagt sieh einmal, nur Fielding habe Menschen
in ihrer ganzen Nacktheit zeichnen dürfen. Doch das Ohne-
hosentum hätte grade ihm schlecht zu Oesicht gestanden, der
auch in vielsagendem Verschweigen Meister war. Die per-
sönliche Note klingt bei ihm häufig genug durch alle ob-
jektive Ruhe hindurch, sein bestes Gedicht — denn auch
realistische Verse flössen ihm zwanglos aus der Feder —
handelt von einer Fischsuppe, die er „long long ago^^ in
Frankreich ass. ,Jhr sollt fragen: nicht wie ist dies ge-
schrieben, sondern war der Autor ein Schwindler oder ver-
suchte er Wahrheit zu reden/^ Diese Anfangszeilen des
Pendennis bieten ein Motto seines Schaffens.
Machen wir Schluss: dieser Lcbensschilderer hat alles
erfasst, nichts entging ihm, sein Lexikon des Menschentums
ist ebenso vielseitig wie vollständig. Wäre nicht Shakespeare,
der einer höheren Ordnung der Dinge angehört, der englische
Romancier stände einzig da. Ihn heisst es herabsetzen,
wenn man ihn einen ,Humori8ten^ nennt oder seine unüber-
treffliche ,Satire^ preist Satire ist boshaft, masslos, subjektiv
wie Swift, Humor im gewöhnlichen Sinne ein Übersprudeln
lustiger Laune mit dem Motto: Du sollst und musst lachen.
Doch Thackerays feiner Humor bringt nur zu feinem Lächeln,
seiDe tötliche Satire wirkt nicht wie ein giftiger Ausfall,
sondern wie ein gelassener Richterspruch, und beides ist
hier nicht um seiner selbstwillen da, sondern stellt sich
unabsichtlich als aus der Situation herauswachsend ein.
Wenn das Leben oft so komisch ist, wenn es ungewollte
Satiren formt, wie kann der getreue Protokollführer der
Lebensprozesse dem Vermerken solcher Vorgänge aus dem
Wege gehen? Er notiert nur, er glossiert nicht Wenn die
Welt grausam und die Wahrheit unerbittlich ist so nennt
nicht ihn selber so, der mit unzerstörbarem Wohlwollen jede
gute Regung aufstöbert aus dem verstecktesten Winkel! Der
kleine Krösus Harry Foker („Pendennis") ist gewiss ein
lächerlich ordinäres Geschöpf, aber irgendwo steckt in seinem
bescheidenen vertrauenden Gemüt ein Funken von Würde,
— 152 —
und siehe da, sein Schöpfer holts heraus, und dieser
Schöpfer verschwindet so völlig unter der unglaublichen
Echtheit seiner Gestalten, dass sogar sein eigenes morali-
sierendes Hineinreden, das ihm manchmal beliebt, den Ein-
druck nicht zerstört Diese Stimme des Autors klingt nur
wie ein Chorus der Dinge selber und seine vor uns
handelnden und redenden Menschen nehmen mit
optischer Täuschung eine solche fühlbare Blutwärme und
intime Nähe an, dass wir keinen Eoman zu lesen, sondern
mit lebenden Wesen zu verkehren glauben. Über allerlei
Eunstgesetze und wohlgefügte compositionelle Anordnung
gähnt der grosse Menschenbeschwörer weg. Will er denn
überhaupt Kunstwerke machen? Nein, er schüttet nur gelassen
die unerschöpfliche Fülle seiner Beobachtung plaudernd vor
uns aus. Wenn man jedem Menschen so bis in die Nieren
guckt, die ganze Anatomie der Seelenwindungen auswendig
weiss, stellt sich die Plastik der Wiedergabe von selber ein.
Die Typen der Gesellschaft sind Wachs in seiner Hand
und eine Verzeichnung kann bei ihm nicht vorkommen. Das
sogenannte Volk freilich lässt er weg, ein getreuer Photograph
kann nur wiedergeben, was er persönlich unter seiner Platte
hatte, nämlich Bourgeoisie und High Life. Das Poetische
im üblichen Sinne schaltet er aus, Dickens lyrische Auftakte
und Bulwers pathetische Romantik würden in diesem
nüchtern weltlichen Aktenprotokoll menschlicher Dokumente
sich weibisch und geziert ausnehmen. Aber nach den
outrirten Pecksniffs des Kollegen Dickens und den „byro-
nischen'' Weltschmerzposeuren Bulwers tuen wir hier einen
so tiefen Trunk aus dem Quell der Wahrheit, dass nach so
lauterem stahlhaltigen Sauerbrunnen all der Absynt oder
süssliche Alkohol der sonstigen Romanliteratur uns förmlich
physisch widersteht, einen unüberwindlichen Ekel verursacht
Wir machten noch jüngst die Probe, als uns nach massen-
haftem Hinunterwürgen heutiger englischer und französischer
Epik, darunter künstlerisch sehr verdienstliche Sachen, zu-
fällig mal wieder unser alter Pendennis in die Hände fiel.
Wie matt, farblos, oberflächlich erschien da auf einmal all
die gequälte Phychologie der Neuen, die in Bourgets anmass-
lichen Vorreden sich mit „wissenschaftlicher'' Drapierung
— 153 —
umgibt, neben der Frische, blühenden Farbe, reichen Fülle
and naiven Selbstverständlichkeit solches echten Lebens-
gemäldes, schlicht und absichtslos nach der Natur ge-
zeichnet!
Freilich, Thackeray hätte verdutzt den Kopf geschüttelt,
hätte man ihn mit der heutigen Entweihung des Ehren-
namens für jeden Romanschreiber „Dichter^^ genannt.
Dramatische Krisen und Katastrophen, worin das Dichterische
gemeinhin seine Stärke sucht, mied er geflissentlich. Es
gibt nichts Ergreifenderes als Niedergang und Tod des
braven Oberst Newcome, denn da das Leben ja ab und zu
wirkliche Tragik zulässt, so muss sein vereideter Dolmetsch
es eben nachschreiben. Doch Durchschnittsleben ist sonst
weder tragisch noch heroisch, eher genrehaft idyllisch und
spassig, man muss es nur nicht tragisch nehmen, sondern
mit überlegener Männlichkeit tragen und überwinden. So
wie Thackeray selber. Diese hohe aufrechte Mannesgestalt
im Oreisenhaar, schalkhafte Freundlichkeit und wohlwollendes
Lächeln auf dem breiten JohnbuU-Gesicht, stieg makellos
ehrenhaft ins frühe Grab, von Anfang bis Ende ein Gentle-
man nach der englischen Erläuterung des Wortes: „manly
in his gentleness and gentle in his manliness.'^ Wäre un-
bestechliche Wahrheitsliebe und die ohne Beispiel dastehende
Gabe der wahren Menschendarstellung das allein hiezu
Erforderliche, so würden wir Thackeray zu den Grossen, zu
den auserlesenen Menschheitsvertretorn zählen. Doch um
sich voll aus dem Dunstkreis des Trivialen zu erheben, darf
man nicht so viel Pfund Plumpudding an den Sohlen
kleben haben. Man hat ihn auch wohl mit Hogarth ver-
glichen. Aber vielleicht hätte seiner spöttischen Klarheit
etwas von der wüsten galligen Bitterkeit der Hogarth'schen
Zeichnungen gutgetan, die ja nichts als gezeichnete Romane
bedeuten und hier an umfassender Anschauung weit alle
Erzählungen des 18. Jahrhunderts übertreffen. Allzu deut-
lich sehen wir den Dining-Dress mit Frack und weisser
Halsbinde in der korrekt steifen Haltung dieses grossen
Oesellschaftsmalers des 19. Jahrhunderts. Er wollte ein
Weltmann sein, kein Weltbürger. Mitten in der Welt stand
er, nicht darüber, wie die göttliche Freiheit des Genius.
— 154 —
Sein dicker Joe Sedley ist so echt wie FalstafiT, doch wo
umweht ihn der Ewigkeitsbauch, der Falstaff und Sancho
Pansa mit unsterblichem Leben erfüllt? Es ist nicht Thackerays
Schuld, denn ebensogut wird man fragen dürfen : was wiegt
Dostojewskys ganze subtile Mörderpsychologie im „Baskol-
nikow^^ neben der einen Mordnacht und dem Gewissens-
nachtwandeln der Lady Macbeth? Es ist der Fluch einer
kleinen Zeit, auf grossstilisierte Kunst gradeso verzichten
zu müssen wie auf grosse Heldennaturen. Ein Vertreter
seines Jahrhunderts zu sein, musste diesem öffentlichen
Ausrufer des ,Eitelkeitsmarktes^ genügen. Denn wo der
Menschheit grosse Gegenstände im Kurszettel, im Zollstab
der Geometer und MontaniDgenieure, in Hörsälen exakter
Spezialwissenschafter, im chemischen Laboiatorium und bei
physikalischen Experimenten allein gesucht und schmunzelnd
gefunden werden, da wächst kein Shakespeare, sondern nur
ein Thackeray, kein Byron, sondern nur ein Lamartine,
kein Gromwell, sondern nur ein Garibaldi, kein Kant,
sondern nur ein Schopenhauer und so weiter mit Grazie. Wen
wir statt eines Napoleon bekamen, werden wir sehen, und
statt eines Giordano Bruno erhielten wir nur Carlyle.
— $@I5^
Der Jesaias des Magenkatanlis: Garlyle (Emeisoii, Bnskinjl
Man pflegt zu äussern, dass Autoren die Selbstkritik
mangele und sie deshalb den unterschiedlichen Wert ihrer
Werke nie richtig abschätzen. Als bekanntestes Beispiel
zitiert man Byron, der bei der Bückkehr von seiner ersten
Weltreise den „Fluch der Minerva" mit Stolz vorwies, da-
gegen „Childe Harold^' nur mit Widerstreben herausgab.
Selbst hier stimmt das Exempel nicht ganz. Zuvörderst
handelt es sich nicht um den heute vorliegenden „Childe
Earold", dessen zweite Hälfte alle Schwächen der ersten
wieder gut macht, sondern eben nur um diese erste Hälfte.
Auch hier aber nicht um die heut vorliegende Form, sondern
um ein loses Bündel von Stanzen, worunter viel „rubbish^^^
der nachher im Druck ausgemerzt wurde, und ohne die
besten Stanzen, die erst beim Druck hinzukamen. Im „Fluch
der Minerva" aber befand sich ein Hauptpassus, der später,
ohne weiteres in den „Eorsaron" übernommen, mit Recht
allgemeine Bewunderung erregte und weit alles überstrahlt,
was in der ersten Hälfte des „Childe Harold" an Land-
schafterei und Glanz der Sprache erreicht. Werden wir also
Byrons Abschätzung gar so unglaublich und unkritisch
finden? Wenn er „Kain" und „Don Juan" für seine grössten
Werke hielt, urteilte er gewiss wahrer, als seine Zeitgenossen.
Nun wohl, gern möchten wir wissen, für welche seiner
Leistungen eine so selbstbewusste Persönlichkeit wie Carlyla
sich am höchsten schätzte.
Wägen wir Carlyles ungeheueren Buhm und seine fast
unangefochtene Oberherrschaft im englischen Geistesleben,,
so forschen wir vergeblich nach dem Grund, so lange wir
— 156 —
nur von höherer Warte der Allgemeinheit schauen. Hat der
Mann eine neue Wahrheit für die Zukunft entdeckt? Nein.
Hat er aus Dingen und Personen der Vergangenheit etwas
Neues und abschliessend Wahres herausgeholt? Nein. Sein
Verdienst wurzelt ausschliesslich in der Gegenwart, in dem
heilsamen Einfluss, den seine originelle Bärbeissigkeit auf
eine glatte gezierte schlaffe Gesellschaft übte.
An die grössten Dinge wagte sein übergrosses Selbst-
gefühl sich heran, an Gegenstände, die sogar der Sprach-
gebrauch mit solchem Prädikat behaftet: an Friedrich den
Grossen und die Grosse Bevolution. Doch da zeigte sich nur,
wie klein seine grossartigen Gebärden. Preussen verlieh
ihm den Pour-le-Merite für seine angebliche Verherrlichung
des grossen Hohenzollern und es lag immerhin ein gewisses
Verdienst darin, dem bornierten und Ignoranten englischen
Dünkel, der nichts als England und Englands Helden kennt,
Preussen und seinen grossen Gründer menschlich näher zu
bringen. Ehrlich gesprochen, verrät aber seine vielbändige
Historie, der übrigens ein fachlicher Forschungswert
ganz abgeht und die nur dur&h anschaulich drastische
Darstellung wirken will, eine mangelhaft einseitige Erkenntnis
dieser Gestalt, die unter der äusseren Schale des encyklo-
pädistischen Skeptizismus mehr Heroisches birgt als Crom-
wells leid volle Düsternis. Das Wesen der beiden grossen
germanischen Helden scheint dem britischen Heldenverehrer
nicht in gleichem Grade aufgegangen, so einseitig germanisch
er fühlt und denkt und daher einem Napoleon nicht gerecht
werden kann. Das Merkzeichen wahrhaft genialen Schauens
besteht darin, eben nie an der Schale hängen zu bleiben
und sofort in den Kern zu dringen. Daran fehlts Garlyle
nur zu sehr. Friedrichs äussere französische Afterkultur,
eine blosse konventionelle Schminke, verwischt für das be-
gnadete Auge des wirklich Schauenden nicht eine einzige
Linie und Falte des strengen ernsten Germanengesichts, des
im tiefsten Sinne frommen Norddeutschen. Sein angeblich
atheistischer Materialismus, übrigens erst ganz zuletzt aus
Voltaires idealem Deismus zu La Mettries roher Mechanik
bekehrt und auch dies vielleicht nur vorübergehend, will
rein historisch aufgefasst sein. Der Philosoph auf dem
— 157 —
Throne fühlte sich ganz und gar als Bevolutionär, als Mit-
hebel der gewaltigen Revolution des Menschengeistes. Ob
er wie einer seiner Minister mit Kants Philosophie in Be-
rührung trat, blieb ungewiss. Möglich, dass ihm, dem nur
nach französischer Klarheit Schmachtenden, die deutsche
Darstellungsform Kants noch zu metaphysisch erschien und
er sich geflissentlich an der klaren Schärfe seiner franzö-
sischen Freunde genügen liess. Jedenfalls hielt er es für
seine Pflicht, nach Heldenart bis zu den äussersten Vorposten
des Befreiungskampfes gegen den bevormundenden kirch-
lichen und feudalen Wahn vorzueilen.
Je radikaler, desto tapferer! meinte er. Nur nichts
mehr von Metaphysik, die so lange zur Knechtung des
Menschengeistes führte! Je respektloser, desto besser! Er
vergass nur, dass nicht bei den Vorposten die Entscheidungs-
schlacht geschlagen wird und dass die schweren Batterien
und Oewalthaufen anfangs immer im Bückhalt bleiben. So
trieb er sich irrig bei den Scharmützeln der Helvetius und
Holbach herum, sich vor der Front des Bevolutionsheeres
zu zeigen, ^uch diese naive Leidenschaftlichkeit hat etwas
ehrenhaft Rührendes, wenn man ihre Triebfeder versteht
Doch wer weiss, was der erhabene Held, dessen tiefe Ver-
bitterung „müde war, über Sklaven zu herrschen", in seiner
Todesstunde dachte, als er den Heldenseufzer ausstiess:
„Der Berg ist überstiegen !" Ob er da nicht an den „grossen
Allierten" über den Sternen dachte, den er seinem schlichten
Zieten pietätvoll zugestand!
Bei Carlyle vermissen wir durchaus diese grosse Auf-
fassung. Sein Calvinismus und Oermanenstolz kommen
nicht darüber weg, dass der tiefinnerlich selbstlose und still-
begeisterte Menschenfreund ein halber Atheist und ein halber
Franzose sein wollte. Für ihn wird Cromwell einfach der
Held der Helden, weil er Christ und vor allem Calvinist
war. Nun, wir mögen Cromwell bewundern, lieben, be-
klagen, heiligen Schauer vor seinem düsteren Seelenringen
empfinden, aber Ehrfurcht vor fester ethischer Grösse flösst
uns nur der eiserne und doch so unendlich wohlwollende
weit- und selbstüberwindende skeptische Pessimist auf dem
Throne ein, der furcht- und hoffnungslos bis zum letzten
— 158 —
Atemzuge seinem Oott sich opferte: der Pflicht Yon
solcher Ehrfurcht spüren wir bei Carlyle nichts, im Gegen-
teil fallen bei ihm an anderen Stellen — ausserhalb seiner
„History of Frederic the Great" — gelegentlich absprechende
und widerwillige Äusserungen über den Heros, den er an-
geblich verherrlicht haben soll. Man wundert sich darüber
um so weniger, als er auch über Voltaire lauter unhistoiisch
gedachten Wust zusammenschmierte, nicht mal dessen
unvergleichliches Fropagandatalent würdigte , geschweige
denn das Heldische und Edle in diesem grossherzigen Gallier
begriff, teils aus mangelnder Kenntnis des wirklichen Voltaire,
was einem historischen Forscher sehr übel ansteht, teils aus
gehässiger, absichtlicher Verbohrtheit in sein dogmatisches
Galvinertum.
Und dieser Mann wollte die französische Revolution
begreifen! Möglich, dass ihn die revolutionäre r^egende, wie
sie damals noch vielfach Mode war, anekelte. Aber für
England, wo man durchweg nur die Gegenlegende des
gottesfürchtigen Philistertums pflegte und alle Jakobiner als
scheusälige Antichristen beschimpfte, lag doch kein Bedürfnis
vor, das grosse Elementarereignis eines falschen Schimmers
zu entkleiden. Zwar reisst ihn wider Willen seine markige
Darstellungsweise so weit fort, dass man trotz alledem ein
anschaulich belebtes und stark koloriertes Gemälde jener
Vulkanentladung erhält Aber seine ganze Tendenz klingt
in dem Staunen aus, dass noch nie eine so bedeutende
Begebenheit von so durchweg mittelmässigen Menschlein
durchgeführt sei. Der hitzige ideologische Schotte kann sich
hier mit dem eiskalten Realanalytiker Taine die Hände drücken,
und der unbefangene Wahrbeitserkenner muss lächeln, wie
doch immer falsche Ideologie und falsche Realistik ihre
innere Verwandtschaft bekunden und ihr einseitiger Wahr-
heitsschwindel unweigerlich der Lüge verfällt. Man sollte
denken, dass wenigstens Robespierre und St Just, so wider-
wärtig sie Taines Franzosentum sein müssen, vor Carlyle
Gnade fänden, weil das asketisch Puritanische im „Un-
bestechlichen" den schottischen Moralfexen rühren und
dessen Wiedereinsetzung des „Höchsten Wesens" ihm der
einzige Lichtpunkt sein müsste. Weit gefehlt! Robespierre
159 —
ist ihm nur ein neidischer, ehrgeiziger Heuchler, blutdürstiger
Plirasendrescher, ganz wie landläufige historische Legende
fälscht, der Terreur überhaupt nichts als Verbrechertum los-
gelassener Zuchthäusler, während Gromwells kriegerische
Massenmorde in Irland natürlich höchst sittlich und not-
wendig waren. Doch siehe da! Zwei Lieblinge entgehen
seinem Verdammungsurteil, natürlich Mirabeau und Danton,
auch hierbei der allgemeinen Legende folgend. Solche
brüllenden E[raftmeier imponieren ihm, das sind echte
Menschen mit breiter Brust und weitem Herzen, keine
Ideologen — denn solche hasst der Ideologe Carlyle! —
sondern Männer der Tat Gewiss! Dantons Begabung als
praktischer Wühler, man nennt dies Staatsmannschaft, haben
sogar neueste Forschungen bekräftigt Nur schade, dass
unser grimmer Wahrheitsbehorcher, der aus Robespierres
und der Seinen gedankengesättigten Reden, falls er sie
überhaupt je las, nur öde, unehrliche Tiraden herauslas, den
Brustton der Überzeugung aus dem Munde jener zwei
notorischen Lumpen vernimmt, die nie einen originellen
Gedanken, nie eine feine Wendung, nie etwas anderes, als
pomphafte Phrasen und Parteidebatterei zu sagen wussten.
Wenn irgendwer den Namen Heuchler verdient, dann
waren es diese animalischen Krafthuber, die allerdings keine
Tugend der Sitte heuchelten, weil ihr Laster zu derb ins
Auge sprang und ihre zuchtlose Lasterschwäche nicht den
kleinsten Zwang der Selbstbeherrschung ertrug, dafür aber
revolutionäre Begeisterung erfolgreich heuchelten, während
es ihnen nur ums Karrieremachen zu tun war.
Garlyles Geschichte der Revolution hat nicht mal das
früher betonte Verdienst einen wichtigen Stoff dem britischen
Begriffsvermögen näher gebracht zu haben, es gibt überhaupt
kein schlechteres Buch über den so oft behandelten Gegen-
stand. Was daran packt, beschränkt sich immer nur auf
die urwüchsig eigenartige Vortragsweise, die etwa an
Johannes Scherr erinnert, aber auch wie bei diesem mehr
jugendliche Gemüter blendet als reife Köpfe befriedigt und
zuletzt zu krasser Maniriertheit ausartet. Verhältnismässig
am reizvollsten behandelt Carlyle Personen und Dinge in
seinen vielbändigen Essays. Hier hat er z. B. den Vater
— 160 —
Mirabeaus, einen unendlich tüchtigeren Menschen als seinen
berühmten Sohn, trefflich herausgearbeitet, auch Diderots
Liebenswürdigkeit liebevoll mitgefühlt Dagegen tönt sein
„berühmter^^ Essay über Gagliostro nur die üblichen Schnur-
pfeifereien nach, ohne irgendwie ein Verständnis für mög-
lichenfalls ganz entgegengesetzte Lösung des Bätsels offen-
zuhalten. Seine Ästhetik steht auf den gleichen schwachen
Füssen wie seine Historie. Sein poetisches Empfinden an
sich ist stark, seine Begeisterungsfähigkeit übermässig ent-
wickelt, aber rein persönliche und subjektive Regungen be-
stimmen sein Urteil. Was er über Burns zusammen-
entbusiasmiert, wäre erfreulich und liest sich der Essay
sehr schön. Doch nur zu ironisch merkt der Garlyle-Er-
kenner, dass Burns, den er masslos aufbläst, nur deshalb
seinem schottischen Landsmann so besonders am Herzen
liegt, weil Burns wie Garlyle ein armer Sohn des Volkes
war. Er schreibt ferner begeistert und schön über Jean
Paul und Schiller, wie er denn auch manches von Schiller
und Goethe übersetzte. Aber bald weiss man, dass Jean
Pauls Formlosigkeit, Überschwänglichkeit und barocker Humor
von ihm angepriesen werden mussten, um für Garlyles eigene
Mängel eine Schutzwand zu bilden. In der Tat hat er in
„Sartor Resartus^' Jean Pauls Stilart gründlich nachgeahmt,
nur eine Dosis Swiftschen Spleens beimengend. Und sein
Kreuzzug für Schillers Idealismus und alles Deutsche geht
weniger aus selbstloser Versenkung in deutsches Wesen
hervor, als aus dem Streben, die englischen Realisten, deren
Oestaltungsgabe er nicht besass, durch etwas angeblich
Höheres einzuschüchtern und so die Bahn für Garlyles
Eigenart freizumachen. Daneben fröhnt er natürlich auch
dem Fluch jeder reineren Kunstauffassung, dem äusserlichen
Moralmassstab. Sein abgeschmackter Essay über Grill-
parzer und die Schicksalsdramen, da er ersteren ein für
allemal nach der „Ahnfrau^' abmisst, entspringt keinem
ästhetischen, sondern theologischen Missbehagen, weil er als
gläubiger Ghrist den Schicksalsbegriff und die Willensun-
freiheit verpönen muss. Was er über Schillers Inferiorität
gegenüber Goethe andeutet, würde einer gewissen Feinheit
nicht ermangeln, wenn nur nicht seine Urteile über Schillers
- 161 —
Werke im einzelnen, dessen — Gedichte er am höchsten
zu schätzen scheint, seine volle unreife verrieten. Offenbar
ist ihm Schiller nur deshalb der kleinere Dichter, weil er
zu viel gestaltete und nicht ganz so viel Ideen produzierte
wie Goethe. Diesen macht er zu leibhaftigem Hergott, ^m
auf seinen Schultern übers moderne England als alleinselig-
machender Prophet sich aufzuschwingen. Der Garlylesche
Goethe gleicht natürlich dem wirklichen ebensowenig, wie
der „grosse Eeide^^ und „objektive Realist^', den Jung-
deutschland bis zum heutigen Tag sich zurechtschnitzte, um
teils für jede Sorte von Unglauben und ünsittlichkeit teils
für praktisches Philisterium eine Deckung zu finden. Gar-
lyles Goethe ist nichts weniger als Heide und Realist, ist
vielmehr schlechtweg ein aus vulkanischem Titanismus zur
Sternenordnung aufschwebender Allweiser, ein mystik-
trunkener Theosoph, am Ende gar ein gläubiger Christ Er
gleicht dem Geist, den Carlyle begreift, und jedes künst-
lerisch Unzulängliche in Goethes Dichtertum hier wird's Er-
eigniss, sintemal Carlyle sich nur ums Wollen und nie ums
Können kümmert und Poesie nur als Weisheitsorakel be-
urteilt. Die formlich sprödesten und abstraktesten Sprüche
Goethes wiegen ihm im Grunde schwerer als Götz und
Werther. Aber unterwirft er sich wirklich dieser unfehl-
baren Weisheit, die er anderen streng als Bibel vorhält?
Nicht er! Das vielleicht Weiseste Goethes, seine Napoleon-
und Byronerkenntnis, passt ihm nicht, also taugt sie
nichts. Er hat die orphisch inspirierten Euphorion-Hymnen,
den Nekrolog, die zahlreichen Worte über Kain, Don Juan,
,der Traum^ vor Augen, er kennt den Gedichtzuruf an den
Geistesgenossen auf dessen Fahrt nach Missolunghi mit dem
tiefoinnig ergreifenden Schlüsse: „Und wie ich ihn erkannt,
mög er sich kennen.^^ Aber mit roher Gleichgültigkeit
und völliger Abwesenheit schuldiger Rücksicht schiebt er
diese klaren, deutlichen und bestimmten Willensäusserungen
seines Idols unbeachtet zur Seite. „Der über alle Begriffe
Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges mit glühendem
Geistesblick durchdringende Dichter'' (Goethe über Byrons
Eain) ist laut Carlyle ein hohler seichter Schwätzer, der
vom Dichter höchstens die äussere Gebärde hat. Wer soll
Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhunderts. 11
— 162 —
nicht stutzig werden über eine solche Hero-Worship, die
von aller Welt Kniebeugung für den Infallibeln verlangt,
sich selbst aber als anmassender Pfaffe vorbehält, die Orakel
seines Gottes ganz nach Belieben zu respektieren oder
nicht Ob er Byrons Genieoffenbarungen, von denen er an-
scheinend nicht eine Zeile verstand, je las, geschweige
studierte, bezweifeln wir. Das wäre intellektuell ein mildern-
der umstand, ethisch ein erschwerender, würde jedoch diesem
pseudoethischen Moralfex ganz ähnlich sehen. Er kennt
Byron nicht, aber er missbilligt ihn. Denn war er nicht
ein reicher vornehmer Herr? Solche Burschen dürfen kein
Genie haben. War er nicht unsittlich und ungläubig? Fort
zur Hölle! Bis zur Albernheit, ja bis zur Gemeinheit unan-
ständig, bildet Carlyles Ästhetik ein einziges Schimpfgeheul:
Klappt euren Byron zu! Er soll euch nicht mit seinem
Weltschmerz anstecken, der natürlich nur Sybaritenschmerz
über ein verkrumpeltes Rosenblatt seines weichen Lagers
vorstellt! Leute, die nicht physisch hungern oder mit der
Hacke arbeiten, haben überhaupt kein Recht auf Seelen-
schmerz! — Bis zu welcher Besessenheit sich Carlyle in seine
fixe Idee hinein verbiss, zeigt der unglaubliche Satz als ab-
schliessender Beweis für die Überlegenheit des Volkes: wie
unendlich mehr habe der arme Plebejer Burns geleistet als
der hochgeborene Lord! Wohl jeder halbwegs Vernünftige,
der ein schmales Lyrikbändchen, Burns' einzige Hinterlassen-
schaft, mit den Massentaten des Dichterlords verglich, wird
darüber den Kopf geschüttelt haben wie über das Lallen
eines Monomanen. In dieser Unverschämtheit gegen Byron,
verbunden mit versteckter ünehrerbietigkeit gegen Goethes
Gebote, steckt der ganze Carlyle intellektuell und ethisch.
Wer die erbärmliche Ursache seines Byronhasses durch-
schaut, der hat ihn ganz und gar in seiner Kleinlichkeit,
neidischen Gehässigkeit, bigotten Verbohrtheit und giössen-
wahnsinnigen Anmassung. Und dabei tobt derselbe Mensch
gegen die Bigotterie der Clergymen im Schaufelhut, An-
massung und Kleinlichkeit aristokratischer oder sonstiger
insularer Vorurteile. Allerdiügs mit scharfem Blick für
Zeitgebrechen und mit einem Prophetenfeuer jeremiadischer
Busspredigten, das man mit hohlem Pathos nicht verwechseln
— 163 —
darf. So halten wir unsrerseits für seine beste Arbeit die
,^Latter-day Pamphlets'^ in denen er sich als würdigen
Nachfahren Miltons zeigt, dessen politische Pamphlete ja
die gleiche Mischung von echtem Schwung, bizarrer Plump-
heit, edler Gesinnung, unbeholfener Grobheit zeigen.
Wo Garlyles Elefantentritt hinstampft, da wächst kein
Gras, und so unangenehm es klang, Jungengland glaubte
ihm allmählich selber, dass es einem gefrässlgen Storche
gleiche, indes einst Ältengland als Adler emporschwebte.
Hier treffen wir auch Garlyles beste Talentprobe als
Historiker, nämlich kulturelle Schilderung einer Abtei
aas der Normannenzeit an der Hand archivalischer
Forschung. Auch fachmännisch betrachtet von grossem
Forschungswert, versteht der halbe Dichter, der in Garlyle
steckt, hier meisterhaft mit wenigen Strichen das ganze
Innenleben des sogenannten „dunkeln^^ Mittelalters in der
rauhen echten Tüchtigkeit seines praktischen Ghristentums
aufzubauen. Selbst die blitzartig auftauchende Silhouette
eines dieser merkwürdigen Normannenkönige, die das bis
dahin verduselte England des Angelsachsentums in heilsame
Zucht nahmen, wirkt als treues Portrait und Garlyle hat
nie mit so anschaulicher Lebenswahrheit sein Motto, den
alten Mönchsspruch: „Betet und arbeitet^', uns eingeprägt
Gromwells „Betet und schüttet frisch Pulver auf die Pfanne"
trieb ihn desgleichen zu Puritanerstudien, die im Verein mit
Froudes und Gardiners Arbeiten den eigentlichen National-
helden und heimlichen Kaiser Grossbritanniens, den viel-
geschmähten „Königsmörder'^ und „Heuchler", besserem
Verständnis erschlossen.
Mit Garlyles besonderem ,Helden', dem alten Oliver,
sind wir aber nun bei jenem Kultusbuche angelangt, das
sein Wollen und Wesen am bekanntesten machte: „On
Heroes and Hero-Worship". Das ist ein sehr berühmtes
Buch. Ob es sein Ansehen voll verdient? Bei Werken mehr
oder minder philosophischen Gehalts kommt es wohl mehr
auf Reife und Gründlichkeit des Denkens an, als auf
Glanz der Darstellung. Letztere vermissen wir ebenso wenig
in dem Gegenstück „Repräsentative Menschen", das uns der
transatlantische Weise Emerson bescherte. Dieser verfällt
11*
— 164 —
nicht in die barocken Unarten und die aufdringliche Origi-
nalitätshascherei des britischen Jeremias, für dessen bär-
beissige Orilien und Schrullen der abgeklärtere feinergebaute
Yankee zu viel weltmännischen Schliff und Geschmack
besitzt Statt jenes Carlyle - Englisch, gesucht deutschelnd^
oft von unerträglicher Geschwollenheit und Überladung,
bietet uns Emerson elegante und doch nervige Sprachkunst
Aber die wuchtigen Schatten und nachdrücklichen Licht-
wirkungen des Garlyleschen Pathos entspringen einer über-
ragenden Persönlichkeit, und wer Repräsentativgestalten an-
einanderreiht, dem fällt die Wahl nicht schwer, wer von
beiden dazu der Geeignetere. An blendenden Worten, glück-
lichen Wendungen, bestrickenden Gleichnissen fehlt es
Emerson nicht Doch seine Geschmeidigkeit ersetzt nicht
den chaotischen Tiefsinn des Weisen von Chelsea, der unter
so vielem Schlamm auch hier und da echte Goldkörner her-
vorsprudelte. Originalitätssucht oder nicht, Garlyle bleibt
eben das Original und der gefeierte Yankee nur eine Kopie
mit Varianten. Emersons Ergänzung zu des düstern Schotten
,,Heldenanbetung^^ ladet zum Vergleich ein. Sofort fällt die
Verschiedenheit in Auswahl ihrer einzelnen Helden auf, sie
haben nur einen einzigen gemeinsamen Berührungspunkt:
beide schliessen mit Goethe. Als Typen des „Helden als
Schriftsteller'^ kennt aber Garlyle noch andere: seinen Lieb-
ling Bums, der doch grade wie kaum ein anderer den Titel
eines Natursängers und nicht eines Literaten verdient, sonst
übrigens ein recht fragwürdiger „Held^\ sowie den zopfigen
Pedanten Samuel Johnson, den ausserhalb englisch redender
Lande kein Mensch kennt und dessen „Heldentum'^ mehr
Lächeln als Bewunderung erweckt. Von der unendlichen
Reihe viel bedeutenderer und echterer Schriftstellerhelden
anderer Völker ahnen diese guten Propheten nichts, sollten
aber dann nicht die Toga weltüberschauender Weltweiser
tragen. Der „Held als Priester" fehlt bei Emerson. Weder
Muhamed noch Luther und Knox ziehen ihn an, wie den
christlichsozialen calvinistischen Freidenker, der doch immer-
fort vertraute Hinneigung zu theologischen Urquellen be-
kundet Dagegen sind dem Emerson „Menscbheitsvertreter"
Philosophen wie Plato, von denen Carlyle nichts wissen will,
— 165 —
oder vollends Skeptiker wie Montaigne. Der ein Held! hören
wir Carlyle sich entsetzen, worin wir ihm freilich beistimmen:
Wir können diesen bestechenden Stilisten wahrlich nicht als
hervorstechenden Menschheitsvertreter gelten lassen, nehmen
ihn nur wie Rabelais kulturhistorisch als bedeutsame Zeit*-
erscheinung. Emerson fördert ja allerlei Feinheiten zu Tage —
um nur eins zu nennen: seinen Nachweis der Verschmelzung
indischen intuitiven Denkens mit europäischer Definierungs-
logik im Griechen Plato — , doch ein leichter Geruch von
Oberflächlichkeit weht uns überall an und man wird irre an
der philosophischen Bildung des Verfassers, der Giordano
Bruno in einem Atem mit Kathederprofessoren und Literaten
als „Schuldner" Piatos und nirgendwo Kants heiligen Namen
nennt Wenn laut Emerson Piatos Weisheit rundweg den
Eoran vorstellt, neben dem man alle übrigen Bücher ver-
brennen könne, so leuchtet solche Masslosigkeit uns ebenso-
wenig ein wie Carlyles Hyperbeln. Und was der Yankee über
Shakespeare anregend zu plaudern weiss, erschöpft in ein-
zelnen geistreichen Bemerkungen den Gegenstand fast noch
weniger, als Carlyles Aphorismen über den Einzigen. Be-
sonderes Gewicht wie schon bei Plato legt Emerson auf das
Plagiatorische des Genies, dem durchaus das Becht zustehe,
sich Fremdes anzueignen, um sein grösseres Zusammen-
fassendes daraus zu formen. Die Baconfrage scheint er
absichtlich zu scheuen und zu vermeiden, meint aber: wir
wüssten nichts von Shakespeare? Im Gegenteil, mehr als
von andern Sterblichen, denn über jedes Ding unter der
Sonne vertraut er uns seine Meinung an. Auch sind
da noch die Sonette, welche Emerson ganz wie
wir („Geschichte der englischen Literatur*') ebenbürtig
neben die Dramen stellt. In diesen aber tritt uns
eine so gewaltige und ihrer Grösse bewusste Persönlich-
keit entgegen (vergl. das Sonett „Not marble nor the gilded
monuments of princes shall outlive my powerful rhyme'^),
dass nur ein Oberflächlicher zu dem Schlüsse kommen kann,
der Unsterbliche sei im Leben wirklich nur „ein lebens-
froher Schauspieler und Theaterdirektor^^ gewesen, habe „ein
obskures Werkeltagsdasein geführt und sein Genie nur zur
Belustigung des Publikums gebraucht^\ Ei, ei, die wahre
— 166 —
Liebe ist das nicht! Was, „dies sind nur Halbgesichte von
Halbmenschen, die Welt harrt noch immer ihres Dichter-
priesters, der nicht mit Schauspieler Shakespeare tändeln (!),
sondern der in gleicher Erleuchtung sehen, sprechen und
handeln wird^^?! Was, Shakespeare blieb in den Dingen
stecken, erkundete nie die Bedeutung, die diesen Symbolen
innewohnt, machte aus ihnen „Unterhaltungsgegenstände^^
war „Yergntigungskommissar der Menschheit^'?! Um im
Stile des transatlantischen Meisters, wie man im Schach-
Jargon zu sagen pflegt, zu bleiben : dies sind wirklich Halb-
gesichte eines Halbmenschen! Er hat also rein gar nichts
begriffen! Prosperos Zaubersprüche sind seinem Oelehrten-
ohr nicht deutlich genug; Macbeths Monologe und Lears
Problem, Hamlets Weltironie und Fallstaffs Sanjopansa-
Humor, diese Symbole der Symbole, bleiben ihm unverständ-
lich, weil sie nicht plump in starren Allegorien, sondern
strotzend Yon bewegtem Leben an ihm Yorüberziehen!
Kicht der göttliche Allbezwinger blieb in Sansara stecken,
sondern für ihn, den nüchternen Yankee, fiel nicht die
Binde der Maja vor solchem Weltspiegel. „So voller
Harmonie sind ewige Geister, nur wir, weil dies hinfällige
Staubgewand uns grob umhüllt, wir können sie nicht
hören."
Ach, armer Zettel, dein langes Eselsohr hört nicht Oberons
Hom und doch glaubst du Titania Kunst über Zukunft des
Dichterpriesters belehren zu können!
Nein, da steckt denn doch mehr echte Schauung, mehr
Wirklichkeitssinn für das greifbar Ideale in Garlyles seher-
haften Rhapsodien. Es kommt ihm von Herzen, wenn er
wünscht, nur eine Stunde Shakespeares Schubputzer sein
zu dürfen, um in das erhabene Antlitz emporschauen zu
können. Dagegen hütet sich der amerikanische Weltmann
vor der Einseitigkeit des schottischen Puritaners, dem nach
seinem Puritanerkönig Crom well, ihm sozusagen das Mass
aller Heldendinge, der kleine Napoleon nur wie ein flüchtiger
Schatten hintendreinhuscht. Emersons „Mann des weltlichen
Erfolges" oder Tatmensch heisst ihm als berufenster Yer-
treter der ganzen Gattung schlechtweg Napoleon und kein
Anderer. So geziemt sichs, denn alles, was „Herrscher^*
— 167 —
(Herrenmenschen) von Sesostris bis Bismarck typisch aus-
zeichnete, tritt vereint und am nachhaltigsten im Korsen
hervor. Dessen weltumfassende Arbeit und Einsicht rückt
Emerson ins rechte Licht, belegt mit meist glücklich ge-
wählten Citaten seine übernatürliche oder richtiger einzig-
natürliche Klarheit des Schauens. Aber dies Genie malte
ja auch Taines Pamphlet in prunkenden Farben und im
Grunde liest sich Emersons Studie wie ein Exzerpt aus
Taine vor Taine. Denn auch ihn entsetzt die angebliche
ethische Kehrseite der Medaille, sein Napoleon gleicht dem
wirklichen Urbild nicht besser, als irgendeine reaktionäre
Pfuscherei von Treitschke. Allen Kehricht, den falsche
Zeugen und Fälscher über den Koloss zusammenscharrten,
nimmt er als granitne Fundamente. „Er betrog beim
Kartenspiel, stahl, mordete, ertränkte, vergiftete" — man
glaubt zu träumen, woher hat Emerson all diesen Blödsinn
aufgelesen als aus erbärmlichen Buchkloaken? Wenn man
vollends liest, Napoleon habe Bernadotte und Kellermann
neidisch um den Ruhm ihrer grossen Taten gebracht
(Bemadottes grosse Taten, es ist gottvoll!), „er konnte
Lafayette und Bernadotte (!) nicht mit den Kurmachern
seines Hofes in einen Topf werfen" „die grossen Feldherrn,
die für ihn kämpften" (vergl. unser Werk über die Marschälle,
diese Nullen), so hat man endlich genug von solchem
Geschwätz und wundert sich nicht mehr über sein tiefsinnig
Bedauern, dass Napoleon wie jeder Bourgeois nur eine
glänzende Karriere machen wollte. „Assez de Bonaparte!"
zitiert er. 0, assez d' Emerson!
Wenn beiden Angelsachsen der Held als Dichter
begreiflicherweise Shakespeare heisst, so heisst beiden un-
begreiflicherweise Goethe „Schriftsteller'' (men of letters).
Was bedeutet das? Wer vom Dünkel der englischredenden
Basse einen richtigen Begriff hat, der dürfte hierin ein
unwillkührliches und nicht zufälliges Zusammentreffen des
Basseinsünkts beider entdecken, um ihrem Helden und
Menschheitsvertreter einen Vorrang vor dem deutschen zu
sichern. An sich dies willig zugestehend, vermögen wir
doch solchen Unterschied der Gattung nicht anzuerkennen,
da man mit gleichem Grund Goethe einen unabhängigen
— 168 —
Sänger und Theaterdirektor, Shakespeare einen Beruf sschrift-
steller nennen könnte!
Emerson ernennt Goethe zam Protokollführer der Natur
und auf den ersten Blick scheint er mit Carlyies Goethekultus
übereinzustimmen. Doch es scheint nur so. Mit einem
Wort, er verehrt im Olympier den universalen Gelehrten-
kopf, nicht einen heroischen Menschen und Dichter. Darüber
verliert sich das Befremden, sobald man erfährt, dass Emerson
nur Faust zweiten Teil und Wilhelm Meister als typische
Hauptwerke herausgreift, also diejenigen, in welchen Goethes
kosmische Lyrik — denn als solche fassen wir sein Dichten
auf — bis zur leblosen Allegorie erstarrte und Reflexion
jede Gestaltungsgabe überwuchert Letztere, ohnehin in
Goethes üniversalgeist am spärlichsten entwickelt, was die
Goethepfaffen sans phrase natürlich nicht Wort haben wollen,
stand fast immer im schroffen Widerspruch zu Goethes
Mahnung „Bilde, Künstler, rede nicht 1^^ und in diesem Sinne
hätte Emersons hartes Dictum vollkommen Recht: „Dieser
Gesetzgeber der Kunst ist kein Künstler." Wenn er dies
aber so erklärt: „Wusste er vielleicht zu viel, blickte sein
Auge zu mikroskopisch scharf, sodass ihm der Überblick
über das Ganze verloren ging?^' und dergleichen mehr, so
biegt er die richtige Begründung nach der falschen Seite
um und liefert neuen Beweis, wie man in Goethe alles
mögliche Fremde hineinliest, statt die einfache Wahrheit zu
sehen. Goethe, dessen schrankenlose Subjektivität souveränen
Auslebens grandioser Individualität eine kindische Ästhetik
zum Vorbild objektiven Schaffens erheben will, indem sie
des gelehrten Weltbeschauers objektive Weisheit mit der
Gabe objektiv künstlerischer Dichtung (Shakespeare) ver-
wechselt, bildet mit Byron eine Gruppe für sich, die ihr
eigenes Mass und Gesetz in sich selber trägt Diese riesigen
Individualisten umspannen das Reich der Ideen, alles Schaffen
entspringt bei ihnen aus der Reflexion, nie aus naiver Hin-
gabe wie bei Kleineren, sogenannten Künstlern, nie aber
auch aus souveräner Herrschaft über den Kosmos wie
bei Shakespeare und in anderem Sinne bei Napoleon.
„Ich stelle Goethe Napoleon an die Seite: beide sind Ver-
treter der Auflehnung der Natur gegen den Dummstolz der
— 169 —
konYentionellen Sitte, zwei ernste Realisten,'^ predigt Emerson.
Darin steckt wohl Wahres, aber der Vergleich hinkt wie
alle Vergleiche. Auch Napoleon war ja ein Ideenmensch,
woraus allein sein materieller Untergang erklärlich, auch er
ein Idealist wie jeder, der Materie und Realität nicht als
etwas Absolutes, sondern als Handwerkszeug für subjektive
Pläne betrachtet und yerachtet Aber sein und Shakes-
speares Gegensatz und Überlegenheit über Goethe und
Byron besteht in der trotzdem unerschütterlichen Objek-
tivierung des Willens im Werk. Auch Shakespeare war
sich seines Imperator-Ichs vollbewusst, zwei „grössenwahn-
sinnige^^ Sonette zeugen dafür, aber beide Imperatoren be-
sassen die Naturmacht-Fähigkeit, ihre ganze Schaffensmacht
fortwährend in jeden erfassten Gegenstand vom Grössten
bis zum Kleinsten hineinzusenken, demnach selbstlos in der
Allmacht ihres Selbst im Werke sich zu vergessen.
Goethe aber hegt, genau betrachtet, geradesowenig wie
Byron eine Liebe zum Werk-an-sich, zu den darzustellenden
Dingen, sie sind ihm nur Symbole, die reale Welt ein Ge-
häuse der Ideen. Solche Gedankendichter dürfen sich nicht
mit kleinlichem Eunstkönnen aufhalten, das würde den un-
aufhaltsamen Flug ihres über gewöhnliches reales Können
wegschwebenden WoUens unterbrechen. Was daher Emerson
und jedem nicht auf den Koran der Goethepfaffen Einge-
schworenen als Nicht-Kunst erscheint — Sinn für Kompo-
sition, für das dramatische im höchsten wie technischen
Begriff, fehlt ganz, Epik wird hier bloss lyrisch abgetönte
Reflexionserzählung — , das macht gerade Goethes wahre
Stärke aus. Gewiss strömten diesem Allumfasser auch
reiche poetische Quellen zu; manche seiner Gedichte, Faust,
Werther gehen manchmal aus kosmischer Lyrik auch in
jene alleingültige Darstellungsart über, die man „realistisch^^
tauft, während man sie die natürliche oder lebensvolle
nennen sollte. Aber in allem spricht nur Goethe und
wieder Goethe. Egmont, Tasso, Iphigenie, Faust, Wilhelm
Meister, sie alle sind immer das nämliche vielseitige Ich,
voll subjektiverer Befangenheit, als in Byron ersichtlich, der
wenigstens überall sachlich ausser ihm Liegendes seinen
Selbstportraits zufügt. Goethe einen objektiven Realisten
— 170 —
nennen, könnte man daher nur in dem Sinne, wie jeder
Seher und Weise als Erkenner des Ewigen dem Scbein-
Föbel gegenübersteht, wie etwa Buddha ein Realist wäre
gegenüber Eirchenbonzen. Die einzig für ihn passende
Form fand er im Faust, wie Byron im Kain und Don Juan.
Selbst sein einziges naives Produkt, der Götz, entstammt
nicht dem Drange, objektiv sein Kunstkönnen in seelischen
Konflikten zu zeigen, sondern dem subjektiven Trotz,
selbstherrlich ein paar anschauliche Szenen freien Burschen-
lebens unter bürgerlicher Einzäunung hinzuhauen. An
der hier und anderswo (nehmen wir: Auerbachs Keller) er-
kennbaren burschikosen Lebensfrische im einzelnen, ron der
sich kindliche Beurteiler zu falscher Auffassung seiner wirk-
lichen Art verführen Hessen, fehlt es aber Byron im „Don
Juan^^ erst recht nicht. Ja, in anderen solcher Kunstgaben,
z. B. dramatischem und historischem ^) Sinn, war er Goethe
sogar weit überlegen. Verdammt trotzdem abstrakte Ästhetik
nicht ohne Grund Byrons Dichtart, so konnte nur trostlose
Unkenntnis aller literarischen Technik diese Verdammung
nicht mit auf Goethe übertragen, ja sogar ins Gegenteil ver-
kehren. Aber dies Nicht-Künstlertum ändert an der Grösse
dieser beiden Gewaltigen nicht das Mindeste, da sie eben
nur in ihrer Formlosigkeit die für sie nötige Form finden,
das kleine Kunstkönnen getrost anderen überlassen durften.
Was englische Denker wie Carlyle — freilich ein sehr
trübes ästhetisches Licht — an Goethe be wundem, ist
gerade die Abwesenheit jener realistischen Objektivität,
von der sie in ihrer heimischen Literatur übergenug hatten.
Drum dürfte Emersons Bevorzugen von Faust zweiter Teil,
wo er fast nichts Gestaltendes mehr und dafür die reine
Ideenabstraktion fand, weniger ästhetischem Missverstehen
als bestimmter Absieht entspringen. So fassen ausländische
unbefangene Beurteiler unsern Goethe auf, den sie in ihrer
tiefen Unkenntnis der deutschen Gesamtliteratur, natürlich
dabei beeinflusst von dem aberwitzigen Gestammel der
Dieser Mangel bei Goethe entspringt eben seiner unrealen rein
idealen Auflösung alles Stofflichen ins Reflektive. Wer immer als Erd-
geist will wallen im Weltensturm, gewinnt natürlich nur der Natur-
geschichte, nicht der Menschengeschichte, Interesse ab.
— 171 —
Goethepfaffen, für den alleinigen berufenen Vertreter
deutscher Dichtungsbegabung halten, ohne die vielfachen:
anderen Kräfte dieser auch geistig dezentralisierten Nation
zu ahnen. „Dies Streben nach grosser Kultur ist der
Geist, der seine Werke beseelt Höher freilich steht die
Idee absoluter ewiger Wahrheit (?), ohne Rücksicht darauf,
ob ich selber durch sie wachse und gewinne. Höher
steht die Yöllige Hingabe an den Strom poetischer Be-
geisterung/^ Diese Worte Emersons, und was Wahres
und Falsches an ihnen sei, empfehlen wir ernstem Nach-
denken.
Wir deuteten schon früher an, dass Carlyles Goethe-
kultus unbewusst persönlich eigennützigen Motiven entsprang:
Durch Deutsches seinen Landsleuten sich selber aufzuzwingen.
Deshalb bewundert er Goethe nicht als Dichter, sondern als
Weisen, ähnlich wie Emerson Dagegen ofTenbart sich sein
stärkerer Sinn für das praktisch Geniale in den kurzen
kräftigen Strichen, die doch einen grossen Zug tragen, mit
denen er überlebensgrosse Konturen Napoleons bestehen lässt.
„Unser letzter grosser Mann", der aber natürlich vor Crom-
well erblassen soll, ist zwar wahrlich nicht mit liebenden
Augen gesehen. Freilich entschuldigt es Garlyle wie Emerson,
dass es damals noch keinen Taine als Brevier für alle
Napoleonsfälscher gab, doch auch nicht die jetzige Fülle
neuer Napoleonsenthüllungen, die den Schutt wegräumen
und für richtigen Sehwinkel Baum schaffen. Carlyles
Napoleon soll ein Stück Cbarlatan und Quacksalber sein,
wahrscheinlich wusste er nicht, dass der Imperator selber
von einer Seite seines öffentlichen Auftretens sagte: „Ja, es
war Gharlatanerie, doch von der höchsten Art'\ und derlei
Mätzchen braucht jeder Tatmensch für den Heisshunger der
Menge. Immerhin, während Emersons ,,Schelmenjupiter"
immer kleiner und unansehnlicher wird, lässt Carlyles bär-
beissiger Heldeninstinkt den Grössenwuchs unangetastet, der
unter Emersons sanfter Eleganz bis zur Unkenntlichkeit
einschrumpft.
Wie seltsam! Demokrat Carlyle ward Urheber einer
sozusagen konservativen Strömung. Dem skeptischen
Materialismus des modernen Zeitgeistes hielt er wie ein
— 172 —
'Oorgonenhaupt das starre Antlitz des zerschlagenen Piirita-
nismus entgegen, dem nivellierenden Massenprinzip seine
Heldenanbetung. Nicht Volk und Milieu, sondern der grosse
Einzelne ist ihm der alleinige Träger der Entwickeiung.
Durch Erweckung des Sinnes für das Heroische, wie einst
Giordano und neuestens Dühring es lehren, hat er sicherlich
dem Willensinstinkt der englischen Basse gut Rechnung
getragen und eine gewisse Vertiefung gefördert.
Ähnlich erfüllte auch Buskin seine Mission besser durch
sozialreformatorische Anregungen, als durch seine vielbändigen
Ijchren über das bildnerisch Schöne. Deutscher Idealismus,
wie ihn Carlyle importierte, wird in England nie zu Hause
sein; Ästhetik der bildenden Künste, wie Buskin sie vortrug
und mit allerlei Ideenschwulst verbrämte, den er willkürlich
in das Handwerksmässig-Technische der Bildkunst hineinlas,
gehört nicht auf die nordische Industrieinsel. An ästhe-
tischer Bildung stand freilich Buskin so himmelhoch über
Carlyle, dass er noch kurz vor seinem Ende seinen gaffenden
Landsleuten das Geständnis an den Kopf warf, er halte
Byron für den reinsten Inbegriff des Poetischen, für den
höchsten Sänger aller Zeiten. Aber was Carlyle und Buskin
auf den Gebieten des idealen Geisteslebens erstrebt, blieb
exotisches Gewächs, triebhaft im britischen Boden wurzelte
nur ihr Anbau sozialreformerischer Gesinnung.
Wir haben selbst in unserer Jugend das Städtchen
Kirkcaldy am Firth of Forth besucht und beim dortigen
Bürgermeister uns über den grand old man unterhalten, der
zum Stolze Kirkcaldys hier als junger Schulmeister wirkte.
Ein Carlyleaner hatte uns dorthin verschleppt, gleichsam
an eine der Stätten für geistige Mekkapilger, zum heiligen
Kaabastein, wo der Prophet sinnend am Wege sass. Denn
Allah ist Allah und Thomas Carlyle ist sein Prophet. Aber
ein ungläubiger Thomas sind wir geblieben. Armut, Ver-
kennung? Weil der grosse Thomas ein Stück erster Jugend
in diesem reizenden Ktistenidyll verlebte? Und wie bald
heiratete ihn eine vermögende Dame von hoher Bildung
und feinem Geist! Wie bald erntete er von seinen Lands-
leuten, die er so gründlich zu verachten vorgab, jene all-
seitige Anerkennung, die seine geliebten Deutschen ihm nie
— 173 —
oder spärlich gewährt hätten. Statt seinem Herrgott zu
danken, dass er, der selbstsüchtige Ehrgeizige, nicht als
Deutscher geboren, dass ihm sein England einen Weltrahm
verschaffte, wo viel bedeutendere Deutsche unbekannt und ver-
gessen, dass er sein Leben lang wohlhabend und hochgeehrt
sich als ,,Seher^^ ausleben konnte, schien ihm nichts genug,
seine Ansprüche zu befriedigen. Mürrisch und zänkisch
polterte und schimpfte er sich durchs Leben, unterbrochen
von Inspirationen seines besseren Innern, wo er Himmel
und Hölle vor sich offen sah, meistens aber die Hölle als
richtiger Galviner. Man könnte sich vorstellen, dass der
despotische grimme Fanatiker von Genf in ihm wieder-
geboren sei. Er stand ewig auf der Kanzel wie ein toben-
der Hetzkaplan oder ein eifernder Methodistenprediger.
Höchst unliebsam entschleierte sich später sein Privatleben,
unglückliche Ehe mit seiner geistvollen Gattin, der er so
viel verdankte. Seine cholerische Selbstquälerei, die vor
allem durch schroffe Selbstsucht im Quälen seiner Umgebung
sich Luft machte, führte zu chronischer Magenverstimmung.
Er, der über Byrons wahren Weltschmerz albern spöttelte,
leitete seine JesaiasroUe aus kläglichem Ichschmerz ab, der ganz
prosaisch und einfach als Magenschmerzen sich ankündigte.
Nun, wir selber kennen aus lebenslanger Erfahrung
das Beispiel eines schwer Magenleidenden, dem obendrein
Gründe zu andrer melancholischer Verbitterung nicht fehlten,
der aber sein Lebenlang als Muster heitrer menschenfreund-
licher Milde galt und bis zuletzt wie ein Held seine Leiden
bezwang. Das Beispiel eines solchen Helden, dessen
Schwächlichkeit auch auf dem Schlachtfeld den Preis der
Tapferkeit errang, vor Augen, empfinden wir für Carlyle
und seine Theosophie der Magenschmerzen gelinde Ver-
achtung. Nichts Heldisches stak in diesem Heldenanbeter!
Ein bezeichnendes Gegenstück zum Willensverneiner Scho-
penhauer, dem Wasserprediger und Champagnerschlürfer!
Ja, sehr bezeichnend alle beide für unser glorreiches Jahr-
hundert der Nicht-Helden und Anti-Helden, der charakter-
losen Schwätzer!
Methodistenprediger wissen wenig von Methode. Irgend-
welche methodische Kunst blieb Carlyle versagt, in seinen-
- 174 —
chaotischen Widersprüchen wird nichts Positives erkennbar.
Während Emerson oder als Historiker etwa Ranke eine fein
abgetönte, aber matte und im höheren Sinne nichtssagende
Farblosigkeit vorziehen, schweben Carlyles „Helden" sozu-
sagen in der Luft. Man kann das Geschehene entweder
positivistisch aus der rohen materiellen Notwendigkeit ab-
leiten, wie Milieu und Rasse sie auslösen. Diese heut herr-
schende Weltanschauung arbeitet meist nach dem Satze:
legt ihr nicht aus, so legt doch was unter. Die fixe Idee,
alle historischen Transformationen als blosse ökonomische
Umwälzungen des Wirtschaftslebens aufzufassen, erniedrigt
zuletzt das inkommensurable X des Genies zu einem mess-
l>aren Zahlen wert Dieser naiven Falschmeldung des Eausa-
litätsgesetzes steht die idealistische Lösung des Welträtsels
gegenüber, welche eine supraaktuelle Freiheit des Endzwecks
verbürgt Hierbei spielt Inkarnierung devachanischer Geister
4ils menschliche „Helden"-, Repräsentanten'^ natürlich eine
bedeutsame Rolle. Ist ein Held oder Prophet von nöten, so
taucht er blitzartig auf, wo man ihn am wenigsten erwartete.
Die Unabhängigkeit der Endzwecke entspricht eben einem
andern Reich, als dem der äusseren Kausalität. Das Er-
wecken von Erleuchteten, der weder vererbte noch vererb-
bare Genius, bedeutet eine Tat jenseits menschlicher Eausa-
litätsbegrifTe. Es hat „Heroenanbetung" insofern ihre Be-
rechtigung, als in Gedanken und Wirken solcher Begnadeten
unmittelbarer als sonst Gottesodem uns anweht Diese natür-
liche Ehrerbietung wird jedoch durch die Erkenntnis getrübt,
dass wir ja nur Gefässe des Allgeistes vor uns haben, dessen
Ergiessung im Wesentlichen in uns allen waltet So kommen
Milieu und Rasse wieder zu ihrem einschränkenden Recht
Denn dass ein Genie in einem bestimmten Milieu entsteht
und stets Merkmale einer Rasse an sich trägt, entstammt
logischem Karmazwang und hat somit sein Zeitalter gewisser-
massen ein Miturheberrecht an seinem grossen Vertreter.
Noch mehr: zwischen einem Genie und seinen Anhängern
besteht ein enges Band der Gemeinsamkeit Wer das Genie
erkennt, nimmt gleichsam Teil an seinem Werke selber.
Hiermit wird einseitiger blinder Persönlichkeitskultus
hinfällig. Denn dass Genius nur ein Rüstzeug des Allgeistes
— 175 —
sei, erkannte niemand klarer als Napoleon: ,j8t meine Sen-
dang erfüllt, kann ein Atom mich fällen/^ War' nicht das
Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nicht erblicken .. wäre
nicht in ihm selber Geniales, so könnte niemand Geniales
erkennen. Aber wie wir bei Schopenhauer vermuteten, dass
er die Ethik des Buddhismus überhaupt nicht begriffen und
das Ethische nur ganz äusserlich abstrakt mit dem Verstände
sich konstruiert habe, so halten wir auch nichts vom Helden-
kaltus des unheldischen gläubigen Thomas.
„Keinen traurigeren Beweis seiner eigenen Kleinheit
kann ein Mensch geben, als Unglaube an grosse Männer.^
Wer möchte das psychologisch bestreiten! ,,Er war das
Geschöpf der Zeit, sagt man. Ach, wir hören Zeiten laut
genug nach einem grossen Mann rufen, doch ihn nicht
finden. Er war eben nicht da, die Vorsehung sandte ihn
nicht" Naiver Carlyle! Vielleicht war „er" da und sogar
mehrere solche „er", aber die Zeit fand natürlich nicht, was
sie nicht verstand. Es beruht daher auch der Heroenkult
auf einer Täuschung, sobald man den Satz aufstellt: es
müssten nur recht viel „Helden" da sein, dann werde die
Welt von selber vorwärts kommen. Ahnt Carlyle, der so
oft das Lob des Schweigens singt, nicht ein noch tieferes
seelisches Schweigen von Heldenelementen, die unterm Ge-
wicht der gesellschaftlichen Schmutzschicht erstickten, ehe
sie aus dem unterirdischen Bergwerk ihres Bingens zur
Sonne auftauchten, oder gar das gewollte tiefe Schweigen
stolzer Seelen, die sich nicht dazu herablassen wollten, den
Helden zu spielen? Denn etwas Vor- und Aufdringliches,
Theatralisches haftet auch dem reinsten Heldentum an, so-
fern es dabei sichtbar und vorlaut auf der Weltbühne agiert.
Wenn man fragen wollte: Wäre Homer minder gross, wenn
er seine llias verbrannt hätte? so würde man immerhin vor-
aussetzen, dass er überhaupt die llias vorher schrieb. Und
nicht nur können wir sein Dichtertum erst an seiner Leistung
erkennen, sondern dasselbe ward sich selber erst im Schaffen
seiner bewusst Und doch, können wir uns nicht einen
grossen Sänger denken, der nicht nur wie der Nibelungen-
sänger seinen Namen verschweigt, sondern es überhaupt
verschmäht, der Welt die Schätze seines Innern mitzuteilen?
— 176 —
Nun wohL, mit dem allen soll nur gesagt werden, dass
Helden und Heldenverehrung allein keineswegs genügen, son-
dern das Zeitalter selber reif sein muss zum Begreifen grosser
Männer, damit letztere eine Wirkung üben können. Ausser-
dem liegt in Hero-Worship die stete Gefahr, dass man sich
in falsche Helden verliebe und eine schlechte Zeit sich
Götter mache nach ihrem eigenen Bilde, wovon wir in Neu-
Deutschland gar manche Beispiele erlebten. Dass eine
Erklärung für das Entstehen von ,Heroes^ nicht vorliege,
gesteht auch W. Diltheys strenge Forschung („Beiträge zum
Studium der Individualität^^) unumwunden zu: es sei umsonst,
den Helden oder Genius aus Umständen aller Art begreif-
lich machen zu wollen. „Der eigenste Zugang zu ihm ist
der subjektive.^* Dies Subjektive ist aber grade das Ver-
führerische und Irreleitende der Hero-Worship. Im Übrigen
pflichten wir Garlyle gerne bei: „Der Mensch ist der ge-
borene Sklave gewisser Menschen, der geborene Herrscher
gewisser anderer und der geborene gleiche noch anderer.^^
Ruskin hat dies sogar, als seine „Fors Clavigera^' sozial-
reformerisch sich Garlyle als bündnissfähige Macht antrug,
wiederholt noch schärfer betont: „Es bleibt mein unverrück-
bares Ziel, die Unmöglichkeit der Gleichheit die ewige
Überlegenheit einiger Menschen über andere, ja manchmal
eines über alle andern zu zeigen^^ oder „Freiheit ist Irrtum,
es gibt nichts dergleichen im All und wir Menschen haben
nur ein Blendwerk davon zu unsrer Strafe^'. Ein Blend-
werk ist aber auch der Buhm, von des Lebens Gütern allen
durchaus nicht das höchste. Sondern es gewährt ein dauer-
hafteres Überleben für jedermann das persönliche Er-
innerungsbild, das sich dem Privatgedächtnis einprägt Der
Verstorbene, an dessen Gestalt, Handlungen, Äusserungen
wir uns erinnern, lebt tatsächlich fort und wird nur etwa
wie ein Abwesender empfunden, mit dessen Existenz wir
trotzdem rechnen. Dies merkwürdige Phänomen legt die
Relativität der BegrifTe Leben und Tod dar, hiermit
auch des Huhmbegrifb. Heldenverehrung verbreiten
heisst aber den Helden mit ungesundem Lorbeergemüse
auffüttern und grade hierdurch das Heroische unter-
binden. Also sehr mit Vorsicht zu gemessen!
— 177 —
„Let the Hero rest! It was not to men's judgement that
he appealed, nor have men judged bim very weIP\ bekennt
ja Carlyle selber bezüglicb seines Cromwell. Lasst die
Helden rohen und die Helden Verehrung dazu! Denn nicht
viel Gutes würde bei letzterer herauskommen, nur lähmender
Personenkult Und die erhabene Realität der inneren Not-
wendigkeit sorgt schon selbst dafür, dass die Bäume nicht
in den Himmel wachsen: niemals wird die Welt, auf Lüge
erbaut, das Wahre ,verehren'. Cromwell wird dem Fuchs-
verstand der Mittelmässigen stets ein Heuchler bleiben.
^Deshalb ist der Heroenkult die belebende Kraft mensch-
lichen Daseins''? Dies ,Deshalb' entspricht keiner Konklusion,
sondern einer falschen Prämisse.
Es steht manches Gute in diesem Carlyle. So z. B.
die derben Faustschläge ins Gesicht der grossen Lüge Amerika.
