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Full text of "Die hysterischen Geistesstörungen: Eine klinische Studie/ von Emil Raimann"

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HARVARD LAW LIBRARY 



e,«mJAN 6 1922 



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HYSTERISCHEN 



GEISTESSTÖRUNGEN 



EINE KLINISCHE STUDIE 



VON 



D« EMIL R AI MANN 

ASSISTENT DER K. K. PSYCHIATRISCHEX UND XERVENKLINIK 
DES HERRN PROFESSOR v. WAGJiEB IN WIEN. 



LEIPZIG UND WIEN. 

FRANZ D E U T I O K E. 

1904. 



y. • 












Verlags-Nr. 1046. 



JAN 6 1922 



»* 



Druck von Rudolf M. Rohrer in Briinn. 



Vorwort. 



Das vorliegende Buch enthält die Ergebnisse einer mehrjährigen 
Beschäftigung mit Hysterischen. Die persönliche Bekanntschaft eines Teiles 
derselben, zumeist sozial höher stehenden Kreisen angehörig, vermittelte ein 
Privatsanatorium; schwere Fälle hysterischer Geistesstörung konnten in 
der psychiatrischen Klinik der Wiener Irrenanstalt eingehend und durch 
längere Zeit studiert werden; endlich bot die Beobachtungsstation sowie 
die Nervenklinik des Wiener allgemeinen Krankenhauses eine reiche 
Auswahl akuter Hysterien. Die Vielseitigkeit, die geradezu verwirrende 
Fülle wechselnder Bilder regten an zum Nachdenken über die gemein- 
same Grundlage. •'/'' 

Die Hysterie repräsentiert unzweifelhaft ein Grenzgebiet. Zahlreiche 
dieser Patienten werden auf internen Kliniken und Abteilungen be- 
handelt, andere kommen in die Hände der Chirurgen und Gynäkologen; 
die Neurose Hysterie sollte in das Spezialgebiet des Neurologen gehören. 
Genaue Kenner, voran die Franzosen, erklären sie für eine Psychose. 
Übrigens kann wohl nur die ausschließliche Geltung letzteren Satzes 
strittig sein, das Hervortreten psychischer Anomalien bei Hysterie wird 
von allen Seiten übereinstimmend anerkannt. Somit bildet diese Erkran- 
kung ein Bindeglied der beiden Fachgebiete Neurologie und Psychiatrie. 
Da in neuester Zeit sich wieder Stimmen vernehmen lassen, welche die 
Neurologie für die innere Medizin reklamieren, ihren Zusammenhang mit 
der Psychiatrie bestreiten, ist es von prinzipieller Bedeutung, wenn gezeigt 
werden kann, daß in den so häufigen Fällen hysterischer Neurose die 
Beschäftigung mit der geistigen Persönlichkeit der Patienten das Ver- 
ständnis des neurologischen Symptomenkomplexes fördert, ja eine ent- 
scheidende Bedeutung gewinnt für Prognose und Therapie — nur ein 
Beispiel für die Wichtigkeit einer mehr psychiatrischen und psychologi- 
schen Auffassung krankhafter Zustände. 



IV 

Neben den zahlreichen, vielfach ausgezeichneten Darstellungen der 
Neurose Hysterie hofft das vorliegende Buch auf Anerkennung seiner 
Existenzberechtigung, insofern es sich darauf beschränkt, die Hysterie 
vom Standpunkte des Seelenarztes zu behandeln, dieselbe mit den Augen 
des Psychiaters zu sehen. Speziell eine Monographie über hysterische 
Geistesstörungen fehlte noch in der Literatur, wiewohl gerade über diese 
Form des Irreseins die verschiedenartigsten Auffassungen miteinander in 
Widerstreit liegen. Auf eine historische Einleitung konnte verzichtet werden, 
da alle größeren Werke über Hysterie bis zum jüngst erschienenen 
Binswangers einen geschichtlichen Überblick enthalten. Die Klinik 
der hysterischen Psychosen, welcher naturnotwendig der breiteste Kaum 
zufällt, wird ergänzt durch das Kapitel Ätiologie, welches seine be- 
sondere Bestimmung hat. Von Wien aus ist eine Theorie in die Welt 
gegangen, die den ausschließlich sexuellen Ursprung der Hysterie pro- 
klamiert, auf dem Umwege über die Sexualität in das Wesen der Er- 
krankung eindringt. Allseits wurde mehr oder minder entschieden Ver- 
wahrung dagegen eingelegt; darum schien es angemessen, am selben Orte, 
an ähnlichem Krankenmateriale nachzuprüfen und zu dieser Theorie Stellung 
2u nehmen. Dann folgen Betrachtungen über das Wesen der Hysterie 
als Geisteskrankheit, Anhaltspunkte für die Prognose, eine Übersicht der 
therapeutischen Maßnahmen; ein Kapitel über die forensische Bedeutung 
des Leidens wird angehängt. 

Vieles ist strittig in der Hysteriefrage. Es wurde versucht, das vor- 
liegende, überaus reichhaltige Material zu sichten, das Übereinstimmende 
und Verbindende hervorzuheben, das Trennende zu überbrücken, Wider- 
sprüche aufzuklären und zu eliminieren. Wo angängig, wurde am Selbst- 
beobachteten die Probe auf die Richtigkeit jeder einzelnen These gemacht; 
in zweifelhaften Fällen entscheidet nur die Klinik. Unvermeidlich ist 
allerdings, daß die in diesem Buche niedergelegten eigenen Kranken- 
geschichten ein lokales Kolorit tragen, indem die typischen Patienten aus 
«iner bestimmten Zeit herangezogen sind. Doch wurden alle zugäng- 
lichen fremden Erfahrungen berücksichtigt, um einen harmonischen und 
möglichst erschöpfenden Gesamtüberblick geben zu können. Die Ver- 
mutung ist kaum zu unterdrücken, daß viele kasuistische Mitteilungen 
der Literatur zumeist Raritäten behandeln, die wissenschaftlich zwar um 
so interessanter sind, je schwierigere Probleme sie stellen, die aber doch 
em unzutreffendes Bild von dem geben, was allerorten die Erfahrung 



beherrscht und beherrschen muß: die Hysterie des Alltags. Von letzterer 
werden die Regeln und Gesetze abgeleitet, mit klaren und einfachen 
Fällen beginnt die Untersuchung, um erst später an die Rätsel der außer- 
gewöhnlichen sich zu wagen. 

Die psychologische Forschung führt immer unverkennbarer zu einer 
einheitlichen Auffassung der Hysterie in ihrer Gänze, sie zeigt, daß auch 
anscheinend rein körperliche Symptome in unlösbarer Beziehung stehen 
zu Störungen der Hirnrindenfunktionen. Eine liebevolle Beschäftigung 
mit den Kranken lehrt, daß die neurotischen Erscheinungen wechseln 
ganz fehlen können, während man seelische Alterationen nie vermißt. Das 
Buch bringt Belege für diese Behauptung, es zieht die Konsequenzen 
daraus und soll der Überzeugung Ausdruck verleihen, daß die hysteri- 
schen GeistesstöruDgen keineswegs nur eine Komplikation der Neurose 
Hysterie bilden, daß gerade sie das Wesentliche sind, sowie hier im Seelen- 
leben der Schlüssel zum Verständnis, der Ausgangspunkt für die Ver- 
hütung und Behandlung dieser oft so unheilvollen Krankheitszustände liegt. 

Wien, im Mai 1904. 

Der Verfasser. 



Inhaltsübersicht. 



Seite 

I. Einleitung und Begriffsbestimmung 1 

II. Der hysterische Charakter 8 

III. Klinik der hysterischen Psychosen 33 

ä) Geistesstörungen des hysterischen Anfalles 33 

b) Das hysterische Delirium 43 

e) Die hysterischen Dämmerzustände 79 

d) Andere Formen der akuten hysterischen Psychosen 101 

e) Die chronischen hysterischen Psychosen 151 

IV. Ätiologie 197 

V. Betrachtungen über das Wesen der Hysterie 228 

VI. DifTerentialdiagnose 275 

VII. Prognose 339 

VIII. Therapie 343 

IX. Forensisches 361 

X. Literatur 381 



L Einleitung und Begi'iffsbestimmung. 

Die Hysterie bietet in dfer Regel eine Mischung körperlicher und 
psychischer Anomalien; an den Endpunkten der langen Beihe vielgestal- 
tiger Erankheitsbilder stehen Gegensätze: auf der einen Seite mono- 
symptomatische Formen anscheinend rein körperlicher Neurose, andererseits 
hysterische Seelenstörungen ohne alle somatischen Symptome. Aus rein 
praktischen Gründen teilt man die Hysterie und weist den hysterischen 
Psychosen eine Sonderstellung zu, insofern es ganz speziell Patienten mit 
schwereren psychischen Störungen sind, welche den Irrenärzten zu 
Gesicht kommen, insofern das Vorwalten der Psychose soziale und 
rechtliche Konsequenzen hat. Wie gleich hinzugefügt werden soll, umfaßt 
diese Gruppe eine Minderzahl aller Hysterischen, während das Gros 
derselben zeitlebens außerhalb der geschlossenen Anstalt sich bewegt, 
ohne mehr als Affekte des Bedauerns eventuell des Ärgers zu erregen. 

Dennoch gibt es keinen Fall von Hysterie, der niieht auch psychi- 
sche Alterationen erkennen ließe. Dieselben bleiben verborgen, wenn sie 
nicht aufdringlich sind; oft passen sie in den Kahmen von Charakter- 
eigentümlichkeiten, werden als persönliche Eigenheiten ohne patho- 
logische Bedeutung genommen; man kann sie schließlich auch übersehen, 
wenn man angesichts schwerer körperlicher Störungen wenig Gelegenheit 
hat, mit der Persönlichkeit der Kranken eingehender sich zu beschäftigen. 
Die psychischen Anomalien heben sich aus dem übrigen Seelenleben nicht 
scharf heraus, sie stellen, bildlich gesprochen, eine Nuance, eine eigen- 
artige Schattierung dar, die nur dadurch pathognomonisch wird, daß sie 
eben bei allen Hysterischen mehr oder minder ausgesprochen, aber in 
gleicher Weise wiederkehrt. In fließender Steigerang gehen aus den 
manchmal fast unmerklichen Eigentümlichkeiten des Charakters offen- 
kundige Geistesstörungen hervor. 

Schon dieser Umstand beweist, daß die Trennung der hysterischen 
Psychosen von der Neurose Hysterie eine künstliche ist Sie kann sich 
fruchtbar erweisen, indem sie dazu führt, das beim Studium der Psychosen 
Gewonnene auf die Hysterie selbst anzuwenden und so deren psycho- 
tische Natur zu erkennen. Immerhin scheint das nur ein äußerliche» 
Moment. Viel wesentlicher ist, daß man immer eine psychische Veran- 
lassung, ein Bewußtseinskorrelat hysterischer Phänomene findet, auch 
wenn sie als körperliche sich manifestieren. Die Hysterie bleibt eine und 

Raiinann, Die hysterischen Geistesstörungen. 1 



dieselbe, ob die Störung als Lähmung oder Kontraktur, als Hyperästhesie 
oder umschriebener Sinnesausfall, als Mutismus oder Irrereden, als 
Paroxysmus in Konvulsionen oder Delirien sich äußert. Nachdem diese Ein- 
heitlichkeit auf körperlichem Gebiete nicht zu finden ist — es gibt hier 
nichts Zusammenfassendes, als Nervenkrankheit fällt die Hvsterie aus- 
«inander — so muß das gemeinsame Band im Bereiche des Psychischen 
gesucht werden. Kapitel V wird das näher durchführen; immer und Überall 
kann man zeigen, daß die Gesetze, welche sich aus Fällen sogenannt 
psychischer Hysterie ableiten lassen, allgemeine Gültigkeit haben, daß 
die psychiatrische Auffassung der Hysterie in ihrer Gänze nicht nur 
theoretisch möglich, sondern auch praktisch wichtig ist. — 

Ausgangspunkt der Untersuchung bilden die hysterischen Geistes- 
störungen engeren Sinnes, jene Seite, welche die Hysterie den Irrenärzten 
darbietet. Die Tatsache, daß es sich um Grenzfälle handelt, um ein 
Grenzgebiet, läßt begreiflich erscheinen, wenn die Definitionen der 
hysterischen Psychosen recht verschiedenartig lauten. Im Laufe der Zeiten 
haben sich auch die Anschauungen der Irrenärzte geändert, sie ändern 
sich noch; namentlich ältere Ansichten über die Hysterie sind mit der 
modernen Betrachtungsweise kaum mehr vereinbar. Dann gibt es innere 
Gründe, welche bei den verschiedenen Autoren verschiedene Vorstellungen 
über diese Krankheit hervorrufen. Es sei hier nur vorweggenommen, 
daß die Erscheinungsweise der Hysterie nach Zeit, Ort und Rasse wech- 
selt, daß infolge der Suggestibilität, die eine Grundeigentümlichkeit ihres 
Wesens ist, wissenschaftliche Voraussetzungen des Beobachters und 
Einflüsse der Umgebung im Symptomenbilde wiedergespiegelt werden 
— die Hysterischen der Salpetri^re bieten hierfür ein Beispiel. Insofern 
es sich nun um Psychosen handelt, kommt noch eine besondere Schwierig- 
keit; die Psychopathologie verzeichnet eine Fülle funktioneller Geistes- 
störungen. Die funktionellen hysterischen Psychosen sind gegen zahlreiche 
Geschwister abzugrenzen, und hier unterliegt die Grenzbestimmung der 
Subjektivität des einzelnen Beobachters mehr als sonst die Klassifikation 
in der Psychiatrie. Wenn man die tonangebenden Lehrbücher, die 
vereinzelten zusammenfassenden Darstellungen hysterischer Geistes- 
störungen, die schier unübersehbare Reihe von Publikationen durchsieht, 
welche einzelne Kapitel oder kasuistische Beiträge bringen, so stößt 
man auf die verschiedensten Definitionen. Nur einige Lehrmeinungen 
s^ien hier wiedergegeben. 

Arndt führt aus, wie das hysterische Moment der Psychose ihre 
Besonderheit verleihe, Temperament und Charakter beinfluße. Er läßt die 
Hysterie selbst in Geisteskrankheit ausgehen, entweder in die Vesania typica, 
in primäre oder sekundäre Verwirrtheit, Schwachsinn: eine Betrachtungs- 
weise, welcher die heute herrschenden Auffassungen fremd gegenüberstehen. 

Schule bezeichnet das hvsterische Irresein als eine Steigerung des 



hysterischen Temperamentes, das er analysiert und im Wesen als erhöhte 
Reizbarkeit mit Schwäche erklärt. Dabei unterscheidet Schule eine 
Unzahl von Formen, so die chronisch hypochondrische Melancholie, die 
•entweder zur Heilung kommen, still stehen oder in Wahnsinn ausgehen soll; 
das hysterisch-epileptische Irresein ebenfalls chronischen Verlaufes, eine 
hysterische Melancholie, eine akute oder periodisch hysterische Manie, 
^inen hysterischen Wahnsinn mit zahlreichen Unterabteilungen, von denen 
nur die originäre Verrücktheit, der hypochondrische Wahnsinn, der kata- 
tone Wahnsinn hervorgehoben sei, letzterer zerfällt wieder in zwei kleine 
Gruppen, die dämonomanische Form und den halluzinatorischen Stupor; 
endlich gebe es einen chronisch unheilbaren Hysterismus als chronisch 
degenerativen Wahnsinn und primären hysterischen Blödsinn. Wiewohl 
zahlreiche Einzelbeobachtungen Schtlles von außerordentlicher Feinheit 
sind, muß man sich schon vom praktischen Standpunkte dagegen aus- 
sprechen, daß die psychiatrische Klassifikation so heillos kompliziert wird. 
3Ian fragt, wozu diese Menge von Unterabteilungen, die alle von nicht- 
hysterischen Psychosen getrennt und abgegrenzt werden sollen? Der 
Heweis, es handle sich hier überall um Hysterie, ist wohl auch gar 
nicht zu erbringen. 

Savage behauptet, daß jeder Grad nervöser Störung vom einfachen 
Lachkrampfe unter Tränen bis zur heftigsten Manie bei Hysterie vor- 
komme; doch sehe man einfache Hysterie selten bei den Insassen einer 
Irrenanstalt. 

Meynert schließt das hysterische Irresein an die Paranoia. Er 
gibt keine klinische Definition: für ihn ist die Hysterie eine chronisch 
funktionelle bulbäre Neurose, die in Anfällen akut wird. Meynert 
•differenziert sie von der Hypochondrie und von der Neurose in Zwangs- 
vorstellungen. 

Nach Henri Colin existiert kein hvsterisches Irresein im ei«ccnt- 
liehen Sinne des Wortes. Wird ein Hysterikus geisteskrank, so habe 
seine Geisteskrankheit nichts Eigentümliches. In der Regel handle es 
sich dann um eine Verknüpfung der Hysterie mit dem Irresein der Ent- 
arteten. Doch anerkennt Colin ein hvsterisches Delir als Teil des Anfalles. 

Sein Landsmann Gilles de la Tourette will gleichfalls den Be- 
griff der hysterischen Geistesstörung möglichst eingeschränkt wissen. Als 
Wortführer Charcots und seiner Schule vertritt er den Standpunkt, daß 
«3 keine hysterische Geistesstörung gebe außer dem hysterischen Cha- 
rakter mit seinen pliHzlichen Antrieben, die auf Suggestion eventuell 
auf Halluzinationen zurückführen, außer kürzer dauernden deliranten, 
länger dauernden somnambulen Perioden. Alles andere sei degeneratives 
Irresein. 

Kirchhoff unterscheidet ein hvsterisches Irresein und einfache 
vSeelenstörungen bei Hysterie, wobei letztere die Krankheitsbilder färbt, wo 

1* 



aber der klinische Verlauf klarstellt, daß es sich nicht um Hysterie 
handelt. In der Definition des hysterischen Charakters stimmt er mit 
allen Autoren ttberein. Neben Dämmerzuständen und sicher hysterischen 
Formen führt er aber Symptomenbilder chronischer Psychosen vor, 
welche zeigen, daß er den BegriflF des hysterischen Irreseins recht weit 
faßt. Er charakterisiert es durch die Symptomentrias, geschlechtlicher, 
religiöser Wahninhalt, Geruchsstörungen; doch komme auch Eifersuchts- 
und Besessenheitswahn vor. Das anfängliche Wahnsystem gehe in sprung- 
weisem Verlauf bei der einen Form bald iu Verwirrtheit oder Blödsinn 
über; die andere Form verlaufe ohne Sinnestäuschungen, könne aber 
auch langsam zu Blödsinn führen. 

Für D. E. Jacobson gibt es keine Folie hyst6rique. Nur aus 
praktischen Gründen halte man diese Bezeichnung bei für eine Gruppe 
von Fällen, wo eine akute, meist halluzinatorische Verwirrtheit mit auf- 
fällig hysterischen Elementen sich amalgamiert. 

V. Krafft-Ebing unterscheidet neben transitorischen Irreseinszu- 
ständen und protrahierten Delirien noch selbstständige hysterische Psy- 
chosen, die entweder auf dem Boden einer einfachen, nicht konstitutionell 
veranlagten hysterischen Neurose stehen oder Durchgangs- und Zustands- 
bilder einer hysterischen Degeneration sind. 

Nach Moravcsik verdient eigentlich nur die akute Form etwa 
dem hysterischen Delir entsprechend, die Bezeichnung Hysterie. Die 
chronisch hysterischen Geistesstörungen verlaufen in Form der gewöhn- 
lichen Psychosen, nur seien ihre Einzelheiten undeutlich, schwankend, 
die Alteration des Bewußtseins und der Stimmung weder intensiv noch 
dauernd. Außerdem führt Moravcsik noch eine Reihe von Zügen an, 
welche diese hysterischen oder Pseudo- von den anderen funktionellen 
Psychosen trennen. 

Wernicke faßt den Begriff der hysterischen Psychosen sehr weit. 
Er beschreibt verschiedenartige Symptomenbilder, die von anderer Seite 
gewiß nicht zur Hysterie gerechnet werden würden. Hauptmittel für die 
Diagnose sind ihm hysterische Antezedenzien. Manchmal findet er auch 
Stigmata zur Zeit der akuten Erkrankung. Einer seiner Fälle dauert 
durch 3 Jahre ohne objektiv erkennbare Schw^ankungen und ohne psy- 
chische Ätiologie. Mehrere andere gehen letal aus und lassen Seiten- 
strangerscheinungen nachweisen. 

Jelly charakterisiert das Wesen der Hysterie durch psychische 
Eigentümlichkeiten, die in ausgesprochene Geistesstörung übergehen 
können und unterscheidet neben den Psychosen des Anfalles noch ver- 
Schiedenerlei Geistesstörungen, die Hysteromelancholie, hysterische Pa- 
ranoia, maniakalische und akute Verwirrtheitszustände der Hysterie. 

Fürstner läßt die Neurose Hysterie in der Ätiologie von Psy- 
chosen eine Rolle spielen. Neben den Symptomen der Neurose können 



5 



wohl alle Formen der funktionellen Geistesstörungen auftreten: Hypo- 
chondrie, Melancholie und Paranoia, für welche im hysterischen Tempe- 
rament der Boden vorbereitet ist. Fürstner unterscheidet dabei sehr 
genau zwischen einer hysterischen Melancholie und einer Melancholie 
mit hysterischen Zttgen. Er kennt auch zwei Formen der hysterischen 
Paranoia. Endlich gebe es hysterische Geistesstörungen in Beziehung zu 
den Anfällen. 

Sommer spricht von psychogenen Zuständen, die ihm ein engerer 
Begriff sind als die gebräuchliche Hysterie. Er scheidet diese scharf 
von der Epilepsie, erwähnt halluzinatorische Erregungszustände, welche 
im Laufe der Psychogenie auf dem gewissermaßen vulkanischen Boden 
ausbrechen. Wenn sonst ein Krankheitsbild einige hysterische Zttge ent- 
hält, dürfe man dies noch nicht in der Bezeichnung Hysterie ausdrücken. 

Kraepelin wünscht den Begriff der hysterischen Psychosen ein- 
zuengen. Da die Hysterie mit einer Umwandlung der ganzen psy- 
chischen Persönlichkeit einhergeht, werden die verschiedenartigsten, nicht 
eigentlich hysterischen Psychosen auf dieser Grundlage durch Bei- 
mischung einzelner besonderer Züge eine eigenartige Färbung annehmen 
können. Man belege mit dem Beinamen „hysterisch^ eine Reihe von 
Krankheiten, die nach Kraepelin mit der Hysterie in gar keiner Be- 
ziehung stehen. Dieser Autor unterscheidet hauptsächlich transitorische 
Störungen im Anschluß an Anfälle und Dämmerzustände; außerdem 
kommen im Verlaufe der Hysterie vielgestaltige Krankheitsbilder vor. 

Entschiedener spricht Nissl sich aus, der hysterische Psychosen 
für außerordentlich seltene Krankheiten erklärt. Die sogenannten hyste- 
rischen Symptome bei einfachen Seelenstörungen seien Symptome der 
letzteren selbst, die den hysterischen zum Verwechseln ähnlich sehen, 
aber doch nicht als hysterisch aufgefaßt werden dürfen, wie er aus dem 
Studium des klinischen Verlaufes solcher Krankheitsbilder, die ziemlich 
allgemein als Hysterie aufgefaßt werden, diagnostizieren zu können glaubt. 

Nach Mendel kann die Hysterie und die Hysteroepilepsie zum 
Ausbruche psychischer Erkrankung Veranlassung geben im Anschlüsse an 
einen Anfall, als Äquivalent, als hysterische Geisteskrankheit im engeren 
Sinne, endlich durch Kombination von Hysterie und Psychose. 