„Hört auf, mir vorzuprahlen von Amerika und seinen Muster-
institutionen und -Konstitutionen !" (Latterday-Pamphlets I,
18.) Hört seine Charakterisierung der modernen Regierung:
„Verantwortlich keinem Gott, aber 27 Millionen Göttern der
Schilling-Gallerie." Die Kapitel „Downing Street" und „Hud-
sons Statue" schlagen mit ihrem Berserkerspott wirklich alle
bemalten Fenster der Ministerien und Bankhäuser ein. Er
hat von Swift den mock- heroischen Zweideutigkeitsstil ge-
lernt, er muntert die Mammonanbeter auf, in ihrer lobens-
werten Wahrhaftigkeit fortzufahren, weil sie einem Londoner
„Finanzgenie" vom Schlage amerikanischer Erie- Prinzen wie
dem Kerl Hudson ein Denkmal errichten wollen. Er ruft
im „Jesuitisrae" den seligen Loyola als Schutzpatron jeder
Kirche und jedes Humbugs an. Er empfiehlt dem begabten
jungen Briten die Karriere eines populären Redners in der
ergötzlichen Diatribe vom „Stumpfredner" (Stump-Orator).
Marktnachfrage nach Genie und Edelsinn? Null, unsere
so geschickt aufgerichtete Zivilisation hält nur zwei
Karrieren offen: Erstens die stumme oder industrielle, das
ehrlich-Biberhafte oder unehrlich- Füchsische entwickelnd;
zweitens die geschwätzige oder gelehrte Laufbahn der pro-
fessionellen Kirche, Medizin, Juristerei (Politik), welche nur
eins erfordert: Verlogenheit. Besonders auf die Herren mit
weisser Halsbinde, Schaufelbut und Mitra, welche früher das
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhunderts. ]2
— 178 —
Abzeichen der Fieadenmldchen war, deutet Caiirle mit er-
hobeneni Finger. Bist da aber erst darch Verlogenheit,
Schwatzbaftigkeit und Bestechung in den Beichstag gewählt,
dann« janger Mann, lebst da in laater Plisir and Freaden.
So gewiss man eine geseifte Stange hinanfklettem kann, so
sicher werden Frechheit und Ausdaaer einen grossen Parla-
mentarier aas dir machen. — Willst da aber diesen Hexen-
sabbat nicht mitmachen, dann, janger Mann, fort in deine
Dachkammer and verfolge die Literatar solange, bis da ihr
das Geheimnis deiner Talentlosigkeit entrissest Denn hier
wenigstens bist du frei, die einzige Freiheit, die einem Briten
blieb. Einem Briten? naiver Cariyle, sieh dich mal in
deinem lieben Deutschland um — komm, sieh und werde
besiegt, flüchte schaudernd ins gehasste England zurück!
Dieser Selbst- Puritaner, der mit dem Schwert des Herrn
und Gideon alle Amalekiter schlachten möchte, tobt sich
einsam auf einem feuerspeienden Eiland aus, im Ozean der
Unendlichkeit schwimmend. Auf pittoresk-zerrissener Hekla-
formation seiner rauchenden und überhitzten Sprache wächst
nur bitteres Islandmoos und eine düsterbräunliche Rembrand-
stimmung taucht uns in unbehagliches Halbdunkel. Was
kann man von der widerspenstigen Querköpfigkeit eines
Geistes erwarten, der in seiner lockergefügten ungenauen
Friedrichsgeschichte uns den einzigen philosophischen Durch-
blick eröffnet: der sonst zu klein geratene Friedrich der
Grosse sei wenigstens „nicht ein Charlatan, wie sein ganzes
Jahrhundert!*^ Wie schimpfte er auf den Woblfahrtsausschuss
und alle revolutionären Schwätzer und auf alle Buchmacher
und Ltiteraten! Er selbst aber, der sich eigens zum Wobl-
fahrtsausschuss für sich allein ernannte und unfehlbare
Ukase erliess, begeisterte uns einst zu dem Epigrammchen:
„Buchmacher nur Windmacher sind, haltet den Mund,
Schreiben ist Wind! So blies Carlyle und, wundervoll, so
blies er zwanzig Bände voll.^'
Wieviel stickigen Qualm muss man bei seinen Eruptionen
in den Kauf nehmen! Die Menschen sind ihm eine Schweine-
horde, Philantropie gräulicher Unfug. Der Mensch ist zum
Leiden da, weil überhaupt nichts Besseres wert Nur auf
(fomütstiefe schauend, stänkert er gegen jeden Pessimismus . .
— 179 —
aus Pessimismus. Er beansprucht den Rang eines hebräischen
Propheten und nimmt Kindheitsvisionen seiner schottischen
Heide, wo ihm das ,,awful mystery of life^^ gegenübertrat,
ernst als Offenbarung. Im Grunde hängt er haltlos zwischen
Himmel und Erde überm Abgrund eines zu enträtselnden
Mysteriums. An seinem bärbeissigen Humor fand freilich
Anmassung des Tart pour l'art ihren Meister. Schade, dass
Oskar Wilde nicht ein bischen Carlyle als Erzieher mit dem
Enotenstock genoss: „Alles literarische Talent war zu etwas
Besserem bestimmt^^ Sehr wahr, rhythmische Taten sind
besser, als rhythmische Worte und eine gewisse Schweigsam-
keit wohnt dem Genie inne, obschon es nichts weniger als
„eminent schweigsam'^ Garlyles unendliche Predigten hätten
daraus die Nutzanwendung ziehen sollen, doch seine eminente
Schwatzhaftigkeit trat gerade so gebieterisch auf, wie die
Graphomanie seines späteren Antipols Nietzsche. Das
Literatenregiment „das bunteste in Ihrer Majestät Diensten . . /^
Überfülle von besoffenen Trommlern und keine rechte Mus-
kete darunter, kein Hauptmann, kein QuartierbiUet ... ins
Hinterglied gedrängt, die unsterblichen mitten drunter?
Alles wahr, aber die Unsterblichen sind eine seltene Rekruten-
aushebung der Menschheit und Carlyle, der sich wie ein
Eönig-ohne-Land geberdete, ward doch bald genug mit
gläubigem Lailla-il- Allah aus den Reihen heraus und auf die
Schultern gehoben. Die schönen Künste sind heut ,,after-
dinner-amusements, slave adjuncts to cookeries, upholsteries,
tailories and otber Goarse Arts^^? Jawohl und doch ver-
fehmt er Byrons Herrscherstolz und preist die züchtige Miss
Muse Tennysons, die als feile Bajadere dem gemästeten
Nabob der Philistergesellschaft vortanzt? Zerfahrenheit und
kein Ende! Er möchte die moderne Gesellschaft zu einer
Art Tibet machen, wo man ,Helden^ zu Dalailamas heran-
züchtet: wahre Helden würden sich bestens dafür bedanken!
Er machte die gleiche Entdeckung wie Swifts Rauflust,
dass die ganze Welt nur ein Kleiderschrank sei: „They held
the universe to be a large suit of clothes'^, vergass nur, dass
auch er selber eine passende Kleidermaske trug, die schwarze
Robe eines Galvin. Darum war er auf Toleranz schlecht
zu sprechen, die nur eine Schwachheit sei. „Jedenfalls,^
12*
— 180 —
führte ihn Jemand ab, ,,hat die Toleranz bewirkt, dass Herr
Carlyle frei predigen kann." Wenn Goethe singt: „Wir
heissen euch hoffen," so kann sein düstrer Aasleger das nur
negativ übersetzen: „Work and despair not! (Arbeite und
verzweifle nicht!"), da ihm immer eine Byronsche „Darkness"
finsterer Verzweiflung naherückt. Nicht so originell, wie er
glauben machen will — seine Gromwellausgrabung hatte
schon Savage Länder ihm vorgemacht — , entbehrte er nicht
nur nicht der Eanzelrhetorik und dazu gehörigen Eomödianten-
art, sondern erklärte selbst in seinen von Froude heraus-
gegebenen Erinnerungen seine berühmten Vorlesungen als
„abscheuliches Gemengsei von Prophetie und Schauspielerei."
Wenn Taine (L' Id6alisme Anglais) meint: „On döcouvre
enfin qu'on est de van t un animal extraordinaire, d^bris d'
une race perdue", so wundert er sich bloss als Franzose:
einem Germanen ist diese deutschenglische Mischrasse von
Fichteanern und Puritanern ganz verständlich. Dagegen
wird im Buch eines Garlylianers („Ein Lebensbild und Gold-
körner aus seinen Werken" von Professor Oswald, 1882)
völlig klar, dass der alte Weise überhaupt nicht mehr wusste^
was er religiös glaubte Darwin wollte er nicht lesen, aber
das Christentum legte er innerlich ab, ohne je etwas Greif-
bares dafür einzusetzen. Er sprach oft als Sozialist, sprach
das tiefe Wort: „Auch der höchste Mensch kann sich vom
niedrigsten nicht losmachen" (Past and Present). Dann
aber schwelgt er wieder in wahrer Verachtung der Massen.
Trotz der edelherzigen Verteidigung seines Privat-
charakters, die Tyndall veröffentlichte, erregte Froudes Ab-
druck der Carlyleschen Gehässigkeiten über seine Freunde,
zehn Jahre lang von Carlyle im Pult verwahrt, gerechten Un-
willen. Der Mann war eben bitter von schlechter Verdauung
und sah die Welt als ein seltsames Mathematikerproblem: „Ge-
geben eine Welt von Schuften, produziere eine Ehrlichkeit!"
Gewiss, seine Worte passen mehr denn je auf die Jetztzeit:
„Verlogenheit hängt schon in der Luft, die wir atmen . . .
Von einer so verderbten Bevölkerung, eifrig nur in niederen
Strebungen und einem Gewerbfleiss, der nur sinnlich und
biberhaft, liegt wenig Gefahr einer menschlichen Begeisterung
vor." Und sehr wahr fragt er in seinem Voltaire-Essay, der
— 181 —
übrigens nicht ganz so „verieumderisch^^ oder einfältig
sich liest, wie Taine behauptet: „War es die öffentliche
Meinung, die Kolumbus nach Amerika trieb ?^^ Aber wenn
er die klotzige Elobigkeit der Miltonschen Eeulenpolemik
nachahmte, so wird man ihm nirgendwo in seinem Lebens-
wandel als einem würdigen, heroischen Nachfolger Miltons
begegnen, den er (Life of Schiller) „moralischen König der
Schriftsteller^^ nennt Und seine boshafte Bemerkung
(Essays YL Walter Scott): „Es bleibt noch eine grosse Ent-
deckung in der Literatur zu machen, nämlich Schriftsteller
nach der Quantität zu bezahlen, die sie nicht schreiben^^
trifft ihn selber mit Diesem griesgrämigen Malvolio gegen-
über brennt uns das trotzige Motto von Byrons Don Juan
auf der Zunge: „Meinst du, weil du tugendhaft bist, es soll
keine Torten mehr geben ?^^ Und der Ingwer, den dies
Shakespearezitat empfiehlt, wäre dem Magenkatarrh eines
Jeremias ungemein heilsam gewesen, dem Dispepsie „wie
eine Ratte in der Magenhöhle nagte". Sein Pamphlet
„Shooting Niagara'^ nennt er selbst „ungekämmt^
Ja freilich: „Liebe kann nicht durch Quittungen erkauft
werden und ohne Liebe können Menschen das Zusammen-
sein nicht ertragen," aber wem fehlte Menschenliebe mehr,
als dem Verfasser des Swift nachahmenden Schweinekatalogs
mit dem grässlichen Spott: „Wer erschuf das Schwein?
Unbekannt, vielleicht der Schweineschlächter?" Und was
erschuf Carlyles Werk? Ein geistiges Sodbrennen.
--^^i^ —
Der zemssenB Orphons: Maid Wagner.
„Sollte das deutsche Volk am falschen Golde des
Nibelungenringes einmal wahren Gefallen finden, so wäre
es durch diese blosse Tatsache ausgestrichen aus der Reihe
der Kunstvölker.^' Also schrieb einer der bekanntesten
deutschen Kritiker noch 1876. Heute muss umgekehrt
jeder, der an Wagner nicht etwa kein Gefallen findet,
sondern nur gegen masslosen Kultus sich auflehnt, sich
gefallen lassen, aus der Reihe der Kritiker, ja der Gebildeten
ausgestrichen zu werden* Ein so erbitterter Kampf um
Anerkennung hat selten mit einem so jähen Umschlag eines
Welttriumphes geendet Wenn aber menschliche Beschränkt-
heit und Parteilichkeit es fertig brachten, einen so unbe-
zweifelbar Genialen dreissig Jahre lang als einen halbver-
rückten Stümper zu verlachen und zwar angesichts von
Werken wie ,,Tannhäuser" und „Lohengrin", die nicht einmal
wie Wagners spätere bedeutendste Schöpfungen dem üblichen
Kanon musikalischer Ästhetik schrofif zuwiderhandelten,
dann wird man mit Fug auch gegen grenzenlose Yer-
bimmelung misstrauisch werden. Ungerecht und masslos,
kindisch und unreif in all ihrem Dichten und Trachten von
Jugend auf, wissen die Menschen nie die Mitte der Wahr-
heit innezuhalten. Nichts entscheidet bei ihnen als subjek-
tiver Eigennutz, den sie aus dem Leben auch auf die Kunst
übertragen. Wagners geniale Erscheinung störte die mittel-
mässig weichliche Kunstversimpelung bis zum letzten Viertel
des Jahrhunderts, sein wirklicher völliger Sieg fiel unmittel-
bar mit der grossen literarischen Reformbewegung des so-
genannten Realismus zusammen, der in Wahrheit nur
— 188 —
revolutionäre Auflehnung gegen die akademische veilchen-
blaue Schönheitsduselei gewesen ist. So fern daher Wagners
romantische Stoffe dem äusseren Schein der literarischen
Moderne zu liegen scheinen, darf man getrost seinen Triumph
mit dem Siegeszug der neuen Literatur in Verbindung
bringen.
Dies Leben und Wirken ist so reich, strotzt so üppig
von saftigem Tatendrang, dass es schwer fällt, das eigentliche
Leitmotiv darin herauszuhören. Doch ein solches besteht
und es bezeichnet den aufs Äusserliche gerichteten Sinn des
herrlichen Reklamejahrhunderts, dass dieser Endzweck ein
wesentlich praktischer war, nämlich die Festspiel-Idee.
Wagner hatte die Wirkung des Theaterdusels auf die Sinne
der Menschheit vollbegriffen, da die rein sinnlich veranlagte,
dem Denken abholde und reingeistiger Versenkung unzu-
gängliche Masse nur durch Veranschaulichung der Bühne
einen angeblich tiefsten Kunsteindruck empfängt. Dass dies
auf Täuschung beruht, dass im Gegenteil im grellen Lampen-
licht und unterm hypnotisierenden Einfluss einer von
Schweiss und Parfüm geschwängerten Zuschauermenge alle
Eindrücke sich vergröbern, alle Feinheiten sich verwischen,
Oedanke und Oefühl verloren gehen, das Dichterwort im
leeren Raum verpufft und einzig die grobmassive „Hand-
lung" eine Sensation der Sinne und Nerven in Schwingungen
setzt, weiss jeder Wissende, jeder vornehmer Empfindende.
Ein solcher meidet die Theater wie Stätten des Grauens,
der Kunstverpöbelung, wie Jahrmarktsbuden für grosse
Kinder und schaulustigen Pöbel. Kein Shakespearekenner
lässt sich dazu herbei, mitanzusehen, wie Ewigkeitstragödien
des Briten auf der Bühne entweiht werden durch das öde
Gebrüll und Posieren geistloser Histrionen. Immer mehr
bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass bei unseren heutigen
Zuständen das wahre Drama grossen Styls überhaupt nicht
auf die Bühne gehört, dass es wohl eine dramatische
Dichtung in Buchform, nicht aber eine Bühnendichtung
im Sinne heutiger Banausen geben kann. Fast möchte man
frohlocken, dass in England und Amerika diese Bretter, die
nicht die Welt bedeuten, ehrlich und offen auf jede Kunst
verzichten und nur noch Vergnügungsfabrikate geschäftlich
— 184 —
rertreiben. Solche reinliche Scheidung, welche leider
unsrer deutschen Bildungsheuchelei widerstrebt, suchte
nun Wagner auf einem anderen Wege herbeizuführen. Da
unsere stehenden Bühnen sich als völlig unzulänglich er-
wiesen, Kunst um ihrer selbst willen zu üben, wollte
er mit eigenen SeparataufTührungen sauber und deutlich
künstlerische Absichten herausbringen. Es gelang ihm dies
freilich nur teilweise, indem er sich genötigt sah, nach dem
anfänglichen Bayreuther Misserfolg seine Nibelungenopern
den ständigen Theatern preiszugeben. Doch mit so stolzer
ünerbittlichkeit behielt er seine Verachtung der zünftigen
Eunstbetreibung bei, dass er wenigstens seine ernsteste
Schöpfung, seinen Schwanensang „ParsifaP', ausschliesslich
der Bayreuther Festspielbühne gewahrt wissen wollte. Be-
kanntlich ward ihm selbst hierin heut eine Strich durch
die Rechnung, gemacht Die Deutschen in ihrer tiefen
Pietätlosigkeit und Respektlosigkeit gegen reingeistige
Orössen. die sich nicht mit staatlichmonarchischem Nimbus
umgeben können, beachten nicht einmal den letzten Willen
eines grossen Toten, dessen Leben ihrem Nationaldünkel zu
bleibender Nahrung diente. Über dies letztwillige Ver-
mächtnis kann ein Zweifel durchaus nicht bestehen, denn
1880 hat Wagner wiederholt schriftlich und öffentlich sich
ein Monopol des „Parsifal^^ für alle Zukunft vorbehalten,
dessen alleinige Aufführung in Bayreuth zugleich finanziell
ermöglichen sollte, die früheren Musikdramen für Bayreuth
zurückzugewinnen. Wie Wagner den ,,Parsifal" ein Bühnen-
weihfestspiel betittelte, so wollte er all seine Erzeugnisse
von einer besonderen Weihe umgeben wissen. Sehr schön
kommt dies in einem Briefe an Liszt schon 1832 zum Aus-
druck: „Grosse Städte mit ihrem Publikum sind für mich
gar nicht mehr vorbanden. Ich kann mir unter meiner Zu-
hörerschaft nur eine Versammlung von Freunden denken,
die zum Zwecke des Bekanntwerdens mit meinem Werke
eigens irgendwo zusammen kommen, am liebsten in irgend
einer schönen Einöde, fern von dem Qualm- und Industrie-
pestgeruch unserer städtischen Zivilisation.^^ Das zeugt ge-
wiss von hoher Einsicht in das wahre Wesen künstlerischer
Erlebnisse und ihrer Vermittelung an eine gebildete und
— 185 —
teilweise entsprechend geschulte Menge. Und wem erfüllt
es nicht mit Bewunderung, dass ein solches, allen mate-
riellen Verhältnissen des ebenso grossen wahnsinnigen wie
ideal- und bildungslosen Jahrhunderts hohnsprechendes
Ideal durch unermüdliche, zähe Tatkraft verwirklicht werden
konnte! Lob und Preis verdient es nicht minder, dass die
merkwürdige und in gewissem Sinne genialische Gattin
Cosima mit heiliger Treue das Vermächtnis und Erbe des
gewaltigen Toten antrat und ganz in seinem Geiste ver-
waltete, hegte und pflegte.
Wagners Genialität anpreisen wollen, hiesse nach dem
lateinischen Sprichwort den Herkules loben, den niemand
tadelt. Doch nochmals: wenn so unleugbare Herkuleskraft
gleichwohl so lange Zeit mit Hohn und Hass bestritten
werden durfte von Leuten, die sich für berufenste Eunst-
richter hielten, so drängt sich der misstrauische Zweifel auf,
ob solcher Blindheit nicht auch umgekehrt masslose Ver-
blendung des Gegenteils entsprechen könne. Denn beachten
wir wohl, dass die Wagnergemeinde, sei sie klein wie im
Anfang, sei sie weltweit wie heute, den Meister zu einem
Gotte erhöht, der eigentlich erst das letzte Wort der Kunst
gesprochen habe, ihn gleichsam zum Mass aller Dinge nimmt.
Was er so richtig und schön für das Theater angeregt,
worin sein Wahn Frieden fand, das soll im Grunde nur für
ihn gelten. Wie das Parsifal-Monopol für Bayreuth, soll ge-
wissermassen ein Wagner-Monopol für die Gestaltung der
Kunst gegründet werden. Wenn die Goethepedanten mit
Goethes Tode einen Strich und ein Punktum unter die
Literatur setzten, als ob jenseits Goethe eine Weiterent-
wicklung nicht mehr möglich sei, so lacht man schon heute
darüber. Was aber die Wagnerianer wähnen, geht noch
viel weiter. Hier handelt es sich nicht mehr um die Poesie
des Wortes allein, sondern um Poesie und Kunst schlecht-
weg, welche ganz und gar im Kultus des Musikdramas
gipfeln sollen, derart dass sich alle Künste mehr oder minder
in den Dienst der tonangebenden Musik stellen. Gegen solch
schamlosen Unfug der Musiknarren, an welchem Wagner
selber keineswegs unschuldig war, müssen wir uns als gegen
einen Auswuchs tiefster Unbildung aufs schärfste wenden.
— 186 —
Wagner war nicht nur einer der geistvollsten Menschen,
die je gelebt — auch seine polemisch-theoretischen Schriften
und Briefe, obschon mehr im Gehalt als in formaler Dar-
legung bedeutend, legen davon unwiderlegliches Zeugnis
ab — , nicht nur ein idealer Ringer und Kämpfer von
athletischen Kräften, sondern er übersprudelte auch so reich
Ton unerschöpflicher Schöpferlust, dass man ihn förmlich als
Sinnbild des Oenius und seines Erdenwallens betrachten
kann. Seine Bedeutung wuchs weit über blosses Kunst-
vollbringen hinaus, er wurde ein grossartiger Anreger und
innerer Reformator des gesamten deutschen Geisteslebens,
das er auf allen Gebieten mit eigentümlich neuer tatkräftiger
Idealität befruchtete. Was ihn aber den Deutschen beson-
ders ehrwürdig machen sollte und was ihn unter die höch-
sten, wo nicht gar an die Spitze aller, deutschen Heroen
stellt, das ist sein begeistertes Streben, in sich den deut-
schen Genius darzustellen, nicht nur durch und durch
genial, sondern auch durch und durch deutsch zu sein. Das
Metaphysisch- Lyrische des Deutschen, das Idealistische und
doch sinnlich Gewalttätige des allgemeinen germanischen
Rassegenius vermählte sich in seinen Werken, einer gedank-
lichen Doppelmischung von „Tristan'' und „Parsifal". Das
altgermanisohe Barbaren- und Berserkertum kam in den
„Nibelungen" zum Durchbruch, das humorvolle Gemüt und
der Reiz der bürgerlichen Renaissance in den „Meister-
singern", das christlich - mystische schwermütige Natur-
empfinden schon im „Tannhäuser", kurz alles, was deutsche
Alt von Siegfiied bis Luther ausmachte, tönte aus seinen
Musikdichtungen vernehmlich hervor. An dieser Grenze
aber endet Wagners Mitgehen, seine Poesie bleibt nicht
nur stofflich, sondern auch formal und gedanklich eine sagen-
hafte Spätromantik, von dem eigentlichen Wesen der Neu-
zeit losgelöst Was man von allgemeiner Philosophie in
seine Werke hineinlegt oder was wirklich beabsichtigter-
massen darin steckte, erhebt sich zu vaguen Verall-
gemeinerungen und oft genug fragt man sich nach Nam'
und Art dieses fremdartigen Schwanenritters. Der angeb-
liche Tiefsinn, den man hier aus Tonwellen und aus unklaren
Worten heraushören will, ist hohler Schall. Und dass er
— 187 —
Schopenhauers Pseudobuddhismus und willensverneinende'
Philosophasterei auf Germanisches, ja Altgermanisches auf-
pfropfte, ergibt einen unerquicklichen Wirrwarr heterogener
Bestandteile. Wotan und Brunhilde in altgermanischer
Heldenreligion hatten weit eher mit Nietzsche als mit
Schopenhauer zu schafifen, und als Nietzsche sich über den
„Parsifal^^ als eine Umkehr zu christlicher Mystik erboste,
zeigte er nur seine eigene Stillosigkeit. da Wagner hier zum^
ersten Mal eine logisch stilvolle Schlussnote seiner mystischen*
Romantik fand, während das von Nietzsche kaum beanstan-
dete frühere Schopenhauern sogar das Deutschgefühl Wagner»
beeinträchtigte. Brahma und Schleier der Maja gehören
nicht zum Wotan, der sein Methorn säuft, nicht zu Tristans
sehr irdischer Ritterminne. Siegfried und Hagen des Nibe-
lungenlieds sind unvergleichlich wahrere und noblere Ge-
stalten, als Wagners skandinavisch - indische Missgeburten.
Betrachten wir Wagners grossartige Erscheinung lediglich
von weitem wie einen Berggipfel in verschwommenen Um-
rissen, so überschätzen wir seine steile und zerklüftete Grösse.
Erst bei näherem Eingehen werden uns Dimensionen und
Konturen klarer, schrumpfen dann aber auch wesentlich zu-
sammen. Einen typischen Vertreter des Jahrhunderts erkennen
wir weniger im Künstler als im Menschen Wagner. Sein
allgemeiner Geistesschwung und seine Sehnsucht nach den
höchsten Zielen reihen ihn freilich schon an und für sich
unter die grossen Menschheits Vertreter ein, die sozusagen
das persönliche Signalement eines Jahrhunderts entbehren
können. Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir ihn ohne
Weiteres für den Grössten des letzten Jahrhunderts, seinen
einzigen dauernd Unsterblichen halten. Unter diesem Ge-
sichtspunkt müssten wir ihn als den Gipfel der neuen Zeit
betrachten, mit ihm als Krönung des Gebäudes schliessen.
Denn Keinem, der innerhalb des neunzehnten Jahrhunderts
sein Ende fand, eignete so umfassende Idealität und Grösse
der Konzeption. Anders aber wechselt der Massstab, sobald
wir seine Ausdrucksmittel und die fixe Idee in Betracht
ziehen, dass sein Musikdrama die höchste Verklärung der
Kunst bedeuten soll. Hier wurde die Grösse zum Grössen^
wahn, die Kraft zur Überspannung.
— 188 —
Dass Wagner sich mit solcher Inbrunst Schopenhauer
zuwandte, hat ausser leicht durchsichtigen inneren Gründen
noch den subjektivischen Anlass, dass dieser Sophist dem
Orössenwahn der Musiker einen bedeutenden Vorsprung
8chafin:e. In seiner Ästhetik nämlich, worin er sehr glücklich
auseinandersetzt, dass nur das (wahre) Eunstweik aus der
Welt des Scheins in das Kantsche Ding-an-sich hinüberleite,
indem es nicht an der Erscheinung selber hafte, sondern die
(Platonischen) Ewigen Ideen verkörpere, stellt er das un-
geheuerliche Paradoxon auf: die Musik sei die höchste der
Künste, da sie zwar nicht Ideen darstellt, sondern selbst
Idee sei! Vollständige Musik sage in Tönen, was voll-
kommenste Philosophie nur in Worten erklären könne. Was
soll nun dieser Gallimathias bedeuten? Wenn Musik eine
tönende Weltidee wäre, so müsste sie notwendigerweise
alle Vorgänge der Vorsteliungswelt wiedertönen. Das ist
aber ein Unding, da sich ihr die ganze wichtigste Seite der
Seelenschilderung, nämlich psychologische Charakteristik,
notwendigerweise entzieht Das Komische vermag sie nur
schwach, das Hässliche nur durch gräuliche Disharmonien
anzudeuten, durch übelklingende Aufschreie eines Tönestreits,
der sich zwar zuletzt in Wohlklang auflösen soll, aber dem
Wesen der Musik widerspricht, das in letztem Grunde es nur
auf einen wohlklingenden Ohrenschmaus abgesehen hat
Natürlich fehlte es nicht an Musiknarren, die derlei Ent-
gleisungen Schopenhauerscher Originalitätssucht mit heiligem
Ernste aufgriffen und metaphysische ürgesetze der Melodik
aufstellten. Ein gewisser Kurt May nahm daher auch
Wagners anmassenden Wahn ernst, dass seine Nibelungen-
musikdramen ,,Anfang und Ende der Welt bedeuten^'. Das
Orchestervorspiel stelle die Entwicklung des Chaos bis zum
Hervorbringen des Menschen dar. Derlei Scherze sind nicht
neu. Die sogenannte Programm musik ist reich an ihnen,
Ulibischeff hat aus Mozarts und Beethovens Musikstücken
•die fabelhaftesten Gedanken und Handlungen herausgelesen.
Man kann sich das verblüffte Gesicht des naiven Mozart
vorstellen, wenn er derlei Schwatz über seine angeblichen
Ideen hätte lesen können, falls sein niedriger Bildungsstand
ihm überhaupt das Lesen solchen Buches gestattet hätte.
— 189 —
Derlei Redereien erinnern an die Überschwänglichkeit
mystischer Kirchenmythen, eine wahre Mythologie der
Musik. Aufsteigende Melodik bedeutet Werden und Willens-
bejahung, absteigende hingegen Vergehen und Willens-
vemeinung? Ach, wie schön! Das würde grade die grenzen-
lose seelische Armut der Musik bedeuten. Denn die echte
Willensverneinung ist ja kein „Vergehen", sondern ein
Entstehen des höheren Menschen (des wahren Übermenschen)
und heischt daher alles eher als „absteigende" Melodik ! Da
die Musik aber eine ganz primitive und kindliche Kunst
ist, ward ihr eben nicht gegeben, andere als die einfachsten
Seelenzustände nachzutönen, nämlich die Leidenschaften oder
einen Rausch von Freude („seid umschlungen, Millionen")
oder Seufzer tiefer Melancholie, niemals aber verwickelte
psychologische Prozesse und gar tiefe Gedankengänge. Auf-
und absteigende Melodik soll den unbewussten Individual-
willen, ab- und aufsteigende Melodik das bewusste Wollen,
das Erkennen, bedeuten? Das ist doch gar zu lächerlich.
Mit gleichem Tiefsinn könnte man dekretieren, dass Adagio
das Säuseln der Kinderseele oder jungfräuliche Brautgefühle,
Andante das reife Alter, Pianissimo den Schöpfungsmorgen
und Fortissimo die Götterdämmerung bedeute. Nächstens
werden auch die Bildenden Künstier sich melden und er-
klären, dass jedes Gemälde einen Kursus der Philosophie
darstelle, dass in jedem greinenden Bauern, dem ein Zahn
gezogen wird, das unendliche Weltweh zu plastischer Symbolik
kommt, und was dergleichen Scherze mehr sind. Natürlich
wird jeder Fachmusiker, von solchen unmusikalischen Themen
wie Philosophie und Bildung weltenfern, verdutzt dazu den
Kopf schütteln. Derlei Phantasieen über die Gesetzmässig-
keit chromatischer Tonleitern oder melodische Polaritäten
von Dur und Moll schliessen übrigens, ohne es zu wollen,
das Geständnis ein, dass die Musik auf Mechanik beruht^
dass der Organismus einer Tonschöpfung mehr oder minder
nur auf einen Mechanismus hinausläuft. Und in der Tat
wohnt ja der Musik und der „gefrorenen Musik", wie man
ganz geistreich die Architektur benannte, nahe Verwandt-
schaft mit der zahlenmässig mechanischesten Wissenschaft
inne: der Mathematik. Mit einem seiner unbewussten Selbst-
— 190 —
"Widersprüche wies gerade Schopenhauer an andrer Stelle lang
und breit nach, dass der geniale und freischöpferische Geist
immer Widerwillen gegen und Unfähigkeit zur Mathematik
bekunde.
Wie wenig aber Schopenhauer verdient, als Wegweiser
^u dienen, wie in seiner Dialektik fortwährend die Begriffe
sich verwirren und widersprechen, haben wir früher dar-
gelegt Das Gesicht sei der Sinn des Verstandes, das Gehör
der Sinn der Vernunft? Er weiss also gar nicht, dass das
Oenie keineswegs einem inneren Hören, sondern einem
inneren Sehen gleicht, weshalb der Sprachgebrauch den
Propheten und Dichter tiefsinnig „Seher" nennt, obschon
•er doch nichts real Sichtbares „sieht^ Die Sprache denkt
also richtiger und metaphysischer als dieser Philosoph. Man
sagt wohl auch bildlich: er hört auf die innere Stimme,
meint aber hier ausschliesslich mit „Stimme^' die begriffliche
Vorstellung der Vernunftmahnung. Die Vermittlung der
Sprache ist etwas rein Begriffliches, ein lautes Denken, was
mit dem Gehör an sich garnichts zu schaffen hat Das liegt
ja offen zu Tage, da eine Welt von Taubstummen sich
-schriftlich genau so gründlich, vermutlich nur klarer und
besonnener, unterhalten könnte wie mündlich, das Gehör
nur die Möglichkeit unüberlegten Geschwätzes hinzufügt
(Deshalb heisst Logos gleichzeitig Wort und Denken.) Dem
Dichter dient daher die Sprache nur als Handwerkszeug wie
dem bildenden Künstler Farbe und Stein, und sein ünter-
-schied vom mittelbaren Vorstellen der Gewöhnlichen besteht
eben darin, dass er seine Ideen und Empfindungen als Ge-
stalten und Bilder plastisch sieht Dies ist sogar das erste
Erfordernis wirklichen Genies. Denn die Einbildungskraft,
aller Fähigkeiten oberste, als Verknüpfung von Sinnlichkeit
und Verstand und sozusagen göttlichen Wesens als un-
mittelbares Anschauen der Vernunft, ist selbst ein
Gesicht. Man sagt daher „er hat Gesichte", nicht: er
hat Gehöre, und Buddha bezeichnet die Initiierung als
.„Schauung". Das innere Gesicht speist sich gerade aus
dem fessellosen Manas, indes die Musik an den blossen
Verstand, nämlich Zahl und Zeitmass, sich untrennbar
bindet.
— 191 -
Und siehe da, man höre Schopenhauer: „Daher wirken
Töne störend und feindlich auf den Geist ein, und
zwar um so mehr, je tätiger und entwickelter dieser
ist; sie zerreissen alle Gedanken, zerrütten momentan die
Denkkraft . . . Demzufolge lebt der denkende Geist mit
dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem
Krieg.'' Diese sehr richtige Einsicht führt er mit rücksichts-
loser Schärfe durch, weist sogar darauf hin, dass geheilte
Taubstummen den ersten Ton mit Abscheu, geheilte Blinde
das erste Licht mit Entzücken wahrnehmen. Und was
folgert aus seiner richtigen Definition, dass Sehen aktiv,
Hören passiv sei? Alles Passive gehört eben zum bloss
Organischen, Unvernünftigen, und alle Vernunftäusserungen
sind eminent aktiv. Deshalb — nicht aber mit seiner un-
klaren Begründung — , zitiert er auch mit Recht Bichats
Behauptung: das Wort sei die Sprache des Verstandes, der
Gesang diejenige der Leidenschafton, des organischen Lebens.
Wie reimt sich nun dies Alles mit dem hochtrabenden Ge-
salbader über die Musik zusammen?
Ist der Wille aktiv oder passiv? Ist er aktiv, dann
gehört ihm also die Funktion des Sehens und wäre dem-
nach diese laut Schopenhauers System das Primäre, Ur-
sprüngliche. Ist er hingegen passiv-unfrei, wie wir meta-
physisch annehmen — natürlich im Gegensatz zum empi-
rischen Schein, an den sich gerade Schopenhauer hier
klammert — , dann allerdings gehört ihm die Musik. Dann
aber wäre diese angeblich unmittelbarste Kunst so gerade
Ausdruck des Willens-zum-Leben, den man laut Schopen-
hauer fliehen und brechen soll. Und siehe da, er ist sich
dieser Selbstüberführung so bewusst, dass er sein Kapitel
über die angebliche Metaphysik der Musik mit dem Be-
denken schliesst: man möge nicht Anstoss daran nehmen,
dass nach seiner Darstellung diese erhabene Kunst doch
nur dem Willen zum Leben schmeichele und seine
Befriedigung freudig bejahe! Den Teufel auch, daran sollen
wir nicht Anstoss nehmen, wenn wir sein System ernst
nehmen? Also der Wille ist verwerflich, die Musik
ist sein Ausdruck, und doch ist sie „die Sprache der
Vernunft"?!
— 192 -
Da man ferner die Architektur gefrorene Musik nennt, so
kann sie wohl kaum „die beschränkteste und schwächste"^,
wenn die Musik ,.die ausgedehnteste und wirksamste aller
Eünste"^ sein, sintemal beide auf dem Zahlenmässigen
beruhen, wie er selber ausführt! Wenn er Kant dessen
Geschmack an symmetrischer Architektonik der Begrifie
Ubcl auslegt, könnte er ebensogut Beethoven die Archi-
tektonik seiner Symphonien zum Vorwurf machen. Da
musikalischer und architektonischer Sinn sich fast immer
zusammenfinden, werden die für Architektur Begeisterten,
überhaupt alle Kunstverständigen und auch die wenigen
gebildeten Musiker lange Gesichter schneiden, wenn solch
eine Banause, der die Gothik für Barbarei erklärt, mass-
gebendes Orakel sein soll.
Wahrlich, ein Schopenhauers würdiger Einfall, die Ideen-
losigkeit der Musik selber für eine Idee zu erklären! Diese
tönende Weltseele hat ausserdem den seltsamen Geschmack,
sich in den leersten denkunfähigsten Schädeln zu konzen-
trieren. Mit wenigen seltenen Ausnahmen bezeichnen die
Musiker den äussersten Tiefstand der Bildung. Dumm wie
ein Tenor, sagt man sprüchwörtlich und könnte zufügen:
unfähig, ein gebildetes Gespräch zu führen, wie ein Musiker.
Diese Kinder (aber keine gutartigen) stehen auf so primi-
tiver Vernunftstufe, dass alles, was nicht ihre „Kunst"
(Handwerk) berührt ihnen eine terra incognita bleibt. Das
könnte nun auch bei anderen vorkommen und der klägliche
Bücherwurm, der eine Monographie über einen hohlen Zahn
des König Ramses für eine Geistestat hält, betrachtet ja
gleichfalls das ausser seiner sogenannten Wissenschaft
Liegende als nicht vorhanden. Aber eine so naive Selbst-
gefälligkeit wie bei Musikanten, in wuseligcm Dusel einer
Tönewelt dahinträumend, findet man nicht mal bei Anfängern
der Naturwissenschaft. Wie also eine Weltidee in Köpfen
wiedertönen solK die kaum fähig sind, auch nur den
banalsten Gedanken nachzudenken, wissen die Götter. Man
kann kein Schriftsteller, geschweige denn ein Dichter sein,
ohne sich ein gewisses Mass von Bildung anzueignen und
selbständig zu denken. Auch bei den bildenden Künstlern
leigt sich im allgemeinen ein lebhaftes geistiges Streben.
— 193 —
die Neigung, sich literarisch anregen ^u lassen. Unzählige
Musiker haben nie ein ernstes Buch gelesen, der richtige
Liederkomponist fasst das Suchen nach Texten als notwen-
diges Übel auf, sintemal das Lied ja höchstens Lebens-
berechtigung dadurch gewinnt, dass man es in Musik setzen
kann. Man sollte denken, dass der zweifellos musi-
kalische Rhythmus des Verses den Musiker anlocken müsste,
doch selbst hierzu ist er meist zu blöd. Die Vor-
stellung, dass banalste Nullitäten Inhaber einer angeblich
so göttlichen Kunst sein könnten, scheint so absurd, dass man
eben nur folgern kann, es werde mit der tönenden Welt-
seele wohl nichts auf sich haben. Doch man möchte noch
einwenden, dass diese angebliche „Idee^\ Musik genannt,
sich allerdings nicht in hochentwickelten Gehirnen beherberge,
dafür aber ein besonders schönes und edles Oemütsleben
erfordere. Auch dies erweist sich erfahrungsgemäss als
falsch. Mit vereinzelten Ausnahmen wie Liszt, wahrschein-
lich auch Beethoven und Bach, besitzen die Musiker gemein-
hin eine so kümmerliche und niedrige Ethik der Lebens-
haltung, dass leider in dieser Beziehung auch der ausnahms-
weise geistesgrosse Richard Wagner keine rühmliche Aus-
nahme bildet. Von der angeblichen Veredelung und
Reinigung des Gemüts durch Musikmachen spürt man blut-
wenig bei Musikbeflissenen, die sich im Gegenteil meist
durch naiv skrupellosen Egoismus, klobige Sinnlichkeit und
Geldgier, kurz durch alle nur möglichen unidealen Instinkte
auszeichnen. Man komme uns also nicht mit der abstrakten
Idealität der Musik, denn an ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen.
Wenn Shakespeare den Menschen verpönt, „der nicht
Musik hat in sich selbst^\ so meint er damit jene innere
Musik, von der auch Byron singt, sie lebe überall: „Wenn
nur die Herzen immer offen wären, das All ist nur ein
Widerhall der Sphären.^' Diese herrliche wahre Musik, im
weitesten Sinne Poesie genannt, ist unhörbar und reingeistig,
daher nur in den Ergüssen des Dichtersehers vertonbar, bei
dessen Rhythmen das ergriffene Herz innerlich diese über-
irdischen Klänge hört Mit der lauten Musik aber hat sie
80 wenig gemein, dass sie oft nur von jener erstickt wird.
Bleibtrea: Die Vertreter des Jahrhunderts. ] 3
— 194 —
„Schlechte Menschen haben keine Lieder^'? Wie sehr spricht
die Erfahrung dagegen! Nicht nur die Dümmsten, sondern
auch die Schlechtesten schwelgen in musikalischen Genüssen
und die Popularität der Musik vor allen andern Künsten
hätte doch Schopenhauer stutzig machen sollen. Er, der so
weit geht, schon Oeselligkeit für Anzeichen von Hohlköpfig-
keit auszugeben, musste sich doch fragen, was das für eine
Kunst sein könne, die so leicht zum Gemeingut der grösst-
möglichen Menge wird. Die kindliche Anmassung der
Musikmacher, die mit stierer Gleichgültigkeit auf alles Nicht-
Musikalische herunterglotzen, ward ja freilich durch den
Salonschwindel und besonders das leidige Weibervolk genährt
Sehr treffend belehrt uns hier Max Nordau als Frauenarzt,
dass die Musik (und besonders die Wagnersche) auf die
sexualen Genitalien des Femininums kitzelnd wirke und
heimliche Wollust hervorbringe. Hier stehen wir der Lösung
sofort gegenüber : Musik knüpft weder ans Reingeistige (Ge-
danken) noch ans Gemüt (ethisches Gefühl), sondern an
die Nerven und Sinne an, das niedere Triebleben der
Leidenschaften, vermittelt durch Nervensensation. Dann
begreift sich leicht, warum diese „höchste^' Kunst (der Tanz-
kunst verwandt, wo sie nicht obendrein als blosser Ohren-
schmaus — sehr bezeichnende Wendung des Sprach-
gebrauchs — sich der Kochkunst nähert) so populär ans
Allgemeinmenschliche appelliert und dem Verständnis der
Dümmsten, Ungebildetsten, Schlechtesten so naheliegt
Über das Musikalisch - Schöne schreibt ein Professor
Hand: „Und wäre es nur die Melodie eines Tanzes — ist
sie schön, so beflügelt sie mehr als die Füsse^^ Ganz recht,
nämlich Sinne und Nerven! „Auch in ihr schwingt sich die
Seele empor''. ja, in welcher Weise die IVeude am
Schönen im Ballsaal sich emporschwingt, das möge ein
Cyniker erläutern! Wir erlassen uns das Weitere, begrüssen
aber solchen Hinweis aufs Schwingen des Tanzbeins und
den Seelenschwung eines Wiener Walzers mit wahrer Be-
friedigung. Erstlich als klassischen Beleg für die Dreistig-
keit der Musiknarren, dem sinnlichsten Nervenreiz Rein-
geistiges unterzuschieben, zweitens als allgemeinen Masstab
der Musikwirkung. Denn unumstössliches Gesetz will, dass
— 195 —
Ausübung der gleichen Mittel, sei sie auch äusserlich in der
Anwendung verschieden, immer das gleiche Ergebnis liefert
und im Grunde auch stets den gleichen Zweck verfolgt. Es
besteht also zwischen einem Strauss'schen Walzer und einer
Wagnerschen Ouvertüre lediglich ein gradueller Unterschied,
ihre Mittel erreichen genau das Nämliche: Aufreizung der
Nerven und Aufwühlung der Sinne, beim ei-steren zu
gemeinstsinnlichen Zwecken, bei letzterer zu versteckt sinn-
lichen Antrieben. Der seelische Aufschwung und die Ge-
mütserregung, die wir dabei zu empfinden glauben und die
uns betäubt oder berauscht in hohe Seelenferne zu entführen
scheint, beruht auf vollkommener Täuschung der Sinnen-
vorstellung. Dass die Musik, wie jeder Pathologe weiss, bei
den Frauen auf die Sexualorgane wirkt, gibt hier den
richtigen Fingerzeig. Freilich verfährt Schopenhauer dog-
matisch logisch, wenn er im Bann seines philosophischen
Vorurteils die Musik preist. Denn allerdings wirkt sie am
stärksten aufs rein Organische und dieses als „Wille" wäre
ja laut Schopenhauer das Wesentlichste. Seine Willkür, welche
das Gehirnleben im Gegensatz hierzu als das sekundäre
Animalische auffasst, verführt ihn zu neuen Widersprüchen,
insofern die „Vernunft", deren Sprache laut Schopenhauer die
Musik sein solle, dann mit zum Organischen gehören müsste!
Wir erklären daher kurz und bündig, dass die
Musik, welche wirklich die Sprache der Vernunft ist, mit
der rohen Musik der aufs Trommelfell äusserlich wirken-
den Töne so wenig gemein hat, wie das Sprechen oder
Schreiben an sich mit der ,4angue des dieux'', der Dichtung.
Diese unhörbare Musik, welche das Weltall durchzieht und
deren Sphärenharmonien in menschlichen Sinnen und Nerven
nicht wahrgenommen, lebt in der Seele, der höheren Ver-
nunft. Ihrem inneren Schwingen verdankt man den Rhyt-
mus der gebundenen Rede als einer Beflügelung nicht nur
des Wortklangs, sondern einer feineren inneren Aus-
schmückung des Gedankens selber. Diese Musik appelliert
ausschliesslich an das Gehirn, an Vernunft der Seele und
Seele der Vernunft. Diese Musik ist die Sprache des
Transzendentalen und ünbewussten, losgelöst vom Reich der
Sinne, deren sie nicht bedarf. Das angenehme Entzücken
13*
— 196 —
aber, das wir dem instrumentalen Wohllaut verdanken, unter-
scheidet sich in nichts von dem schmatzenden Behagen des
Feinschmeckers, der ein Gericht mit der Zunge prtift
„So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch
gegen Musik verteidigen, die zudringlichste aller Künste'^
(siehe unten auch Kants gleiche Prädikatbestimmung),
schreibt sogar der musiktolle Nietzsche an Brandes.
Die Malerei, welche doch auch an sinnlichen Eindruck
des Auges sich zu wenden scheint, bleibt schon unendlich
exklusiver. Denn ein grosser Teil der Menschheit ist gradezu
färben- und formenblind im künstlerischen Sinne, die gräss-
lichen Farben eines Ruppiner Bilderbogens oder die schauder-
haftesten Verzeichnungen flössen ihr keinen Abscheu, das
Colorit Tizians und die Vatikanischen Fresken kein ehrliches
Entzücken ein und von sogenannter Erziehung des Auges
zur Anschauung der Kunst hält kein Vernünftiger etwas:
das malerisch sehende Auge muss mit unserm Gehirn ge-
boren werden, sonst fruchtet alles nichts. Eine wohllaut-
volle Musik als ein Lustgefühl zu empfinden, ward hingegen
so gut wie allen physisch Normalen gegeben. Wenn nun
trotzdem manche hochbegabten und vortrefflichen Menschen
die Musikmacberei nur als lästiges Geräusch auffassen und
sich ihr möglichst zu entziehen suchen, so beweist grade
dies, dass es sich bloss um physischen Defekt dabei handelt,
dass demnach Musikverständnis weder von Beschaffenheit
des Geistes noch des Gemütes, sondern des Ohres und der
Nerven abhängt Weil diese so bodenlos anmassende und
selbstgefällige Kunst eben im Banal-Menschlichen wurzelt,
findet der Humbug, sie sei etwas besonders ideales, gedanken-
und gemütreiches, auch so allgemeinen Anklang. Der Dümm-
ling wie der Schuft sagen sich begeistert: anch' io sono
pittore, auch ich bin Musikschwärmer, also bin ich weder
dumm noch gemein, sondern ideal, gedanken- und gemütvoll.
Zu den idealsten Musikgenüsslingen gehören die Börsen-
gauner und ihre fetten Gattinnen, deren Busen und noch
andre Dinge bei den Brunstschreien des Wagnerschen
Orchesters verständnisinnig wackeln. So begreift sich auch,
warum die Musikmacberei als täglicher Bestandteil des
Kulturlebens zu gemeinschädlicher Seuche werden durfte.
— 197 —
Denn zur dilettantischesten Pinselei, zum albernsten Blau-
strumpfgeschmier gehört immer noch ein Fünkchen von
Besonderkeit, eine ferne Ahnung von Talent. Man kann
nicht nach der Natur malen ohne Anspannung geistiger
Sehkraft, geschweige denn aus der Phantasie etwas Bild-
nerisches komponieren. Der schlechteste Vers und die
schluderigste Novellette erfordern ein gewisses geistiges
Streben und Empfinden. Musikmachen aber kann der albernste
Wicht, die dümmste Gans, falls sie nur durch Fleiss eine
gewisse Fertigkeit erwirbt. Dass diese lärmendste und des-
halb pöbelhafteste — pöbelhaft und populär sollte der gleiche
Sprachbegriff sein! — Eunstübung nun auch noch bei
Millionen Dilettanten einen Abglanz der unersättlichen Yir-
tuoseneitelkeit ausbildet, weil man nur mit Musik seine
Nebenmenschen direkt belästigen darf, gehört mit zu den
Segnungen des Musiklebens. „Eine zudringliche Eunst^',
sagte Eant, und was Eant einmal über die Unzulässigkeit
klagt, mit mathematischen Formeln der Metaphysik aus-
kommen zu wollen, dürfte wohl auch im Folgenden auf die
Musik anwendbar sein. Dass dieser Eult erst in unserm ge-
priesenen Yerstandesjahrhundert sich verbreiten konnte, will
uns kein Zufall bedünken.
Wir betonten zwar, dass die Musik mit dem Geist,
also auch mit dem Verstände schlechtweg, nichts zu
schaffen habe. Aber dies darf nicht wörtlich, sondern nur
so verstanden werden, dass diese rein im Reiche Sansaraß,
der Sinnlichkeit, webende Eunst mit dem höheren Yer-
nunftverstande nichts gemein habe, welchen „Manas^^
brahmanische Lehre sehr genau vom niederen Verstände
unterscheidet, der im materiellen Eama-Bupa weilt und von
Banausen auch „praktischer Verstand^' genannt wird.
Dieser Verstand des Rechnens und Ealkulierens kann
sich zu einer gewissen Abstraktion entwickeln, die man
Mathematik nennt, für welche insbesondere die Semiten sich
beanlagt zeigen, so dass sogar deren Geheimlehre (Eabbala) auf
der Zahl beruht Solch rabbinisch-rabulistische Ausbildung des
niederen, nicht veranschaulichenden und nicht schöpferischen,
Verstandes, welche Schopenhauer bereits an der Mathematik
verwarf, färbt aber auch auf die Musik ab. Mathematik
— 198 —
in Tonwellen ! Teilung einer Oktave in mehrere symmetrische
Abstände ergibt harte Differenzen: überall das Mechanische
als ausschlaggebender Faktor. Wer die Geheimnisse des
Kontrapunkts erforschte, weiss, dass auch diese wohllautende
Eabbala sich auf den Gesetzen der Zahl aufbaut. Während Musik-
übung also erfahrungsgemäss weder durch Oeist noch Gemüt
bedingt wird, sondern durch Nervenirritation, sind wir nicht
abgeneigt, ihr einen gewissen kalten Verstand des Messens
undZählens, einen einseitig ausgebildeten Kalkulationsinstinkt,
eine pfiffige Gelenkigkeit im Organisieren von ziffermässigen
Worten der Tonleiter zuzusprechen. Unterschiede der
harmonischen und der disharmonischen Intervalle der Töne
werden allein durch ihr Zahlen Verhältnis bestimmt: die Ele-
mente des Schönen sind also hier rein geometrische!
Eine gewisse Übertreibung mag diesen Ausführungen
innewohnen. Man muss eine Wahrheit übertreiben und auf
die Spitze treiben, um sie recht anschaulich zu machen. Es
fällt uns natürlich nicht ein, leugnen zu wollen, dass Beethoven
und Wagner sich bei ihren Tondichtungen sehr viel gedacht
haben mögen, ersterer unklar-spontan, letzterer mit nur zu
absichtlicher Bewusstheit. Nur eben, dass die erstrebte
Gedankenwirkung erreicht wurde, das bestreiten wir durch-
aus. Man kann dem Zauber der Musik als einer an-
genehmen Nervenerregung noch so sehr verfallen sein,
wie wir dies für uns selber bekennen, und sich doch mit
der grössten Entschiedenheit gegen den musikalischen
Grössenwahn wenden, der die Dichtung sozusagen über-
dichten will.
Dass die Tonmalerei gleichsam Sixtinische Fresken oder
Bembrandtsches Halbdunkel nachschaffen, eine neunte
Symphonie den Gedankenschwung eines „Faust" und „Cain"
oder die tragische Gewalt Shakespeares einschliessen soll,
dieser Unfug allein ruft unsem erbitterten Widerspruch her-
vor. Nur das völlig verblödete oder verbildete Gehirn der
Musiksimpel konnte diesen Wahn nähren, nur das gepriesene
Yemunftjahrhundert ihn weiterzüchten, da alle früheren Zeit-
alter die Musik nur nach ihrem wahren beschränkten Werte
abschätzten, nämlich als eine Begleit- und Neben-
erscheinung der Poesie. Erst unserer konfusen Ära blieb
— 199 —
es vorbehalten, die nie bestrittene Höchstgeltung der Dich-
tung von ihrem Thron stossen zu wollen. Die gewaltigen
Malerdichter der Renaissance, wie Michel Angelo, Rafael,
Lionardo, sämtlich selber Dichter oder dichterische Denker,
fassten ihre hohe plastische Yeranschaulichung der Welt-
gestalten niemals als die Krone der Künste auf. Michel
Angelo beugte sich vor Dante, schöpfte erst aus dem Born
der Dichtung die Steigerung seiner bildnerischen Probleme
und Ideale. Und es lohnt, sich zu vergegenwärtigen, welch
glänzende durchgebildete Persönlichkeiten fast alle Meister
der Bildkunst, ob auch nicht so universal angelegt wie jenes
glorreiche Droigestirn, gewesen sind, dass sie sich geistig oft
— Michel Angelo und Denker Lionardo sogar ebenbürtig —
den grossen Dichterdenkern näherten, zu welchen sie
pietätvoll aufschauten. Arrogante Musiker hingegen treffen
wir meist, wie Mathematiker, ausserhalb ihres Be-
rufes als nichtssagend unbedeutende Menschen.
Die widerspruchsvollen Mitteilungen über den anerkannt
Grössten unter ihnen geben durchaus kein Bild einer geistig
und ethisch hochragenden Persönlichkeit und da sollen wir
uns Beethoven als „Riesen'^, „Titanen^^, „Halbgott^^ und sonst
was guts, in Klingers Statue gar als den All umfasser und
Imperator aufbinden lassen. Das haben mit ihrem Singen
die Musik verrückten getan. Man muss nur den Leuten so
lange die Ohren vollschreien, bis einer das aufgeschnappte
Oeschwätz dem anderen suggeriert und jeder des Kaisers
neue Kleider herrlich vorhanden sieht. Das Andersensche
Märchen bleibt ewig neu. Wie soll man nicht Verdacht
gegen eine Kunst, ja sogar deren Alleinherrlichkeit, schöpfen,
die tatsächlich in ihrer heutigen Ausdehnung die jüngste ist
und dem in allem neuschöpferischen achtzehnten Jahrhundert
ihre Entstehung als eigentliche Tondichtung verdankt!
Weder empfanden die Alten ein Bedürfnis nach solcher
Tonkunst, noch die nächstfolgenden Kulturführer, die Araber.
Die höchstzivilisierten Franzosen , die dichtunggewaltigen
Engländer trugen am wenigsten zu dieser Kunstgattung bei :
noch heute gelten sie den Deutschen und Italienern als
minderwertig wegen ihrer geringen Musikbegabung. Aber
die prächtigen Italiener der Renaissance entrieten des Musik-
— 200 —
dusels gerade so sehr wie die Spanier, erst einer Epoche
allgemeinen geistigen, sozialen, sittlichen Niedergangs ent-
sprang die neue Vertonungshysterie in Italien. Die deutsche
Musik entsprosste wesentlich dem geistig völlig brach-
liegenden Sumpfboden des alten Osterreich, während der
hohe Eulturstand des übrigen Deutschland ausschliesslich eine
grosse Literatur hervorbrachte. Alle Symptome deuten darauf
hin, dass die Musikberauschung in genauem Ver-
hältnis zur geistigen und sittlichen Decadence
einer Rasse und einer Epoche steht, dass wir es
in ihr geradezu mit einer Decadencekunst zu tun
haben, wie sie erschöpften Oehirnen, markloser Sinn-
lichkeit, schaffensunmächtigem Versiegen der wahrhaft
genialen Antriebe des Ober-Ichs entspringen. Was an-
geblich in abstrakt transzendentalen Sphärenharmonien
schwelgt, ist nur wollüstig hysterische Nervenextase
des unter- Ichs. Dass der Musikdusel jeden heroischen
Willen lähmt — bei andauernder Anfüllung mit diesem
hohlen Äolusschlauch tritt oft eine gänzliche Ein-
schläferung des Pflichtgefühls ein, wie man bei dreisten
langmähnigen Musikbarden so oft bemerken kann — , leugnet
nicht nur niemand, sondern sucht sogar einen Vorzug darin,
indem man mit weihevollem Jargon gleichsam lallt: Mein
Beich ist nicht von dieser Welt. Bah ! aber von welcher Welt
denn? Ja freilich, wäre Schopenhauers Auffassung der
Willensverneinung nicht eine grundfalsche, so wäre die
Musik auf dem besten Wege zum Heil. Denn während der
Lesende und Schauende ununterbrochen geistig mitarbeitet,
ertrinkt der Wille völlig in der Töneflut. Kaum verklingt
aber der Ton, so endet auch diese Willensaufhebung, ohne
irgendwie den dauernden schlechten Willen zu beeinträchtigen.
Den Pfad zur Willenserhöhung, welche allemal die einzig
erstrebenswerte dauerhafte Verneinung des niederen
Kama-Willens bedeutet, fand noch niemand anders als in
dichterischdenkerischer Selbstversenkung, sei es als Schaffen-
der oder geniessend Nachschaffender, wobei auch theologische
oder theosophische Mystik den gleichen Prozess vorstellt
Eine Förderung zu dieser Erhöhung des Menschen gewährt
die Musik um so weniger, als ihr ephemerer Einfluss
— 201 —
zugleich mit dem Tone selber dahinschwindet, ohne eine tat-
sächliche Bereicherung von Geist und Gemüt dauernd
zurückzulassen und ihre Spuren dem innersten Ethos des
Menschen einzugraben, da nur klares heroisches Denken
und Dichten mit voller Anspannung sämtlicher Geisteskräfte
das mühsame Aufsteigen des Ichs bedingt. Man kann den
Himmel nicht stürmen, nicht auf den Schwingen der Musik
emporfliegen in schädlicher und entnervender Schwärmerei.
Die völlige Wertlosigkeit flüchtiger Willensersäufung in
Töneflut macht um so begreiflicher, dass nur die höhere
heroische Tatkraft — weshalb Plato die Musiker aus seinem
Idealstaat verbannen wollte — durch Musik eingeduselt
wird, keineswegs aber die niedere banausische des schmutzigen
Willens, der vielmehr nach dem kurzen angenehmen Schlaf-
bad des Musikgenusses frischgestärkt neuen Anreiz empfängt
Die Schlauesten gewissenlosesten Rechner, die kältesten
Streber waren allzeit die eifrigsten Musiknarren, und wie
der Ungebildete und der Dumme nach Einsaugung schöner
Töne unverändert der nämliche bleibt wie vorher, so bricht
dies auch dem musikhungrigen Schuft nie im geringsten
den schlechten Willen, indes die wahre Dichtung unwill-
kürlich zur inneren Einkehr zwingt und schon manche
Brechung schlechter Antriebe durch seelische Erschütterung
hervorrief. So hat man das bemerksume Schauspiel, dass
irgend ein Finanzprotz, der höchstens Kochonnerien liest,
über Pariser Zotenkomödien wiehert, gemalte Nuditäten an-
geilt, im Konzertsaal von erhabenen Kunstgenüssen faselt,
und dass, was das Bemerksamste, nicht mal Heuchelei dabei
vorwaltet Denn wer der Dichtung Stimme nicht vernimmt,
also laut Goethe ein seelenloses Tier bleibt, wer unfähig, je
eine höhere Empfindung zu hegen, einen höheren Gedanken
zu fassen, der ist noch gut genug für diese angebliche
tönende Weltseele, die seines stumpfen Kama-Rupa dicke
Epidermis lau umschmeichelt und zu schmatzendem Be-
hagen kitzelt Da wir, Helmholtz physikalischen Entdeckungen
folgend, die Tonwellen sogar unmittelbar mit Elektrizität
geladen glauben, so wird immer klarer, dass die Musik
lediglich, ohne Durchgang durch die Gehimzentren, ans
Nervenbündel pocht und auf rein physische Sensation
— 202 —
hiuausläuft Was wunders also, dass dem borniertesten
Sinnenmenschen das Yerständniss dieser Sinnenkunst so
leicht fällt! Bedenkt man obendrein, dass Musik auf alle
Hysterischen sexual wirkt, so wird man uns wohl nicht
übelnehmen, wenn wir sie der Opium-Extase oder bei
geringeren Anfällen dem Alkoholrausch vergleichen. Be-
kanntlich glaubte die Menschheit noch bis vor kurzem, aus
dem Wein, der des Menschen Herz erfreuet, Begeisterung
zu trinken, was gar vielen Poeten den Untergang brachte.
Heut wissen wir durch unbestreitbare Messungen, dass
selbst massiger Alkoholgenuss, mag er sonst physisch
noch keinen Schaden bringen, im günstigsten Falle die Ge-
hirntätigkeit nicht fördert, meist aber schädigt Wer nimmer
einen Bausch gehabt, der ist kein braver Mann — am Bier-
tisch sind wir alle Ehrenmänner — Wein, Weib und Gesang
fördern besonders die Geselligkeit, welche Schopenhauer als
unfehlbares Merkmal niederer Lebensstufe brandmarkte. Es
gehörte Luthers lüstern bäurische Verwilderung dazu, den
bekannten Vers zu spinnen, den ihm jeder Weise einfach
umkehren könnte: Wer da liebt Wein, Weib und Gesang,
der bleibt ein Narr sein Leben lang. Nur möglichst viel
Quartette ableiern und Klaviere beklimpern, dann werden
versoffene Sangesbrüder sich so dauernd „begeistern'^ bis
jede Möglichkeit männlicher Klarheit und Gharakterkraft
erlischt. Auch darin gleicht der Musikrausch dem des
Alkohols, dass dabei die innerste Natur zum Vorschein
kommt: der eine wird weinerlich, der andere hochgemut, der
dritte sinnlich oder bösartig erregt. Somit berührt Musik
überhaupt nicht den Intellekt, sondern den rudimentären
niederen Triebwillen, wie eben jede physische Sensation.
Das Selbstermuntern des Singens beim Marsche, die An-
feuerung Kämpfender durch kriegerische Musik beruht auf
rein physiologischen Ursachen, die mit dem Seelenleben
nur in losestem Zusammenhang stehen. Auch der unver-
meidlichen Beaktion der Nerven bis zu völliger Erschlaffung
im Katzenjammer entrinnt ein Musikverfallener nicht.
Gewiss würden diesbezügliche Experimente dartun,
dass Musik- und Alkoholrausch genau die nämlichen Be-
dingungen und Folgeerscheinungen im Nervenorganismus
— 203 -
auslösen. Nie ist nur ein tausendstel so viel Musik gemacht
worden, wie in diesem Materialismusversunkenen, jeden
nachhaltigen Ernst scheuenden Jahrhundert, zu schwach, den
niedern Willen zu verneinen, zu feige, ihn rücksichtslos zu
bejahen. Für derlei dämmerige Zwitterzustände passt freilich
dies Musikdudeln zwischen Traum und Wachen.
Das Zetergeschrei über unsere Barbarei wird sich wohl
massigen müssen angesichts der überraschenden Erkenntnis,
dass Wagner, in welchem doch der Musikgrössenwahn seine
Krise erreichte, selbst so wenig von der alleingenügenden
Ausdrucksfähigkeit der Töne durchdrungen war. Denn wozu
hätte er sonst sich als Dichter auftun, seine eigenen Opern-
texte schreiben müssen! Er hielt also doch das Dichterwort
für unentbehrlich, und man muss es ihm lassen, dass er
wirklich wurde, was die „Tondichter" gerne sein möchten:
ein Dichter und Denker. Freilich die Kunst der Bede be-
herrschte er nicht, und dass er ein Meister des sprachlichen
Wohllauts gewesen sei, werden selbst blinde Anhänger kaum
behaupten. Derlei fand sich noch im „Fliegenden Holländer^^
und im „Tannhäuser^^ aber je weiter seine Auffassung des
Musikdramas um sich greift, desto rücksichtsloser misshandelt
er die Sprache. Seine Nibelungenstabreime schwanken
günstigstenfalls zwischen Erhabenem und Lächerlichem, wo
er nicht geradezu Sprachungetüme fortwälzte, und im „Par-
sifal" notzüchtigte er die deutsche Grammatik in grässlich
verkapselten Sätzen. Allerdings rechtfertigte er sich damit,
dass ihm das Wort nur ein Notbehelf sei, um seiner Musik-
handlung einen Sinn zu geben, dass nur ergänzende Yor-
mählang von Wort und Melodik den wahren höchsten Aus-
druck verbürge. Dies war insofern bequem, als er die Ver-
ächter seiner Dichtkunst an seine Musik und die Feinde
seiner Musik an seine Dichtkunst verweisen konnte. Doch
dieser Spott hebt nicht auf, dass er in der Konzeption wahr-
lich ein echter und, wenn Orösse der Anschauung und der
Probleme darauf Anwartschaft gibt, ein grosser Dichter war.