Für Ziehen igt die Hysterie ein empirischer Begriff, uns aufge- 
zwungen durch die Erfahrung, daß eine Anzahl von Symptomen, Stigmen, 
häufig gleichzeitig vorkommen. Es ist unmöglich, dieselben einheitlich 
zusammenzufassen. Man kann die Hysterie nur definieren als funktio- 
nelle Neurose, die zu einer psychopatischen Konstitution führt. Ziehen 
unterscheidet eine große Anzahl hysterischer Psychosen, deren Sympto- 
matologie und Differentialdiagnose er des näheren durcharbeitet 

Binswanger, dessen umfangreiches Werk über Hysterie er- 
schien, als die vorliegende Arbeit größtenteils abgeschlossen war, be- 



schäftigt sich sehr eingehend mit den Seelenstörungen der Hysterischen; 
er anerkennt ihr regelmäßiges Vorkommen, ihre Wichtigkeit. Die „hyste- 
rischen Psychosen" liegen nicht im Rahmen des Buches, werden nur 
ganz kurz erwähnt. Binswanger meint: j,Wir sind nur dann in der 
Lage, die Geistesstörung als eine hysterische zu bezeichnen, wenn sie 
direkt aus unzweifelhaft hysterischen Krankheitselementen (z. B. aus 
typischen Empfindungsstörungen, aus Wachträumen, aus halluzinatorischen 
Dämmerzuständen, vor allem aus den affektiven Störungen) hervorge- 
gangen ist. Die Geistesstörung bildet dann nur die Weiterentwicklung",, 
namentlich in degenerativen Fällen von Hysterie, „bei denen . . . die 
mannigfachsten Kombinationen und Mischformen sehr häufig sind." 

Schon aus dieser Blutenlese, die sich beliebig vermehren ließe, 
ersieht man, daß die Meinungen der Forscher über Inhalt und Umfang^ 
des in Rede stehenden Begriffes recht auseinandergehen, daß eigentlich 
jeder in der Hysteriefrage seinen persönlichen Standpunkt hat. Im 
Wesen lassen sich zwei Strömungen unterscheiden. Während die einen. 
' mit dem Worte Hysterie sehr freigebig sind und alle Kranken als hyste- 
risch bezeichnen, bei denen ein später näher zu charakterisierendes 
Verhalten auch nur andeutungsweise sich findet, stehen auf der anderen 
Seite Psychiater, welche das Vorkommen hysterischer Geisteskrankheiten 
überhaupt in Abrede stellen möchten und nur das Delir des hysterischen 
Anfalles anerkennen. 

Minder belangreich scheinen die Meinungsverschiedenheiten über 
Abgrenzung und Bezeichnung der Unterabteilungen. Während die Franzosen 
z. B. den Ausdruck „somnambule Zustände" bevorzugen, lieben es deutsche 
Autoren weitaus die meisten hysterischen Psychosen „Dämmerzustände" 
zu nennen. Kapitel III möge zeigen, daß es hier eigentlich keine 
Grenzen gibt, daß man nur über die Zweckmäßigkeit der einen oder 
der anderen Bezeichnungsweise streiten kann; daß eine Einigung, 
am besten von praktischen Gesichtspunkten aus, leicht zu erzielen wäre. 
Vorher aber muß man wissen, was unter den Gattungsbegriff „hysterische 
Geistesstörung" eingereiht werden soll. 

Es dürfte sich empfehlen, für den weiteren Ausbau des Begriffes 
eine möglichst sichere Basis zu wählen, über die Grande hysterie sind 
alle Forscher einig. Diese Kranken fallen durch eine Reihe charaktero- 
logischer Abnormitäten auf, die in den typischen Fällen sehr ausgeprägt 
mit großer Regelmäßigkeit immer und immer wiederkehren; man spricht 
darum allgemein von einem hysterischen Charakter. Andererseits gelten 
die psychischen Störungen des klassischen Anfalles unbestritten als Typus 
der hysterischen Psychosen. Die nächste Aufgabe wird es daher sein, 
den hysterischen Charakter, besser die hysterische Charakterveränderung, 
zu analysieren und zu zeigen, daß das Wesentliche derselben mit Recht 
hysterisch genannt und für die Klinik der Hysterie festgelegt werden 



kann. Zwischen den Elementarstörungen dieses Charakters, die durch 
einfache Steigerung sehr leicht ins Psychotische auswachsen, und den 
hysterischen Delirien steht eine geschlossene Reihe von psychischen Krank- 
heitsäußerungen sicher hysterischer Individuen. Wenn es gelingt, dieselben 
GrundzügC; dieselben Gesetze, die sich aus dem hysterischen Charakter und 
dem Delir des Anfalles ableiten lassen, auch in jenen Fällen als wirksam 
nachzuweisen, dann darf man wohl von hysterischen Psychosen sprechen. 
Ein anerkanntes Kardinalsymptom der Hysterie ist die Suggesti- 
bilität, die Abhängigkeit, Beeinflußbarkeit durch äußere Momente. Man 
muß also verlangen, daß auch die hysterischen Psychosen sich als beein- 
flußbar erweisen, als abhängig von der Außenwelt, und diese Abhängigkeit 
geht sogar sehr weit. Es gelingt nicht nur, bei diesen Patienten einzelne 
Symptome unmittelbar von Ereignissen des Außenlebens abzuleiten; es 
ist in glücklichen Fällen sogar möglich darzutun, wie aus Erinnerungen 
und Vorstellungen, welche den Bewußtseinsinhalt beherrschen, die ganze 
Psychose herauswächst. Ein weiterer diagnostischer Anhaltspunkt wird 
aus dem klinischen Verlaufe geschöpft. Die Hysterie ist eine funktionelle 
Erkrankung; jedes ihrer Symptome ist von Haus aus vergänglich angelegt; 
es kommt, verschwindet, macht einem ganz anders gearteten Platz, Beiz- 
erscheinungen wechseln mit Lähmungen. Es darf als Grundlage des 
Einzelsymptoms keine bleibende Veränderung im Zentralnervensystem 
vorausgesetzt werden, keinesfalls ein fortschreitender Prozeß. Dement- 
sprechend ist klinisch zu verlangen, daß die hysterischen Psychosen von 
begrenzter Dauer sind und niemals in einen Defektzustaud tibergehen. 
Ob es nun aber unbedingte Leitsymptome gibt, ob in der verwirrenden 
Fülle der Bilder, die man der Hysterie zurechnen möchte, äußerlich auf- 
fallende Kennzeichen gefunden werden können, welche die klinische Zu- 
sammenfassung rechtfertigen und erläutern, inwieweit sich die Hysterie 
von anderen Geistesstörungen streng abgrenzen läßt, das möge an der 
Hand der nachfolgenden Beobachtungen gezeigt werden. Vorläufig seien 
die hysterischen Seelenstörungen definiert als funktionelle Geistes- 
krankheiten, die aus der hysterischen Persönlichkeit hervorgehen, den 
Gesetzen der Hysterie gehorchen. Freilich enthält diese Definition eine 
Unbekannte, die Hysterie respektive die hysterische Persönlichkeit. Die- 
selbe ist mit kurzen Worten nicht zu erschöpfen; die Gedanken über ihr 
Wesen werden ein eigenes Kapitel bilden. Es scheint, daß man mit 
Hilfe von Analogien zu einem gewissen Verständnisse derselben gelangt, 
wenn man sie auch nicht erklären kann. Klinisch ist ihr viel leichter 
beizukommen. Die typische Hysterie diagnostiziert jeder Arzt, und die 
hysterische Persönlichkeit kennen auch jene Autoren, welche ihre Zu- 
gehörigkeit zur Hysterie bestreiten möchten. Die Eigentümlichkeiten des 
hysterischen Charakters sollen zuerst übersichtlich vorgeführt werden, 
zugleich mit der Begründung, warum man hier von Hysterie spricht. 



IL Der hysterisclie Charakter. 

Es wurde oben behauptet, daß die Hysterie im Grunde ihres Wesens 
«ine psychische Erkrankung ist, und diese These gestützt durch den 
Hinweis auf die Regelmäßigkeit, mit welcher bei Hysterischen gewisse 
psychische Alterationen beobachtet werden, die eine veränderte Keaktions- 
weise der Person bedingen und in ihrer Steigerung zu dem führen, was 
man als hysterischen Charakter bezeichnet. Ob es sich hier um etwas 
Stetiges handelt, das die einzelnen hysterischen Erkrankungen tiber- 
dauert, ist eine Frage, welche der Anstaltsarzt allein nicht ganz zuver- 
lässig zu beantworten vermag. Nur Erfahrungen außerhalb der Anstalt 
^eben das Recht des Anschlusses an jene Autoren, welche sagen, daß 
die hysterische Charakterveränderung wohl zurücktreten, für die Um- 
gebung der Kranken latent werden kann, daß sie aber als etwas Per- 
sönliches dem Individuum Zeit seines Lebens zu eigen bleibt. Sie bildet 
•eine Grundlage, auf welcher bei nächster Gelegenheit andere Erschei- 
nungen von Hysterie, körperliche sowohl als psychische erwachsen. Es 
«oll die nächste Aufgabe sein zu zeigen, daß man im hysterischen Cha- 
rakter alle Elemente wirksam findet, welche der Hysterie zugehören. 
Indem man diesen Charakter analysiert, seine Gesetze erforscht, tritt man 
auch dem Wesen der Hysterie näher und arbeitet dem Verständnisse der 
hysterischen Geistesstörungen engeren Sinnes vor. 

Die Abgrenzung sowie die klinische Schilderung der hysterischen 
Persönlichkeit wird dadurch erschwert, daß sie nur in seltenen Fällen 
rein zur Beobachtung kommt. Die Hysterie ist zu allermeist die Er- 
krankung einer degenerierenden Deszendenz; ja es wird gegenwärtig 
der Satz apodiktisch ausgesprochen, zur Hysterie müsse man geboren 
.sein. Wenn die klinische Erfahrung das auch für einzelne Fälle un- 
widerleglich beweist, für die übergroße Mehrzahl sehr wahrscheinlich 
macht, so ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß jene 
feinen Veränderungen im Zentralnervensystem, welche die hysterische 
Heaktionsweise desselben bedingen, vielleicht doch auch durch eine 
Häufung schwerer Afi^ektsttirme, durch toxische oder traumatische Ein- 
wirkungen zustande gebracht werden können. Ein Kompromiß zwischen 
diesen beiden Anschauungen ist es anzunehmen, daß die angeborene Veran- 
lagung zur Hysterie unwirksam bleibt und erst durch weitere determi- 
nierende Momente zu oflFenkundigen Krankheitserscheinungen führt. Dieser 



9 

vermittelnde Standpunkt 80II im folgenden begründet und vertreten 
werden. Jedenfalls setzt auch diese Auffassung eine angeborene psyeho- 
pathische Konstitution oder eine in früher Entwicklungszeit erworbene 
Schädigung des Gehirnes bei allen Individuen voraus, die an Hysterie er- 
kranken; man erwartet also gleichzeitig Äußerungen einer D6g^n^rescence 
mentale, durch welche die Hysterie eine mannigfache Komplikation er- 
fährt. Es ist keine leichte Aufgabe, den hysterischen Charakter aus 
dieser Verkleidung zu lösen und in seiner reinsten Form darzustellen. 
Am ehesten kommt man zum Ziele, wenn man unzweifelhafte Fälle von 
Hysterie hernimmt und dieselben jenen Individuen gegenttberhält, die 
kurzweg Minderwertige, Degenerierte genannt werden. Was haben alle 
Hysterischen gemeinsam? Was charakterisiert und unterscheidet die 
Hysterie? Was muß überhaupt vorhanden sein, um Hysterie diagnosti- 
zieren zu können? 

Die Psychogenie mag an die Spitze gestellt werden, da sie jeder- 
zeit die Szene beherrscht. Das erste Auftreten offenkundig hysterischer 
Symptome wird psychisch vermittelt, ebenso die folgenden Erscheinungen; 
jeder Wechsel im Symptomenbilde, Besserung und Heilung führen auf 
Seeleuvorgänge zurück. Ihrem Aufbaue nach könnte man die Hysterie, so 
befremdlich das auch klingt, geradezu eine logische Erkrankung nennen. 
Zur Begründung dieses Satzes muß gezeigt werden, daß die Äußerungen 
der Hysterie den Gesetzen normalen psychischen Geschehens folgen, daß 
sie unlogisch im einzelnen nur erscheinen, solange es noch nicht ge- 
lungen ist, den inneren Zusammenhang aufzudecken. 

Alle Symptome der Hysterie sind die Antwort auf äußere und 
innere Vorgänge. Die Abhängigkeit von der Außenwelt ist es, die man 
Suggestibilität nennt und allgemein als charakteristisch für Hysterie be- 
zeichnet. Anerkannt wird, daß die Krankheitserscheinungen, das ganze 
Tun und Lassen der Hysterischen unter dem Einflüsse der Umgebung 
«teht, mit dem Wechsel der äußeren Keize sich ändert. Allerdings wirkt 
nicht jeder Keiz und die Reaktion kann verschieden ausfallen; man 
sagt darum, zufällige Eindrücke bestimmen die Vorstellungen. Das ist 
indessen nicht richtig, und zwar darum, weil bei genauerer Beobachtung 
bald eine Gesetzmäßigkeit durchleuchtet, mit welcher unter den zu- 
fälligen Eindrücken ausgewählt wird; man lernt verstehen, wie die ver- 
schiedenartigen Einflüsse gegenseitig sich modifizieren, kreuzen, aufheben. 
Diese Gesetzmäßigkeit springt darum nicht gleich in die Augen, weil 
man ganz einseitig nur die gegenwärtigen äußeren Einwirkungen kon- 
trollieren kann, weil das Treiben der Hysterie ebenso durch Innen- 
vorgänge bedingt wird, die man nur mit einer gewissen Wahrschein- 
lichkeit zu erschließen vermag. Tatsache ist, daß der Ablauf der Krankheit 
um so verständlicher wird, je eingehender man die Persönlichkeit studiert; 
es wäre als Ideal zu erstreben, bei vollkommener Kenntnis des Bewußt- 



10 

Semsinhaltes den Sieg der einen oder anderen Suggestion voraussehen 
und damit das ganze Gebaren der Hysterisehen im voraus bestimmen 
zu können. 

Wenn auch das Ideal nie zu erreichen sein wird, einfach darum^ 
weil sich der Innenzustand einer Person nur erraten läßt, so darf man 
doch darauf hinweisen, daß es in glücklichen Fällen tatsächlich nur von 
dem Grade der Vertiefung in die Gedankengänge der Kranken abhängt, 
mit welcher Sicherheit man in der Lage ist, die Reaktion auf einen 
bestimmten äußeren Sinneseindruck vorauszusagen. Man kann an Hyste- 
rischen experimentieren; sie arbeiten mit der Zuverlässigkeit eines Mecha- 
nismus, wenn man berücksichtigt, daß eine zunächst noch unbekannte 
Persönlichkeit mitspielt, daß der Kranke unter Mitwirkung innerer Vor- 
stellungsreihen einen empfangenen Reiz umgestaltet. 

Es sei beispielsweise an Versuche von Giiinon und Woltke er- 
innert, die bei einer 24jährigen Hysterica durch Vorhalten eines blauen 
Glases regelmäßig die Halluzination des Bildes ihrer Mutter am blauen 
Himmel erweckten etc. Nach Wochen und Monaten war immer das- 
selbe zu erreichen; es hatte sich diese Assoziation gewissermaßen fixiert. 
Daß aus „blau" Himmel wird, leuchtet jedermann ein: wieso es zur 
Reproduktion des Erinnerungsbildes der Mutter kam, ist nur vom Stand- 
punkte der Patientin aus verständlich. 

Andere Kranke zeigen mehr Initiative, scheinen viel unabhängiger 
vom Experimentator; wenn man sie genau genug kennt, weiß man, daß 
der äußere Eindruck nur scheinbar nach dem Belieben des Patienten, 
in Wirklichkeit jedoch nach der herrschenden, wenn auch unausgespro- 
chenen Gedankenrichtung, nach Lebensweise, Erinnerungen etc. sich um- 
formt. Es geht schließlich so weit, daß man voraussagen kann, die 
Erweckung einer bestimmten Vorstellung, das Erscheinen des Arztea 
werde z. B. einen Anfall auslösen. Das alles erfolgt nach Gesetzen, die 
denen des normalen Denkmechanismus entsprechen. So wie der Gesunde 
über etwas sich freut oder betrübt, ebenso begründet ist es, wenn die 
Hysterica Fensterscheiben einschlägt oder halluziniert und, insofern wurde 
die Hysterie eine logische Erkrankung genannt. 

Die Psychogenie tritt dem klinischen Beobachter zunächst als Sug- 
gestibilität entgegen. Die Beeinflußbarkeit der Krankheitssymptome wäre 
als eine wesentliche Eigenschaft der Hysterie zu fordern. Tatsächlich 
sind nach übereinstimmenden Zeugnissen alle Hysterischen suggestibel. 
Man darf nicht einwenden, daß nur selten eine Hysterica durch Sug- 
gestion geheilt wird. Das hat folgenden Grund: Die Heilungssuggestion 
des Arztes wirkt von außen und wendet sich gegen die Grundlage der 
Krankheit, die krankhaften Eigensuggestionen. Da diese stärker sind 
als die gesunden Vorstellungsreihen der Hysterischen — sonst wäre diese 
ja nicht krank — so sind sie natUrlich auch stärker als die trivialen 



11 

Worte eines Fremden, der meist nicht einmal den richtigen Anknüpfungs- 
punkt kennt, um den verwickelten Gedankenknäuel aufzulösen. Trotzdem 
hat die Suggestionsbehandlung mit und ohne Hypnose in einer tiber- 
wiegenden Zahl von Fällen die glänzendsten Augenblickserfolge aufzu- 
weisen, namentlich wenn sich der Arzt darauf beschränkt, ein einzelnes 
Symptom zu eliminieren; aber auch zu Verschlimmerungen und neuen 
Krankheitssymptomen führt die Suggestibilität der Hysterischen. 

Dieselbe drückt sich weiters darin aus, daß diese Patienten in 
der Kegel sehr leicht zu hypnotisieren sind. Eigene Erfahrungen würden 
dieser leichten Hypnotisierbarkeit geradezu den Wert eines Stigma ein- 
räumen. Es ist wiederholt vorgekommen, daß eine vollkommen jung- 
fräuliche Hysterica, die noch in keiner ärztlichen Behandlung gestanden, 
den minder gebildeten Volksklassen angehörig, also gewiß auch durch 
Studium und Lektüre unverdorben war, binnen wenig Sekunden in tiefem 
hypnotischen Schlafe lag und wie ein willenloser Automat den erteilten 
Befehlen folgte. Ein solcher geradezu verblüflFender Anblick scheint nur 
erklärlich durch die Annahme, die Hypnose liege in dem Gehirnmechanismus 
dieser Kranken gewissermaßen vorgebildet, sie sei ein latentes Symptom 
der Krankheit, das jederzeit geweckt werden kann, das gelegentlich 
in Form eines autohypnotischen, eines somnambulen Zustandes von selbst 
sich frei macht. 

Damit scheint eine Versöhnung aller Theorien über die Hypnose 
angebahnt. Die Hypnose ist künstliche Hysterie, sagen die einen; 
Suggestion ist alles, die anderen. Nachdem Suggestibilität eine Grund- 
lage der Hysterie ist, könnte man beinahe sagen, da (i = c und b = Cf 
so ist auch a = b\ richtiger die Hypnose einerseits, zahlreiche hysterische 
Symptome andererseits haben in der Suggestibilität eine gemeinsame 
Mutter. Die nahe Verwandtschaft wird weiters dadurch bewiesen, daß 
hinwieder die Hypnose hysterische Erscheinungen auslöst, daß hypno- 
tische und hysterische Zustandsbilder von gleichem Gepräge miteinander 
abwechseln. Beobachtung XXIV im folgenden wird das Gesagte illustrieren. 

Freilich versichern diejenigen, welche Hypnose und Hysterie durch- 
aus trennen wollen, daß alle Menschen oder wenigstens ein Hundert sehr 
nahe kommender Prozentsatz hypnotisierbar sei. Die so sprechen, müssen 
wohl ihre Erfolge einem außergewöhnlichen Fluidum verdanken und be- 
weisen dadurch nur, daß alle Menschen bis zu einem gewissen, individuell 
verschiedenen Grade suggestibel sind. Demgegenüber muß es dem einzelnen 
Untersucher gestattet sein, die relativen Erfolge und Mißerfolge eigener 
Tätigkeit zu vergleichen und da konnte in Übereinstimmung mit den weitaus 
meisten Autoren festgestellt werden, daß ein quantitativer Unterschied in 
der Suggestionsempfänglichkeit den hysterischen vom nichthysterischen 
Geistesgesunden sowie Geisteskranken trennt. Was für andere Formen 
geistiger Störung gilt, gilt auch für die Hysterie; dieselbe ist in verschie- 



12 

denen Richtungen aus dem normalen Seelenleben herauszudifferenzieren. 
Die Steigerung einer in jedem Menschen schlummernden Fähigkeit führt 
dazu, daß die Hysterischen leichter zu hypnotisieren sind, wenn nicht 
gerade störende Eigensuggestionen sie veranlassen, gegen die Hypnose 
Stellung zu nehmen. 

Hier wäre anzureihen, daß die Hysterischen auch durch das Traum- 
leben in hohem Grade beeinflußbar sind. Bei der Analyse von Krank- 
heitsfällen ergibt sich nicht gar selten, daß dieses oder jenes Symptom in 
seiner Genese auf einen Traum zurückgeht. Man hat sich meist damit 
begnügt, den Zusammenhang damit als vollkommen aufgeklärt zu regi- 
strieren; vielleicht ist derselbe aber doch einer näheren Betrachtung wert. 
Irgendein schreckhafter Traum impressioniert eine Hysterica so weit, daß 
sie ein Krankheitssymptom unmittelbar an den Gemütseindruck anknüpft. 
Hier hat der zufällige Traum dem Patienten ein Symptom suggeriert. 
In anderen Fällen aber, welche für das Verständnis wichtiger sein dürften, 
setzt der hvsterische Denkmechanismus auch in dem oberflächlichen Schlafe 
fort. Die letzte Zeit wird in neuen Kombinationen durchlebt; es ist möglich, 
daß hier Krankheitserscheinungen logisch auf demselben Wege entstehen, 
auf dem sie sonst im sogenannten Unterbewußtsein des wachen 
Menschen sich bilden. Der Traum einer Lähmung und die Vorstellung 
einer Lähmung erwachsen auf demselben Boden; nebeneinander ent- 
springen sie demselben Bewußtsein nach bestimmten Gesetzen. Man glaubt 
ja auch nicht mehr, daß alle Träume blinder Willkür und nur dem Zufall 
gehorchen. Freud ist es gelungen, in ganz überzeugender Weise dar- 
zutun, daß gerade im Traume das un- respektive unterbewußte Seelen- 
leben sehr vernehmlich sich ausspricht, daß uneingestandene Wünsche und 
Gedanken in fast unkenntlicher Verkleidung zum Inhalte von Träumen 
werden oder, wie vielleicht hinzuzufügen ist, werden können. Die Träume 
sind nur eine andere Form, eine Verkleidung der Autosuggestion. 