Das Wollen des Mannes war riesenhaft; ob sein Können
auf gleicher Stufe stand, darüber sind die Meinungen noch
immer nicht ganz geklärt, ungeteilt jedoch die Anerkennung
seines dämonischen Oenius. „Tristan und Isolde" kann sogar
— 204 —
ohne Musik als sieghaftes Zeugnis seiner genialen Auffassung
von Welt und Dingen, „Die Meistersinger^^ als Probe seines
vielseitigen Reichtums gelten. Auch müssen wir den
Wagnerianern in einer wichtigsten Hauptsache entgegen-
kommen. Wagners Opern überzeugen uns nämlich, dass
die Musik tatsächlich die sinnliche und äussere Dramatik,
den elementem Ausdruck der Leidenschaften ungeheuer
steigert und hiermit wäre, wenn man nur diese eine Seite
und im Drama nichts als Toben der Leidenschaften sehen
wollte, das Musikdrama voll gerechtfertigt Allein, man
braucht gar nicht mal so weit zu gehen wie Tolstoy („Was
ist Kunst?^^), der alle Opern und ganz besonders die
Wagnerschen für ein Unding erklärt, jedem unverfälschten
Empfinden unerträglich — und wird sich doch dem pein-
lichen Eindruck des gekünstelt Unnatürlichen nicht ent-
ziehen, selbst wenn man sich der rein ästhetischen Totalität
des Lyrodramas willig hingibt. Da die Musik den breitesten
Baum beansprucht und alles überwuchert, bleibt für Hand-
lung und rednerischen Ausdruck nicht Platz genug, erstere
muss daher einfach und eintönig, letzterer mager und be-
schränkt bleiben. Feinere Verwickelung der inneren und
äusseren Vorgänge fällt daher ebenso fort wie tiefere
Motivierung, Verknüpfung von Schuld und Sühne, indi-
viduelle Charakterisierung der Personen, die nur in
Umrissen schraffiert vor uns stehen. Hierdurch be-
kommen Menschen und Vorgänge etwas Halbfertiges,
Primitives, wie aus Urzeiten, nicht umsonst spann sich
Wagner ausschliesslich in Sagenkreise ein. Mit Händen und
Füssen würde er sich gegen die Bezeichnung „Lyrodrama^
sträuben, er glaubte vielmehr wirkliche Dramatik und zwar
einer nie dagewesenen höchsten Gattung zu liefern. Über
solche Selbsttäuschung kann man nur lächeln. Diese plump-
naiven Vorgänge, nur im Sagengewande denkbar, lösen über-
haupt keine menschliche Dramatik aus, statt widerstreitenden
Bedens und Handelns wirklicher Menschen stehen vor uns
Schemen, die einander mit lyrischen Gedichten ansingen.
Arien sind keine Psychologie, langatmige Leidenschafts-
schaftsergüsse kein Gharakterdrama. Den sprachlichen Wohl-
laut lyrischer Dramen (Faust, Manfred, Eain, Shelleys
— 205 —
Entfesselter Prometheus) mag immerhin Musik ersetzen, meta-
physischen Gedankengehalt aber, der jenem Wohllaut erst Un-
sterblichkeitverleiht, suchtWagner umsonst durch musikalische
Orgien hervorzuzaubern. Schopenhauersche Doktrinen mit
dem hohen C der menschlichen Kehle und schmetternden
Blasinstrumenten lehren zu wollen, ist ein unmögliches
Unterfangen, das nur musikbenebelten wuseligen Gehirnen
imponiert, unfähig, sowohl abstrakte Philosophie als denke-
rische Dichtung zu begreifen. Ja sogar die Leidenschaften
selber, deren niedere Willensbezeugung doch die Musik
besonders kräftig austönen soll, haben nichts Wirkliches
mehr, man hört gleichsam nur abstrakte Symbole von Leiden-
schaften ihr Lied lallen. Mit der Klarheit und Wirklichkeit
geht aber auch der erstrebte Tiefsinn verloren; ein konfuses
Chaos, das weder Philosophie noch Dichtung ist, wühlt sich
in diesem reichhaltigen Orchester auf. Wir möchten daher
die Ketzerei aussprechen, dass Wagners Musikdrama nur mit
Umkehrung seiner Wertmassstäbe eine segensreiche Fort-
entwicklung grossstilisierter Dramatik herbeiführen könne.
Nicht die Musik hat die Dichtung ins Schlepptau zu nehmen,
was nur in unverständiger Anmassung wurzelt, sondern die
Dichtung soll sich der Beihilfe dieses Nervenmotors ver-
sichern. Als eine Begleitung der Dichtung, ähnlich der
Schumannmusik zum Manfred, bei allen lyrischen oder
dramatisch leidenschaftlichen Hochmomenten einsetzend, kann
die Musik den sinnlichen Eindruck der Dichtung steigern
und umrahmend hervorheben.
Über Wagners Erdenwallen als Privatmensch sagten
wir bisher kein Wort Berührung dieser Wunde muss auch
solchen peinlich sein, die sich von aller Moralfexerei des
Philisteriums und zumal einem solchen Manne gegenüber
lossagen. Doch Wagners Verfehlungen verstiessen auch
gegen die höhere Moral, seine Ehebrüche waren wirkliche
Treubrüche, seine Freundschaften fasste er als Ausbeutungs-
rechte auf. Einer seiner ergebensten Bewunderer, Hans
Herrig, sagte uns einmal ironisch: Ein Werk sei uns der
Meister noch schuldig, eine instruktive Anleitung zum
Pumpen. Eitelkeit und Genusssucht vereinigten sich in ihm
zu schrankenloser Selbstsucht und wie ein Nietschescher
— 206 —
Übermensch raste seia Ich sich aas, als fülle Er allein die
Erde. In seinem Verhältnis zu Ludwig von Bayern erscheint
letzterer bei weitem als die idealere Natur, ganz zerflossen in
selbstloser Hingebung. Allein ein solcher Mann hat mancherlei
mildernde Umstände anzuführen. Erstlich darf er trotzig
erklären, sein Genius schenke der Welt so viel, dass er ihre
eigene Opferwilligkeit mit Fug und Recht heische, zumal von
seinen näheren Freunden und Anhängern. Diese Ausrede
ist zwar insofern hinfällig, als das Genie zu seiner eigenen
Selbstbefreiung im Selbstgenusse schafft, also weder eines
Lohnes noch eines Dankes bedarf. Aber zweitens durfte
Wagner darauf verweisen, dass er noch als Fünfzigjähriger
nach schon gewaltigen Leistungen nicht wusste, wo er sein
Haupt hinlegen sollte, dass er demnach reichlichen Grund
zu verbitterter Menschenverachtung hatte und einer so lieb-
los ungerechten Welt gegenüber seine Selbstsucht nur eine
Art wiedervergeltender Selbstbehauptung abgab. Zwar
müsste er drittens umgekehrt eingestehen, dass er anderer-
seits wie wenige Andere die Möglichkeit idealer Zuneigung
und Grossmut kennen gelernt und schier Unglaubliches von
treuester Freundschaft und begeisterter Hingabe genossen
habe, von Männern und Frauen. Wahrhaftig, seine Freunde
konnten ihm nichts versagen, nicht mal ihre — Frauen,
sie brachten sich ihm selbst zum Opfer. Etwas Er-
hebenderes als Liszts Vasallentum kannten sie nicht Aber
Wagner könnte hier eben mit einem gewissen Gynismus
versichern, dass er auch hierin die Menschheit förderte,
sintemal sein grosses Ich geringeren Menschen solche
Ich Verneinung entlockte, die vielleicht sonst in ihnen un-
betätigt geschlummert hätte: liszt, diese Zierde des Menschen-
geschlechts, gehört in seiner makellosen Yornehmheit un-
trennbar zu seinem Meister. Yiertens endlich fühlen wir
uns so fest durchdrungen davon, dass schöpferische Geistes-
grösse ohne ein starkes Ethos undenkbar sei, dass wir alle
Schlacken Wagners, obschon zahlreicher und hässlicher wie
bei den meisten seines Banges, immer nur für Oberfläche,
sein Innerstes hingegen für dennoch stark ethisch halten.
So verrät z. B. seine Absicht, Stipendien für Unbemittelte
zu stiften, damit ihnen „Bayreuth^^ zugänglich werde, eine
— 207 —
bessere Oesinnung. Nietzsche hat zwar über den Fall
Wagner mit dem Hammer philosophiert und ihn koketter
Schauspielerei bezichtigt Wir haben aber kein Hebammen-
organ für die Gebart der Tragödie Nietzsche und möchten
dieser Fehlgeburt in nichts ein Geburtshelfer sein, also auch
nicht seine Wagner-Apostasie vertreten, in welcher unser
schlechtes Herz nur den wachsenden Neid des Unproduktiyen
auf den Produktiven wittert. Und zuguterletzt schwinden
alle Bedenken gegen Wagners persönliche Unreinheit in der
Bewunderung einer so zähen Heldenkraft dahin, die eine
völlig widerstrebende Welt sich zu Füssen zwang. Das
kleine unscheinbare Männchen mit dem sächselnden Dialekt
ging wie ein Cäsar Triumphator aus dem Leben dahin und
Annunzio hat („Fuoco'^) durchaus wahr die extatische
Apotheose veranschaulicht, in welcher der „Meister" von
hinnen schied. Dies Niederringen der Weltbestie, die so
viele Geniale zerfleischte und verschlang, erklärt auch den
eigenen Baubtierinstinkt des Tigers und gereicht als
demütigende Bache für alle Verkannten zur Genugtuung.
Doch der Sieg ward erworben mit schweren Eriegskosten,
mit Einbusse an ethischer Würde. Wer so das Seine sucht,
dem erschliesst sich nicht das Allgefühl.
Dieser grösste Geist, der je ausserhalb reinen Dichter-
tums in Künsten wirkte, täuscht keinen Durchdringer des
dämonischen Phänomens über sein krampfhaft Unnatür-
liches weg. Beim Überblicken seines Hin und Her zwischen
brünstigen ,Naturalismus' — ein Wörtchen, was gemeinhin
Abwendung von der Natur zu bedeuten pflegt — und
Karfreitagszauber wird man die Empfindung nicht los,
dass dies alles nicht innerem Erleben, sondern äusserlicher
und sozusagen von aussen angemachter Anregung seine
Entstehung verdankt
Als Denker schwankte Wagner zwischen Schopenhauer
und Feuerbach, ohne sieh recht schlüssig zu werden, wie
alle in blossen technischen Kunstkultus Eingespooneuen.
Wirklieh bedeutend wird er nur dort, wo er Metaphysik
der Geschlechtsliebe betreibt, wo es insbesondere dem
Problem Parsifal-Kundr}' an geheimnisvollem Tiefsinn nicht
fehlt. Dagegen fällt uns die Phrase im Tristan: ,.im weiten
— 208 —
Reich der Weliennacht nur ein Wissen dort uns eigen:
göttlich-ewiges ürvergessen^^ unangenehm ins Ohr. Der
Esoteriker erkennt hier wieder die Schopenhauersche Ent-
stellung des Nirwanabegriffs, der im Gegenteil ein ewiges
Urerinnern verbürgt Dass er sich das Jenseits als um-
fassendes Erinnern vorstelle, bekannte auch ein von Schopen-
hauer selbst nicht unbeeinflusst gebliebener neuerer Denker
wie Fechner („Zendavesta'^). Dessen herrliche Worte lassen
freilich noch keinen ausdrücklichen Wiedergeburtsglauben
zu, scheinen wenigstens die Präexistenz zu bestreiten; hin-
gegen lehrt Fechner rundweg, dass der Mensch sich erst
mit dem Tode völlig wiedergewinnen werde, wie er sich
selber nie im Leben hatte. „Der Tod ist eine zweite Ge-
burt^' Die Geburt eines Jenseits lassen aber Tristans und
Siegfrieds Tod uns durchaus nicht ahnen und den plötz-
lichen Sprung zur Farsifalmystik, den Weg vom Tannhäuser-
motiv zur Gralserlösung über den Nibelungenring hinüber,
begleitet kein zusammenhaltendes verständliches Leitmotiv.
Wagners Darstellung des Germanentums als einer mystischen
Urbestialität verknüpft sich mit keiner idealmetaphysischen
Willensverneinung, sondern höchstens mit düsterem Schopen-
hauerlichem Pessimismus über die Flüchtigkeit der Lust, sie
verneint nichts als die Beständigkeit des Macht- und Lust-
genusses und schwingt sich nicht heroisch, sondern bloss
ingrimmig über die allgemeine Vernichtung auf.
Sehr schön äussert R. Eucken („Wahrheitsgehalt der
Religion^^ 1901): ,,Alles geistige Leben ist Erhebung über
die Zeit, Überwindung der Zeit Was immer an geistigen
Werten entfaltet wird, trägt in sich den Anspruch, ohne
alle Beziehung zur Zeit ... zu gelten'^ Diesen Anspruch
erhob Wagners Kunst gewiss, aber es hing sich ihr viel
Zeitmässiges als Bleigewicht an die Füsse. Eine sittliche
Freiheit wird selten erkennbar, dafür lagert ein auf die
Spitze getriebener Determinismus über diesen Wotansträumen.
„Das grösste Gut, das Gott uns schuf, war des Willens
Freiheit^^ schwärmt der alte Dante (Paradiso V) und laut
Kant hat der Mensch seinen bewussten Charakter nicht von
Natur, sondern erworben. (Ganz recht, durchs Earma, wovon
Kant nur ahnte.) Heut aber besteht der richtig verstandene
— 209 —
Determinismus schon so schroff auf seinem Recht, dass
Chamberlain kurz und bündig sagt: „Das liberum arbitrium
ist entschieden eine semitische Yorstellung^^, was dem
scharfen Antisemiten Kant einen semitischen Anstrich geben
würde, wenn er' Willensfreiheit im irdischen Sinne gelehrt
hätte. Es muss aber von uns immer wieder betont werden,
dass Unklarheiten und Verwechselungen der „transzenden-
talen Freiheit^^ nicht möglich gewesen wären, wenn Eant
die indische Mystik gekannt hätte. Allerdings bleibt der
Mensch, „aus dem der jenseitige Geist kommt'^ (Chamber-
lain), unter allen Einwirkungen etwas Individuelles; gerade
diese Unveränderlichkeit der scharf umrissenen Individualität
beweist aber, dass Willensfreiheit, also Fähigkeit zur Selbst-
veränderung, ihr nur auf transzendentalem Gebiete zusteht.
Mit einem Worte, nur das transzendentale Ego ist frei (ob-
schon selbst hier ans Kausale gefesselt), das reale hiesige
Ego hat eigentlich gar keinen Willen. Schopenhauer ver-
wechselt fortwährend Wille und Trieb, wodurch eine neue
Begriffsstutzigkeit in die Welt gesetzt wurde. Auch wir mussten
die Terminologie ,yerneinung des Willens^ beibehalten, weil
sie unausrottbar sich einwurzelte, machen aber darauf auf-
merksam, dass der ganze scheinbare Widerspruch dieses Aus-
drucks, womit ja auch Nietzsche triumphierend jongliert, sich
sofort löst, sobald wir obige Verwechslung aufheben.
Dass der natürliche Wille-zum-Leben sich selber verneinen
könne, isteinlogischerNonsens,derinkeinemindischen, sondern
nur in Schopenhauers verschrobenem Hirn entstand. Wohl
aber kann der Wille, nämlich der transzendentale Wille, den
Naturtrieb und die Natur selber verneinen. Der Wille ist eigent-
lich durchaus ideal, antinaturell, deshalb lässt sich Nietzsches
Ausdruck ,Wille zur Macht , sofern unter Macht etwas Geistiges
verstanden werden kann, besser rechtfertigen, als das sinnlose
,Wille zum Leben\ was im weitesten Sinne einfach ,Trieb zur
Lust^ bedeuten soll. Der Wille sucht immer einen bestimmten
Wert, der Trieb immer nur ganz allgemein die Lust
In Wagners Gedankendichtung handelt kein heroischer
Wille, sondern alle Triebe tanzen einen dämonischen Cancan.
Eine sittliche Idee mögen seine Apologeten sich darin zu-
rechtlegen, wir erkennen nur darwinisch zuchtwahligen
Bleibtreu: Die Vertreter des Jahiiiondertg. 14
— 210 —
ünzachtrausch and jede mögliche triebhafte Machtbegierde
mit obligatem Katzenjammer eines verzweifelten Ausblicks
ins Nichts. Natürlich wird man den Parsifal entgegenhalten.
Allein, wir fürchten, dass Nietzsche mit dem unheimlichen
Spürsinn der Irren für Verstellung und Komödianten, worin
sie ja selber Meister sind, diese Bekehrung Wagners auf
seine alten Tage zu christlicher Frömmigkeit ganz richtig
als blosse künstlerische Pose auffasste. Das selbstgefällige
Histrionentum einer weihevollen Kunstheuchelei erscheint in
Wagner so augenfällig, dass selbst sein Antisemitentum nicht
von dem Vorwurf freiblieb, starke jüdische Zöge in ihm
selber überkleistern zu wollen. Gewiss suchte er eifrig
danach, das eigentlich Arische künstlerisch herauszuarbeiten.
Er forschte gleichsam, wie Taylors ,,Origin of the Aryans"
nach dem äusseren Ursprung, nach dem inneren Keim
unserer Rasse. In einer wenig bekannten Musikauslegung
„Beethoven et ses trois styles" von W. de Lenz (Peters-
burg 1832) fanden wir bedeutsamen Aufschluss. Die Juden
wü&sten nur „d' aqu6rir des facilites m6caniques • . .
Les psalmodies de la Synagogue sont des types qu'on
retrouve dans la musique de Mendelssohn.^^ Nun wohl,
Wagner schmetterte das Verdikt heraus: „Der Jude ist der
plastische Dämon des Verfalles der Menschheit.^^ Aber selbst
ein Wagner-Vergötterer wie 0. Weininger muss zugeben
(„Geschlecht und Charakter", S. 408), dass er „von einem
Beisatz von Judentum selbst in seiner Kunst nicht freizu-
sprechen" sei. Etwas Aufdringliches, Lautes, Unvornehmes
durchzieht Wagners gesamte persönliche Lebenshaltung wie
seine Instrumentierung. Er, der aufs Theater schimpfte und
jedes Judentum der Presse und Kunstgescbäfte, hatte nichts
nötiger als Theater und Reklame. Er schuf sich förmlich als
musikalisches Hauptorgan eine gewaltige Lärmposaune, um
die Mauern von Jericho umzublasen. Dieses genialen Menschen
Oenuss- und Ruhmsucht stanken nach eitler Schauspielerei.
So berechtigt daher künstlerisch der Wagnerkult auch
sein mag, in tieferen geistigen Bezügen unterscheidet er
sich kaum vom Nietzscheschwindel Mögen die Wagner-
gläubigen bedenken, dass nicht der Parsifal, sondern gerade
der Nibelungenring und der fälschlich als Sinnlichkeitsorgie
— 211 —
der freien Liebe missverstandene Tristan so suggestive Ge-
walt über die Masse übten, weil die darin unverkennbare
dämonisch wüste Bejahung der Lust ihrem eigenen rohen
Triebleben entgegenkam. Wir können uns daher den
traurigen Eindruck nicht ersparen, dass auch Wagners Genius
dem verwerflichen AntiChristentum des Zeitalters angehörteund
ihm naturgemäss schmeichelte, weil Genius und Zeitgenossen
hier von gleichen Trieben gereizt. Zwischen Heiden- und
Christentum, Hörselberg und Gralsburg unklar hin und her
taumeld, suchte eben auch Wagner jenes dritte Reich,
von dem Ibsen Apostata ahnungsvoll munkelt. Aber die
Juliane täuschen sich, es gibt gar kein drittes Reich. Es
gibt nur zwei in alle Ewigkeit. Das eine Reich des Glaubens
an die Unsterblichkeit ethischer Güter nennt der Europäer
in Ermangelung eines anderen Namens: das christliche. Ihm
gehören Päpste wie Philosophen, Cäsaren wie Revolutionäre
an, Gregor VII neben Giordano, Luther neben Keppler,
Napoleon neben Robespierre, Friedrich der Grosse neben
Milton, Crom well neben Kant; auch wohnt hier Goethes
besseres Ober-Ich. Das andere Reich des heidnischen Anti-
christs erhebt die Doppelversinnlichung des sinnlichen
Menschenteils zur Weltreligion und baut dem Unglauben an
unsinnliche Werte einen Eunsttempel der Sinnenlust, die
sich hier Schönheit nennt. Dort stecken diverse Strausse
in Feuersnot den Kopf in den Sand, damit man ihrer
Frivolität gierige Hälse nicht sehe. Dort ladet der Priapus
als pompejanisches Emblem ins Allerheiligste der Fleisches-
emanzipation; Astarte Wollust, Moloch Gewalt, des Mammon
goldenes Kalb werden angebetet unter allerlei verschleiern-
den Namen, auf deren Erfindung besonders Nietzsche ein Patent
besass. Hier wohnt Goethes schlechteres Ünter-Ich mit dem
heidnischen Hosenlatz, hier eine Anzahl von Nietzschekrüppeln
und vom Geiste Freien, die sich Freigeister nennen, von After-
künstlern des Tart pour Tart, von geistigen Genüsslingen und
idiotischen Säuen, hier thront die Moderne unseres braven Jahr-
hunderts. Und wir fürchten, auch Wagner opferte hier heimlich
an gleichen Altären und phantasierte von Vermählung des
Christen- und Heidentums. Aber es gibt kein drittes Reich!
^••'^
14*
Lonis der Kleine und Hogo der Biossa
Am 20. Dezember 1848 erschien in der Konstituierenden
Versammlung ein junger Mensch mit grosser Nase und
kleinem Auge, von ängstlicher und unsicherer Haltung, der
eine schreiende Unähnlichkeit mit dem Gewaltigen zur Schau
trug, dessen Neffe er zu sein behauptete. Dieser Herkunft
gedachte man nicht ohne stilles medisantes Lächeln. Denn
sein sogenannter Vater Louis von Holland hatte vor ganz
Europa die Bolle eines Hahnreih gespielt und seine Mutter
Hortense war eine so galante Dame, dass Napoleon ihr aus
dem Feldlager 1807 die gröbsten väterlichen Strafbriefe
schrieb, die beiläufig allein genügen, die gehässige Fabel zu
entkräften, er habe mit dieser Stieftochter in unerlaubtem
Verhältnis gestanden. Ob Oraf Flahaut oder Admiral Verhuel,
beide zur Zeit der Geburt Napoleons IIL Liebhaber Hortenses,
die Ehre solcher Vaterschaft geniessen, blieb ungewiss.
Der bleiche und schwächlich aussehende Napoleonide
leistete den Eid: „In Gegenwart Gottes und vor dem fran-
zösischen Volke schwöre ich der demokratischen einen und
unteilbaren Bepublik treu zu bleiben und alle Pflichten zu
erfüllen, welche die Verfassung mir auferlegt^^ Nachher las
der neue Präsident der Bepublik eine Bede vom Blatte ab,
worin er feierlich betont: ,,Meine Pflicht ist vorgezeichnet
Ich werde sie erfüllen als Mann von Ehre. Ich werde Feinde
des Vaterlandes in allen sehen, die ungesetzlich zu ändern
suchen, was ganz Frankreich errichtet hat/^ Der Abenteurer
hatte allerlei dumme Streiche hinter sich. Mit den Carbonari-
revolten heimlich vertraut, versuchte er 1836 den Handstreich
von Strassburg, den Bürgerkönig durch den blossen Lärm
— 213 —
des Namens Bonaparte zu stürzen. Er nahm die Bei^adigang
an in einem kriechend demütigen Briefe, emigrierte nach
Amerika, von da nach der Schweiz, wo er sich zum
Artillerieleutnannt ernennen liess, aber schon 1840 seine
unheilbare Putsch- Krankheit, eine Art moralischer Epilepsie,
in Boulogne austobte. Diesmal rottete ihn nicht der Fluch
der Lächerlichkeit, der sich an sein Taschenspielerstückchen
mit dem lebendigen Adler heftete, welches napoleonische
Emblem sich grossartig auf seinen speckhaltigen Hut nieder-
senken sollte. Zu lebenslänglicher Haft in Ham yerurteilt,
schrieb er humanitäre Bücher über ,,die Ausmerzung des
Pauperismus^^ „Analyse der Zuckerfrage^\ ,.Napoleoni8che
Ideen^^ Schon 1832 erklärte er sich in der Broschüre
„Politische Träumereien^^ für einen echten Republikaner.
1846 entfloh er mit Hülfe seiner Maitresse Miss Howard
nach England und schwadronierte, durch die Februar*
roTolution aus seinem Exil nach Paris berufen, von Freiheit
und Fortschritt Natürlich betonte er auch seine Yer-^
wand tschaft mit der Schlacht von Austerlitz und war bei-
läufig ein Kenner der Artillerie, über welche er ein brauch-
bares Buch Teröffentlicht hatte. Er philosophierte vor sich
hin wie ein Besessener mit einer fixen Idee. Unter un-
scheinbarem Äussern und schüchternem Wesen, das ihn
oberflächlichen Beurteilem als halben Idioten erscheinen
liess, verbarg er masslosen Ehrgeiz und tiefe Perfidie.
DerPräfekt Graf Durkheim-Montmartin durchschaute ihn in
Ham und richtete Warnbriefe an Guizot, der ihn auslachte.
Louis' grösstes Talent bestand in vielsagendem Schweigen.
Doch als Mustertyp eines Glücksritters und Intriganten, gab er
sich kaum die Mühe, vor Freunden seine humanitäre Maske
zu bewahren. Sein Buch über den Pauperismus schickte er
einem Freunde mit der Frage, ob ihm dies wohl nützen
könne (ä me faire du bien). Sein Verhalten vor dem Staats-
streich war eines Borgia würdig. Er stellte sich tot, indem
er das Gift für den Tod der andern präparierte. Wenn er
den Mund öffnete, log er gewiss. Diese Methode blieb ihm
bis zuletzt, bis nach Chislehurst hinein. Sein politisches
System war die Überrumpelung. Seine Kriege sogar kamen
unerwartet „Mein sanfter Hartkopf ^ nannte ihn seine Mutter,
— 214 —
80 blieb er sein Lebenlang: katzenpfotig im Auftreten und
unerscliütterlich zähe im Festhalten seiner Vorsätze. Seine
falschen Diebsschlüssel und Einbrecherinstrumente feilte er
in sorgsamer Heimlichkeit Und dann kam er wie der Dieb
in der Nacht Sozusagen von einem Tag zum andern ward
die Fregatte „Konstitution" in „Elysöe" umgetauft, ehe
noch die Republik sich zum Empire der Tuilerien um-
wandelte. Seine Heuchelei könnte Tartuffe erröten machen.
Im November 1848 versicherte sein Manifest: ,Jch
lege meine Ehre zum Pfände, meinem Nachfolger nach
vier Jahren die Freiheit intakt und wirklichen Fortschritt
vollendet zu hinterlassen." Juli 1849 bei Einweihung einer
Eisenbahnlinie schlug er angesichts der Festung Ham, wo
er früher fem von Madrid über seinen Stern nachdachte,
einen rührenden Biedermeierton an, beschuldigte sich selber
freventlichen Aufruhrs „gegen die Gesetze seines Vater-
landes". Vierzehn Tage vor dem Staatsstreich, dessen Ein-
zelheiten schon feststanden, drückte er bewegt einem De-
putierten beide Hände: „Sie wenigstens halten mich für keinen
Schuft", weil dieser Dummkopf an die Möglichkeit solcher
Gedanken nicht glauben wollte. Stets behielt er als Richt-
schnur, was er in einem Aufsatz „Historische Fragmente" in
Ham geskribelt: „Grosse Unternehmungen gelingen selten
auf den ersten Streich."
Gradezu symbolisch wirkt die versuchte Verführung
eines Grenadiers Geoffroy beim Boulogner Abenteuer: „Der
Sergent trug eine Weinflasche für mich, der Offizier einen
blanken Degen." Zuckerbrot oder Peitsche, Bestechung oder
mörderischer Überfall — versetzt solch anmutiger Zug nicht
in die Zeiten der Borgia? „Ich bin Napoleon", geruhte Louis
einen Voltigeur anzureden, „Du wirst dekoriert und befördert
werden." Zu einem andern : „Ich bin der Napoleonssohn.
Wir werden zusammen im Hotel du Nord dinieren." Zu
allen: „Ihr werdet gut bezahlt werden." Dem Major Mesonan
schreibt er unverfroren, er möge General Magnan mit
100000 Franks bestechen, eventuell auch mit 300000. Und
er wusste sehr wohl, was er tat Denn Magnan, der damals
sich natürlich über die Frechheit des Abenteuers entrüstete,
verkaufte sich später dem Präsidenten Bonaparte in
— 216 —
Paris. Nur der Preis war etwas liöher. Er kannte seine
Menschen.
Aber mitten im kühlsten Gynismus die Träumerei^ die fixe
Idee: „Ich bin Napoleon^^ oder mindestens ,,sein Sohn'S Das
spricht er aas, wie Jesus von seinem „Yater^ redet Kraft
dieser Gotteskindschaft rettet er Frankreich vom Verderben.
All diese Schlechtigkeiten der freien Rede, der freien Presse,
des freien Stimmrechts — wehe euch, ihr Pharisäer! Das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen, der Heiland hält
seine Bergpredigt von der Höhe des Palais Elys6e in die
Boulevards hinab, die vor Erstaunen über so frohe Botschaft
im Blut schwimmen. Siehe, ich verkündige euch grosse
Freude, Napoleon ist auferstanden und treibt wieder böse
Geister aus, auf dass sie in die Säue fahren. Diese alte Ver-
rückte Frankreich steckt er in wohltätiges Zwangshemd und
wacht so über Europas Sicherheit der ausgezeichnete Mann.
Indem er sämtliche Freiheiten mit einem Federstrich aus-
merzt, handelt er im Namen der Verfassung, „welche an-
erkennt, bestätigt und garantiert die grossen Prinzipien von
1789 und welche die Basis des öffentlichen Rechts sind.^^
Der 2. Dezember 1851 im Namen des 14. Juli 1789, in der
Tat ein Naturwunder erster Ordnung!
Allerliebst klingt auch die rührende Entrüstung des
gefangenen Autors in Ham über „unnütze Beamtenstellen,
Unterhalt einer Armee im tiefsten Frieden, zahlreicher als
die von Austerlitz^^: als Präludium einer Belastung der
Steuerzahler mit einer endlosen Horde von Satelliten, Be-
amten, Polizisten, wie kein legitimer Despot sie je seiuem
Lande zumutete. Ja, er ist der Neffe des Onkels. Wenig-
stens einen grauen Überrock trug er schon in Ham. An
Marschällen und Grosskanziern ist kein Mangel. Rouher
mag für Fouch6 gelten, St. Arnaud kann als Räuber-
hauptmann mit Ehren neben Massena bestehen, Morny gibt
sicher Talleyrand und Bernadotte an Schufterei nichts nach . .
fehlt nur eine Kleinigkeit, das Talent, fehlen zur Vervoll-
ständigung nur die anständigen Leute, die Drouot, Lannes,
Lasalle, Macdonald und hundert andere. Solche um sich zu
sammeln, nur das geht über des Neffen Vermögen. Doch
woher nehmen und nicht stehlen? Wenn es so etwas wie
— 216 —
Charakter und Ehre in seinem Frankreich, dem Werk
seines Geistes, zu stehlen gäbe, er hätte es längst gestohlen,
der Meisterdieb. Aber die ganze Nation scheint eine
Sklavenherde unter einer Maffia von Banditen, und was noch
altmodisch anständig, sitzt in Mazas, in Cayenne, oder in
der Verbannung. Wohl ist Canrobert ebenso dumm wie
Ney, und Mac Mahon ebenso charakterlos, aber den Marmont
kann man sogar übertreffen: Das Ende krönt das Werk,
das Ende des zweiten Empire heisst Bazaine. Auch ein
Glücksritter, der an seinen „Stem'^ glaubte, nicht um-
sonst fing auch sein Name mit B an. Einen Murat hat
man gleichfalls, aber nur den Namen. Persigny, Maupas,
OUivier, Pietri, Grammont, Benedetti . . . lauter feine
Diplomaten . . . schade, dass sie sich immer übertölpeln
lassen ... sie sind so fein, dass man ihnen die Lügen vom
Munde abliest, ehe sie gesprochen. Der grosse Sozialist
Ton Ham verschafft der Arbeiterklasse eine Menge Arbeiten,
er verschönert Paris zu diesem Zwecke, doch natürlich ver-
birgt er damit nur den wahren Zweck, Barrikadenschlupf-
winkel aufzuheben Forts und Gürtelbahn werden gebaut,
um Paris gegen fremde Invasion unangreifbar zu machen?
nein, um die Stadt im Revolutionsfall zu bedrohen und
dem Militär sein Eingreifen zu erleichtem. So hat die ganze
innere Politik des zweiten Empire eine verzweifelte Ähn-
lichkeit mit den Massregeln eines Dionys von Sjrakus und
ähnlicher Duodezdespoten. Die tonangebenden Spiessgesellen
treiben Staatssozialismus in ihrer Art: sie amüsieren und
bereichern sich auf Staatskosten, pflegen Kommunismus im
öffentlichen Eigentum. Sogar der Kaiser selber wird ge-
plündert. Es gibt eine nirgendwo veröffentlichte Erzählung^
die uns verbürgt wurde, wie St. Arnaud im kaiserlichen
Eabinet ein Banknoten-Paket stahl und seinen Adjutanten,
der finster dem zornig suchenden Kaiser erwiderte: „Ich
habe nichts genommen^\ unterm Schein eines Duells auf
der Treppe ermordete. Die Szene, wie Canrobert unterm
Kopfkissen dieses sterbenden Verbrechers in der Krim ge-
wisse Geheimpapiere gewaltsam hervorzog auf hohen kaiser-
lichen Befehl, um dem zu viel wissenden Spiessgesellen
solch parthischen Pfeil -nach -dem -Tode zu entwinden, ist
— 217 —
ja historisch bekannt Ihm, diesem unmilitärischen Louis
im schwarzen Frack, blieb die Einführung des brutalsten
Militarismus vorbehalten, der je ausserhalb Neu-Preussens
die Welt befleckte. Während die Generale des grossen
NapolQon klagten, sie bekämen bei Zwist mit Zivilfunktio-
nären grundsätzlich immer Unrecht, und der grösste Feldtierr
aller Zeiten rücksichtslos als Dogma aufstellte, das Zivil
habe stets den Vorrang vor dem Militär, hauste die Soldateska
des kleinen dicken Steinleidenden, der sich kaum zu Pferde
halten konnte, als freches Prätorianertum. Eine feindliche
Armee zersprengt oder gefangengenommen hatte man frei-
lieh nicht, aber dafür wehrlose Bürger auf den Boulevards
mit Kartätschen zerstäubt und die eigenen Generale arretiert,
falls sie sich ihres Treueids gegen die Republik besser er-
innerten als Monsieur Louis. Über den Fahnen schwebte
zwar keine Gloire, wohl aber der Segen des Weihwedels.
Der 15. August war gleichzeitig der Festtag von St Napoleon
und der heiligen Jungfrau. Dieser kaiserliche Tartuffe-
Sozialismus unterdrückte die Erziehungsmittel der Schule
nach Kräften und überlieferte sie dem Klerus. Unter den
Deputierten der Linken, die ein „comit6 de rösistance^^ beim
Dezemberputsch leiteten, befanden sich zwei historische
Persönlichkeiten, der später zu trauriger Rolle berufene
Jules Favre und kein Geringerer als Victor Hugo. Die
Barrikaden wuchsen aus dem Boden. Der jämmerliche
Stadtpräfekt Maupas, einer jener feigen Streber, die nach
dem Erfolg am grausensten wüten, bekam die Kolik. Man
wagte nicht mal einen Mann zu füsilieren, der das Faubourg
St Marceau revolutionieren sollte, ein Sergeant Hess ihn
entkommen. Louis dachte schon daran, in den Invalidendom
zu flüchten. Der alte Luschtik Jerome richtete an ihn einen
abmahnenden Brief. Als sein Adjutant, der alte General
Roguet, der einst zur Garde des Onkels gehörte, dem un-
beweglich dasitzenden Staatsstreichler in der Nacht zum
4. Dezember Hiobspost auf Hiobspost meldete, sprach der
Neffe des Weltruhms das ruhmvolle Wort: „Wohl, St Arnaud
soll meine Ordre ausführen." ,,Welche?" „Man wird es
sehen." Man sah es. Er hatte die Brigade Canrobert
betrunken gemacht. Ein Offizier murmelte: „Das wird die
— 218 —
reine Schlächterei.^^ Die 1. Lanziers ritten und stachen
sofort eine unbewaffnete Menge in der Rue Richelieu nieder.
Ihr Oberst hiess Rochefort, war aber nicht Marquis wie sein
berühmter Namensvetter, der Gitoyen Rochefort, Journalist,
dem man nachher in Cayenne eine passende Redaktions-
stube gab. Kurz darauf eröffneten Infanterie und Artillerie
des „braven Canrobert'' Generalsalven ohne jede Spur vor-
heriger Aufforderung gegen die wehriosen Zuschauerhaufen,
bombardierten alle Gebäude, töteten alle Insassen. Die
braven Offiziere, stolz auf ihr Ehrenamt als beste Vertreter
der Ordnung, säbelten Weiber und Kinder in Stücke. Die
Elenden, welche an der Leiche ihrer so edel und gerecht
umgebrachten Gattinnen Rache schworen, ergriff man auf
frischer Tat und beschleunigte ihre Sendung in einen
klimatischen Kurort, genannt Cayenne, um sie von ihrer
krankhaften Erregung zu heilen. Es war ein pracht-
volles Schauspiel und man hatte nie genug davon, die
Salven dauerten deshalb eine volle halbe Stunde. Der
Fistolenschuss eines Spitzels hatte das Signal zu
diesem originellen Feuerwerk gegeben, das man für
jeden, der lesen konnte, schon morgens an die Mauern
affichierte: jede Volksansammlung werde „ohne Sommation^^
sofort militärisch zerstreut werden. Wenn die Leute nicht
lesen wollen und unter Zerstreuen nicht ohne weiteres Nieder-
metzeln verstehen, müssen sie den Schaden tragen. Alles
verlief also programmässig. Seit der Bartholomäusnacht ward
ein solcher Meisterstreich nicht vollzogen. Die Truppen
wollten einen Schein von Ursache für ihre Heldentat, des-
halb der einzelne Fistolenschuss, den viele überhaupt gehört
zu haben leugnen, denn ein so zartes Ehrgefühl wie das
militärische verlangt nach so was. Von der Porte St. Denis
bis zur Porte Montmartre auf der ganzen langen Strecke
erfolgte von sämtlichen pflichttreuen Soldaten gleichzeitig
auf Signal ihr grandioses Vorgehen. Sie fürchteten nicht
Weiber noch Kinder, nicht Greise noch Krüppel, helden-
mütig überwanden sie all diese schrecklichen Gegner und
besäten alle Strassen mit Leichen. Wer bei den wackern
Offizieren Schutz ei flehte, erhielt mit schöner militärischer
Kürze die Losung: ,,Partez", und wenn er den Rücken
— 219 —
wandte, traf ihn von hinten die heilsame Eugel. Die tapferii
Brüder der Soldaten, die Gendarmen, befanden sich in ihrem
Element: an jedem Strassenwinkel lauerten sie Passanten
auf und schössen sie waidgerecht an wie Hasen. Andere
ftbten sich im Scheibenschiessen, wo irgend ein Feigling, der
nicht sterben wollte, sich verkroch. Mehr als eine Stunde
raste diese Orgie der von so edler Gloire trunkenen Helden
Ganroberts fort und die andern vier Brigaden seiner Kollegen
wetteiferten an nobler Tatkraft. Zuletzt hörte der Sieges-
eifer nur auf, weil die Truppen in ihrer Begeisterung sich
selbst in Kreuzfeuer brachten. Die Batterie Ganroberts ward
völlig demontiert. Aber so unzähmbar erwies sich der £lan,
dass ein Stabsarzt, der etwas Mässigung wünschte, beinahe
getötet wurde und ein Korporal einen Leutnant, der seinen
Arm zurückhielt, anschrie: „Verräter!*^ Und die Offiziere
liessen sich nicht lumpen. „Schiesst besonders auf die
Frauen!'* riefen sie ihren Braven zu und ein junger General-
stäbler fügte das charmante Mot hinzu: ,,Piquez les femme8'^
Die Frauen wurden also mit dem Bajonett gekitzelt^ andere
aus rührender Barmherzigkeit nackt durchgepeitscht Das
alles unter herzlichem Gelächter und dem Freudengeheul:
„Los auf die Beduinen!'^ Ihre Pariser Mitbürger, sonst auch
„p6kin^^ genannt, hiessen ihnen so und der hochherzige an-
geborene Charakter der Militärs verachtet ja natürlich solch
Givilistengewürm. Wer je eine Geschichte des cheva-
leresken Kriegerstandes schreibt, erinnere sich
dieser Stunden! Jetzt begreift man, warum der alte
Offizier Henri Beyle, als Schriftsteller „ Stendhal ^^ heut ein
Buhm Frankreichs geworden, einst bekannte: er habe diese
uniformierten Bestien zu nahe gesehen, um noch an Phrasen
zu glauben. Von all seiner Jugendbegeisterung für Krieg
und Krieger blieb dem kalten Skeptiker im Alter nichts mehr,
als unverminderte Yerehrung Napoleons des Grossen. Was
aber blieb hier übrig nach dem Blutbad? Napoleon der
Kleine.
Es war vollbracht. Offiziere und Gemeine tranken Cham-
pagner auf den Strassen, ihre Füsse in Blut badend, und
klimperten mit den Goldstücken in der Tasche, die man just
nach vollzogener Tat allerhöchstenorts an sie verabreichte.
— 220 —
Dass sogar Reaktionäre laut ihren Abscheu bekundeten,
lYas kümmerte sie das Gewäsch solcher Givilisten! ,, Sol-
daten, ich bin mit euch zufrieden,*^ sagte der kleine Mann
im grauen Rock nach Austerlitz, und der kleine Mann mit
dem grauen Teint, auch er verhehlte nicht seine Genugtuung
über St. Arnauds und Ganroberts Brave. Denn der Zweck
war erreicht Frankreich und seine Armee für immer ent-
ehrt, „Sedan" und „Metz'' prophetisch auf die Fahnen ge-
schrieben, aber Paris beseitigt Es gibt Ungeheuerlichkeiten,
vor denen jeder Mut schwindet Wer eine Riesenschlange
vor sich zischen hört, wird gelähmt Jeder Widerstand hörte
auf in blindem Schrecken. Ein Mensch, der so etwas
befehlen konnte, gehört einer andern Ordnung der Dinge
an und man kann nur gegen Menschen fechten. Wahrlich,
es braucht nicht der kindlichen Tiraden Victor Hugos, dass
die Verbündeten, als sie Paris betraten, von Ehrfurcht vor
der heiligen Stadt (!) ergriffen wurden, dass nur Franzosen
Paris wie eine mit Sturm genommene Stadt zu behandeln
wagten. Aber wer über die Kommunegreuel deklamiert, der
erinnere sich gefälligst dieser hundertmal ärgeren Frevel,
nicht zu vergessen die Barbarei, mit welcher dann wieder-
um das biedre Militär nach Niederwerfung der Kommune
verfuhr und zahllose Unschuldige hinmetzelte. Am 5. De-
zember zeigte ein General dem entsetzten Volke seinen
nackten Säbel: ,,Das ist Eure Republik!*^ Diese schmach-
vollen Kapitulanten von Sedan und Metz sind die wahren
Vorbilder und Urheber der Kommune und des Anarchismus.
Allen offiziellen Lügen zum Trotz sind mindesten 1200
Menschen getötet, 800 in der Nacht füsiliert worden. Und
der Schurke, der all dies getan, rief triumphierend einem
alten General (historisch) entgegen: „Eh bien?*' Dieser
Mensch besass weder Skrupel noch Scham, nichts von dem,
was man ein Gewissen nennt Seine Kriegsknechte ebenso-
wenig. Man pflegt immer nur St Arnaud und Momy zu
zitieren, aber wenn man vernimmt, dass Canrobert allein
5876 Personen militärisch verurteilen Hess, so hat man wohl
genug von diesem „biedern" Militär.
Was diese betressten Henker — und in jedem Uniform-
träger comme 11 faut steckt ein solcher, sobald man ihn für
— 221 —
Thron und Altar gegen sein Vaterland aufruft — in den
Provinzen leisteten, spottet jeder Beschreibung. Der Terreur
der Revolution bewahrte wenigstens den Schein einer Gesetz-
mässigkeit, mit solch altmodischem Vorurteil brach man
hier. Das Füsilieren, Deportieren, Verbannen, Sequestern
des Eigentumes (letzteres natürlich den ehrenhaften Militärs
die Hauptsache!) ging sprunghaft ins Ungemessene fort
Seit den Proskriptionslisten der römischen Triumvirn erlebte
die Welt nichts Ähnliches. Aus dem einzigen kleinen
Departement THerauIt wurden 3200 Unschuldige deportiert
oder verbannt. In Baracken Algiers, im Fieberdunst
Lambessas und Gayennes kamen Tausende um. Förmliche
Treibjagden auf Verdächtige wurden veranstaltet und ver-
dächtig war jeder anständige Mensch. Ein Deportierter
ward in Ketten durch seinen Heimatort geschleppt, bloss
weil er Deputierter war. Die Janitscharen der „Justiz^V
immer noch verächtlicher als die Militärjanitscharen, wenn
so was möglich wäre, nährten die Schafotte mit allen Köpfen,
die noch einigermassen aufrecht zu sein schienen. Mehr
hatten auch Timur und Alba nicht verbrechen können, denn
nur sein Zeitalter verbot dem kleinen Louis, auch noch
ausgesuchte Martern hinzuzufügen. Wie dieser humanitär
über Menschenrechte dachte, lehrt seine feurige Einladung
an Haynau, die Hyäne von Brescia, um ihn für die Lynch-
justiz der Brauerknechte in London zu trösten. Dass
natürlich die schamlosesten Lügen über böse Umstürzler,
welche die Bourgeoisgesellschaft gewaltsam bedroht haben
sollten, aufgetischt wurden, versteht sich von selber.
Aber mit sogenannten Umsturzgefahren hielt der Mann
sich nicht auf, er selbst war ja ein lebendes Umsturzgesetz.
So aus dem Grunde verstand er das Umbringen, dass
er sogar nahe daran war, das ewig glorreiche Andenken
des Herkules zu töten, in dessen Ahnenschatten er herum-
kroch und auf dessen Löwenhaut er sich mit seiner vor-
nehmen spanischen Cocotte Eugenie herumräkelte. „Soldaten,
das ist euer Adler !'^ krächzte er seine neuen Cäsarlegionen
an, aber dieser leichenschmausende Rabe verreckte in Sedan
an seiner eigenen Schmach. Nicht Bismarck, sondern er
hat das Prinzip der Volksvertretung uns zu verekeln gesucht,.
— 222 —
er führte das Wort „parlamentarisme" ein, um Freiheit der
Bede und Presse anrüchig zu machen. Nachdem er Frank-
reich geplündert und gefesselt, erpresste er in hochnot-
peinlicher Toter mittels Magistraten, Beamten, Offizieren,
Polizisten ein Plebiszit von 7V2 Millionen Stimmen, die
ihm volle Billigung ausdrückten. Denn dieser Brigant blieb
immer Pedant, eine Art Akademiker des Machiavellismus,
und legte Wert auf Formen und Formeln. Auch dies
gehörte zu seiner unheimlichen Macht.
Wahrscheinlich enthält die ChifiPre 7,500 000 eine grobe
Lüge, denn wann hätte das zweite Empire nicht gelogen!
Aber darüber breitete der heilige Geist des Klerus seine
Schwingen und wehe den Ketzern, die gegen den Willen
ihrer Beichtväter den Staatsstreich nicht segnen!
Victor Hugo fand hier ein witziges Wort für die
religiösen Gefühle der Bourgeoisie: „0 Gott! lass die Lyoner
Aktien steigen! Herr Jesus, lass mich 25 Prozent an
meinen Neapel- Botschild-Scheinen gewinnen! Heiige Apostel,
verkauft meine Weine! Süsse Mutter Gottes, wirf ein
gnädig Auge auf meine Eaufboutike und lass den Kon-
kurrenten faillieren!'' Und desgleichen für die Spitzen der
neuen Kaiser- Armee: „Von der Höhe dieser Pyramiden
schauen vierzig Gaudiebe auf euch herab!" Der Astronom
Arago und der Historiker Miohelet, zwei Zierden der
damaligen Bildungswelt, verweigerten den Loyalitätseid:
von da ab verfolgte sie jede Art von Bancünen. David
d'Angers der Bildhauer musste ins Ausland fliehen wie
viele andere. Der Berühmteste darunter schmiedete in
Belgien und auf Insel Guernsay Donnerkeile gegen den
falschen Jupiter: Victor Hugo sollte zuletzt doch Victor in
diesem Kampfe bleiben.
Wie aber soll man über die Leute urteilen, die mit
bedächtiger Weisheitsmiene den elenden Übeltäter historisch
rechtfertigten und ihm eine Menge mildernder umstände
andichteten? oder den Dezemberputsch durch das Vorbild
des 18. Brumaire entschuldigten ? Nichts kann unpassender
sein. Als Bonaparte die Bepublik der Strassenräuber zum
Fenster hinauswarf, geschah dies fast ohne jede Gewaltsam-
keit, so wie man eine reife Frucht vom Baume schüttelt.
— 223 —
and in Übereinstimmung mit dem Gesamtwillen der Nation,
Quod licet Jovi, non licet bovi. Er setzte an die Stelle
von etwas absolut Schlechtem etwas absolut Gutes, wie nur
das höchste Genie es verbürgen konnte, er machte aus einem
völlig bankerotten Staate mit 45 Milliarden Assignaten-
schulden binnen vier Jahren das wohlhabendste Land
Europas. Dagegen brachte Louis nach etwas Unvoll-
kommenem und Fehlerhaftem etwas absolut Schlechtes und
Schädliches. Die nachfolgende Prosperität, die in Welt-
ausstellung undLesseps-Suez ihre glänzende Fassade zur Schau
stellte, wird sehr irrig auf seine Rechnung gesetzt, da sie nur
natürliche Folge der ganzen wirtschaftlichen Bewegung des
Guizotschen „Enrichissez-vous^\ Ebensogut könnte man
Deutschlands Industrieaufsohwung seit letzten fünfzehn Jahren
für ein Werk Wilhelms IL halten ! In den zwanzig Jahren
dieses zweiten Empire, das sich der bourgeoisen Gänsehaut
vor dem roten Gespenst gewaltsam wie eine Schlangenhaut
überzog, zersetzte alle Arterien des Gesellschaftskörpers die
Korruption. Die weltgeschichtliche Probe des Zusammen-
bruchs zeigte ja die Gebrechlichkeit des ganzen Organismus
in Administration und Armee. Bloss der Terreur des Militär-
popanz hielt so lan^e die Verwesung im Innern auf, doch
diese Armee hiess Sedan. Auswärtige Politik? Vom Mexiko-
abenteuer und dem lächerlichen Kriegmachen gegen Preussen
gerade im ungünstigsten Augenblick schweigen wir ganz.
Doch welcher Dilettantismus, sich mit England gegen Russ-
land zu verbünden, indes gerade das Umgekehrte im In-
teresse der französischen Politik lag! Auch hier wieder
kurzsichtige eitle Selbstsucht, weil England als sein früheres
Asyl ihm nahestand, Zar Nikolaus aber den gekrönten Par-
venue persönlich verletzt hatte. Welche Verblendung, sich
mit Österreich zu verfeinden, das gegen Preussen möglichst
stark zu erhalten das Prinzip der deutschen Zerrissenheit
verlangte und dessen Schwächung erst die deutsche Einheit
ermöglichen konnte — und einen blutigen Krieg nur anzu-
zetteln, um ein einiges Italien zu schaffen, es nach seiner
vasallischen Abhängigkeit von Frankreich nun selber des
Gängelbandes zu entwöhnen! Irgendwelche idealen Motive
muss man freilich bei dieser scheinbaren Phantasterei nicht
— 224 —
suchen, denn wie ideal der „Befreier'^ seine Rolle auffasste
lehrt das Trinkgeld Nizza-Savoyen, das er sich einkassierte.
Sein Hauptzweck immer dabei : blenden, Aufsehen machen,
den Adlern Gloria zu fressen geben, um Tom inneren Un-
frieden abzulenken. Schon hier die Anfänge der nämlichen
schleichenden Epilepsie des Empire, die in tötlichem Sedan-
schluss ihrer Fallsucht das Genick brach. Gutmütig gegen
Diener, anhänglich an Freunde, dankbar für erwiesene Wohl-
taten? Eameraderie unter Spiessgesellen! Wir haben
genug an seiner Gutmütigkeit, Anhänglichkeit und Dank-
barkeit für seine Geliebte Miss Howard, die ihn mit Gefahr
aus Ham befreite und ihre 3 Millionen Franks dem Aben-
teurer opferte, die aber der Kaiser und Brautwerber um
Eugenie Montijo nicht mehr kennen wollte und sie aus
Paris auf den Schub brachte. Seine erotische Schweinerei
roch übrigens so übel, dass besagte Eugenie ihn mal
öffentlich im Park von Fontainebleau mit der Reitpeitsche
traktierte, da diese vielverleumdete Neuauflage der alten
Jose&ne wie jene ihre Ehre darein setzte, ihrer bescholtenen
Vergangenheit eine ehrbare Kaiserinschaft folgen zu lassen,
und sittlich ihrem sauberen Eheherrn Gardinenpredigten
halten durfte. Es fehlte ihm nicht an Esprit. In den apo-
kryphen Memoiren eines Baron Taylor (englisch erschienen)
werden einige glänzende Witze von ihm mitgeteilt. Im All-
gemeinen hielt er sich jedoch in einer morosen und zum
Verzweifeln trockenen Haltung zurück, wünschte als grosser
Schweiger einen unheimlichen Nimbus um sich zu ver-
breiten. Was man über die kaiserliche Hofhaltung im Lust-
schloss Gompiögne und in St Gloud verlautbarte, macht den
Eindruck steifer und ungraziöser Pracht, eines äusserlichen
Etikettenpomps bei plumpen Manieren und schamloser Ver-
derbnis der Sitten. Ein Ancien Regione ohne Würde und
Anmut, Haremswirtschaft eines schläfrigen entnervten Sultans.
Selbst Prosper M6rim6e hat Louis und Eugenie, diesem in
Sardous „Theodora^^ nachgeschaffenen trauten Ehepaar, keine
kaiserlichen Allüren andichten können. Daudet gibt im
„Nabab'' ein gutes Konterfei der innerlich verfaulten Ge-
sellschaft, Zola im „Exzellenz Rougeon'^ ein drastisches
Portrait der Sorte von Staatsmännern, die in diesem Sumpf
— 225 —
obenauf kamen. Louis erscheint in allen unparteilichen
Schilderungen als eine sphinxartige Persönlichkeit, die im
Gespräch ungemein enttäuschte und einsilbige Banalitäten
vorbrachte. Obschon unleugbar sehr gebildet, fand er nie
ein Verhältnis zu Gelehrten und Eiinstlern, die er mit
gleichgültiger Munifizenz bestach, ohne ihnen je ein intimes
Wort zu gönnen. Sein dürres Oemüt hatte kein Herz für
Literatur und Kunst, nur an historischen Studien nahm er
teil, sofern sie sein dynastisches Interesse und seine fixe
Idee förderten, wie Mommsens Julius Cäsar. Diese fixe
Idee des Cäsarismus bildet die Spiralfeder seines Lebens, sie
gab seinem schlaffen und schläfrigen Organismus galvanische
Zuckungen, die wie Herrschergenie aussahen, sie brach aber
rostig entzwei mit einem Klirren wie von Waffenstreckung,
wie von Cbassepots, die in den Staub rasseln. Wie bald
man dahinter kam, dass hinter seiner fatalistischen Ruhe,
die ihm noch bei Sedan wie beim Dezemberputsch einen
Anstrich kalten persönlichen Mutes lieh, nicht verhaltene
Stärke eines geheimnisvollen Staatsdenkers, sondern nur
cynische Indifferenz eines vabanquespielenden Glücksritters
sich verberge, zeigt die klägliche ünbedeutenheit, zu der
ihn 1870 seine eigene Umgebung herabdrückte. Bazaine,
Mac Mahon, Palikao, Leboeuf, Stoffel, Eugenie, alle handeln
über seinen Kopf weg oder zwingen ihm ihre Ansichten
auf, als ob sie sich aus ihm nicht das Geringste machten,
weil sie ihm zu intim in die Karten guckten. So sah der
einst gefeierte Gesellschaftsretter, der sich mit lästerlicher
Persiflage des grossen Urbilds auch „den Mann des Jahr-
hunderts^^ nennen Hess, sich als quantit6 n6gligeable bei
Seite geschoben, seinen Stern als Irrlicht in einem Morast
versinken, und musste sich selbst überleben. Die gerechteste
und furchtbarste Vergeltung des Karma.
Denn eine ursprünglich vielleicht nur passiv unsitt-
liche, nicht aktiv verbrecherische Natur ward hier durch
dämonischen Ehrgeiz aufgestachelt, auf welthistorischen
Brettern einen neuen Justinian darzustellen. Und während
sein massiger Wuchs nicht mal hierzu auslangte und eher
byzantinische Korruption, Scheusslichkeit und Frömmelei zu-
stande kam, als Justinianisches Gesetzbuch, befand er sich
Bleibtren: Die Vertreter des Jahrhimderts. 15
— 226 —
obendrein in der Wahnvorstellung, er stelle den Erben des
Riesen dar und schaffe einen Code Napoleon neu. Das by-
zantinische Kaiserreich des Justinian erneuern in einer
modernen Welt der Demokratie wäre aber minder gewagt
und unerhört, als den heiligen Schatten des Herkules zu
beschwören und ihn um seine blitzende Keule zu bitten.
Fürwahr, ein klägliches Schauspiel, wie dieser Zwerg mit
dem hinterlassenen Rüstzeug des Hydratöters und Augias-
stallsäuberers sich herumschleppte, wie er die Last auf seine
schmalen engbrüstigen Schultern nehmen wollte, die einst
Atlas, der Himmelsstürmer, trug. Die Napoleonische Idee,
über die sein Büchlein piepste, wie ein Zaunkönig den
Adlerschrei nachahmen möchte, hat ihn erdrückt, mit
ihrem Gewicht zur Tiefe gezogen, ihn und sein Reich zermalmt.
„Hätte nicht das durch meine Oeburt mir angewiesene
Schicksal durch die Ereignisse eine andere Wendung ge-
nommen, so wäre ich als Neffe des Kaisers ein Verteidiger
seines Thrones . . ., Feind jeder absoluten Theorie und jeder
moralischen Abhängigkeit habe ich gegen keine Seele irgend-
welche Verbindlichkeit . . . hebt die Phantasie des Ver-
bannten an, Carlton Terrace im Juni 1839. Wer hört nicht
hier schon die Leitmotive? Neffe des Onkels und ohne
moralische Verbindlichkeit, ja wohl! Was er über den
grossen Gegenstand vorbringt, ist nicht ohne Geist, ja sogar
nicht ohne eine gewisse Ehrlichkeit. Denn indem er
Regierungen als wohltätige Hebel des sozialen Organismus
verehrt, sogar die Erblichkeit des monarchischen Systems
verteidigt, dagegen jede bestimmte politische Formel ablehnt,
da diese ihre Vorbedingungen nur im wechselnden Zustand
der Gesellschaft habe und in der Politik das Gute stets
nur relativ sei, bekennt er einerseits seine Neigung zu starker
Autorität, lässt andererseits seine Wurschtigkeit bezüglich aller
theoretischen Doktrinen durchschimmern. Das ist der Rechte
dafür, um nachher öffentlich republikanische Gesinnung zu
beschwören und gleich darauf die Freiheit abzuwürgen.
Nur eine europäische Regierung „erfüllt ihren providentiellen
Beruf, höret und staunet: Das moskowitische Zartum. Aber
gleich darauf flötet Louis Schmeichellieder vor der Freiheit,
deren Farbe auch die Feinde der französischen Revolution
— 227 —
nachher annehmen mussten, als es Napoleons Sturz galt
^Die Adoption war nicht aufrichtig, die Freiheit sah sich
genötigt, ihre Kriegsrüstung wieder anzulegen. Hoffen wir,
dass sie bald ihr Festkleid und zwar für immer anlegen
wird." Wie rührend, Sire! Blätterten Sie vielleicht in
diesen sy billin ischen Prophezeiungen, als Sie in der Dezember-
nacht Ihre philantropische Eriegsrüstung mit Blut färbten?
Die schlaue Behauptung, die Existenz einer Bepublik
ohne Aristokratie lasse sich schwer begreifen, soll sodann die
Brücke zum Cäsarismus schlagen, dessen eine antiaristokra-
tische Gleichheitsdemokratie bedürfe. Wohl möglich, aber
keines Cäsars aus der Operette. Wenn sein angeblicher
Onkel als Testamentsvollstrecker der Revolution alle Wunden
verband, welche heilte sein Neffe? Sein Empire war selbst
eine offene Wunde, ein nicht mal notwendiges Erebsgeschwür.
Wenn der Grosse neben den Freiheitsmützen auch die
Lictorbeile entfernte, so führte der Eleine höchstens neue
Beile ein. Die in Frankreichs historischer Entwicklung
beruhende übermässige Zentralisierung der Verwaltung
behielt der Neffe bei, ohne die Büge im Memorial von St.
Helena über notwendige Lokalisierung der Militärbehörden
zu beherzigen, was sich 1870 in dem Wirrwarr der Mobi-
lierung genugsam rächte. Von der grandiosen Finanzwirt-
schaft Napoleons begriff Louis höchstens, was von selber
seinen Gang ging: „Ein auf gute Agrikultur gegründetes
Finanzwesen ist unzerstörbar.^' Binnen acht Jahren tilgte
der 1802 eingesetzte Liquidationsrat die gesamten Staats-
schulden der Revolution (Thibeaudeau,VIII, 28) und Napoleon
verbrauchte nicht die Hälfte seiner Zivilliste, die andere
opferte er zur Unterstützung der Manufakturen. Man ver-
gleiche die gräuliche Verschwendung des Louis-Hofes, der
wohl an Louis Quatorze oder richtiger Quinze anknüpfen
wollte, und die Überbürdungen der Staatsbudgets unter seiner
Regierung. Ob er wohl die Stirn hatte, später durchzulesen,
was er über Napoleons sparsame Budgets von 600 — 800
Millionen schrieb, indes diese seit 1815 bei ruhmlosem
trägem Stagnieren um 400 Millionen überschritten wurden?
Schon 1802 bestand zwischen Einnahme und Ausgabe ein
Gleichgewicht und als das Budget 1807 auf 720 Millionen
15*
— 228 -
hinaufschnellte, standen stets genau gebuchte Leistungen
(Krieg, Kanäle, Häfen, Chausseen) gegenüber. Dabei muss
man noch berücksichtigen, dass das damalige Frankreich
Piemont, Rheinlande, Belgien umfasste; sogar nach Ein-
verleibung von Rom, Ulyrien, Holland, den Hansestädten
stieg das Budget nur auf 796 Millionen. Erst durch das
Unglück von 1812 schwoll die Last auf 1150 Millionen.
Bei einem Reiche, dessen ökonomische Werte 10 Milliarden
betrugen und dessen Überschuss der blossen Handelsausfuhr
126 Millionen betrug, indes die günstigste Bilanz früherer
Epochen, die des Jahres 1788^ nur 25 Millionen und schon
die von 1789 nur 12 Millionen Überschuss ergab, war diese
„Belastung^^ wahrlich ein Kinderspiel gegen die heutige mit
ihren Milliarden Staatsschulden. Die Darlegung des Ministers
des Innern, Graf Montalivet, vor dem Corps Legislatif
25. Februar 1813 entrollt statistisch und aktenmässig ein so
beispielloses Bild von Ergebnissen erhabenster Staatsfürsorge,
dass Einem schwindelt und man sich der Rührung kaum
erwehren kann. Den albernen Schwätzern, die in Napoleon
einen Moloch und Yolksaussauger dem dummen Publikum
vorzugaukeln sich erfrechten, kann man wirklich nur ihre
trostlose Unwissenheit zu Gute halten. Napoleons Brief-
direktive über die Kommunen bleibt ein unsterbliches
Dokument höchster Staats Weisheit, ebenso seine Rede im
Staatsrat über Reform des Steuersystems und parzellarische
Kataster. Schon 1810 schien überall erfüllt, was er 1807 im
Corps Legislatif verkündet : „Ich will, dass selbst in dem kleinsten
Weiler der Wert der Grundstücke sich bedeutend hebe, ver-
möge meines allgemeinen Systems.^^ Als Schöpfer der Industrie,
Agrikultur, des Binnenhandels, der neuen Justiz, schuf er
auch das für Frankreich passendste System des öffentlichen
Unterrichts. Konnte sich Louis später ohne Scham seiner
Beleuchtung dieses Verdienstes erinnern, er, der Alles tat,
die freie Schule zu lähmen und sie möglichst dem Klerika-
lismus wieder auszuliefern? „Nie wird es einen festen
politischen Zustand geben, wenn man nicht eine Lehrer-
klasse mit fixen Prinzipien hat,^' von diesem Grundsatz
des Grossen, der allerdings dabei wie jede Regierung ein
gewisses Mass regierungsfreundlicher Gesinnung als not-
— 229 —
wendige Beschränkung staatlich angestellter Lehrkräfte ver-
langt, fasste der Kleine nur die „fixen Prinzipien*^ auf, näm-
lich sklavische Huldigung vor seiner fixen Idee. Er wagt
es, daran zu erinnen, dass Leute (z. B. Lobau, Drouot), die
gegen das lebenslängliche Konsulat stimmten, nachher des
Kaisers volle Gunst genossen, dass die republikanischen Ge-
lehrten Biot und Arago auf Staatskosten wissenschaftliche
Reisen (zur Messung des Meridians) machen dürften, dass
Künstler und Literaten gleichmässig des kaiserlichen Schutzes
teilhaftig. Nun wohl, Cavaignac, Lamoricidre, Charras, die
sich dem Dezemberputsch widersezten, mussten in Ver-
bannung oder Vergessenheit verkommen. Ein Militär ersten
Banges wie Lamorici^re wunderte sich (Trochus Memoiren),
dass sein Adjutant Trochu ihn einmal besuchte, weil all
seine dankbaren Untergebenen ihn wegen kaiserlicher Un-
gnade wie einen Pestbefallenen mieden: so korrumpierend
wirkte Louis' bornierte Tyrannei aufs militärische Ehrgefühl.