Auf Suggestibilität läßt sich ferner die Leichtgläubigkeit der Hyste- 
rischen zurückführen. Daß eine schwachsinnige Hysterica einer fremden 
Meinung sich subordiniert, würde nicht wundernehmen; pathognomonisch 
und erklärungsbedürftig wird aber der Verzicht auf eigenes Urteil, wenn 
er mit einer sonst hochentwickelten Intelligenz auffällig kontrastiert. 
Hier werden Assoziationen kritischer Katur durch Suggestion und Auto- 
suggestion zurückgedrängt, so daß man von einer Einengung des Bewußt- 
seins gesprochen hat und das Verhalten der Kranken am besten versteht, 
wenn man als Analogie die Hypnose heranzieht. Wie das Medium dem 
Hypnotiseur, so fügen sich die Hysterischen einer fremden Meinung, wenn 
sie den Betreffenden als Autorität anerkennen oder wenn das Behauptete 
mit ihren vielleicht krankhaften Gedankenketten in gute Verbindung 
zu bringen ist. Dann glauben sie allen Gegengründen zum Trotz fest und 
unerschütterlich, verteidigen oft eine verlorene Festung mit bewunderungs- 



13 

Würdiger Hartnäckigkeit. Es nützt gar nichts, auf das Zeugnis der Sinne 
hinzuweisen. Die hysterischen Patientinnen verhalten sich da wie Geistes- 
kranke überhaupt, die einen Wahn verteidigen. Nur eine innere Revo- 
lution kann den Grötzen von heute stürzen und eine Hjsterica zum Nach- 
geben bringen. Dieses Verhalten ist eine Steigerung der normalen 
weiblichen Gedankenrichtung, die sich ihre Überzeugung aus Wünschen, 
Hofihungen, Glaubensmotiven aufbaut und auf irgendeine Autorität des 
Tages schwört. Wie schon bemerkt, geht der hysterische Charakter 
aus physiologischen Eigentümlichkeiten durch Weiterbildung hervor. 
Man sieht an diesem Detail, wie weit die weibliche Psyche schon de 
norma der Hysterie entgegenkommt; man begreift, warum der hysterische 
Charakter in seiner schönsten Ausprägung vorwiegend bei weiblichen 
Individuen beobachtet wird. 

Die hysterischen Patientinnen haben eine fremde Überzeugung 
scheinbar zufällig angenommen, sie machen sie zu der ihrigen. Die Art, 
wie sie dieselbe nun vertreten, wie sie jedem Einwand widersprechen, 
wie sie an anderen Erkenntnissen achtlos vorübergehen oder, was noch 
häufiger ist, ihnen in blindem Widerspruchsgeist opponieren: das macht 
den Eindruck des Eigensinnes. Die Wahl der Stellungnahme zur 
Außenwelt, die nach inneren Gesetzen erfolgt, wird nur verständlich, 
wenn man auf Innenvorgänge rekurriert, auf unausgesprochene Gedanken- 
ketten, die, von starken Gefühlen getragen, das Bewußtsein beherrschen, 
Harmonierendes anziehen. Widersprechendes abstoßen, kurz Autosugge- 
stionen. Diese tyrannisierenden Vorstellungsreihen bewirken, daß es für 
Hysterische im ausgesprochensten Maße keine objektive Wahrheit gibt, 
sondern nur eine subjektive. Diese Kranken halten das Unglaublichste 
für wahr mitunter gegen alle bisherigen Erfahrungen; sie verzichten lieber 
auf letztere; sie ändern das, was sie als ihre Überzeugung äußern, auf 
Grund innerer Vorgänge, ohne diesen Gesinnungswechsel zu erklären, zu 
begründen oder auch nur zuzugestehen; sie fälschen ihre Erinnerungen, 
erfinden oder glauben ganz frei: sie lügen. 

Die Suggestibilität führt aber noch weiter, nämlich zu direkter psy- 
chischer Infektion auf dem Wege der Nachahmung, der bewußten und 
unbewußten respektive halbbewußten Simulation: ein Moment, welches 
dem Verständnisse keine geringen Schwierigkeiten bereitet. Es ist nur 
ein schönes Bild, ein Wortspiel, wenn man diese Simulation eine passive 
nennt, und das hysterische Bewußtsein mit einer photographischen Platte 
vergleicht, die einen äußeren Eindruck aufnimmt. Dieser Eindruck muß 
ja noch aktiv in Bewegungs- oder Ausfallserscheinung umgesetzt w^erden. 
Wie kommt es, daß eine Hysterica, welche einen komplizierten Krank- 
heitsfall beobachtet, denselben hartnäckig und mit großer Anstrengung 
fllr sie selbst durch lange Zeit kopiert, allen therapeutischen Versuchen 
widerstrebt, daß sie sich selbst den größten Unannehmlichkeiten aus- 



14 

jsetzt, um etwas vorzutäuschen, wogegen das natürliche Gefühl sonst sich 
empört? 

Die gesteigerte Suggestibilität läßt die Hysterisehen durch Eindrücke 
ihrer Umgebung so weitgehend affiziert werden, daß diese Vorstel- 
lungen zur Herrschaft gelangen und den ganzen übrigen Bewußtseinsinhalt 
schlagen. Man denke an das Kampfspiel widerstrebender psychischer 
Elemente. Gewissermaßen von der ordnenden Kette losgelöst, ringen die 
disparaten Gedankenreihen nach Geltung; immer bleiben in dem Kampfe 
die jeweils stärksten und affektbetontesten siegreich. Der Krankheits- 
zustand einer Nachbarin hat auf die Hysterica einen ungewöhnlich tiefen 
Eindruck gemacht. Sie selbst fühlt sich als Patientin; dieselben Krank- 
heitserscheinungen überwältigen sie, ohne daß das Bewußtsein zu einer 
Korrektur dieses Verhaltens käme. Inwiefern hier eine Analogie sowie 
eine direkte Ableitung des Krankhaften, Hysterischen aus dem Seelen- 
leben normaler Menschen möglich, sei im Zusammenhange für jenes Ka- 
pitel aufgespart, wo der Mechanismus der Hysterie studiert werden soll. 

Nur ein Moment sei jetzt schon hervorgehoben. Allen Hysterischen 
ist eigen eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf das liebe „Ich", die 
•schon an sich zu Krankheitsgefühlen, eventuell zu Krankheitsillusionen 
führt und die Individuen von ihrer Krankheit überzeugt. Die Liebe 
zum Ich und die Angst vor Erkrankung sind recht weitverbreitete 
Eigenschaften: den meisten Medizinern ist aus ihrer Studienzeit her 
wohl bekannt, daß diese überwältigenden Geflihle sich sogar einen 
Gedankeninhalt zu schaffen vermögen. Hier fließt die Norm in die Hypo- 
chondrie über. Die Hysterie besitzt eine hypochondrische Komponente, 
•sie geht aber weiter. Es werden Krankheitserscheinungen vom Bewußtseins- 
organe her geschaffen. Von Simulation pflegt man nur zu sprechen, wenn 
eine Täuschung vorliegt, die ihrer Mittel sowohl wie ihrer Zwecke sich 
voll bewußt ist. Bei der Hysterie gibt es Symptome, die vom Zentral- 
organ ausgehen, den Gesetzen bewußten Denkens, darum auch den Ge- 
setzen der Simulation folgen, die wie Simulation aussehen; wo aber 
dennoch sozusagen, in gutem Glauben, im Unterbewußtsein simuliert wird. 

Wie überwiegend die Zahl dieser Fälle sei, ist eine Frage, die von 
verschiedenen Autoren verschieden beantwortet wird. Man hat eine förmliche 
„Ehrenrettung" der Hysterie versucht. Indes liegen zahlreiche Geständnisse 
von Hysterischen vor, in anderen Fällen ist es wahrscheinlich, daß die 
Kranken höchst überlegt und bewußt einzelne körperliche oder psychische 
Symptome, die sie irgendwo gesehen, erfahren oder kombiniert haben, 
vortäuschen. Das krankhafte Handeln kommt hier den Patienten sehr 
gut zum Bewußtsein; der Antrieb zur Handlung ist das pathologische, 
das hysterische. Er wird erzeugt durch das Übergewicht krankhafter 
Vorstellungen. Die Anregung zur Lüge erfolgt dort, wo die Krankheit 
Selbstzweck ist, insofern sie dem Individuum direkt Vorteil bringt oder 



15 

wo der Patient unangenehmen Dingen, Situationen, denen er nicht ge- 
wachsen ist, ausweicht. Einzelne Fälle traumatischer Hysterie (Unfallsrente) 
und von Hysterie bei üntersuchungshäftlingen liegen in dieser Beziehung 
ganz klar. Hier könnte auch ein nicht-hysterisches Indi\dduum versucht 
«ein zu simulieren; die Folgerichtigkeit des pathologischen Schwindeins 
ist dem gesunden Bewußtsein ohne weiteres verständlich. 

Die Hysterischen simulieren aber auch, ohne daß man einen Grund 
dafür herausfinden kann. Kritische Überlegung sträubt sich geradezu, 
«inen Zweck der Simulation anzuerkennen und dennoch lehrt das genauere 
Studium konkreter Fälle, daß simuliert wird. Manchmal ist die Hysterica 
80 aufrichtig und gesteht selbst; natürlich ist die Begründung der Kranken 
nicht immer stichhaltig; die wahren Motive müssen erst erschlossen werden. 
Bei einzelnen Patientinnen, deren Krankengeschichten im folgenden in ex- 
tenso mitgeteilt sind, wird sich das Motiv der Versorgungsbedürftigkeit, 
„die Spitalsschwester", demonstrieren lassen; anderemale möchte man 
glauben, als ob die Hysterischen nur simulieren, um das Interesse des 
Arztes, der Umgebung festzuhalten und zu steigern, um einer Rivalin 
unangenehm zu werden oder dgl. Nachdem Simulation und Krankheit 
hier fließend ineinander übergehen, die erstere ja nur ein Symptom 
•der Krankheit darstellt, mag es gestattet sein, einen etwas allge- 
meineren BegriflF heranzuziehen, der in der Hysterie, wie scheint, über- 
haupt eine große Rolle spielt: es ist der Krankheitswille. Die Überzeugung 
krank zu sein setzt sich um in den Willen krank zu sein und dieser 
beherrscht den Vorstellungsinhalt der Hysterischen. Unter seinem Ein- 
flüsse entwickelt die Suggestibilität eine große Zahl konkreter Zustands- 
bilder. Die Kranken beobachten die Wirkung ihrer Krankheit auf die 
Umgebung und diese Erfjihrungen wirken wieder suggestiv auf die Pati- 
enten zurück, wie man dies alle Tage feststellen kann. Im Sinne der 
Hysterie gesprochen, ist das Übertreiben und Schwindeln für das Indi- 
viduum förderlich; erreichen die Kranken einmal, was sie wollen, so 
wächst ihre Beharrlichkeit mit der Größe des Erfolges. Ins Unge- 
messene gesteigert wird die pathologische Schwindelei bei jenen Formen 
degenerativer Veranlagung, wo eine Gedächtnisstörung als Pseudologia 
phantastica schon von Haus aus besteht, wo eine pathologische Schwind- 
lerin hysterisch wird. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier gleich 
betont, daß Simulation in dem weiten Sinne, wie sie hier aufgestellt 
wird, nur ein Symptom der Hysterie ist, daß es Fälle gibt, bei welchen 
die Neigung zum Täuschen imr als Übertreibung angedeutet erscheint. 
Die Neuropsychose kann an ein organisches Leiden anknüpfen; es werden 
dann wirklich vorhandene Symptome in hysterischer Weise gesteigert 
und unterstrichen. Andererseits findet man FäUe von Hvsterie, wo Simu- 
lation zurücktritt, vielleicht vollkommen fehlt; doch gehört sie zu den 
charakteristischen Zügen des Leidens und besonders bezeichnend ist eine 



16 

Mischung greifbarer Krankheitserscheinungen, solcher, die den Eindruck 
des Simulierten machen, endlich bewußt berechnender Täuschung. 

Und noch eine Charakterabnormität der Hysterischen läßt sich auf 
das Spiel der Suggestionen zurückführen, das ist die Sprung- und Launen- 
haftigkeit. Man darf nicht vergessen, daß die ausgesprochenen wie die 
unausgesprochenen Vorstellungsreihen dieser Kranken in einem steten 
und lebhaften Flusse begriflTen sind; ein Wechsel der von den grund- 
legenden Vorstellungen abgeleiteten sekundären Reihen gehört zur Regel, 
insofern die Einwirkungen von außen, die Assoziationstätigkeit von innen 
den Kampfwert der einzelnen Glieder unaufhörlich beeinflussen. Indem 
unvorbereitet einmal Innenvorgänge neben den äußerlich motivierten 
Gedankenreihen nach außen sich durchringen, entsteht die für Hysterie 
so charakteristische Mischung von Eigensinn und launischem, vrider- 
spruchsvollem Wesen, das sich in allen Beziehungen bemerklich macht. 

Auch auf das Gefühlsleben erstreckt sich die Suggestibilität. Fast 
noch leichter als Vorstellungen tibernehmen die Hysterischen Gefühlstöne 
aus der Umgebung. Die Patienten sind außerordentlich impressionabeL 
Bestimmte, nicht zufällige Gemütseindrücke wirken lange und nach- 
haltig; auch wenn man äußerlich nichts mehr wahrnimmt, spinnen sich 
Gefühlsreihen fort, welche viel unmittelbarer als Vorstellungen in Krank- 
heitserscheinungen sich umsetzen. 

Soweit das Handeln der Hysterischen auf Suggestibilität sich auf- 
baut, ist es dem gesunden Bewußtsein vollkommen verständlich. Man 
erfährt von den psychischen Prozessen, welche einer Willensäußerung vor- 
angehen, in den meisten Fällen erschließt man sie. Die Kranken beneh- 
men sich wie gesunde Menschen, soweit ihre Voraussetzungen bekannt 
sind; sie bieten Krankheitserscheinungen, soweit unausgesprochene, meist 
nur gefühlte Momente Gegenmotive gegen ein normales Tun abgeben. 

Wie die Erkrankung auf dem Wege der Autosuggestion erfolgte, 
wie die äußeren Einwirkungen nach gewissen Gesetzen in körperlichen 
und seelischen Störungen sich äußern und den Verlauf bestimmen, so 
tritt auch Heilung ein durch eigene oder fremde Suggestion. Daß es aber 
zum entscheidenden Willen kommt, gesund zu werden, das hängt nicht 
von dem bewußten Willen des Individuums ab. Dieser wird ja nieder- 
gehalten durch kontrastierende Vorstellungs-, vielmehr Gefühlsgruppen. 
Solange die Hysterica krank ist, so lange werden unter allen Ein- 
flüssen, welche von außen wirken, nur jene aufgenommen respektive 
bevorzugt, welche der Krankheit, dem Gefühle der Krankheit entsprechen. 
Dieser beherrschenden Vorstellung ordnen sich alle anderen unter. Und 
viel von dem Unbegreiflichen, was die Hysterischen denken, fühlen und 
tun, geschieht zu dem Zwecke, die Krankheit sich selbst und der 
Umgebung möglichst lebhaft vor Augen zu führen. Die Hysterie ist krank, 
so lange sie krank sein will, aber sie ist unfähig, anders zu wollen, 



17 

ehe nicht durch die Minierarbeit gesunder Vorstellungsgruppen oder 
durch revolutionierende Einwirkungen die Macht des beherrschenden 
Krankheitswillens gebrochen wird. 

Bis nun wäre die Hysterie auf den Begriflf der gesteigerten Sug- 
gestibilität aufgebaut; doch erschöpft diese die Hysterie nicht Es erübrigt 
noch eine große Keihe krankhafter Momente, die auf Störungen tieferen 
Sitzes hinweisen. Vielleicht ist die pathologische Bestimmbarkeit in krank- 
haftem Sinne nur Teilerscheinung einer weitgehenden seelischen Dis- 
harmonie; es wäre dann möglich, alle Störungen der Hysterie unter 
diesen einen freilich sehr unbestimmten Begriff zusammenzufassen, dessen 
Gesetze analytisch erforscht werden müßten, um die Hysterie von anderen 
Seelenkrankheiten trennen zu können. 

Die Aufgabe, der hysterischen Persönlichkeit auf psychologischem 
Wege beizukommen, ist fast unlösbar, weil die Krankheit selbst die 
Äußerungen der Kranken beeinflußt und man nur auf Umwegen zu einer 
Vorstellung über die wahren Innenvorgänge gelangt. Darüber in einem 
späteren Kapitel. Hier sollen Eigentümlichkeiten verzeichnet werden, 
welche nach außen in Erscheinung treten. 

Auf den ersten Blick möchte man glauben, daß im Seelenleben 
der Hysterischen völlige Anarchie herrsche, wenn man sieht, wie viel- 
seitig und tiefgreifend alle psychischen Elementarvorgänge gestört sein 
können. Abweichungen finden sich eigentlich überall, nach welcher 
liichtung hin man auch analysieren mag. So werden beobachtet Störungen 
in der Perzeption äußerer Eindrücke, solche in der Apperzeption, ein 
Mißverhältnis zwischen den einzelnen Komponenten eines Bewußtseins- 
aktes, zwischen Erregung und Reaktion in qualitativer und quantitativer 
Hinsicht; außergewöhnliche Affekte, widersinnige Handlungen, ein weit- 
reichender Einfluß der assoziativen Tätigkeit des Bewußtseins auf den 
Körper und auf das Seelenorgan selbst, so daß als Antwort auf einen 
Reiz Krankheitserscheinungen zustande kommen. Es scheint, als ob im 
hysterischen Individuum körperliche und Seelenstörungen schlummerten, 
die nur auf einen Ruf warten, der sie zum Leben erweckt. Trotz dieser 
Verzerrung des psychischen Geschehens bleibt wunderbarerweise eine 
Gesetzmäßigkeit in allem erkennbar. Die Hysterie karrikiert ein normales 
Seelenleben. Während dieses im sicheren Geleise fortschreitet, trifft 
die Hysterie mit Kreuz- und Quersprüngen neben das Ziel, ohne sich 
doch ganz zu verlieren. 

Viele der formalen Störungen im Ablaufe psychischer Prozesse 
werden nur vorgetäuscht. Man empfängt den Eindruck, als ob der Zu- 
sammenhang sukzessiver Vorstellungsreihen gestört wäre; doch gelingt es 
z. B. nachzuweisen, daß der Gang der Ideenassoziation durch eingescho- 
bene überwertige Vorstellungen, etwa die der Krankheit, behindert wurde. 
In anderen Fällen lösen sich von Auto- und Fremdsuggestionen sekun- 

Raimann, Die bystorischen Geistessturung:en. 2 



18 

däre Vorstellungen ab und legen sieh zwischen den geordneten Gedanken- 
gang; wieder anderemale mischt sich eine tiberwuchernde Phantasie- 
tätigkeit ein, ohne daß dies alles die Folgerichtigkeit des hysterischen 
Denkens zu erschüttern vermöchte, wenn auch im einzelnen die Hysteri- 
schen zu anderen Ergebnissen kommen wie die Gesunden. Als letztes, 
aber nicht hoch genug zu veranschlagendes Störungsmoment beobachtet 
man das Hineinspielen von Affekten. Diese abnorm leicht ausgelöst, 
qualitativ und quantitativ in Dissonanz zum auslösenden Keize, greifen 
ihrerseits in den Assoziationsvorgang ein, indem sie harmonierende Vor- 
stellungen heben und verstärken, kontrastierende zurückstoßen. So erklären 
sich Übertreibungen und Widersprüche in den hysterischen urteilen, ohne 
daß ein logischer Defekt bestehen würde. Störungen der Intelligenz 
komplizieren die Hysterie, die sich sowohl bei geistig hochstehenden 
wie bei schwachsinnigen Individuen findet; häufiger allerdings bei letz- 
teren. Dann trifft man natürlich Urteilsschwäche, die aber der Hysterie 
selbst nicht eigen ist. Ja in den Äußerungen der Kranken überrascht 
oft die große Findigkeit und Schlauheit. 

Tief ist meist das ethische Niveau. In dem Maße, als die Krankheits- 
vorstellung herrschend wird, verblassen die altruistischen Gefühle, schränkt 
der Kreis der luteressen wesentlich sich ein; nur was das eigene Ich 
betrifft, wird berücksichtigt. In dieser kleinen Welt stehen die Kranken 
im Mittelpunkte; sie sind egozentrisch. Andererseits haben sie die Neigung 
den Kreis zu erweitern, aber nur, indem sie neue Beziehungen zum 
herrschenden Ich schaffen. Auch hier berührt sich die Hysterie wieder 
mit einer physiologischen Eigentümlichkeit. Jeder Mensch hat den Wunsch, 
beachtet zu werden; er strebt und kämpft, um die Aufmerksamkeit auf 
sich zu lenken. Pathologisch ist das Maß, mehr allerdings noch die Art, 
in welcher die Hysterischen sich geltend machen, indem sie gerade in 
den Äußerungen ihrer Krankheit das Mittel dazu finden. Es scheint 
Folge ihrer Schwäche zu sein, daß sie nur passive Rollen zu spielen 
vermögen. 

Nur noch wenige Worte über die Unordnung im Gebiete des Geflihls- 
lebens. Man beobachtet außergewöhnlich lebhafte Affektäußerungen, weit 
über das Physiologische hinausgehende Gefühl&stürme bei geringer Dauer 
der Beteiligung des Gemütes. Nicht nur, als ob die Hemmungen fehlten, 
man gewinnt geradezu den Eindruck, als ob die Bahnen für die Affekte 
besonders leicht ansprechen. Die Hysterischen gelten als äußerliche 
Menschen, die ihr Ich, zwar nicht das wahre, dafür ein um so aufdring- 
licheres, zur Schau tragen. 

Durch die Behinderung im assoziativen, kritischen Denken, durch 
die Verirrungen der Gefühle, durch die qualitative und quantitative 
Störung der Umsetzung von Reflexion in Willensimpuls wird auch das 
Treiben der Hysterischen leidenschaftlich, inkonsequent pathologisch. 



19 

Und da noch obendrein die Reflexerregbarkeit als gesteigert bezeichnet 
werden muß, so sinkt es vielfach auf die Stufe eines Reflexes herab. 
Natürlich kommt die Unordnung des psychischen Lebens im Handeln 
am klarsten zum Ausdruck, während der raisonnierende Verstand mit 
einer logischen Begründung auch des verkehrten und unsinnigen Tuns 
gerne nachhinkt. 

Die hier dargelegten GrundzUge der Hysterie lassen sich als 
abnorme Beeinflußbarkeit im Sinne des Krankheitswillens, als Reizbarkeit 
und Schwäche, als Perversion und Dissoziation der seelischen Prozesse 
innerhalb bestimmbarer Grenzen zusammenfassen. 

Alle diese Elemente sind aus Fällen unzweifelhafter Hysterie 
abstrahiert; sie führen in ihrer Steigerung zu spezifischen Psychosen, 
sie wirken in abgeschwächter Form im Dauerzustande des hysterischen 
Charakters, dessen Grundzüge durch die obigen Ausführungen eigentlich 
schon gegeben sind. Aus ihm g^ckt überall die Hysterie hervor, auch 
wenn das Individuum dank eines besonneneren Verhaltens noch nicht 
als geisteskrank im strengen Wortsinne erscheint, sozial möglich ist, 
wie die überwiegende Mehrzahl aller Hysterischen. So einheitlich aber 
auch die GrundzUge des hysterischen Charakters sind, so schwierig 
wird es, das klinische Bild desselben zu entwerfen, da die individuelle 
Note bei der Hysterie noch deutlicher in die Augen springt als bei 
anderen Geisteskrankheiten. Die Persönlichkeit ist respektive wird 
hysterisch, d. h.ihre individuellen Charakterzüge erfahren eine Weiter- 
entwicklung und Steigerung nach dem Hysterischen hin. Demgemäß 
scheint es kaum möglich, eine Schilderung zu versuchen, die für eine 
größere Anzahl von Fällen gilt; nicht die Einzelsymptome sind be- 
weisend, sondern nur der Aufbau des ganzen. Immerhin läßt sich aus 
einer Reihe von Beobachtungen etwas abstrahieren, ein Typus dessen, 
was man hysterischen Charakter nennt und vom Charakter des Normal- 
menschen unterscheidet; ein Mosaik, aus vielen kleinen Zügen zusammen- 
gesetzt. Einzelne können fehlen, kaum angedeutet sein, die vorhandenen 
sich in verschiedener Weise gruppieren. Es soll im folgenden unternommen 
werden, gewissermaßen ein Idealbild hysterischen Charakters zu zeichnen. 