Arago, Michelet und unzählige andere wurden nach Mög-
lichkeit unterdrückt, alle unabhängigen Schriftsteller verfolgt,
die Malerei nur gefördert, wenn sie der napoleonischen
Schlachtengloire dienen wollte, eine elegante Null wie der
Portraitmaler Winterhalter besonders protegiert Als hingegen
der Grosse in gerechten Zorn über royalistische Umtriebe
des von ihm freigebig unterstützten Dichters Chenier geriet
und Gambac6rös bat, man möge doch dem Undankbaren
aus Mitleid für den Familienvater nicht seine Pension ent-
ziehen, sah ihn Er gross an: .,Halten Sie mich für einen
Krämer? Die Pension behält Chenier bis an sein Lebensende.^^
Mitten unter liberalismustriefenden Phrasen entschlüpft
dem künftigen Usurpator und Diktator die Naivetät: „In
England führte der Mangel an Vertrauen des Volks zu
Jakob II. die traurigsten Folgen (!) herbei^\ nämlich die
endgültige Begründung der inneren Freiheit Dagegen
schimmert in Louis' phantastischer Behauptung, Napoleon
habe später alle annektierten Länder wieder freigeben wollen,
am eine solide europäische Assoziation zu stiften, bereits die
spätere Heuchelei durch, mit der er seine auswärtige Politik
betrieb. Wenn der Onkel die eiserne Krone der Lombarden
sich von Signor Melzi (Botta berichtet es so) mit der
- 230 —
schonenden Floskel aushändigen Hess: ,,Ich nehme sie an,
aber nur so lange, als es meine Interessen gebieten, ich
wollte stets Italien frei und unabhängig schaffen", so meinte
er schwerlich damit, dass er ein wirklich selbständiges Italien
gründen wollte. Der ihm zweifellos vorschwebende Staaten-
bund sollte sich immerhin um Frankreich krystallisieren,
sowie der geplante europäische Kassationshof in Paris die
Rechtsprechung ganz Europas gängeln sollte. Aber Louis
sah hier gleichsam prophetisch das Gaukelspiel voraus, das
er mit Pabst und Krone Savoyen abwechselnd erproben und
sich den Schein der Uneigennützigkeit wahren wollte. Wenn
Napoleon einmal hinwarf: „Ich will nicht, dass die Macht
meinen Nachfolgern bleibe, denn diese könnten sie miss-
brauchen", so geschah dies, ehe er einen eigenen Sohn hatte.
Louis arbeitete jedenfalls auf nichts eifriger hin, als die
Erblichkeit einer absolutistischen Dynastie. Sein kaiser-
licher Prinz Lulu ward von Jugend an als „Kind Frank-
reichs" mit ekelhafter Devotion gehätschelt, wie kein Dauphin
des Ancien Regime, um so traurig im fernen Afrika zu
enden. So gerecht straft das heilige Karma. Wenn Napoleon
in einer Moniteurnote vom 13. Dezember 1808 energisch für
sich den Titel des obersten „Yolksrepräsentanten" reklamierte,
so umgab sich Louis mit einer chinesischen Mauer, die alles
Volkstümliche fernhielt Wenn Er nach der Schlacht von
Eylau eine Hilfskasse für Manufakturisten gründete, um
ihnen über schwierige Absatzkrisen wegzuhelfen, so hatte
Louis eher seine Hand in jedermanns Kasse, um seinen
eigenen Finanznöten abzuhelfen. Wenn Er jeden Sonntag
das Theater Fran9ais für 20 Sous dem Volke öffnen wollte,
um sich zu bilden, so ward das Theater unter Louis ein
Lupanar der Bourgeoisie.
Louis preist die Institution des „Senats", die auch
Eignen (Eüstoire de l'Empire) als „nicht fehlerhaft^' be-
zeichnet Was aber hat er daraus gemacht, als er den
Senat wiederbelebte? Eine Sklavenschule, schlimmer als
jene in den letzten Jahren des ersten Empire, von Napoleon
verächtlich gebrandmarkt: „Der Senat bewilligte immer noch
mehr, als man von ihm verlangte.^^ Einen Tummelplatz
höfischer Intriguen, auf den Napoleons Wort an Benjamin
— 231 —
GoDstant über die erbliche Pairskammer taugte: „Ihre
Kammer wird bald nichts mehr als ein Feldlager oder ein
Yorzimmer sein/^ Der grosse Meister schuf sogar eine
Pilanzschule der Staatskunst: „Ich erzog eine neue Schule,
die zahlreiche Klasse der Auditeurs des Staatsrats/^ [n
welcher Verfassung sich die Staatsmaschine bei Louis' Zu-
sammenbruch befand, lehrt das völlige Versagen aller Prä-
fekten wie aller Pariser Ministerien, so dass erst Gambetta
dort und die Provisorische Regierung hier Ordnung schaffen
und Tätigkeit erwecken mussten. „Niemals hatte ein Staats-
oberhaupt ein so aufgeklärtes Konseil, wo alle Fragen der
Ordnung und Verwaltung mit mehr Offenheit und Unab-
hängkeit verhandelt worden wären. Auch erriet nie ein
Oberhaupt die wahre öffentliche Meinung so treu und genau^^
(Thibaudeau). Louis fälschte systematisch die öffentliche
Meinung, täuschte damit zuerst Europa und dann sich selber,
bis er seine erlogenen Plebiscite für bare Münze nahm.
Seine Minister terrorisierte er derart, dass er, wenn jemand
ihm Gegenvorstellungen machte, schweigend in die Luft
starrte und das beanstandete Dekret in den Papierkorb warf:
am andern Tage stand es zum Entsetzen der düpierten
Minister im Moniteur. Wenn Napoleon überall nur Kapa-
zitäten und nicht politische Satelliten zu den Ämtern berief,
einen Gaudin (Herzog von Gaeta) zum Finanzminister,
MoUien zum Schatzmeister, Denen zum Direktor der Museen,
Chaptal (den berühmten Chemiker) zum obersten Industrie-
rat u. s. w., so finden wir als Louis' Berater Olivier mit dem
,4eichten Herzen", den „erzbereiten" Leboeuf, den Gauner
Fould. Der einzige Tüchtige, den er je angestellt, Kriegs-
minister Niel, musste sich schämen zu sitzen, wo St. Arnaud
und Morny sich geräkelt. „Mit einigen alten Edikten von
Chilperich und Pharamond kann niemand sagen, er sei frei
vom Zufall, jeden Tag auf völlig legale Weise an den
Galgen zu kommen", sprach der Schöpfer, dem sein Code
Napoleon noch nicht genügte und der einen Code Universel
plante. Dem Louis genügte der Code Napoleon, um legal
alle Missliebigen in Masse zu deportieren. „Die Konkurrenz
ist vierzig Millionen Seelen eröffnet. Das Verdienst allein
unterscheidet, verschiedene Grade der sozialen Stufenleiter
— 232 —
belohnen sie/ Bei Louis unterschied aliein die Enecht-
schaffenheit, verbunden mit der Korruption, ^ch kann mich
nicht daran gewöhnen, die Willkür sich überall einschleichen
zu sehen und Magistrate zu haben, ohne dass sich jeder-
mann mit allen seinen Klagen an sie wenden könnte/^
(Staatsrat 1810.) Bei Louis ward jede Klage der Liberalen
durch infame PseudoJustiz unterdrückt, jeder Fräfekt hauste
als Pascha. „Ich will, dass man den Staat durch gesetzliche
Mittel regiere. Die für frei ausgeschriene Presse befindet
sich absoluter Willkür unterworfen. Die Polizei lässt Blätter
Umdrucken, unterdrückt Bücher und nicht mal der Minister
tut das, sondern sein Bureau.^^ (An den Staatsrat 1811.)
Yiel Skandalöseres kam unter Louis Polizeiwirtschaft alle
Tage Yor, zugleich mit Verfolgung aller unabhängigen Jour-
nalisten, die sich zuletzt wie Girardin den Mund stopfen
liessen. Paul -Louis -Courier wäre nicht lebendig aus den
Klauen dieser neuen Bastillefütterer entronnen, deren Lettres
de Cachet nur noch ungesetzlicher als unter den Bourbonen.
Wenn ein Günstling wie Junot 1806 als Gouverneur von
Paris sich eine kleine Verletzung des Jagdrechts erlaubte,
musste er wie jeder andere sich der Justiz beugen: unter
Louis drehte jeder Höfling dem Gesetz eine Nase, da es
doch schon die bekannte wächserne Nase trug. Napoleon
führte Pensionen der Zivilbeamten ein, um jeder Entschul-
digung für untreue im Amt vorzubeugen, unter Louis
dienten Pensionen nur dazu, eine Anzahl bureaukratischer
Müssiggänger an die Staatskrippe zu locken und festzu-
binden, eine Form verkappter Bestechung.
Er wagt es, dieser Louis, an die streng demokratische
Form zu erinnern, wie der Imperator die Armee rein vom
sozialen Gesichtspunkt aus betrachtete. Doch nie hat ein
nach unten brutalerer, nach oben kriechenderer Militarismus
die bürgerliche Ordnung entnervt und untergraben wie
unter Louis. (Obschon natürlich das Kulturniveau der revo-
lutionären Errungenschaften, die sogar auf Preussen schon
vor Jena abfärbten, nicht einen solchen Tiefstand erlaubte
wie im modernsten Militarismus des Deutschen Beiches.)
Es ist ein ewiges Gesetz für den Kenner: je säbelrasselnder
das Militär bramarbasiert, je gröber es sich als erster Stand
— 233 —
proklamiert, je frecher es aus der ihm zustehenden be-
scheidenen Stellung im Staatshaushalt hervortritt, je aus-
schliesslicher man militärische Interessen an die Spitze stellt
— was alles ebenso für die Bureaukratie gilt — , desto
gelähmter die wahre innere Eraft des Volkes nicht nur,
sondern desto geringer auch die kriegerische Fähigkeit.
Jeder Militarismus führt nach Jena und Sedan. Und so ist
denn die ruhmreichste aller Armeen, hervorgegangen aus
der Bürgermiliz wie Gromwells Eisenseiten („the most
disciplined, the most highly-trained we ever had^^, be-
kennt Lord Wolseley), zugleich die bürgerlichste und anti-
militaristischste gewesen. Die Eroberer von Berlin und
Wien klagen in ihren Briefen über Krieg und Soldatenhand-
werk und sehnen sich nach bürgerlicher Stille in Pflege
der Wissenschaften. Hingegen die Generale des zweiten
Kaiserreichs, diese öden Kommissmenscheu der Routine
ohne jede höhere Bildung selbst in ihrem Berufe, die alko-
holisierten Troupiers von Algier und Lager von Chalons . .
ihre Promenade nach Berlin spazierte natürlich über Sedan
in die Deutschen Gefangenenlager. Nie wäre unter der
humanen Kriegführung des Meisters (man muss das wohl-
wollende schonende Verhalten in allen eroberten Haupt-
städten kennen) eine Sprache der Presse möglich gewesen,
wie die von 1870, wo die „Goums" zu Brandstiftung und Not-
zucht als patriotischer Pflicht aufgefordert wurden und der
Gharg6 d' Aifaires in Karlsruhe eine Note überreichte, die
mit Melactaten die Pfalz bedroht: „Les femmes ne seront pas
m6nag6es". Das waren die notwendigen Früchte der „Frei-
heit'', die er meinte, denn Louis führte Freiheit und Ordnung
bei jeder unpassenden Gelegenheit unnützlich im Munde,
der katholischen Religiosität, die er, der Atheist und in-
differente Skeptiker, als Freund Pio Nonos vertrat, des
Gäsarismus, den er mit Räuspern und Spucken so glücklich
seinem Vorbild abgeguckt Man vergleiche mit obigen Daten
der ökonomischen Wohlfahrt des ersten Empire das Werk
Laroque's ,,De la guerre^^ über den Zustand, in welchem
Frankreich das Sedanabenteuer begann. Das angebliche
Umtauschen jeder Freiheit für materielle Mästung endete
passend mit 10 Milliarden Verlust des einen Schlussjahres
— 234 —
der Louiskomödie. Erst unter ihm entfaltete der Kapitalismus
seine volle Schamlosigkeit, überall ahmten Industrieritter den
kaiserlichen Schwindler nach. Er sass in seinen Tuilerien
und formte Menschen nach seinem Bilde, die ihm gleich
seien, sich zu freuen und Oott nicht zu beachten, wie er
selber, naive Schwindler, wie Saccard in Zolas „L' Argent^^
Er sass da wie lauernde Spinnen, fett vom Blute harmloser
Fliegen, und spann Netze, die nachher wie Spinnweben zer-
rissen. Dass man ihn in deutschen Witzblättern immer
„Er" nannte, wie einst den grossen ,,Er" der Vendömesäule,
war unbewusste Selbstpersiflage des Zeitgeistes, der in ihm
sein würdiges Ebenbild erkannte. Das stellte er dar auch
im Grössenwahn des Epigonen. Wenn ihn später Mohren-
wäscher einen Träumer nannten, so hatten sie recht, insofern
er wie das Jahrhundert sich in allerlei altklugen überspannten
Oottähnlichkeitsträumen wiegte. Doch solche gemeinschäd-
lichen Träume von Besessenen muss man immer mit bitterem
Erwachen am Baum der Erkenntnis bezahlen. Schieds-
richter Europas... o süsse fixe Idee! Als Louis die Ab-
tretung Venetiens an Ihn als Geschenk für Italien er-
gatterte, statt irgendwelcher solider „Kompensationen", illu-
minierte Paris vor kindlicher Freude über solches Prestige.
Wie mag der Realist Bismarck in seinen Bart geschmunzelt
haben! Und Louis ging weiter mit seiner fixen Idee schlafen
wie das Jahrhundert, das sich so wundervoll realistisch
dünkte und voll Phantasmen seiner Überhebung immer den
„praktischen" Schein für das Wesen der Dinge nahm. Ging
schlafen, bis Sedan ihn weckte, so wie ein schlimmeres Welt-
sedan die Erben des 19. Jahrhunderts wecken wird.
Adieu, Louis, schlaf wohl! Den Fluch der Lächerlichkeit
hatte Victor Hugo („Napoleon le Petit", „Les Chfitiments")
ihm angedroht und eine gewisse Lächerlichkeit haftet ja
seinem Ende an. „N' ayant pu mourir ä la tdte de mon
arm6e" entfesselte Heiterkeitsstürme, obschon ers ernstlich
versuchte. So endete seine tigerhafte Furchtbarkeit: man
nahm ihn nicht mehr ernst. So endete mit ihm geistig das
Schakal-Jahrhundert, das den Löwen Revolution und Napoleon
auf der Fährte nachschleichen wollte und sich dabei selber
zum Löwen träumte. Auch sein ohnmächtiger Eklektizismus
— 235 —
Tersinnbildlichte sich in diesem Empire, dessen Münzen an-
fimgs auf der einen Seite ,36publique Francaise^\ auf der
anderen „Empereur Napoleon^^ tragen. Das wahre Schlass-
wort der Louisfarce gibt ein Satz von Daunon, das er einst
selber zitierte: „Politik ist Anwendung der Geschichte auf
die Moral der Gesellschaft^ Das ist die Moral von der
Geschichte.
In der französischen Literatur, einst so kühl korrekter
^Ecole du bon Sens^ bildete das kranke Jahrhundert
bizarrere Originalitäten aus, als in der englischen Ästheten-
bande der Swinburne, Rossetti, Morier, Wilde. Da ist jener
Ahnherr der Verlaine, Becque, Mallarmö und andrer an-
ziehender Decadents, neben denen der akademisch-rhetorische
Sully-Prudhomme bloss durch den Nobelpreis zu unverdienter
Würde gelangte und der kühle Plastiker Leconte de l'Isle
im Grunde nur an die alte deskriptive Didaktik erinnert —
da ist der schreckliche Baudelaire, eine wirkliche Persön-
lichkeit, verwandt dem Amerikaner Poe, aber als Franzose
klassizistischer in der Form und die Mystik mit gallischer
Sinnlichkeit verquickend. Mitten in die Orgien seiner
erotischen Ausschweifung schleicht sich verzweifeltes Sehnen
nach dem Nichts oder nach „etwas jenseits der Welt, gleich-
viel wo" ein. Nervöse Halluzination vibriert unter seiner
Theorie der Decadence. Geistige Verwesung phosphorasciert
in seinen „Fleurs du Mal", alles löst sich auf ohne Knochen
und Muskeln in Paradoxe und Mystifikationen. Da ist sein
Gegenpart Flaubert, der alles Verschwommene fliehen und
als Anatom die innere Muskulatur der Sprache nachbilden,
peinlich alles Subjektive meiden und seine Sensibilität
ganz ins Objekt versenken will. Doch seine Sensibilität
bleibt trotzdem eine krankhafte, ungesunde Romantik schläft
auf dem Grunde dieses scheinbar so glatten Eisspiegels^
Er geht vom Hugo-Kultus aus, er taucht tief unter
in die Mondscheinmelancholie Chateaubriands, die alten
Bäumen und antiken Gestaden ihr Geheimnis ausplaudert.
Selbst der nüchternen Haltung der „Madame Bovary" ent-
strömen elegische Seufzer. Erotische Sehnsucht nach unfass-
bar Idealem treibt ihn zu exotischen Extasen mit Hamilkar»
Tochter und dem heiligen Antonius. Ein nicht schwächerer
— 236 —
Pessimismas als der Baudelairesche verbittert ihm Leben
und Literatur. Er ftUüt den Menschen, d. h. sich selber zum
XJnglücklichsein organisiert, glaubt an keinerlei Glück, das
Leben flösst ihm Ekel zum Brechen (ä faire vomir) ein. Dem
Gespenst verstorbener Antike entreisst er das Geheimnis,
dass ihre von uns beneideten Sterblichen geradeso litten wie
wir. Sohn einer optimistisch sanguinischen Hasse, arbeitet
^r trotz seiner Resignation wie ein Lasttier. Die Kunst um
der Kunst willen, dies von ihm und Theophile Gautier (wie
mag wohl dessen phrasenhaft sentimentale „Mademoiselle
de Maupin^^ zu ihrer literarhistorischen Celebrität gekommen
sein?) und den Brüdern Goncourt (fleissigen geistreichen
Theoretikern und Artisten ohne jede Spur Zolascher Schaffens-
kraft) erhobene Feldgeschrei bedeutet entweder einen Truism,
da noch jeder wahre Künstler die Kunst um ihrer selbst
willen liebte, oder das sterile Anklammern einer halt- und
ideallosen geistigen und moralischen Ohnmacht an die Form,
<las Kunsthandwerk.
„Ich glaube, die grosse Kunst ist wissenschaftlich und
unpersönlich. Man muss sich in die Personen versetzen
und nicht sie an sich heranziehen. Das ist die Methode,^^
schreibt er 1867 an G. Sand. Dagegen wäre um so weniger
«inzuwenden, als noch alle grossen Dichter „unpersönlich^^
ihre Gestalten liebten, bloss dass es bei ihnen keiner Me-
thode bedurfte. Aber wenn man Flaubert seufzen hört: „Sie
wissen nicht, was das ist, den ganzen Tag den Kopf in beiden
Händen zu halten, um das unglückliche Hirn zum Finden
«ines Worts zu pressen'', so billigt man mitleidig erst recht
seinen Seufzer, dass neben Shakespeare alles mittelmässig
sei. Ach ja, der brauchte keine Methode! Und das Ein-
führen des Wissenschaftlichen in die freie Geistesschöpfung
iührte zu ergötzlichen Scherzen der Jüngstdeutschen in den
achtziger Jahren, wo einige Schreihälse wie der Haeckelianer
Bölsche das Studium der Naturwissenschaften als unum-
gängliche Grundlage des Dichtens empfahlen, nur um später
Paul Heyse als hochzu verehrenden Meister anzududeln!
Auch ein Kursus der Mathematik wäre wohl empfehlens-
wert, ehe man die Feder zur Hand nimmt! Wo aber bleibt
•die wissenschaftliche Haltung solcher Verbildeten? Flaubert
— 237 —
gesteht, er studiere ,,za dem einzigen Zweck, auf meine
Zeitgenossen all meinen Ekel auszuspucken, meinen Hass zu
vomieren^^ Diese romantische Subjektivität zwang sich ge-
waltsam zu outrierter Objektivität. Die „Trois Gontes'^ sind
z. B. künstlerische Meisterwerke. Doch vergleicht man
darin „Herodias" mit Wildes „Salome", ja sogar mit Suder-
manns „Johannes", so fällt der Vergleich gar nicht so völlig
zu Flauberts Gunsten aus, wie seine Bewunderer möchten.
Selbst der Effekthaschor Sudermann hat in seinem Herodes
packende Zöge gefunden, indess bei Flaubert uns alles in
einer antiken Fremdheit bleibt, die wahrscheinlich wahrer,
aber nicht eindrucksvoller. Für die ballettartige „Salambo'^
muss sogar sein fanatischer Anbeter Maupassant zugeben,
dass sie sich abspiele wie eine Oper. Der angebliche Realis-
mus dieses Yersetzens in barbarisch - primitive Gemüts-
zustände zerflattert zuletzt wie eine gequälte Phantast
magorie. In „Bouvard und P6cuchet" nimmt jede Gestaltung
Abschied und Goethes vielmissbrauchtem „Bilde Künstler,
rede nicht" hat niemand mehr zuwider gehandelt, als hier
Flaubert, dem es aus der Seele gesprochen sein sollte. In
der allzu berühmten „Madame Bovary" mischt sich platte
Dokumentierung mit sentimentaler Romantik, in Welt-
schmerz und melancholischen Empfindungen der Sünderin
spricht einfach Monsier Flaubert, der doch so unpersönlich
in seinen Figuren aufgehen wollte. Von der „Versuchung
des heiligen Antonius" gilt noch mehr das oben Gesagte.
Hier gibts schon keine Personen mehr, sondern Systeme und
Phantome. Er, Flaubert selber, ist der Heilige, der durch
tausend Widersprüche aller Doktrinen und Dogmen verführt
und verwirrt wird. In dieser chaotischen Konfusion einer
angeblich unpersönlichen Subjektivität erkennt man immer
nur eine Person, den Autor. Ein einzigmal hat er mit
seiner Theorie Ernst gemacht, in der ebenso unerquicklichen
wie technisch meisterlichen „Sentimentalen Erziehung".
Doch was bedeutet uns dieser Roman heut? Eine technische
Vorstudie für Zola.
Dass in Flauberts berühmter Methode, sofern nicht
Zolas Faust sie in ihrer wahren Konsequenz unter
hohen ordnenden Allgemeinsymbolen handhabt, gar nichts
— 238 —
Besonderes oder Schwieriges steckt, zeigt die vorzügliche
Nachahmung der „Tentation^^ in Anatole Frances „Thais^
zeigen die feierlichen Grimassen, mit welchen der überaus
geistreiche Bourget seine bescheidene dichterische Fähigkeit
hinter unwahr zurechtgemachter Analyse einer phantastischen
Psychologie versteckt, während er nur dort etwas Tüchtiges
vermag, wo er wie in „Cosmopolis^^ sich recht unmethodisch
als charmanter Plauderer über mondaine Dinge gehen lässt
France 's feines „Lys Bonge", Huysmans düsteres „La-bäs",
Bourgets „Disciple" sind die endlichen Früchte einer Me-
thode, die ihr Glück im Winkel perverser Sinnlichkeits-
emotionen oder abnormer Nachtseiten der Menschennatur
sucht und aus reiner „Wissenschaftlichkeit" ihrer krank-
haft bohrenden Psyche eine Psychologie schöpft, die mit
der Wirklichkeit in ärgeren Zwiespalt gerät, als aus-
schweifendste Bomantik. Daudet, gleichfalls in der künst-
lerisch bedeutenden „Sappho" solch unanständig erbitterter
Analyse sein Scherflein darbringend, als wolle er mit Belots
„Mademoiselle Giraud ma femme" konkurrieren, ward wenig-
stens durch seinen Dickens kopierenden Humor — Tartarin
ist einfach ein Pickwickier — in gesundere Lüfte entführt
und Loti's wollüstig koloristische Empfindsamkeit haucht in
die stickige Atmosphäre einer aus Studierstubenqualm und
Salon parf um gemischten „wissenschaftlichen" Literatur-
methode etwas Seebrise hinein, während in den Niederungen
des Literaturlebens nach wie vor Leute wie Feuillet und
Cherbuliez ihr sauberes Äckerlein vieux jeu brav bestellten
und tiefer zum Sumpf hinab heut noch die Ohnets den
quakenden Hunger der Frösche stillen.
Wahrlich, etwas anders hatte Balzac den Begriff Analyse
verstanden, bei all seiner künstlerischen Unzulänglichkeit ein
wahrer Analytiker grössten Stils, ein genialer Didaktiker
belletristischer Soziologie, die wirklich manche Elemente
einer Wissenschaft in sich trägt Weder Flaubert noch seine
schwächeren Nachfolger, niemand als Zola trat sein Erbe an.
In der Tat schnitzelt Flaubert am Prosastyl so lange her-
um, bis diese mühsam ertiftelto Ciselierung anwidert, da sie
niemals den sonoren Ausbruch spontaner Leidenschaft
ersetzt. Goethe brauchte sicher nicht viel am „Werther" zu
— 239 —
feilen, denn die elementare Sprache des Herzens trägt in
sich selber vollendeten Wohllaut
Da steht endlich abseits, wenig verwandt seinem
voluminösen Zeitgenossen Balzac, der seltsame Stendhal,
heut wieder ä la mode und chic im literarischen Paris.
Voll überschäumender animaler Lebensfrische, endet er
als kalter Ernüchterter. Mit ironischem und mokantem
Spott Dinge und Menschen verachtend, vermag er nicht
ohne Begeisterung an Napoleon zurückzudenken und
Byron leibhaftig die Hand zu drücken bewegt ihn bis
zu Thränen. Selbst während der Feldzüge, die er als
tapfrer Offizier mitmachte und in „La Ghartreuse de
Parme^^ ein Echo davon nachklingen liess, denkt er in Wien
und Smolensk nicht ohne Herzklopfen an das Land seiner
Sehnsucht, Italien. Auch er krankt innerlich an über-
triebener Nervenfeinheit, versteckt unter eiserner Maske.
Wohl schafft er als Mann der Tat nur tatkräftige Roman-
helden, doch diese beobachten sich selbst wie mönchische
Monomanen, sezieren ihre Empfindungen und registrieren
sie wie zu wissenschaftlichem Experiment Wohl war auch
der kräftige mutige Stendhal, der das grosse Wort ge-
lassen sprach, das einzige Mittel gegen Unglück sei stolzester
Mut, von der Krankheit des Jahrhunderts angefressen. Doch
gibt ihm ein volles Übergewicht über Literaten wie Flaubert
und Baudelaire die Wahrheit und Einheit seines Wesens,
kurz dass er ein lebender Mensch, keine verbogene Schreib-
maschine war. Er handhabte die Feder fechtermässig, wie
ein alter Dragoner, der er war, den Säbel, jede Blosse be-
lauernd. Kosmopolit im Lebenswandel, hatte sein weiter
Horizont für keine Kleinlichkeit Raum, weder für St Chau-
vinisme noch für l'art pour Tart Aber die grosse Kunst
ist das nicht Sie will, wie Carlyle fordert, „a spiritual
picture of nature" bieten. Das geht auch über die Kräfte
des Realismus, wie ihn zuerst Balzac anbahnte. Wir wollen
diesem grossen Geist nicht die Schmach antun, ihn als
Romankünstler zu betrachten, wo dann unser Urteil höchst
absprechend lauten müsste. Obschon er mit seiner gewöhn-
lichen Bescheidenheit proklamierte : „Das Jahrhundert hat drei
grosse Männer, Napoleon, Cuvier und Mich'', so hat ihm die
— 240 —
Nachwelt nicht Wort gehalten. Heut ist er nur noch ein
grosser Name. Napoleon glich er, wenn Vergleich mit etwas
so unermesslich Grösserem statthaft wäre, nur in der um-
fassenden Planmässigkeit, mit der er das ganze Panorama
des sozialen Lebens umspannen und gleichsam literarisch
neu organisieren wollte. Mit Guvier hatte er gemein den
Eifer, gleichsam aus Skeletten eine animale Welt neu zu
konstruieren, unter Anhäufung von Dokumenten die Orga-
nismen analytisch zu zerlegen. Seine künstlerischen Gaben
waren jedoch so wenig seinen grossartigen Absichten an-
gemessen, dass er lange nicht mehr unter die Vertreter des
Jahrhunderts gehört, weil in dem Fach, das er als Autokrat
verwalten wollte, ein sehr viel Grösserer ihn ablöste. Der
Schriftsteller Balzac hat sich aufgelöst, als Zola die literarische
Bühne betrat Übrig bleibt nur der scharfsinnige Gesell-
schaftsdurchdenker, oft von überraschender Originalität der
Einblicke, obschon von ausschweifender Phantasie fort-
gerissen, die er für realistische Analyse ausgab. Wo er
Bahn brach, nahm die altfranzösische Tradition des psycho-
logischen Realismus auch der Stendhal geistverwandte M6-
rim6e („Double möprise'') auf. Ungezügelte Phantastik aber
führt ebensowenig zu hoher Kunst wie nüchterner Realismus:
Das bewiesen Dumas und Sue. Dem Letzteren freilich,
heut ungebührlich unterschätzt, kann man Fähigkeit zu
grossen allgemeinen Gesichtspunkten in Balzacs Sinne nicht
absprechen. Der „Juif erranf will doch mehr als blosse
Spannung erregen und auch in den übrigen Sensations-
stücken trifft man auf lebendiges soziales Empfinden. Be-
sondere „soziale" Bedeutung sprach man der George Sand
zu, die allen männlichen Kollegen ihrer Zeit an künst-
lerischem Takt sich überlegen zeigte. Doch ihr einseitiges
Verrennen in die Frauenfrage, ihr völliger Mangel an echter
Charakteristik und lebensvoller Natürlichkeit, stossen bald
ab und machen ihr heutiges Vergessensein begreiflich. Ihre
Immoralität bekommt durch das verbrämende ideale Pathos
ein Gepräge unbewusster Heuchelei, wie denn ihr reifstes
Produkt „Jaques" eine gradezu brutale Gesinnung in ver-
führerische Maske steckt In ihren aufrichtigsten Aus-
strömungen „Lelia" und „Indiana" gemessen wir jenen alten
— 241 —
Sentimentalitätskram mit lüsterner Verzückung wieder, der
Rousseaus Neue Heloise heut ungeniessbar macht. Eine düstre
byronisch sein wollende Weltschmerzelei — in L61ia findet
man eine begeisterte Apostrophe an Byron als ihren Stamm-
vater — kopiert den Stil Chateaubriands, ohne in prächtiger
Wortberauschung die strenge Schönheit jener Prosalyrik er-
reichen zu können. Was sie übrigens bescheiden zugibt:
„nous, friluquetts form6 ä son 6cole, ne pourrions jamais 6crire.''
Im Briefwechsel mit Flaubert wird offenbar, dass diese beiden
hochgefeierten Persönlichkeiten mit Vorliebe Fachsimpelei
trieben, was ohnehin immer Beschränktheit verrät, bei
Dichterdenkera aber höchstens bezeugt, dass sie — keine sind.
In der Tat, was soll man von einem Flaubert erwarten,
der ohne ünterlass wiederholt (Maxime Ducarap „Souvenirs
litteraires'', I, 168): „Was man sagt, ist nichts, wie man
sagt, alles. Ein Kunstwerk, das etwas beweisen will, ist
schon deshalb Null. Ein schöner Vers ohne Sinn ist einem
ebenso schönen Vers überlegen, der Sinn hat (!!). Ausser-
halb der Form kein Heil!" Solche scheussliche Doctrin, die
wahre Verheerungen anrichtete und grade dem hirnlosen
Reimer zu dichten erlaubt, sprach ein angeblicher Realist
aus, den man als einen literarischen Chirurgen feierte, wie
sein Vater ein tüchtiger Operateur gewesen ! Flaubert selbst
musste darüber lachen, er war von je ein Lyriker, Realis-
mus ist schon schwieriker. In seiner haltlosen Unreife be-
wunderte er anfangs V. Hugo über alles, dann — man höre
und staune — die „Lucrezia" von Ponsard, ein gottverlassenes
Machwerk, endlich übertrug er seine Verehrung auf den
guten Augier, einen tüchtigen Theaterhandwerker. Der Name
„Schule des gesunden Menschenverstands", wie die Ponsard
und Augier sich dreist tauften, hatte es ihm offenbar an-
getan, dem Romantiker und Pessimisten, der sich mit feier-
licher Objektivitätspose die literarische Serviette vorsteckte,
um Sensationen mit Haut und Knochen zu tranchieren.
„Ohne die Sensation meines Kummers zu mindern, analy-
sierte ich sie als Künstler", schreibt er einmal an Ducamp.
Ein andermal gesteht er: ,,Ich lebte zu Rom, so viel ist
sicher, unter Nero." So sehen die Träumer aus, die eine
törichte Kritik als Naturalisten preist. Er verfasste
Bleib treu: Die Vertreter des Jahrhunderts. IQ
-- U2 —
Versehen wie: „Savez vous pas loin de la froide terre, lä-haut
lärhaut dans les plis du ciel bleu, un astre d'or, un monde
solitaire, roulant en paix sous le souflle de dieu?^^ Und so
weiter. Ausser Y. Hugo gab es ihm keine Poeten. B6ranger
war ein Greuel, Musset ein Ekel. Wo Ducamp seine Beise
mit Flaubert an die Geburtsstätte Ghateaubriands erzählt,
haben wir eine Erleuchtung: Flaubert, der nervös zerrüttete
starke Normagner, stammt von Ghateaubriands Geschlecht
Niemals kann er nach dem Rat La Bruydres: „Wenn es
regnet, sage einfach: es regnet^^ es regnen lassen. Der Regen
regnet jeglichen Tag, aber Flaubert filtriert ihn zehnmal
mit seiner Rhetorik, die sich für Natur hielt. Man nennt
dies Naturalismus.
Just um die Mitte des Jahrhunderts machten nach den
frostigen Historien von Delaroche und Ingres, den Schlachten-
bildern von Horace Yemet, die in mancher Beziehung den
früheren Leistungen yon David, G6rard, Gros unterm ersten
Empire nachstehen, gewisse Panoramen des Oberst Langlois
Furore, der Borodino, Eylau und die Pyramidenschlacht in
grossen Leinwandfetzen verarbeitete. Alles sollte weit und
breit, jumfangreich und massig sein, auch die Poesie. Die.se
Ansprüche erfüllte nun Y. Hugo in vollem Masse. Seine
Romane hatten unzählbare Bände, seine Dramen zahllose
Yerse, seine Gedichte nahmen kein Ende. Seiner Sieger-
laufbahn als Bühnenherrscher war dagegen ein Ende be-
schieden. „Die Burggrafen^^ vermochten selbst solchen Ruhm
nicht zu überdauern, diese ehrwürdigen Ruinen begruben
ihren erhabenen Schöpfer. Wie grausig schön klang es
doch: „Quand ils ^taient en marche, ils enjambaient les
ponts, dout on leur brisait l'arche!^^ Ein hundertjähriger
Burggraf Job, ein ebenso betagter wiedererstandener Bar-
barossa, nie waren Sterbliche greiser und weiser. Wie
romantisch ist doch dieses! Doch die undankbaren Pariser
hingen in den Buchläden eine Karikatur aus, Y. Hugo einen
Kometen betrachtend, mit der Unterschrift: „Hugo, lorgnant
les vofites bleues, se demande avec embarras, pourquoi les
astres ont des queues, quand les Burggraves n'eu ont pas.^^
Dies letzte Auftreten Hugos als Theatermeister, diese
entscheidende Niederlage des sogenannten romantischen
— 243 —
Dramas, bedeutete nichts anderes, als dass Frankreich
der gespreizten Unnatur müde wurde: eine Veränderung
des Geschmacks, nicht eine Veränderung Hugoscher
Kräfte.
Denn sein erstes Drama „Hernani^', das solchen Kampf
entfesselte und ihn zum Triumphe führte, war es etwa minder
lächerlich? Karls V. Tiraden am Grabe Karls des Grossen
und der schauerliche alte Grande Gomez gaben wahrhaftig
den Standreden Barbarossas und den schauderösen alten
Burggrafen nichts nach. Man kann einen Prüfstein an all
diese Alexandrinerstücke anlegen: sie in Prosa übersetzeuJ)
Das ist, als ob man einem Pfau seinen Schweif ausrisse.
Was bleibt übrig? Nur eine pompöse Pfauenräder schlagende
Rhetorik, die trotz ihrer ermüdenden endlosen Langatmig-
keit eindrucksvolle eindringliche Verve atmet, versteckt die
innere Hohlheit Solch überladene Ausstattung mit rheto-
rischem Prunk sollte dazu dienen, die Schwierigkeit
realistischer Charakteristik zu umgehen und die Ge-
schwollenheit der ohnehin auf Stelzen wandelnden Hoch-
gefühle noch koturnmässiger stolzieren zu machen. Doch
rächte sich dies, indem auch dort, wo dem Dichter
sonst ein realistisches Historienporträt, wie sein Franz I. in
„Le Roi s'amuse^^, gelungen wäre, feinere Züge in der
Rhetorikflut ertranken. Zweimal versuchte er durch An-
wendung der Prosaform seinem eigenen Unwesen zu steuern
und der dritte Akt der „Lucrezia Borgia^^ gehört zum
Besten, was die Bühneneffektmache der Franzosen je zu
Stande brachte, der Alfonso d'Este zu den besten kultur-
historischen Personalveranschaulichungen des Renaissance-
milieu. Aber das Ganze klingt auch hier hohl und gekünstelt,
sowie sein anderes Prosastück „Marie Tudor'^ umsonst aus
einer gemeinen Intrigue ein Gharakterdrama zu schöpfen
suchte. Die ganze Theatermanier Hugos läuft auf eine
wilde Jagd nach Effekten und Sensationen hinaus, er er-
greift nicht das Gemüt, sondern kitzelt die Nerven, und
betäubt den Verstand mit wirrer Phantastik. Wie seine
So haben wir es mit ,,Ray Blas^^ gemacht. Diese Übersetzung
ward 1902 pabiizieri Yereübersetzongen aus ,,Le8 Orientales^^ finden
sich in unsrer „Geschiohte der Englischen Literatar*^
16*
— 244 —
Rhetorik erbaut sich seine Dramatik auf einem System
gesuchter, geschraubter Antithese. Die von ihm konstru-
ierten Gegensätze stammen nicht aus dem Leben, sondern
klügelnder Einbildung. Sein Drama ist nicht dramatisch,
sondern theatralisch. Obschon er durchweg die Historie zu
stofiFlicher Unterlage nimmt, schaltet er darin mit solcher
Willkür, nutzt sie so brutal zu Bühnenkniffen aus, dass be-
zeichnenderweise dasjenige seiner Stücke noch verhältnis-
mässig die reinste Wirkung auslöst, wo das Historische nur
als ECntergrund und Kostümmilieu verwertet wird:
„Marion Delorme^^ Wie bezeichnend aber auch, dass dies
Drama von der reuigen und durch liebe geläuterten
Sünderin, so feinfühlig der falschen Sentimentalität des
Jahrhunderts angepasst, jene Hochflut von Magdalenen-
rettungen im Stil der „Kameliendame^^ nach sich zog! Der
angeblich hoch über Menschheit und Geschichte thronende
Gigant entpuppt sich hier als richtiger Yertreter des misel-
süchtigen, zwerghaften Jahrhundertgeistes, der nur in
erotischen Sentiments einer angefaulten Lebenshaltung das
Ewigmenschliche sieht. So fälschte übrigens schon Yigny
im „Ginq-Mars^^, dem dann die schwächliche Gründung des
romantischen Dramas in seinem „Marschall d'Ancre^^ und
„Ghatterton" folgte, die Geschichte zu Gunsten erfundener
Gemütsmenschen, machte aus Richelieu einen grausen Popanz,
aus seinen elenden Widersachern edle Märtyrer. Hugos
Erstlingsstück „Gromwell^^ beleidigt geradezu die Geschichte.
Yon Hugos Romanen ist nicht viel anderes zu sagen.
Wie man die endlosen Tiraden seiner Monologe und Dialoge
erbarmungslos streichen und kürzen muss, um Aufführung
zu ermöglichen, nach solcher Ausmerzung aber den eigent-
lichen Kern der Handlung immer winziger einschrumpfen
spürt, so könnte man von den Dutzend Druckbänden seiner
Erzählungen getrost die Hälfte in den Papierkorb werfen.
Auch hier dasselbe Manöver wie bei den Dramen, bewusst
oder unbewusst: durch Überfütterung mit einem Neben-
gericht die Hungersnot in der Hauptnahrung ausgleichen
zu wollen. Wie dort den Mangel an echter dramatischer
Kraft und Gharakterisierungsvermögen eine erstaunliche
rhetorische Sprachmeisterschaft verstecken sollte, so hier das
-^ 245 —
spärliche Sprudeln epischer Gestaltung ein Überwuchern der
blossen Schilderung, verknüpft mit einem Ballast rhap-
sodischer Reflexion. So besteht der Wert von ,,Notredame
de Paris^' einzig in der kulturhistorischen Umrahmung.
Wenn er möglichst barocke Wechselbälge der Phantasie
geworfen, präsentiert er sie als Löwenjunges. Quasimodo
und Esmeralda bereiten vor auf das Monstrum „L' homme
qui rit^^ Die angebliche Psychologie erinnert an Balzacs
famose Finanzphantasien, die immerfort mit Summen aus
dem Märchenland operieren, dabei aber die strenge Exaktheit
eines Statistikers vorgaukeln. Es ist nicht die Psychologie
der Natur, wie bei den grossen Lebensdarstellem, sondern
einer grübelnden Anmassung, die Natur nach ihrem Be-
lieben auszudeuten. Freilich wird ein nicht selber befangenes
und in Durchschauung der Hugoschen Mache vorein-
genommenes Urteil die deskriptive Bravour selbst in der
Lächerlichkeit des „Lachenden Manns^^ nicht verkennen.
Doch Hugos Erhabensein über jede landläufige Behandlung
der Epik, sein Schildern um des Schilderns willen, sein
Schwelgen in jedem Einfall und jeder Episode, die zu mass-
losen Abschweifungen seiner Reflexionswut Aulassgeben kann,
wird auf die Dauer unerträglich. In den „Mis6rables^^ wird,
sobald ein Kloster in der Handlung auftaucht, Kapitel nach
Kapitel einer Psychologie des Klosterlebens und Mönchtums
eingeschoben. Die bekannte Schilderung der Schlacht von
Waterloo, sehr oberflächlich im Inhalt, in der liebevollen
Phraseologie über das Wörtchen „Merde^^ daran erinnernd,
dass bei Hugo vom Erhabenen bis zum Lächerlichen immer
nur ein Schritt ist, steht völlig unvermittelt am Eingang
des zweiten Teils, füllt dessen ganzes „Livre Premier^^ ohne
den geringsten Zusammenhang mit der Bomanhandlung. Denn
alles, was zu pomphafter Freskomalerei oder Ideen über Gott,
Welt und umliegende böhmische Dörfer einladet, muss ihm vor
die Klinge, ob das vorliegende künstlerische Thema, das er dem
Leser ankündigte, sich noch so sehr dagegen sträubt. Sogar
mit seiner eigenen Person belästigt uns dieser feinfühlige
Erzähler mitten im Text Mal teilt er uns mit, dass der
Bischof von Ptolemai's sein Ahnherr war, mal soll die Schlacht
von Waterloo offenbar ein höheres historisches Interesse
— 246 —
dadurch gewinnen, dass Er, der grosse Hugo, den Spuren
seines Kollegen Napoleon als Besucher der Walstatt folgte.
Darum entspringt der völlige Mangel an stofflicher Kom-
position und technischer Ökonomie organisch aus dem Wesen
des Verfassers, der immer Sich als geistigen Mittelpunkt
und als von Gott selber gesetztes Mass aller Dinge betrachtet.
Diese souveraine Gleichgültigkeit gegen epische Zurück-
haltung und Versenkungdes Ichs ins Werk— was einem Flaubert
Bauchgrimmen hätte yer Ursachen sollen, diesen pathologischen
Phantasten trotz aller Schroffheit seiner Theorie aber nicht
abstiess, weil die Hugo-Idolotrie nun mal zum guten Ton
der französischen Kultur gehörte — paart sich dabei mit
gekünstelter äusserer Symmetrie, sauberer Architektur des
Aufbaus in „Teilen^' „Büchern^^ „Kapiteln^^, als ob ein Kant
philosophische Kategorieen wohlgefällig ordne. Auch hier
wieder das unerfreuliche Vertuschen des inneren Manko
durch scheinbare Sauberkeit der äusseren Darstellung und
Form, während Hugo überall von innerer Formlosigkeit
strotzt. Also überall peinlich pedantische Mache und Technik
in Äusserlichkeiten neben mystischem Orakelton, sibyllinische
sieben Bücher in gefälligem kokettem Einband, deren
geheimnissvolle Siegel der erhabene Prophet uns löst mit
den Manipulationen eines Taschenspielers. Das Sibyllinische
aber stellt sich dar als eine Reihe unklarer Phrasen, unter
denen hier und da ein genialer Treffer aufblitzt. Oft schläft
ja auch der gute Vater Homer und Vater Hugo kann seinen
Anbetern nicht immer göttliche Weisheit spenden, er lallt
daher in Träumen unverständlichen Tiefsinn. Das ewige
Orakeln greift an und man muss gestehen, dass der ruhm-
volle Weise sich selten in wachem Zustande befand. Aber
auch der unglückliche Gläubige, der nach allen Brosamen
hascht, die von diesem reichen Altartische fallen, fühlt sich
zuletzt sehr angegriffen und duselt ein. So entsteht zwischen
Hugo und seiner Gemeinde ein Band gegenseitigen Träumens,
das sich die Wirklichkeit so zusammenknüpft, wie Hugo
und Frankreich und die alleinseligmachende Demokratie sie
sich wünschen. Paris ist das neue Jerusalem, die „Stadt
des Lichts*^, das „Hirn Europas^S Frankreich ist der Christus
der Menschheit, der sich in der grossen Bevolution gekreuzigt
— 247 —
hat, nachdem er allerlei Mirakel verübte and Tote wieder
zam Leben erweckte: Hugo hat sich nicht gescheut, dies
geschmackvolle Gleichnis lang und breit durchzuführen.
Wie sollte „das erste und grösste der Völker'^ nicht dazu
fähig sein, da dessen erster und grösster Sohn, Er, Yictor
Hugo, doch selber als wundertätiger Sohn Gottes ein Wunder
der Schöpfung bildet! „L' illustre Angleterre'' „1* auguste
Allemagne^\ wir geruhen euch anzuerkennen, aber beugt
euch vor dem Lichtvolk, das einen Hugo erzeugte! Als Sohn
eines bonapartistischen Generals den Chauvinismus mit der
Muttermilch einsaugend, behielt er unter allen Veränderungen
der Zeitläufte und seiner eigenen Überzeugungen dies
nationale Erbteil. Nachdem er dem Napoleonkult genügend
geopfert, wandte er sich als Jakobiner davon ab und pflog
einer kritischen Haltung achtungsvoller Nekrologie, als
beerdige Er in Napoleon das letzte Hindernis der inter-
nationalen Demokratie. Der internationalen, aber wohl-
gemerkt mit dem nationalen Frankreich an der Spitze, das
natürlich sein Recht bewahrt, so national wie möglich als
Spitze der Völker zu marschieren. Deutschland ist wie
Indien unsre liebe Grossmutter, die wir ehrerbietig in die
Ecke stellen, wo sie mit der Brille in allen möglichen
philosophischen Postillen studieren darf. Aber sich als
gepanzerte Germania aufzupflanzen, dazu fehlt ihr jede
Berechtigung, solcher Eingriff in die moralische Weltordnung
Victor Hugos kann nicht streng genug als herzlos und ver-
werflich gerügt werden. So donnerte denn der Erhabene
während der Belagerung von Paris, nachdem sein Manifest
an das unehrerbietige Deutschland mit dem so gross-
mütigen Grossmuttervergleich leider im Gelächter verhallte:
,jedes Haus speie seine Möbel auf die Vandalen,
jedes Eind an der Mutterbrust schwinge das Chassepot^, eine
kolossale Lev6e en masse wird die frechen Besudier des
«
heiligen Bodens verscheuchen. Was sage ich! Dieser Boden
selber genügt schon, sie von sich wegzuschnellen ! Ist er
nicht mit Elektrizität geladen, mit Victors Siegergenius? So
zog Paris eine „Idee^^ nach der anderen aus der Scheide . . .
Victor Hugos. Jede Phrase ist nämlich eine Idee im Hugo-
schen Französisch. Aber ach, die rauhe Wirklichkeit lehnt
— 248 —
solche Münze ab, sie behauptet dass Phrasen keinen Kurs
haben, und das Traumland kapitulierte!
Gleichwohl stak hier mehr als blosse Phrase und die
Wirklichkeit sprach mit dieser augenblicklichen Antwort
historischer Kausalität nicht ihr letztes Wort. Der Germane
versteht nicht die romanische Bealität Er übersieht zu leicht
in seiner nüchternen Buhe, dass der nervösen Unruhe auch
magische Kräfte innewohnen, dass dem Erhabenen zwar das
Lächerliche, aber dem Lächerlichen auch manchmal das Er-
habene verwandt. An letzteres zu glauben fällt ihm schwerer,
als dem Bomanen, obschon er es, wenn einmal erkannt, auch
um so treuer ehrt. Ein Phrasenschmied scheint dem Deutschen
und Briten gleichbedeutend mit einem Lügner. Aber was
im Bomanen verlogen, ist oft nur die Ausdrucksweise, nicht
das Gefühl selber. Und so erkennen wir zwar deutlich
Hugos Yerlogenheit als Künstler, seine grelle Effekthascherei,
seine blendenden Täuschungen durch äusserlichen Formprunk,
sein raffiniertes System, mit allerlei nebensächlichen Hand-
griffen derBhetorik, der Schilderungsvirtuosität, des Beflexions-
bombastes sich und anderen über sein beschränktes schöpfe-
risches Vermögen wegzuhelfen, sein schillerndes Kupfer als
lauteres Gold herauszuputzen. Aber etwas solides Gold unter
so viel trügerischen Papierassignaten enthielt seine Bank
doch und er wusste es in Umlauf zu setzen, obschon mit
selbstbetrügerischer massloser Hausse einer schwindelhaften
Kurssteigerung: Das war die Echtheit seines Gesinnungs-
pathos in Entrüstung wie Begeisterung. Phrase die Form.
Wahrheit das Gefühl. Wo immer das Heroische vor ihm
auftaucht, da vibriert in ihm eine verwandte Ader, da klingt
eine Saite seiner Leier, die in uns ein Echo findet. Ans
Modern -Soziale hätte er sich nicht heranmachen sollen,
weniger aus Spekulation auf den plumpen Zeitgeschmack,
als aus schnaufendem Bedürfnis, seine Prophetentoga auch
im Gedränge sozialer Kämpfe weihevoll auszubreiten. Seine
edlen Galeerensklaven, wie Jean Valjean, sind weder sozial
noch modern gedacht und wirken in ihrer Engelhaftigkeit
geradeso grotesk, wie die Grimassen des L' Homme qui rit.
Der Mann, der lacht, ist bei so was meistenteils der Leser
selber. Auch einzelne Wirklichkeitstypen, wie der Polizei-
— 249 —
inspektor und der dummpfiffige Klostergärtner, erscheinen
mehr outriert, als charakteristisch. Diese ,.Mis6rabIes'^ und
„Travailleurs de la mer^^ sind Gebilde von Eugen Sue, ohne
dessen Lebendigkeit. Aber wo Hugo, wie in „Quatrevingt-
treize^\ auf das Heroische stösst, da gewinnt seine An-
schauung Leben. Unter allen Gemälden der Revolutionszeit
gibt dies noch am kräftigsten die Blitze, Wolken und Schatten
des Elementarereignisses wieder.
Auch findet sich in den „Mi86rables^^ eine Stelle von
wahrer, schlichter Erhabenheit
Das ist die Szene, wo der gute Bischof, diese liebens-
würdige und echte Menschengestalt, die Hugo einmal aus-
nahmsweise geschaffen, den sterbenden Eonventrepublikaner
bekehren will und dieser als Antwort sein Leben erzählt, in
welchem sich gleichzeitig das gewaltige Bild der von allen
Dummköpfen und Philistern verlästerten Befreiungstaten er-
hebt. „Ich sterbe, was verlangen Sie denn von mir?"
„Ihren Segen!'' erwiderte der Bischof und er kniete nieder.
Als er das Haupt erhob, war das Antlitz des Jakobiners
weihevoll geworden. Er hatte zu leben aufgehört'^
Bravo, alter Hugo, alter Löwe! Diesmal hast du gut
gebrüllt und wir wollen den Ton im Ohr behalten.
In diesem Poseur stak also doch ein Dichtertum. Dass
dies am reinsten in seiner Lyrik sich loslöse, wird vielfach
behauptet. Wir können nur bedingt beipflichten. Freilich,
wer für Dramatik und Charakteristik nicht durch Theaterspuk
und Schwulst, für Epik und Handlung nicht durch Schilderei
und Schwätzerei entschädigt werden mag, lässt sich dies
alles viel eher in der Lyrik gefallen, zumal wenn dieser
schillernde Schaumwein in feinziselierter Schale höchst
vollendeter Versformen dargeboten. Hier darf Hugo sich
ganz gehen lassen, seinen Durst stillen und seine unbändige
Gier nach Gedankenmetaphem befriedigen, ohne die Gebiete
der Kunst zu verwischen und zu sprengen.
Die Titel „Lichter und Schatten^' und „Kontemplationen^^
wählte er sehr bezeichnend für zwei Hauptsammlungen
seiner Gedichte. Allein, auch hier wird man ermüdet und
abgeschreckt. Schon sein Erstiing „Die Orientalen'^ machte
lediglich durchs exotische Kolorit Furore. Nicht mit
— 250 ~
Unrecht, gestehen wir. Denn die Farbenglut dieser Phantasie-
flüge — sah doch Hugo den Orient nur in seines Geistes
Auge, nicht wie Byron durch eigene Anschauung — blendet
und fesselt in hohem Orade. Das grosse Prachtstück „Feuer
des Himmels^^ hat erstaunliche Kraft, „Türkenmarsch^^ einen
dämonischen Schwung, „Bounaberdi^^ eine feierliche Weihe.
Aber das Meiste bleibt kalt und tot, frostige Bhetorik trotz
aller brennenden Hyperbeln, und wenn in seiner späteren
Lyrik, auch in der letzten Sammlung des Greises vor seinem
Tode, manchmal wirklich lyrische Töne anklingen, — so in
den reizenden Einderidyllen, worin er seine Enkel besingt,
als ob ganz Frankreich sich mit solchen Dauphins des
königlichen Hauses Hugo familiarisieren müsse — , so er-
stickt doch auch hier Bombast alle einfachen Naturlaute.
Es bleibt im weitesten Sinne Didaktik, so auch in der gross-
spurigen „Legende des Sidcles^\ oft mit einem Anflug von
Grossartigkeit, meist aber gespreizt, gekünstelt und endlos
weitschweifig. Selbst die gleichmässig vollendete Form
schleppt sich eintönig fort trotz häufigen Spielens mit
wechselnden Rhythmen und Yersmassen. Man braucht
noch gar nicht auf dem abstrakten Standpunkt der deutschen
reinen Lyrik zu stehen, um das tJnlyrische einer Vers-
schwelgerei zu spüren, welcher stets Byrons spöttische
Selbstironie „Description is my forte" als ernstes Motto vor-
schwebt. Am besten gelingt daher noch das Balladeske,
wie das bekannte „Gastibelza, l'homme ä la carabine chantait
ainsi." Als Soldatenkind schlägt er in den „Ghätiments"
und „Chants du cröpuscule'' für die Eiieger von Arcole bis
Waterloo die Trommel. Hier und da findet er tiefere Töne
wie die schöne Grabbetrachtung: „La foule des vivants rie
et suit sa folie, tantöt pour son plaisir, tantöt pour son
tourment, mais par les morts muets, par les morts qu'on
oublie, moi roveur je me sens regard6 fixement." Aber
das Didaktische oder Deskriptive drängt sich immer wieder
zwischen die lyrische Empfindung ein.
Das Endergebnis der ganzen hundert Bände Hugos
bleibt also die Tatsache einer zweifellos ungewöhnlichen
Begabung, eines umfassenden überreichen Geistes, der seine
Fülle in allen nur möglichen literarischen Gattungen zu
— 251 —
entladen strebt, eines Talents von seltener Stärke und hohem
Range, das aber von der fixen Idee geplagt wird, es sei
ein Genie. Unter Shakespeare, Byron, Goethe tut er's
nicht, wenn er in seinen monumentalen Vorreden — be-
sonders bei den Dramen, deren Schwäche freilich solche
hochtrabenden Vorreden als Kommentar nötig hat — seine
Pairs und Ahnen aufzählt, denen er angeblich nacheifert
Wie er sie missverstand, wie völlig er der Natur sich ent-
fremdete, immer nur auf den Effekt hinarbeitete, dafür
bietet er auf jeder Seite eine Selbstbeschuldigung. „Ah, tu
m'as tu6, je suis ta möre!^ dieser Knalleffekt am Schluss
der „Lucrtee Borgia^\ wo die Geheimnisbombe erst beim
vor Verblüffung fallenden Vorhang platzt, hat etwas Typisches
für seine Unnatur, die mit Beelzebub den Teufel der
klassizistischen Naturlosigkeit des Bacinedramas vertrieb.
Gleichwohl unterschätzen wir seine literarhistorische Be-
deutung nicht, die gerade in seinem dichterisch unreifsten
Wirken als Theatermacher sich ausprägt Als die europäische
Romantik alle Zeiten, Länder und Zonen für ihre Kostüm-
pose plünderte, suchte er doch wenigstens Ideenperspektive
eines universalen, nicht bloss literatenhaft beschränkten
Horizonts und machte sich an die Geschichte heran. Dass
er darin etwas Besonderes entdeckt habe, behaupten zwar
nur seine Vorreden. In den Arbeiten selber überwiegt
ausschliesslich, wie wir schon früher berührten, die erotische
Intrigue. Platens Rüge an Schiller „Etwas weniger Lieb-
schaften!^^ traf bei Schiller nur ein übertrieben verwertetes
Requisitenmittel, bei Hugo aber wird dies zum Selbstzweck.
Auch erfand er sich, wo er mal tiefere historische Bezüge
auffinden wollte, einfach unhistorische Vorgänge. Wenn
seine Burggrafen das Räuberlied anstimmen: „Dans les
guerres civiles nons avons tout les droits, nargue ä toutes
les villes, et nargue ä tous les rois!^\ fragt man sich ver-
wundert, in welchen böhmischen Wäldern dieser poetische
Spiegelberg die Spiegelfechterei solcher Karl Moors des
Mittelalters entdeckte, da uns weder von einer Kaste
rheinischer Burggrafen noch von ihrer Raubritterherrlichkeit
unter den Hohenstaufen etwas bekannt ist Gleichviel, ein
Fortschritt lag hier trotzdem, etwas mehr Ehrfurcht vor der
— 252 —
Geschichte, als die Alexandriaerpathetik von Corneille bis Vol-
taire sie bewies. Für Racine gab das Römertum nur die Maske,
um Cheyalerie und Galanterie am Hofe des Sonnenkönigs
einzukleiden, für Voltaire waren Cäsar und Mahomed nur
Frügeljungen, um an ihnen mit dröhnenden Aufklärungs-
sentenzen den Vers Diderots zu vollstrecken: „Mit des letzten
Pfaffen Darm hängt den letzten König auf !'^ Kurz, diese ganze
Geschichtsdramatik trug eine Allongeperücke. Hugo aber
führte die bis dahin in Frankreich undenkbare Neuerung
ein, dass seine Geschichtsmenschen wirklich Sitten und
Redeweise ihres Zeitmilieu ausprägen sollten und dass
nicht lauter glatte Eonventionalitäten in eintöniger Gleich-
mässigkeit eines falschen Heroenpathos sich als Menschen
gebärdeten, sondern eine auch das Groteske und Lächerliche
nicht scheuende Charakteristik die abstrakte historische Feme
belebte. Freilich bleiben für uns, die wir von Shakespeare,
Schiller, Kleist, Grabbe herkommen, Hugos Anläufe nur
fromme Wünsche, die bald in einem neuen Alexandrinertum
stecken bleiben. Auch entschädigt er sich für sein Milieu-
kopieren — immer im Äusserlichen sucht er seine Stärke,
weiter kommt er nicht — durch höchst anachronistische
Tiraden seiner Helden. Sämtlich vom Stamm der Asra,
welche sterben, wenn sie lieben, ausserdem noch von Marquis
Fosas und Don Carlos Samen gezeugt, deklamieren Hemani,
Didier, Triboulet, Gennaro, Ruy Blas von der Tribüne des
19. Jahrhunderts, lauter kleine Hugos, die in gar keiner
Zeit zu Hause sind. Doch unter den Blinden bleibt der
Einäugige König und diese Sensations-Intriguenstücke ver-
treten noch allein in der französischen Literatur den grossen
Stil auf eigentümliche Art, während die paar historischen
Romane wie Vignys „Cinq-Mars^^ und Dumas „Drei Musketiere^'
nur aus Nachahmung Walter Scotts hervorgingen. Be-
zeichnenderweise hat nur £iner Hugos Manier aufgegriffen,
nämlich Sardou in „Patrie^^ und „Theodora^^, mit noch derberer
Effekttechnik, stellenweise sogar mit stärkerer Charakteristik,
aber ohne Hugos melodramatischen Schwung. Legt aber
diese Seltsamkeit, dass der raffinierteste begabteste Theater-
spekulant der neufranzösischen Salonkomödie sich an Hugos
Beispiel erbauen und ihn erfolgreich nachahmen konnte,
— 253 —
nicht den Schluss nahe, wie undichterisch im Orunde Hugos
Art? Das Oenie kann man nicht nachahmen.
Nicht nachahmen, selbst wenns in der scheinbar plau-
sibelsten, nämlich durch und durch nationalen Art auftritt,
derart dass grade das spezifisch Rassige sich in ihm ver-
körpert Ja, in dieser an wahrer Poesie ärmsten Literatur,
die so unendlich viele Talente der Prosa und einen so
gleichmässigen Sonnenschein feiner Kultur besitzt, dass die
wolkige schwüle Atmosphäre, aus der die Blitze des Genies
aufzucken, sich nicht zu ballen vermag, zuckte doch einmal
ein solcher Blitz auf, leider zuletzt unter schwachem Wetter-
leuchten im Sumpf verlöschend, überhaupt mehr Blitz als
•Donner. Und dieser Geniale war der echteste Franzose,
ein unverfälschtes Pariser Eind, ein Zeitgenosse des grossen
Hugo, der mit seinem Eolossusschatten die Arena bedeckte,
so dass so kleine Leute wie Alfred de Musset kaum zwischen
seinen Beinen Platz fanden. Die sogenannte Romantische
Schule leistete ja sonst nicht viel. Neben morosen Originalitäts-
haschern wie Eerr und Nerval, die mehr Callot-Hofmann
als Tieck und Novalis nachwandelten, fiel noch am günstigsten
die finstre Männlichkeit de Yignys auf, der nach der an-
schaulichen und lebendig pittoresken, doch nicht sonderlich
erfrischenden Historie „Cinq-Mars^' wenigstens in einzelnen
straffgespannten Poemen wie „Eloa" „Der Tod des Wolfes"
jene horbe stoische Verzweiflung und in der Erzählung
eines alten Militärs der Napoleonszeit („Grandeur et Servitude",
auch „Stello^^) ein scharfes Profil zeigte, das in seinen
entzückenden Briefen an seine Nichte noch sterbend dem
Tode eine hohe klare Stirne aufrecht entgegentürmt. Sonst
aber in der geschwollenen Phraseologie der Romantik begrüsste
man B^rangers Chansons als Auferstehung des alten esprit
gaulois und vergass sich so weit, diese reizende Volkstüm-
lichkeit als hohe Dichtung anzupreisen, obschon ein Ver-
gleich mit den beiden anderen Volksdichtern Bums und
Petöfi seine Eleinheit deutlich macht. Aber da kam ein
eleganter Boulevardier, ein blasierter und früh verlotterter
Salonmensch, der sich selbst zu frühem Ende verwüstete.
Mit dreiundzwanzig Jahren schuf er das Meisterwerk fran-
zösischer Poesie „Rolla'' und die letzten dreizehn Jahre
— 254 —
seines kurzen Lebens — er starb als Fünfziger — hörte
man nichts weiter 7on ihm, als dass er immer noch Laudanum,
Absynth, Opiam und Alkohol huldige und von George
Sands Untreue phantasiere. Ein klägliches Schauspiel
mimosenhafter Schwäche, wo ein Ewiges und Orosses an
krankhafter Neigung für brutale Zeitlichkeit eines dämo-
nischen Weibes zu Orunde geht. Möglich, dass Mussets
Version seines Liebesverhältnisses mit der Vertreterin einer
Freien Liebe, deren Theorie bei George Sand aus praktischer
Begierde keimte, auf Wahrheit beruht Möglich, dass George
Sand Entschuldigungen hatte. „Lui et Elle'^ „Elle et Lul^\ diese
widerliche Alkoven-Polemik lässt jedenfalls bestehen, dass
dem genialen Menschen Musset das Rückgrat fehlte. Eine Art
sittlicher und geistiger Rückenmarkschwindsucht siechte in
ihm dahin, aber er mochte Recht haben, dass dies nur eine
Maladie du Siöde sei, die in seinem überfeinen verzärtelten
Nervensystem ihre pathologische Krise erreichte.