Am wenigsten einheitlich ist das äußere Verhalten der Hysterischen: 
fast möchte man sagen, alle vier Temperamente sind hier vertreten: 
man triflft Choleriker, Sanguiniker, viel häufiger freilich Melancholiker; 
die Phlegmatiker sind mehr schwerfällig als ruhig. Gewöhnlich wechselt 
Trägheit mit gesteigertem Bewegungsdrang. Wenn die Hysterischen sich 
äußern, stößt man auf Störungen der Verstandes- und Gedächtnisfunktion. 
Das Denken geschieht sprunghaft, die Kranken flammen unvermutet in 
heller Begeisterung auf, kühlen sich ebenso schnell ab. Ein neuer Gegen- 
stand erregt ihr Interesse; dasselbe kann lange festgehalten werden 
anderemale wird eine Nachricht, eine Erkenntnis von vornherein abgelehnt. 

2* 



20 

Die Patienten sind unberechenbar; es gibt bei ihnen nach dem alten 
Worte Sydenhams nichts Konstanteres als die Inkonstanz. Die rasch 
geweckte Aufmerksamkeit hält nicht vor; die wenigsten Hysterischen 
vermögen sich soweit zu konzentrieren, daß sie fremden Gedanken- 
gängen durch einige Zeit folgen würden, wenn sie andererseits auch 
wieder an einer Vorstellungsreihe kleben. Irgendein Ereignis, das einen 
Eindruck auf sie gemacht, bringen sie nicht mehr aus dem Bewußtsein; 
sie beschäftigen sich so intensiv damit, daß die Sinneswahmehmungen 
gestört sein können. Es wird von Kranken berichtet, welche zum Lesen 
einer Druckseite eine Stunde und mehr brauchten. Dementsprechend 
muß die Merkfähigkeit herabgesetzt sein; gelingt es aber, das Interesse, 
welches meist auf einen engen Vorstellungskreis beschränkt ist, zu fesseln, 
dann überraschen einzelne Gedächtnisleistungen. Indessen pflegen die 
Hysterischen auch kleine Geschichtchen ungenau wiederzugeben, gar erst, 
wenn ihr, eigenes Ich dabei in Frage kommt. Unterstützt wird die Neigung 
zu Erinnerungsfälschungen durch eine mangelhafte Kritik; die Patienten 
können nicht unterscheiden zwischen Tatsache und Traum, zwischen 
Wirklichkeit und Phantasie, zwischen Gehörtem und Einfällen. Dadurch 
verwickeln sie sich in Widersprüche. Bald nehmen sie irgendeine Mitteilung 
überzeugt auf, dann setzen sie Tatsachen den hartnäckigsten Unglauben 
entgegen, kritisieren, nörgeln, disputieren mit größter Leidenschaftlichkeit, 
ohne verständlichen Zweck. Man sieht bald, daß sie vorgefaßte Meinungen 
vertreten, nach Äußerlichkeiten, Stimmungen, zufälligen Nebenumständen 
urteilen, auf das Wesen einer Sache gar nicht eingehen. Eine besondere 
Neugier bekunden sie nach persönlichen Erlebnissen, womöglich Skandal- 
geschichten vom lieben Nächsten. Am allermeisten aber verweilt ihr 
Interesse bei der eigenen Persönlichkeit. Alle Hysterischen sind rücksichts- 
lose Egoisten, die den Zuständen des Ich die höchste Aufmerksamkeit 
entgegenbringen und es nie verzeihen, wenn man ihnen nicht die Beachtung 
schenkt, die von ihnen für notwendig gehalten wird. In diesem Bestreben 
sind sie ebenso hartnäckig als erfinderisch. Sie lassen keine Gelegenheit 
verstreichen, sich herauszuputzen, und wenn das im ausgefahrenen Geleise 
nicht gelingt, so treten sie aus der übrigen Menschheit heraus, durch 
gesuchte Originalität, durch Widerspruch, indem sie das loben, was andere 
tadeln, das schön finden, was anderen unerträglich erscheint. Insofern 
das Ich in den Vordergrund der Ereignisse rückt und die Tatsachen 
sich dem nicht fügen wollen, so emanzipieren sie sich von den Tat- 
sachen. Fakten haben nicht stattgefunden, d. h. sie werden vergessen, 
soweit sie den Kranken unangenehm sind, sie werden ausgeschmückt 
und dem neuen Gesichtspunkte angepaßt eventuell ganz frei erfunden, 
ünstetigkeit, Gedächtnisstörungen und Egozentrizität mindern die 
tatsächlichen Leistungen der Hysterischen, ohne daß man bei den schlag- 
fertigen Antworten der oft poetischen Ausdrucksweise dessen gewahr 



21 

würde. Immerhin verfügen viele dieser Patienten über eine ausgezeichnete 
Bildung, mit der sie gerne prunken. Andererseits täuscht ihre lebhafte 
Phantasie, die sie manchmal von der Außenwelt abzieht und ganz 
verträumt erscheinen läßt, ein nicht vorhandenes Wissen vor. 

Dieses Wissen spielt überhaupt eine geringere, das Glauben dafür 
eine um so größere Rolle. Die meisten Hysterischen sind sehr fromm. 
Sie brauchen ein^ Autorität, jemanden, dem sie sich anschließen, zu dem 
sie aufblicken können. Wenn sie von der Welt nicht verstanden und 
verkannt werden, so finden sie im Glauben eine feste Stütze, in himm- 
lischen Personen, in ihrem speziellen Schutzheiligen einen zuverlässigen 
Patron, in der seelischen Vereinigung mit diesem eine Befriedigung, 
welche ihnen die Erde versagt. Die Kranken rühmen sich ihrer Be- 
ziehungen zum Himmel, ja sie spielen sich auf die Heiligen hinaus, 
besonders dann, wenn sie gleichzeitig ethische Defekte zu verbergen 
haben. Wenn ein Glaube nicht genügt, so kombinieren sie auch 
mehrere. Mir ist eine Anzahl solcher Patientinnen mosaischer Konfession 
bekannt, die den christlichen Heiligenkultus mit abergläubischer Bilder- 
verehrung zum alten Testamente hinzunehmen, welche Moses und die 
heilige Maria an einem Bande auf der Brust tragen; eine dieser Jüdinnen 
pilgerte sogar nach Lourdes. In der Regel ist die Frömmigkeit aller- 
dings erst auf ihrer Höhe, nachdem das Leben eine Reihe von Ent- 
täuschungen gebracht hat; sie kann wieder aufgegeben werden, wenn 
sie ihren Zweck verfehlt; und vorübergehend füllen auch Symbole 
irdischer Glückseligkeit, Briefe, Andenken an eine teure Person, den 
stets leeren und unbefriedigten Platz im Herzen aus. 

Das leitet schon zum Empfind ungs- und Gefühlsleben der Hyste- 
rischen hinüber. Hier trifft man die Kardinalsymptome der Hysterie. 
Es ist bekannt, daß bei diesen Kranken Anomalien der Sinnesempfin- 
dungen ganz regelmäßig gefunden werden. Herabsetzung, Steigerung, 
Perversität der Empfindungsqualitäten. Die Patientinnen verlieben sich 
in die schrecklichsten Gerüche, tragen die grellsten Farben, machen 
ein erfreutes Gesicht bei traurigen Anlässen und umgekehrt. Sie sind 
dabei des Widerspruches sich bewußt, der sie über die Menschheit er- 
hebt. So eine Hysterica erzählt jedermann mit tiefinnerer Befriedigung, 
daß sie bei einer Trauung dem neuvermählten Paare ihr Beileid ausdrücke, 
während sie bei Begräbnissen den Angehörigen der Verstorbenen zu 
gratulieren pflege. In dieselbe Kategorie gehören die Sympathien und 
Antipathien, mit denen diese Kranken Fremden entgegentreten; Empfin- 
dungen, die unmotiviert entweder flüchtig zurückgenommen oder zähe 
festgehalten werden. Die Hysterischen haben auch ein merkwürdig feines 
Gefühl für ihresgleichen. Ist auf einer psychiatrischen Abteilung eine 
größere Zahl solcher Patientinnen beisammen, dann entwickeln sich 
die regsten persönlichen Beziehungen; es werden Intriguen mit oder 



22 

gegeneinander gesponnen, die besten Freunde von heute sind morgen 
Todfeinde fürs ganze Leben. Geradezu überraschend ist es, wenn eine 
neue Hysterica ankommt und aus der großen Zahl von Kranken ihre 
vielleicht einzige Kollegin sofort mit untrüglichem Blicke herausfindet, 
trotzdem sie sonst vielleicht ganz blöde erscheint. 

Am auffallendsten sind aber die unmotivierten Gefühlsexzesse, die 
maßlose Übertreibung der Airsdrucksbewegungen, deren sich die Hyste- 
rischen befleißigen. Das psychische Gleichgewicht ist dabei nicht so arg 
gestört wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Als Grundstimmung 
klingt immer wieder durch eine nur schlecht verhehlte Unzufriedenheit 
mit sich selbst oder vielmehr mit der bösen Welt, welche auf die 
Kranken und ihr schweres Leiden nicht die gebührende Rücksicht 
nimmt. Daneben besteht ein heißes Verlangen nach Lebensgenuß und 
Glück, das zwar selten eingestanden wird, aber dodh aus dem ganzen 
Gebaren der Patienten hervorleuchtet. Unvermittelt kann die zur Schau 
getragene Stimmung schwanken zwischen Verzweiflungsausbrüchen und 
Heiterkeit, Tränenergtisse wechseln mit Lachkrämpfen. Die ganze Skala 
der Empfindungen wird in kürzester Frist durchmessen, ohne daß die 
Affekte an entsprechende äußere Beize anknüpfen. Man sieht maßlose 
Ausbrüche oder perverse, aber auch gar keine Reaktion auf einen 
bestimmten Anlaß, so daß die Stimmungen demjenigen, der den 
Schlüssel zum Bewußtsein der Kranken nicht hat, ganz unverständlich 
bleiben. 

Höherer, ethischer und altruistischer Empfindungen sind die meisten 
Hysterischen nur in beschränktem Maße fähig; auch wenn ihr Mund von 
salbungsvollen Worten überfließt, straft ihr Handeln sie Lügen; der 
Egoismus kommt doch zum Durchbruche. Es ist nur scheinbar ein Wider- 
spruch zu dem Gesagten, wenn eine Hysterica einmal auf Grund eines 
plötzlichen unvermittelten Entschlusses schwere persönliche Opfer bringt, 
mit Einsetzung ihres ganzen „Ich" eine schwierige oder gefährliche Auf- 
gabe durchführt. Derartige Anwandlungen heischen um so dringender 
Komplimente von selten der Mitwelt. Für manche Fälle muß man indes 
annehmen, daß die Hysterica zur Selbstaufopferung durch die Krankheit 
getrieben wird. Nachdem ein tolles Zerstreuen wirkungslos geblieben, 
versuchen solche Patienten die innere Unbefriedigung, ihren Weltschmerz 
durch Werke der Barmherzigkeit und des Wohltuns zu lindern; die Un- 
möglichkeit, die ihnen vom Leben gestellten Aufgaben zu lösen, verweist 
sie auf den so dankbaren Beruf, Almosen zu spenden, Kranke zu pflegen 
oder was leichter ist, mit ein paar freundlichen Worten zu trösten. Der 
Äußerlichkeit der Hysterie entsprechend, ist selbst hier der Schein 
mehr als die Wirklichkeit. Namentlich das gewisse geräuschvolle Wirken 
im Dienste einer modernen Idee, das dem Individuum obendrein keine 
großen Lasten auferlegt, ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Am 



2a 

billigsten kommt Seelenrettung zu stehen und zahlreiche hysterische 
Fromme sind da am Werke. 

Aber selbst wenn tiefere Beweggründe, der Wunsch, ihr Inneres zu 
übertäuben, zu altruistischen Handlungen treiben, die Anerkennung ihre» 
Tuns vermissen die Hysterischen ungern; sie wollen in den Vordergrund 
geschoben werden. Wenn positive Leistungen dazu nicht ausreichen, so 
dienen die pathologischen Charakterzüge diesem Zwecke, und perverse 
Empfindungen, Gefühlsstürme werden zum Mittel, durch welches die 
Patienten erhöhte Eücksichtnahme von selten der Umgebung erzwingen. 
Am entschiedensten natürlich wirken Krankheitssymptome und seien 
sie auch nur subjektiver Natur, wenn sie überzeugend genug vorgetragen 
werden. Die nächste Umgebung muß sich in unglaublicher Weise tyran- 
nisieren lassen, die Kranken kennen nur Rechte, keine Pflichten; Ferner- 
stehende werden als dankbares Publikum durch abenteuerliche Schilde- 
rungen gefesselt, zu Zeugen angerufen, wie man die Patienten vernach- 
lässigt. Die Krankheit, die interessanten Sensationen und ungeheuren 
Schmerzen schreien nun nach Behandlung. Wenn alles die Geduld verliert, 
die Ärzte zwingt schon ihr Beruf, sich den Leidenden zu widmen. Haupt- 
sächlich ist es wohl der Wunsch nach ärztlicher Bestätigung ihrer hypo- 
chondrischen Klagen, der die Hysterischen zu den ärztebedürftigsten aller 
Patienten macht. Das Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit, vielleicht 
ein äußerer Zwang, bringt sie in völlige Abhängigkeit von einem be- 
stimmten Arzte, den sie mit ihrem Vertrauen beglücken oder sie wechseli^ 
die Träger berühmter Namen, um damit renommieren zu können, daß 
ihnen überhaupt nicht mehr zu helfen sei. Demgegenüber pflegt auch der 
Umgebung aufzufallen, daß die Kranken selbst eigentlich am wenigsten 
unter ihren Krankheitserscheinungen leiden, daß sie immer auf ihren 
Vorteil bedacht bleiben, jedes Vergnügen bis auf das äußerste auszu- 
kosten verstehen; man kann beobachten, daß eine an beiden Beinen 
gelähmte HysUtrica am Klavier einen flotten Walzer spielt, sich prächtig 
mit dem Arzte unterhält. Ist sie überdies auch noch aphasisch, dann 
winkt sie ihn, der ihr nicht helfen kann, mit dem freundlichsten Lächeln 
herbei zum Vierhändigspiel. Die Szene ändert sich sofort, wenn eine 
nichtfunktionelle Komplikation auftritt, und sei es nur eine Aknepustel, die 
a. B. das Gesicht der Patientin zu entstellen droht. Dieselbe kann die 
furchtbarsten Aufregungszustände auslösen und dem Arzte schlaflose 
Nächte verursachen. Man kommt immer wieder auf die Eigenliebe in 
vielerlei Verkleidungen zurück. 

Es wurde das sexuelle Moment im hysterischen Charakter wieder- 
holt betont; namentlich in der Auffassung des Publikums heißt hysterisch 
oft soviel als sexuell unbefriedigt. Das Kapitel „Ätiologie'* wird lehren, 
daß gewisse Beziehungen zwischen sexuellem Leben und Hysterie 
bestehen. Hier, wo die hysterische Persönlichkeit skizziert wird, inter- 



24 

essiert nur, daß tatsächlich Elemente des normalen und abnormen 
geschlechtlichen Ftihlens dem Beobachter sich aufdrängen. Die Kranken 
sind erotisch, verschwenden Parfüms und rosa Briefpapier, sprechen von 
anstößigen Dingen, lieben es, andere in Stimmung zu versetzen, eifer- 
süchteln mit Nebenbuhlerinnen, verdächtigen dieselben, knüpfen selbst 
Verhältnisse an oder lassen sich vergewaltigen. Übrigens entfaltet sich 
auch hier ihre Launenhaftigkeit. Leidenschaftliche Liebe und sexuelle 
Begehrlichkeit können unversehens in Gleichgültigkeit, Überdruß, ja Haß 
und Ekel vor leiblicher Berührung umschlagen — wenn ein normaler 
Geschlechtstrieb überhaupt je vorhanden war. Viel von der sexuellen 
Erregung wird nämlich nur vorgetäuscht durch die ungemessen freie 
Ausdrucksweise und Übertreibung des Gebarens. Die Hysterischen sind 
kokett, suchen sich bemerklich zu machen, werfen mit Blicken um sich, 
ja gebärden sich geradezu mannstoll, ohne daß von wirklich geschlecht- 
lichem Empfinden die Rede sein könnte. Viele dieser Patientinnen sind 
sogar äußerst prüde, gestatten dem Fremden nicht einmal eine leichtere 
Vertraulichkeit und selbst, wo sie tiefere Sympathien entwickeln, ist das 
Weib nur schwer in ihnen zu erwecken. Durchaus zu bestätigen ist 
die feine Bemerkung Gilles de la Tourettes, daß die Hysterischen 
im allgemeinen mehr zarte Annäherung suchen als den Acte genitale, den 
sie häufig nur erdulden, und zwar in zweckbewußter Überlegung. Der 
Koitus ist für sie eine Enttäuschung; sie begreifen ihn nicht, sie wider- 
streben aus tiefinnerem Gefühle; sie haben angeblich oder auch wirklich 
keine Wollustempfindung, klagen über Schmerzen. Eine ziemliche An- 
zahl von Hysterischen ist sexuell pervers veranlagt Trotzdem sie sich 
über einen feschen Militär freuen, verabscheuen sie den Mann als Ge- 
schlechtstypus, während sie masturbieren, in Lektüre oder auf andere 
Weise Befriedigung suchen oder sie sind überhaupt frigide. Andererseits 
fällt eine ungewöhnlich frühe Entwicklung der Sexualität auf, die aller- 
•dings vorwiegend auf Rechnung der degenerativen Anlage zu setzen 
wäre; es liegen Beobachtungen vor, daß 12jährige Mädchen Liebesver- 
hältnisse anknüpfen. Dort wo die moralischen Qualitäten vom Hause 
aus defekt sind, bei Schwachsinnigen, wird gar nicht selten Prostitution 
angetroffen, diese aber wohl nur passiv als Mittel zu einer bequemen 
Existenz, nicht aus physischem Bedürfnis ausgeübt. 

Es sei gestattet, auf einen Gedanken zurückzukommen, den ich an 
anderer Stelle ausgesprochen habe. Das Sexualsystem spielt bei Per- 
sonen feminini generis eine große Rolle. Die Vorgänge des Geschlechts- 
iebens beherrschen vielfach den Bewußtseinsinhalt. Bei der normalen 
Frau wird durch eine Reihe mächtiger Hemmungen ein eventuelles Laut- 
werden dieser Gedankenkreise verhindert respektive nur unter günstigen 
Umstünden und in beschränktem Maße zugelassen; bei der hysterischen 
fallen solche Hemmungen weg. Das „Ich" als Geschlechtscharakter lebt 



25 

sich rücksichtslos aus. Wie schon bei den anderen Psychosen der Frauen 
kaum je etwas von sexuellem Inhalt vermißt wird, so findet man auch 
bei den Hysterischen sexuelle Halluzinationen, Delirien, Eifersuchtszenen 
und Liebesintriguen, im Dauerzustande des hysterischen Charakters 
Erotismus, hier nur auMringlich und übertrieben geäußert, ohne daß die 
Sexualität mit dem Wesen der Hysterie etwas zu tun hätte — sie 
gehört zum Wesen des Weibes. 

Auch der zweite grundlegende Instinkt der Frau, die Mutterliebe, 
findet sich. bei Hysterischen selten in ganz normaler Weise entwickelt 
Oft schon sehr früh zeigt sich eine wahre Affenliebe zu kleinen Kindern, 
die durch körperliche Vorzüge oder schöne Bekleidung Aufmerksamkeit 
erregen, gelegentlich übrigens sogar zu krüppelhaften Geschöpfen, die 
Mitleid erwecken. Hysterische Mütter betrachten ihre Kinder als Objekte 
stürmischer Zärtlichkeitsäußerungen, als Spielzeug. Ein leicht erregter 
Zornausbruch kann aber zu Mißhandlung führen, die freilich im nächsten 
Augenblick durch Tränenausbrüche und leidenschaftliche Küsse zu sühnen . 
gesucht wird — eine ideale Erziehungsmethode. Eine große Zahl von 
Hysterischen ist indes einer Mutterliebe nicht fähig oder wenigstens 
keiner Liebe zu eigenen Kindern: es gibt Kranke, welche ihre Töchter 
aus dem Grunde des Herzens hassen, denen höchstens ein gewisser 
Mutterstolz, besser Eitelkeit von der Umgebung abgerungen werden 
kann. Neben oder statt der Liebe zum Kinde findet man eine solche 
zu Tieren, oft nur als Sentimentalität, die nicht einmal den Gedanken 
•eines dem Lieblingshündchen zugefügten Schmerzes erträgt, anderemale 
eine Liebe mit sinnlichen Qualitäten, eine wahre Zoophilie. Übrigens 
kommt auch eine Verquickung beider Formen vor: Grausamkeitsvorstel- 
lungen, die Lektüre einer antivivisektionistischen Broschüre löst Sexual- 
empfindungen aus. 

Das Wollen der Hysterischen erscheint etwas eingeengt durch ihren 
Egoismus, ja es besteht geradezu Willensschwäche, soweit nicht persön- 
liche Beziehungen in Frage kommen. Die einfachen Handlungen des 
Lebens werden fast automatisch ausgeführt, nachdem sie kein Interesse 
wecken und von keinen Mitschwebungen der persönlichen Gefühle be- 
gleitet sind. Fast sieht es aus, wie wenn eine äußere, eine andere Person 
agieren würde, während eine innere, unbeteiligte, das eigentliche „Ich" 
unterdessen mit sich selbst und einem engeren Vorstellungskreise sich 
beschäftigt. Hier liegt der Kern der von so vielen Seiten angenommenen 
Spaltung der hysterischen Persönlichkeit. Kommt das „Ich" zum Durch- 
brucb, so werden die Außenstehenden durch die unmotivierten Einfalls- 
handlungen überrascht. 

Man sieht leicht, daß die Alltagsbeschäftigung der Frau, die 
Führung eines Haushaltes, solchen Kranken die größten Schwierig- 
keiten bereiten kann. Abgesehen von der Unordnung und Zerfahrenheit 



26 

ihres Tuns, die Hysterischen sind durchaus unwirtschaftlich. Es fehlt 
ihnen einmal das richtige Gefühl für den Wert des Geldes, andererseits 
unterliegen sie dem impulsiven Drange, sofort irgendetwas zu kaufen, 
was ihre Aufmerksamkeit erregt, was ihnen gefällt Das unmittelbar Not- 
wendige wird achtlos übersehen und obendrein stimmt die Rechnung nicht. 
Nun wird der Spieß umgedreht: der Mann gibt zu wenig Geld her, läßt seine 
Familie darben. Die Kranke erklärt sich von den besten Absichten beseelt, 
nur die kleinlichen Verhältnisse seien schuld, daß sie den Haushalt nicht 
führen könne. Ähnlich geht es im Berufsleben, träumerisch starren die 
Patienten vor sich hin, nur mechanische Arbeiten werden zu Ende gebracht. 

Bei schwerer Hysterie hat man allerdings selten Gelegenheit, die 
Individuen zaudernd über einer Tätigkeit zu sehen, diese Fälle leben schon 
ihrer Krankheit — und das geht flott, bis sie, in der Heilanstalt an- 
gelangt, reichlich Gelegenheit haben, ihren Charakter frei zu entfalten 
und sich auch frei zu bewegen. Hier steht ihr „Ich^ in lebhaftem Rapport 
mit der Umgebung; sie freuen sich der Aufmerksamkeit, welche sie wecken, 
und arbeiten daran, Mittelpunkt eines Kreises zu werden, diesen möglichst 
zu vergrößern. Sie schließen wo nötig Freundschaft, überwerfen sich mit 
ihren Freundinnen um Nichtigkeiten willen, schmollen, lassen sich unter 
Aufgebot theatralischer Mittel wieder versöhnen. Sie verzeihen so gerne: 
die dankbarste Rolle. Alles was sie tun, namentlich die Art wie sie es 
tun, scheint auf Zuschauer berechnet; ihr Gebaren ist ganz anders vor dem 
Publikum, anders wenn sie allein sind; es ist anders dem Manne gegen- 
über, an den ein grausames Schicksal sie gefesselt hat, als vor einem 
Fremden, dem sie Interesse abzugewinnen wünschen. 