Ursprünglich noch reicher beanlagt als seine unter sich
so verschiedenen, doch ihm gleichmässig verwandten Ge-
nossen Heine und Lenau, mit denen er auch die Selbst-
zersetzung der Romantik literarhistorisch gemein hat, litt er
als Mensch weit ärger Schiffbruch als jene. Lenau wehrte
sich wie ein Mann gegen den Wahnsinn, Heine trug mit
skeptischer Stoa sein Elend. Musset, wollüstig in blosse
Seelenschmerzen eingewühlt, brach darunter zusammen wie
ein greinendes Muttersöhnchen. Denn das Genie kann sich
im Leben nur behaupten, wenn es sich selbst zum Herois-
mus erzieht Heroisch waren aber in Musset nur einzelne
Adlerflüge, wo er sein Ich-Leid über sich selbst erhob und
Byrons echten Weltschmerz nachempfand, alles Übrige blieb
in sinnlich frivoler Salonbummelei stecken. Deshalb konnten
wir ihm nicht als einem Jahrhundertvertreter besondere Be-
achtung schenken, weil das Ewige in ihm ausserhalb des
Jahrhunderts steht, die superkluge Eigenart unsres Zeitalters
aber bei anderen viel schärfer zum Ausdruck kam. Sein
„Bekenntnis eines Kindes des Jahrhunderts^^ blieb notwendig
ein blosses geistvolles Fragment, weil ihm die Kraft gebrach,
sein Seelengeständnis wirklich zu einem typischen zu er-
weitern, wie nicht nur im Werther, sondern auch im Ren6
— 255 —
es gelang. Wo man Heine hat, braucht man sich nicht mehr
um Musset zu kümmern, da das Charakterologiscbe der Zeit
im ersteren so ungleich mächtiger sich auslebt. In der
liebevollen Bmderbiographie von Faul de Musset entrollt
sich ein blosses dürftiges Literaturleben, ohne Beziehung zu
sozialen und politischen Fragen. Als er sich einmal als
Chauvin versuchte, in der Antwort auf Beckers banales
Rheinlied, verfiel er in nicht minder kindischen Ton und
höchstens seine prachtvollen Strophen „Zur Oeburt des
Grafen von Bordeaux^^ greifen tiefer ins Mark des Zeit-
historischen. Im allgemeinen verfing er sich stofflich im
engen Gebiet auschliesslicher Herzenskonflikte, oft mit
scheinbar bedenklicher Hinneigung zum Frivolen, was je-
doch dem Tieferblickepden nirgends einen edeln schmerz-
lichen Ernst verhüllt. Nur einmal wagte er sich ins
Historische und so überlegen zeigte sich auch hier seine
Genialität, dass er in Hugos äusserlicher Stoffdomäne .des
Renaissancedramas ihn schimpflich aus dem Felde schlug.
Nirgends theatralisch, mit souverainer Gleichgültigkeit
der Bühnentechnik spottend in meist Grabbe-artig zerhackten
Szenen, weshalb Sarah Bernhardts Yirtuosenlüsternheit sich
durch neuerliches Aufführungsexperiment an Mussets Manen
nur versündigt, bleibt „Lorenzaccio^^ gleichwohl das einzige
geniale und wirklich dichterische Drama der französischen
Literatur, gleich meisterhaft in subtiler Charakteristik wie in
echtem Renaissancekolorit, neben „Rolla^^ das Werk, in dem
Musset sich selber und sein Seelengeheimnis aufgedeckt.
Übrigens hinterliess er den Torso einer historischen Vers-
tragödie „Fredegonde", von der man Grosses erwarten durfte.
Dies Historische hätte man ihm am wenigsten zugetraut,
echte Genialität zeigt sich eben stets als eins und un-
teilbar, universal, fremd jedem Spezialismus, jeder Manier,
wie unser Epigonenjahrhundert es wünscht und liebt. Der
graziöse feine und schlichte Musset der Erzählungen und
Komödien (Proverbes) scheint ein ganz anderer, als der ge-
waltig Ergreifende seiner wundervollen Lyrik, in welcher
wiederum die wilden Sinnlichkeitsaffekte der Jugend („Avez-
vous vu dans Barcelone une Andalouse an sein bruni^^ oder
die kleinen Versepen und Versmelodramen) und jovialen
— 256 —
Heiterkeiten (Baliade ä la Lune, Voyage en Italie, La mie
Prigioni) von der tiefinnigen Innerlichkeit und erhabenen
Gefühlsreinheit der „Dezembernächte", „Hoffnung in Gott"
„Brief an Lamartine " „Stanzen an die Malibran" u. s. w. ab-
stechen. Ja wahrhaftig, was ein Naseweiser über Byron
phrasierte: „C'est du g6nie mal log6," hier stimmt es wirk-
lich. Man ärgert sich, ihn in solchem menschlichen Gehäuse
eines sentimentalen Boulevardiers zu trefTen, aber man muss
den Hut bis auf die Erde ziehen vor dem apollinischen
Sänger. Mit wundersamem künstlerischen Takt begabt, schuf
Musset überall etwas Rundes, Fertiges, in sich Vollkommenes:
wohin er seine weiche Hand tändelnd legte, formte sich der
Stoff wie Wachs. Das Tändeln haftete zwar nur auf der
Oberfläche seines Parisertums, darunter fand er stets das
schwermütig Elegische. „Man tändelt nicht mit der Liebe^^
(On ne badine pas avec Tamour) heisst der Titel seines
feinsten Proverbe. Erst durch ihn gewann das gallische
Idiom Ausdruck für intimste Gemütsregungen und Idealität
der Leidenschaft Der so unermesslich überlegenen Poesie
der Germanen hat Frankreich nur zwei Dinge gegenüber-
zustellen: „RoUa" und die unvergleichliche Elegie ,,Souvenir".
Doch das sind Dinge, sofern man sich vom beschränkten
Rassegeschmack losmachen und das klassizistisch-rhetorische
Wesen der französischen Verssprache als berechtigte Eigen-
tümlichkeit hinnehmen mag, die unter den obersten Erzeug-
nissen der Poesie ihren Rang behaupten, nur kulminierende
Hauptwerke der Weltdichter ausgenommen.
Dieser nationalste Vertreter des gallischen Geistes, in dem
sich feinste Eigenart des Franzosentums auslebte, hat keine
Schule gemacht. Nur eine Seite seines Wesens führte der
schneidigeMaupassant weiter. Weil dieser grobkörnig bis zur
Unflätigkeit sein konnte und seinem naiven Pessimismus ent-
täuschter Sinnlichkeit die Fabrikmarke „hochmodern" aufklebte,
eroberte er natürlich einen Ruhm im Leben, wie der arme
Musset ihn nie gekannt Maupassants Kraft, die in Romanen wie
„Une vie", „Mont Oriol," „Notre coeur" es auch nicht weiter
als bis zur erotischen Episode und Genremalerei mit allerlei
Stilleben bringt oder in „Bel-ami" ihr Erlöschen in unheil-
barer Schwermut vorausahnt, errang freilich in vielen Skizzen
— 257 —
(„Miss Harriet," „Haus Taillier") technische Meisterschaft
Das Genre selbst aber, die Melancholie der Erotik, ist
Musset entlehnt.
Freilich einerseits mit einem Zusatz Rabelaisschen
Humors („Boule de suif. „Les soeurs Rinaldi" u. a.) und
andrerseits einer unheimlichen Einbohrung in die Natur,
die ihm bald als schreckhafte Sphinx bald als furchtbare
Cybele das decadente Nervensystem durchzittert. („Sur
Teau" „Une partie de carapagne'*, „ün soir"). Solche Roheit
und solche Feinheit des Überraffinements, mit welchen die
Krankheit des Jahrhunderts in ein neues gefährliches Stadium
trat, blieben freilich Musset fremd, der in höherer lichterer
Region weilte. Wie viel Pathologisches in dieser geschlecht-
lichen Auffassung von Natur und Leben schlummerte, lehrte
Maupassants trauriges Schicksal, der aus Illusionslosigkeit
immer rapider ins Halluzinative hinabglitt („La horla^^ „Un
fou" u. a.) Dieser Maupassant kurz vor der Katastrophe,
dessen mystisches Leid „stark wie der Tod" (sein bestes
Buch), ist aber nicht der satirische Misantrop und Genüssling
seines Hauptschaffens, das ihm so viele Freunde gewann.
Hier alles ins Thierische hinabgezogen, Cochonnerie bis zur
Langweiligkeit so dass man eigentlich nur unreife Jünglinge,
überreife Yetteln und zahnlose Rou6s für passionierte Leser
eines Autors halten kann, der seine unleugbar gross-
dichterische Anlage verzettelt und vergeudet und seine
Schmutzereien mit der Inbrunst eines Handlungsreisenden
an der Table d'hote vorträgt, der nach Tische als Schwere-
nöter seine elegante Weltkenntnis dekouvriert In seiner
Studie über Flaubert, worin der in Wahnsinn endende
robuste Neurastheniker aus der Normandie landsmannschaft-
lich den robusten Epileptiker aus Ronen einbalsamiert, findet
gleichwohl Maupassant den Mut zu folgenden Scherzen:
„Musset, dieser grosse Poet, war kein Künstler. Die Menge
findet in Musset die Befriedigung all ihres poetischen groben
Appetits, ohne die Extase zu begreifen, in die uns gewisse
Stücke von Baudelaire, V. Hugo, Leconte de Lisle versetzen."
Die Menge? Es ist unwahr, dass Musset je populär wurde.
Wo ragt sein Denkmal in Paris, das dem grossen Hugo,
dessen Begräbnis sich zur Nationalfeier gestaltete, wie einer
Bleibtrea: Die Vertreter des Jidirhiuderts. 17
— 258 —
antiken Gottheit huldigte, das jeder literarischen Gelebrität
bis zum öden St. Beuve herunter Standbilder weihte?
Musset kein Künstler! Bis zu welcher Verdrehtheit wird
sich der Jargon des Tart pour Tart noch versteigen?
Musset sagt bloss charmante Sachen in einer leichten ver-
führerischen Sprache, die Jeden kalt lässt, der sich nach
höherer vergeistigter Schönheit sehnt? Sind das schon
Schatten des Wahnsinns, dem dieser unreife Jouisseur und
katzenjämmerliche Pessimystiker zutrieb, dessen angebliche
naturalistische Gesundheit alle grünen Jungen mit schmalzigem
Zungenschnalzen einschlürfen? Es genügt zu bemerken, dass
Mussets Torso der „Confessions d' un Enfant du Siöcle'^ als
seine Gestaltungskraft dazu nicht ausreichte, wenigstens
jenes stilistische Meisterstück hervorbrachte, das fast zu
einem householdword geworden ist: jene berühmte Kenn-
zeichnung der zwischen Napoleons Trommelwirbeln geborenen
Generation. Überall also sehen wir Mussets Genialität als
Künstler und Sprachmeister selbst dort noch ungeschwächt,
wo der Dichter nicht mehr hinaufreichte. Wahrlich, Musset
blieb ein Torso, wie seine „Konfession^\ aber ein marmor-
schöner Torso wie eine verstümmelte Gestalt des Pergamon-
frieses, wo man das Fehlende kaum noch bedauert und
sogar im Fragmentarisch-Trümmerhaften einen neuen be-
sonderen Reiz entdeckt Die obscönen Ansichtskarten ,nur
für Herren^ welch Maupassant als Dichtertaten zirkulieren
Hess, die Ghambre separ6e von Nuditäten, die er für
Naturalismus ausgab, als ob das Wörtchen „Merde^' die
ganze Schlacht von Waterloo bedeute, waren wohl ,künst-
lerischerM ,Intimer^ waren sie gewiss!
Und wie belohnte das literaturbildungsstolze Frankreich
seinen einzigen Dichter? Als Musset vierzig Jahr alt war,
erhielt er von der Akademie den Preis zur Ermutigung
junger Anfänger, und als er, ein Wrack, am Ende in die
Akademie aufgenommen ward, warben seine Freunde Stimmen
mit der Begründung, dass er zwar ein schlechter Poet, aber
ein guter Mensch sei, der getröstet werden müsse. Um
diesen Preis verzieh man ihm sein Genie und der unerträg-
liche Kritikpabst St. Beuve, der ihn sein Lebenlang tot-
schwieg, schrieb nach Mussets Tod Worte der Anerkennung!
- 259 —
Der grosse Mann der Epoche aber, nicht nur als
Literat, sondern wie Lamartine als historische Persönlich-
keit, hiess Victor Hugo.
Dieser Historienmaler und Freskomaler, im Styl von
Delaroche und nicht von Michel Angelo, tronte als Pontifex
Maximus. Nach Errichtung der dritten Republik tat man
geradezu, als ob der grosse Hugo in eigener Person den
kleinen Louis verjagt habe. Bei so unbestrittener Legitimität
der Dynastie Hugo konnte der „erhabene Qreis" sogar den
Gemütlichen herauskehren. „Je Tai trouv6 charmant! Pas
du tout grand homme!" staunt Flaubert (Briefwechsel mit
6. Sand, 1872). Ehrlich gestanden, missfällt Hugo uns am
meisten, wenn er aus seiner Rolle fällt und die heroische Pose
durch sentimentale Gemütstöne ersetzt, wie in „Pauvres
Gens", wo er die Mutterherzen anbiedert: „0 möre! Tu dis:
S'ils etaient grands! Leur pöre est seul . . Chimöre! Plus
tard, quand ils seront pr^ du pöre et partis, tu diras en
pleurant: Oh, s'ils ötaientpetits!", oder melancholische Liebes-
seufzer ausstösst: „Si vous n'avez rien ä me dire, pourquoi
venir auprös de moi?" In den „Herbstblättern" ergreift frei-
lich manchmal eine echte Herbststimmung absterbender
Resignation mit naturwahren Lauten und schon der „Tristesse
d'Olympio" lag eine düstere Weihe aufgedrückt Doch in
der „Legende des Siöcles" würde man den Erhabenheitston
gerne missen für schlichte Prosa der historischen Tatsachen.
Frankreich war jedoch andrer Meinung, und wenn Musset
sang: „Nous, vieillards n6s d'hier, qui nous rajeunira?'^
so hatte Hugo nichts Eiligeres zu tun, als sich auf die
Heldenbrust zu klopfen: Ich.
Kein Wunder, da dieser Schutzgeist Frankreichs sogar
bei der Vorsehung angestellt war. Er stand mit Gott auf
dem Duzfuss. Beschränken wir uns auf eine beliebige Stich-
probe, sein abschliessendes letztes Wort über Waterloo,
gegen das es keine Berufung mehr gibt, denn Hugo ist das
Sprachrohr der Allseele. „War möglich, dass Napoleon die
Schlacht gewann? Nein. Warum? Wegen Blücher, wegen
Wellington? Nein. Wegen Gott. . . Das Übergewicht dieses
Menschen im menschlichen Schicksal störte das Gleich-
gewicht. Dies Individuum zählte allein mehr als das
17*
— 260 —
Universum. . . Er genierte Oott Waterloo ist keine Schlacht,
sondern ein Frontwechsel des Universums/' Bum! Nun
wissen wirs. Früher sang er „Lui, partout Lui" von Napo-
leon, aber nun nahm Er selbst dessen Stelle ein. Sich,
überall Sich sah er im Universum, dessen Gesetze er
orphisch besang und als Epopö eines andern Victor Hugo
auffasste, den man Gott zu nennen pflegt Dass die ge-
liebte Menschheit ihm Altäre bauen und alle möglichen
Opfer bringen musste, verstand sich von selber. Er ruinierte
mehrere Verleger, starb aber selbst als mehrfacher Millionär.
Alle Parteien machte er wechselnd durch, vom Ultraroyalisten
bis zum Jakobiner, aber hier machte er halt, denn „Kom-
munist wird der nie!" spöttelten seine Gegner. Dieser
blutige Spott, dem sich noch mancher andere gesellte,
brachte niemals sein selbsterrichtetes und von der Nation
fromm gehütetes Postament ins Wanken. Das spottsüch-
tigste, zu boshafter Medisance nur zu geneigte, Volk liess
sich eine Pseudogrösse gefallen, die so viele Blossen der
Lächerlichkeit gab. O'est le ridicule qui tue? Ihn hat es
nie getötet Nachdem er das Publikum mit Liebe und
Liebesgedichten für seine Frau gefüttert, dachte er: es ist
nicht gut, dass die Frau allein sei, ich will ihr eine Ge-
hülfin schaffen. Die Schauspielerin Drouet lud er in sein
eigenes Haus und siehe da, es war sehr gut Einem solchen
Jehova muss ein demütiges Eheweib sich opfern und die
Wirtschaft zu dreien des neuen Grafen von Gleichen ward
bald sehr chic und gradezu sublim befunden. Als man ihm
ein öffentliches Bankett in Brüssel gab, wobei Madame Hugo
und die Maitresse zur Rechten und zur Linken des Halb-
gotts Sassen, schmetterte er als einzige Antwort auf Yer-
götterungsansprache den Toast: „Ich trinke aufs Wohl von
Fräulein Drouet, der einzigen Person nächst Mir
selber, die den Victor Hugo verstand"!! Ein solcher
Gipfel von Arroganz verblüfft freilich durch seine Ungeheuer-
lichkeit, benimmt die Lust zum Lachen und betäubt förm-
lich wie ein Eeulenschlag den Ochsen Für welche Ochsen
muss er uns halten, uns solches zuzumuten! Ahnt man
jetzt, warum wir Louis den Kleinen und Hugo den Grossen
zusammenkoppeln? Zeigen nicht beide das nämliche
— 261 -
Symptom der Besessenheit mit fixer Idee, eines Grössenwahns
angeblicher apostolischer und weltgeschichtlicher Mission,
der nicht mal das Gewicht der allzuschweren Aufgabe spürt
und sich mit gespreizten Beinen wie St. Christof hinstellt,
um das Jesuskind zu tragen, ohne zu merken, dass er
längst mit gekrümmtem Rücken niedergewuchtet wird?
Wohl begreifen wir aber auch, warum Frankreich sich in
seinem Hugo selbst beschmeichelte: weil er der typische
Vertreter eines ewig in Extremen schwankenden und nur
im Grössenwahn sich treubleibenden Jahrhunderts gewesen ist.
Die Weide, welche er in gleichnamiger Elegie auf sein
Grab gepflanzt wünschte, flüstert über Mussets Leiche am
Pdre Lachaise die unsterblichen Verse: „J'ai vu sous le
soleil tomber bien d'autres choses que les feuilles des bois
et r^cume des eaux^^ und die Ewigkeit haucht ihr jüngstes
Gericht über die flüchtigen Grössen der Zeit, tröstet ihre
wahren Kinder: „Ton äme est Immortelle et va s'en souyenir.^^
-^^i^-
Brossjnden jenseits babylonisclier Befimgenseliaft:
Disraeli ßambetta, Lassalle.
Wer einen einzelnen Juden beurteilt, hat sich vot
manchem Fallstrick für und wider zu hüten, den einerseits
Juden und Philosemiten, andrerseits Antisemiten bereit
halten. Er hat sich eine Reihe von Grundsätzen zu yer-
gegenwärtigen, wenn er Gerechtigkeit üben will. Der Arier
hegt zuvörderst eine oft sogar physische Abneigung gegen
den Juden, die zugleich aufs Moralische abfärbt Entstammt
sie bloss brutaler Verachtung des muskelstarken und in naiv-
atavistischen Begrifien persönlicher Tapferkeit erzogenen
Nordländers gegen den schwächlichen und (angeblich) feigen
Orientalen? Ward sie genährt durch religiösen Aberglauben?
Ja, beides muss.bejaht werden. Der Hass gegen die Juden,
während.[der Muselmann sie nur verachtet, bei den christ-
lichen Kulturvölkern stärkte sich jedoch durch eine besondere
psychologische Konstellation. Nichts nämlich kann so er-
bittern, als wenn Menschen, die man unter sich sieht und
herablassend behandeln möchte, bei äusserer Kriecherei und
Demut durchblicken lassen, dass gerade sie sich innerlich
uns überlegen erachten. Nur mangelndes Feingefühl und
äussere Herrschaftsverhältnisse täuschen den Europäer da-
rüber, dass der Inder und Chinese gleichfalls unter demütigem
Wesen dies Überlegenheitsgefühl versteckt Wo der Chinese
als Konkurrent des Weissen auftritt, wie in Nordamerika,
kommt auch hier der Rassenhass zum Vorschein und trifR;
den Ghinaman gerade so gut, wie den Neger. Allein, jene
Konkurrenz tritt nur episodisch auf und zwar nur in den
untersten Schichten, kann auch jederzeit eingedämmt werden.
— 263 —
Bei den Juden liegt die Sache ganz anders. Ohne ihre
frühere Heimat als Bückhalt zu bewahren, filzten sie sich
überall im Erdball ein, in jeder Bitze, die offen steht und
betrieben schon seit zweitausend Jahren eine Konkurrenz auf
wirtschaftlichem, später aber auf jedem nur denkbarem Gebiet.
Der Jude konkurrierte nicht wie der chinesische Kuli mit
dem arischen Arbeiter, sondern behielt sich das Gebiet des
Zwischenhandels vor, um von dort zu Wucher und Bank-
wesen (seit es in Florenz, Mailand, Venedig begründet) und
zu allgemeiner Plutokratie fortzuschreiten. Schon im Mittel-
alter sammelte sich mobiler Beichtum so erstaunlich schnell
in jüdischen EUinden, dass es dem Nachdenken unbegreiflich
bleibt, in Anbetracht der primitiven damaligen Geldverhält-
nisse, falls die Juden nicht aus ihrer einstigen palästinensischen
Herrlichkeit noch erhebliche Kapitalien ins Bömerreich und
von da auch in die germanischen Beiche hinübergerettet
haben. Genug, zu Widerwillen und Verachtung gesellte
sich der pekuniäre Neid und die Judenverfolgungen boten
meist nur Anlass zur Plünderung, besonders seitens der
regierenden Herren, wobei das religiöse Vorurteil als Vor-
wand diente.
Allgemein hiess es, der Jude sei ein Blutsauger am
Mark des Volkes und erst aus diesem tatsächlichen Bitual-
raub ging die Vorstellung des Bitualmords hervor, die
freilich schon aus alten Zeiten stammt und von den Bömern
(auf Anstiften der Juden selber, wie man sagt, die sich z. B.
hinter Neros Poppäa steckten und sie zum Jehovakult bekehrt
haben sollen) den Christen zugeschoben wurde. Wenn man
übrigens den Beligionshass der Christen gegen die Juden
bloss auf Christi Kreuzigung zurückführt, so liegt hier noch
eine umfangreichere atavistische Erinnerung im Blute, da
die Juden stets ihr redlich Teil an den Christenverfolgungen
der Bömer hatten und hinter den Kulissen unablässig gegen
das Urchristentum hetzten, das allerdings ihrem kapitalistischen
Mammonskult, ebenso wie dem römischen Herrenrecht, ein
Dom im Auge sein musste. Jedenfalls steht fest, dass
Beligions- und Bassenhass sich hier durch reinmenschliche
Antipathie nährten: Warum sollten unchristliche Blutsauger
nicht auch Blutmörder sein? folgerte das naive Volk, Der
— 264 —
Jude schien das Prototyp feiger Hinterlist. Hätte dies nicht
mitgesprochen, so würde im religiösen Aberglauben weit
stärker ein gleichzeitig mit ihm verschmolzenes Fietätsgefühl
für das angeblich „auserwählte Volk" gewirkt haben. Aus
dieser Scheu vor dem „alten Bund" und dem „Messias vom
Stamme David'' schützte die katholische Kirche die Hebräer
im Ghetto, behielt überhaupt bis heut ein unbewusstes Zu-
sammengehörigkeitsgefühl, als ob mit dem Alten Testament
auch Pabsttum und Kirche stehen und fallen. Wenn die
wotansgläubigen Allheilbrüder der Deutschvölkischen das
Christentum ohne weiteres mit dem Judentum in einen Topf
werfen, so lehrt solch trauriger Irrtum nur, wie unkenntlich
die Kirche das Idealbild des gewaltigen Seelenbefreiers von
Nazareth entstellte, der schwerlich selber Jude, jedenfalls ein
Todfeind alles Jüdischen war, freilich auch in dem Sinne,
dass er Feind jedes Pharisäertums, ob jüdisch oder arisch, ob
mosaisch oder christlich, gewesen ist. Wenn aber ein Ultra-
klerikaler, wie Leroy-Beaulieu (Freund Leos XIII.) seine
Apologetik des Judentums „Israel chez les nations" (1893)
losliess, so folgte er einem logischen Instinkt und warnte
den jüdischen Liberalismus mit Recht, dass er mit seiner
Untergrabung der Klerisei den verwandten Ast absäge, auf
dem er sitze. Wer den Katholizismus als eine Wohltat der
Völker ansieht, was fürs Mittelalter auch ohne Frage zutrifft,
der muss hiermit zugleich die jüdische Theokratie und alles
jüdische Wesen zelotischer Herrschsucht und Intoleranz, so-
wie im internationalen Jesuitismus die gleiche zähe unbeug-
same, obschon im Dunklen schleichende, Gewalt bewundem.
Ihm gleicht jener internationale Judaismus, der heimlich
und offen unter der Maske von Knechtschaft und Idealismus
die Weltherrschaft und den Sieg des jüdisch-plutokratischen
Materialismus anstrebt
Sobald es an die Judenfrage herangeht, pflegt der ge-
bildete Mitteleuropäer sich seitwärts zu drücken. Nur geistig
minder Bemittelte bleiben auf der Tenne und heulen mit
Dreschflegeln und Flegeleien sich gegenseitig an: „Schlagt
ihn tot, den Hund, er ist Antisemit!" „Tut nichts, der Jude
wird verbrannt!" Houston Stewart Chamberlain ver-
schmäht es zwar in seinen ,Grundlagen des 1 9. Jahrhunderts'
- 265 —
den blamierten Europäer herauszukehren und den toten Mann
zu simulieren^ wie so viele andere, die sich tot stellen, so-
bald man die Judenfrage anschneidet. Doch auch Ghamber-
lain wendet sich scheu ab, sobald die Sache ernst wird, und
verheimlicht geflissentlich die antisemitische Fachliteratur,
als ob es sich dabei um lauter Hetzer und Radaubrüder
handle. Den Pöbelantisemitismus wird jeder anständige
Mensch von sich abweisen, ihn um so weniger begünstigen,
als fast durchweg konservative und klerikale Interessen sich
dahinter verstecken, wo nicht gar roh atavistische Rück-
fälligkeiten zum Hepphepp anreizen. So lange die Juden-
frage mit irgendwelchen kirchlichen Stöckereien und
Muckereien oder junkerlichen Fücklereien sich vermengt,
wird das Judentum sogar Schützer unter seinen natürlichen
Gegnern finden.
Erst der grosse Pourtalös, Napoleons juristischer Beirat,
stellte die wahre Judenfrage auf ihre Füsse, indem er sein
berühmtes — allerdings sehr judenfeindliches — Memoire
an den Kaiser damit begann: „Man begehe den fundamen-
talen Irrtum, das Judentum für eine Sekte zu halten, es sei
vielmehr eine in sich abgeschlossene und allen andern
Rassen feindliche Nation.^' Das Grosse Jahrhundert hatte
auch hierin Licht zu schaffen gesucht. Denn Joh. Andreas
Eisenmengers „Entdecktes Judentum^^ ward auf Staatskosten
in Preussen gedruckt, nachdem jener gelehrte Orientalist
Vermögen und Leben (f 1704) für sein "Werk geopfert und
alle Bestechungsversuche abgelehnt, Kaiser Leopold I. jedoch
auf Drängen der Juden es konfisziert hatte. Es soll seit
1787 beim Kammergericht zu Berlin ein Dokument deponiert
sein: „Die von Eisenmenger aus klassischen jüdischen
Schriftstellern gelieferten Auszüge sind mit einer Treue ge-
liefert und übersetzt, die jede Probe aushält.^' Ein Jahr-
hundert später verschwand auch Professor Rohlings deutsch
geschriebener „Talmud jude^^ geheimnisvoll aus dem Buch-
handel, ward jedoch von Karl Paasch aus dem Französischen
zurückübersetzt, dem verdienstvollen Verfasser von „Eine
jüdischdeutsche Gesandschaft und ihre Helfer^^, worin wir
den wahren Keim und Ursprung der späteren Gesandten-
ermordung in Peking und der deutschen Hunnenfahrt
- 266 —
entdecken. Der internationale jüdische Kapitalismus ist halt
überall der wahre Weltmarschall und Feldmarschall, woYon
auch die Buren ein Lied zu singen wissen.
Als reine Rassenfrage hat Chamberlain das Jüdische
behandelt, ohne auf Talmudmoral und Schulchan Aruch ein-
zugehen, und wenigstens den Ausweis der ofPenliegenden
Historie sowie das Alte Testament energisch vor Augen ge-
rückt Er erklärt den Anspruch des „auserwählten Volkes^'
auf besondere Religiosität für Fälschung, da den phantasie-
losen, jeder gemütvollen Herzenstiefe ermangelnden Juden
jener religiöse Trieb, den Kern der Natur im eigenen Innern
zu suchen, völlig fehle. Vielmehr seien sie infolge ihres an-
geborenen Materialismus die einzigen wirklichen Götzen-
anbeter gewesen, so dass nicht mal die Münzen Köpfe haben
durften, um Verführung zum Anbeten des Metalls nicht
nahezulegen.
Das stimmt. Ihre Messiashof&iung, reinweltlich, sym-
bolisierte gleichsam nur ihre Macht- und Goldgier und bildet
hiermit eine Gefahr für alle anderen Völker, wie schon
Giordano Bruno, Goethe, Herder, Friedrich d. Gr., Luther,
Voltaire, Robespiere, Napoleon erkannten. Hätte Chamber-
lain Drumonts „La FrauQO Juive^' zu Rate gezogen und die
scharfen Konventsgesetze gegen den Wucher im Elsass so-
wie Napoleons Verhältnis zum Sanhedrin gekannt, so würde
ihm dies manches wertvolle Material zugeführt haben. Dass
Jesus ein Vollender des „alten Bundes^^ sei, läuft natürlich
auf infame Fälschung hinaus, welche das Judenchristentum
des ungebildeten Zeloten Petrus verewigte und das Hohe-
priestertum nebst allen Übeln der Theokratie im römischen
Pabsttum wieder einsetzte. Ob der Galiläer der Rasse nach
„Jude^^ war, was Chamberlain heftig verneint, wäre auch
ohne Belang, da sein ganzes Sinnen und Denken schroffete
Verneinung des Jüdischen bedeutet Den naheliegenden
Hinweis auf Vernichtung einer drohenden semitischen Welt-
herrschaft, welche Karthagos und der so nahe juden-
verwandten Phöniker Finanzmonopol heraufführte, durch das
arische Rom zieht Chamberlain mit Kraft: Dem Cartha-
ginem esse delendam müsse ein Delenda est B[ierosolyma
folgen. Dass die Arier den semitischen Bann eines Religions-
— 267 —
monopols bracbeD, möchten wir jedoch nicht unterschreiben.
Das hierarchische Christentum, dem Jesustum entrückt,
nahm so viel Jüdisches in sich auf, dass die gesamte arische
Entwickelung dadurch ein schleichendes Gift erhielt. Doch
lag so viel Heroisches und Buddhistisches deuüicb in Leben,
Leiden und Lehre Jesu, dass der naive Volkssinn und die
ehrliche Auffassung vieler katholischer Priester, zu denen
wir auch den grossen Gregor YIL zählen, trotzdem einen
arischen Idealismus in der Lebensführung ganz in Jesu
Geiste beibehielt Dass übrigens bei einzelnen Juden starkes
religiöses Empfinden auflodert, etwa im Geiste des Buch
Hieb, ändert nichts an obigem Urteil. Der einzelne anstän-
dige Jude ist nicht verantwortlich für das Judentum als ab-
geschlossenen Typ.
„Du wirst alle Völker fressen, die der Herr dein Gott
dir geben wird^', heisst es so schön 5. Buch Mose 7. 16.
Dies 5. Buch soll angeblich 622 v. Chr. bei Tempelemeuerung
gefunden worden sein, es ward aber erst damals verfasst,
um die Theokratie neu zu begründen. Hesekiel brachte
sodann im babylonischen Exil den fanatischen Glaubenshass
gegen alle Feinde Israels zur vollen Reife und diese In-
toleranz in Verfolgung Andersgläubiger impfte sich später
der katholischen Kirche ein, deren Inquisition dem alten
Jehova des Zornes und der Rache opferte.
„Der Mensch ist Herr auch über den Sabbat!'^ Dies
gewaltige, für unendliche symbolische Beziehungen frucht-
bare, Jesuswort bedeutet die stolzeste Emanzipation des
Menschengeistes, die je ein Mund gesprochen, und weder
Moses noch Muhamed wären solcher echten Herrenmoral
fähig. Das lässt freilich auf arische Herkunft schliessen,
wie denn Altes Testament, Talmud und Koran den semi-
tischen Religionsbegriff als radikal verschieden vom indo-
germanischen (Veden, Buddha, Zoroaster, Jesus) belegen.
Bei unsrer persönlichen Auffassung der Inkamationslehre
kommt es übrigens auf „Rasse^^ hoher Genien wenig an, da
diese devachanischen Sendlinge sich ganz nach Belieben ihr
Milieu setzen. Dass auch Moses ein Egypter gewesen sei,
wie ein Ingenieur Born in einer anregenden Schrift nach-
zuweisen suchte und wofür ja der biblische Bericht selber
— 268 —
Anhalt gibt, scheint uns insofern zweifelhaft, als seine zehn
Gebote meist einen ausgesprochen jüdischen Zug verraten
wie das: „damit dirs wohl gehe und du lange lebest auf
Erden^^, was sogar dem natürlichsten aller Gebote angefügt
wird. Freilich klingt „du sollst dir kein Bildnis noch irgend
ein Gleichnis machen^\ „du sollst den Namen Gottes nicht
unnützlich brauchen^' umgekehrt nach egyptischer Geheim-
lehre, und die Mär von der Errichtung der eisernen
Schlange gegen die Fest hat einen Anflug von okkulter
„Magie", wie auch die „Plagen" gegen die Pharaonen. Die
famose Bibel- und Babel- Entdeckung kann sich überhaupt
nur auf das 1. Buch Mose beziehen. Es kamen aber offen-
bar noch andre fremde Elemente hinzu und bleibt als Er-
gebnis, dass auch in seinen Beligionsbüchern das Judentum
völlig eklektisch von Fremdem zehrt und seine Ohnmacht
für jede geistige Originalleistung bekundet, da nur sein
Nomadentalent für Ausbeutung andrer Völker ihm eigen-
tümlich angehört. Rohling fasst daher in einer geistvollen
Abhandlung das Eindringen des Semitentums als eine Razzia
auf, wie etwa Beduinen und Tuaregs sie noch heute veran-
stalten. So sehr dies aber auf alle Eroberungszüge des
arabischen Islam bis zum modernen Mahdi passt, wird man
doch nicht verkennen, dass der Ausdruck „Antisemit" eine
starke Sinnverfälschung enthält und danach aussieht, als ob
er von einem Juden selber erfunden wäre, um den „Anti-
juden" ein Stigma allgemeinsten Rassenhasses aufzuprägen.
Der Araber, ritterlich, poetisch, phantasie- und gemütvoll,
hasst den Juden noch mehr als den Giaur, wie die Vorgänge
in Algier dartun, und es wäre eine Beschimpfung dieses
grossen Kulturvolkes, seine unsterblichen Verdienste in
Wissenschaft und künstlerischer Zivilisation mit dem jüdisch-
karthagisch-phönikischen Erämerpack in Parallele zu setzen.
Dass freilich auch letzteres in hoher egoistischer Rassen-
erregung zur Behauptung des Stammeshochmuts ein finstres
Heldentum erzeugen konnte, dafür ragen ja im Tempel der
Geschichte die Gestalten der Makkabäer und des Hannibal;
Dies warnt uns, das Eind mit dem Bade auszuschütten, und
rundweg den Palästinensern jede ideale Anlage abzu-
sprechen, d. h. dies sonst absolut richtige Urteil gleich auf
— 269 —
jedes EiDzelindividuum auszudehnen. Im Gegenteil tröstet
es zu bemerken, dass selbst diese zu krassem Materialismus
geborene Rasse des Idealen nicht ganz entbehren kann.
Wie Jesaias oder einige jüdische Dichter des Mittelalters, so
bekundet auch Heine ein starkes Gemütsleben und der
schon in mosaischer Gesetzgebung erkennbare sozialistische
Trieb lebte ganz logisch in Lassalle und Marx wieder auf.
Ein gewisser idealer Zug wohnt diesen Erscheinungen inne,
selbst der praktischen Machtgier von Gambetta und Disraeli,
aber freilich tritt dies Ideale in so unreiner Form auf, dass
es sich wesentlich vom Arischen unterscheidet.
Zur allgemeinen Entschuldigung schlechter jüdischer
Eigenschaften lässt sich anführen, dass sie durch Verfolgung,
Verhöhnung, Versklavung förmlich gezüchtet seien. Der
Geknechtete wird bösartig. Hiergegen richtet sich aber, so
logisch diese Folgerung an sich erscheint, ein schwer-
wiegender Einwand. Als nämlich die Juden noch nicht
geknechtet, noch nicht religiös verfehmt waren, ge-
nossen sie bei den Römern und vordem den Egyptem
und Babyloniem den gleichen Ruf der Bösartigkeit,
des arroganten Hochmuts gegen andere Völkerschaften, des
ünterjochungstriebs, wie die palästinensischen Eanaaniter ihn
schmeckten und wie er bei einem so winzigen Stamme den
grossen Kulturvölkern doppelt unausstehlich vorkam. Die
Geschichte vom Exodus aus Egypten, wo die Egypter den
Abziehenden noch eine Masse Geld und Gut mitschenken,
damit sie nur endlich abziehen, gibt sehr zu denken und
der Finanzminister Josef dürfte wohl mit den sieben mageren
Kühen eine Verelendung Egyptens durch hebräische Heu-
schreckenplage veranschaulichen. Möglich, dass wir zu
pessimistisch auslegen, denn beim Fehlen aller Urkunden
sind wir ja nur auf die eigene Chronik der Hebräer ange-
wiesen. Allein, was steht nicht alles in dieser Chronik
selber, die man als Altes Testament und Heiliges Buch
schamloser und lächerlicher Weise den Kindern zu lesen
gibt, als wollte man sie vorzeitig in allen Schmutz der Sinn-
lichkeit und Grausamkeit einweihen!
Jede Art viehischer Unzucht, Sodomiterei, Kebs-
weiberei bis zur salomonischen Haremsorgie wird breit und
— 270 —
umständlich geschildert, ebenso die abscheulichsten Gewalt-
taten und Brutalitäten. Doch das alles wäre noch nicht so arg,
würde ausserdem zur Beurteilung des Judentums nicht viel
bedeuten, da es bei anderen semitischen Völkern wohl nicht
besser aussah, wenn nicht ein dem Juden noch heut eigen-
tümliches Behagen an Unsauberkeit sich in der allzu wahr-
heitsgetreuen Schilderungswut (auch bei den Propheten die
schlüpfrigsten stinkendsten Gleichnisse) zu erkennen gäbe,
und wenn nicht femer mit solcher Bestialität sich die
niederträchtigste Gesinnung verbände. Ob nun diese alten
Scharteken, zum Teil meisterhaft geschrieben, lauter Tat-
sächliches oder Wahrheit und Dichtung enthalten, ein
hübsches Bild entrollen die Historiker oder Dichter vom
Moralzustand ihrer Rasse. Da ist der Erzvater Abraham,
der seine Frau als Schwester ausgibt, aus Furcht, der Pharao
könne ihn sonst beseitigen wollen — der Sinn der dunkeln
Geschichte kann nur sein, dass er Sarah als Schwester dem
Pharao auslieh — , der seine Geliebte Hagar mit seinem
Söhnchen in die Wüste treibt, der seinen einzigen Sohn
schlachten will. Da ist der schlaue Jakob, der Esau um
die Erstgeburt betrügt und nachher in dem unsauberen
Handel mit den Stecken und Schafen sich nicht anders
benimmt, wie heute irgend ein aufgeweckter Jakobsleben
Galiziens. Da ist der glatte Josef, der böse blutopfer-
heischende Samuel, der entnervte sentimentale Wollüstling
Salomo, der all seine tausend Kebsen „eitel^ findet, die in-
famen Ahab, Rehobeam, Herodes samt ihren ebenbürtigen
Weibern, da ist vor allem der Geliebte Jehovas, der ewige
Stolz Israels, der Eönigspoet David. Dieser Kerl ist ein
solcher Schurke, dass es an der perfiden Gemeinheit des
„üriasbriefes^^ noch nicht genug ist, sondern er noch auf
dem Totenbett seinem Sohn ans Herz legt, den braven
Feldhauptmann umzubringen, weil David selber leider durch
Eid verhindert, sich an ihm zu „rächen^^, zu rächen wegen
einer längst verjährten, nur vom Despotendünkel als Ver-
schuldung aufzufassenden Sache. Einer ähnlichen ünaus-
rottbarkeit der Niedertracht begegnen wir erst wieder bei
dem schuftigen amerikanischen Milliardär Gould, wenn wahr
ist, dass er sterbend keine andere Sorge hatte, als seinen
— 271 —
Nachfolger zu mitleidloser Sprengung einer Börsenmine an-
zufeuern, d. h. neuen Ruin vieler Existenzen als Trost ins
Orab mitzunehmen. Dass aber solche Schändlichkeit frank
und frei dem „frommen^' Nationalhelden zugeschrieben und
offenbar beifällig vermerkt, das Ungeheuer aber als sitt-
liches Ideal Israels aufgestellt (und nachher als Ahnherr
Jesu von christlichen Frömmlern weiter angedudelt) wird,
das zeugt von einer Bassenunfähigkeit zur Ethik, die
uns schaudern macht.
Man zeige uns in Literatur und Geschichte irgend
eines Volkes eine ähnliche cynische Frechheit! Und diese
scheussliche schriftliche Eünterlassenschaft eines nichts-
nutzigen, ebenso ungebildeten wie eingebildeten Barbaren-
tums, wobei Moses und die Propheten fast auf jeder Seite
den Juden zu Oemüte führen, was für Schmutziane und
Götzendiener sie seien, gilt obendrein bis heute — lediglich
wegen des Messiaskniffs mit dem Davidsohn von könig-
lichem Ursprung, da man den Heiland als Plebejer nicht
für weltliche Kirchenzwecke brauchen konnte — als Heiliges
Buch zur religiösen Verehrung ! Solch dalailamahafte Kotan-
betung rechtfertigt den verachtenden Hochmut des Aus-
erwählten Volkes. Eine Menschheit, die sich so etwas gefallen
Hess, ist in ihrer Verblödung nichts anderes wert, als von den
Juden beherrscht zu werden.
Andererseits war freilich dies Überlassen ihrer säubern
Historie an die Christenkirche naive Unvorsichtigkeit des
Judentums. Denn sonnenklar steht hier zu lesen, dass unser
arisches Gewissen nihig sein kann, dass nicht unsere Ver-
folgungssünden den jüdischen Charakter erzeugten, sondern
dass dieser unveränderlich von Anbeginn so feststand wie
heute: kriechend schlau, wenn unter der Fuchtel, wobei
die Sarahs und Esthers allezeit Israels Geschäfte mit be-
sorgten, und gewissenlos brutal oder nervös-fanatisch hetzend,
wenn in Machtfülle. Wenn also Talmud und Schulchan
Aruch alle die geheime Antiethik enthielten, wie gelehrte
Antisemiten behaupten, so könnte dies nach Massstab ihrer
offenen Chronik nicht Wunder nehmen. Es wird jedoch
jüdischerseits behauptet, diese Schriften seien widerspruchs-
volle Konglomerate von Babbinerscholastik und enthielten
— 272 —
umgekehrt auch eine Masse Humanität, die einen Berg-
predigt-Altruismus vertreten.
Mag sein, zumal ja auch bei Hillel-Philo sich Ähnliches
findet. Böswillige könnten freilich argwöhnen, dass derlei
spätere Einschiebsel bloss Atrappen seien, um den Grund-
kern zu Terhüllen. Deshalb scheint auch die Argumentierung
nicht überzeugend, dass Bitualmord grade bei Jaden undenk-
bar sei, weil allerdings schon früh Ritus und Lebens-
haltung jeden Blutgenuss untersagten und auch das bei den
Römern noch ungeschwächt bestehende Tieropfer zum min-
desten bekrittelt, wenn nicht abgeschafft, wurde. In einer
Rabbinerreligion, die so Viel mit Geheimschriften hantiert,
könnte sich auch wohl ein dunkler Aberglaube solcher Art
verstecken, der erst viel später in nachtalmudischer Zeit
aus Eabbala und Zohar, d. h. Schwarzer Magie, sich einer
Geheimsekte einverleibte, welche mit dem europäischen Juden-
tum in loser Verbindung steht und ihren Sitz im Orient
(Turkestan) hat. Wenigstens soll Moltke angeblich geschrieben
haben (wir haben das Zitat nicht verifizieren können), dass
die internationale Judenschaft einem geheimen Oberhaupt
in Asien gehorche.
Nun, dies alles mag phantastischer Spuk sein und die
höchst aufiFalligen Kindermordprozesse, deren Kern sich ja
stets rätselhaft verschleiert und deren Indizienverdacht stets
auf den Juden sitzen bleibt, würden die Missstimmung un-
befangener Beurteiler noch keineswegs gegen das gesamte
Judentum lenken, das für eine Geheimsekte und etliche
Rabbiner nicht verantwortlich zu machen wäre, wenn nicht
sämtliche Juden der Welt dieserhalb ein wahnsinniges
Geschrei über Attentate auf Freiheit und Aufklärung erhöben.
Dies Wutgezeter muss stutzig machen und den Verdacht
nahelegen, dass doch etwas mehr an der Sache sei, als man
glauben sollte. Das völlig reine und gute Gewissen würde
sich entgegengesetzt verhalten, vielmehr im eigensten Interesse
des Judentums auf strengste Untersuchung dringen und jede
Solidarität mit einer solchen Geheimsekte ablehnen. Statt
dessen setzt das Judentum den ganzen ungeheuren Apparat
seiner internationalen Presse, Finanz und bis in die höchsten
Schichten reichenden Einflüsse, wo besonders getaufte Juden-
— 273 —
stämmliDge insgeheim seine Geschäfte fähren, in rastlose
Bewegung, um selbst schwerste Verdachtsmomente gegen
Jaden abzulenken, die Behörden moralisch oder praktisch zu
terrorisieren (vielleicht auch Bestechungsmittel anzuwenden)
und lieber jeden Antisemiten als planmässigen Urheber der
„Ritualmorde^' zu brandmarken. Dass selbst ein anständiger
Mensch wie Leroy-Beaulieu sich so weit vergessen kann, zu
behaupten: in fast allen Fällen sei nachgewiesen, man
habe die Leiche nachträglich ins Judenquartier geschleppt
oder die Spuren dorthin geleitet, macht uns schamrot über
die Leichtgläubigkeit, mit der jede philosemitische Schwindelei
als „bewiesen'^ aufgeschnappt wird. Ist ihm wirklich der er-
wiesene Bitualmord in Damaskus an einem französischen
Pater, also jemand, der seinem katholischen Herzen teuer
sein sollte, unbekannt geblieben?! Und dass die akten- und
gerichtsmässig verurteilten geständigen Juden durch ein
geradezu ironisch gehaltenes Irade des Sultans Begnadigung
erhielten, weil die reichen Weltjuden, an ihrer Spitze Sir
Moses Montefiore (,,Philantrop'') und Cremieux („Patriot"),
eine unerträgliche Pression auf den kranken Mann am Bos-
porus übten?! Nun, dies Verbrechen mag ebenso eine Aus-
nahme sein, wie — die Verurteilung. Wir enthalten uns
jedes Urteils in so zweifelhaftem Dunkel.
Es ist ferner wahr, dass der Talmud unter den „Gojim",
gegen die jeder Hass und Meineid (letzteres vnrd von Tal-
mudisten bestritten) erlaubt sei, früher nur Babylonier und
Römer verstand. Aber nur ein Verblendeter wird leugnen,
dass der galizische und rumänische und russische Talmud-
schüler darunter heut natürlich die Christen versteht, nämlich
alle Nicht-Juden, was „Gojim" bedeutet. Wir haben endlich
als Deterministen und Earmagläubige ohne weiteres zuzu-
geben, dass der natürliche Mensch überall ebenso empfinden
würde, wie der Jude gegen seine jahrtausendelangen Ver-
folger, dass wir ihm also jeden Vorwurf ersparen müssen,
sobald wir uns an seine Stelle versetzen. Mit allen anti-
ethischen und materialistischen Instinkten ausgestattet, da-
neben aus visionärem Auserwähltheitswahn einen gewissen
wilden Idealismus für Stamm und Stammgott („Gott seiner
Väter^^) schöpfend, kann der Jude nicht anders denken und
fileibtreu: Die Vertreter des Jahrbnndertg. ]8
— 274 —
handeln, als mit düstrer Verbissenheit gegen andere Kassen
und internationalem Streben, alle Macht und vor allem alles
Kapital in jüdische Hände zu zentralisieren und zu mono-
polisieren. Es wäre wunderbar und würde übermenschlich
ethische Anlage einer ganzen Rasse bezeugen, wenn es
anders wäre. Dass man sich aber durch gewisse orienta-
lische Züge ostentativer Wohltätigkeit und einer gewissen
leidenschaftlichen Hingabe an grosse Ideen und Menschen
(man denke an jüdische Fanatiker für die Judenfein de Dühring
und Wagner; im Einzeljuden nicht täuschen lassen darf,
lehrt gerade die Ethik desjenigen, den man als Beinsten und
Besten der Juden auch in seinem stoischen Lebenswandel
aufTasst: die geradezu schäbige Nützlichkeitsmoral Spinozas
mit ihrer dem Arier unverständlichen Gleichgültigkeit und
Erbarmungslosigkeit gegen das Tier.
Gewiss, wir erkennen auch dies als Ruhmestitel der
Grossen Revolution an, dass ihre echte Humanität und Ge-
rechtigkeitsliebe die Emanzipation der Juden durchsetzte.
Nur zu begreiflich erscheint die Folgerung Lessings, der in
Moses Mendelssohn einen aufgeklärten und edlen Juden als
Freund umarmte. Ob Dührings masslose Ausfälle gegen
Lessing und Mendelssohn irgendwie auf Wahrheit beruhen,
lassen wir dahingestellt, jedenfalls hat er Lessings sittlichen
Ernst und geistige Bedeutung gehässig unterschätzt, der
sein Aufklärungslehrgedicht von „Nathan dem Weisen^ dem
von ihm subjektiv vorausgesetzten Judentum auf den Leib
schrieb: dass der Jude erst als Befreiter zeigen könne,
was er sei. Ähnlich „befreite'^ Robespierre in berühmter
Rede die Juden, indem er zugab, sie taugten allem Anschein
nach nichts, aber sie würden etwas taugen, sobald es in
ihrem Nutzen liege, wohltätige Staatsbürger zu sein.
Wahrlich, wir hätten gradeso gesprochen, und ein- für
allemal sei es gesagt: jede Antastung der „jüdischen Mit-
bürger" in ihren Staatsrechten, was als Präventiv- und Pro-
hibitivmassregel allen Antisemiten vorschwebt, widerspricht
der Ethik, die ihrer nicht spotten lässt. Der jüdisch-jesuitische
Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel, ist nicht nur ver-
brecherisch, sondern dumm, da jeder theosophisch Erleuchtete
weiss, dass böse Mittel früher oder später auf ihre Urheber
— 275 —
zurückfallen. Mit irgend welchen Lösungen der Judenfrage
haben wir uns nicht zu beschäftigen. Der Antisemitismus
wird determiniert seinen Weg gehen, das Judentum des-
gleichen, und Earma- Kausalität wird die Lösung von selber
bringen. Wir haben hier nur ein Amt und keine Meinung,
verzeichnen nur Tatsachen und Symptome.
Also Bobespierre befreite die Juden und diese feiern
die Revolution mit Davidpsalmen. „Der ,Berg^ des Konvents
ist unser HoreV^, „Moses war ein Konventsmitglied, vom
Gipfel des ,Berges' redend", „die Offenbarung sprach die-
selbe Sprache auf dem Sinai wie in den Salons des 18. Jahr-
hunderts", schwärmt James Darmesteter (Darmstädter). Wenn
er meint: „was durch Voltaire triumphiert, das ist die Bibel,
mit Voltaires Epigrammen bespickt" so dürfte er Voltaires
Kapitel über die Juden („das verabscheuungswürdigste Volk")
wohl schwerlich gekannt haben. Denn sowie ein grosser
Mann ungünstig über die Judenschaft urteilt, wird er sofort
ein kleiner Mann, was heut die Judenpresse sofort in der
Hand hat So konnte Zola seinen verhüllten Antisemitismus
in „L'Argent^\ der ihm sofort eine literarische Baisse ein-
trug, nur durch den Dreyfussschwindel wieder gutmachen.
Jetzt auf einmal erkannte Oeorg Brandes, den Zolas massive
Kraft früher wenig anheimelte, wie gross er sei, und Nordau,
der ihn als krankhaften Schmutzfink geisselte, weinte Tränen
der Rührung über „J'accuse", das unsterblich bleibe, wenn
leider Zolas Schmieralien alle vergessen sein würden!
Die Revolution war also „die Erfüllung der alten Pro-
pheten Israels"? Holla! Diese lehrten doch den Messias, der
alle Völker Juda unterworfen werde? Und richtig hören wir
auch bald die bodenlose Unverschämtheit: „das Credo der
neuen Welt ist nur das Credo der alten hebräischen". Ein
jüdischer 0. Strauss, amerikanischer Gesandter in Konstan-
tinopel, behauptet unverfroren, dass die Amerikanische Union
nach dem Pentateuch und 3uch der Richter^ geformt wor-
den sei. Und nun sehen wir mal zu, was der Jude als
Befreiter, oder, wie er schwindelt, Schöpfer des modernen
Europa wert sei.
Kaum besah sich St. Just das Elsass, als er wütende
Briefe an Robespierre über den jüdischen Wucher schrieb,
18*
- 276 -
der dies unglückliche Land verzehre. Welche Rolle jüdische
Bankiers bei Plünderung der Kirchen- und Nationalgüter
gespielt oder wie sie, Robespierres catonische Strenge fürch-
tend^ hinter den Kulissen zu seinem Sturze beigetragen
haben mögen, wieviel die zuerst von England aus wirkende
Freimaurerei als Intriguen-Organ des Judentums in Herbei-
führung der Revolution zum Zwecke der Judenemanzipation
mitwirkte, bleibe ununtersucht. Man braucht nicht Leon
Taxils Schwindeleien (besonders „La Loque Noire'\ ein
Buch, in dem das unwahrscheinlichste wahrscheinlich wird)
zu trauen, um zu ahnen, welche ungeheure Wühlarbeit die
von Juden gelenkte Freimaurerei — ausserhalb Frankreichs
heut nur eine gegenseitige Versicherungsanstalt für Streber
ohne direkt politische Ziele — zu weiterer Revolutionierung
Europas vollbrachte. Nicht umsonst hiess die Mazzini be-
freundetste FamiUe: Nathan, und der heutige Grossmeister
der italienischen Logen: Nathan.
Sollen wir dies etwa bedauern? Beileibe nicht, vielmehr
die Weisheit der Kausalität bewundern, die jene durchaus
selbstsüchtigen Absichten der Jüdischen Kräfte für unsre
eigenen Interessen in Fluss brachte. Besonders der deutsche
Michel ward durch die kreischende Unrast der Hebräer
mächtig aufgerüttelt und am Oberziehen der Nachtmütze
gebindert. Die Satire der Heine, Börne u. s. w. biss so
giftig, die Nadelstiche trafen so gut, dass Michel rabiat
wurde. Jeder abstrakte Antisemitismus, der diese Nützlich-
keit des Judentums ableugnet, verkennt kindisch dasOrganische
und Kausale solcher Vorgänge, die heut wieder in Judas
Begünstigung der Sozialdemokratie ihre Fortsetzung finden.
Die Juden glauben dabei immer nur für sich zu arbeiten,
ein Rothschild I. als Weltimperator gaukelt ihren Träumen
vor und Besetzung aller Führerstellen im sozialen Staat mit
lauter Juden, von den dankbar befreiten Oojim-Karyathiden
auf den Schultern getragen.
Ob sie sich nicht höllisch dabei verrechnen würden,
wird die Zukunft lehren. Fürs erste werden sie zur Ab-
wechselung hochnational-hochdeutsch wie Maximilian Harden
und sein Genosse Rathenow oder wie Kipling und die Trans-
vaalauspresser in England oder die chauvinistisch-klerikalen
— 277 —
Journalisten in Paris, grösstenteils getaufte Juden. Sie
behaupten, jedes Gängelband des alten Ghetto abschneiden
und Yöllig im Arischen Yolk, unter dem sie hausen, auf-
gehen zu können. Wie schwierig dies Unterfangen und wie
ehrlich es gemeint, sehen wir daran, dass die meisten fran-
zösischen und ungarischen Juden „deutscher^' Herkunft sind,
dass England und Amerika von polnisch russischen Juden
wimmeln: das werden nun alles eingefleischte Franzosen,
Magyaren, Briten, Yankees nach dem Grundsatz: ubi bene,
ibi patria. Bekanntlich schüren sogar die Juden überall am
eifrigsten Nationalitäten hader und Chauvinismus, besonders
in Ungarn und Osterreich, und so was ültrafranzösisches wie
die deutschen Juden in Frankreich (darunter auch Familie
Heine) hat man noch nie gesehen! Für Kipling sind alle
Deutschen „Goten und Hunnen^' und nur die Heilige
Britannia hat als Auserwähltes Israel über alle Lande den
Union Jack zu breiten: „Du wirst alle Völker fressen, die
der Herr dein Gott dir geben wird.'^ Ob also ein böses
Bänkelsängerlied in den Londoner Gassen den Transvaalkrieg
„the Jews War" taufte, wehe dem, durch den Ärgemils
kommt! Das ganze freie Albion gürtet sich mit Kiplings
Stolze und sieht im radikalen Britentum seiner Juden seine
eigene bessere Hälfte.
Um aber die volle Wahrheit zu sagen: haben die
Antisemiten Recht, dass die Judenschaft immer ein fremdes
aufsässiges Element, ein Staat im Staate, bleibe? Vom Staats-
standpunkt aus trifft dies entschieden nicht zu. Der durch
Generationen in einem Lande ansässige Jude nimmt unwill-
kührlich an gemeinsamen Interessen teil, ihm kann es nur
lieb sein wie jedem andern, dass „wir Deutsche" materiell
gedeihen, und wenn nur recht viel getaufte Juden Minister
und kommandierende Generale werden, dann wünscht der
Jude von Herzen dem Deutschen Reich alles Wohl. Des-
gleichen anderswo. Ein Land, wo man Sir Montefiore,
Lord Rothschild, Lord Goschen und gar Premierminister
Lord Beaconsfield und Gladstone (Freudenstein) werden
kann, erfüllt das jüdische Herz mit warmen Patriotismus.
Frankreich, das einen Fould, Cremieux, Gambetta so hoch
brachte, hatte 1870 unter opferwilligen Patriotinnen auch
— 278 —
eine Madame Cohn. Seither freilich sank es tief in Europas
— soll heissen: Judas — Achtung, weil es einen zweimal
verurteilten Coquin für einen Verräter hielt, trotzdem die
alleinseligmachende Internationale das Gegenteil versicherte.
Jetzt auf einmal schlug der dankbare Patriotismus für das
Land der Judenemanzipation ins Gegenteil um und Frank-
reich wird so lange boykottiert, bis die unvergessliche
Begierung Loubet-Gombes den Juden blindlings sich über-
lieferte. Denn natürlich, jeder Chauvinismus des Juden
nimmt sofort ein Ende, sobald man einem Juden ein Haar
krümmt: alsdann ist ein solches Land jedes Patriotismus
unwert, denn Charity begins at home, des Juden Chauvinismus
fängt zuerst bei sich selber an.
Aber wäre deshalb schon wahr, dass der Jude immer
nur Jude bleibe und weiter nichts? Nein. Wie Freimauer,
wo immer sie sich begegnen, sich brüderlich in die Hand
kneten, so grüsst zwar jeder Jude verschiedener Sprache
seinen Bassegenossen, ja findet ihn sofort heraus, ob der
eine aus Odessa, der andre aus Chicago, oder ob beide
getauft oder Eeformjuden. Aber dass darum alle nur ein
gemeinsames Interesse verfolgen, ist falsch. Wie der fran-
zösische Sozialist doch eben Franzose bleibt und das „Proletarier
aller Länder, vereinigt euch !^' sofort Schranken findet, sobald
nicht ihr gemeinsames Mageninteresse in Frage kommt,
so kann man sich gut vorstellen, wie ein französischer Jude
einem deutschen Juden an den Kopf fährt, sofern dieser
reichsdeutsche Ideen verteidigt, wie der englische Jude den
deutschen Juden mit Britendünkel traktiert, oder wie der
deutsche Jude heftig aufflammt, wenn man in seiner Gegen-
wart deutsche Bildungsschätze bespöttelt. Denn intellek-
tuell wird jeder Jude notwendig ein Angehöriger derjenigen
Nationalkultur, in der er aufwuchs. Wer derlei unterschätzt,
macht sich schon von der Bedeutung der Muttersprache
keinen Begriff. Sprechen ist Denken, der Deutschsprechende
denkt anders, als der Englischredende und wir behaupten,
dass in vielen wichtigen Fragen der deutsche Jude dem
Deutschen verwandter denkt, als ein stammverwandter
Brite, ja sogar als ein mit deutscher Bildung gesäugter
Skandinave.
— 279 —
Durch 80 unzählige unmerkbare Poren strömt das geistige
Blut der Sprach- und Erziehungsgemeinschaft in den anders-
rassigen Körper. Wir gehen sogar noch weiter und behaupten,
dass der durch Generationen ansässige Jude ein starkes
Heimatsgefühl an das Land seines „Exils^^ bekommt und
unter Umständen auch dafür tapfer sein Blut yergiesst. In
Frankreich weiss man dies lange, wie denn überhaupt
die Mär von der persönlichen Feigheit der Juden reine
Legende.
Jeder Jude ist kampflustig, sobald seine Eitelkeit, Gewinn-
sucht oder nervöse Wut erregt wird. Auch bestiegen sie im
Mittelalter die Massenscheiterhaufen mit grossem Mut, lieber
als dass sie den Glauben abschworen, ihr religiöser Dünkel
/hielt sie aufrecht Ihre behutsam verhüllte Leidenschaftlich-
keit geht gern zum Extrem, wie die getauften Renegaten
als spanische Inquisitoren (Torquemada) einen besonders
grimmen Fanatismus herauskehrten, damit sie in Eetzer-
autodaf6s unbewusst ihr Yolk rächten und die katholische
Kirche in Spanien ruinieren halfen. So stellte Massena
(Manasse) das Äusserste rücksichtsloser Bravour in den
napoleonischen Legionen dar, mit Heroismus erkaufte er
Millionen auf Millionen, Titel auf Titel, machte als Bäuber-
hauptmann eine Razzia über die Erde. Auch Bemadotte
fehlte es nicht an Bravour und man könnte Beiden sonst
alles Mögliche vorwerfen, dass sie Schandflecke der Armee,
Diebe, Gauner, Räuber, Intriganten und sogar Yerräter seien
— Bemadotte verschwor sich mit einem General, der auf
den arischen Namen „Simon^^ hörte, schon gegen den Ersten
Konsul — , aber nur keine Feigheit. Die jüdische Ab-
stammung beider Marschälle wird von den Franzosen stand-
haft geleugnet, obschon beide Namen und ihre Physiognomie
nachweislich jüdisch sind und ihre moralische Eigenart von
der aller andern Marschälle, auch der schlechtesten, merklich
absticht. Doch dies dürfte wohl nur schamhafter Wahrung
der National würde entspringen, um nur ja nicht einzugestehen,
dass zwei „Gloires de la France^' Juden und dies obendrein
als Krieger gewesen seien. Auch Italien hat im Pantheon
seines Risorgimento einen Sprössling des Ghetto; Daniel
Manin, den heroischen Diktator von Yenedig.
-- 280 —
Dass der Ghetto sich nicht mal zu öfihen brauchte, um seine
Insassen durch Kultur und Sprache zu nationalisieren, beweist
der frühe Einflnss jener Berliner Aufklärungszirkel der Hertz
und Rahel. Dass eine orientalische Rasse sich derart akkli-
matisierte, um sich durchaus die okzidentale Kultur zu
assimilieren, beweist die Selbstverständlichkeit, mit der sie
sich blitzschnell in alle Gebiete als Konkurrent eindrängte,
sobald freie Bahn gegeben, mit Ausnahme des Ackerbaus,
dessen rauhe Arbeit sie den Gojim überliess. Selbst das
Militär wird überall, wo keine Schranken gezogen, von
Juden überschwemmt Der frühere Militärgouvemeur des
heutigen Königs von Italien, Ottolenghi, ist Jude und im
Prozess Dreyfuss sahen wir überall jüdische Offiziere auf-
treten; anderswo sind es nur Judenstämmlinge und Getaufte,
die nach oben dringen.
Mit dem hier Gesagten werden die Antisemiten freilich
wenig zufrieden sein. Denn das Fazit bleibt doch eben:
es geht nicht an, die Juden schlankweg als „Ausländer'' zu
betrachten, da sie, mit gleicher Sprache und Kultur durch-
tränkt, unwillkürlich unsre Landsleute und Staatsgenossen
werden; genau mit gleichem Recht, wie Refugi6s äusserlich
echte Preussen geworden, obschon sie ihr Französisch viel
zäher unter sich bewahrten als die modernen Juden ihr
Hebräiscl\. (Die allgemeine heilige Sprache der Juden im
Osten Europas ist übrigens das Deutsche). Wenn also
trotzdem eine völlige ümwandelung des Juden in einen
Arier unmöglich, er günstigstenfalls ein Dreivierteldeutscher,
meist nur ein Halbdeutscher, Halbfranzose, Halbbrite wurde,
so müssen fundamentale Verschiedenheiten der Gesinnung
obwalten, welche nicht wie der Intellekt von Sprache und
Kultur berührt wird. Wie hat sich diese nun nach öfEhen
der Ghettos bewährt? In Dankbarkeit, Bescheidenheit,
Brüderlichkeit? Weit gefehlt! Zuvörderst setzten die
Juden ihre kommerzielle Tätigkeit — schon in Palästina
und später im Römerreich von ihnen fast ausschliesslich
betrieben, also nicht wie man sagt durchs Mittelalter auf-
gezwungen — rücksichtslos fort, indem sie sich der er-
weiterten ökonomischen Bedingungen bemächtigten und all-
mählich in Europa das meiste mobile Kapital monopolisierten.
— 281 —
bis ihre Rothschilds Herrn über Krieg und Frieden im
Staatshaushalt wurden. Natürlich verdrängten und ver-
nichteten sie hierbei zahllose arische Existenzen und ihr
Auffressen der Nationalvermögen griff mit dem Erstarken
des modernen Kapitalismus immer rapider um sich. Die
Bauern von Orund und Boden jagen, den Handwerkerstand
aufsaugen, überall mit unlauterm Wettbewerb ihrer „Pleiten'^
und Gründungen, Panamas und Hondurasbanken, arische
Konkurrenten überwältigen, so sah sie aus, die Siegesfahrt
der jüdischen Philoxera durch den Weinberg des Herrn.