Im wesentlichen bestimmt weniger das Denken als das Gefühlsleben 
die Handlungen der Menschen, auch der Hysterischen. Daher ist da» 
Krankhafte im Tun und Lassen am allersichtbarsten. Wenn eine Hysterica 
aus äußerlichen, richtiger inneren Ursachen von einer plötzlichen 
Sympathie überwältigt wird, äußert sie dieselbe ohne Hemmungen; die 
Sympathie wird flüchtig wieder aufgegeben, das Gebaren ist kühl und 
gemessen; oder die Liebe verkehrt sich gar in Haß, an dem zähe fest- 
gehalten wird. Insofern dieser ein viel aktiveres Gefühl ist, bestimmt er 
ihr Auftreten in weit höherem Grade als Freundschaft und Zuneigung. 
Da die Grundstimmung der Hysterischen vorwiegend eine depressive ist, 
so darf es nicht wundern, diese Kranken meist unverträglich zu sehen, 
stets bereit, zu stänkern, zu krakeelen, zu hetzen, zu nörgeln, alles durch- 
einander zu bringen. Die Hysterischen sind in ihrer Rachsucht erfinderisch, 
unerschöpflich, quälen ihre Widersacher in raffinierter Weise, worin sie von 
ihrer Phantasie wirksam unterstützt werden. Bei Verkümmerung der ethischen 
Gefühle sind sie sogar gefährlich, weil sie dann vor keiner Lüge, ja vor 
einem Verbrechen nicht zurückschrecken, um dem unlieben Nächsten 
etwas antun zu können. 



27 

Im allgemeinen sind ihre Handlungen rücksichtslos, brüsk, unver- 
mutet, sie erscheinen wie Reflexe, unüberlegt, auch dann, wenn sie nicht 
mehr rückgängig zu machen sind. Die größte praktische Bedeutung haben 
da affektvolle Angriffe auf die Umgebung und Selbstmordversuche. Doch 
ist die Gefahr nicht so groß, wie sie von mancher Seite dargestellt wird. 
Die Reizbarkeit der Kranken ist gesteigert, der Affektausbruch ein un- 
geheurer, die Aktion wird, vielleicht blitzschnell vorbereitet, triebartig 
ausgelöst, aber die Willensschwäche lauert schon im Hintergrunde und 
der ernsthafte Entschluß unterbleibt im letzen Augenblick oder wird nur 
zur Hälfte ausgeführt. 

So geht es in allem und jedem. Ewige Unruhe und Unstetigkeit ohne 
innere Einheitlichkeit zeichnet die Hysterischen aus. Bald lenken zufällige 
äußere Einflüsse, bald unbekannte Innenvorgänge den Willen einer Wetter* 
fahne gleich nach einer andern Richtung, so daß die Patienten schließlich 
selbst nicht wissen, was sie eigentlich wollen; sie martern sich und die 
Umgebung schrecklich, indem sie ihre eigensten Entschlüsse im nächsten 
Augenblick widerrufen, dabei die Situation stets so verdrehen, als ob man 
ihnen immer gegen den Strich handle, sie geflissentlich kränke. Es 
wird ein unbegreiflich hartnäckiger Eigensinn einem vernünftigen Tun 
lange widerstreben, bis ein Akzidens, eine Tagesautorität den Willen 
umstimmt. Dabei sind die Patienten völlig einsichtslos für das Dissoziale 
in ihrem Verhalten, für die Fehler und Schwächen, wie der moralisierende 
Zuschauer sagen müßte, der eigenen Person, während sie an anderen aus- 
gezeichnet beobachten. Man kann den drastischen Fall erleben, daß eine 
Tochter, welche das getreue Abbild ihrer Erzeugerin ist, von ihrer Mutter 
nicht nur zur Rede gestellt, sondern auch geprügelt wird, so oft sie einen 
hysterischen Charakterzug kopiert. 

Im ganzen bieten die Hysterischen eine Diskontinuität der höchsten 
psychischen Wellenlinie, einen unvermittelten Wechsel zwischen Schwäche 
und Kraftleistungen. Das hindert aber nicht, daß eine ganze Anzahl dieser 
Patienten bei Ablenkung der Aufmerksamkeit sich recht normal benimmt, 
daß man im alltäglichen Leben einer Menge Hysterischer begegnet, welche 
unter günstigen äußeren Verhältnissen ihren Beruf ausfüllen, oft sogar 
einzelner hervorragender Leistungen fähig sind, bis erst unter ungünstigen 
äußeren Umständen eine offenkundig hysterische Erkrankung ausbricht. 

Das eben gezeichnete Charakterbild ist aus Zügen zusammengesetzt, 
die sich in typischer Gruppierung bei klassischen Hysterien finden. Man 
hat ein Recht, aus dem großen weiten Rahmen des degenerativen Irre- 
seins diesen speziellen Symptomenkomplex herauszuheben, weil er eigen- 
artig genug ist, schärfer umschrieben, als manche andere Krankheits- 
znstände, und weil er durch das häufige Vorhandensein körperlicher Sym- 
ptome, der bekannten Stigmen, speziell der hysterischen Anfälle, eine 
noch weitergehende Kennzeichnung erfährt. 



28 

Mit der Diagnose Entartuugsirresein leistet man tatsächlich nur 
wenig. Dasselbe ist ein Sammelbegriff, unter den viele klinische Krank- 
heitsbilder fallen. Zu den Degenerierten weiteren Sinnes gehören die Epi- 
leptiker, die moralisch Schwachsinnigen in ihren vielen Spielarten, neben 
der Hysterie die Nervosität, die Hypochondrie, die konstitutionellen Ver- 
stimmungen, die Periodiker, das Irresein in Zwangsvorstellungen, die an- 
geborenen krankhaften Triebe und Suchten, die sexuellen Perversionen 
usw., alles psychopathisch minderwertige Individuen. Die Verwirrung 
wird namentlich dadurch gesteigert, daß man an einem einzigen Degene- 
rierten mehrere dieser Unterformen gleichzeitig, wenn auch in verschie- 
dener Deutlichkeit, ausgeprägt findet; doch kann eine einzelne für sich 
auftreten und hierdurch das Recht gesonderter klinischer Betrachtung 
erwerben. 

Es ist möglich und geboten, die Hysterie aus prognostischen wie 
therapeutischen Gründen zu differenzieren nicht nur gegen die anderen 
Formen des degenerativen Irreseins, sondern auch gegen funktionelle 
Psychosen, die manchmal verwandte Züge tragen und den hysterischen 
Symptomenbildern äußerlich ähneln; sie muß auch gegen Charakterbilder 
abgegrenzt werden, die man noch als normal zu bezeichnen ein Recht 
hat. Wie auf jedem Gebiete geistiger Erkrankung, geht es auch bei der 
Hysterie. Zahllose Übergangsformen führen hinüber zum Physiologischen; 
der hysterische Charakter unterscheidet sich nur quantitativ. Die Schwie- 
rigkeit, die Diagnose einer psychischen Erkrankung zu begründen, ist 
nicht größer als z. B. bei den Formen des Schwachsinnes, des intellek- 
tuellen sowohl wie des moralischen, die auch als Typus jedem selbst- 
verständlich erscheinen, die bei ihrer Abgrenzung im konkreten Falle 
doch fast unlösbare Schwierigkeiten bereiten. Ein anderes Beispiel. 
Wohl jeder Mensch hat einmal in seinem Leben eine Zwangsvorstellung; 
deshalb darf man noch nicht von Irresein in Zwangsvorstellungen 
sprechen. Um diese klinische Diagnose vertreten zu können, muß der 
Zug ins Pathologische eine ziemliche Entwicklung erreicht haben. 
Nun kann aber auch eine Hysterica an Zwangsvorstellungen leiden 
und irgendein Degenerierter hysterische Züge aufweisen: beides um 
so leichter, da die Hysterie in ihrer Gänze unter das Entartungs- 
irresein fällt. Alle diese Schwierigkeiten ergeben sich nur im einzelnen 
Falle und wohl nur dann, wenn man sich ausschließlich an das äußere 
Bild des eben skizzierten Charakters hält, statt die Persönlichkeit zu 
analysieren und zu ihrer Beurteilung die an früherer Stelle auseinander- 
gesetzten Grundzüge der Hysterie vorzunehmen. In der Literatur wird 
öfters der Einwand erhoben, daß die buntfarbigen Schilderungen nur auf 
die „degenerierten" Hysterischen passen; dieser und jener Autor schwört 
heilige Eide, daß seine Kranken die edelsten und besten Menschen, 
von seltener Charakter- und Willensstärke, hervorragender Geistes- und 






29 

Herzensbildung waren. Neben der Suggestibilität werden aber Stimmüngs- 
anomalien, wenn auch in bescheidenen Grenzen, intellektuelle Ermüd- 
barkeit, einzelne perverse Reaktionen, das Ausstrahlen von Gemütsbewe- 
gungen in körperliche Zustände in diesen Fällen niemals vermißt — und 
das genügt. Nochmals sei auf die außerordentliche Polymorphie des hyste- 
rischen Charakters hingewiesen, die eine einheitliche Schilderung des- 
selben nicht zuläßt, ohne damit die Einheitlichkeit seines Wesens zu 
negieren. 

Im speziellen muß noch einiger Variationen desselben gedacht werden, 
die ihrerseits wieder für einen Kreis von Hysterischen typisch sind. Daa 
oben skizzierte Verhalten beobachtet man am häufigsten und schönsten 
bei weibliehen Individuen auf der Akme des Lebens. Wenn die Hysterie 
später manifest wird, zur Zeit der Menopause, dann pflegt sie weniger 
aktiv zu sein, dann kleidet sie sich mehr in das Gewand trauriger Ver- 
stimmung; Reizerscheinungen sind seltener, es dominieren Reminiszenzen. 
Immerhin sind grundlegende Züge, die Suggestibilität, das Krankheits- 
gefühl, der Krankheitswille deutlich genug ausgeprägt. 

Auch bei männlicher Hysterie kann man vereinzelt Bilder finden, 
die dem oben geschilderten Typus vollständig entsprechen; die Grund- 
verschiedenheit des männlichen und weiblichen Charakters verwischt sich 
dadurch. Die Sucht aufzufallen, die Tränenergüsse, alles was bei der 
Frau so physiologisch erscheint, befremdet beim Manne^ und gibt ihm 
etwas Weibisches. Die hysterische Eigenliebe verleitet diese romanhaft und 
Phantasie voll angelegten Männer zu Übertreibungen; sie rühmen sich 
imaginärer Vermögen, sexueller Heldentaten, lügen das Blaue vom Himmel 
herunter, sind dabei aber durchaus gutartig, wenn die moralische Degene- 
ration im Hintergrunde bleibt, sonst werden sie noch eher kriminell als die 
hysterischen Frauen. Zahlreiche Zwischenstufen rudimentärer Entwicklung 
fuhren zu der häufigsten Form des hysterischen Charakters bei Individuen 
masculini generis, einer vorherrschend depressiven Grundstimmung mit 
Willensschwäche, einem willenlosen Sichgehenlassen. 

Klinisch ist die Einreihung auch dieser Seelenzustände unter die 
Hysterie durch die Übergangsformen und die hysterischen Stigmen 
genügend belegt. Daß die Bilder so verschiedenartig sind, hängt mit 
dem Wesen der Erkrankung zusammen. Die Hysterie ist nicht etwas 
Fremdes, das den Gehimmechanismus in Bande schlägt; der hysterische 
Charakter folgt aus der Weiterentwicklung gewisser Züge, die in jedem 
Seelenleben schlummern; die Grundlagen der Individualität bleiben er- 
halten. Da die mehr kritische Veranlagung des Mannes dem psychischen 
Mechanismus der Hysterie am meisten entgegengesetzt scheint, ist zu er- 
warten, daß er seltener in dieser Weise erkrankt und daß selbst im 
Erkrankungsfalle gewisse Symptome der Hysterie ihm nicht aufgezwungen 
werden können. Das ist nun Tatsache. Es läßt sich in den seltenen 



30 

Fällen, wo der hysterische Charakter in der weibliehen Form bei einem 
Manne voll entwickelt ist, obendrein nicht einmal ausschließen, daß hier 
ein psychischer Hermaphroditismus, eine weibische Gemütsveranlagung der 
Hysterie die Hand reicht. Für gewöhnlich wird nur der Defekt erkennbar; 
es stehen beim hysterischen Manne Schwäche und Insuffizienz im Vorder- 
grunde; es fehlt ihm das Produktive, Bewegliche, Heitere der weiblichen 
Hysterie. Insofern diese einem Schwachsinnszustande entspricht, müßte 
man dem hysterischen Charakter begegnen, wenn man in der Stufenleiter 
der psychischen Entwicklung zurückgeht. Nach Möbius brauchte man 
sich nicht zu wundern, daß die weibliche Psyche mehr zur Hysterie 
neige; tatsächlich steht schon der normale weibliche Charakter der Hysterie 
sehr nahe, jener der Kinder noch viel mehr: die Analogien, welche das 
Studium der Einderseele enthüllt, sind geradezu überraschend. 

Unsere Kleinen sind außerordentlich beeinflußbar, von der Um- 
gebung abhängig, man könnte sie suggestibel nennen. Während sie unter 
ihresgleichen lebhaft und lustig sind, bringt der Anblick eines Fremden 
sie sofort um die Sprache; still und scheu haben sie scheinbar alles ver- 
gessen, was sie schon gelernt, um im nächsten Augenblick, allein gelassen, 
wieder in das frühere Treiben zu verfallen. Kinder glauben blind an jede 
Autorität, die sie etwas versichert, was dem kindlichen Ideenkreise paßt, 
und sei es das blödeste Ammenmärchen. Sie lügen, verstellen sich meister- 
haft, um ihre kleinen Zwecke durchzusetzen, kaum daß das psychische 
Leben erwacht. In der Regel sind sie lebhaft, geistig regsam; sie springen 
von einem Thema zum andern ab, wenden sich mit rasch ermüdender 
Aufmerksamkeit jedem neuen Sinneseindruck zu. Andererseits sind sie 
eigensinnig und werden von endogenen Vorstellungen hartnäckig be- 
herrscht Unverhüllt tritt das Bestreben zutage, sich beachten und be- 
wundern zu lassen. Nicht selten sieht man, wie irgendein kleines 
Fräulein sich dreht, wendet, ziert und ihre Freude darüber kaum ver- 
bergen kann, daß sie eines Großen Aufmerksamkeit erregt. Endlich 
lieben die Kinder ungeheuerliche Aflfektausbrüche, die im nächsten Augen- 
blicke wieder vergessen werden; sie begehen unüberlegte, fast reflek- 
torische Handlungen. 

So verhält sich die Mehrzahl der Kinder und alle diese Züge findet 
man bei der Hysterie wieder. Es kommt eine weitere grundlegende 
Ähnlichkeit hinzu, die Neigung zu Konvulsionen,^ zu rudimentären wie 
zu ausgesprochenen Krampfformen als Antwort auf geringfügige Reize. 
Man möchte darum beinahe von einer physiologischen Hysterie des 
Kindesalters sprechen, von einer Pseudohysterie, die nicht als Krankheit 
aufgefaßt werden darf. Doch machen diese Eigentümlichkeiten der kind- 
lichen Seelenanlage verständlich, wie auf relativ unbedeutende Anlässe 
hin eine wirkliche Hysterie ausbrechen kann. Die Eindrucksempfänglich- 
keit ist dann so hochgradig, daß ohne weiteres eine delirante Phase 



31 

auftritt; die Suggestibilität ist so enorm, daß ein Affekt die Hysterie 
anslöst, der mindeste Eingriff sie wieder zum Verschwinden bringt. 
Es liegt im Charakter des Kindes, daß nicht nur der Krankheitsprozeß 
als solcher, sondern auch seine einzelnen Symptome eine außerordentliche 
Beweglichkeit zeigen. Die körperliche Hysterie trägt meist die mono- 
symptomatische, d. h. die einfachste Form. Geistesstörungen finden sich 
wie bei Erwachsenen, natürlich mit einem Bewußtseinsinhalte, welcher der 
Altersstufe entspricht; obzwar gerade hier nicht selten frtthreife und früh- 
geweckte Kinder angetroffen werden. 

Doch nun zum hysterischen Charakter zurück. Es ist schon ersicht- 
lich, daß die außerordentliche Yielgestalt desselben nach Individuen- 
gruppen wie nach Einzelindividuen seine klinische Wertung und Ab- 
grenzung erschwert; eine noch größere Schwierigkeit entsteht dadurch, daß 
der hysterische Charakter rudimentär sein kann, trotzdem Hysterie 
diagnostiziert werden muß. Man beruft sich da auf das Beispiel der Epi- 
lepsie: Es komme eben nicht überall zur vollständigen Umwandlung der 
Persönlichkeit, sondern nur in der Mehrzahl, namentlich schwererer Fälle. 
Der Vergleich stimmt aber nicht. Man sieht den hysterischen Charakter 
in schönster Ausprägung schon bei ganz kleinen Kindern, bei der hyste- 
rischen Tochter einer hysterischen Mutter, indem wahrscheinlich durch 
direkte Nachahmung auf den vorbereiteten Boden alle Charakterzüge der 
Erzeugerin übertragen wurden ohne lokalisierte hysterische Krankheits- 
erscheinungen, welche erst einen speziellen Anlaß abwarten. Dieser 
Charakter geht überhaupt anderen Äußerungen der Hysterie fast immer 
voraus und besitzt somit eine wesentliche Selbständigkeit. Man darf 
also nicht sagen, daß die Hysterie zu Charakterveränderung führt, sondern 
der Hysterie ist ein bestimmter Charakter eigen. 

Während derselbe am ausgesprochensten ist in Fällen, die nur ver- 
einzelt eine Psychose durchmachen, sonst aber frei sind von manifesten 
hysterischen Symptomen, kann er im Hintergrunde bleiben, dort, wo 
körperliche Störungen die Szene beherrschen. Man wollte hierin sogar 
eine Gesetzmäßigkeit finden. Wenn man sich aber mit der anscheinenden 
Neurose etwas eingehender beschäftigt, so stößt man bald auf die psychi- 
schen Alterationen. Dieselben sind vielleicht schwer in Worte zu kleiden; 
das Auge lernt indes bald die Eigenart erfassen, mit welcher eine hyste- 
rische „Nervenkranke^ den Hörsaal betritt, wie sie sich setzt, auf die 
Demonstration reagiert usw. Das geht in unzähligen Äußerlichkeiten 
jedesmal so gleichmäßig und charakteristisch, daß man sich getrauen 
möchte, a vista die Hysterie zu diagnostizieren. Die grundlegenden psy- 
chischen Alterationen sind gar nicht so rudimentär, wie man bei 
nur oberflächlicher Bekanntschaft glauben möchte. Jedenfalls zwingen 
alle Erfahrungen zu dem Satze, daß Eigentümlichkeiten einer gewissen 
Färbung bei Hysterischen nie fehlen. Und mag man dieselben auch auf 



32 

die krankhafte Veranlagung und Entwicklung der Persönlichkeit beziehen, 
so sind diese Faktoren eben von der Hysterie nicht zu trennen, die 
Hysterie selbst gehört unter das Entartungsirresein. 

Neben den erwähnten Fällen rudimentären hysterischen Charakters 
gibt es aber auch solche einer grandiosen Steigerung desselben, die im 
Laufe der Zeit unter der Einwirkung äußerer Schädlichkeiten allmählich 
erfolgt, ohne daß sonst hysterische Symptome auftreten würden. Hier 
hat der Charakter eine ganz selbständige Existenz; die Hysterie erschöpft 
sich in seiner Ausbildung. Es wird Gelegenheit sein, bei der Wieder- 
gabe einzelner Beobachtungen die kennzeichnenden Züge sowie die 
Varianten des hysterischen Charakters an Beispielen zu illustrieren. 



III. Klinik der hysterischen Psychosen. 

Hysterie, die Grande simulatrice, ahmt alle funktionellen Symptome 
körperlicher Krankheiten nach. Mau könnte erwarten, daß sie auch alle 
Formen geistiger Krankheit vorzutäuschen vermag, daß hier eine überaus 
reiche Symptomatologie zu entwickeln wäre. Das ist nur teilweise der 
Fall. Die hysterischen Geistesstörungen sind von einer gewissen Einheit- 
lichkeit im Grundzuge, wenn auch von ungeheuerer Vielgestalt in der 
persönlichen Ausprägung; denn es ist das Individuum, das hysterisch 
denkt, fühlt und handelt. Haben die sensiblen und motorischen Symptome 
der Hysterie das gemeinsame, daß keine anatomisch zusammenfaßbare 
Wurzel für sie zu erkennen ist, sondern nur eine physiologisch-psychische, 
so kann man von den hysterischen Geistesstörungen Analoges behaupten: 
es erkrankt der angelernte Denkmechanismus, der sich wie willkürlich 
ändert. Diese Psychosen tragen vielfach etwas so Gemachtes an sich, 
daß sie aussehen, wie das Produkt bewußter Geistestätigkeit im Dienste 
des Krankheitswillens. Gewisse Mechanismen schlummern vorgebildet im 
hysterischen Bewußtsein, kehren in typischer Weise immer wieder und 
vermehren die äußere Einheitlichkeit. 

Es dürfte sich empfehlen, mit den psychischen Störungen zu be- 
ginnen, die an den Anfall knüpfen. Dieser gilt als die elementarste 
Äußerung der Hysterie und wird als solche von allen Seiten wider- 
spruchslos anerkannt. Somit können auch die Seelenstörungen, welche 
den Paroxysmus begleiten, aus demselben unmittelbar hervorgehen, gar 
nicht kontrovers sein. Schon an dieser Stelle soll aufmerksam gemacht 
werden, daß man dieselben Bilder auch losgelöst von Anfällen bei Indi- 
viduen mit hvsterischem Charakter findet. Das Studium ihrer Gesetze 
und Eigentümlichkeiten bietet die Behelfe zum Verständnisse komplizier- 
terer hysterischer Psychosen, Argumente, mit denen im folgenden die Zu- 
gehörigkeit eines Krankheitsbildes zur Hysterie verfochten werden soll. 

a) Geistesstörungen des hysterischen Anfalles. 

Eine gewisse Alteration des habituellen Gemütszustandes pflegt 
dem Anfalle durch Minuten, Stunden, aber auch durch Tage, durch 
1, 2, 3 und selbst mehr Tage vorauszugehen. Die Form der Seelenstörung 
entspricht einem der drei Typen akuter Psychosen. Es sind entweder 

Raimann, Die hysteri seien Geistesstörungen. »> 



34 

Depressions- oder Exaltations- oder endlich halluzinatorische Verwirrt- 
heitszustände, selten in vollkommener Ausprägung, häufig nur rudimentär. 

Natürlich kann keine Rede davon sein, daß die Hysterie gerade 
die akuten Psychosen kopiert; wohl aber findet man bei Hysterischen 
alle überhaupt denkbaren Elemente geistiger Störung und die Trias des 
Systems entspricht den drei Gruppen möglicher Fälle; es ist jene Ein- 
teilung, die bei symptomatologischer Betrachtungsweise der akuten Psychosen 
sich aufdrängt. Ist die Verstandesfunktion ungestört, so herrscht der Aus- 
druck der Gemütsstimmung und dieser kann nur das Zeichen + oder — 
tragen. Hat man andererseits eine Parafunktion der Sinnes- und Ver- 
standestätigkeit, dann wird Hemmung wie Gemütsverstimmung dadurch 
überdeckt, so daß tatsächlich 3 und nur 3 Hauptgruppen akuter Geistes- 
störungen möglich sind. Insofern ist es auch bequem, bei dem Schema 
zu bleiben, da dieses den Augenblickseindruck am besten einzureihen 
gestattet. 

Manche Hysterische werden vor dem Anfalle matt, abgeschlagen, 
traurig, ängstlich, menschenscheu; sie flüchten in einen stillen Winkel, 
antworten nur gehemmt und widerwillig auf nachdrückliches Fragen. 
Andere werden unfreundlich, ungeduldig, reizbar, sogar boshaft; ein 
Nichts ärgert sie, sie finden alles schlecht, schimpfen, beklagen sich. 
Namentlich bei männlicher Hysterie werden diese oder ähnliche melan- 
cholischen Vorsymptome beobachtet. 