Neben dieser dankbaren und brüderlichen Segnung
ihrer gutmütigen arischen Herrenbefreier, die in völlige
Zinssklaverei zu schlagen ihr sehnlichster Wunsch, machten
sie sich mit vorlauter Dreistigkeit auf allen Plätzen des
öffentlichen Lebens breit, riefen allerorts Empörung über
ihre prahlerische Protzerei hervor, stürzten sich in Justiz,
Beamtentum, Universitäten. Ob sie in Staat und Kommune
so auflösend und immoralisch wirkten, wie manche Ahl-
wardtiaden behaupten, können wir nicht untersuchen. Eben-
sowenig, ob in der katholischen Kirche ihr Einfluss nicht
minder um sich griff wie in der protestantischen. Ob Pio Nono
jüdischer Abstammung, bleibt eine offene Frage, eine offene
Tatsache hingegen der Erzbischof von Olmütz, Herr Gohn,
mit seinen zwanzig Beleidigungsprozessen gegen seine
erbitterte Diöcesanen. Diese gewaltige Bazzia des eman-
zipierten Judentums ward aber ermöglicht durch ihre
Meisterleistung: die Nutzbarmachung der Presse. Sie
machten Goethes Befürchtung wahr und schufen dies inter-
nationale Teufelswerkzeug, das man anfangs als Auf-
klärungshebel begrüsste, heut aber als Institut zur General-
verdummung und Düpier ung erkannte, vermittels dessen
der grosse Haufe, dessen Mittelmässigkeitsinstinkten sie
schmeichelt, zu so unbedingter Gläubigkeit erzogen wird,
wie sie nur irgendein Hetzkaplan von seinen Bauern
fordern kann.
Kapital und Presse, das sind die zwei Säulen der
Bundeslade Israels. Hat dieses nun selber eine besondere
Nationalkultur, vermöge deren es uns entnationalisieren
könnte? Leroy-Beaulieu verneint es sehr richtig, natürlich
— 282 —
in judenfreundlichem Sinne, um die „Jadengefahr" in Ab-
rede stellen zu können. Der Orund, wamm Israel keine
Nationalkultur besitzt noch je besessen hat, ist freilich sehr
— antisemitisch, nämlich weil dies Verstandesvolk überhaupt
unfähig zu eigener Kultur (die ja nur aus ethischem Idealismus
keimt) und auch geistig nur aussaugen und sich Fremdes
aneignen kann. Wenn man aber einen besonderen jüdischen
Bassegeist leugnen wollte, so braucht man nur in das heilige
Buch des Alten Testaments zu blicken und es aufmerksam
mit der Gegenwart zu vergleichen. Ein undefinierbares je
ne sais quoi, im Mittelalter foetor Judaicus genannt, strömt
uns überall entgegen, wo wir das Judentum als „Element
der Dekomposition" (Philosemit Mommsen spricht so) wirken
sehen: Ein Hauch von Streberei, Geldgier, Genusssucht,
Materialismus, Ideallosigkeit, öder Beinkultur des Verstandes,
Gemütsentäusserung, Seichtigkeit und Yeräusserlichung der
Lebenshaltung.
Man wird uns entgegenhalten, dass dies ja nach unserer
eigenen Auffassung der allgemeine Geist des Jahrhunderts
sei. Allerdings, und die Bazillentheorie irrt, denn der
„Erreger" zerstört nur dort, wo ein Krankheitsherd vor-
handen: der jüdische Bazillus wuchert nur auf geeignetem
Nährboden. Allein, das hiesse doch krampfhaft die Augen
schliessen, wollte man den offenbaren zeitlichen Zusammen-
hang verkennen zwischen Entwickelung des Jahrhundert-
elends und seiner epidemischen Geistesseuche mit Emanzi-
pation des Judentums. Da letzteres nun durchaus an-
produktiv, so warf es sich auf die Zweige der Beproduktion,
auch hier des Zwischenhandels im Geistigen: nämlich
Presse, Theater, Musikvirtuosentum, sowie technischempirische
Ausbeutung der Naturwissenschaften, obschon es in letzterem
Fache, wo noch eine gewisse selbständige Produktivkraft
erforderlich, nur unbedeutendes vermag. Diese Beprodoktions-
arten, leichter und müheloser Baubbau fleissiger Handwerkerei
auf dem von Produktiven gedüngten Felde, machte es gleich-
zeitig, um seine spezifisch jüdische Begabung ausgiebig zu
verwerten, hervorragend lukrativ und verschi^e ihnen eine
ungeahnte Ausdehnung und Bedeutung. Wenn man im
übrigen eine Kunst nennen soll — eine Wissenschaft
— 283 —
gibt es nicht, wonn ein moderner Jude wirklich hervorragend
Bahnbrechendes geleistet hätte, und selbst Spinoza wäre ohne
Descartes und Giordano Bruno undenkbar — , wofür sich
die Juden besonders talentiert erwiesen, so ist dies die an-
geblich so ,4deale'^ und aus dem „Gemüt^^ schöpfende Musik.
Ein Beweis mehr, dass diese Kunst physiologisch mit nervös-
sinnlicher Erregbarkeit und intellektuell mit dem arithme-
tischen Bechenverstande zusammenhängt, welche zwei Be-
dingungen die einzigen sind, die dem Juden zu Gebote
stehen. Ob Mendelssohn und Meyerbeer wirklich nur
Enoblauchduft in die Musik hineinbrachten, wie Wagner
schimpfte, vermögen wir nicht zu beurteilen, finden des
Ersteren Kompositionen einschmeichelnd genug, des letzteren
Opern voll dramatischem Töneschwung, ohne natürlich den un-
geheuren Unterschied z. B. zu Schumanns Manfredmusik ver-
kennen zu können. Wichtiger ist uns der Vorwurf, dass die
Musik vieler Juden von Beminiszenzen und Plagiaten wimmelt,
was freilich das Schicksal der meisten Kompositeure zu sein
scheint und hierin die grenzenlose Beschränktheit des Musik-
vermögens anzeigt Das eigentlich Bassehafte der jüdischen
Musik nennt sich OfFenbach, Strauss, Sullivan, die prickelnde
frivole Operette. In der bildenden Kunst haben die Juden
ein paar „realistische^^ Genremaler wie Israels, liebermann,
Meyerheim (letzterer obendrein nur Halbjude, wie die Begas)
erzeugt und durch masslose Beklame weit über Gebühr auf-
geblasen. In der Literatur, wo sich ihre findige Intelligenz
hätte betätigen können, ist das Ergebnis von hundert Jahren
so jämmerlich, dass man mit einer einzigen glorreichen
Ausnahme, die ja Jedem auf der Lippe schwebt, wahrhaftig
nur Auerbach ernsthaft nennen kann. Und nächst ihm den
Mischling Faul Heyse. Sodann Ebers mit seinen Teetisch-
egyptern und Fanny Lewaldscher Aufklärungsblaustrumpf.
Denn solche Geringfügigkeiten, wie Zangwills englische und
Komperts deutsche Ghettogeschichten sind doch kaum der
Erwähnung wert. Was für eine Figur machen denn Karl
Beck und Moritz Hartmann als Bevolutionslyriker neben
ihren Landsleuten arischen Geblütes Lenau und Meissner?!
Sacher- Masochs ursprüngliche Begabung (er scheint nur
Halbjude gewesen zu sein) und Mauthners oder K. E. Franzos'
— 284 —
unbestreitbare Talente erwiesen sich als brüchig nach kurzer
Arbeit; neuerdings haben Holländer, Wassermann, Hoffinanns-
thal und vor allem Schnitzler (falls wir dem ganz verjudeten
Hermann Bahr seine arische Abkunft glauben sollen) einige
Spuren von Dichtertum verraten, während der „Dichter''
Fulda überhaupt nie etwas anderes als ein geleckter Forman-
empfinder war. Der Best ist Schweigen, gemischte Freunde,
Probepfeile, bei Philippi sehen wir uns wieder. Weisse Rössl,
die ins alte Romantische Land der vollen Theaterkassen
reiten. Bei dem Ahnherrn des Berliner Salonstücks und des
Feuilletons, beides nach französischem Muster, bei Paul
Lindau, dem ein ernsteres Streben tiefversteckt im Busen
wohnt, und seinem Bruder, dem feinen Globetrotter-Novellisten,
wird übrigens das Judentum bestritten und handelt es sich
höchstens um Mischlinge. Bei den Franzosen gibts allein
Halövy, bei den Briten einen holländische Romane schreiben-
den Cohn (Martens). Was soll man also von dieser Aus-
lese des Stärkeren in der Literatur sagen, da auf jeden der
Obengenannten immer zehn gleichbedeutende und viele
bedeutendere Arier kommen?
Was aber soll man vollends dazu sagen, wenn nicht
nur ein Jude Jacobs eine erlogene Statistik „The compara-
tive distribution of Jewish abiUty" 1886 zu Gunsten der
Juden gegenüber den Engländern aufstellt und ein andrer
Anglohebräer, namens Wolf („What is Judaism?''), die Juden
für einen „superioren Evolutionsgrad der Menschheit'^ aus-
gibt, sondern Leroy-Beaulieu solche frechen Fälschungen
noch sanktioniert! „Es gibt viermal mehr Chancen, einen
hervorragenden Gelehrten oder Künstler unter tausend Juden,
als unter tausend Engländern, Franzosen, Deutschen zu
finden"? Wäre dem so, könnten wir Leroy-Beaulieu den
Grund dieser albernen Prozentstatistik nennen: weil die
ungeheure Majorität der arischen Völker in Lohnsklaverei
schmachtet und nur ungefähr ebensoviel Deutsche wie Juden
überhaupt zur ökonomischen Möglichkeit höherer Bildung
gelangen. Aber es walten obendrein hier nur Lüge und
Schwindel. Selbst ihre übermässige Begünstigung durch
ökonomische Wohlfahrt (auf Kosten der Wirtsvölker) hat
unseren jüdischen Gästen nicht produktive Fähigkeiten
— 285 — .
verleihen können. Das höchste, was sie wissenschaft-
lich überhaupt erreichen konnten, waren Ricardos
Nationalökonomie, Marx' „EapitaP^ Lombrosos „Oenie und
Wahnsinn^', ergänzt durch Max Nordaus tragikomische
„Entartung^.
Was man allenfalls dem Judengeiste zusprechen könnte,
wäre eine Art Vermittlerrolle zwischen Orient und Occident.
Aber für das euphonische ,, Vermittler^' sagen wir richtiger:
Zwischenhändler. Der jüdische Literat ist ein Kommerzieller,
seine beliebteste Warenbranche die Kritik. Doch selbst auf
diesem Gebiete hat das Judentum nur eine einzige hervor-
ragende Erscheinung hervorgebracht: den Dänen Brandes.
Seine Feinde mögen ihm vorwerfen, was sie wollen, dieser
persönlich wenig sympathische Mann hat sich unvergäng-
liche Verdienste erworben als Zwischenhändler literarischer
Werte zwischen sämtlichen Völkern, womit er nicht nur das
kleine Dänemark, sondern auch das grosse Deutschland
universal aufklärte. Seine Ästhetik dringt nicht immer tief,
vieles in Byron z. B. entging ihm, doch bleibt bemerkens-
wert, dass er den „Gain'\ welchen Taines Oberflächlichkeit
ganz für „Manfred^' vernachlässigte, in seine Rechte ein-
setzte. Immerhin wüssten wir keinen Ästhetiker in Europa,
vielleicht die Gebrüder Hart ausgenommen, von gleicher
Bedeutung. Man sieht also, das Internationale des Juden-
tums kann auch sein Gutes haben. Allein, wenn es sich
um Abschätzung der Originalität handelt, kommt selbst hier
der Jude schlecht weg. Etwas Neues und Bahnbrechendes
wie Lessing brachte Brandes nicht und seine Methode
kopierte er eingestandenermassen von Taine, dem er sein
Hauptwerk, als seinem Meister, widmete, ohne übrigens —
um gerecht zu sein — in Taines Masslosigkeit zu verfallen.
Die auffallende Leichtfertigkeit, mit welcher Brandes fremde
Arbeiten auch wörtlich benutzt, haben übrigens seine Feinde
recht perfide übertrieben und ausgebeutet; böswilliger Anti-
semitismus könnte freilich in solcher Aneignung fremden
geistigen Eigentums einen jüdischen Zug entdecken. Doch
derlei Kleinlichkeiten beeinflussen unser Urteil nicht, wir
wissen Brandes gerecht zu werden. Nur sei betont, dass er
seinen Weltruhm natürlich nie erlangt hätte, wäre er nicht
— 286 —
als beweglicher Hebräer in der Lage gewesen, die ganze
Reklamemaschine der Internationalen Presse spielen zu
lassen.
Und dies ist der andere Punkt, weshalb ein Vor-
eingenommener, wie Leroy-Beaulieu, so viele hervorragende
und bekannte Juden aufzählen darf und weshalb sich die
Legende von der überlegenen jüdischen Intelligenz ver-
breitet hat Das Judentum, indem es sich der Presseorgane
auf der ganzen Linie bemächtigte, auch der „vornehmen^^
Monatsschriften von der „Saturday Review'^ bis zur
„Deutschen Rundschau^^ des Herrn Levy, genannt Roden-
berg (oder wie er früher sich nannte: „Julius von Roden-
berg^^), wurde selber die alleinige Instanz zur Verteilung
des Ruhmes für die Arier. Das Publikum besitzt im all-
gemeinen nicht den geringsten Geschmack und lässt sich
wie ein Säugling von der schwarzen Zauberfiasche der
Pressetinte aufpäppeln, Alles, was zu pseudorevolutionärer
Zersetzung und „Dekomposition^^ dienen kann, begrüsst der
Jude als Bundesgenossen. Und daneben, wie fördert er
nicht denselben Trieb in seiner niedrigsten Form, das
Seichte, Sinnlichgefällige, Brünstige, Rohsensationelle, Frivole,
Unsittliche ! Ihm wäre Bahrs Schlüpfrigkeit oder Schnitzlers
„Reigen^^ ein Hochgenuss, selbst wenn Schnitzler kein Jude
wäre, er schmunzelt nicht nur Fulda, sondern auch Blumen-
thal und Philippi zu, und kaum dass er in Hauptmanns
Miselsucht etwas Verwandtes aufsäugte, musste auch der Knabe
Hirschfeld seine Hauptmannskopien als autochthone Spende
Israels daneben setzen.
Denn darin eben besteht die skandalöse Heuchelei der
Juden, dass sie über Unterdrückung schreien, sobald man
im kleinsten ihren Übergriffen entgegentritt, dabei aber
recht wohl wissen, dass sie eine einzige ungeheure Eame-
raderie bilden, um sich und die von ihnen abhängigen Re-
nommierchristen durch Dick und Dünn zu poussieren. Wer
in diesem Kampf ums Dasein Sieger bleiben wird, die Arier
oder die „überlegene jüdische Intelligenz^^ (Gerissenheit),
sehen wir nicht voraus. Sollte aber über Juda einmal ein
Strafgericht hereinbrechen, so wird man jedenfalls zugeben,
dass das Mass voll war und dies Vordrängen einer fremden
— 28? —
Rasse auf allen nur möglichen Herrschaftsgebieten not-
wendig die Notwehr herausforderte.
Es wird immerdar lehrreich bleiben, dass im politischen
Kalender der Torys, der Republikaner und Sozialisten ein
Jude als heiliger Schutzpatron obenanstand: Disraeli, Oam-
betta, Lasalle. Gambetta stieg bei seiner Leichenfeier in
einer Weihrauchwolke von Apotheose in die Unsterblichkeit,
die Arbeitermassen der ganzen Welt singen die Sozialisten-
marseillaise: „So gehen wir den Pfad, den uns geführt
Lassalle^^ und vor Disraelis Statue streuen die Damen der
stolzesten Aristokratie jeden Frühling in besonderer Feier
des Primrose-Day seine Lieblingsblumen, ja die gesamte
konservative Partei schloss sich als Primrose-Ligue zu-
sammen. Wie dieser schwarzlockige Dandy den unver-
fälschtesten Judentyp mit talmudischen Schmachtlocken
darstellte, so Gambetta einen mehr arabischen Typ, der
etwas offen Löwenhaftes auslöste und nur im orientalisch-
verschleierten Auge ein gewisses Lauem verriet Den
blonden stattlichen Lassalle hätte man für einen Arier halten
können, wenn ihm nicht in höchster Erregung, besonders
wenn er auf die Juden schimpfte, ein jüdisch Fistel-
tönchen entfahren wäre.
Über Disraeli und Gambetta können wir uns kurz
fassen, da in ihnen einfach der Streberwille zur Macht sich
auslebte und sie als Jahrhundertvertreter kaum mehr Be-
deutung haben als Eossuth, Castelar oder Grispi. Geschaffen
haben sie nichts, wie Mazzini-Garibaldi und Bismarck-Moltke.
Die dritte Republik war nicht Gambettas Werk allein und
auch der britische Imperialismus ist nicht von gestern her,
dass Disreali ihn hätte gründen müssen. Wäre letzterer der
einzige Haupttyp des modernen Judentums, so würden wir
jede andere als radikal - antisemitische Behandlung der
Judenfrage für Zeitvergeudung halten. Denn alles das, was
die Radikal- Antisemiten den Juden vorwerfen, kam in
dieser unerquicklichen Erscheinung zum Ausdruck. Man
braucht nicht von Parteileidenschaft gestachelt zu werden,
wie der Parlamentarier O'Gonnor in seinem dicken Buch-
pamphlet über den venezianischen Judendandy, der als
Earl of Beaconsfield abschloss, um die widerlichen Grund-
— 288 ~
Züge skrupelloser Streberei festzustellen. Disraeli bietet
den klassischen Typ des „Arrivisten^\ welch gutfranzösisches
Wort der neueste Jargon durch das ungeschickte ,,Struggle-
forlifeurs" ersetzte, in Daudets „Llmraortel" eingeführt.
Disraeli ist auch ein solcher ,Jmmorter^ . . . unsterblich, so
lange er lebt.
In allem nur ein Kopist. Ihm war Macaulay Vorbild,
der eine staatsmännische mit literarischer Laufbahn zu
kreuzen wusste. Sein toryistisches Renegatentum — er
begann als Radikaler, dann als liberaler Leader of the
Opposition — erinnert an Grispi. Die Engländer sind
sonst sehr kitzlich auf diesem Punkt, sie halten es für
eines Mannes unwürdig, seine politische Überzeugung zu
wechseln, da in ihrem freien parlamentarischen Staate eine
Zwangspression sich ausschliesst und jeder Übertritt zur
Gegenpartei nur durch Spekulation auf Ministersessel sich
erklärt. Alle Phrasen Disraelis vermochten daher nicht die
Überzeugung zu erschüttern, dass es ihm von Anfang an mit
keiner Gesinnung ernst war und er immer nur daraufhin
arbeitete, sich an oberste Stelle zu drängen. Erstaunlich
bleibt immerhin, dass dieser hässliche Flecken, auf den man
ihm lebenslang den Finger wies, seiner Fortüne wenig
anhaben konnte. Der englische Toryismus strotzte eben so
überaus von Talentlosigkeit, dass man sich bequemte, den
„damned Jew^\ einen Abenteurer und Glücksritter, wohl oder
übel zum Leiter zu wählen, sobald er seinen Übertritt an-
bot Da nun die Vis Inertiae der englischen Verfassung und
sozialen Konstruierung dem konservativen Element immer
noch einen festen Block angestammter Machtfülle unter-
schiebt, so konnte ein so rühriger und rüstiger Intrigant die
latente Macht wieder in Fluss bringen und ihre dicke Be-
sitzmasse dem vorschreitenden Liberalismus und seiner
, Amerikanisierung' entgegenstemmen. Er benutzte hierbei
gegen seinen Gegner Gladstone, einen konfusen Doctrinär,
die äussere Weltpolitik des British Empire, da er in innerer
Politik die gegnerischen Argumente nicht widerlegen konnte,
und spielte auf dem lockenden Leitmotiv des chauvinistischen
Imperialismus Wenn die dummen Mäuse und Ratten des
britischen Volkes nur die Speckschwarte des Nationaldunkels
— 289 —
riechen, dann kriechen sie heran und der Rattenfänger kann
sie leiten, wohin er will.
Seien wir jedoch ehrlich: sein Widerpart Oladstone
(Freudenstein), dessen jüdisch - deutsche Abkunft ihn nicht
hinderte, den altenglischen Ideal- Oentleman zu mimen,
nimmt noch weniger für sich einJ) Seine abstrakte Maul-
ideologie hat etwas entschieden Rabbinerhaftes dürrphari-
säischer Oesetzesheiligkeit Sein Fach: Finanzstatistik, also
eine reinpraktische Anschauung neben dem Phrasenschwulst
seines pomphaften Ethos, seine Bildung: akademische Oxford-
klassizität, sein Ethos: Highchnrch, seine politische Basis:
freihändlerischer Manchesterliberalismus der Bourgeoisie.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit Ouizot und Thiers fällt beim
Vergleich nur ungünstig für ihn aus, besonders letzterer
zeigt eine starke Überlegenheit französischer Feinheit und
gesunden Wirklichkeitssinns, abgesehen von dem geistigen
Übergewicht seiner Leistung als Historiker. Die Yielzu-
yielen in ihrer unheilbaren Mittelmässigkeit sind immer noch
geneigt, den Intelligenzumfang der sogenannten Staatsmänner
zu überschätzen, uneingedenk des Oxenstjemaschen Geständ-
nisses, mit wie wenig Hirn die Welt regiert wird. Ein
„grosser^^ Staatsmann steht oft tief unter jeder schöpferischen
Intelligenz auf irgend welchem Oebiete, sei es auch die des
Maschinenbauers. Er baut meist gar nichts, sondern sucht
nur die Räder mit dem Ol seiner kleinlichen Augenblicks-
einfälle zu schmieren. Gladstones sittliche Entrüstung — er
hatte immer etwas, um seinen Fond von Sittlichkeit zu ent-
rüsten — über „Bulgarian atrocities^^ Zarenukase und deut-
schen Militarismus verwickelte England nur in Fährlich-
keiten von Erimkriegen bis zu „splendid isolation'\ und
zuguterletzt war es nicht seine tobende Ideologie, sondern
') Ein uns nahestehender Verstorbener, freilich der toryistisohen
Aristokratie angehörig, doch anf freister Bildungsstufe stehend, Teiacherte
uns einst in London, er habe als Anhänger der Oallsohen Theorie die
Schädel beider ihm gleich antipathischer Staatsmänner untersucht und die
Organe Disraelis verhältnismässig anständiger befunden als Oladstones.
Man mag über Oalls Lehre heut spotten, besonders solche, die sich nie
damit beschäftigten, in einzelnen Punkten hat sich experimentell ihre
Richtigkeit bewährt
Blelbtren: Die Vertreter des JahrhimderU. 19
— 290 —
Bismarcks und Disraelis Realismus, was türkische Greuel
einerseits beseitigte und andrerseits Russlands Ungebühr im
Berliner Kongress über den Löffel barbierte. Auch blieb
dies Moralgezeter nur altenglische Heuchelei, die den Splitter
im fremden Auge anklagt, so lange Irlands Knechtschaft-
geschwür am eigenen Leibe offenstand. Als aber Gladstone
hier nach Disraelis Tode, wo er sich voll und ganz gehen
lassen konnte, gravitätisch den heilenden Chirurgen spielte
und seine grenzenlose Eitelkeit als Befreier an jubeln liess,
geschah dies so dilettantisch, dass die falsche Diagnose des
Homerule den irischen Radikalen vom Schlage Parnells
nur neue Kampfmittel lieh, ohne irgendwie den Grundsitz
des Übels zu treffen, das allerdings jeder „korrekten"
Besserung spottet. Bismarcks wegweisendes Urteil über den
„Grand Oid Man'' kann man nur unterschreiben, er war
ein Grand Old Fool und nebenbei ein ebenso tüchtiger
Machtstreber wie sein jüdischer Gegenfüssler.
Nun, von solchen Schwächen abstrakter Pathetik fühlte
Disraeli sich völlig frei. Wo er falsches Pathos anwendete,
blieb es nur rhetorische Figur und an Würze eines offen-
herzigen Gynismus fehlte es nicht. Bismarcks „Macht geht
vor Recht' wusste er lange vor Bismarck, und dass vor
allem Besitz Macht sei, illustrierte sein Erfolg. Nachdem er
den Reichtum einer älteren vornehmen Lady erheiratet,
stand ihm nichts mehr im Wege, sich als Peer von Gross-
britannien zur Ruhe zu betten und damit hatte er ja alles,
was seines Lebens Idealen vorgeleuchtet. Es ist erreicht.
Wie kaltsinnig er alle idealen Elemente des Real-
politischen abschätzte, zei^t seine verächtliche Ablehnung
der Bismarckschen Einheitspläne, von denen ihm vorzeitig
Kunde kam: ,.The moonshine of a Gerraan Baron." Als er
nachher den Mondschein auf Bismarcks Glatze persönlich
beim Beriiner Kongress bewundern durfte, ging ihm wohl
eine Laterne auf, dass selbst naseweise Superklugheit sich
irren könne. Den insularen Sneer, mit welchem die britische
Oligarchie von je auf alle kontinentalen Aspirationen von
oben herab hohngrinst, eignete sein schmiegsamer Semiten-
verstand sich jedenfalls naturgetreu an und so thronte er in
Mitte der „noble lords" zuletzt wahrlich wie ein Autochthone.
— 291 —
Sein Tric, die arbeitenden Massen durch Erbitterung über
die starre Unfruchtbarkeit des Manchesterliberalismus, der
ja einzig die Geschäfte der Bourgeoisie besorgt, ins toryistische
Lager zu locken, verführte später Bismarck zu ähnlichen
Praktiken mit dem bekannten Misserfolg, konnte aber in
den grundverschiedenen britischen Verhältnissen, wo die
Sozialdemokratie als Revolutionspartei keine Grundlage hat,
nicht so verwirrend wirken. Der Erfolg gab Disraeli daher
teilweise Recht. Nur muss man dies schlaue Parteimanöver
nicht als einen ethisch idealen Impuls betrachten, denn
GerechtigkeitsverpflichtungerkannteDisraeliinnerlichhöchstens
an, wo es Gleichstellung und Erhöhung des Judentums galt
Dagegen war er wohl mit dem Herzen dabei, als er die
alte Victoria — eine mittelmässige und ethisch zweifelhafte
Dame, welche zu einer neuen ,«jungfräulichen Queen Bes8^\
^grossen Königin^' und sonst was Guts hinaufzuschrauben
als ein Meisterstück der englischen Verlogenheit und gleich-
zeitig der feigen heuchlerischen Jahrhundertschwäche be-
wundert werden darf — durch den Titel einer „Empress
of Jndia" kirrte, damit die grösste Herrscherin der Welt
doch nicht in Hofetikette hinter Kaiserinnen zurückstehe.
Derlei Drücken auf den britischen Chauvinismus entsprac
seiner eigenen phantatischen Ader, die ihm seine orientalische
Abkunft oft ins Gedächtnis rief. Diese Phantastik, rein
sinnlich und gemütskalt, dies Berauschen mit glänzenden
Machtbildern war von jeher den Hebräern eigen und die
Hartnäckigkeit, womit sie ihre messianischen Hoffnungen
festhalten, lässt sich d'Israeli nicht abstreiten. „The EngUsh
want Gyprus'^ schrieb er in einem seiner Romane und er
ruhte nicht, bis er später diese These realisierte. Auch
ziehen sich gewisse prinzipielle Sym- und Antipatien wie
ein roter Faden durch seine literarischen Gebilde, worin er
sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit treu blieb. Seine
Snob- Verliebtheit in die Aristokratie bekundete er von
„Vivian Grey" bis „Endymion", ein gewisser toryistischer
Reformsozialismus macht schon frühin„Sybir^und„Goningsby^^
seine Aufwartung, seine Neigung für den Orient und seine
Apotheose des Judentums bricht immer durch. Überhaupt
sind Fiktionen wie „Tancred" ihm nur ein Vorwand, um
19*
— 292 —
allgemeine politische, soziale, religiöse Reflexionen aufza-
speichern. Literarisch bleibt seine Hinterlassenschaft so gut
wie wertlos. Dass er mit der yorlaut frechen Beichte seiner
jugendlichen Streberei und seines anfänglichen politischen
Scheiterns als Intrigant ,yiyian Orey^ und mit der gecken-
haften Schlussbeichte des Earl of Beaconsfield ,Endymion^
Anfang und Ende seiner Laufbahn bezeichnete, das heisst
mit seinen wertlosesten und dem Fluch der Lächerlichkeit
verfallenen Büchern, gibt hier den Massstab. Merkwürdiger-
weise enthüllte er wirkliches Talent nur in seinen zwei
ziemlich unpolitischen Herzensgeschichten „Contarini Fleming^
und „Henrietta Temple^, wobei er in ersterem dem ganzen
OroU des isolierten Semiten in einer arischen Gesellschaft
kräftige Töne lieh. Seinem gereizten Judenstolz verdankt
man übrigens die unvorsichtige Ausplauderung, dass ein
grosser Teil des blaublütigen Adels, auch des preussischen,
mit Judenblut geschwängert sei. Der holde Benjamin spielte
als Dandy „about town^^ zusammen mit dem aus Byrons
Aufenthalt in Oonua bekannten Gomte d'Orsay, Lady
Blessingtons Gicisbeo, eine tonangebende Oeckenrolle und
im Hause besagter Lady Blessington, durch ihre „Conver-
sations with Lord Byron" Mode geworden, fing er frühzeitig
an, sich zu gesellschaftlichem Mittelpunkt auszubilden. Mit
besonderer Virtuosität wagte er als Liebhaber in der
erotischen Roulette auf „Trente et Quarante", einflussreiche
Damen von 30 — 40 Jahren, seinen Einsatz.
Das Publikum, immer nur Stoffliches begreifend, schob
den anonym erscheinenden „Vivian Grey" Bulwer zu, weil
dessen „Pelham" kurz vorher mit gleichem jugendlichen
Behagen an glitzernden Äusserlichkeiten, doch mit über-
legenem Esprit, das Dandytum personifizierte. Schon die
Episode darin mit dem berüchtigten historischen Stutzer
Brummel ging weit über Benjamins Fassungsvermögen, der
ganz naiv und als gläubiger Snob in diesen Salonintriguen
das „Leben" und die „Yornehmheit^^ sucht Höchstens in
der tötlich gekränkten Eitelkeit des boykottierton Debütanten,
dem sich Edens Salontore wieder verschliessen, fand er Natur-
laute seines edeln Linem, während Bulwer sich von den Vor-
urteilen und Seichtigkeiten seiner Kaste zu erlösen strebte
— 293 —
Man sieht hier wieder den unterschied des vomehmen
Herrn vom ^Tufthunter^ und ,Detrimental\ der als Outlaw
und Outcast beginnt, um als snobischer Parvenü in Amt
und Würden zu enden. Wir haben über Bulwer nicht
günstig urteilen können, so hohe Achtung uns sein ernstes
tiefes Streben und seine unleugbare Idealität, nur leider in
parfümiert aristokratischer Maske, einflössen. Aber wir
können nicht umhin zu ergänzen, dass er in „The Caxtons^^
und „What will he do with it^^ erspriessliche Versuche
machte, aus dem aristokratischen Zirkel herauszubrechen
und breiteren gemütlichen Humor des Home- Life zu erhaschen.
Freilich bleibt auch hier das Aristokratische so unwahr
betont, dass man manchmal versucht wäre, nicht einen echten
Lord Lytton, sondern einen Parvenü im Autor zu vermuten.
Dass in „My Novel'^ noch gar der politische Flüchtling Doktor
Riccabocca sich als Herzog und der bäurische Dichter Leonard
als legitimer Sprössling eines hochgeborenen Ministers ent-
puppen, geht doch über den Spass. Sogar in seinen spiritistisch-
okkultistischen, übrigens auf tiefgründigen Studien aufgebauten,
„Zanoni^^ und „A stränge story^ will dies Highlifemässige
nicht Abschied nehmen. Doch nun vergleiche man die
augenfällig Bulwer nachempfundenen Kopien von Disraeli!
Sein unglaublicher „Young Duke^^ scheint von Theodore
Hook geschrieben, nur ohne die Paul de Eock-artige rot-
bäckige Behäbigkeit, die dessen Highlifegeschichten zwar
von der Hintertreppe sieht, aber mit einiger naiv-snobiger
Richtigkeit Bezeichnend, dass Benjamin auch hier elende
Vornehmtuerei mit einem politischen Thema: Emanzipation
der Katholiken verquickt Wo er mal wie in einigen
Episoden von „SybiP^ wohlfeile Lronie aufblitzen lässt, ver-
pufft sie matt an der Oberfläche, und wo nicht ödes Salon-
geschwätz aufgetischt wird, da werfen geheimnisvolle unbe-
kannte Weltherrscher wie Sidonia in „Coningsby" allerlei
phantastische Zukunftsbrocken hin, die heimlich vom
goldenen Tische der Zukunftsherrlichkeit Israels fallen.
Man kommt bei Prüfung Disraelis zu dem nämlichen Ein-
druck, wie etwa bei Auerbach und Heyse, nur in viel
stärkerem Masse, dass der jüdische Geist weder zu
realistischer Lebensabformung noch zu idealischem Schwünge
— 294 —
fähig sei. Möglich jedoch, dass uns eines Tages ein Aus-
nahmemensch jüdischer Rasse Lügen straft, da schon einmal
in Heine eine grosse Ausnahme aus dem allgemeinen
Rahmen herausfiel.
Es hat etwas Bemühendes, aus solchem Munde fort-
während den Preis Byrons zu vernehmen, dass dieser „uns^^
nötig sei, offenbar um die Erschlaffung der durch Napoleons
Niederwerfung gesättigten Aristokratie aus dem Dreck zu
reissen, was hier im kindisch unklarem Lallen über Byrons
weltmännische Lebenskenntnis sich versteckt. Dass Leute
wie Disraeli für Byrons wahre Grösse kein Organ haben
und höchstens die beissende Oesellschaftssatire des ,,Don
Juan^', dies sportlustigverwegene Spielen mit den Dingen,
begreifen können, liegt auf der Hand. Doch hat Disraeli,
der 1877 als Präsident des Byronkomitees (zur Errichtung
der schlechten Statue im Hydepark) sich natürlich nicht
entbrechen konnte, als gereifter Konservativer sein Bedauern
über Vieles in Byron — nämlich das Unsterbliche — aus-
zudrücken, seiner Byronverehrung ein seltsames Denkmal
gesetzt Sein Roman „Venetia" wirft nämlich in einer nur
Eingeweihten erkennbaren Weise das Leben Byrons und
Shelleys bunt durcheinander, so dass Lady Byron Shelleys
Gattin, Byrons Tochter Adah als Venetia Shelleys Tochter
und Byrons Flamme, gleichzeitig identisch mit Byrons
Jugendliebe Mary Chaworth wird. Man mag sich denken,
als was für Schemen Byron (Lord Cadurcis) und Shelley
(Marmion Herbert) in diesem Tohuwabohu herumhuschen.
Besonders drollig wirkt die neue Versversion, welche hier
der unvergleichlichen Ewigkeitspantomime „Der Traum^' ge-
legentlich gegeben wird, da Disraeli (wie übrigens auch
Bulwer) der Ehrgeiz plagte, Gedichte dichten zu wollen.
Bezeichnenderweise gelang eine Partie sehr gut: Byrons
Lionship in der Londoner Season, wobei auch das historische
Ehepaar Melbourne- Lamb nicht übel getroffen. Die freie
ümdeutung, die als Ursache der Ächtung Byrons unter-
geschoben wird, nimmt die geheimnisvollen Gründe sehr
leicht, verrät übrigens den geheimen Groll Disraelis gegen
die konventionelle Bigotterie der englischen Gesellschaft, die
ihm selbst oft übel mitspielte. Immerhin hat die Szene^
— 295 —
welche zwar so nicht historisch vorfiel, jedoch in Dover bei
Byrons Abreise sich ähnlich abspielte, wo Lord Gadurcis
alleine dem Strassenpöbel trotzt, einen persönlichen Ton
eigener ErgriflPenheit Man erinnert sich, dass der ver-
spottete ausgepfiffene „JudenbengeP^ Benjamin nach ver-
unglücktem Maiden Speech im Parlament dem Hause trotzig
zurief: „Ihr werdet mich noch hören !^^ Nun, wie man ihn
hörte, das werden wir noch an andrer Stelle ausführlicher
behandeln müssen.
Dieselbe Zähigkeit im Festhalten des einen Ziels, näm-
lich der eigenen Erhöhung, dieselbe Ellenbogenrücksichts-
losigkeit, sich Raum zu schaffen, treffen wir bei Oambetta
wieder und vor allem den gleichen ,,flair^^ für Erfolgmöglich-
keiten, dasselbe Glück, das überall den Juden lächelt Er
verheimlichte übrigens seine jüdische Abkunft (sein Vater
war schon getauft) und wir sind nicht sicher, ob er nicht
mütterlicherseits arisches Blut in den Adern hatte. Seine
Laufbahn vor und nach 1870 wäre ohne jede typische Be-
deutung, da er sich vorher in nichts von Jules Favre,
Rochefort, Louis Blanc und Ähnlichen und nachher nur
wenig von Waldeck-Rousseau, Gombes oder solchen Arri-
visten unterschied. Aber das Jahr 1870 liegt dazwischen
und sichert ihm eine unver wischliche Unsterblichkeit Die
Kraft, mit welcher er damals über alle militärischen Be-
hörden weg die am Boden schleifenden Zügel der Zentral-
gewalt ergriff und als Zivildidaktor alle Gewalten Frank-
reichs straff zusammenfasste, wird stets bewunderungswürdig
bleiben. Ihm allein verdankt die ,Grosse Nation^ dass sie
ihrer würdig unterlag und ohne Schamerröten auf den
grössten Nationalkampf der Kulturgeschichte zurückblicken
darf. Sein Organisationstalent erwies sich so ohne Gleichen,
dass man auf Napoleons Leistung im Frühjahr 1813 (nach
dem Zusammenbruch seiner alten Armee) zurückgreifen
muss, um einen geeigneten Masstab zu finden. Gambettas
Kriegsimprovisierung stampfte gradezu Armeen aus dem
Boden. Arbeitskraft, Umsicht, Energie standen bei ihm auf
gleicher Höhe. Man braucht nur den klassischen Brief an
Fregattenkapitän Jaur^ zu lesen, aus welchem das 21. Armee-
korps wie durch Zauberschlag hervorging. Allerdings darf
— 296 —
man nicht vergessen, dass dem kleinen Ziviijuden ein ebenso
fähiger kleiner Zivilarier de Freycinet zur Seite stand.
Diese Zwei und ihre Zivilkommissare wie de Serres,
auch Thestelin im Norden, schufen allein die Heere und
alles Vernünftige bei deren Leitung. Die Generale waren
Statisten, selbst der eigenwillige und räumlich Oambetta
entrückte Faidherbe folgte dessen Weisungen. Chanzy, den
er fand und erfMid, ihm einen Buhm verschaffte, der ihm
als Feldherrn nicht zukam, blieb bis zuletzt nur sein Werk-
zeug. Eine Reise nach Besancon genügte ihm. Cremer zu
entdecken und Cambriels abzusetzen, dessen angezweifelte
Bechtschaffenheit er im übrigen sofort als rein erkannte.
Sein Blick durchdrang alle Verhältnisse und Menschen.
General Thoumas kann sich in seinen Memoiren der Be-
wunderung für den kleinen Mann mit der Löwenmähne
nicht erwehren, dessen rastlose Beweglichkeit überall zu
Feuereifer selbst Widerwillige fortriss. Seine Organi-
sationsarbeit musste von Berufsmilitärs an und für sich als
staunenswert hingenommen werden, doch knüpft man daran
die bekannten Tiraden über Nutzlosigkeit und Untüchtigkeit
von Volksaufgeboten. Vergebens hat auch der französische
Berufsdünkel der Militärkaste dem Unmut gefährdeter
Standesinteressen nörgelnd und mäkelnd Luft gemacht
Wir gehen noch weiter und haben in ausführlichen
Studien, auf die wir hier nur verweisen können, Gambetta
sogar ein Feldherrntalent zugesprochen, einen grossen freien
Blick für operative Massenbewegungen. Seine Korrespondenz
mit seinem ersten Generalissimus Aurelles lässt keinen Zweifel
darüber, wer hier von Strategie eine Ahnung hatte, Gam-
betta-Freycinet oder der Berufsmilitär. Auch hat nur Un-
wissenheit ihm vorgeworfen, dass er seine armen Generale
ins Unmögliche hetzte, im Gegenteil mässigte er Chanzys
rührenden Optimismus, und den Belfortzug hat Bourbacki
selbst in Gemeinschaft mit Trochu auf dem Gewissen,
während Gambetta die richtige Offensive gegen Friedrich
Karls Flanke bei Montargis wünschte.
Gambettas Beredsamkeit bestimmte wie seine Tatkraft
nur sein Temperament, es waren rollende dantoneske Töne
ohne weiten Ideenkreis, Augenblicksreden und Augenblicks-
— 297 —
poIitik. Sein Privatleben hat Drumont „La France Juive^^
vielleicht zu düster gemalt Jedenfalls bereicherte er sich
durch Börsenmanöver, hielt sich mit der prahlenden Gier
des Parvenüs den bestbezahltesten Koch und die teuersten
Maitressen. Eine davon wurde so teuer, dass sie ihm das
Leben kostete und er noch kläglicher als Lassalle durch
ekle Weibergeschichte zu Grunde ging. Gambettas Verdienst
als Eriegspatriot wird nicht vergessen werden. Doch lasse man
nicht ausser Acht, dass auch die Zivilregierung in Paris Er-
staunliches hervorbrachte und dass ein gut Teil der gross-
artigen Gesamtleistung aufs Konto des Prinzips und Systems
selber, des revolutionären Elans der Massenerhebung, kommt
Am Ende hat ja auch der aus ähnlichen Laien bestehende
Wohlfahrtsausschuss des alten Terreur nebst den jungen
Yolksrepräsentanten ähnlich Ungeheures gewirkt Genialität,
wie man's landläufig nennt, wird man Gambetta sicher zu-
erkennen, von da bis zum schöpferischen Genie ist's aber
noch gar weit Gemessen an grossen arischen Staatshelden
erscheint dieser erste jüdische Mann, der eine welt-
geschichtliche Figur vorstellte, doch menschlich recht klein.
„Das fehlte uns bloss noch!^^ rief er verächtlich bei der
Kunde von Garibaldis Ankunft und ermangelte dieser
historischen Beliquie gegenüber in fast unanständiger
Brutalität jedes Bespekts. Die Pietätlosigkeit des Juden
für arische Geschichtlichkeit tritt hier hervor. „Mein Herz
ist gross genug, um Voltaire und die Pucelle gemeinsam
zu umfassen^\ dies sein schönstes Wort, das ein National-
franzose vielleicht nicht hätte sprechen dürfen, bekundet
die Fähigkeit des Juden, seiner Vergangenheit nach parteilos
das Tüchtige der Gesamtheit zu empfinden. Dass hierin
eine wohltätige Mission des Judentums liegen könnte,
leugnen wir nicht Bisher hat man aber dafür kein anderes
Anzeichen. Freilich gab auch noch einer sich redliche
Mühe dazu: Ferdinand Lassalle.
„Wenn der Junge da erwachsen ist, dann wird man
meine Gebeine ausgraben !^^ hörten wir selbst als Kind den
Messias des Sozialismus perorieren. Wir sehen ihn noch,
wie er in der Stube auf und ab schritt und seinem Freunde
Bleibtreu, dessen Gemälde aus den Befreiungskriegen er
— 298 —
besonders hochschätzte und über dessen ^Napoleon bei
Waterloo^ er eine sprühende zündende Rezension schrieb,
die Notwendigkeit der neuen sozialen Ordnung zu Oemüte
führte. Wir sehen noch den starren Funkelblick, mit dem
er uns liebevoll anherrschte: „Junge, was guckst du?'^
Lassalle war ein bezaubernder Mensch und alle, die ihn
näher kannten — darunter Leute wie Humboldt, Boeckh,
Fückler-Muskau und der alte Scherenberg, dessen Schlacht-
dichtungen in Lassalle einen gleich warmen Gönner fanden
wie im Prinzen von Preussen! ~, ehrten in ihm den
Dämon, der seine hohe Stirn geküsst.
Lassalle hatte einen unheimlichen Doppelgänger, den
Babbinersohn Karl Marx, der übrigens nebenbei dem Juden-
tum bittere Wahrheiten sagte und beichtete, dass dessen
wahrer Gott allzeit der Mammon gewesen sei. Er muss ja
wissen. Dabei blieb er aber selbst im Banne dieser An-
schauung, indem er den Sozialismus einzig auf eine ökono-
mische Basis stellte. Auch ihm erschien das Geld als der
allein bewegende Faktor und so schrieb er sein „Eapital^\
worin er die Selbstauflösung des Kapitalismus bei zunehmen-
der Verelendung der Massen predigt Es steckt in dieser
Hegelianischen Formeldialektik viel Talmudisches und seine
kalte Abstraktion, womit dieser praktische Spinoza gleichsam
als ,)Substanz'* das Kapital herausschälte, hat sich bisher
empirisch, durch die Tatsachen widerlegt. Die Verelendung
schritt nicht fort, sondern ging zurück, der Kapitalismus
hörte noch lange nicht sein letztes Stündlein schlagen und
der am Jahrhundertende erwartete grosse Kladderadatsch
wird noch lange ausbleiben.
Neben diesem düsteren Talmudisten steht Lassalle wie
etwas Reales, wie blühendes Leben. Obschon begeisterter
Hegelianer, verlor er sich nicht in Abstraktionen und ver-
kannte nicht die lebendigen und wechselnden Triebfedern
der Dinge. Wenn man Marx den Robespierre und Lassalle
den Danton der sozialen Revolution (vorerst nur in der
Theorie) nennen wollte, so setzt dieser Vergleich Lassalle
herab, da gerade er den Gedankenreichtum Robespierres
und dessen ideale Begeisterung mit Dantonischer Tatkraft
vereinte. Freilich haftete ihm auch Dantons Genusssucht an.
— 299 —
seine erotischen Abenteuer mit der Hatzfeld und Dönnige»
sind weltbekannt geworden, weniger seine Aventüren mit
Frau Dunker (Jüdin) und jener Russin, die uns mit ,,üne
page d'amour de Ferdinand Lassalle^^ beglückte. Allein,
wenn er auch parvenühaft den Geldsack seines Papas, eines
üblichen Schachermoses, prunkliebend zur Schau stellte und
einen Alcibiades-Lebenswandel im Stile der berüchtigten
Geniezeit bis in die nüchternen sechziger Jahre fortsetzte,
wobei auch oft der Schwanz des Alcibiadeshundes pour
6pater le bourgeois nicht fehlen durfte und selbst die Erotik
zur Pose ward, so kann man ihm wenigstens nicht Danton-
sche Schmutzereien in die Schuhe schieben. Wohl hat er
der Arbeitersache selten einen Groschen geopfert, doch sich
auch nie mit Arbeitergroschen bereichert, vielmehr uneigen-
nützig und unter Gefahr und Widerwärtigkeit die Sache des
Volkes vertreten. Dass bei dem allen viel Eitelkeit und
Ehrgeiz sich verbarg, vielleicht auch verfrühte Machtchimären,
die seinen sonst gesunden Sinn für Realitäten verblendeten,
mag sein. Aber bei bedeutenden Tatmenschen schwimmen
persönliche Ruhmsucht und idealer Schaffenszweck oft in-
einander über, und wer hier alle Unterschiede zwischen den
brutalen Ganz-Egoisten und den idealistischen Halb-Egoisten
verwischen möchte, erinnert an Larochefoucoulds Phrase:
die Tugend sei nur verfeinertes Laster. Möglich, aber wir
müssen eben diese Verfeinerung sorgsam von dem Wald-
und Wiesenlaster trennen. Darum halten wir als Kriterium
fest, dass derjenige noch Idealist genannt werden dürfe, der
ohne materiellen Eigennutz einer Sache dient Und dies
trifft für Lassalle um so mehr zu, als ihm, einem Liebling
der Berliner Salons und einer Hoffnung der Gelehrtenwelt,
jede universitäre, und wenn er sich taufen Hess, sogar eine
Staatskarriere offengestanden hätte. Er zog ein ungebundenes,
aber mühseliges und verfolgtes Wirken als Volkstribune vor.
Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne!
konnte er dabei nicht singen. Den dummen Revolverschuss,
der ihn im kräftigsten Mannesalter wegraffte, hat nicht jener
rumänische Abenteurer, die offizielle Gesellschaft hat ihn ab-
gefeuert Selbst in seiner Erotik offenbarte sich etwas
Ritterliches und Ideales, so sehr seine Zuchtlosigkeit abstösst
— 300 -
Wir Termögen ihm sein Yerhältnis zur Hatzfeld, die er sich
in jenem berühmten Prozess erbeutet hatte, nicht zu ver-
übeln und die dauernde Kameradschaft, nachdem die Leiden-
schaft erloschen, war im besten Stil. Der wahre Ethiker
wird nie zum kleinlichen Moralisten herabsinken und die
sinnlichen Leidenschaften eines genialen Menschen ver-
dammen wir erst dann, sobald das Allzumenschliche sein
Ideales anfrisst. Das war aber bei Lassalle nur in geringem
Masse der Fall und selbst seine Begierden adelte er als
Herzensempfindungen. Überhaupt hatte seine Rhetorik, so
kalt real seine forensische Beredsamkeit sich an Tatsäch-
liches hält, dichterischen Schwung, wie seine Tragödie
„Hütten" zeigt Er schwelgte in tönendem Freiheitpathos
und ahndete Julian Schmidts (Jude) öde Abfertigungen
Schillers und Platens (an sich nicht unberechtigt, aber ein-
seitig und lieblos vorgetragen) als Majestätsverbrechen.
Dass wir freilich dieses literarische Pamphlet für sonderlich
geistreich halten, können wir nicht sagen. >) Er bleibt eben
immer nicht Denker und Autor, sondern Mann der Tat und
Propagandist.
Wie Gambetta ein französisch Herz im Busen trug, der
Ministor Luzzatti als Italianissimo sich gebärdete, so brannte
auch Lassalle von patriotischem Feuer für die deutsche
Einheit, sofort bereit, mit Bismarck zu paktieren, den er
früher als Irgendeinanderer als Schicksalsmann erkannte.
Nein, wir sagen es aufrichtig : so drollig es manchmal klingt,
unsre Juden in Teutonismus schwelgen zu hören, als hätten
sie mit Hermann dem Cherusker Eicheln gefressen, es rührt
uns doch. Den Juden die Fähigkeit zum Patriotismus
abstreiten wollen, verdammen wir als grobe Ungerechtigkeit
und Fälschung. Die zweitausend Juden, die man 1885
') Oft reine Silbenstecherei und masslose Grobheit Doch dass jener
ekelhafte Ignorant nnd Klugschwätzer, ein Ahne solches heatigen Gezüchts
k la Schienther, Moritz Meyer, Erich Schmidt und Konsorten, durch die
Grenzboten-Clique zu einer Autorität aufgeblasen wurde, musste ja einem
echten Gelehrten, wie Lassalle, die Galle überlaufen machen. Vortrefflich
ist die Stelle, wo er für Schmulian Jüds Hass gegen Fichte eine Fichte-
8che Steile über das Zeitalter der „leeren Freiheit^' (Journalistik) zitiert:
„Pfui, Herr Schmidt, wer wird so rachsüchtig sein?^^
— 301 —
allein in Berlin als Mitkämpfer von 1870 zählte, haben ihre
Knochen gradesogut zu Markte getragen. Nur wenn es dem
Judentum irgendwo schlecht geht, verflogen ist dann das
Patriotentum. Das ist menschlich. Die Errichtung des deut-
schen Reiches unter Auspicien der Bleich röderschaft war
eine Neuerrichtung von Jerusalem, Lasker und Bamberger
führten das nationalliberale grosse Wort Heut wo der
jüdische Liberalismus als Partei zertrümmert, wo nicht jeder
Antisemit als „Schandfleck des Jahrhunderts^^ geächtet und
das Judenregiment nicht blindlings anerkannt wird, obschon
es noch immer tout Berlin ausmacht und einen Monopol-
druck auf die öflPentliche Meinung nach wie vor ausübt,
heut schwindet merklich die Teutonenliebe der Juden. Nur
nach England schielen sie heut wie nach ihrer festen Burg
und nur aus Profitfurcht, um nicht ihre Leser abzustossen,
bekannte die jüdische Presse nicht offen ihren Beifall für
den Transvaalraubzug. Kurz, sie lieben ihr Adoptivvaterland
absolut, wenn es ihnen den Willen tut. Wollen sie doch in
Allem die Leiter und Gründer sein, sowie man sogar be-
hauptet, ein Jude Rodrigo de Triana habe zuerst Land
bemerkt und ein Jude Luis de Torres es zuerst betreten . .
bei Golombos Entdeckungsfahrt Und so tritt denn in jedem
Augenblick, wo antisemitische Stimmung sich regt, die inter-
nationale Solidarität an die Oberfläche und lehrt, dass der
jüdische Patriotismus im letzten Grunde doch nur der eigenen
Rasse gehört Ein Jude, der den Glauben seiner Väter auf-
gibt, trennt sich darum keineswegs vom Judentum. „II est,
pour moi, une autre patrie^^ bekannte ein solcher. Auch
das humanitäre Treiben der Friedensliga, bei dem eine
eitle ütopistin wie die Suttner nur ein Werkzeug und die-
Judenschaft den Motor bildet soll den jüdischen Interessen
zu Gute kommen. Während Isaac Pereira noch gütigst den
heiligen Stuhl als Schiedsrichter einsetzen möchte, enthüllt
Salvador den innersten Gedanken: Jerusalem soll die Heilig»
Stadt werden, von welcher die Vereinigten Staaten von
Orient und Occident Friedensgesetze erhalten! Wohl be-
komms! Die katholische Kirche wird ihr Placet darauf
drücken, nachdem die Brüder Ratisbonne und Brüder Lemann
in apostolischem Eifer dem heiligen Liebermann, Gründer
— 302 ~
-der Kongregation der Missionäre des heiligen Geistes, vor-
arbeiteten und 80 ihren Rassegenossen canonisationsreif
machten. Die Literatur canonisiert nicht minder. Auf
Browning's Rabbi ben Esra folgt der Mordecai der Eliot,
Dumas Fils gibt seine Visitenkarte beim allmächtigen Zion
mit Daniel (,,La femme de Claude^') ab, Bourget mit der
edlen Jüdin Hafner in „Gosmopolis^\ Grillparzer macht seine
Verbeugung mit „Esther'" und der „Jüdin von Toledo", was
diesem Stück sofort die Meistaufführung nach seinem Tode
sichert Und so sieht eine Rasse, für die das Leben eine
Börsenafiare bedeutet und nur hier und da ein hektisch
krankhaftes Aufflammen für perverse Phantome von Sophisten
gestattet, sich idealisiert Denn Fin de Si^cle heisst all-
gemeine Verwirrung von Widersprüchen. Eine nichts-
nutzige, von Habsucht, Geiz und Geilheit verzehrte Ghetto-
jun«^fer Namens Rachel figurierte als Interpretin der Heroismen
Corneilles. Eine ihrer würdige Reklameschwester, die Grosse
Sarah (Bernhardt, aus Frankfurt) mimt chauvinistische Ge-
fühle und verschmäht Deutschlands Theater: „100000 Francs
genügen Mir nicht, Ich will Elsass und Lothringen." Doch
sobald sie merkt, dass der Chauvinismus daheim sich end-
lich abkühlt, und als Quittung für die Droyfussaffare geruht
sie Berlin doch noch zu beglücken, wo sie ja ihre Stammes-
^enossen als Claqeure findet und tout Berlin (Jerusalem)
sich ihrem Zepter beugt
So sehr die Juden heut Lassalle und Heine als National-
heilige ehren, so fielen sie doch zu sehr aus dem materia-
listischen Eudämonismus der Jndengesinnung heraus, um
nicht bei Lebzeiten lebhaften Anstoss zu erregen. Die reichste
Fundgrube für alle Antisemiten, die Heine als Schmutzian
brandmarken wollen, bieten die gehässigen Mitteilungen des
Juden Alexander Weill. Denn die schadenfrohe Bosheit,
deren Gift so oft aus ihrer Ghettoerziehung spritzt, kehrt
sich oft gegen sie selber. Wie die Frauen unter sich ihre
Verengelung durch die Feministen belächeln und sich gegen-
seitig mit immer regem Neid und Misstrauen belauern, so
die Juden unter sich. Irren wir nicht, verdankt man Herrn
Julius Levy aus Rodenberg die pikante Anekdote, wie
Lassalle mit der Dönniges aufs Brandenburger Tor herab-
— 303 —
blickt und prahlt, er werde mit ihr als Triumphator der Re-
volution hindurchfahren, während er zugleich auf einen
,,kleinen hässlichen Juden^ stichelt, der grad yorüberging.
Dieses war nämlich Herr Rodenberg selber, der natürlich eine
sittlich entrüstete Bemerkung daran knüpft.^) Würde nichts
beweisen, als Lassalles sattsam bekanntes Selbstgefühl und
seine persönliche Abneigung gegen seine Rasse. Wir wissen
aber ausserdem, dass er im persönlichen Umgang mit Leuten,
die er achtete — und seine Achtung erwarben nur seelische
Eigenschaften — nicht nur frei von jedem Hochmut, sondern
rührend bescheiden, verträglich und versöhnlich war, sich
sogar derbe Rügen gefallen liess. Wir lassen, persönlich gut
unterrichtet auch über Lassalles Charaktermängel, nichts auf
sein Andenken kommen, da wir nie kleinlich mit Moralin-
säure solche Orossnaturen bespritzen. Eine unverkennbare
Idealität trat in ihm deutlich zutage, wie er denn trotz
seiner jüdischen Sinnlichkeit den Umgang anständiger hoch-
gebildeter Frauen, wie es deren leider in seinem näheren
Zirkel nur eine gab, mit besonderer Verehrung suchte.
Wir haben davon Zeugnisse in Händen.
Dieser geistige Aristokrat stand freilich mit seiner
Hochkultur in sozialistischen Kreisen ganz allein.
Genie? Kunst? Lächerlich! „Es braucht mehr Genie,
um RhoneschiflPer zu sein, als um Hugos .Orientalen^ zu
schreiben!" geifert Proudhon. Und dies Geschwätz entsprach
nur dem allgemeinen antikünstlerischen Zuge der Zeit. Die
Griechen taugten nichts, sie waren bloss Genies. „Dies
glänzende Volk hat nichts begründet, nichts dauerndes er-
richtet, und es blieb an ihm nichts als Andenken von Ver-
brechen und Unheil, von Büchern und Statuen. Es fehlte
ihm immer an gesunder Vernunft ^^ So fällt Lamennais, aus
dem Friesterwahn in den Freigeistwahn hinüberspringend,
in die Kloaken des Rationalismus. Die Tollwut gegen jede
^) Berthold Auerbach fanden wir mal in Lachkrämpfen auf dem
Sofa: „Ach^ ich freu mich so! Denk' Dir, der infame Rodenbeig bat ein
Buch geschrieben und es ist so schlecht!'^ Dagegen erzählte uns Karl
y. Heigel, wie die Todfeinde Auerbach und Rodenberg sich als Juden über
seinen Kopf einigten, nachdem Heigel sich Auerbachs Schimpfen gegen
Rodenberg Terbai
— 304 —
religiöse VorstelluDg schäumt mit dem Mande: ,,Die Weiber
in Egypten prostituierten sich öffentlich den Krokodilen!^
rast Proudhon und bereichert so die Naturgeschichte kirch-
licher Kulte um ein neues Faktum. Die Krokodile sind
natürlich die Priester im Beichtstuhl, um sich den Bildungs-
zustand zu vergegenwärtigen, der aus allgemeiner Erhöhung
des geistigen Niveaus die Stunde des Sozialismus gekommen
wähnt, lese man den von Flaubert festgenagelten 1860
öffentlich gesprochenen Satz: „Die Stadt Cannes, doppelt
berühmt durch den Sieg Hannibals über die Römer und
durch die Landung Bonapartes/^ Man glaube ja nicht, dass
in Deutschland — anderswo unterscheidet er sich gar nicht
vom französischen — der Bildungsstand ein so viel höherer
sei. Noch im Jahr 1883 erlebten wir, dass ein grosses
deutsches Blatt „La Convention" mit „Die Convention" über-
setzte, ohne zu wissen, dass dies einfach „Der Convent"
heisst, also über einen der wichtigsten historischen Namen
im Nebel tappte. Aus dieser Atmosphäre der Halbbildung
und des seichtesten Positivismus erklärt sich der gemeinsame
flass der Rück- und Fortschrittler gegen jeden echten
Idealismus. „Byron, sehr gerecht von Familie und Vater-
land ausgestossen, würde einfach, wäre er ein Mensch von
gesundem Verstand gewesen, Busse getan haben, um das
Recht zurückzuerlangen, seine Tochter zu erziehen und
seinem Staate zu dienen." (Veuillot, ,Freidenker'.) Vor dem
obersten Gesetz, alles Strahlende kritisch zu schwärzen und
nörgelnd in den Staub zu ziehen, beugt sich auch der
heimlich vor sich selbst einer unkritischen Bewunderung
für irgendwen Verdächtige. „Wenn man Napoleon in Ver-
bindung mit Moralqualitäten beurteilt, ist es schwer ihn zu
würdigen, weil man schwerlich Oüte bei einem Soldaten,
Freundschaft bei einem Manne ohne Gleichen, Ehrlichkeit
bei einem Weltherrscher vermuten kann. Indessen, etwas
ausserhalb der gewöhnlichen Regeln wie dieser Sterbliche
war, ist nicht unmöglich, hier und da gewisse Züge seiner
moralischen Physiognomie zu erfassen." Wer redet so?
Napoleons glühender Bewunderer Thiers. —
Zur Entstehungsgeschichte des Sozialismus muss wieder-
um festgelegt werden, dass auch hier die beiden jüdischen
— 306 —
Propheten Lasalle und Marx, so viele Achtung und Neigung
wir ersterem entgegenbringen mögen, nur auf den Schultern
von Ariern standen und deren Anregung folgten. Ausser
Proudhon und Fourier war es hier besonders St Simon, von
dem Taine meint, er habe mit Shakespeare und Balzac zu-
sammen die meisten ,menschlichen Dokumente^ aufgehäuft
unter diesen Dokumenten fehlt nur eins: der grosse Mensch.
Alles bleibt auf Herdeninstinkte zugeschnitten. „Grosse
Menschen kann, ja darf es nicht mehr geben^^ gestand un-
verfroren J. W. Drapers materialistische Kulturgeschichte,
wie sie nur in einem Yankeehirn entstehen konnte. Schon
gegen Herders Humanistik hatte Gk)ethe die Befürchtung
geäussert, die Welt werde so ein grosses Hospital werden
„und Einer des Andern humaner Krankenwärter^^ Gewiss
ging Renan zu weit, wenn er, Nietzsche vorahnend, in seinen
philosophischen Dialogen versicherte: „Zweck der Menschheit
ist einzig Erzeugung grosser Menschen/^ Das sind im Grunde,
obschon bei Garlyle mit religösem Brimborium versehen,
genau solche Auswüchse eines atheistisch-mechanischen
Materialismus, wie die sozialistische Massenlyrannis. Der
demokratischen Menschen Vergötterung, die jedes Einzelnen
Becht auf Glück fordert, steht aristokratische Menschen-
verachtung gegenüber, die dem Durchschnittsmenschen über-
haupt kein Lebensrecht gönnen will.
Beim heutigen Geisteszustand der Massen wird aber
der Sozialismus sich noch unbedingt Flauberts Dictum ge-
fallen lassen müssen: „Das einzig Sichtige ist Regierung
von Mandarinen, vorausgesetzt, dass sie etwas können.^^
„Quant au bon peuple, Tinstruction, gratuite et obligatoire,
l'achövera. Quand tout le monde pourra lire le Petit Journal
et le Figaro, on ne lira pas autre chose. . La Presse est
une 6cole d'abrutissement, parce qu'elle dispense de penser.'^
So richtig drückte Flaubert (Brief an G. Sand) die unheil-
vollen Einflüsse des Bildungsnivellements aus, das die soge-
nannte Yolksbildung mit sich bringt ,The schoolmaster is
abroad^ dies Schlagwort der englischen Demokratie hat fast
nur die trostloseste Halbbildung begünstigt, wie es Bulwer
in ,Kenelm Chillingly^ nur zu treffend darlegt Die norwegischen
Bauemuniversitäten, wie wir an Ort und Stelle beobachteten,
Blei btren: Die Vertreter des Jahrhunderts. 20
— 306 —
liefern ähnliches Ergebnis. Doch freilich, wie Bieht denn
die Eulturgesellschaft aus, die der Sozialismus bedroht?
Man höre Flaubert über die Epoche vor 1870: ,,Tout etait
faux! Faux realisme, fausse arm6e, faux credit et meme
fausses catins. On les appelait ,marquises\ de meme que
les grandes dames se traitaient familiörement de ,cochon-
nettesS^^ Und logischerweise die Heuchelei als Frucht dieser
Falschheit. ,,0n demandait ä Tart d'etre moral, ä la Philo-
sophie d'etre claire, au vice d'etre d6cent, et ä la science
de se ranger ä la port6e du peuple^^ Hat sich seither
Wesentliches daran geändert? Das Eingeständnis Flaubert
über den „faux realisme^^ scheint beiläufig besonders be-
merkenswert. Ja wahrlich, ein falscher Realismus öder
Empirie, der nicht nur nichts Schöpferisches hat, sondern
jede schöpferische Fähigkeit untergräbt, scheint die Signatur
des letzten Jahrhundertviertels noch ärger denn zuvor.
Eine Zeitlangzog die Sozialdemokratie noch einen gewissen
Elan gross, eine tumultuarische Begeisterung vornehmlich
des Biidungsproletariats. Aber was mit unsicherem Idealismus
aufgesäugt, siechte bald an der stofflichen Ernährung mit
der blossen Magenfrage dahin. Der Sozialismus hat als
allgemeine Negierung des Bestehenden Gutes gefruchtet,
doch nur zu bald verblasste der ideale Flitter seiner Idole.