Die zweite Gruppe der in Kede stehenden Kranken ist lebhafter 
als gewöhnlich; in großer Geschäftigkeit laufen und hasten sie hin und 
her; sie geraten mit der Umgebung in Streit, gehen unvermittelt vom 
Lachen zum Weinen und wieder zurück zum Lachen über, oder es über- 
wiegen die ärgerlichen Afifekte, wie im Bilde der Zornmanie. Alle 
diese Exaltationszustände lassen eine Störung des assoziativen Zusammen- 
hanges vermissen. 

Bei hysterischen jungen Mädchen wird eine spezielle Form manischer 
Erregung beschrieben: Läppisches, albernes Benehmen; die Patientinnen 
singen, lachen, tanzen, sammeln allerlei Mist, sprechen geziert, verbigerieren,, 
ahmen Tierstimmen nach, grimassieren. Sie rennen zwecklos umher, 
zerstören blind bei scheinbar geringer Trübung des Sensoriums; in 
Wirklichkeit steht jedoch der ganze Zustand auf traumhafter Bewußtseins- 
grundlage. Er geht einem Krampf oft längere Zeit voraus und hinter- 
läßt Amnesie. — Auch Mischformen finden sich präparoxysmell, indem 
die Kranken bald stumm und gehemmt, bald wieder sehr heiter sind. 

Bei der dritten Gruppe hysterischer Patienten treten vor dem An- 
falle Sinnestäuschungen auf, bisweilen nur nächtlicher Weile. Halb wie 
im Traume sehen die Kranken schreckliche, phantastische Tiere, sie 
stürzen in Abgründe u. dgl. Zu der häufigsten Art von Halluzinationen 
gehören Organgefühle, die sonst als Aurasymptome bekannt sind: Würgen 



35 

im Halse, Zusammenschnüren der Brust. Aber auch wirkliche Gesichts- 
täuschungen am hellichten Tage kommen vor. Selten sind delirante 
Bilder, einer Eigentümlichkeit der Hysterie entsprechend, zusammen- 
hängende Delirien. So ein Patient beginnt z. B. plötzlich zu lachen; er 
bringt dann alle Ereignisse der letzten Tage vor, macht Glossen dazu,, 
führt förmliche Zwiegespräche, bis die Konvulsionen anfangen. Es werden 
auch präparoxysmelle Delirien beobachtet, die ein lebhaft aflfektbetontes 
Ereignis der Vergangenheit verarbeiten, oder solche, die den Kranken 
in eine märchenhafte Situation versetzen. Verwirrtheit besteht dabei nur 
so weit, als sie durch die Halluzinationen respektive Delirien bedingt wird. 

Psychische Störungen der skizzierten Arten treten bei Hysterischen; 
nun periodisch auf. Von Zeit zu Zeit haben solche Frauen ihre „Nerven", 
wie man die Stimmungsanomalien, die ungewöhnliche Labilität des^ 
seelischen Gleichgewichtes so gerne nennt. Der Wille vermag auf die 
Entwicklung der einleitenden Symptome bis zu einem gewissen Grade Ein- 
fluß zu nehmen; mindestens kann er eine aufschiebende Wirkung*entfalten. 
Manche dieser Kranken kämpfen ein bis zwei Tage, vermögen vielleicht 
sogar den in Aussicht stehenden Anfall ganz zu unterdrücken. Andere 
versichern, daß sie bei diesen Versuchen nur um so länger leiden und 
lassen sich lieber gehen; in den Konvulsionen entladet sich gewisser- 
maßen die quälende, nervöse Aufregung der Aura. 

Aber es muß zum Paroxysmus durchaus nicht kommen. Die Fälle, 
wo er höchst rudimentär ist, nur aus Starre oder flüchtigen Zuckungen 
besteht, führen allmählich hinüber zu jenen, wo er ganz ausbleibt. Dadurch 
gewinnen die Aurasymptome weiteren Sinnes eine gewisse Selbständig- 
keit; ein Verhalten, das bei der Epilepsie vollkommen geläufig ist. Man 
spricht dann von einem psychischen Äquivalent des Anfalles. Indem 
solche Aurapsychosen sich wiederholen, ohne daß Konvulsionen auftreten, 
resultiert ein länger dauernder Zustand von Geistesstörung, eine Art 
Status psychicus hystericus. 

Der Beweis, daß es sich bei einer freistehenden Alienation um 
eine solche Aurapsychose handelt, ist natürlich nur dann zu erbringen, 
wenn die gleiche Geistesstörung als Aura eines Anfalles und außerdem 
selbständig auftritt, und das ist nur selten der Fall. Im übrigen muß 
man sich darauf beschränken, von akuter hysterischer Psychose zu 
sprechen. Da die gleichen Bilder sowohl postparoxysmell wie als Äqui- 
valent eines ganzen Anfalles beobachtet werden, soll eine zusammen- 
fassende Besprechung, nach der klinischen Erscheinungsweise geordnet, 
an späterer Stelle erfolgen. 

Auf die motorische Seite des Anfalles braucht hier nicht einge- 
gangen zu werden, da nur die psychischen Symptome interessieren, welche 
die Kranken bieten. Allerdings ist die Grenze schwer zu ziehen. Viel- 
leicht bestehen auch während der Krämpfe affektbetonte Vorstellungen; 

3* 



36 

vielleicht dauern die einleitenden Sensationen fort und füllen das Bewußt- 
sein aus; vielleicht werden die Visionen und Akoasmen der Aura zum 
Delir. Wenn man die Patienten darüber ausholt, erfährt man meist nur 
von einer Bewußtseinspause, die durch kein Nachdenken aufzuhellen ist, 
was natürlich nicht beweist, daß psychische Prozesse fehlten. Eine 
Minderzahl Hysterischer berichtet, allerdings in der Hypnose, über das 
Vorhandensein einer lebhaften Erinnerung auch auf der Höhe des 
Anfalles. 

Häufig kommen schon unter den konvulsiven Bewegungen einzelne 
geordnete Akte, die den Eindruck erwecken, als ob sie psychisch ver- 
mittelt, der Ausdruck für einen Gedankeninhalt wären, der das Indi- 
viduum in diesem Augenblicke beherrscht. Man erhält zufolge der Amnesie 
keine Aufklärung, aber was soll man sich denken, wenn man Koitus-, 
Abwehr-, Turn-, Grußbewegungen sieht, die unter die Klonismen ein- 
gestreut sind oder gegen Schluß des Anfalles sich häufen? Gewinnen der- 
artige B#vyegung8typen eine gewisse Selbständigkeit, so kann man ein 
eigenes Stadium des Anfalles unterscheiden, das namentlich von der fran- 
zösischen Schule abgegrenzt und als das IIL, die Phase Des attitudes 
passionelles, proklamiert wird. Daran schließt sich ohne scharfe Grenze, 
gewissermaßen in weiterer Steigerung der psychischen Funktionen und un- 
mittelbarer Beeinflussung des Bewegungsdranges durch Vorstellungen, die 
Phase delirante. Es möge erlaubt sein, diese beiden Stadien zusammen- 
zufassen, denn sie vermischen sich gewöhnlich; nicht einmal in den Fällen 
der Franzosen ist es leicht, eine reinliche Scheidung zwischen IH. und IV. 
vorzunehmen. 

Der Bewußtseinsinhalt, der durch die stummen Posen zum Ausdruck 
gebracht wird, soll sich gewöhnlich auf Ereignisse beziehen, die im Leben 
der Hysterica eine hervorragende Rolle gespielt, etwa den ersten Anfall 
ausgelöst haben, wenn dieser nicht schon zu lange zurückliegt. Die an- 
fangs im Vordergrunde stehenden Attitudes passionelles werden seltener, 
dann tritt ein mehr zusammenhängendes Delir auf, das gleichfalls meist 
persönliche Reminiszenzen enthält und durch ein verschwenderisches 
Übermaß von Gefühlsäußerungen theatralisch gefärbt wird. Manche 
Hysterische sprechen lange Phrasen in einer sonst vergessenen fremden 
Sprache, so daß es den Eindruck erweckt, als ob die geistigen Fähig- 
keiten abnorm gesteigert wären. Je nach der Persönlichkeit der Kranken 
ist das Delirium heiter, traurig, wild oder obszön. Man findet tobsucht- 
artige Erregung oder es überwiegen die depressiven Afiekte. Die Patientin 
beklagt unter Tränen und Schluchzen ihr vergangenes Leben oder sie 
ist stumm vor Schmerz. Andere Kranke liegen da mit geschlossenen 
Augen und schlaffen Gliedern, delirieren leise vor sich hin, sprechen, 
singen, lachen wie im Schlaf; der Gang der Ideenassoziation ist durch 
zugerufene Worte zu beeinflussen. 



37 

Als eine prächtige Illustration, zugleich als Typus der französischen 
Grande Hysterie, mag ein Fall Richers kurz zitiert werden: 

Die Patientin war im Alter von 10 Jahren das Opfer eines Notzucht- 
attentates geworden. Schon wlihrend der großen Konvulsionen des Anfalles 
malt sich iu ihrem Gesichtsausdruck der Schrecken; die Halluzination beginnt. 
Wenn man die Kranke in diesem Augenblick erweckt, durch Druck auf das 
Ovarium, erklärt sie, daß sie Angst habe vor einem, der sie verfolge. Sie läuft, 
sucht zu entkommen. Es folgen heftige Bewegungen, die Patientin scheint zu 
kämpfen, um sich den Annäherungen zu entziehen. Sie ruft um Hilfe: „0, sie 
werden mich nicht haben, sie werden mich nicht umarmen; es ist Mitternacht, 
ziehen sie sich zurück ... ich werde nicht trinken ... ich bin nicht die Mutter . . . 
nein . . . lassen sie mich los!^ Aber sie kann den Kampf nicht lange aushalten; 
plötzlich bittet sie mit gefalteten Händen, die Arme nach vorn gestreckt; 
sie rollt sich ins Bett und ruft „Verzeihung!" Mit einer deutlicheren Gebärde 
wendet sie sich, fUilt auf die Knie; die Haltung wird immer bittender, die 
Stimme angstvoller. Man erkennt, daß jener Elende sich nicht erweichen läßt. 
Der Akt wird vollzogen; s^e wendet sich wütend zurück, ballt die Fäuste, 
spuckt. — Dann wechselt die Szene: Sie sieht einen ungeheueren Wagen 
voll Leichentücher, voll schrecklicher Skelette, deren Augenhöhlen Feuer aus- 
senden, überall rote Flammen. Die Skelette versuchen, sie an sich zu ziehen, 
wollen sie in den Wagen einsteigen lassen; sie bittet um Gnade. — Wiederum 
ein anderes Bild: Das Gesicht atmet Heiterkeit, Entzückung. Patientin 
streckt die Arme nach einer imaginären Persönlichkeit aus und sagt: „Komm*, 
komm*!" Sie ruft dringend, winkt mit dem Finger, zeigt auf den Platz an 
ihrer Seite, wendet sich um, schließt die Arme um das Phantom und bedeckt 
es mit Küssen. Die Ruhe kehrt wieder; Arm in Arm mit ihrem Geliebten geht 
sie in den Garten spazieren, tanzt bei den Klängen einer Militärmusik. Plötzlich 
wirft sie sich erschreckt aufs Bett; sie ist von Tieren umgeben, schlägt los,, 
um diese zu töten. Endlich setzt sie sich, vergräbt den Kopf in die Hände, 
beklagt ihr schreckliches Schicksal. 

Es ist dies wohl ein außerordentlicher Kasus. Bei den zahlreichen 
hysterischen Anfällen eigener Beobachtung kam etwas so Großartige» 
nie unter die Augen. Die Frage, inwieweit diese Attitüden und Delirien 
Kunstprodukte einer Schule und einer bestimmten Zucht sind, ist ja 
bereits wiederholt aufgeworfen und deutscherseits meist im bejahenden 
Sinne beantwortet worden. Allerdings findet man in der Literatur verein- 
zelte Fälle, die den französischen gleichen, auch außerhalb Frankreichs^ 
von neueren z. B. die schönen Beobachtungen Giannulis. 

In Paris hat man Gelegenheit, sogar Gesetze dieser Stadien auf- 
zustellen, fco heißt es z. B., daß Frauen ganz gewöhnlich sexuelle Mo- 
tive verarbeiten, oft koitusähnliche Bewegungen ausführen mit Pollntiony 
während das beim Manne fast nie vorkommt, hier vielmehr ZornaflFekte 
die Hauptrolle spielen. Bei einem und demselben Kranken wiederholen 
sich immer dieselben Bilder. Die Sinnestäuschungen gehorchen allen 
Regeln, die für hysterische Halluzinationen überhaupt gelten. Auf dieselben 
soll später im Anschlüsse an die Äquivalentpsychosen eingegangen werden. 

Mit dem Delirium ist aber die Symptomatologie der postparoxys- 



38 

mellen Geistesstörungen nicht erschöpft. Einfache Stimmuugsanomalien 
sind selten; häufiger trübt sich das Sensorium, die Patienten räsonieren 
oder lassen anscheinend zusammenhanglose Äußerungen fallen; endlich 
beobachtet man nach dem Anfalle Schlafzustände, bald mit völliger 
Erschlaffung der Glieder, bald mit Katalepsie, bald mit Stupor. Der 
Kranke stellt sich mit offenem Munde, wie eine Statue hin; gelegentlich 
zeigt sich auch Negativismus. Bei Kindern findet man sowohl übertrieben 
lustige Stimmung mit lallendem, geziertem Schwätzen, motorische Erregung, 
Neigung zu beschädigen, zu zerstören oder ängstlich delirante Zustände. 
Es gibt auch hysterische Krampfanfälle, die scharf abklingen — nach 
der motorischen Entladung bietet das Individuum einfach einen Erin- 
nerungsdefekt. 

Ganz kurzdauernde Episoden von Geistesstörung bilden ein An- 
hängsel an den Anfall; sie können aber auch länger, Stunden, selbst 
Tage währen, so daß sie dadurch eine relative Selbständigkeit ge- 
winnen und die Konvulsionen ihnen gegenüber zurücktreten. Auch hier 
flihrt eine fließende Reihe zu den selbstständigen hysterischen Psychosen. 

Die Erinnerung an die letzte Phase des Paroxysmus kann so lebhaft 
nachempfunden werden, daß sie, für Wirklichkeit genommen, zu Wahn- 
ideen und krankhaften Haüdlungen im scheinbar wiedergewonnenen 
Normalzustande Anlaß gibt. Harmlos ist es, wenn z. B. eine Patientin 
nach dem Anfalle das Fenster öffnet, um die schwarze Katze hinauszujagen; 
«chlimmer schon, wenn es zur Erstattung falscher Anzeigen kommt. 
Entsprechend der Neigung zu erotischem Bewußtseinsinhalt können 
fälschliche Anklagen versuchter oder voUflihrter Notzuchtsattentate er- 
hoben werden, was forensisch von hoher Wichtigkeit ist. 

Drei Kranke, welche wegen ausgesprochener postparoxysmaler 
^Geistesstörung an die Klinik gebracht wurden, mögen den Reigen der 
eigenen Fälle eröffnen: 

Beobachtung I.*) 

Anna M., 25 Jahre, ledig, katholisch, gewesene Chansonette, wurde am 
24. Jänner 1900 nach dem Nachtmahle plötzlich von allgemeinen Krämpfen 
befallen. Der herbeigerufene Arzt fand die Kranke bewußtlos noch in Kod- 
Tulsionen am Boden liegend. Auf Ovarial druck änderte sich die Szene. Patientin 
begann zu erzählen von einem Grafen, der sie frUher ausgehalten, der aber 
vor einem Jahre gestorben sei, von einem Advokaten, von einer großen Summe, 
mm die sie gebracht werden solle. Sie schimpfte auf den Vater, der kein Geld 
hergebe, verlangte Champagner, schlug um sich, kratzte ihre Umgebung, riß 



*) Aus Gründen der Raumersparnis wurden die Krankengeschichten sämtlich 
auf das Äußerste gekürzt. Von psychischen Symptomen ist nur verzeichnet, was 
•charakteristisch erschien, für den Aufbau der Diagnose zu verwenden ist; negative 
Befunde sind weggelassen (wenn z. B. von Stigmen, Sensibilitätsstörungen nichts 
erwähnt ist, so heißt das, daß auch bei wiederholter Untersuchung keine gefunden 
wurden). 



39 

aich die Haare aus, geberdete sich ganz wütend. Eine Morphiuminjektion 
v0'02 g) blieb ohne Wirkung. Patientin reagiert auf Fragen gar nicht, starrt 
zeitweilig mit zurückgebeugtem Kopfe einige Augenblicke in die Luft, um 
gleich wieder weiter zu schreien. Wegen zunehmender Aggression gegen die 
Umgebung wird die Kranke an die Klinik gebracht; ist hier vollkommen 
ruhig, aber schlaflos. Am 

25. Jänner liegt sie vollkommen stumm da. Nachmittags ist sie klar, 
orientiert, antwortet prompt, erinnert sich an die jüngsten Ereignisse in sum- 
marischer Weise: Nach dem Souper wurde ihr schlecht, sie spürte Zuckungen 
im Arm und Unruhe. Es kam ein Arzt, der ihr eine Morphiuminjektion ver- 
abfolgte. Daß sie tobsüchtig war, weiß sie nicht, will auch nicht daran 
glauben. 

Zur Anamnese: Mutter der Kranken leidet an Migräne, der Vater ist, 
namentlich in der letzten Zeit, unmäßiger Trinker. Von 7 Geschwistern 
starben 3, eines an Wasserkopf; alle Kinder hatten Fraisen, auch Patientin, 
die in protrahiertem Geburtsakt asphyktisch zur Welt kam, sich aber sonst 
normal entwickelte. 1888 ein Schädeltrauma mit Bewußtseinsverlust, 1891 
eine Verletzung durch Hufschlag an Lippe und Unterkiefer. Mit 16 Jahren 
wurde sie Chansonette, zog in der Welt herum, trank viel Kognak und 
Ohampagner, knüpfte ein Verhältnis mit einem Grafen an. 1897 Abortus im 
dritten Monate der Schwangerschaft. Nach dem Tode des Grafen, dem sie an- 
geblich Geld geliehen hatte, Gemütsbewegungen, dann konvulsive Zustände, 
flüchtige Zuckungen in Armen und Schultern mit Aufschluchzen ohne Bewußt- 
seinsverlust. In der letzten Zeit gab es wieder Aufregungen infolge neu ange- 
knüpfter sexueller Beziehungen. 

31. Jänner. Patientin dauernd i*uhig, geordnet, bezieht ihren Anfall auf 
vorhergegangenen, etwas reichlicheren Alkoholgenuß, will in Zukunft sich 
dessen enthalten. Geheilt entlassen. 

Ein hereditär schwer belastetes Individuum, das neben einem Geburts- 
tranma auch zwei Schädelverletzungen in seiner Vorgeschichte aufweist. In einer 
wie noch gezeigt werden soll, für die Hysterie typischen Weise setzen nach 
einer Zeit depressiver Affekte motorische Störungen ein vom Gepräge des 
Funktionellen. Neuerlich eine Serie von Aufregungen und — vorläufig nur 
registriert — ein Alkoholkonsum, der aber gewiß nicht über das Gewohn- 
heitsmäßige hinausging. Nun tritt ein schwerer hysterischer Anfall und 
daran schließend ein Delir der Erinnerung auf, in welchem die Kranke sich 
gleichsam alles von der Seele spricht, was sie in der letzten Zeit hin- 
unterwürgen mußte: Es drücken sie finanzielle Schwierigkeiten — Patientin 
konnte eine Geldsumme nicht erhalten, sie spricht mit ihrem Advokaten 
darüber, sie beklagt sich über ihren Vater und läßt die begründet feindselige 
Stimmung ihre Umgebung entgelten. Die wahre innere Persönlichkeit lebt sich 
einmal aus. Durch ein Stadium der Unzugänglichkeit kommt die Kranke 
wieder in ihren Habitualzustand und hat nun, wiederum ganz charakteristisch, 
einen ungleichmäßigen Erinnerungsdefekt. Sie weiß Details von dem Besuche 
des Arztes, hingegen nichts von ihrer Aufregung. E^ sieht aus, wie wenn sie 
sich über die ihr peinliche Tobsucht durch Nichtwissen hinweghelfen wollte. 
Derartig umschriebenen Amnesien begegnet man bei Hysterischen sehr ge- 
wöhnlich. Sogar nachher noch formen sich die Erinnerungen nach den Wünschen 
der Patientin. Sie benötigt die Freiheit, um ihre materiellen Forderungen 
geltend zu machen; sie hat obendrein mit dem Leben noch nicht abgeschlossen. 



40 

Nun wird die Krankheit; die früher in direkte Beziehung zu psychischen Traumen 
gesetzt wurde, mit Alkoholgenuß motiviert. 

Beobachtung II. 

Berta T., 16 Jahre^ ledig, katholisch, Hilfsarbeiterin, kommt am 6. Februar 
1903 an die Klinik. 

5 Geschwister starben an Kinderkrankheiten, mehrere haben an 
Fraisen gelitten, 3 leben und sind gesund. Patientin selbst wurde als Kind 
von einem Wagen überfahren, ohne Schaden zu nehmen, lernte in der Schule 
schlecht, ging als Kindermädchen in Dienst. Am 19. Dezember 1901 trat 
ein Anfall von Schwindel und Bewußtlosigkeit auf. Derartige AnfUlle häuften 
sich in der Folge, so daß Patientin kaum wenige Stunden im Tage davon 
freiblieb, zu keiner Arbeit verwendet werden konnte und fortwährender Über- 
wachung bedurfte. 

Nach der Einbringung vollkommen luhig. Nachts beginnt die Kranke 
zu stöhnen, klagt über Kopfstechen und Atembeschwerden, weint zeitweise^ 
schläft nicht. 

7. Februar. Patientin macht prompte Angaben über ihre früheren Ver- 
hältnisse, benimmt sich ganz passend, weiß, daß sie von der Rettungs- 
gesellschaft hereingeflihrt wurde. Demgegenüber befremdet ihre Behauptung, 
sie habe sich noch nicht erkundigt, wo sie da sei; nur mit einiger Nachhilfe 
läßt sie sich zu vollständiger Orientierung bringen. Sie berichtet bereitwillig 
von ihrer Anfällen; sie fühle nichts davon, wohl aber weiß sie, daß sie heute 
nachts einen Anfall hatte. (Non verum!) Man erzähle ihr, daß sie sich bei den 
Haaren nehme, in die Waschbottiche hineinlaufe, in den Schnee setze, des 
Nachts aufschreie. — Bei der körperlichen Untersuchung beginnt Patientin 
krampfhaft zu weinen^ bleibt in Rapport mit der Umgebung. — Strabismus, 
divergens, V- Austrittspunkte etwas druckempfindlich. 

Während der Nachmittagsvisite, als der Arzt von den Anfällen der 
Patientin spricht, setzt heftiges Weinen ein, darauf folgen klonische Be- 
wegungen der oberen Extremitäten und des Gesichtes vollkommen sym- 
metrisch, dem Charakter nach wie intendiert; sie gehen in ein ungeordnetes 
Umherschlagen aus (zirka 2 Minuten). Danach erscheint die Kranke in ihrem 
Wesen verändert, wetzt im Bette hin und her, lacht, ruft eine Wärterin ganz 
richtig beim Vornamen, bittet um Wasser, nimmt aber sonst von der Um- 
gebung keine Notiz; auch der Arzt, der sie anspricht, scheint für sie nicht zu 
existieren; das gebrachte Wasser stößt sie weg, verlangt ärgerlich von der 
Wärterin, diese solle wieder fortgehen. Plötzlich setzt die frühere Persön- 
lichkeit ein, die Patientin blickt frei um sich, behauptet Amnesie für die ganze 
abgelaufene Szene, zeigt kein Bestreben, sich näher über die Sache zu orien- 
tieren. — Allerlei hypochondrische Beschwerden. 