Eine hoffnungslose Skepsis griff bei Wissenden um sich,
etwa folgenden Sinnes: „Die Erfahrung lehrt, dass keine
Form an und für sich gut ist. Eonstitutionalismus, Republik,
Kaiserreich wollen gar nichts sagen, da die widersprechendsten
Ideen sich in jeden dieser Behälter einfüllen können. Alle
Fahnen sind so besudelt mit Blut und Koth, dass es Zeit
wird, überhaupt keine mehr zu haben. Nieder mit den
Worten! Keine Symbole mehr! Die grosse Moral dieser
Zeit wird sein, dass das allgemeine Stimmrecht gradeso
dumm ist, wie das göttliche Recht der Könige, obschon
etwas weniger hassenswürdig." Diese Zersetzung demo-
kratischer Idole in ihrem eigenen Schoosse erzeugte das
Verwesungssymptom Anarchismus. Wenn Dührings Ab-
handlung über „Transzendentale Befriedigung des Rache-
gefühls^' das Strafrecht einzig in den Wiedervergeltungstrieb
legt, so könnte der Anarchismus diese sehr zweischneidige
— 307 —
Auslegung recht gut für sein angemasstes Strafrecht in
Anspruch nehmen. Ja^ die Menschen werden immer finden,
dass ihr einziger ernster Lebenszweck sei: zu gemessen.
Aus dem vermeintlichen Anrecht darauf ging der Saint-
Simonismus hervor, dessen Hauptinspirator, Rodriguez, natür-
lich ein Jude war. Nicht ohne einen gewissen Gynismus
sprach Lassalle es aus: „der Rechts Standpunkt ist ein
schlechter Standpunkt im Leben der Völker.*^ Soll heissen:
was ist Recht? Macht. Ob der Sozialismus Recht hat, ist
eine Machtfrage.
Wie nun Lassalle diese Machtfrage förderte, überlassen
wir späterer Betrachtung an anderer Stelle. Hier scheint
hingegen der Ort, uns über die Frage selber auseinander-
zusetzen.
Jede Begründung des Sozial-Eudämonismus als einer
höchsten Gesellschaftsmoral verwickelt sich in Widersprüche,
sei's Benthams utilitaristische Rechtsphilosophie, sei's John
Stuart Mills berühmter Essay über das Nützlichkeitsprinzip.
Hier meldet der Commonsense nur seinen eigenen Bankerott
an, nachdem er sich durch alle möglichen Verwechslungen
allgemeiner Begriffe hindurchgewürgt und auf schiefen
Prämissen ein wackeliges Kaufhaus für eine besondere
Ware merkantiler englischer Baumwollenmoral errichtet
Indem Mill alles Heil in Belehrung durch Erziehung
setzt, erregt er das Lächeln jedes Psychologen wie jedes
Earma-Theosophen , da die unveränderliche Naturanlage
jeder Erziehung spottet, um diesen Unsinn möglich zu
machen, muss er die Fiktion einer spezifischen allgemeinen
Seelenfunktion, der „Sympathie^^, dem „Interesse^^ entgegen-
stellen d. h. wieder auf das Gefühl zurückgreifen. Wo
aber dies Gefühl nicht ohnehin mächtig vorhanden, wird
man vergeblich die buddhistische Einheit des Individuums
mit seinen Mitgeschöpfen als Religion lehren, wie Mill vor-
schlägt und hiermit direkt ins Metaphysische flüchtet Sehr
natürlich! Denn der Utilitarismus ist ein so naher Ver-
wandter des Egoismus, dass diese Siamesischen Zwillinge
nur eine Operation auf Tod und Leben von einander trennen
könnte, welche Operation eben nur das antiutilitarische
Ethische vollbringen kann. Der Sozialismus täuscht sich
20»
— 308 —
also gänzlich über die Beschaffenheit s^einer Moral-
befagnisse.
Stützt er sich utilitarisch auf „wohlverstandenen^^ Egois-
mus, dann bleibt seine Moral nur so lange wirksam, als seine
Anhänger wirklich für ihren Egoismus darin eine Olück-
seligkeitsbürgschaft finden, was bei dem moralischen und in-
tellektuellen Niveau dieses siegreichen Proletariats schweriich'
erwartet werden kann, da der soziale Staat keine gebratenen'
Tauben liefert. Um vorher den Egoismus der Besitzenden
zu überwinden, gibt utilitarische Moral schlechterdings nur
das Mittel der Gewalt in die Hand, da das „Interesse^^ des
Philisters sich nie und nimmer aus .,S7mpathie" zur Selbst-
entäusserung entschliessen wird. Nach erfolgter Expro-
priation würden die ^Jnteressen^^ der Sozialisten unterein-
ander wohl auch schwerlich jene „Sympathie^^ bewahren, die
sie in gemeinsamem Kampf gegen die Besitzenden vorher
zu empfinden wähnten.
Stützt sich hingegen der Sozialismus auf die „Einheit'^
des Altruismus, dann hört jeder Utilitarismus auf und wir
kommen wieder zur religiösen (christlich-^buddhistischen) Qe-
fühlsmoral. Wenn ein anderer Engländer, WoUastone, der
sich an Kant überlesen hatte, das Ethische ins Erkennen«
der „Wahrheit^^ setzen wollte, so hat auch dies viel
Komisches, da die Wahrheit etwas Wechselndes und Ab-
straktes, das eigentlich Ethische etwas unfehlbar Bleibendes
und tagtäglich Lebendiges vorstellt Die Wahrheit, z. B. „Du
sollst nicht stehlen^^, legt der Sozialist aus: „Eigentum ist
Diebstahl' und es bleibt wieder lediglich Gefühlssache,
welche von beiden Lesarten man als wahr annehmen
soll. Einen gerechten Ausgleich zwischen beiden zu er-
zielen wird immer nur dem Gefühl überlassen bleiben, da
selbst eine plausible Vernunft- Modifizierung wie: „Er-
arbeitetes Eigentum ist niemals Diebstahl' sich logisch
nicht aufrechthalten lässt und vom Standpunkt des ab-
strakten Sozialismus auch das Mass meiner Arbeit mir
kein Anrecht auf Eigentum gibt Da ich aber nun selber
ein Eigentum vorstelle — ,)Der Einzige und sein Eigentum^^
(Stimer) — , wird man mir logisch auch das Besitzrecht
m^ner physischen und psychischen Kräfte absprechen,.
— 309 —
«ofem sie das Durchschnittsmass überwiegen? Die absolate
Ungleichheit der Menschen hat daher die Eigentamsfrage
bereits bejaht und kann es sich im sozialen Staat genaa
wie vorher nor danun handeln, ob die natürliche Aristo-
kratie der Menschheit, die alleinige Trägerin des Fortsohritts,
altruistisch für die Anderen arbeitet Dies tat sie aber mi-
be wusst schon immer. Ein König Asoka vermag mehr für
<iie Wohlfahrt der Menschen, als jede soziale Gleichheits-
republik.
Hören wir nun mal Lassalle schwadronieren („Arbeitei^
Lesebuch^^ 1863): „So lange ihr nur ein Stück schlechte
Wurst habt und ein Glas Bier, merkt ihr gar nichts und
wisst nicht, dass euch etwas fehlt Das kommt aber von
«urer verdammten Bedürfnislosigkeit! Wie, ist denn Be-
dürfnislosigkeit nicht Tugend? Ja, vor dem christlichen
Moralprediger! Bedürfnislosigkeit ist die Tugend des In-
dischen Säulenheiligen und christlichen Mönchs, aber vor
Geschichtsforscher und Nationalökonomen da gilt eine
andere Tugend. Fragen Sie alle Nationalökonomen: Welches
ist das grösste Unglück für ein Volk? Wenn es keine Be-
dürfnisse hat Denn diese sind der Stachel seiner Ent-
wicklung und Kultur. Darum ist der Lazzaroni so weit
zurück in der Kultur, weil er zufrieden sich ausstreckt und
in der Sonne sich wärmt, wenn er seine handvoU Maccaroni
erworben. Warum ist der russische Kosak so weit zurück
in der Kultur? Weil er Talglichte frisst und froh ist, wenn
«r sich in schiechtem Fusel berauscht. Möglichst viel Be-
dürfnisse haben, aber sie auf ehrliche und anständige Weise
befriedigen, das ist die Tugend der heutigen, der national-
<)konomischen Zeit! Und so lange Ihr das nicht begreift
und befolgt, predige ich ganz vergeblich.^'
Ist es möglich, mehr verderblichen Walm in wenige
Sätze zusammenzupressen? Lassalle fehlte es gewiss nicht
an philosophischer Bildung. Als Hegelianer übte er seinen
Scharfsinn, sein Buch über Herakleitos den Dunkeln machte
nicht unverdientes Aufsehen. Und dieser Mann predigt,
offenbar in gutem Glauben, dass die Glückseligkeit mit der
Kultur sich steigere und dass man zu diesem Behuf die
Bedürfnisse steigern müsse! Blieb ihm, dem Kenner
~ 310 —
griechischer Philosophie, so unbekannt, dass die so logische
und naheliegende Erkenntnis des Oegenteils die Gyniker
zur möglichsten Herabschraubung aller Bedürfnisse auf ein
Minimum bewog? Da Kultur und Bedürfnisse notwendig
die ünbefriedigung steigern, so müsste Sozial-Eudämonismus
richtiger das anarchistische Ideal aufteilen: Zertrümmerung
der Kultur, damit der Mensch sich wieder in barbarischen
einfachen Primiti^zuständen wohlfühle. Da aber die sozia-
listischen Denker und Führer selber einen Kultus der
Wissenschaft und Kultur pflegen, so träumen sie sich in
der letzten Konsequenz ihrer Utopien einen Zustand, wo
der Mensch alle materiellen Segnungen der Kultur ohne
ihre Schäden geniesst Das ist aber ein Widersinn, da die
Kultur nichts abgeschlossenes jemals sein kann, die ..ver-
dammte Bedürfnisslosigkeit^^ also niemals in ihrem Bereiche
eintritt und mit neuem Streben und neuen Bedürfnissen
neue Ünbefriedigung sich einstellt, ausserdem aber der
Kulturmensch schon an und für sich wegen seiner gesteigerten
Nervenempfindlichkeit seine Leiden verschärft fühlt. Das
wahre Ideal wäre also eine hohe materielle technische
Kultur mit lauter naivrohen Primitivmenschen. Da dies
natürlich ein Unding und jede Art von Kultur den viehisch
glückseligen Stumpfsinn ausschliesst, so beruht die Idee des
sozialen Staates auf unlöslichen Gegensätzen. Entweder
muss er auf die Kultur verzichten und die ganze bisherige
Arbeit der Menschheit kassieren, weshalb der Anarchismus
so viel logischer als der Sozialismus. Oder er muss sich
im Gegenteil als bester Träger der Kultur fühlen, dann
aber theoretisch ganz darauf verzichten, eine bessere Be-
friedigung der Glücksansprüche zu schaffen.
Wir mögen nicht lang und breit erörtern, weshalb 1) die
Vernichtung einer besitzenden Minderheit die Möglichkeit
geistiger Arbeit zerstören oder mindestens äusserst erschweren
würde, 2) das allgemeine materielle Niveau durch gleich-
massige Aufteiler von Gütern und Produktionsmitteln sogar
anfangs nicht wesentlich sich bessern, 3) im Laufe der Zeit
von Stufe zu Stufe sinken müsste. Ausserdem würde mit
dem geistigen auch das ethische Niveau sich ungünstig
verschieben und die zur Überwachung sozialer Ordnung
— 311 —
nötige Beamtenschaft sich wie in jeder Ochlokratie aas den
Schlechtesten, Schreiern und Strebern, zusammensetzen, so
dass neue Wirren unvermeidlich würden und der Anarchismus
stets im Hintergrund lauern würde. Hat sich femer die
sozialdemokratische Führerschaft in ihrer blinden Anhäng-
lichkeit an den radikalen linken Flügel des sozialdemokra-
tischen Materialismus wohl je yergegenwärtigt, wie das Ton
ihr religiös verehrte Dogma der Erblichkeit und Milieuauslese
notwendig die Überlebenden und Nachkommen der privi-
legierten Klassen zu einer steten sozialen (aristokratischen)
Gefahr machen würde? Nur ihre radikale Ausmerzung schützt
davor. Durch derlei Blutbäder werden aber die bestialen
Instinkte des Pöbels geweckt und genährt, wie denn bei-
läufig auch die Erblichkeit des Alkoholismus und des Ver-
brechertums in den unteren Schichten — immer voraus-
gesetzt, dass man an dies darwinische Dogma glaubt wie
alle Sozialdemokraten — zu schweren Störungen und IJnzu-
träglichkeiten führen müsste, da höchstens in der vierten
Generation eine Umgestaltung böser Erblichkeit durch das
Milieu — dies andre Dogma des Sozialismus — erhofit
werden könnte. Bei obenerwähnten bestialen Instinkten
der sozialen Revolution wäre aber Einrichtung sozialer
Ordnung durchaus unmöglich, da diese von vornherein ein
massvolles vernünftiges Verhalten aller Glieder bedingt
Man könnte noch einwerfen, dass doch auch die Fran-
zösische Revolution nicht nur allen Vornehmen und Reichen,
sondern zuletzt auch allen Höhergebildeten den Tod schwor
und doch angeblich viele geistigen Kräfte aus dem Volke
erzeugte. Letzteres ist aber eine Fabel, einzig ein paar
kriegerische Koryphäen entsprossten dem Proletariat und
auch sie bewahrten moralisch (Augereau u. a.) und geistig
(Ney u. a.) alle Sünden der ungebildeten Ochlokratie. Alle
sonstigen Talente der Revolution und des Kaiserreichs ge-
hörten den gebildeten Ständen an, und wenn sich mal
gelegentlich ein rülpsender Plebejer zu dem drakonischen
Lakonismus verstieg: „Die Republik bedarf keiner Gelehrten^,
so fand er sofort seine Korrektur durch die herrschenden
Demagogen, welche alle (so auch in Cromwells Revolution)
Bildung und Kultur als „republikanisch^' ausschrieen, ganz
— 312 —
im Sinne der heutigen Soziaidemagogen. Die heut gang und
gäbe Phrase, dass die grosse BevoUition bloss von der
„Bourgeoisie"' gemacht sei, womit die Sozialdemokratie selber
offenbar den historischen Folgerungen für die Zukunft einen
Riegel vorschieben möchte, hat daher höchstens den Sinn,
dass sie von den Gebildeten gemacht wurde. Weil aber
eben das Yolk, und zwar mit sehr kommunistischen Ten-
denzen, die Revolution möglichst sozialdemokratisch ge-
staltete, so bedurfte es des grössten Genies, also des grössten
Vertreters der natürlichen Ungleichheit, um im Empire die
notwendige Herrschaft der Gebildeten wieder in Ordnung
zu bringen.
Die einzige richtige Logik des Freiheitsbegriffs ist die
Anarchie und in gewissem Sinne die Reaktion, nämlich das
Auflösen in den Naturzustand, wie ihn John Lubbok in einer
hübschen Schrift real geschildert und Rousseau phantastisch
geträumt hat Will und kann man das nicht, weil diese
faktische Unmöglichkeit auch mit dem Eulturwollen der
Sozialisten zusammenstösst, so lasse man die Chimäre fallen,
dass grössere materielle oder gar ideelle Wohlfahrt vom
sozialen Staate zu erhoffen sei, da vielmehr in weiterer Fort-
dauer eines sozialistischen Terrorismus zur Organisierung der
Arbeit nicht nur wenig Glück, sondern auch materieller und
ideeller Nachteil der Gesamtheit und nur für das äusserste
Elend des Proletariats eine entschiedene Besserung erwartet
werden kann. Es sei denn, die heilige Naturwissenschaft,
dieser neue Aberglaube, gewähre Wunder neuer Produktions-
und Ernährungsmittel, worauf die Sozialdemagogie bekannt-
lich bei ihrem Normalideal der Acht- oder Sechsstnnden-
arbeit ausdrücklich verweist. Für ihre Ideale braucht sie
also Wunder, u. a. die Kleinigkeit einer hochgesteigerten
Idealität der sittlichen Auffassung in den breitesten Massen.
Das ewige Berufen auf ,,unsre nationalökonomische Zeit^
und die strenge Wissenschaft ist also ein leeres Geflunker,
wie denn die Grundtheorie von Marx' ,.Eapital^^ längst von
der Zeit zersetzt und aus den eigenen Reihen der Partei
angefochten wurde. Denn die Nationalökonomie will von
der kollektivistischen Arbeit nichts wissen und die aristo«
kratische Wissenschaft bekreuzigt sich heimlich vor der
— 313 —
sozialen Kivellierung. Wenn also Gelehrte und andere Mit-
. glieder der gebildeten Stände sich zum Sozialismus bekennen,
so geschieht dies keineswegs aus Überzeugung ihres Ver-
standes, sondern ihm zum Trotz, vielmehr aus hoher, autonomer
Sittlichkeit, dem Gefühl mitleidiger Gerechtigkeit, des wahren,
sich opfern wollenden Altruismus, während die altruistische
Begeisterung der umgekehrt Opfer verlangenden und etwas
Materielles erlangen wollenden Massen eine bewusste oder
unbewusste Lüge bedeutet.
Lösung der sozialen Frage und Versöhnung des eisernen
Lohngesetzes, mit dem sich Lassalle und Marx dialektisch
herumschlugen, wird also nicht von Kultur und Wissen-
schaft, Vernunft und Logik, die sich sämtlich skeptisch dazu
verhalten, sondern einzig und allein von der Ethik ge-
fordert Wir bitten dies für das Kapitel Nietzsche vorzu-
notieren. Da aber das ethische Pathos in all seinen
Formen den einzigen fruchtbaren Kulturträger be-
deutet, so wird seine unüberwindliche Macht auch
dem Sozialismus zum Siege verhelfen, nicht durch
egoistischen Sozialeudämonismus der Demagogen
und Massen, sondern selbstverleugnenden Idealis-
mus einiger Mächtigen, Besitzenden, Gebildeten.
Wenn aber allein das Gefühl den Sozialismus gewähr-
leistet, wird man wohl fragen dürfen, ob denn Buddhismus
und Urchristentum nicht dies schon genügend ver-
mittelten? Zwar hat sich heut das religiöse Gefühl aus
den absterbenden und ihren Marasmus nur durch Heuchelei
und Borniertheit fristenden Kirchen bei allen sittlich Ge-
bildeten in die Sozialethik geflüchtet und man glaubt
hierbei des Metaphysischen entraten zu können. Aber
dieser naive Trugschluss erklärt sich leicht aus der
philosophischen Halbbildung der mechanistischen Welt-
anschauung unsrer Moderne, welcher der einfache Syllogis-
mus abhanden kam: Sozialismus, der sonst nur in den
kleinsten und simpelsten Anfängen der Urzeit vorkommt,
ist in sich selber ein Erzeugnis der Kultur, Kultur
andrerseits im weitesten Sinne ein Erzeugnis des
Ethischen im Menschen, dies Ethische aber ein Aus-
fluss des Unbewussten, d. h. Metaphysischen.
— 314 —
Dass Physisches und Metaphysisches in sich un-
trennbar seien, ist eben das tiefste Geheimnis der okkul-
tistischen Forschung. Wir halten daher mit der Prophezeiung
nicht zurück, dass die heut noch so verachtete Theosophie mit
all ihren Abzweigungen berufen sei, sowohl die soziale Revolu-
tion zu leiten, als dem sozialen Staat in der grauenhaften
Leere, welche er nach OfFenbarwerden der Unvollkommen-
heit seiner irdischen Utopien allseitig verbreiten wird, erst
sozusagen eine Seele einzuhauchen. Der römischen Theo-
kratie, die allein auf den Trümmern der alten Gesellschafts-
ordnung übrig bleibt, wie leicht vorauszusehen, wird all-
mählich eine wahre Theokratie der Besten, die neue Welt-
religion der esoterischen Theosophie, die Herrschaft ent-
winden. Dass der Raubtierinstinkt des Staates und der
Kirche den verborgenen Feind und kommenden Sieger ebenso
ahnt, wie die materialistische Sozialdemagogie, zeigt der ge-
meinsame Argwohn und Hass, mit welchem Staatsorgane —
wir sehen es an der Verurteilung harmloser Spiritisten, harm-
los, ob sie nun Schwindler oder Getäuschte oder halbe
Wahrheitsspender seien — , päbstliches Obskurantentum
und sozialistische Presse alle Oßenbarungen „aus dem
Reiche des Blödsinns^^ verhöhnen und verfolgen. Erst
kommt der Hohn, dann der Hass, dann die Angst, dann
die Niederlage.
Allerdings handeln Staat, Kirche, Sozialdemokratie —
diese scheinbar widerstrebenden, doch alle gleichmässig auf
Schein und Illusion aufgebauten Elemente — eigentlich un-
logisch. Denn der Staat sollte für sein Ideal (einer mög-
lichsten Daseins verekelung zu Gunsten des Genusses einer
verschwindenden Minorität) unsre theosophische Einsicht in
die Nichtigkeit der Sansara möglichst verbreitet wünschen,
um die Notwehr gegen seine Vergewaltigung zu lähmen.
Die Kirche mit ihrem Hass gegen Aufklärung und Wissen-
schaft sollte die Theosophie im Kampf gegen die religions-
vemichtende Moderne als Bundesgenossen begrüssen. Die
Sozialdemokratie hingegen müsste für die Glückseligkeit der
grössten Masse notwendig die Verbreitung aller glück-
bringenden Illusionen fördern, also von ihrem Standpunkt
aus die Verdummung und den „Jenseitswahn^\ ohne den
— 315 —
nun einmal eine Befriedigung der Menschen, insbesondere
der Frauen, undenkbar scheint Allein, die Mächte de»
Scheins handeln logisch genug aus ihrem Unbewussten her-
aus, da sie ahnungsvoll wittern, dass ihre Zwecke und
Illusionen ganz und gar nicht von diesem unwillkommenen^
Helfer gefördert werden!
-s^D^
Der messianische Hiob: Heinricli Heine.
„Die grosse soziale Suppenfrage'' wollte schon vor
Lassalle ein Grösserer als er poetisch anblasen, womit dieser
Grosse, namens Heinrich Heine, sich in der Vorrede
seines Jugendversuches „Radcliff'^ brüstet Doch er hätte
sich nur die Finger dabei verbrannt, da er nicht jene dicken
Fausthandschuhe trug, die zum Anpacken solcher Dinge ge-
hören. Deshalb kochte er lieber selber Süpplein aus bitteren
£j:äutern für Germanias kranken Magen oder verlegte sich
aufs Schätzegraben und romantische Alchymie. Dachte aus
manch ungeläuterten Metallen, die ein sich wieder-
entdeckendes und auf sein altes Ich besinnendes neues Deutsch-
tum aus tiefem Schacht zu Tage förderte, Gold zu machen.
Indem er sich aber also vergrub und grub und schmolz,
schaufelte er der Romantik selber ein Grab. —
Wir kennen keine blosse Weltgeschichte für die Deut-
schen, keinen Herrgott von Dennewitz. Deutsches bean-
sprucht daher in dieser Analyse des Jahrhunderts nur den
ihm gebührenden Raum, nicht mehr und nicht minder. Wir
ersparen uns also Einzelausschnitte deutscher Literatur-
geschichte, die wir bei gebildeten Deutschen als bekannt
voraussetzen. Einzelne Schriftsteller berühren wir nur, wo
sie europäischen Einfluss gewannen, wie dies den fran-
zösischen beim beherrschenden Ansehen ihrer Sprache und
Literatur zufiel, oder wenn sie das Interesse ausgeprägter
Gharakterköpfe besitzen, wie es gleichfalls den vielen von
uns kurz skizzierten französischen zukommt und ein paar
englischen Romanciers. In der deutschen Literatur des
Kleinen Jahrhunderts hat nur Einer weltweite Popularität
— 317 —
gewonnen. Es ist seltsamerweise, was sonst fast niemala
zutrifft, auch der Einzige, der sein Jahrliundert überleben
wird. Ausser diesem Heine sehen wir nur noch eine gross-
geschnittene Gestalt, doch yon viel geringerem Wüchse and
minderer Eigenart: Lenan. Natürlich werden die Hebbe-
lianer darob ein grausses Geschrei erheben, diese ger-
manischen Schmule wie Bartels, die alle Unarten jüdischer
Oberflächlichkeit und Coteriegehässigkeit scheinheilig deutsch-
tümelnd gegen die Yerjudung ausspielen. Nun, es sollte
sie stutzig machen, diese Teutschesten der Teutschen, dass
als Hebbels fanatischer Apostel bei Lebzeiten ein Jude Kuh
fungierte und heut Hebbels tollster Aufblaser im Juden
Maximilian Harden steckt Weshalb wohl diese jüdische
Sympathie für den Dichter der „Judith""? Nicht als ob der
finstre Holsteiner nicht im Germanischen wurzelte, er tut es
nur zu sehr, doch nicht im Südgermanischen der Deutschen,
sondern im Nord germanischen der ethnographisch ihm
näherliegenden Skandinaven. Sein grüblerisches Ein-
siedeln, das wie ein nordischer Saga -Gnom mit
dem Grubenlicht flackernder Dialektik in unterirdischen
Höhlen schürft, das Spitzzerfaserte seiner psychologischen
Problematik mahnt an Ibsen und Strindberg. Seine Tage-
bücher lesen sich „hochmodern^\ ein Selbstlob im Munde
der Moderne, das uns Übeln Beigeschmack hat Hebbels
jüngstes Modewerden gehört daher zur Logik der Zeit-
psychologie. Yon Wirklichkeitssinn keine Spur, seine „Maria
Magdalena^^ ein Urtyp all jener pseudorealistischen pseudo-
modemen Sittenbilder, die künstlich mit dem Verstand zu-
rechtkonstruiert Er hat eine Phantarie, die unterm Eise
brütet — dies Heysesche Epigramm trifft noch immer nicht
das Rechte, denn was hier brütet, ist gerade nur der Ver-
stand, der nichts Lebendiges schaffen kann, sondern nur
Abstraktionen. Was real- oder naturalistisch sein soll, ist
bloss erkünstelt brutal und das Brutale obendrein phrasen-
haft Man braucht nur seine zerfahrenen ,Nibelungen\ worin
nur eine Szene: Brunhild daheim in Island eine düstre
lyrische Pracht ausatmet, mit dem Nibelungenlied zu ver-
gleichen, um den Unterschied echter Gtoniekraft von krampf-
hafter Geschwollenheit zu erkennen. Der Adler, der in
— 318 —
unserer Nationalbibel deutscher Mannheit über dem Blüten-
wald Tristans und Isoldes und dem Maienhag der Yogel-
weide emporrauscbt, bat den „modernen^^ Theaterästheten
nicht auf seine Schwingen emporgenommen. Wie Siegfried
im Brunhildenzweikampf seinen Speer über fernste Grenzen
hinauswarf und König Günther im Sprunge mit sich trug,
so kann es vom grossen unbekannten heissen: „Von seinen
schönen Künsten empfing er Kraft genug, dass er in dem
Sprunge das ganze Deutschtum mit sich trug/^ Und mit
geschlossenem Visier, seinen irdischen Namen vornehm ver-
hehlend, steht der riesige Rittersänger in voller Rüstung da,
aus einem Guss. Und nun vergleiche man den Modernen
,Titanen\ wie er mühselig schwitzend mit theatralischen
Gesten an Siegfried und Hagen und Krimhild herumbosselt,
bis sie nicht nur kleiner, sondern auch unwirklicher werden.
Sein Dietrich von Bern veranschaulicht seine Grösse, indem
er einen Eichbaum ausreisst und einem Hunnen auf den
Rücken legt: der richtige Hebbel, der auch immer Eichen
zu entwurzeln glaubt, wenn er irgendein .psychologes^ Un-
kraut hoch in die Lüfte hebt. Sein Holofernes, dieser liebe
gute Übermensch mit der hohlen Kraftmeierei seiner dekla-
matorischen Bramarbasohnmacht, scheint eine JSTietzsche-
parodie vor Nietzsche. Da wir aber dies Prachtexemplar
selber haben, kümmert uns Hebbel nur als Symptom der
Jahrhundertkrankheit
Aus Grillparzers erotischen Sentiments klingt heimlich
der Kleistsche Angstschrei: „Verwirre das Gefühl mir nicht!'*
In schwerer Gefühlsverworrenheit zwischen Klassizität,
Romantik und Jungdeutschem, das er reaktionär verabscheut,
wird seinem österreichischen Faust im Gapua der Geister
der Traum ein Leben, wird ihm der Weisheit letzter Schluss:
„Die Grösse ist gefährlich, der Ruhm ein eitles Spiel.*' Des
Herzens stillen Frieden und die schuldbefreite Brust scheint
er freilich auf diesem stillvergnügten Bummel kaum ge-
wonnen zu haben. Er war halt a Weaner, voll natürlichem
Geschmack am Schönen und Äusserlichen der Kunst, sinnlich
gutmütig und a bissei Raunzer. In seinem Lager war
Osterreich, gut kaiserlich allzeit Als er Napoleon in Ottokars
Glück und Ende verkörpern wollte, ward daraus der böse
— 319 —
Mann philiströser Wahnvorstellung. du mein Osterreich!
Den hohen künstlerischen Qualitäten wollen wir nicht zu
nahe treten, die ihm unter Vertretern des klassischen abge-
storbenen Jambendramas den obersten Bang zuweisen. Aber
schon hiermit ist gesagt, dass sein Bestes nicht dem 19.
sondern dem Weimarer 18. Jahrhundert gehört Dem Zeit-
psychologen bietet diese glatte Physiognomie so gut wie
nichts.
Unendlich höher steht der Mann, den Hebbels Grössen-
wahn der ,Ohnmacht^ bezichtigte und den heut noch Salon-
kathederprofessoren und jene grünen Jungen, die in ihren
Hörsälen den Doktortitel ihrer Halbbildung erwarben, den
,törichten Orabbe^ schimpfen. Über seine selbstverwüstete
Hannibalsleiche spreiten Prusiasse den Teppich ihrer Mittel-
mässigkeitsästhetik. Doch mit Hebbels Holofernesohnmacht
hat seine Muse nichts gemein, die sich, obschon öfters nach
Fusel riechend und delirierend, als germanische Velleda und
Seherin der Geschichte reckenhaft erhebt. Zu oft haben
wir anderswo Grabbes eherne Epigrammatik, seinen dröhnen-
den Marschtritt des Yölkerschicksals gewertet, auch liegen
seine Gebresten leider dem Blick zu offen, als dass wir hier
länger dabei verweilen sollten. Wie er auf dem Sterbelager
mit letztem Odem die Marseillaise sang, so hätte dieser zer-
fallene, verstümmelte Heroengeist ins Zeitalter der Grossen
Bevolution hineingepasst, denn auch seine Zerrissenheit und
Unfertigkeit verschuldet die kleinliche Zeit. Anders aber,
als unsre törichten Salonprofessoren, dachte über ihn der
Glückliche, dem es beschieden war, Leichtigkeit und Anmut,
wie sie Götterlieblinge umatmet, mit wilder Kraft und
Leidenschaft zu vereinen: mit hoher Achtung gedachte
Heine seines unseligen Zeitgenossen.
Eklektiker Platen, dessen politisches Zeitlied „Der Bubel
reist, der Bubel fällt, was ist der Mensch? ein Schuft^^ allein
noch Erinnerung verdient, zeugete Eklektiker Geibel den
frummen. Weiter haben uns beide ,Eünstler^ nichts zu sagen.
Nicht viel auch Uhland, Eichen dorff, Möricke, deren
echter poetischer Stimmangsgehalt, Feingefühl für Beinheit
des Yersstils, Beinheit sittlichen Empfindens mit fiktivem
Mittelalter oder fiktivem Volksliedton in eine bessere Yor-
— 320 —
zeit oder Traumzeit hintiberdaselten. ,^Aus der Yerwirrimg
dieser Zeit hab ich zu Gott mich hingesehneV^ heisst es in
ühlands einzigem Oedankengedioht. Doch seine verlorene
Kirche ist selber nur Fiktion. Nur wer die Wirklichkeit
der Ewigkeit in Zukunft wie Vergangenheit heraushört, der
habe ,,des Geläutes acht, das aus dem Grunde dumpf ertönet^.
Diese Zukunft aus der Feme rauschen zu hören als Prophet,
wünschte ein einsamer Wanderer am Niagarafall: er hiess
Lenau. Seiten ward die Gabe des Verses einem Sterblichen
so voll zuteil, man muss sich schon bei Byron und Musset
umsehen, um gleich Starkes oder Stärkeres in meisterlichem
Bau und Schwung sonor dahinroUender Sprachrythmen zu
finden. Allein, der reine lyrische Schmalz gebrach ihm, oder
wo er sich ihm näherte, versank er in weinerliche Schwärmerei
pathologischer Seelenzustände. Weinend muss sein Blick sich
senken, durchs Leben begleitet ihn sinnende Melancholie, und
nur dort rafft er sich auf, wo er in eigentümlicher Lyro-Epik
ins Grosse geht. „Alpen, Alpen, unvergesslich seid meinem
Herzen ihr in allen Tagen, bergend vor der Welt ein herbes
Leid, hab' ich es zu euch emporgetragen", hebt seine tief-
innigste Elegie an und so suchte er sein krankes Gemüt zu
Höhen von Geschichte und Denkertum zu erheben. Die
Alpen hiessen ihm Albigenser, Savonarola, Faust und Don
Juan. Von diesen epischen Cyklen blieb der epischeste
„Savonarola^* am schwächsten, obschon voll herrlicher Einzel-
heiten. Im „Faust" gibt es wahrhaft grossartige Vers-
bewältigung tiefster ürprobleme, doch es bleibt bei reflektiver
Didaktik. Das Fragment „Don Juan" enthält unvergleich-
liche Natursymbolik, die „Albigenser^^ aber wirken am ge-
schlossensten und reinsten, indem hier noch eine gewisse
Wirklichkeitsfrische das Allegorische anhaucht (Beiläufig
hat der glänzende „Ziska" von Meissner die gesamte innere
Form von hier entnommen, sich auch von Lenaus prächtigen
Ziskaliedern anregen lassen.) Die sonst etwas starre Fathetik
Lenaus belebt sich hier glutrot wie von innerem Brand in
revolutionärer Begeisterung für Befreiung der Menschheit:
„Wie die Faust einst Brand und Eisenruten wird der Geist
sein Schwert, sein Feuer brauchen, bis die Herzen der Des-
poten bluten und in Flammen ihre Burgen rauchen." Die
— 321 —
schlau klügelnde Sozialdemokratie mit ihrer Phrase von der
friedlichen Evolution, auf deren gebratene Tauben sie nun
schon seit fünfzig Jahre wartet und die allerdings nicht mal
einen Herwegh erzeugen kann, wird schwerlich einverstanden
sein : „Waffen braucht die Welt, kein Liebeslächeln kann das
Elend ihi* von dannen fächeln, wärs ein Lächeln auch wie
das vordem auf dem Kreuze zu Jerusalem/^
Dies Herz, das für der Menschheit Erlösung schlug, dies
Hirn, das von eigenem Überschwange brodelnd überkochte,
brach und riss in tiefer Nacht Aber erhaben dröhnt die
Geisterstimme zu uns her, ihr heiligstes Weh verkündend:
„Tiefer schmerzt als das Geroll Zeit und Tod zu meinen
Füssen, dass ich nicht erblicken soll, wie sich Welt und
Freiheit grüssen. Doch mein Geist, der bald den Riss
enden wird durch diese Hülle, lebt in andern einst gewiss
seine Freiheit, Macht und Fülle/' . . .
.,Als mich die düstre Stunde gebar und nur der Gram
mein Vater war,'* sang im fernen Kaukasus der junge Ler-
montow. „Seul le silence est grand, tout le reste est fai-
blesse,^* sang Alfred de Vigny. Damit wäre aber den Poeten
wenig gedient gewesen, die nicht in ihrer Qual verstummen
wollten, sondern lieber untersuchen, ob ihnen Gott die Gabe
gab, zu sagen, was sie litten. Sie dachten eher: Nur das
Singen ist gross, alles übrige Schwäche, und machten aus
ihren grossen Schmerzen die kleinen Lieder. Wie Chateau-
briand den Gewittersturm im Urwald beschreibt: „Le ciel
s' ouvre coup k coup et ä travers ces crevasses on aper9oit
de nouveaux cieux et des campagnes ardentes,^^ so glaubten
sie unterm donnernden Sturm der Leidenschaft neue Himmel
sieh öffnen zu sehen, brennende neue Welten, blitzbeleuchtet.
Ein graues Perlenlicht des Mondes tropfte auf
diese aufgewühlten Herzen nieder, die mit Ghateaubriands
Priester seufzten: „Ich welke wie eine Blume, ich verdorre
wie das Kraut der Felder.^^ Das morgenländisch Exotische,
das auf Flügeln des Gesanges zu den Ufern des Ganges
sich wegträumte oder mit Lenaus ausgebälgtem Geier am
Ganges Unsterblichkeitsgedanken flattern liess, ward ein
neuer glitzender Rahmen der modernen abendländischen
Melancholie. Immer mehr erbleichte auch jener Zauber der
Bleibtrea: Die Vertreter des Jahrhunderts. 21
— 322 —
Natarfreiheit. den Rousseau und St Pierre und allerlei
deutsche Träumer im Urzustände ferner Lande als Gegen-
stück des Glücks zum Eulturunglück heraufbeschworen.
Schon bei Chateaubriand ist diese gepriesene Urnatur in all
ihrer wilden Schönheit nur dazu da, des Menschen Nichtig-
keit zu erdrücken, vor seinem Nichts noch tiefere Abgründe
aufzureissen. Weltschmerz überall, ob im Bauschen des Ur-
waldes oder im Lärm der Städte. Und wie bitter enthüllt
uns der stolze Poseur in seinen Memoiren, dass seine lieb-
lichen Indianerjungfrauen Atala und Geluta ihre Entstehung
einem Reiseabenteuer mit zwei mestizischen Freudenmädchen
verdankten! Solche Enttäuschung sparte man uns damals
noch, die Dichtung idealisierte. Heut stellt uns Loti die
exotische Eva der orientalischen Paradiese nackt genug vor
Augen, sinnlich wie eine Houri, dumm wie keine Kuhmagd,
eine Art von wilder Äffin mit den Allüren eines Panter-
weibchens, allerdings voll roher Treue und Zärtlichkeit.
Barahu und Azyad^ sind nicht mehr Rousseauische Ideale,
sondern unselig wie wir Europamüden selber, und die wider-
spruchsvolle Zusammensetzung der modernen Eulturseele
schöpft aus Berührung mit bestialer Einfalt nur neue
raffinierte Qualen. Doch auch diese Entwicklung der
Jahrhundertkrankheit entspinnt sich nicht als Influenza von
aussen, sondern der Bazillenherd steckt in ihr selber.
Auch Byron hatte sein griechisches Feuer aus einer
griechisch-türkischen Exotik entlehnt, die in Wirklichkeit
nicht ganz so romantisch aussieht, wie er sie malte. Aber der
Anblick hellenischer Buhmesgräber, verfallener Tempel und
schauriger Mondnächte mit schakalbenagten Leichen — ver-
gleiche besonders „Die Belagerung von Korinth^', wo auch die
Schakale nach Selbsterlebtem gemalt — riss ihn aus Ver-
zweiflungsanfällen nur wieder zur Begeisterung fort.
Alle Gewitterstürme des Genfer Sees, alle Gletscher-
schrecken des Bemer Oberlands vermögen nicht den hohen
Stolz seiner selbstgewissen Hoheit zu brechen. Vor der Ma-
jestät des Weltmeeres pflanzt er sich hin, legt seine Hand auf
die Wogen mahne und fühlt sich eins mit aller Grösse der
Natur. Selbst der Flug durch den unermesslichen Raum
schreckt ihn nicht, halb Eain, halb Lucifer, schwingt er sich
— 323 —
darch die Planeten hin, berauscht von Ewigkeit, und ruft
dem AU entgegen: „Mein Qedanke ist dein nicht unwert,
bin ich auch nur Staub/^ Man vergleiche damit den Zorn-
schrei Maupassants („L' iuntile beaut6!^0' n^^^ Natur! Ich
sage dir, dass wir gegen die Natur unaufhörlich ankämpfen
müssen, sie führt uns ewig zum Tier zurück !^^ In solchem
Ekel gegen das Sinnenleben endet zuletzt der Arme, der so
lange die Natur vergöttlicht und in der heuchelnden Zivili-
sation, welcher er das ehrlich Bestiale gegenüberstellte, zu-
gleich das Geistige verspottet hatte.
Warum MaupassantsUmkehr und Bekehrung? Weil unterm
Spaten seelischen Leides in ihm eine tiefere Schicht des Unbe-
wussten lossprang: er, der gegen ideale Illusionen ins Feld
zog, kehrte heim, geschlagen und gedemütigt, in sein innerstes
Ich und erkannte gerade seine Götzen der Natursinnlichkeit
als Ulusionen. „Duldet und denkt ! Schafft eine eigene Welt
im Innern, wenn die Aussen weit versagt! So kommt der
geistigen Natur ihr näher und kämpft mit eurer eigenen
triumphierend!^' hinterliess Byron im Eain sein letztes Wort
Aber merkt man den Abstand der zwei Jahrhunderte?
Merkt man den langen Irrweg, auf dem das pfiffige, an-
massende, immoralische Säkulum sich wieder zum alten
Tempel des Bealidealismus, wo Byron, Goethe, Napoleon
thronten, zurückarbeiten muss? Jeder Best wiedererwachenden
Wahrheitsgefühls macht also die entgegengesetzte Ent-
wickelung durch, wie Nietzsches kranke Sophistik.
Das Volk emporzuzüchtigen wünschst jeder aufgeklärte
Despotismus. Ein oft undankbares Beginnen von zweifel-
haftem Ausgang. Heine meinte in seinem Witz Aladins
Wunderlampe zu besitzen, wie der Däne Oehlenschläger sie
romantisch als Attribut und Sinnbild des Genius besang,
und Hess ihr Licht erstrahlen über Gerechte und Ungerechte.
Doch das Geniale herrscht meist nur im Beich einer eigenen
Einbildung als aufgeklärter Despot, die Materie draussen
weiss nichts von seinem Herrscherrecht und will nichts
davon wissen.
Die Bomantik suchte wie Ibsens Frau vom Meere das
Wunderbare. Sie duftete selbst als blaue Wunderblume.
Der Fichtesche Transzendentalismus fasste die Phantasie als
21»
— 324 —
die treibende Kraft des Ichs und all seiner schöpferischen
Wirksamkeit auf, in gewissem Sinne sehr logisch, weil die
Welt als Einbildung (Vorstellung) natürlich von der Ein-
bildungskraft abhängt. Die folgenden Natuq)hilosopheme von
Schlegel und Schelling, im Grunde auch von Hegel, stärkten
diese Anschauung, die natürlich dem £ultus des Genialischen^
neue Nahrung lieh. Das Genietreiben der Romantiker ward
zur fixen Idee und die Fiktion sollte laut Novalis sogar
wundertätig weiden, das Nicht- Wirkliche wirklich machen.
Das innere Wissen einer genialen Anlage offenbare sich al&
Urfunktion, von der alle sonstigen Äusserungen und ihre
Formen abhängen! Die Natur sei nur eine Wahrnehmung
der Phantasie, die also gleichzeitig Physik lehrt! Ganz wie
ein indischer Joga wünschte die Romantik eine Überwindung
der Materie durch standhaften Glauben, doch durch Glauben
des Ichs an sich selber, indem Dichtertum gleichsam zum
Naturkern wird. Solche Apotheose der Poesie ward selbst
zum Märchen. Der vollkommenste Dichter sollte der Höhe-
punkt im Naturschaffen sein, dessen Geheimnisse im Abgrund
unsres eigenen Wesens schlummern, geheiligter Priester der
ewigen Hervorbringung, in ihr seine eigene Harmonie findend.
Deshalb sei des Dichters Ahnung ein Fackelträger für die^
nachhinkende Forschung, Goethe habe seine Naturerkenntnisse
nur seinem Dichtertum zu verdanken (Steffens), weil dessen
Gedanken eins mit dem Wesen der Naturgedanken. Tieck
liess sich solches nicht zweimal sagen und las seine Gefühle
in den Formationen und Physiognomieen von Bäumen,.
Pflanzen, Bergen, Wolken und gestiefelten Katern. Recht
als Vorbild des Impressionismus Fin-de-Si6cle vermengte
er Töne und Farben, erstere ergossen sich in Strahlen, letztere
erklangen musikalisch. ,, Wahre Liebe denkt in Tönen, denn
Gedanken stehn zu fern^^ . . ein sehr verdächtiges Geständnis,,
das freilich dem Musiktaumel zu Gute kommt Gewiss, in
tönender Yerschwommenheit „lässt sich gern alles was
man will versöhnen^M Denn Sinn und Logik müssen sich
gefallen lassen, dass alles, was der Dichter will, eine
imaginäre Versöhnung erhält, ein Bündnis mit den Natur-
mächten, welche sich in jeder Menschenseele selbst wieder-
finden und spiegeln. Dass Geist unsichtbare Natur und
— 325 —
Natur sichtbarer Oeist sei, diese innere Harmonie verknüpfte
Scbellings Romantikphilosophie in der Poesie, die er als das
Höchste and Letzte auffasst, sintemal aas ihr alle Natur-
Weisheit entspringe. Zu diesem ihren Ursprung kehrt die
Philosophie heim, indem sie das Kunstschaffen als Ver-
schmelzung von Notwendigkeit und Freiheit, Bewusstheit
und Unbewusstheit erkennt und den Dichter gradezu ver-
göttlicht Die Oenielehre verhöhnt grübelnde Wissenschaft
als Pedanterie, das Yerstandeserkennen vermag nichts mit
ödem Fleiss! Poesie und Genie erhaschen alles im Fluge
und setzen sich auf den Weltthron, den ja bekanntlich
auch Napoleon durch naive Einfalt und Faulheit im Schlafe
durch geniale Eingebung gewann! Bewusstes und ünbe-
wusstes trennen sich nicht mehr und verbinden ihre Strahlen
zu einer Wunderflamme, einer Freiheit der Natur?!
Das „System des transzendentalen Idealismus^^ erschien
just im Anfangsjahr des Jahrhunderts, Scbellings Wirksamkeit
griff stetig im ersten Viertel des Jahrhunderts um sich und
durchsickerte die ganze erste Hälfte. Der marklos ent-
nervende Genius der Romantik spann sein Spinnwebennetz
über Norden und Westen Europas, ein gut Teil natürlicher
Eraftanstrengung erstickend. Die Poesie sollte der allgemeine
Ozean werden, in den alle Wissenschaften münden, fürs
erste aber zerfloss sie nur als gestaltloser lyrischer Brei!
Die Natur als bewusstlose Poesie des Geistes sollte dem
Kunstwerk inferior sein, da sie nur als Ganzes das Unend-
liche bedeute, jede einzelne Eunstschöpfung aber schon das
Ewige enthalte, einziges Organen und Dokument des Er-
kennens. Aber die Natur rächte sich an dieser Selbstver-
götterung der Poesie — und der Poeten. Denn ihnen, die
so dreist den „magischen Idealismus" (Novalis) ihrer Genialität
betonten, versagte sie eben diese erstrebte dämonische Magie:
Goethe-Faustens unsterblich Teil und Erbteil. Zwar war
sein eines Auge von Alltags „Sorge'^ erblindet, bis er selber
ein Philister, „von Furcht und Sorge angefüllt*. Dies blinde
Auge Exzellenz v. Goethes aller Bildungsphilister Sonne und
Wonne! Doch strahlt sein andres Auge uns magisch voraus,
weil e r bescheiden und ehrfürchtig zu den Müttern hinabstieg
und von der Poesie nicht mehr verlangte, als sie geben kann.
— 326 —
Denn nicht die Poesie als Kunst ist das Letzte und
Höchste, sondern das ünbewusste, das gleichzeitig Gefühl
(Poesie) und Denken (Philosophie) aus Urquellen speist. Diese
aber entdeckt nicht der gewaltsam bohrende gierige Genie-
sucher, der ünbewusstes zu haschen meint, wo er noch ganz in
eitelm Bewusstsein webt, sondern der unablässige Allsucher,
der immer strebend sich bemüht, ichlos dem Allwesen sich
zu nähern. „Den können wir erlösen/^ Der indische Joga
und christliche Mystiker, anders als diese ichverliebten
Poeten sucht er die Glaubensstärke in sich selber, die alle
Berge der Materie versetzt, „durch hohe Wissenschaft,
Kasteiung, Wagnis'' (Manfred), Ichüberwindung, nicht durch
Ichvergötzung. „Der alte Kerl hat faule Nieren und wirds
nicht lange mehr machen'', grinste Friedrich Schlegel, als
von Goethes Erkranken die Rede, Oehlenschläger an. So
sah die schöne Seele und die überschwängliche Empfindsam-
keit dieser Ästheten aus! Ach, Goethe war zuletzt auch für
Heine nichts Hechtes mehr. „Süsser Reiz der Mitternächte,
stiller Kreis geheimer Kräfte, Wollust rätselhafter Spiele,
wir nur kennen euch", liess Novalis die Toten singen, aber
er dachte dabei an die seligen Lebenden, die Genialen der
Romantik, die sahen und hörten, was vor ihnen kein Sterb-
licher erkannt. Doch auch wir kennen euch nun und eure
Romantik als einen Kirchhof. Nie war von Poeten so viel
die Rede, wie in England zu Popes Zeit, und nie gab es
weniger Poeten; nie ward vom Genie so viel gemunkelt,
wie in dieser ersten Jahrhunderthälfte, und nie gabs so wenig
wirkliches Genie. Erst als die Romantik, ehe sie noch alters-
schwach geworden, sich im Lebenselixir des Heineschen und
Lenauschen Freiheitspathos verjüngte und dann in Selbst-
ironie zersetzte, überlebte sie sich selbst in Heine und
Lenau. — —
Wie weit überragen unser in sich fertiger Sänger Lenau
und unser unbeholfener Geschichtspoet Grabbe doch alle
Dichter anderer Völker im Jahrhundert seit Byrons Tode mit
alleiniger Ausnahme Mussets! Wer erreicht selbst Grill-
parzer und Hebbel, ja auch nur den Hebbel zweiter Hand,
Otto Ludwig, im Gebiete des Dramas! Die Briten freilich
brüsten sich noch mit verschiedenen ,grossen' Poeten. Doch
— 327 —
Swinburnes sinnlicher Schwulst und Brownings fürchter-
licher Tiefsinn drücken uns und sich selber nieder, als
müssten sie alles mit Hebebäumen aus sich herausholen.
Besonders Browning war eine Plage für Götter und
Menschen.
Schlimmer noch die unerträglichen Streckverse oder
richtiger: wahllos zerhackten Prosaperioden, die Walt Whitman
in Amerika für die Neue Poesie der Demokratie ausgab, was
wie jeder Humbug eine gläubige Gemeinde um ihn sam-
melte — ein Victor Hugo ohne jede technische Gabe dieses
Phrasenkolossus, ohne Phantasie, Gestaltungskraft, ja sogar
ohne Wortschwung, kläglich wirres Lallen als Ideen
feilbietend, ein atavistischer Rückfall in eine Art literarischer
Hinterwäldlerprimitivität ! Dies grossen wahnsinnige Dollar-
ländchen, dessen Erdmasse auf der geistigen Welt -Karte
zu einem Dörfchen einschrumpft, pfeift den Yankeedoodle
seines Monroe-Kirchturmspatriotismus immer gellender dem
altersschwachen Europa zu, bis sich der Bildungsmensch
die Ohren zuhält. Das „Land der GleichheitsflegeP (Heine)
produziert natürlich aus seiner jungfräulichen Erde unge-
heure Genies, etwa von dem Wüchse eines deutschen
Almauachpoeten. Ein niedlicher Essayist wie Washington
Irving ward mit Homer verglichen, ein langweiliger Eklek-
tiker Longfellow, alle Zonen nach Stoffen plündernd, mit
den grössten Engländern, natürlich erst recht mitTennyson,
der für solchen Yergleich doch noch etwas zu gut ist. Der
Hanswurst Mark Twain, selbst in seinen krampfhaftesten
Bajazzosprüngen („The New Pilgrims Progress") nur Plagiator
Dickensscher Karikaturistik, soll göttlichen Falstaffhumor
gepachtet haben. Als Bret Harte sein kalifornisches Gold-
suchen anfing und allerdings tüchtige Körner und Klumpen
in kunstvoller Verpackung auf den Markt warf, trat Hausse
in literarischen ,Bonds' transatlantischer Goldshares ein.
Aber ach, die Mine schöpfte sich im Handum-
drehen aus, jeder Ansatz über die Skizze hinaus miss-
lang. Ebenso verpuffte nach kurzem Aufleuchten die
Byronische Korsarenpoesey von Joaquin Heine Miller:
Songs of the Sierras^ ^Songs of the Sun-lands\ eine starke
und ursprüngliche Pflanze, aber auf sonst ganz unfrucht-
— 328 —
barem Boden gewachsen, etwa wie Orisebachs .Neuer Tann-
häaser^ eine einmalige Yerheissung bot.
Heil, Columbia! Möge dein Sternenbanner noch lange
Jahrhunderte sich blähen und du, o geologisch älteste der
Erde, dich auch fürderhin als ,Erstgeborene der Zeit^ (Bayard
Taylor) in der Atlantis bespiegeln! Volle zweihundert Jahre
besteht nun die Yankeekultur der Oststaaten und immer
noch führen sie sich auf, als wären sie Neugeborene mit
jugendlicher Kraftfülle. Möge Emerson, der transatlantische
Weise, sie belehren, dass ihre „Prominent Men*^ leider
immer noch keine „Representative Men" geworden sind,
obschon mit köstlichem Selbstwiderspruch zur Jungsein-
Legende der Rektor von Hanrard Kollege den Prinzen
Heinrich begrüsst haben soll: das alte Kulturland Amerika
begrüsse achtungsvoll das junge (!) aufstrebende Deutschland !
unter denkbar günstigsten Kampfbedingungen, mit
allen Trümpfen in der Hand, yermochte dies Volk nicht mal
ein einziges Oeistesgebiet ergiebig zu beackern, selbst Edison
ist ein Schwede. Doch genug von diesem ekligen Thema!
Ein einzig Mal wogte eine Welle von Poesie durch die
amerikanische Seele, und diese trug nur Byrons Weltmeer-
gewoge an den transatlantischen Strand: auch Poe der
mystische Künstler gehört geistig nicht in unser Jahrhundert,
sondern in die Byronzeit. Das 19. Jahrhundert, mehr oder
minder unterm Zeichen der Amerikanisierung stehend,
bewies also auch in Amerika selber seine volle Un-
fruchtbarkeit.
Im Vaterlande der grossen Leidenschafts- und Wirk-
lichkeitsdichter nahmen heroische Leidenschaft und echter
Wirklichkeitssinn Abschied von der Dichtung, diesem einzig
massgebenden und bestimmenden Ausdruck der höheren
Volksseele: Ärger denn irgendwo ersetzte in England ge-
meine Oier nach weltlichen Gütern die ideale Leidenschaft,
welche Byron als gleichbedeutend mit „poetry which is but
passion^^ erkannte Statt kontemplativen Erfassens des Ewig-
Realen blieb nur das niedere äffische Behagen und Sptü*eü
nach Äusserlichkeiten der Gesellschaftsvorgänge, ohne dass
der Realismus des englischen Romans auch nur im Ent-
ferntesten die technische Reife des französischen erreichte.
— 329 —
In der Verspoesie machten nar die Allegoriker Keats und
Shelley Schale. Bei Anstaanung von Swinbumes plastischen
Bildungen, die einen Renaissancestil erneaem möchten, aber
ins Barocke und Schwulstige verfallen, vergisst man gar zu
sehr, dass solche Stilideale der Schönheitsästheten in Eeats
^Hyperion^ schon genügend vorlagen, um keiner zweiten Auf-
lage zu bedürfen. Browning aber knüpft eng an Shelley an,
mit dem Jungengland heut nach zeitlicher Yerkennung eine
masslos kindische Vergötterung treibt.
Ganz logisch ward daher ein Literarhistoriker der
,Victorian Poets^ Stedman, im selben Atem ein panegyrischer
Shelleybiograph. Hier tritt die kritisch-ästhetische unreife
der Engländer zutage, die Schattenseite dessen, was gerade
ihre eigentümliche Orösse ausmacht. Bei ihnen nämlioh
entspringt alles Grosse sozusagen spontan und autodidaktisch,
deshalb eben mit ursprünglicher Originalität, die sich zum
Genie steigert, aus dem Born des Unbewussten. Doch der
feste Untergrund der deutschen universalen Hochkultur
mangelt, und derselbe Instinkt, der in ihnen unbewusst und
wie im Blinden die wahren Urgesetze der Ästhetik erfüllt,
tappt ebenso blind daneben, sobald der bewusste Verstand
sich eine Ästhetik geben will. Bis dahin strotzte die britische
Literatur stets von pausbackiger Lebensfülle, lehnte alles
abstrakte Idealisieren und Philosophieren ab. Die roman-
tische Strömung verlor in Byron sofort ihr eigentliches
Wesen, setzte sich in gewaltigen Realismus der Ewigkeits-
stimmung um. Selbst Wordsworths moralplatonische
Träumerei verwandelte sich ihm zwischen den Händen zu
naturalistischen Idyllen altenglischen Land- und Hauslebens.
Ja sogar Moores Irische Melodien strafften ihre Weichheit zu
realistischem Freiheitspathos, der auch seine orientalische
Phantasmagorie durchdrang, und suchte im blendenden
Kaleidoskop der „Lalla Rookh^^ wenigstens realistische Echt-
heit des Kostüms Byrons Epyllien nachzuformen. Nun aber
fand das Eindringen deutscher Philosophie und Idealität, von
der ,Seeschule^ befürwortet, in Shelleys reiner Reflexionspoesie
einen scheinbar kongenialen Vertreter. Scheinbar, denn ihm
gebrach das feine ästhetische Empfinden der deutschen
Romantischen Schule, das wenigstens ein notwendiges
— 330 —
ümgiessen der Reflexion in poetische Anschauung be-
griff.
Shelley dichtete mit so völliger Verachtung des l'art pour
l'art drauf los, dass ihm immer zuerst die Reflexion und
dann erst das poetische Requisit dazu ins Bewusstsein kam.
Derlei darf sich das Genie erlauben, das aus dem ünbewussten
schafft, da bei ihm Reflexion und lebensvolle Gestaltung
sofort gleichzeitig emportauchen. So sind Byrons
Wunderwerke ,Manfred\ ,Himmel und Erde', ,Cain' voll-
ständig naiv und improvisatorisch binnen kürzester Frist aus
dem ünbewussten ins Bewusstsein der Menschheit hinein-
geschleudert worden. Shelley aber ist nur ein Halbgenie,
der selten wie in der „Ode an den Westwind^' und anderen
lyrischen Ergüssen sich dem Ünbewussten hinzugeben ver-
mochte und im übrigen, was seine Verehrer natürlich als
Ketzerei betrachten werden, mit dem Verstände arbeitete.
Seine meisten sehr ungleichwertigen Produkte sind revo-
lutionäre Flugschriften und Traktate, in äusserlich poetische
Form gegossen. Was ihm dichterisch Halt gab, war lediglich
das oft herrliche Hervorbrechen einer Naturlyrik grossen
Stils („Die Wolke", „In der Bucht von Neapel"), obschon er
auch hier das abstrakte Allegorisieron nicht lassen konnte:
^Alastor oder der Geist der Einsamkeit' heisst be-
zeichnender Weise sein lyrisch reinstes grösseres Erzeugnis.
Ferner seine Durchtränkung mit altenglischem Radikalismus.
Ein Erbteil der „Great Rebellion", nur dass dieser „Icono-
clastes^ nicht wie Miltons Puritaner bloss Monarchie und Staats-
kirche, sondern Staat und Kirche überhaupt, ja sogar Miltons
Jehova, entthronen wollte. Solch innere Leidenschaft hauchte
nicht nur der jugendlich unreifen ,Queen Mab\ sondern auch
der blassen Allegorie in hellenischer Dramolytform ,Der
Entfesselte Prometheus^ begeistertes Feuer auf die hektischen
Wangen. Das war aber ein verderbliches und tückisches
,griechisches Feuer^ für seine Nachahmer und Erben, die
von dem allen nur die starre Reflexion und allegorische
Kälte erfassten, ohne die glättenden und mildernden Zu-
sätze des Shelleyschen echten Lyrismus und ohne seine
persönliche Revolutionsleidenschaft. Schon bei ihm braucht
man nur seine Allegorismen, „The Revolt of Islam" in
— 331 —
blanke Langeweile sich auflösend, mit Byrons metaphysischen*
Dramen zu vergleichen, um den unermesslichen Abstand
vom gestaltenden Genius zu gewahren. Wer merkte nicht,
dass ,Gain\ dessen alles Vergangene, Gegenwärtige und Zu-
künftige mit unbegreiflich glühendem Dichterblick umfassende
Ideenkraft schon Goethe so richtig abschätzte, den hingegen
ein schwatzhafter Publizist wie Harden als ,parfümiert' (t)
vor Nietzsches (!) Lucifertum abfallen liess — es tut immer
gut, solche Selbstentlarvungen tiefer zu hängen — ge-
danklich auf einem anderen Planeten thront, als Shelleys
anthropomorphische Konfusion! Jungengland aber fasste
nun alles Reflektive und Revolutionäre auch literarisch als
Selbstzweck auf und belehrte die englische Poesie, dass sie
sich bisher auf falschem Wege befand und mit der Philo*
Sophie wie die Deutschen anfangen müsse.
Garlyles Germanismen unterstützten noch und so ent-
stand der ,grosse^ Browning. Dessen Dramatik scheint in-
sofern ein Rätsel, als er im Yaterlande Shakespeares sein
endloses Deklamieren wagte. Im ,Paracelsus^ sind die
Dialoge, ja die Einzelreden von einschläfernder Länge,
letztere manchmal sechs Druckseiten lang. Seine sogenannten
Gedichte nehmen kein Ende, als wisse er selbst nicht den
Schluss zu finden: was er für hohe Urkraft ausgab und hierfür
zahlreiche gläubige Anhänger fand. Dass der klare Tiefsinn
des majestätischen Byron noch ärger als bei Shelley ver-
misst wird, wiegen hier weder lyrische Anmut noch revolu-
tionärer Schwung auf. Entschädigt soll man werden durch
einen gewissen didaktischen Realismus von Psychologie, der
sich in abstruse Reflexionsdeklamationen einmischt, und
einen Anflug realistischer Satire wie in „Bishop Broug-
hams Apology^' (ein endloser Jambenmonolog in dem Ge-
dichtcyclus „Men and Women"). In „A Souls tragedy**
„Luria*' „The return of the Druses'^ „In a balcony'^ „A blutch
in the scutcheon" „Golombas Birthday" wird in oft unver-
ständlicher, meist verboser und schwülstiger, nur stellen-
weise kräftiger Tonart ein dramatischer Stil geschaffen, der
weder lyrisch noch episch noch dramatisch, im Übrigen für
ein feineres Gehör auf Shelleys „Beatrice Cenci^^ zurück-
geht. Nur zwei dieser seltsamen Dramen, deren geistig
— 332 —
beträchtlichstes „Paracelsus^^ völlig unklar und dem paracelsus-
gläubigen Theosophen ebenso unverständlich bleibt wie dem
Sceptiker, nehmen einen Anlauf zum historischen Charakter-
drama: ^Stafford^^ und „King Victor and King Charles^'.
Doch auch hier erstickt der Eindruck in endloser Yer-
bosität, wo jeder Rest von Handlung durch Reden, Reden,
Beden ersäuft wird, dies Reden aber den Leser vollends
unwillig macht durch die gesuchte Arroganz einer spezifisch
Browningschen Sprechweise. Wenn der Stil den Mann macht,
«0 genügt es doch nicht, sich eine Besonderheit dadurch
anzuschminken, dass man alle natürlichen Dinge umständ-
licher und verschnörkelter ausdrückt, als es Irgendwem ein-
fallen könnte, und in dieser Dunkelheit der Redeform ist
nur zu sehr System, da es uns zu der Meinung hypnoti-
sieren will, es steckten tiefe Gedanken in diesem Dunkel.
Entwirrt man aber das Chaos des merkwürdigen Epos „Sor-
dello^\ so behält man lauter Redensarten in der Hand, ab-
gerissene Gedankenfaden, die sich nirgendwo verknüpfen.
Vergeblich schmiert Browning die Tünche einer drama-
tischen oder epischen Handlung über seine Reflexionen,
innerlich gähnt immer nur die abstrakte Leere. Findet er
mal einen lyrischen Ton wie in den seltsamen Liedern
.James Lees Wife" und den Weisheitssprüchen „Rabbi ben
Esra'\ flugs verfliegt der Sonnenblitz und dunkel dehnt sich
die Wüste einer Lyrik hin, die er selbst als „Dramatic
Romances", „Dramatic Lyriks", ja gar „Dramatic Personae"
aus dem Bereich der Lyrik entfernt und die sich wie in
der allerdings markigen und witzigen Satire „Sludge das
Medium^^ als sogenannte Monodramen darstellen. Etwas
Alberneres als das Gereime „Le Byron de Nos Jours,"
etwas Harscheres als „Cavalier Lieder^^ lasen wir selten, und
all die seltsamen Stoße, die er zum Gedichtemachen wählt,
erwecken nur Befremden ohne Befriedigung. Selbst die
populäre Napoleonsballade „Tou know, we French stormed
Ratisbonne^^ hat etwas Schwerfälliges und Harsches. Wie
denn eine gewisse Roheit der Kunstbehandlung überall stört,
als ob es Browning in erster Reihe darauf ankäme, alle be-
liebigen Einfälle seines begnadeten Hirns pelemele in ver*
sifizierter Plauderei auszuspeien, unbekümmert um Kunst-
— 333 —
form und poetischen Ausdruck. Daher die prosaische-
Stimmungslosigkeit all dieser hochtrabenden Keflexions-
didaktik. Der ganase Browning nur ein barocker Einfall, eine
an den Haaren herbeigeschleifte Originalitätswut, die nur für
gaffende Grünlinge verbirgt, wie winzig der Dichter in die-
sem scheinbaren Krösus von Talmigedanken. Auch hier er-
kennen wir ein Wahrzeichen des Jahrhunderts: ihre von-
unverdauter Philosophie gelähmte Zeugungsohnmacht füh-
lend, doch zu eitel, sie einzugestehen, glaubt die Aftermuse
sich des Ewigalten der natürlichen Poesiebedingungen ent-
binden zu dürfen und preist ihre „whims^^ und „practical
jokes^* als Inspirationen neuen Stiles an.
Browning ward von denjenigen Elementen vorgeschoben^
die sieh mit des gekrönten Nationaldichters Alfred Tennyson
Lovelyness-Poesey nicht zufrieden geben wollten. Möglichen-
falls spielt Brownings unverständliches Gedicht „The lost
leader'^ auf dessen Übertritt ins amtlich konservative Lager
als Poet Laureate an. Die ätherische Yictoria erhob ihn
sogar zum „Lord^*, obschon so unliebsame Erinnerung an
einen andern Dichterlord erwachte, zu welchem sein
Dichten und Trachten in überaus erheiterndem Gegen-
satz stand.