9. Februar. Bei der Vormittags visite neuerlicher Anfall. Rhythmische 
Weinlaute, dabei Herumwerfen, dann folgt eine Art Verwirrtheitszustand: die 
Kranke setzt sich auf ein fremdes Bett, läuft in ihr eigenes zurück, erscheint 
leicht ängstlich, plötzlich wieder frei; vollkommene Amnesie. Leichte Sensi- 
bilitätsdifferenz zwischen rechts und links. 

10. Februar. Der Versuch wird in der Vorlesung wiederholt. Wie man 
sich mit der Patientin beschäftigt, wiederum rudimentäre Konvnlsionen von 
einer Vefwirrtheitsphase gefolgt, innerhalb welcher die Kranke einen andern 
Gesichtsausdruck zeigt, abgerissen spricht, nicht antwortet, wiewohl sie in 
unmittelbarem Rapport mit der Umgebung bleibt. Sie trippelt hin und her, 



il 

unternimmt ganz zwecklose Handlungen; bis unvermittelt die geordnete Per- 
sönlichkeit ruhig vor dem Arzte steht und auf seine Frage die Antwort er^ 
folgt: „Ich weiß von nichts. '^ 

Es wird der Patientin mitgeteilt, daß kein Anfall mehr kommen darf, 
sonst mQsse sie elektrisiert werden, was sehr weh tue. 

25. Februar. Patientin, die ganze Zeit über anfallsfrei, wird unter heutigem 
als geheilt entlassen. 

Ein schwachsinniges Individuum, bei welchem die Grundeigenschaft der 
Hysterie die Suggestibilität hervorsticht. Die Anfälle, von wechselndem Ge- 
präge, werden erst unter dem Einflüsse des Spitals konvulsiv. Im Gegen- 
satz zu der von der Patientin angegebenen vollständigen Amnesie steht es, 
daß die Kranke keine Miene macht, diese Bewnßtseinsltlcke auszufallen. Sie 
hört von einem Anfalle und die Tatsache, daß sie da in bewußlosem Zustande 
allerlei sonderbare Handlungen ausfuhrt, mQßte schon ihre kindliche Neugier 
anregen, wenn kein tieferer Eindruck erweckt wird. Nichts von alledem; 
die Patientin nimmt Mitteilungen über ihr Delir entgegen, wie etwa die Fest- 
stellang, daß sie zn Mittag gegessen hat. Es sieht so aus, als ob die unter- 
bewußten Handlangen ihrem Wachbewußtsein doch nicht so fremd geblieben 
wären. Wie wenig im postparoxysmellen Zustand die Apperzeption übrigens 
gestört ist, geht schön dai*au8 hervor, daß bereits die jüngsten Erinnerungs- 
bilder Verwendung finden: Patientin erkennt die Personen ihrer Umgebung, 
spricht sie richtig an. Bezeichnend sind die negativen Halluzinationen, noch 
charakteristischer für die hysterische Bedeutung des ganzen, daß die An- 
fälle zu Hause so regelmäßig und häufig, in der psychiatrischen Klinik 
nach Wunsch hervorgerufen werden können: der Arzt braucht nur davon 
zu sprechen. Am bezeichnendsten aber ist, daß die Paroxysmen auf Befehl 
verschwinden, was einen hohen Einfluß des Willens verrät, und es gibt keine 
Krankheit, die so den Eindruck des Willkürlichen macht, wie die Hysterie. 

Endlich möge ein postparoxysmeller Dämmerzustand hier ange- 
reiht werden, der insofern bemerkenswert erscheint, als er bei einem 
sehr jugendlichen Individuum auftrat. 

Beobachtung III. 

Marie B., 8jährige Schülerin der 2. Volksschulklasse. 

Anamnese: Vater heraleidend, erregbar. Patientin entwickelte sich körper- 
lich und geistig sehr gut, war aber empfindsam, weinte leicht. Sie überstand mit 
3 Jahren Masern; trinkt zeitweise ein kleines Glas Bier. Am 24. April 1903 
Impfung mit starker örtlicher und allgemeiner Reaktion. Die Kranke besuchte 
trotz Kopfschmerzen und Üblichkeiten die Schule, blieb erst am 6. und 7. Mai 
aus; am 8. Mai nachmittags ging sie wieder in die Schule, da sie sich schon 
besser fühlte. Die Mutter wurde benachrichtigt, daß das Kind zusammengefallen 
sei; sie eilte hin, fand Patientin, auf der Bank sitzend, ganz steif, ohne 
Reaktion auf Anrufen und Eingriffe, den Blick starr nach links gewendet. Während 
die Mutter sie am Arme nach Hause trug, ließ sie die Gliedmaßen schlaff 
hängen, hielt aber die Augen offen. Zu Hause blieb sie durch 2 Stunden 
regungslos im Bette, selbst auf schmerzhafte Reize erfolgte keine Reaktion. 
Plötzlich trat lebhafte Unruhe auf, verdrehte Körperstellnngen, Schütteltremor 
der Arme und des Kopfes, weit ausholende große Bewegungen, ebenfalls durch 
2 Stunden; nachher verwirrte Äußerungen, Schreien, Singen. Überführung in 
das Kinderspital. 



42 

Hier erwacht das Kind etwa eine Viertelstunde später aus einem be- 
wußtlosen Zustande, ist sehr unruhig, verworren, droht aus dem Bette zu 
stürzen, macht Fluchtversuche. — Die körperliche Untersuchung ergibt, daß 
die Impfpusteln glatt abheilen; keinen Anhaltspunkt für irgendeine Infektions- 
krankheit. Am 

9. Mai 1903 abends kommt Patientin am Beobachtungszimmer an, 
wälzt sich unruhig im Bette herum, stöhnt, schläft aber nach einiger Zeit ein. 

10. Mai. Kuhig und äuflerungslos in Seitenlage. Bringt man die 
Kranke in Rückenlage, so dreht sie sich sofort herum, bald nach rechts, bald 
nach links. Hält man sie fest, so stellt sich Jaktation und Unruhe in allen 
Gliedmaßen ein. — Beim Versuche eines Examens ist Patientin nicht scheu, 
aber unaufmerksam, ohne Interesse für die Situation; sie lacht öfter, spricht 
zuerst wenig, wiederholt dann Worte, die sie schon einmal gebraucht hat, oder 
die Frage des Arztes selbst mit Umstellungen und Abänderungen, produziert 
dabei öfter sinnlose Lautkombinationen, die als Entstellungen vorhergespro- 
chener Worte zu erkennen sind. 

Wie heißt du? — „Ich heiße B. Marie.'^ 

Wie alt bist du? — „Ich heiß', — bitt', ich weiß es nicht mehr.'' 
Wie alt bist du? — „Bitt* dich frag' meine Mutter." 
Gehst du in die Schule? — „Ja." 

In welche Schule gehst du denn? — „In die Schal', in die Lernschul'.'' 
Was ist dein Vater? — «Der Vater geht in die Lernschur, mein Vater 
geht in die Ding', mein Vater geht wo andershin.'' 

Wo wohnst du? — „In die Ding', bitt', ich weiß es nicht.'' 
Hast du Geschwister? — „Ja, 3, 2 Brüder und dann einen Bruder." 
Über Vorzeigen von Gegenständen: Schlüssel: „Schlüssel". — Bleistift: 
„Blei". — Sacktuch: „Sacktuch". — Papier: „Sacktuch". 

Auf wiederholtes Vorzeigen des Papiers immer wieder: „Sacktuch", dann: 
„Bitf, ich weiß es nicht." Nachdem sie das Wort Papier gehört hat, fügt sie 
spontan hinzu: „Papier". Nachdem laut das Wort „Bleistift" ausgesprochen 
wurde, benennt sie das Papier auf neuerliche Frage: „Bleiplisch". 

über Aufforderung, einzelne ihr genannte Objekte zu zeigen, trifft 
Patientin eine Iweihe von Körperteilen und Gegenständen im Zimmer richtig, 
deutet aber bei jeder zweiten oder dritten Probe irrigerweise noch einmal auf das 
unmittelbar vorherbesprochene Objekt. Dem Befehle, einfache Aktionen auszu- 
führen (Zungezeigen, Augenschlicßen, Handgeben, an den Kopf greifen. Auf- 
stehen) kommt die Kranke eventuell über Stimulieren nach, sie neigt aber auch 
hierbei häufig dazu, eben vollzogene Bewegungen zu wiederholen. — Lachend 
unterbricht sie den Arzt durch die Worte: „Wenn mein Vater eins kauft, was 
da drauf hängen tut" (zupft dabei an ihrem Ohrläppchen herum), gebraucht 
später die Bezeichnung „Ohrringel". Endlich wird sie redselig und plauscht im 
Anschlüsse an zufällige Eindrücke unter fortwährenden Selbstwiederholungen und 
kindischer Heiterkeit. — Pulsfrequenz zirka 140. 

11. Mai. Mit einer roten Masche geschmückt, mimisch freier, läßt sich 
fixieren. Auf eine Reihe von Fragen antwortet sie zwar nur: „Bitt', ich weiß 
€3 nicht", doch zeigt sie gutes Verständnis für die Umgebung, lacht über ein 
scherahaftes Wort. Für den Fall einer Wiederholung der Krankheit wird ihr 
Elektrisieren angedroht. — Nacbmittagsvisite: Patientin verrät in nichts, daß 
sie den Arzt wiedererkennt, spricht ganz unbefangen; muß erst daraufgebracht 
werden, daß die Örtlichkeit ein Krankenhaus sei, nachdem sie schon vorher 
spontan einige richtige diesbezügliche Antworten gegeben hatte. (Betten, Kranke, 
Gitterbett.) Schulkenntnisse ganz entsprechend. 



43 

12. Mai. Begiüflt den Arzt, erinnert sieb an das versprochene Zucker- 
verk. Vom letzten Tage, da Patientin die Schule besuchte^ setzt eine amne- 
stische Lücke ein, die gegen ihr Ende nicht sicher abgrenzbar ist. Mit 
der zeitlichen Orientierung hat die Kranke große Schwierigkeiten; sie 
macht kaum eine richtige Angabe; so glaubt sie, jetzt schon 8 Tage hier 
zu sein. Die erfolgte Impfung klingt in ihren Erzählungen wiederholt an. 
Unmittelbar vor ihrer Erkrankung erlitt sie noch dazu einen Schlag, gerade 
auf den schmerzenden Oberarm. Im Fortgange des Examens berichtet die 
Kleine, dafl die Mutter sie aus der Schule trug, sie konnte nicht gehen. Als 
man auf die früher angegebene Amnesie hinweist und nähere Aufklärung 
verlangt, nimmt sie die Äußerung wieder zurück: ^Bitt', ich weiß es nicht.^ 
Patientin macht keine Anstrengung nachzudenken; sie bevorzugt das prompte: 
„ich weiß nicht." Nur für Sekunden blickt sie ernst oder gar träumerisch vor 
sich hin, muß beinahe stimuliert werden; sonst erscheint sie immer sehr auf- 
geweckt und lebhaft; es freut sie offenbar, daß man sich so eingehend mit 
ihr beschäftigt. 

14. Mai. Andauernd geordnet, zutunlich; die amnestische Lücke bleibt 
bestehen. 

16. Mai. Bei der heutigen abschließenden Besprechung gibt Patientin 
bereitwillig zu, krank gewesen zu sein. Sie erinnert sich, den Arzt, der ihr 
die Zuckerln brachte, schon am ersten Tage ihrer Anwesenheit gesehen zu 
haben (recte!) allerdings weiß sie nicht, daß er damals mit einem Kollegen 
an ihrem Bette stand. 

Differentialdiagnostisch scheinen hier keine besonderen Schwierigkeiten 
obzuwalten. Bei dem zart entwickelten, geistig fast frühreifen Kinde tritt ein 
mehrstündiger polymorpher Anfall auf, der durch die großen koordinierten 
Bewegungen wohl genügend charakterisiert ist. Unmittelbar daran schließt 
«ine psychische Störung, die noch 2 Tage anhält, dann aber mit einem Schlafe, 
kritisch, abklingt. Das Symptomenbild entspricht vollkommen dem, was später 
:i]s Dämmerzustand vorgeführt werden soll. Im Gegensatze zu ihrer sonst auf- 
fallend gut entwickelten Intelligenz, zu ihrer Aufgewecktheit, benimmt die Kleine 
sich hier mehr als kindisch, sie bildet nach Art von Babys neue Worte. Die 
Amnesie ist ebenso widerspruchsvoll wie die Psychose. Über die Entstehungs- 
weise derselben hat sich Patientin keinerlei Vorstellung gebildet. Das Unlust- 
Gefühl ihres körperlichen Leidens, durch einen unmittelbaren Schmerz ge- 
steigert — der Schlag auf den empfindlichen Arm — setzt sich in einen 
hysterischen Anfall mit nachfolgender Geistesstörung um. 

b) Das hysterische Delirium. 

Die hysterischen Geistesstörungen können sich vollkommen vom 
Anfalle loslösen, indem sie entweder mit Krämpfen abwechselnd oder ohne 
solche auftreten; den Übergang vermitteln Patienten, bei denen die 
konvulsiven Anfälle sehr leicht sind, nur aus kaum merklichen Spannungen 
der Muskulatur oder wenigen Zuckungen bestehen, so daß diese hinter 
der Psychose völlig verschwinden. Dann hat man die transitorischen 
Geistesstörungen der Hysterie vor sich, als deren häufigste Vertreterin 
das Delir genannt wird. Dasselbe ist, insofern es einen ganzen Anfall 
vertreten kann, der Typus einer Äquivalentpsychose; doch möge dieses 



44 

Wort, das einer mehr theoretischen Deduktion entspricht, in der Diagnostik 
nicht verwertet werden; vielmehr empfiehlt es sich, die symptomatologische 
Seite der hysterischen Geistesstörungen zu betonen und demgemäß statt des 
vieldeutigen Ausdruckes Äquivalent gleich immer die Bezeichnung der 
betrefi^enden Zustandsform zu setzen, also hier Delirium, wenn die im fol- 
genden auszuführenden Charaktere zutreffen und man nicht kurzweg 
akute hysterische Psychose sagen will. 

Es scheint unnötig, erst ausführlich zu begründen, warum man hier 
von hysterischer Geistesstörung spricht; das Delirium wird als solche 
allseits anerkannt. Wegen des unmittelbaren Zusammenhanges mit den 
Krampfzuständen der Psychoneurose kann in zahlreichen Fällen daran 
gar nicht gezweifelt werden. Das genaue Studium dieser Delirien ist 
darum wertvoll, weil man die GrundzUge der Hysterie in ihrer Steigerung 
zur Psychose hier meist sehr leicht herausfindet und dadurch instand 
gesetzt wird, beim Auftauchen gleicher und ähnlicher Zustandsbilder 
auch ohne motorische Reizerscheinungen die 'richtige Diagnose zu stellen. 

Die nun zu skizzierende Form hysterischer Geistesstörung tritt als 
ein durchaus eigenartiger Typus entgegen, der sich von anderen deliranten 
Symptomenbildern bei genauerer Analyse wesentlich unterscheidet; oft 
so charakteristisch, daß ein Blick die Sachlage klärt. Das Hauptgewicht 
wäre auf den Umstand zu legen, daß Suggestibilität, ein deutlicher Rapport 
mit der Umgebung besteht, selbst dann, wenn ein lebhaft aflFektvoll han- 
delndes Delir auf traumhafter Bewußtseinsstufe vorliegt. Meist erscheint 
das Sensorium allerdings nicht soweit benommen, ja es gibt Kranke^ 
die durch einfaches Ansprechen aus ihrem Ideenkreise gerissen und zu 
korrekten Antworten gebracht werden können. 

Das hysterische Delirium ist nur episodenweise stumm, aus Gebärden 
und plastischen Haltungen zu erschließen, meist führen diese Patienten 
Selbstgespräche oder sie sprechen gar wie zu einem Auditorium. Sie 
stehen nach einer bestimmten Richtung hin, im ersten Falle häufig von 
den Ärzten abgekehrt, wie um in Entwicklung ihres Innenlebens 
ungestört zu bleiben. Wendet man das Bett oder geht man selbst in die 
Blicklinie, dann ändern die Kranken entsprechend ihre Aufstellung. 
Und sie erzählen allerlei, oft abgerissen, in Schlagworten, Ausrufen, aber 
doch in fließendem Gedankengange. So kann man erfahren, daß sie die Ort- 
lichkeit mit all ihren Einzelheiten in bestimmter Weise verkennen, daß sie 
ihre Eltern, Verwandten, Freunde oder Feinde um sich sehen, illusio- 
nieren oder gar lebhafte Gesichtstäuschungen haben. Dieselben sind seltener 
ganz indifferent: Mäuse, Käfer; Szenen, wo man fremde Kinder prügelt; 
häufiger sehr aflfektbedürftig: Drohende, gespenst artige, phantastische 
Gestalten springen gegen sie los, große rote Tiere, .Löwen, Tiger, Wölfe, 
AflFen wollen sie fressen; rings umzingeln sie Flammen; ein andermal 
werden sie von Leichen umgeben, sehen Begräbnisse, Mordtaten. Die be- 



45 

weglichen Objekte sind fast ausnahmslos in der Mehrzahl vorhanden; es 
läßt sich feststellen, daß die drei Farben rot, grau, schwarz herrschen; 
endlich wurde von französicher Seite angegeben, daß die Erscheinungen 
in jener Gesichtsfeldhälfte auftauchen, die der Hemianästhesie der Patientin 
entspricht; sie bewegen sich dann in der Richtung nach der anderen 
Blickfeldhälfte. 

Neben den Gesichtshalluzinationen, die sich häufig in den Vorder- 
grund drängen, kaum je fehlen, trifft man Gehörstäuschungen. Die Kranken 
antworten halluzinierten Stimmen — auch hier überrascht der innere Zu- 
sammenhang — die Antworten wachsen zu Gesprächen über Tatsachen, 
Vorkommnisse aus. Andererseits bestehen primitive Akoasmen, Knistern, 
Rauschen, Glockenläuten. Neben Geruchs- und Geschmackstäuschungen 
angenehmen sowie unangenehmen Charakters erfährt man von Anomalien 
des Tast- und Muskelsinnes, die zu Wahnideen der allgemeinen Beein- 
flussung, des Elektrisiertwerdens, Brennens, Fliegens sich umsetzen. Die 
Patienten werden gefoltert, mit glühenden Zangen gezwickt, von Bestien 
zerfleischt etc. Endlich gibt es Störungen des Gemeingefühles, die bis zur 
teilweisen oder völligen Aufgabe des Persönlichkeitsbewußtseins führen. 

An und für sich ist die einzelne Halluzination nicht charakteristisch, 
man findet ganz dieselben Störungen auch bei anderen Geisteskranken; 
eine spezifische Bedeutung gewinnen die Sinnestäuschungen erst durch 
ihre Aufdringlichkeit, durch die Stellungnahme des Individuums ihnen 
gegenüber. Man kann an ihrer hysterischen Natur nicht zweifeln, wenn 
sie z. B. zu Stigmen in Beziehung treten, etwa in dem Sinne, daß ein 
halluzinierter Hundebiß in die Gegend eines Druckpunktes verlegt wird, 
der Patient glaubt, daß man die gefühllose Hand abhackt. Es ist ebenso 
wichtig, wenn man die Sinnestäuschungen auf afiektvoUe Erlebnisse der 
Vergangenheit eventuell auf die krankheitsauslösende Ursache zurück- 
zuführen vermag, das persönliche Moment, vielleicht in Verkleidung, Ver- 
zerrung, aber doch erkennbar wiedergespiegelt sieht. Endlich gehört es 
zum Wesen der Hysterie, daß die Sinnestätigkeit suggestiv zu beeinflussen 
ist. So kann es gelingen, durch einfaches Ansprechen oder scheinbar 
unbeabsichtigte Bemerkungen Halluzinationen hervorzurufen, den Gang 
derselben zu modifizieren durch Einwirkung auf die Sinnesorgane, die 
Kranken zum Aufgeben, sogar zu einer Korrektur ihrer Wahrnehmungs- 
täuschungeu zu bringen durch energischen Zuspruch eventuell durch 
schmerzhafte Reize. 

Die Halluzinationen setzen sich zu Delirien zusammen. In einer 
Reihe von Fällen spielen die Kranken eine Szene aus ihrem Leben, und 
zwar in aflfektvoUer Weise vor — genau dieselben Bilder, die schon als 
III. und IV. Stadium des Anfalles verzeichnet wurden, in schönster Aus- 
prägung als Erinnerungsdelirien. Andererseits tragen diese Geistesstörungen 
das Gepräge freier Erfindung, haben einen außergewöhnlichen Inhalt, 



46 

können ins Groteske übertrieben werden. Die Patienten machen eine Ruder- 
partie, fallen ins Wasser, werden von den Fischen gefressen, schreien ver- 
geblich um Hilfe, ertrinken, werden ermordet. Mit angstvollem Gesichte 
klammern sie sich an ihre Angehörigen oder streben zu entfliehen. Sie 
greifen die Umgebung an, schlagen, hauen, beißen, spucken blind um sich 
oder die Stimmung ist gehoben; es gibt Kranke, die im Delirium singen^ 
lachen, springen, tanzen, sehr viel durcheinander sprechen, dabei ziemlich 
lebhaft auf Eindrücke der Umgebung reagieren, verschrobene, spottende 
Bemerkungen ohne Logik machen. Andere Patienten werden obszön, 
masturbieren. Doch kommen auch Delirien ekstatischen, religiösen oder 
dämonomanischen Inhaltes zur Beobachtung. Unvermittelt springt die 
Stimmung und der Inhalt des Delirs gelegentlich um. Besonders charak- 
teristisch ist es, wenn die Kranke mitten im Delir direkt an die Ärzte 
sich wendet und diesen die Gestalt zeiirt, die sie eben in einer Ecke er- 
blickt. Anderemale ist das Examen nur einseitig; die Patientin spricht 
fortwährend zum Arzte in ihrem Ideenkreise, gewissermaßen als Antwort 
auf seine Fragen, ohne doch diese Fragen selbst zu beantworten. 

Neben den Halluzinationen werden auch Wahnideen gebildet, meist 
solche depressiven Charakters, als Verfolgungswahn, seltener solche des 
Glücks. Der Wahninhalt kann recht einförmig sein, indem Ideen nur 
einer Art geäußert werden oder es herrseht ein bunter Wechsel voa 
Verfolgungs-, Versündigungs-, sexuellen, religiösen Wahnideen mit Hallu- 
zinationen aller Sinne, wenig systemisiert, kaum weiter verarbeitet. 
Das ganze bleibt ein vorübergehender Erregungszustand; episodisch 
treten zur Erleichterung der Diagnose grelle Aufschreie, theatralische 
Aflfektsttirme, ein Übermaß von plastischen Attitüden, oder auch Krampf- 
zustände hinzu. 

Trotz der Überfülle an Sinnestäuschungen aller Art, trotz aller 
Wahnideen und Aflfektstörungen fehlt eine eigentliche Verwirrtheit Wohl 
bekommt man falsche Antworten bezüglich der zeitlichen und örtlichen 
Orientierung; aus dem Verhalten, wenn auch nicht aus den Worten der 
Kranken ist aber zu entnehmen, daß sie sich in die Umgebung wider- 
spruchslos einfügen. Der Gedankengang ist ungeordnet, manchmal wie 
zerfahren, doch vermißt man sowohl Reihenassoziationen, Ideenflucht, 
wie auch Sprachverwirrtheit, Wortsalat in typischer Ausprägung. Inso- 
fern es sich hier um Feinheiten handelt, die diff^erential-diagnostisch 
verwertbar sind, möge die zusammenfassende Besprechung für später auf- 
gespart werden; der innere, sozusagen logische Zusammenhang im Delirium 
sei aber hier schon registriert. 