Allein, wir müssen diesen Alfred den Kleinen, obschon nur
Halbdicbter, wenigstens als Künstler viel ernster nehmen als
seine Rivalen. Die Reinheit und Sauberkeit seines Vers-
stils hebt eine wollüstig träumerische Empfindsamkeit reiz-
voll geiin:^ hervor. Man sollte ihn eigentlich für weiblichen
Geschlechtes halten, doch die Female Poets wie Felicia
Hemans besitzen viel männlichere Saiten pathetischen
Schwunges auf ihrer Leier. Bei Tennyson hingegen dreht
sich alles um das Weib. Bezeichnend, dass er aus Shake-
speares tiefsinnigem «Mass für Mass^ sich bloss Mariannas
Liebesschmerz als lyrische Episode herausholte und ihn in
formvollendetem kleinem Liedercyklus hin und her wendete.
Sein populärstes Gedicht heisst ,Die Maikönigin', auch
,Müllerstochter^ und Gophetuas Bettlerbraut stellen sich vor,
ein barokmythologischer Cyclus heisst ,,Die Prinzessin'^
dessen süssliche Süsse („Come into the Garden, Maud^'
u. s. w.) alle Misses wie Syrup einschlürften.
— 334 —
Dieser Frauenlob wird nicht müde, Weibes Liebe und
Leben in allen nur möglichen Varianten vorzuspielen. Wir
•müssen ,Wiegenlieder' und Witwenschmerzen auskosten.
Selbst eine stilvolle Ballade aus altheidnischer Opferzeit hat
nur den Zweck, Mutterliebe zu veranschaulichen. Das Meer
dient nur dazu, Nixen locken zu lassen. Yon Altenglands
•Geschichte weiss er nichts zu erzählen als die Mär von
Oodiva. Vom Griechentum berichtet er nichts als die Klagen
von Paris verlassener Geliebten, übrigens in ganz meister-
hafter Form. Selbst sein schärfster Ton, wo er gradezu
unheimlich wird, entquillt weiblicher Eifersucht (Ballade ,,die
zwei Schwestern") und in den ,Königsidyllen\ seinem Haupt-
werk, subtilisiert er eine Art Metaphysik der Liebe wie
Petrarca oder Guido Gavalcante in sinnvollen Reimen. Das
Erzählende darin wird mit grosser Vollendung des stilistischen
Vortrags, doch ohne jeden Schwung, eintönig abgehaspelt,
und sein Streben nach Schlichtheit und Einfachheit wird
auf die Dauer nur störend, weil gesucht und aufdringlich.
Das kleine Idyll ,Enoch Arden\ in dem dies Streben kulmi-
niert, hat seine lächerliche Aufblasung zu einer dichterischen
Meistertat lediglich der ,Reinheit^ und ,Sittlichkeit^ seiner
keuschen Zahmheit zu verdanken, sowie man etwa Byrons
,Gefangenen von Chillon^ deshalb so hoch einschätzt, weil
jedes Kind es lesen dürfte. Denn der allertiefste Grad des
Kunstverständnisses, nämlich die Ästhetik der Familien moral,
spukt noch lebendiger herum, als man in Künstlerkreisen
wähnt. Aber ach, von Byrons schlichtem Chillon-Meisterwerk
.zu Tennysons Schlichtheitskoketterie führt keine Brücke
hinüber: dort edler wahrhaft keuscher Mannesschmerz und
rührendes Martyrium verbunden mit strenger sittlicher
Würde des Freiheitsideals, hier ein sanftes Drücken auf
Thränendrüsen schöner Leserinnen vor zwar sehr trauriger,
aber sehr banaler Ehetragödie des Zufalls. Es ward ja der
Dichtung schlimmster Fluch, dass das Kleine Jahrhundert
sie rettungslos dem Weibergeschmack überlieferte.
Die Frau, ihrem Wesen nach philisterhaft und kunstfeind-
lich angelegt, unfähig, andere als erotische Motive auch nur
stofflich zu begreifen, liebt ja nicht wie der Kunstgärtner
die Rose um der Rose willen, sondern um sich damit zu
— 335 —
schmücken. Die Eanst dient ihr nur als Diebshehler der
im Dunkeln munkelnden Erotik, weshalb sie die Musik,
ohnehin ihrem unklaren Fühlen wahlverwandt, besonders
bevorzugt. Wie hätten Griechen und Römer staunend
gelacht, englische Ladies als Patronesses so hoher und ernster
Dinge wie der Literatur zu sehen! Ihnen verdankt Alfred
der Kleine seinen ungemessenen Ruf, den wir ihm als
Dichter völlig versagen und nur als Stilkünstler einräumen
müssen. Nur ein paar Mal erhob er sich zu Männlicherem
in „Ulysses", dem Tod des Lucrez, dem Tod Artus' mit
Versinken des Schwerts Exzalibar, während die Bänkel-
sängerreimerei „Attake der Leichten Brigade^^ nur vom
britischen Chauvinismus als ein tyrtäischer Fäan empfunden
wird. Und einmal wollte er gar sich dem Leidenschaftlichen
nähern in der kraftvollen Elegie „Locksley Hall", wo ein
byronischer Jüngling auf Gott und die Welt und besonders
die Frauen schimpft. Da erhob sich ein Schrei des Entsetzens
bei allen alten und jungen Weibern, dass ein so edler
Frauenlob sich so arg vergessen habe, und er tats nie wieder.
Seine Werke gleichen als Ganzes einem Keepsake mit
Goldschnitt, aus dem unter zierlichen Arabesken und Blumen-
guirlanden allerlei errötende oder nicht errötende Frauen-
bildnisse mit ladyliker Grazie hervorlugen, rosig oder lilien-
haft Er selber trägt immer evening-dress und lispelt mit
sanfter Salbung wie ein begüterter Clergyman highly-
connected seine melodischen Sermone. Die eintönige Toten-
klage „In memoriam" zum Gedächtnis des Prinzgemahls
Arthur glich einer sinnigen Eanzelberedsamkeit. Seine
Melancholie passte zur heimischen Regenstimmung, ein
bischen Spleen tut dem Gemütlichen keinen Eintrag, und
hütete sich wohl, je in die Tiefe zu graben. Sein feinstes
Lied „Tears, idle tears, I know not what they mean" — eine
Feinheit, die allerdings vom näselnden Yankeepathos Long-
fellows, seines Rivalen als Familiendichter, so weit abstach
wie englische Eulturseele von amerikanischer — muss man
mit seinem technischen Meisterstück „Die Lotosesser" zu-
sammenhalten, um seine winzige, doch immerhin vorhandene
Eigenart zu erfassen. Diese Zartheit eines faulträumerischen
Geniessens, wenn die Lotosesser eines locker behaglichen
— 336 —
Wohllebens in einer Cottage on tbe seaside traulich ver-
dauend am Kamin bocken and hübsche Oinevras mit lilien-
händen einen ästhetischen Tee von Lotosblüten bereiten,
erklärt den Erfolg eines solchen ladies-man der Poesey.
Ob der pastorale Liebling der Damenwelt auch solchen
hochgestellten Zierden, deren Neigung sonst mehr geistigen
Getränken zugewandt, etwas Geistiges dünnflüssig ein-
trichterte?
Eine ewige Schande für England aber wird es bleiben, dass
dies im tiefeten Grunde geistlose Gedudele, dessen technische
Feinheit nur ein Kenner von gewöhnlichster Geibelei zu
unterscheiden vermag, von allen führenden Geistern, Carlyle
obenan, weihevoll als Stimme der Götter hingenommen und
dem unreif ungesunden unkünstlerischen Posieren des ver-
flossenen — Byron herablassend entgegengestellt wurde.
Wie muss es im Seelenleben einer Bildungskaste aussehen,
wo so etwas möglich wird! ....
Leider muss zugestanden werden, dass auch Heinrich
Heines Beliebtheit grade durch jene Sächelchen sentimentaler
Verliebtheit erworben ward, die uns heut gelinden Brechreiz
verursacheu, wenn sie bis zum Überdruss am E^lavier von
Philistern und Philisterinnen geflötet werden. Aus seinen
grossen Schmerzen machte er gar zu viel kleine Lieder und
manchmal sieht er hier einem hebräischen Schmok ver-
zweifelt ähnlich, der schreiben will nix wie Brillanten. Im
wunderschönen Monat Mai verstreute er Diamanten und
Perlen, Kosenwängelein und Liebchen fein und Schlängelein.
Man kann die Erbitterung des alten Gutzkow in seiner
Broschüre „Dyonisius Longinus oder der ästhetische Schwulst^'
ehrlich nachfühlen, dass dies Zeugs sangbarer Lyrik dem
deutschen Musikantenvolk als einzig berechtigte Poesie gilt,
weil sie seinem Spatzenhimchen allein nach Noten verständ-
lich! Doch nur böswillige Voreingenommenheit heftet sich
an diese Popularität, die der grosse Heine mit dem Trompeter
von Säkingen und Julius Wölfchen teilt. Wobei wir nicht
vergessen dürfen, dass Heine, als er das Buch der Lieder
herausgab, durchaus nicht auf derlei spekulieren und das
Übereinstimmen seiner schwächeren künstlerischen Absicht
mit dem Geschmack unberufener Banausen unmöglich ahnen
— 337 —
konnte. Denn schon die ,,Jungen Leiden"" ergossen sich in
höchst naiver schmerzlicher Leidenschaft die grade durch
eine gewisse jugendliche Unbeholfenheit des Ausdrucks wie
in den Eirchhofliedern mächtig packt. Gellen Aufschreien
wie ,,Ich lache ob den abgeschmackten Laffen^^ wird man
wohl schwerlich klügelnde Schneiderellentechnik nachsagen,
die ihre Liedchen zusammenstreicht und zurechtflickt. Auch
stand hier schon das Meisterlied von König Duncans Töchtern
und der Achtzehnjährige schuf jenes Lied von den zwei
Orenadieren, das schwerer wiegt als die gesamte sonstige
Napoleonspoesie von Hugo, Beranger und Zedlitz.
,,Ja, er ward ein grosser Sänger, Stern und Fackel
seiner Zeit,^^ wie Heine selber von seinem Stammesgenossen
Jehuda ben Halevy singt. ,,Der Gelehrte geht vor dem
König,*^ dieser talmudische Grundsatz bezog sich wohl nur
auf Talmudgelehrte. Nichtsdestoweniger kann man nicht
verhehlen, dass der Jude nächst dem Gelde Geistesarbeit
am höchsten schätzt, womit er vorteilhaft vom plumpem
Arier absticht, dem noch physische Roheit der Feudalzeit
im Blute steckt. Nur mit dem Unterschied, dass der arische
Idealismus, wenn er erwacht, eine viel lichtere Reinheit und
heroische Höhe erlangt, der jüdische hingegen meist unreine
Vermischung mit materiellen Zweckdienlichkeiten aufweist
Auch protegiert die jüdische Geistesaristokratie — denn da-
für hält sie sich — mit sicherm Instinkt nur das Arische,
ja sogar nur das Jüdische, was ihr in ihren Kram passt
So entzückte Heines Ironie und scheinb.n falsche Senti-
mentalität jene tonangebenden jüdischen Zirkel von Spree-
athen, denen theatralische Schöngeisterei ein Lebensbedürfnis,
die mit ihren Sentiments Theater spielten oder in frivolem
Spötteln ihre Überlegenheit markieren wollten. Der Wirk-
liche Geheimrat Witz, um mit Heine zu reden, liegt hier
darin, dass sein Genius wohl heimlich mit seiner bekannten
Witzanekdote achselzuckt: .,Wat jehn Ihnen die jrienen
Beeme an !^^ Seine Abneigung gegen Börne, den das Juden-
tum als Heines Ebenbürtigen für jüdische Zersetzungszwecke
verehrte, und sein schwankendes Verhältnis zur Hohe-
priesterin der Schöngeisterei, Rahel v. Varnhagen, erklärt
sich so.
Bleibtrea, Die Vertreter des Jahrbnnderts. 22
— 338 —
Varnhagen hatte nicht nur eine Jüdin zur Frau,
sondern auch eine zur Nichte: Ludmilia Assing, die sieh
nachher bekanntlich an Pückler-Muskau heranmachte. Diese
exaltierten Frauenzimmer unterschieden sich von der noch
exaltierteren Bettina Brentano (v. Arnim) durch ihre völlige
ünproduktivität Bettina hat in Treitschke einen warmen
Verehrer gefunden, aber Treitschkes Juden- und Heinehass
hat ein entschieden reaktionäres (Gepräge und man denkt
sich oft sein Teil: hinc illae irae! Wenn er Bettina v. Arnim
hoch über die Rahel erhebt, müssen wir ihm freilich bei-
pflichten. Dass aber umgekehrt der deutschtümelnde jüngste
Literarhistoriker Bartels die Bettina „sehr bedenklich^'
findet, begreifen wir, und man vergleiche hierzu unsre
eigenen Belege in der Einleitung. Bartel weiss, wo er den
Most holt: dass in Brentanos jüdisches Blut enthalten
sein könnte, und beruft sich darauf, dass Clemens,
Bettinas Bruder, die Heinesche Poesie mannigfach vorgebildet
habe. Gewiss, solches Schnüffeln nach jedem Oeblütstropfen
hat selber etwas „sehr Bedenkliches^' und doch kann man z. B.
Heyses Art erst verstehen, sobald man in seinem Ooethischen
Epigonentum rabbinerhafte Spitzfindigkeit aufspürt. Vor
allem begreift man jene besondere Ruhmesreklame, die
manchen anscheinend nicht jüdischen Talenten ein über-
triebenes Ansehen verlieh, erst durch ihre indirekte Zu-
gehörigkeit Die Eliot hatte den jüdischen Schriftsteller
Lowes zum Mann und der Germane Stahr verstiess seine
Gattin für die Jüdin Fanny Lewald : flugs ward erstere zur
grössten Schriftstellerin aller Zeiten und letzterer, ein ganz
unbedeutender eitler Dutzendautor, zu einer Leuchte in
Israel ernannt. Wenn beide Brentanos wirklich jüdischer
Abkunft wären, so würde dies zu seltsamen Betrachtungen
führen. Wir würden Clemens' angeblich Urdeutsches der
sogenannten „reinen'^ Lyrik, das Yolksliedmässige und
süsslich Naive, als eine ungermanische Gattung, Bettinas
wahnwitzige ausschliessliche Goetheanbetung als einen Ab-
spliss des Jehovakults erkennen, weniger aus Verständnis
für das Echtdeutsche in diesem umfassenden Beflexions-
poeten, als aus Seelenverwandtschaft für sein (angebliches)
Heidentum entsprungen. Stammt doch das Wort „goethe-
— 339 —
reif^ von einem Juden (Auerbach)! Auch das Zudringliche,
Lüsterne, Zweideutige der Geschwister Brentano würde dann
in ganz neue Beleuchtung fallen. Doch solche Rassen-
psychologie nimmt sofort Reissaus, sobald wir an Heine
herangehen. Während wir sonst bei jüdischen Literaten
jede Gewaltigkeit der Anschauung vermissen, wie sollen
wir dies aufrecht halten angesichts der gewaltigen Herodias-
Vision in „Atta Troll", der noch gewaltigeren auf dem Dom-
platz zu Eöllen im „Wintermärchen" und so vieler anderer
Proben!
Heine fasste sein Judentum nicht als eine Religion,
sondern als ein Unglück auf. Seine sardonischen Lippen
spieen giftige Lronie auf blaue Blumen und bleiche Lilien.
In der merkantilen Atmosphäre, die seine Abkunft umgab,
verwelkte naiver Jugendwahn und nur orientalische Sinn-
lichkeit träumte noch in ihm von Zionstöchtern mit Nasen
wie der Turm, der gen Damaskus schauet Doch sein
Idealismus, untrennbar von Genialität, ist nur scheintot, sein
kalter Spott zurückgetretene Wärme unter zu jähem Frost
der Wirklichkeit.
Renan (Histoire gönerale des langes sömitiques) urteilt:
„Der eminent subjektive Charakter der hebräischen Poesie
hängt mit einem andern Zug des Semitengeistes zusammen,
der völligen Abwesenheit schöpferischer Phantasie." Trifft
dies und der sonst bei Juden immer bemerkbare Mangel an
Originalität für Heine zu? Sicher nicht. Die Rezept! vität
seiner Rasse beschränkte sich in seinem Dichten nur auf
scheinbares Aneignen äusserer Formen: Goethes, des
Volkslieds, Clemens Brentanos. Aber man braucht nur
Brentanos Loreleilied, von dem das Heinesche angeblich
plagiiert sei, mit Heines Meisterwerk zu vergleichen, um
das völlig Neue im Tonfall zu unterscheiden.
Dieser Erbe der Psalmisten spannte auf die deutsche
Harfe eine neue feinklingende Saite. Wer ihr zartes
Vibrieren und ihre reizvollen Dissonanzen nicht ver-
nimmt, der sollte nicht vorschützen, dass er für andere Lyrik
Gehör habe. Gewiss, man merkt schon, dass er Jude ist:
Einen bitteren Beigeschmack wie von Tränensalz lässt
sein Seelenduft zurück und in die reiche Melodik schrillt
22*
— 340 —
etwas Boshaftes und Spitzes hinein. Der Ghettovogel glaubt
noch immer im Käfig zu sitzen und schlägt mit angstvoll
trotzigem Flattern die Flügel, als wolle er sie an Eäfigstäben
wundschlagen. Er ist ihnen ja entwischt, ist frei, doch ein
dumpfer Gefangenentraum lastet noch üher ihm. „Brich aus
in laute Klagen, du düstres Martyrerlied!" Daher das Ver-
bissene, Unruhige, daher auch die schrillen Trotzschreie,
schrill bis zur Unverschämtheit, schadenfroh kreischend,
wenn er sich seiner Freiheit bewusst wird.
Er soll nur ein seltenes Nachahmertalont sein? So
behaupten Treitschke, Scherer, Bartels als ob sie mit ihrer
magistralen Aufgeblasenheit überhaupt berufen wären, über
so hohe Dinge zu urteilen. Das sind dieselben Leutchen,
die einen blassen Eklektiker wie Geibel unter die Dichter
rechnen. Zwar scheint es obenhin , dass Heines Stimmungs-
duft wie Heines Ironie, äusserlich betrachtet, nicht Neues
und Eigenes, sondern Gemeingut der romantischen Schule
seien. Aber der innere Gehalt verändert sich bei Heine
ununterbrochen, auch die Formen, ja die Technik selber in
Yers und Prosa entfernen sich ruckweise aus dem dumpfig
schwülen Moderhauch dieser geistigen Kirchhofblumeu. Wie
er politisch als demokratischer Freiheitssänger den denkbarsten
Gegensatz zu der konservativen Dumpfheit und gezierten
Yornehmthuerei der Romantiker und der Goethepigonen bildet,
so wandert er von Anfang an einsam fürbass, fern dem
romantischen Haufen, fern den Ateliers eines deutschen Tart
pour Tart, um als Freilichtmaler im Sonnenlicht des Lebens
zu baden. Und auch sein Mondlicht, das so oft seine Poesie
gespenstig überflutet, glich nicht dem grünlich-magischen
künstlichen Flimmer, den die Romantik über ihre unter-
irdischen Höhlen ausgoss. Dies war das lebendige Mondlicht
in Natur und Menschenseele, in dem er sich selber wie eine
dunkle Säule stehen sah, das dämmrig die Geisterinsel der
Sehnsucht umspielt oder auf den Wolken ruht wie eine Riesen-
pommeranze und das Meer mit breitem Goldstreif säumt.
Unter ihm bewegt sich am Kreuzweg langsam die
Armesünderblum . . . der jungen Leiden. Doch Heines Mond
buhlt auch mit der Lotosblume, wo stille bleiche Menschen
am Ganges knien, wo rotblühende Gärten mit Gazellen und
— 341 —
kichernden Veilchen sich duftende Märchen erzählen. Dieser
Spätling des Orients träumt von Palmen fern im Morgenland
und den Rosen von Saaron, aber auch ihm rauschen die
Tannen des Harzes alte Sagen deutscher Herrlichkeit ihm
rauschen die Quellen von Prinzessin Ilse. Ihm rauschen die
Wogen der Nordsee germanische Wehmut und germanischen
Zorn, ob auch in den Wolken die Götter Griechenlands
vorüberziehen. Die deutsche Erde hat ihn nicht nach seinem
Taufschein gefragt, als er ihr ablauschte, was an verschwiegenem
Beiz in ihren Tiefen schläft Aus alten Märchen winkt es
hervor mit weisser Hand . . und dies Zauberland der Schönheit
blüht, klingt und singt in Heines Liedern wie in keinem
andern Lyriker der Welt Eine schwermütige traumhafte
Heiterkeit, ein sehr feines und inniges Lebensgefühl, lässt
brütendes Leidversinken nicht aufkommen. Liebliches Geläute
durchsäuselt die Gestade des Rheins, und der Himmel wird
blauer und die Seele wird weit „Märchenhaft vorrüberzogen
Strom und Burgen, Wald und Au, und das alles sah ich
glänzen in dem Aug' der schönen Frau *^ Ein Echo von
Walter v. d. Vogelweides Minnegesang, ein Geigen wie vom
Hörselberg . . . aber immer lauter übertönt von rollenden
Trommelwirbeln Le Grands, von Fanfaren einer Zukunft
„Denn ich selber bin ein solcher Ritter von dem
heiligen Geist'^ Immer wilder und trotziger schmettern die
Töne, auf Felsen am Meer will er ein neues drittes Testament
bauen : „Das Leid ist ausgelitten.'^ Da plötzlich ein schauriger
Missklang, die Symphonie reisst ab . . . und der Geschichte-
deuter des „Romanzero'\ der wie Richard Löwenherz durch
der Wälder einödige Pracht gesprengt und dem grüne Zungen
zuriefen : „Willkommen Herr Eönig^\ er liegt nun elend am
Boden, ein Hieb der „Lamentationen^^ Nicht mehr stösst
er ins Hörn gar seelenvergnügt und heiter. Ihm war so
wohl in der freien Luft, wie neugeboren gab er dem Rosse
die Sporen und dachte im alten Zauberwald, wo die Linden-
blüte duftet so für sich hin: „Mein Harnisch ist von
festem Erz, noch fester ist mein Gemüte. Das ist Herr
Heinrich Löwenherz, der deutschen Ritterschaft Blüte.^'
Ja, zum deutschen Helden hatte er sich geträumt —
und die Deutschen hielten ihn für einen Hanswurst, einen
— 342 —
Herrn y. Schnabelewopski, der sich die Lippen nach allerlei
|ukanten Gerichten leckt — und nun lag er wieder
winselnd am Boden^ ein von Jehova mit Lähmung Qe-
Bchlagener, mit dem ganzen krümmenden Weh des Ewigen
Joden im Rückenmark. Der mit soviel ungezogener
Grazie auf Atta Troll's Bärenfell sieh gewälzt, der mit
aristophanischem Hohn den Deutschen ein ,,Wintermärchen^^
zugeraunt, dass ihnen die Ohren gellten, den umfing nun
lebendiges Begrabenwerden in seiner Matratzengrnft und die
Sorge sang ihm ein graues Märchen von „Affrontenburg^.
Wie langsam kroch sie ihm dahin, die Zeit, die schauder-
hafte Schnecke, ihm, der eine neue Zeit bejubeln wollte! Der
anbändige Fegasusreiter blieb immer auf demselben Flecke,
er, der so gern das Bad deutscher Dinge ins Bollen brachte.
Doch unverwüstlich harrte der Genius aus an seinem
Schmerzenslager; ob er kaum noch das Lid bewegen konnte,
sein geistiges Auge strahlte ungetrübt und die Marterblume,
die der Jüngling als Armesünderblume erblickt, entfaltete
noch dem Hinscheidenden ihre Süsse. „Geschlossen war
mein Aug\ doch angeblickt hat meine SeeF beständig ihr
Gesichte, sie sah mich an beseeligt und verzückt und geister-
haft bestrahlt vom Mondenlichte^^ Was die Marterblume
und ihr Toter kosen, das Geheimnis nahm er mit ins Grab.
Ja, diese Blume war von ganz besonderer Art Sie war
keine deutsche Rose, die sich grüssen lässt, keine Lotos, die
bloss zittert, duftet und leuchtet und am Ende vergehen
will vor Liebe und Liebesweh. Diese oberste und reifste
Blüte lyrischer Empfindungswelt strömte einen betäubenden
Duft aus, mit einem Wurm im Marke, der etwas Giftiges
in den exotischen Wohlgeruch mischte. Ob dieser Wurm
wirklich das Jüdische in Heine war oder nicht vielmehr
das allen Genialen jeder Rasse gemeinsame Nagen der
unteren Erkenntnis, die noch nicht den Einklang zwischen
dem Allzumenschlich-Gemeinen des sinnlichen Ichs und den
oberen Aspirationen des Unbewussten fand?
Die blaue Blume der Romantik aber war es nicht, es
sei denn, man fasse dies verwaschene Wort in so weitem
Sinne, dass man Byron und auch den jungen Goethe darin
unterbringen kann. Die deutsche Romantik befliss sich des
— 343 —
verbohrten Rückwärtsschauens und strich die Wirklichkeit
als färb- und bedeutungslos, um sich in bleiche Traum-
lande einzuspinnen. Heine schaute immer vorwärts und
strotzte von rotem Blut der Lebensfreude, die sich mit
durstigen Sinnen an das Irdische klammerte und ihm unge-
ahnte Schönheitsnuancen abgewann.
Die Gestaltungsgabe der Fabulierer und das Dramatische
blieben ihm versagt Seine Tragödien „RadclifP'^ und
„Almansor", bei denen er das Flügelrauschen eines Adlers
zu vernehmen glaubte, zerschmolzen in Nachtigallklagen und
sein Gedicht Almansor wirkt (im Buch der Lieder) dramatischer
als sein Drama. Die gut angesetzte Novelle vom Habbi
von Bacharach blieb Fragment Aber welche meisterliche
Gestaltung des Realen steckt in einzelnen runden Stimmungs-
stücken, wie in dem vom einsamen Pfarrerhaus und vom
Försterhaus (,,zu ihren Füssen schmiegt sich des Yaters
Dachs'*) und vom Harzmädel. Seine besten Lyrika — man
braucht nicht an Balladeskes wie „Es folgte Edith Schwanen-
hals der Leiche ihrer Liebe'' zu denken — knüpfen an reale
Gegenständlichkeit einer Landschaft an. Ein klassisches
Beispiel dafür: „Am fernen Horizonte erscheint wie ein
Nebelbild die Stadt mit ihren Türmen in Abenddämmrung
gehüllt Ein feuchter Windzug kräuselt die graue Wasser-
bahn, mit traurigem Takte rudert der Schiffer in seinem
Kahn". Das ist Hamburg ganz und gar, in poetischen Duft
getaucht.
Dass der jüdische Esprit viel Ähnlichkeit mit dem
französischen habe, ward von jeher bemerkt Heine und
der geistreichelnde Börne, dessen Geschwätz über Goethe,
den .,gereimten Knecht", man ihm hätte um die Ohren
schlagen sollen, hatten ihre Klingen tief in französische
Essenzen getaucht Dass Heine sich eine gewisse französische
Leichtigkeit und Natürlichkeit des Tons und der Lebens-
haltung aneignete, wie es der Deutsche sonst nicht vermag,
könnte wohl als jüdisch und deshalb als ein Stück seiner
besonderen Eigenart innerhalb der deutschen Literatur
angenommen werden. Assimilieren, Adoptieren, die ver-
schiedensten Elemente assoziieren, die verschiedenen National-
geister begreifen und all dies Fremde kombinieren, dürfte
— 344 —
wohl sonst die einzige Gabe der künstlerisch physiognomie-
losen Judenkunst ausmachen. Ihrer orientalischen Abkunft
erinnert sie sich mehr mit dem Kopfe als mit dem Herzen,
die Palmen und Cedem Palästinas winken nur sehr fem in
ihre ultramoderne Welt herüber. Jeder Jude möchte
im Zionistenstaat der Herren Herzl und Nordau nur aus-
wärtige Gesandtschaftsposten einnehmen, da es in der alten
Heimat weder „Papierche^^ noch literarische Börsenmanöver
noch zu beschummelnde Gojim als bewundernde Zuschauer
gibt Wenn also in der von Juden in arischer Sprache
verfassten Poesie das Jüdische zum Ausdruck kommt, so
sicher nicht als etwas Orientalisches. Doch Versuche, das
spezifisch Jüdische in Heine und Anderen festzustellen,
machen sich die Sache sehr leicht. Denn diese ,4ranzösische^^
Leichtigkeit und Brillanz des Stils, welche man auch bei
jüdischen Publizisten wie Harden entdecken kann, wird man
in ziemlich gleicher Art bei manchen Teutonen der Heine-
zeit wiederfinden, z. B. bei AuMtzen von Gutzkow, Laube
und anderen Jung-Deutschen, bei der epigrammatischen
Eleganz von Georg Büchner, endlich in unseren Tagen bei
Nietzsche, der freilich nur ein polnischer Halbdeutscher,
doch alles eher als Jude war. Und die Ironie, der beissende
Witz? Steht er etwa dem Urgermanen Byron im „Don
Juan^^ minder zu Gebote? Der sinnliche Gynismus? Strotzen
nicht viele Franzosen davon, liebten nicht Grabbe und
Büchner, beides Zeitgenossen Heines, dergleichen? Immer-
hin dürfte ein gewisses Behagen an Unfläterei, obschon man
hierbei an Rabelais und unsern alten Papa Wieland, an
Heinse und Callot-Hoffmann sich erinnern sollte, als ein
Nachgeruch des schmutzigen Ghetto in Heine herumspuken.
Er selber aber denkt anders. In „Shakespeares Frauen
und Mädchen^^ feiert er die Verwandtschaft des Deutschen
mit dem Jüdischen Geiste: in Tiefe des Gedankens, Ernst
des Gefühls und Sittlichkeit! Das klingt sehr anmassend und
sehr spassig, und doch glauben die Juden merkwürdiger-
weise an diese innere Verwandtschaft, hegen oft eine Art
unglücklicher liebe für das Deutschtum. Ach! wenn ein
englischer Jude etwa umgekehrt sich dem Engländer ver-
wandt erklären würde wegen praktischer Klugheit Unter-
— 345 —
nehmuDgslust und Zähigkeit, so würde wohl Keiner wähnen,
dass ausser solchen Äusserllchkeiten des niederen Lebens
irgendwelche Ähnlichkeit im höheren obwalte, dass Shakes-
speare und Byron irgendwie dem Jüdischen verwandt seien!
Allein, obiges Selbstlob Heines für seine Rasse ist nicht
ganz so töricht, wie es aussieht Er verwechselt nur Tiefe
des Gefühls, mit einer nervös leidenschaftlichen, begehrlich
hingebenden Empfindsamkeit Die Vermählung dieser
angeblich Verwandten sah Heine nun wohl in sich selber,
und nichts kann daher falscher sein, als ihn geflissentlicher
Französelei zu bezichtigen. Im Gegenteil fühlte er so aus-
schliesslich, ja fast borniert deutsch, dass man eher sagen
könnte: grade seine Unfähigkeit, Engländer und Franzosen
richtig zu würdigen, sei etwas Undeutsches gewesen, was
unserm kosmopolitischen Verständnis für fremde Eigenart
fernlag ! Er staunt, dass die Engländer Shakespeare hervor-
brachten, ein Volk, so stupid, so geistlos, so englisch! Er
bespöttelt die französische Literatur und lässt gegen seinen
Pariser Seelenverwandten Musset, den er anlässlich seines
Kheinlieds einen ,Gassen jungen^ schimpft, den glänzenden,
aber schnöd ungerechten Witz los: „Er gleicht jenen künst-
lichen Buinen in herrschaftlichen Parks, die mit der Zeit
wirklich verwittern/' Dass sein Napoleonkult damals von
den besten Deutschen geteilt wurde, Heine selbst aber sogar
unpassend davon zurückkam, hat Holzhausen ,Heine und
Napoleon' dokumentär dargelegt, welches glänzend geschrie-
bene Buch wir nur allseitig empfehlen können. Heines
Franzosenliebe, teils in den politischen Zuständen Deutsch-
lands begründet, teils gefühlsmässiger allgemeiner Freiheits-
poesie entsprechend, kühlte sich im Exil völlig ab. Sein
Buch ,Lutetia' lässt durchaus die Wärme vermissen, womit
seine Abhandlungen über Deutsche Poesie und Romantische
Schule auch den Franzosen Ehrfurcht vor allem Deutschen
beibringen wollen. Mit tiefem Verständnis und in genialen
Gleichnissen erhebt er den Genius des Nibelungenlieds.
Selbst Uhland, dessen lächerliche Überschätzung ihn zum
Spott reizen musste, kommt sehr glimpflich bei ihm weg.
Dass man sein Urteil über zeitgenössische Dichter un-
fein und gehässig fand, lässt sich nur durch blöde Vor-
— 346 —
eingenommenheit erklären, die Heines gutes Recht dazu
nicht begreifen, seine eigene überragende Grösse nicht er-
kennen will. Gewiss, Flatens Abschlachtung in den „Bädern
7on Lucca^^ geht an sich über die Grenzen des Zulässigen
hinaus und der tolle Rabelaissche Humor überschlägt sich
hier in burschikoser ünflätigkeit Die jüdische Bachsucht,
eine Basseneigentümlichkeit, tobte sich überhaupt öfters bei
ihm aus, wie sein langweiliges Spottverfolgen des trefflichen
Massmann traurig belegt Aber andre Leute sind auch rach-
süchtig und wir hörten als Eind selber Massmann auf Frage
Major Beitzkes (des Historikers der Befreiungskriege), was
er wohl Heine getan haben möge, triumphierend antworten:
„Durchgewalkt hab' ich ihn/^ Der Grund, weshalb dies ge-
schah — weil Student Heine sich über Student Massmanns
Mutter lustig gemacht habe — , würde dem Hebräer gewiss
Unehre machen, doch liegt das Warum offen zu Tage, dass
nämlich Massmann mit ostentativstem Diogenesstolz diese
brave Waschfrau öffentlich paradieren Hess und hiedurch
Heines ohnehin gegen die Teutomanen gereizte Ironie her-
ausforderte. Man darf und soll all die kleinen Läppereien,
die über Heines Boshaftigkeit in Umlauf gehen, nicht prü-
fungslos übernehmen. Lassalle selbst erzählte mal, er habe,
den kranken Heine in Paris besuchend, ihn voll Begeisterung
verlassen und dann wegen seines vergessenen Stocks um-
kehren müssen: da habe er Heine sich in Lachkrämpfen
winden sehen, offenbar höchlich belustigt über die Sozialismus-
tiraden und wahrscheinlich posierenden Prahlereien seines
jungen Verehrers. Natürlich verzieh Lassalle dies nie, zu-
mal Heine ihm seinen geliebten Platen zerpflückte. Aber
hätte nicht noch Anderen dies Unglück passieren können,
einen jugendlichen Phraseur, den er für einen Faiseur hält,
auszulachen , geschweige dem durchdringenden Spott-
geist des grossen Ironikers? Und bot nicht Platens
platonische Päderastie ihm sozusagen ein gesundes
Fressen? Hatte der Grössenwahn des ,edlen Dichters'
nicht gegen den , frechen Juden jungen^ einen hoch-
gräflichen Ton angeschlagen? Wahrlich, bei solchen
Vorgängen im wahren Reiche des Geistes, wohin freilich
jüdisches Literatentum sonst nirht vorzudringen pflegt, wenn
— 347 —
man eigene Inferiorität bloss mit dem Mantel des Ghristlich-
gennanischen decken will, stehen wir ganz auf Seite des
Juden. Auch verleugnet sich selbst hier in persönlicher
Fehde nicht die echte Genialität, die hinterm Zufällig- Indivi-
duellen immer das Typische, die „Idee^^ sucht. Denn die
späteren unsterblichen Verse: ,,Eine grosse Tat in Worten . .
wahre Prinzen aus Genieland zahlen bar, was sie verzehrt^^
geissein eine ganze nie aussterbende Gattung: „Tot ist zwar
der alte Junker, doch sein Same lebt noch heut. . . Meine
teuern Hallermünder, o ich kenn* euch gar zu gut/^
Man sagt, Heine habe sich selbst gegen den besten
Freund einen Witz nicht verkneifen können. Nun, seine
Freunde waren danach! Und wenn er Bekannte in dem
klassischen Lobgesang auf die zwei edeln Polen — wohl-
gemerkt auch hier nur als Allgemeintypen des Polentums
— verhöhnte, so weiss man andrerseits, dass Heines Tasche
den politischen Flüchtlingen immer ofTenstand und seine
Gutmütigkeit sich oft genug brandschatzen Hess. Die ihm
von Guizot bezahlte Pension, worüber die Maulpatrioten sa
viel Lärm schlagen, sieht im Lichte neuerer Forschung recht
harmlos aus und neunzig Prozent der Moralheuchler hätten
in gleichen Umständen gradesogut diesen Ehrensold einge-
steckt. Grabbe, dessen urdeutsche Art Heine pietätvoll
ehrte, schimpfte auf den .Judenjungen^: der ,rachsüchtige'^
Heine schrieb über ihn das ehrendste Urteil nieder. Handelt
so ein Charakterloser?
Er lebte nicht wie ein Hermhuter, sondern wie jeder
Pariser, vor seiner törichten Ehe mit der dummen dicken
Mathilde, seiner Christiane Vulpius . . o der Schandkerl!
Er wusste nicht Haus zu halten und machte Schulden . .
o der Lump! Von steinreichen Verwandten, die heut noch
mit seinem unsterblichen Namen herumstolzieren und sich
mit seinem Ruhme brüsten, — eine Heine heiratete bekannt-
lich den Fürsten von Monaco und brannte gelegentlich mit
dem jüdischen Komponisten Lara durch — , verlangte er
pekuniäre Unterstützung . . o der Elende! All diese unbe-
zahlbare Komik hat wenigstens das ernste Verdienst, dass
Heine auf sie das unbezahlbare Wort „die zahlungsfähige
Moral" münzte.
— 348 —
Da sehe man übrigens, wie verlogen das Judentum
seinen Kultus des Geistes und seine Opferfreudigkeit für
geistige Oüter vorschwindelt! Welche pekuniären Opfer hat
seine Rasse denn für den Einzigen gebracht, der ihr Ein-
lass in arische Oemütswelt und arischen Besitzstand ver-
schaffte? Und glaubt man wirklich, dass die Juden das
Ewige in Heine bewundern, das freilich weder jüdisch noch
arisch, sondern im Oenieland geboren ist? Nie vergessen
wir, wie ein Jude vor uns für Heine schwärmte und als
Beleg was zitierte? Das schweinische Schelmenlied „In einem
P — sspott kam er geschwommen." Fjassen wir also alle
chemischen Blutuntersuchungen bei Seite und kümmern
wir uns gar nicht mehr darum, ob er Hebräer oder Deutscher
war. Ein Oenius war er und das Genie hat in gewissem
Sinne kein Vaterland. Aber gleichzeitig wurzelte er national
genug im heimatlichen Boden, und wenn dieser „vater-
landslose Geselle" überhaupt etwas Nationales hatte, dann
war er in denkbar prononziertester Weise ein Deutscher,
deutscher als die Romantiker, als der Gräkophile Platen
und Ungar Lenau, deutscher als alle modernen Schriftsteller.
„Deutschland, du meine ferne Liebe, gedenk ich deiner,
wein ich fast", seufzte dieser „undeutsche" grosse Dichter
der Deutschen in seinem Pariser glänzenden Elend, sehr
undankbar gegen die einst geliebten Wälschen: ,,Dies leichte
Volk wird mir zur Last." Und mit jener spöttischen Weh-
mut, die er so wundervoll in dem herrlichen Lied „Jetzt
wohin?" austönt, wo er „seinen eignen Stern nirgendwo
erblicken kann", seufzt er tief: „Die Grobheit, die ich einst
genossen im Vaterland, sie war mein Glück." Ihr aber,
die ihr achselzuckt über die tränenstille Silage: „Ich hatte
einst ein schönes Vaterland" „Das flüsterte auf deutsch
und sprach auf deutsch" — ihr, dass ich es nur sage, ihr
seid undeutsch! Seid unwürdig, dass dieser Jude in eurer
Sprache das Deutscheste gedichtet hat. Und wenn ihr
Schwätzer faselt, dies Deutscheste sei eben gar nicht deutsch,
dann kann man auch nur mit Heinescher Ironie antworten:
schade, dann haben wir leider das Deutschtum überschätzt!
Doch es wird euch gar nichts helfen. Die Veilchen
Heinescher Lyrik werden duften und blühen, wenn nur das
— 349 —
dürre Gras auf euren Gräbern wuchert. Ja wahrlich, kaum»
seid ihr begraben, da wuchert das Gras schon wieder . ..
ihr biederen Zinshäufer des Althergebrachten seid immer
wieder da. Was den Heine verlästert, ist das nämliche
Geschlecht abgedörrter Eathederästheten und lederner
Kritikaster, das selbst einen Ganzgrossen, das ByroA
zu den Toten warf. Aber indem dieser heilige Name
unsrer Feder entfliesst, müssen wir freilich bekennen^
dass selbst hier der jüdische Geist in seinem berühmtesten^
Vertreter nicht günstig abschneidet. Denn es bedarf keiner
Erörterung, dass wiederum der Arier das originale Urbild
und der Jude nur eine eigenartig geniale Kopie bedeutet.
Während Byrons tragisches Pathos und Gedankenflug
von Lenau aufgenommen wurden, so dass naive Unkenntnis
ihn den „deutschen Byron*^ zu nennen wagte, setzt sich die
,mobility', die universale Beweglichkeit des ,Herolds der
Weltliteratur', wie ihn Goethe taufte, in Heine fort Aller-
dings kann von wirklicher Anlehnung an Byron keine Bede
sein, so frühzeitig Heine sich in ihn vertiefte und einige
zwar etwas unbeholfene, aber hochpoetische Übersetzungen
(Geisterszene aus Manfred und An Jnez) ihm ablauschte.
Er wehrt sich einmal dagegen, dass man ihn vom ,spleenig
schwarzgalligen^ Lord ableite, sich seiner Lebenslust rühmend,
ohne zu ahnen, wie naiv er damit sein Jüdisches bekennt
Ein andermal freilich verspottet er den Boykott gegen Byron
besonders von selten der englischen Damen, die heimlioli für
ihn erglühen, und erklärt: „Es ist ihr (der Briten) grösster
Dichter.'' Man wäre nun versucht, die ganze Heinepoesie
eine Paraphrase des ,Don Juan' zu nennen, dessen Mischung
von Erhabenstem und Frivolstem, flammender Idealität und
realistischer Spottsucht, Heldenpathos und burlesker Travastie
sich bei Heine übers gesamte Schaffen verbreitet. Doch
würde man damit Heine wohl ebenso Unrecht tun, wie der
heut gang und gäben Meinung, er habe Romantik und Ironie
schlankweg von der Romantischen Schule übernommen.
Heinesche Ironie ist eine ganz andere als die eines Tieck,
seine Romantik grundverschieden von der eines Novalis oder
selbst eines Lenau. Nicht als ob ihm die romantische Flucht
ins Mittelalter und die Kirche fremdgewesen wäre. Kein
— 350 —
Bomantiker hat so tief und gross das Wesen der Gothik
ergründet, wie Heine an einigen Stellen seiner Prosaschriften.
Märchenhaftes zaubert im «Buch der Lieder^ herum, wovon
er sich freilich bald völlig losmachte. Die wundervolle
Ballade der Muttergottes von Eevelaar hat unzählige katho-
lische Gemüter beseligt, die grossartige Ghristusvision auf
der Nordsee nicht minder. Dennoch merkt man durch, dass
Heine dies Rückschauen nur historisch aufPasst, als Wurzel
und Urquell des Ghristlicbgermanischen, das er so gern sich
assimilieren möchte. Seine Romantik ist sozusagen ein
kulturhistorisches Gewand, in dessen Eleidsamkeit sich seine
Muse, modern vom Scheitel bis zur Sohle, aus Schönheits-
gründen einschmiegt. Seine Ironie ironisiert nicht wie die
affektierte Vornehmtuerei Tiecks die Realität an sich, sondern
nur das Schlechte, Hässliche und vor allem Komische der
einzelnen Scheinrealitäten. Die dämonisch olympische Ironie
in Byrons ,Don Juan', wo ein leibhaftiger Gott Lucifer sich
über Eitelkeit der Eitelkeiten zu belustigen scheint, konnte
Heine schon deshalb nicht erreichen, weil er als Augen-
blicksrevolutionär an Zeiterscheinungen klebte. Ihm fehlt
apollinischer Humor homerischen Gelächters, das dort der
höchste Genius über Welt und Dasein anschlägt, verbunden
mit subtilster Aushöhnung philosophischer Systeme und
theologischer Schrullen. Grade der weniger bewunderte
Schlussteil des ,Don Juan^ enthällt zahlreiche Strophen
von nie dagewesener Denkerkraft, indem hier das im
,Cain^ mit grossartigem Ernst Gedachte sich in lustvolle
Freiheit einer (freilich nur scheinbaren) triumphierenden
Skepsis verwandelt, neben der Montaigne und Swift matt
und ledern verblassen. Neben solcher Genietat kommen
einem selbst Heines aristophanische Orgien ziemlich harm-
los vor. Und wenn wir gar den ganzen Byron mit dem
ganzen Heine vergleichen, so steht der bedeutendste Jude
doch nur wie ein Knirps neben dem arischen Riesen.
Dies betonte, unserm Beispiel folgend, auch Professor
Harnack beim Heinejubiläum und es wirft ein Licht auf
jüdische Unverfrorenheit, wenn von dieser Seite wir — aus-
gerechnet wir — als ,,Berufenster*' aufgefordert wurden,
gegen diesen sonst überaus heinefreundlichen Aufsatz
.— 351 —
Harnacks Stellung zu nehoieu. Wir erwiderten wörtlich:
wer Heine herabsetze, weil er Jude sei, verdiene nicht mehr
Verachtung, als wenn man umgekehrt Heine raasslos auf-
blase, gleichfalls weil er Jude sei. In der Tat, viel vom so
ungerechten Rückschlag gegen die Heinevergötterung lässt
sich entschuldigen durch die gerechte Entrüstung über
die ausschliessliche Weltreklame des Judentums für den
Stammesgenossen, den man allein von allen deutschen
Dichtern im Ausland — nicht nur in Frankreich, sondein auch
England und Italien — populär gemacht hat Selbst wenn
man nicht abgeneigt, ihn wirklich als ,,grössten deutschen
Dichter nach Goethe^' anzuerkennen, so wird man solche Rang-
abstufung immerhin erst prüfen müssen, wo es sich um
einen Nur-Lyriker handelt Da liesse sich lang und breit von
Unter- und Überschätzung der Lyrik reden. Denn einerseits
belächelt oder begähnt sie der Kunstbanause, andrerseits
wird ihr traditionell über Gebühr gehuldigt
Tollstes in dieser Hinsicht leistet der Burnskult: Ein
gebildeter Schotte sagte uns einmal ernsthaft bei einer Fahrt
durchs ,Biii^QS-Land^ (Dumfriesshire), dass man ,,in tbis
country" Burns in seiner Weise für giadeso gross als
Shakespeare halte, und Carlyles kindische Burnsraserei
stellte seinen Landsmann hoch über Byron. Demgegenüber
muss der schwereren Arbeit des Epikers und Dramatikers
ihr Recht gewahrt bleiben. Ein schlechtes Drama und einen
massigen Roman schreiben, erfordert mehr Talent als einen
Band mittelguter Gedichte zurechtbringen. Wenn wir Hebbel
und Grillparzer abstraktpoetisch tief unter Heine und Lenau
stellen, so stehen erstere andrerseits hoch über Uhland,
Platen, Geibel. Erst dann wird der Lyriker, also der
eigentliche Sänger, ein Ebenbürtiger des Dramatikers, wenn
er aufs maningfaltigste die Tragödien und Komödien seiner
eigenen Subjektivität vor uns abspielt Alsdann kann er
der berufenste Vertreter seiner Zeitseele werden.
Dies triflft wie bei kaum einem Zweiten bei Heine
zu, dessen ,Buch der Lieder', obschon vielfach sein
schwächstes Buch und von den Nordseebildern, Neuen
Gedichten und Lamentationen künstlerisch weit übertroffen,
ein vollständiges Tagebuch eines Menschen vormärzlicher
— 352 —
Ära darstellt Grade dass hier auf ergreifende Herzens-
sohreie flotte leichtsinnige Schnarren folgen, dass tiefsinnige
Meisterljrik wie „Der Tod, das ist die kühle Nacht^^ neben
barschikosem Scherzo wie „Mir träumt ich bin der liebe
Oott'^ als Tagebuchblätter geschrieben stehen, macht den
besonderen Reiz aus. Übrigens will hier auch sentimentaler
Überschwang kulturhistorisch genossen werden, da er damaligem
Milieu entsprach. Das unglückselige Weib, das mit ihren
Tränen vergiftet, gehörte mit zur Theatergarderobe dieser
zerrissenblasierten Schöngeistergesellschaft, „sie sassen und
tranken am Teetisch und sprachen von Liebe viel.^' Übrigens
möchten wir alle, die sich vor des unglückseligen Weibes und
anderen Tränenbächen Heines ekeln, erst auffordern, den
herrlichen Yersfluss und die innere Melodik dieser Lieder
nachzumachen, die ihre Weltberühmtheit immer noch teil-
weise verdienen.
Fassen wir nun kurz Heines wirkliche Verdienste zu-
sammen. Er war so ziemlich der geistreichste Mensch, der
je die Feder zu espritvoller Prosa ansetzte, nnd schuf einen
neuen Stil, rettete ihn von den Unarten der Goetheschen
Steifheit und Wichtigtuerei, die alle himmlische Urfrische
des Werther später einbüsste und auf gezierten Sprachstelzen
wandelte. Und wenn die besten deutschen Stilisten der
Jahrhundertwende, Freytag und Treitschke, wieder in den
Geheimratston verfielen, so schuldeten sie die gewandtere
Leichtigkeit des Satzbaus gleichfalls nur Heine. Dieser —
und gar Börne, den Heine als seine eigene Karikatur hasste
— schadete freilich auch, indem er das seichtelegante
Feuilleton der hebräischen, besonders Wiener Schule be-
fruchtete Selbst der blendendste Publizist deutscher Zunge,
Felix Wittkowsky — getauft als Maximilian Harden — ,
stammt von ihm her, nicht von kleinen Französchen wie
Sarcey und Lemaitre, die er immer im Munde führt. Solche
Früchte wird man sich gefallen lassen, wenn man das
sonstige banale Zeitungsdeutsch damit vergleicht Dass aber
diese Heinesche Prosa, deren Glanz in Landschafterei,
Stimmungsträumerei, Seelenskizze, kulturhistorischer und
ästhetischer ernster Betrachtung, vornehmer Ironie und
unvornehmer Lustigkeit überall gleichmässig strahlt, reinweg
— 353 —
..französisch^^ klinge, gehört mit zu den Urteilen jener Klasse,
von der Tolstoi grob die Wahrheit zum Besten gibt: „E[ritiker
das sind die Dummen, die über die Klugen schreiben".
Denn französisch ist gamichts daran, als dass Heine
bewies, man könne auch im Deutschen die knappen und
klaren Sätze des Französischen anwenden , statt endloser Ein-
schachtelungen und Perioden. Was aber hier klingt und
duftet, ist viel lebendiger, anschaulicher und blühender, hat
weit mehr Frische, Farbe und Fleisch als die französische
Glätte, die wie ein spitzes schmales Floret hin und herzuckt:
Heine aber handhabt sein geliebtes Deutsch wie einen
Flamberg in funkelnder Sonne.
Heine ist ferner der grösste Satiriker der Deutschen
und der mittelalterlichen Plumpheit Huttens weit überlegen.
Seine juvenalische Ader blutete so reich sich aus, dass
kaum Swift mit grellerem Blutrot morsche Torschwellen
beschmiert als Bote der heiligen Yehme. Man denke nur
als beliebige Probe an die klassischen und noch heute
„aktuellen" Spottverse über die Achtundvierziger-Schwärmerei :
,,Aach eine Flotte will Oott uns bescbeereo, die patriotische
Überkraft
Wird rüstig mdem aof dentscben Galeeren, die Prügelstrafe
wird abgeschafft
Der Frühling kommt, es platzen die Soboten, frm atmet der
Mensch in der freien Natur,
Und wird unser ganzer Verlag verboten, verschwindet am
Ende von selbst die Zensur."
Der grosse Künstler des Prosastils war endlich der
grösste Lyrikkünstler aller Zeiten, falls man darunter eine
bewusste und durchdachte Technik versteht. Die Goethe-
bonzen wollen dies natürlich nicht Wort haben. Dem Ge-
schwätz, Heine habe seinen Yersstil von Goethe entlehnt,
könnte man mit gleicher Münze des Unsinns dienen, Goethe
habe den seinen vom Yolkslied entlehnt, was bezüglich Erl-
könig und Haideröslein sogar in plagiatorischem Sinne zu-
trifft. Dass ein kleiner Kern Goethescher Lyrik — die
Mignonlieder, König von Thule, Grenzen der Menschheit,
Füllest wieder Busch und Tal, Über allen Wipfeln ist Ruh
u. s. w. — aus lauter Krondiamanten besteht, hebt nicht auf,
dass die Hauptmasse seiner Reflexions- und Gelegenheits-
Bleibtren: Die Vertreter des Jtbrhandertfl. 23
— 354 —
gedichte vom Standpunkt künstlerischer Technik aus fast
gar keinen Wert besitzt. Heines Technik meistert hingegen
gleichmässig in allen Gattungen der Lyrik. Ein geschicht-
liches Bomanzerolied wie ,, Frohlockst, Plantagenet, und
glaubst^^ oder ,,Bichard Löwenherz^^ trägt genau die gleichen
Kennzeichen knapper Abrundung und hingehauchter Frische,
wie seine Liebes- oder Naturstimmungslieder. Dass Heine
auch der Breite ihr Becht liess, wo diese angebracht, zeigen
„Finsternis", „Nordseebilder", ,,An die Mouche" und ähnliches.
(In „Atta Troll" tut er in epischer Breite sogar des Guten
zu viel.) Im Allgemeinen aber stellte er zuerst als Gesetz
auf, das Lied habe auf knappsten Baum grösstmögliche Fülle
zusammenzudrängen. Das eigentliche Heinesche Lied bat
also nur vier, oft nur zwei, am besten aber drei Strophen,
die wie Prämisse, Hypothese, Konklusion aufeinanderfolgen.
Als künstliche Antithese wirkt es aber nie, weil das Ganze
als fertiger plastischer Organismus vor uns ins Leben springt
und wir von den Atelierspänen des rastlos zusammen-
streichenden Feilens nichts gewahren. Musterhaft spielt
auch die Kunst der Introduktion, des unwiderstehlichen Auf-
rollens der Vorstellung gleich mit der ersten Zeile. Was
völlig mühelos hingehaucht scheint, hat tiefer Kunst-
verstand eraibeitet. Und so hat sich Heine einen eigenen
Ton geschaffen, der ihn völlig von jeder anderen Vortrags-
weise unterscheidet Mag man Goethes beste Lyrik wie
Blume schweren Bheinweins schlürfen, bei Heine gibt es
eine reiche Auswahl von schäumendem Champagner, perlen-
dem Mosel, klarem Bordeaux und süssschwellendem Tokayer.
Dies Gleichnis hinkt jedoch, denn in seiner Musterkarte sind
alle Weine deutsch mit nur leichtem Beisatz jener Trauben
von Kanaan, die schon Josuas Kundschafter rühmten. For-
schen wir aber, worin der unnennbare Beiz seiner Melodie
bestehe, so widerlegt die Begründung gleichzeitig den so oft
erhobenen Vorwurf der Unwahrhaftigkeit aufs schlagendste.
Es ist nämlich einfach die ungewöhnliche Natürlichkeit
und Ehrlichkeit des Tons, was die Menschen aller Stände hier
so eigentümlich fasciniert Wer hat nicht Naive schon
äussern hören, Heine sei so „natürlich", das sei alles wie
hingesprochen! Allerdings fiel dies Natürliche nicht gleich
— 355 —
Tom Himmel, die zwei berühmten Strophen „Du bist wie
eine Blume^^ oder ,,Ein Fichtenbaum steht einsam^^ ent-
standen aus Brouillon zahlreicher Strophen. Allein, das
Ursprünglich - Natürliche des sprachlichen Wurfs, der sich
intuitiv der Konzeption vermählt, bleibt hier nichtsdesto-
weniger ein inspirierter Naturlaut Dieser Dichter spricht
wie die Natur, die Natur spricht durch ihn. Sie hat freilich
verschiedene Töne und bei Goethe spricht sie weihevoller,
getragener, um so alberner die Behauptung, dass solche
Orundverschiedenheit sich decke. Nein, auch Heine hatte,
wie Goethe von Byron singt, einen „eigensten Gesang". Mit
gleichgültiger Sicherheit wählt er oft scheinbar banale und
prosaische Wendungen, die aber bei ihm wie lauterste
Poesie klingen, und seine souveraine Beherrschung der
Sprache wählte absichtlich das an sich Disharmonische, um
daraus den herben Vollklang zu gewinnen. Die paar von
uns früher gekennzeichneten Süsslichkeiten im ,Buch der
Lieder' abgerechnet, wird Heines Verssprache immer derber,
vollsaftiger, realistischer. Selbst sein Suchen nach ungewöhn-
lichen Reimen, was man als raffinierte Mätzchen auslegte,
kam ihm ganz unwillkürlich im Streben, alles Konventionelle
der „schönen" Sprache abzustreifen. Das Harsche, Harte,
dem Banausengefühl Prosaische wirkt bei ihm immer
dämonisch. „Die Raben krächzten abscheulich" in der
Hastingsballade ist kein ausgeklügelter Notreim auf „Lailich",
sondern ein unheimlicher Naturschrei. Unter seinen Ge-
dichten letzter Periode findet sich eins, in dem sich klar
ausprägt, was wir meinen:
„Wenn dich ein Weib verraten hat, so nimm dir flugs eine andre!
Noch besser wär*8, da licssest die Stadt, nimm den Ranzen
und wandre!
Du kommst zu einem blauen See, umkränzt von Trauerweiden,
Dort wirfst du ab dein kleines Weh und deine engen Leiden.
Und wenn du auf die Berge steigst, wirst du beträchtlioh
ächzon,
Doch wenn du dann den Gipfel erreichst, hörst du den Adler
krächzen.
Dort wirst du seihst zum Adler fast, du fühlst dich wie
neugeboren,
Du fühlst dich frei, du fühlst, du hast da unten nicht viel
verloren !'*
23^
— 356 —
Das ist die höchste Poesie, erhebend, gewaltig, grade
weil dies Gewaltige so schlicht and schmucklos hingeplaudert.
„Beträchtlich ächzen^, mein Gott, wie prosaisch! seufzt der
Bierphilister. Dem Eunstgeniesser aber ist dies beträchtliche
Ächzen ein Hochgenuss auserlesener Feinheit
Unaufrichtig seine Liebes- und anderen Schmerzen?
Was ihr nicht sagt! Wir fürchten sehr, dass nur der so
blasphemiert, dem nie eine Leidenschaft und nie die Mystik
der Liebe im Herzen gewohnt.
„Mir träumte, traurig schiene der Mond und traurig
schienen die Sterne . . es zog mich zur Stadt, wo
Liebchen wohnt, vielhundert Meilen ferne. Ich stand vor
ihres Hauses Tür, ich küsste die Steine der Treppe, die oft
ihr kleiner Fuss berührt und ihres Kleides Schleppe. Die
Nacht war still, die Nacht war kalt, es waren so kalt die
Steine . . es lugt aus dem Fenster die bleiche Gestalt, beleuchtet
vom Mondenscheine.^^ Dass dies unendlich einfach in seiner
düstem Schönheit ist, bestreitet wohl niemand: weshalb denn
unaufrichtig? Die Heuchelei pflegt sich gewählter auszu-
drücken. Das berühmte „Und das Wort hab' ich vergessen^^
wuchs auf sehr leiddurchwühltem Acker des Genies. Wer
aber vollends das antithetische Meisterwerk „Ich hab im
Traum geweinet" wegen seiner äuseren Tränenseligkeit
anpöbelt, dem sind solche psychologischen Tiefen der
Liebestragödie verschlossen. Nein, hier ist alles echt Echt
die trotzige Wildheit, die ihre Liebe selbst den Weltensturz
überdauern lassen will. Echt die unendliche Wehmut des
„Ich will dir nie gestehen, dass ich dich geliebet hab', und
wenn du stirbst, so will ich weinen auf deinem Grab". Echt
das brünstige Lallen, das dumme Banausen als grellen
Misslaut empfanden: „Madame, ich liebe Sie^ Ja, selbst
eine offenbare Geschmacklosigkeit wie in den Nordseebildem
der Harpyenschwanz des spöttischen Anhängsels zur Christus-
vision, entspringt dieser inneren Ehrlichkeit. Dass ein so
grosser Künstler sonst recht wohl verstanden hätte, wie
sehr er damit ästhetisch seine Schöpfung schädigte, liegt
auf der Hand. Aber Heine wollte um keinen Preis
seine wahre Überzeugung verleugnen, noch die Vermutung
aufkommen lassen, ein so inniger Anbeter Christi flüchte
— 357 —
am Ende in den Muttersohooss der Eiichlichkeit Und echt,
wir wiederholen es, war sein Deutsch-Empfinden.
Wenn er sich aach als Jude bekennt, wie in dem
höhnischen Gedieht von der hochgeborenen hebräerhassenden
Spanierin, deren Liebster sieh als Jude entpuppt, so lässt
er sich andrerseits den lieben Nationalhelden David nicht
entgehen in dem fürchterlichem Romanzerosymboi: „Sterbend
lächelt der Despot . . dass ich Joab dir empfehle, einen
meiner Generäle'^ Es hat eine tiefere Bedeutung, wenn er
düster singt: „Keine Messe wird man singen, keinen Eadosch
wird man sagen, nichts gesagt und nichts gesungen wird an
meinen Sterbetagen'^ Denn er stand dem Jüdischen innerlich
geradeso fem wie dem Kirchlichen. Sein Messias war ihm
Napoleon gewesen, dessen Hindurchreiten durch die Düssel-
dorfer Allee er im „Le Grand'^ so genial symbolisierte
und dessen Aschenheimkehr nach Paris ihm noch das
Bekenntnis entpresste: „Ich seufze tief beklommen, da ich
den alten Liebesruf, das Yive TEmpereur vernommen''. Von
deutschen Kaisern wollte er freilich nicht viel wissen und
seine geniale Kyffhäuserparodie im „Wintermärchen^' ver-
stehen wir heute besser denn je, wo wir dies von ihm
Geahnte bewahrheitet und alten Feudalplunder mit Barbarossa
wieder auferstehen sahen. Dies „so brauchen wir gar keinen
Kaiser' bat ihn natürlich bei allen Hurrapatrioten anrüchig
gemacht Aber deshalb die deutsche Gesinnung dessen zu
verdächtigen geht wohl nicht an, der alle deutschen Braten-
barden mit dem einen unvergleichlichen Vaterlandslied tot-
schlug: „Deutschland ist noch ein kleines Kind, doch die
Sonne ist seine Amme^\ das kein echter Deutscher ohne
Herzklopfen hören sollte. Nirgendwo hat echter deutscher
Nationalstolz so grosse Worte gelassen ausgesprochen.
Jene Horden des unechten Pöbelantisemitismus, die ihre
albernen Reimereien „Deutschland über alles" oder „Wacht
am Rhein'' herbrüllen und mit „Juden raus" untermischen,
sollten mit Erröten sich des Juden erinnern, der in Pariser
Verbannung und Leid, verzehrt von bitterm gerechtem Haas
gegen hundsfeige deutsche Michelei und unsagbare Stänkerei
der Reaktion, seinem innersten Herzen dies majestätische
Trutzlied deutscher Herrlichkeit entriss. Heut kann das
— 358 —
jeder Wicht; damals spuckte ganz Europa auf uns herab,
und dieser Jude, den Deutschland ausstiess und das eitle
Frankreich huldvoll als Franzosen empfing, wagte der Welt
zuzurufen: „Ihr Nachbarskinder, hütet euch, mit dem jungen
Biesen zu hadern!^' Er hat es nicht mehr geschaut, was
sein Auferstehungsjauchzen uns zurief:
„Ja, du wirst einst wie Siegfried sein and töten den
hässlichen Drachen:
Heisa, wie freudig vom Himmel herab wird deine Frau
Amme lachen T^
Wenn, der solches sang, kein guter Deutscher, wer ist
dann einer !^)
Wie ein prophetisches Sinnbild seiner eigenen scheiden-
den Sonnengrösse, die ihr Liebstes, ihr Deutschtum verlor,
erhebt sich strahlend der Schlussakkord jenes wie in drei
Stockwerken einer stossweisen Inspiration aufgebauten drei-
strophigen Meistersangs, wo fern am Horizonte wie ein
Nebelbild zu des Lebensruders traurigem Takt die Er-
innerung erscheint:
,,Die Sonne hebt sich noch einmal leuchtend vom
Boden empor
Und zeigt mir jene Stelle, wo ich das Liebste verlor.^
Wenn, der solches sang, kein grosser Dichter, wer ist
dann einer!
«,Und sie seufzet: Pauvre homme! Feuchte Wehmut in
den Blicken^^, sah der Sterbende bloss die dicke Mathilde
sein Orab besuchen. Er irrte. Kaiserinnen und Fürsten
des Geistes pilgerten zu seinem Grab und haben es mit
Kränzen überschüttet. Pauvre homme! Armer Heine! Sein
altes Mütterchen, Rachelchen aus Geldern, das er in einer
Widmung mit durchsichtiger, aber wohlfeiler Selbstironie
„geborene v. Geldern^^ taufte, hat er sein Lebenlang zärtlich
und treu geliebt Und seine grosse strenge Mutter Deutsch-
land, an deren Busenquell, den heiligen Rhein, seine Wiege
^) Wir erinnern uns, dass wir als Jüngh'ng in London, von jedem
dentBchen Verkehr getrennt, von einem alten englischen Freund ein seltenes
EäLemplar der ersten Originalausgabe der ,Jungen Leiden^^ bekamen und
dass dies Buch uns mit einem Gefühl des Deutschtums mitten in unsrer
Engländerei übermannte, das wir niemals vergessen haben.
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