Zwar selten, aber bezeichnend für die psychogene Natur des hyste- 
rischen Deliriums sind Kranke, die ihre Persönlichkeit verlieren und sich 
in Tiere verwandelt glauben (Zoanthropie). Gilles de la Tourette zitiert 
einen Kasus, der sich 6 Wochen für ein Schwein hielt; Guinon berichtet 



47 

von einem jungen Mädchen, welches nach Sjährigem Bestände seiner 
Hysterie von einer Katze gebissen wird und nun in deliranten Anfällen 
Katze spielt: 

Plötzlich ohne Vorboten wird der Blick starr, Patientin schielt auf die 
Nasenspitze, fällt auf die 4 Gliedmaßen, läuft auf Knien und Händen mit 
grimassierendem Gesicht, beweglichen Augen sehr lebhaft unter Tischen und 
Sesseln umher, springt auf diese. Sie miaut und pfaucht, kratzt, versucht zu 
beißen, spielt mit einer Papierkugel. Aufwachen ohne Erinnerung nach 5 
bis 6 Minuten. 

Die Dauer des typischen Delirs ist eine kurze; es kann wenige 
Minuten währen, erstreckt sich im Durchschnitt auf Tage. Es bricht plötzlich 
aus und klingt meist auch rasch ab, namentlich gerne durch einen Schlaf, 
worauf die Kranken amnestisch oder nur mit summarischer Erinnerung 
erwachen; in letzterem Falle bezeichnen sie das Ganze gern als Traum. 
Wenn die Geistesstörung länger dauert, kann sie im Gegensatze zu 
anderen Delirien, durch regelmäßigen Nachtschlaf unterbrochen werden; 
häufig ist der Schlaf kurz, ein Teil der Nacht lärmend. Andererseits er- 
scheinen die Patienten bei Tage wie schläfrig, liegen durch Stunden mit 
geschlossenen Augen ruhig da, ohne doch zu schlafen. Versucht man die 
Lider zu öffiien. so werden dieselben krampfhaft zusammengepreßt, durch 
Anschreien, Rütteln, Kneifen der Haut ist keine Reaktion zu erzwingen. 
Nahrungsaufnahme findet dabei statt, wenn auch meist nicht ohne Nötigung; 
ebenso werden Stuhl und Urin in geordneter Weise abgesetzt. Auf der- 
artige stille Episoden folgen dann gelegentlich Bilder, die d^n Krank- 
heitswillen der Hysterie zum unmittelbarsten Ausdrucke bringen. Die 
Patienten gebärden sich wie von Schmerzen gefoltert, sie stöhnen, werfen 
sich herum, greifen an den Kopf, bemühen sich vergebens, eine erträg- 
liche Lage einzunehmen, bis ein Afibktausbruch ins Delirium zurückführt 
In dieser Weise können hysterische Delirien durch Wochen, selbst Monate 
sich hinziehen, Exazerbationen wechseln mit Remissionen, mit Unter- 
brechungen bis zu anscheinend völliger Klarheit. Hier bieten die Patienten 
einen schön ausgesprochenen hysterischen Charakter, sie pseudologieren, 
drängen ihre Halluzinationen auf oder korrigieren wenigstens nicht. Neben 
mehr passiv verlaufenden Formen gibt es aber auch aktive, die in ihren 
ruhigsten Zeiten damit sich begnügen, auf die Umgebung loszuschimpfen, 
Materialsehaden zu verursachen, keinen Augenblick ruhig bleiben; man 
beobachtet hier die höchst denkbaren Grade psychomotorischer Erregung 
mit hartnäckiger Selbstbeschädigung, Anschlagen des Kopfes gegen Wände 
und Gitter bei Beschränkungsversuchen, so daß es kaum gelingt, diese 
Kranken vor sich selbst zu schützen. 

Insofern das Delirium einem respektive einer Serie von Anfällen 
entspricht, gehorcht es auch den Gesetzen der hysterischen Paroxysmen. 
Es tritt entweder nach einem schweren psychischen Trauma, nach reich- 



48 

lichem Alkoholgenusse, oder mit einer psychologisch zu begrüudendeii 
^Notwendigkeit eben in einem gegebenen Momente auf; es neigt außer- 
ordentlich zu Rezidiven, die ihrerseits gleichfalls auslösende Schädlich- 
keiten voraussetzen. Beides wird Behelf zur Diagnose. Allerdings ist zu 
berücksichtigen, daß die Hysterischen außerordentlich empfindlich sind, 
das Wachrufen unangenehmer Erinnerungen durch einen dem Beobachter 
^zunächst gar nicht verständlichen äußeren Anlaß, ausreichende Ursache 
für die Erkrankung abgeben kann. Eine hysterische Patientin bekam ihr 
Delirium, nachdem sie mit ansehen mußte, wie ein Bekannter als geistes- 
krank der Irrenanstalt tibergeben wird. Wenige Tage nach ihrer Geheilt- 
entlassung erkränkt dieselbe Patientin neuerlich. Warum? Ihr Bruder 
hatte sie zu sich genommen und hielt sie streng, mit ihm vertrug sie sich 
üicht; ihren früheren Dienstplatz hatte sie verloren: der Krankheitswille 
springt da helfend ein. Gerade in diesem Beispiele eigener Beobachtung 
schien die Ätiologie noch dunkler, da die verlogene Patientin natürlich 
sofort wieder auf Entlassung drängte, die erst von Dauer wurde, als mau 
ihr eine entsprechende Unterkunft verschaffte. 

Während aber hysterische Anfälle meist unmittelbar an einen Shock 
-anknüpfen, pflegt dem Delir eine Latenzzeit vorauszugehen, die manchmal 
durch eine Art Aurasymptome ausgefüllt wird: Die Kranken sind unfähig 
«ich zu beschäftigen, stumm, apathisch oder sie klagen über Kopfschmerz, 
Übelkeit; sie drohen mit Selbstmord, äußern Furcht vor der Irrenanstalt 
weinen oder lachen krampfhaft; nach kaum merklichen Konvulsionen 
setzt darin erst das Delirium ein. Es gibt hysterische Persönlichkeiten, 
die auf jede Häufung psychischer Widrigkeiten mit einem Delir ant- 
worten, so wie andere ihre Krämpfe bekommen. Die Äquivalente sind 
dann oft ganz rudimentär, setzen sich nur aus wenigen Halluzinationen 
zusammen; sie schließen gerne traumhaft ab, mit oder ohne plastische 
Stellungen. Es kann dieser traumhafte Abschluß für längere Zeit die 
Stimmung beherrschen, ohne daß die Kranken ihres Bewußtseinsinhaltes sich 
erinnern würden, wenigstens Fragen gegenüber; es bleibt nur die Wirkung 
aufs Gemütsleben nachweisbar, genau wie nach konvulsiven Anfällen. 

Bei der allgemeinen Anerkennung, deren das hysterische Delir sich 
erfreut, mag es gestattet sein, die theoretischen Ausführungen zu be- 
enden, um durch einige instruktive Fälle aus der psychiatrischen Klinik 
sowohl die Symptomatologie, wie den Aufbau und die Reaktionsweise der 
Krankheit näher zu illustrieren. Letztere Momente sind entscheidend. Im 
einzelnen läßt sich die Symptomatologie des hysterischen Deliriums nicht 
erschöpfen; nur die psychologische Analyse des Patienten gibt Gewähr 
für die Richtigkeit der Diagnose. . 

Beobachtung IV. 

Katharina W., geboren 1880, katholisch, ledig, Magd, begann am 27. No- 
-vember 1902 plötzlich verwirrtes Zeug zu sprechen. Zur Polizei geführt, betritt 



49 

sie die Amtslokalitäten mit den Worten: ^Hier sind die Gauner^ die mich 
umbringen wollen; der hat einen Revolver." Sie blickt unverwandt in eine 
Ecke, stöhnt wiederholt; reagiert auf keine Ansprache; scheint auch ihren Bruder 
nicht zu erkennen. 

An die Klinik gebracht; lärmt und schreit die Kranke (man wolle sie 
umbringen); so daß sie isoliert werden muß. 

28. November. Patientin sitzt im Gitterbette; sieht mit gespannter Miene 
nach einer bestimmten Richtung und stößt in überlautem Tone, ganz scharf 
artikuliert; einzelne ziemlich zusammenhangslose Worte aus: ;,Nein . . . nein . . . 
nicht Schwester . . . dieser Geistliche . . . nein . . . Herr Notar . . . Kloster.^ 
(Lebhafte Gestikulation mit den Händen, blickt dann starr gegen die Decke.) 
^Sehen sie! ... nein (in ungezählten Wiederholungen) dieser Pfitrrer . . . mein 
Beruf nicht . . . nein . . . Was wollen sie von mir?** Gegen die Umgebung 
verhält Patientin sich abweisend; stört man sie, so wendet sie sich nach der 
andern Seite und deliriert weiter: „WaS; ich? . . . nein, nein und nochmals 
nein ! . . . Herr Notar . . . Hohensalzach ... da nicht . . . waS; was will man von 
mir? (strampelt mit den BeineU; Koitusbewegungen?) . . . Meine Mutter nicht, 
ich ja . . . diese arme Mutter; meine Mutter (Variation dieser Worte durch alle 
möglichen Modulationen des Affektes) . . . dieser Pfarrer, dieser Hund, was will 
der von mir . . . nein . . . mein Beruf nicht . . . keine Schwester; mein Geld 
(wiederholt das mit kreischender Stimme) . . . Verlust . . . (reibt sich die Augen) . . . 
dieser Ülrichspfarrer, . . . nein!" Unterdessen wird der Versuch wiederholt, sich 
mit der Patientin in Rapport zu setzen; die Ärzte tauschen Bemerkungen aus; 
die Kranke schreit nun: ^Ich bin ganz bei Besinnung, bei Bewußtsein . . . ja . . . 
Gott! mein Vater!" — Patientin wird aufgefordert; sich aufzusetzen; was sie 
mit einiger Nachhilfe tut. Auf freundlichen Zuspruch kommen noch einige 
kurze scharfe: ^Nein!" dann blickt sie den Arzt an. 

Wie heißen sie? — (Laut schreiend): „Kathi . . . dieser Zechmeister" . . . 

Wie alt? — (Ebenso laut): „15 Jahre." 

Sie behauptet; den Arzt nicht zu kennen; glaubt sich im Irrenhause; in 
welchem; weiß sie nicht; sei seit 14 Tagen hier. 

Warum? — (Leise flüsternd): „Ich weiß nicht." 

Selbst hereingekommen? — „Ganz gesund." 

Irrsinnig? — „Ich weiß nicht." 

Angst? — „Was will man tun mit mir? Immer kommt einer in der 
Nacht in den Winkel . . . kann nicht schlafen." 

Zu näheren Ausdrücken gedrängt, erzählt sie danU; daß heute in der 
Nacht ein kleiner blonder unbekannter Herr mit langem Winterrock im Zellen- 
winkel saß und sie belästigte. Er sprach zwar nichtS; spottete sie aber anS; 
ahmte sie nach; streckte die Zunge herauS; machte Faxen. — Während dieser 
Auskünfte blickt Patientin konsequent zur Seite. Über Vorhalt ihrer deliranten 
Äußerungen von vorhin; leugnet die Kranke alles ab, sie wisse von nichts, 
habe nicht von Hohensalzach etc. gesprochen. 

Zur Anamnese macht Patientin anfangs ganz korrekte Angaben, wenn 
sie auch nur knapp und scharf antwortet. Ihre Eltern leben; sie ging durch 
7 Jahre in die Schule, lernte sehr gut. Auf einmal springt sie ab: „Ich bin 
nicht irrsinnig!" dabei blickt sie wieder starr in die Ecke. (Fortsetzend.) Sie 
sei dann bei den Eltern geblieben, immer, immer ... (in endloser Wiederholung^ 
Auch die folgenden Antworten werden mehrfach gegeben, bis die Kranke 
endlich ganz sinnlos auf eine Frage erwidert: „Meine Mutter!" Dann zeigt 
sie auf die Wärterin und wiederholt noch schärfer und bestimmter: „Meine 

Raimann, Dio liysterisclieii GoistosstörurijTHn. 4 



50 

Matter! ... ich will nicht hier bleiben . . . (schluchzend) ich bin nicht irrsinnig . . . 
(zeigt in die Ecke) dieser Herr hier ist wahnsinnig^ ist verrückt ^^ läßt sich 
nicht überzeugen; daß in dieser Ecke niemand sitzen kann. Patientin behauptet 
nicht zu wissen, an welchem Orte sie sei, sagt aber dann ganz richtig „Wien''; 
entzieht sich dem weiteren Examen durch endlose Wiederholung: „Meine Mutter!" 

Abwehrreaktionen und lautes Schreien bei Druck auf verschiedene Nerven- 
punkte. Als man Nadelstiche versucht, heult Patientin furchtbar: „Bitte schön, 
Herr Doktor; Sie sind der Herr Doktor, ich seh schon." Dann wird sie wieder 
unaufmerksam: „Mein Gott, er kommt schon wieder, der Pfarrer; da sitzt er 
schon wieder, oben." Sie leugnet, daß sie jetzt phantasiere; habe auch früher 
nie phantasiert. Sei seit zwei Tagen vazierend, mußte ihren letzten Dienst verlassen, 
weil „er" ihr keine Ruhe gab. Heute sei Montag 28. Jänner; man muß ihr 
lange zureden, bis sie November zugibt. Das jetzige Jahr sei 2, 1800 . . ., 
1902; behauptet, seit 14 Tagen hier zu sein; „der Kerl dort sitze schon 14 Tage 
an der Wand." 

Nachmittags: Patientin behauptet, trotzdem man ihr entschieden wider- 
spricht, daß der Kerl eben wieder an der Wand stehe. Als man sie zu der 
bezeichneten Stelle führt, schreit sie theatralisch auf, muß aber zugeben, daß 
er Jetzt" verschwunden sei. „Er wird gewiß wiederkommen, dann werde ich 
ihn hinunterwerfen." Die Kranke macht drohende Gebärden gegen die Ecke. 
Vollkommen orientiert. 

In der Vorlesung vorgestellt, bietet sie das gleiche Verhalten; sie stößt 
einzelne kurze Worte, wie Antworten auf Halluzinationen hervor, ist zwischen- 
durch examinierbar, hält an der Realität ihrer Sinnestäuschungen fest. Als 
sie durch die Kanzlei geführt wird, ruft sie den dort anwesenden Ärzten das 
Wort „Esel" zu. 

29. Mai. Status idem; Patientin verrät durch ihr Anknüpfen ihre Orien- 
tierung. (Zum Professor gewendet): „Dieser Herr war gestern bei 5000 Herrn 
gewesen, er ist mehr wie ein Herr Doktor, ein Professor." Weiter behauptet 
sie, daß jcjher Kerl, Gauner seit 3 Uhr nachts an der Ecke sitze und eine 
Bewegung mache „wie der größte Mörder". Als man die Sensibilität prüft, 
ertönt dasselbe kurze scharfe „Weh" und erfolgt intensive Abwehrreaktion. 
Verlangt in ein Krankenhaus, leugnet in einem solchen zu sein. 

Wenige faradische Pinselstriche (mittelstarker Strom) bringen die 
Patientin zum lautesten Wehklagen. Sie muß durch mehrere Wartpersonen 
gehalten werden, ändert dabei ganz unvermittelt ihr Wesen, beginnt fließend 
zu sprechen: „Ich bin schon gesund, ich werde alles erzählen ... ich habe 
eine Bekanntschaft gemacht ..." Sie erhält den Auftrag, morgen zusammen- 
hängend über ihre Krankheit zu berichten. 

30. November. Als Patientin heute zur Rede gestellt wird, ist sie 
abweisend und will wieder mit ihren Halluzinationen anfangen. Als die 
Elektroden gebracht werden, protestiert sie heftig; nach kurzer Einwirkung 
des faradischen Stromes erfolgt aber eine geordnete sachliche Erzählung: 
Am 27. November nachmittags habe sie einen Kaflfee getrunken, darauf sei 
ihr plötzlich wirr im Kopfe geworden; sie erinnert sich der Untersuchung 
durch den Polizeiarzt sowie ihrer Einbringung. Ein Kanzlist des früheren 
Dienstherrn habe sie mit Liebesanträgen verfolgt; da er aber verheiratet war, 
wollte sie nichts davon wissen. Kürzlich nun hätte er sie in der Kanzlei 
mit dem Revolver bedroht, wenn sie ihm nicht zu Willen sei. Die Erscheinung 
in der Ecke identifiziert die Kranke mit diesem Herrn St. Ihr letzter Dienst- 
geber habe sie einmal ins Schlafzimmer gelockt und behufs eines unsittlichen 



51 

Attentates auf den Teppich niederwerfen wollen. Einige Tage später sei er^ 
während seine Frau im Zimmer schlief, halb entkleidet in die Küche ge- 
kommen und machte neuerlich einen sexuellen Angriff. Patientin rief die Frau 
zu Hilfe; es gab eine Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten, die Frau 
bekam einen Weinkrampf, das Mädchen verliefi auf der Stelle den Dienst. 
Sie bat nun den Pfarrer von St. Ulrich um Rat, weil sie ins Kloster gehen 
wollte. Der Pfarrer sagte, es seien 3000 fl. dazu erforderlich; übrigens er- 
mahnte er sie, einen solchen Schritt erst ordentlich zu überlegen. 

Alle diese Angaben werden nur unter dem Eindruck der drohenden 
Faradisation in geordneter und gesichteter Weise gemacht; dazwischen zeigt 
sich aber bei der Patientin stets die Neigung, alles in affektierter, theatralischer 
Weise, gesucht phantastisch darzustellen, unter steter Hervorhebung ihrer 
Leiden und Verfolgungen den Znsammenhang zu verlassen; gelegentlich werden 
auch ganz unsinnige Angaben eingeflochten („Ich bin wohl schon einige 
Monate hier"). Über energische Einsprache und Vorweisung des Pinsels aber 
kehrt die Kranke sofort wieder zur geordneten Redeweise zurück, bezeichnet 
sich häufig in eindringlicher Weise als gesund. 

1. Dezember. Nach Wärterrapport benimmt sich die Patientin noch etwas 
ungeordnet, geht zwecklos herum, singt, mischt sich in Vorgänge der Um- 
gebung. Dem Arzte gegenüber gibt sie vollkommen korrekte und ruhige Ant- 
worten, wiederholt auf Befragen in bestimmtester Weise die gestrigen Daten, 
gesteht rückhaltlos zu, daß der halluzinierte Mann nicht dagewesen sei. Sie er- 
klärt sich für vollkommen gesund, bittet flehentlich, sie nicht mehr zu elek- 
trisieren. Sie hält sich in der >Iähe der Visite, hört aufmerksam zu, spricht 
die verschiedensten Herren an: man möge sie nicht mehr elektrisieren. 

Da die Berichte der Patientin über die sexuellen Attaken in hohem 
Grade unglaubwürdig erschienen, versuchte ich wenigstens über eines der- 
selben, das eine Mitwisserin hatte, ins Reine zu kommen. Die Kranke nannte 
ohne Zaudern die Adresse des letzten Dienstgebers; ich suchte die betreffende 
Dame auf und diese gestand auf eine diskrete Anfrage hin, daß sie tatsächlich 
ihren Herrn Gemahl bei einer Annäherung an die Patientin überrascht habe; 
unwahr sei nur, daß das Mädchen um Hilfe gerufen und daß sie den Dienst- 
platz freiwillig verlassen habe. Im übrigen schilderte die Frau einen unsteten, 
verlogenen, hysterischen Charakter. Alle Ort- und Zeitangaben der Kranken 
erweisen sich in weiterer Verfolgung des Lokalaugenscheines als richtig. 

2. Dezember. Bei wiederholtem eingehendem Examen entwickelt die 
dauernd geordnete, krankheitseinsichtige Person folgendes: Als Kind immer 
gesund. Sie war fromm, zu traurigen Stimmungen geneigt; besuchte 2 Klassen 
der Dorfschule; wegen Schwächlichkeit ging sie dann nicht zur Feldarbeit, 
sondern beschäftigte sich im Häuslichen. Mit 14 72 J&hren trat sie in Wien 
in Dienst, verzeichnet in ihrem Ausweise 4 Plätze; an 3 war sie nur durch 
je einige Tage, angeblich nicht aus eigenem Verschulden. Außerdem sei sie 
durch Monate zu Hause gewesen. Mit 15 Jahren menstruiert. In dem Maße, 
als das Examen sich der Gegenwart nähert, verliert Patientin die Ordnung 
ihres Gedankenganges, sie verwickelt sich in Widersprüche bezüglich der zeit- 
lichen Orientierung, erinnert sich nicht und behauptet, es sei erst jetzt so, 
daß sie sich gar nichts mehr merken könne. Die Kranke leugnet zunächst 
jeden sexuellen Verkehr; behauptet, daß sie wohl lebenslustig war, aber nur 
mit einer Freundin auf Unterhaltungen gegangen sei; doch gibt sie zu, daß 
dort eventuell jemand sich angeschlossen habe. Nachdem Patientin nach- 
drücklich versichert, daß sie nie in ihrem Leben eine Lüge gebrauchte und 

4* 



32 

wenn es ihr Vorteil gewesen wäre, läßt sie sich doch endlich zu dem Geständnisse 
herbei, daB sie in ihrem 18. Lebensjahre ein Geschlechtsverhältnis mit einem 
Banernburschen einging. Sie fand aber, daß sie für das Landleben nicht passe, 
verließ darum ihre Heimat, zumal sie die Eltern sehr streng, wie eine Ge- 
fangene behandelten. Im Gedenken an jenen Geliebten habe sie sich hier in 
Wien von jedem Manne ferngehalten. Nun kommt die Kranke auf ein un- 
angenehmes Ereignis, das ihrer Einbringung voranging. Eine schöne Hand- 
arbeit, über welcher sie den ganzen Sommer gesessen, sei ihr gestohlen worden; 
die Täterin leugnete den Diebstahl ab und nicht genug damit, sie drohte mit 
Yerleumdungsklage, wenn die Patientin ihren Verdacht noch einmal zu äußern 
wage. Bei Reproduktion dieser Reminiszenz tritt ein lebhafter Affekt auf; die 
Kranke wird sehr erregt: ^Am Ende komme ich noch zu Gericht '^. 

Auf eine Reihe dringender Fragen gibt sie nun doch an, auch hier in 
Wien, und zwar mit dem Kanzlisten St. sexuellen Verkehr gepflogen zu haben. 
Sie wußte zuerst nicht, daß dieser Mensch verheiratet war, erhörte ihn, da 
er ihr gefiel. Später will sie moralische Bedenken empfunden und darum das 
Verhältnis aufgelassen haben. Nun wurde sie in den letzten Monaten krank; 
Seitenstechen, Kopfschmerzen leiteten einen Gelenksrheumatismus ein, so daß 
sie ins Spital gehen mußte. Herr St. habe sich in der füraorglichsten Weise 
ihrer angenommen, sie gepflegt, so daß sie nach ihrer Genesung ihm wieder 
Zusammenkünfte bewilligte. Bei einer solchen in der letzten Zeit habe er nun 
einer Liebeswerbung dadurch mehr Nachdruck gegeben, daß er einen Revolver 
vom Kasten langte und an ihre Schläfe ansetzte. Patientin gibt zu, daß der 
Revolver nicht geladen war, das ganze wohl nur ein Scherz sein sollte; Im 
Moment aber sei sie doch heftig erschrocken. Jetzt sei es für immer aus, sie 
wolle den Mann nicht mehr sehen. 

Nach den beiden Attentatsversucheu von selten ihres letzten Dienstgebers, 
der ihr unsympathisch war, empfand sie es sehr unangenehm, daß sie den 
Dienst auf der Stelle verlassen mußte und jetzt knapp vor Weihnachten da- 
stand, ohne Aussicht, gleich wieder eine Stelle zu finden. Sie vazierte durch 
einige Tage, hatte den Auftritt mit der Diebin, ging dann zum Pfarrer, um 
sich wegen des Eintrittes in ein Kloster zu informieren. Sie motiviert diesen 
Wunsch ganz unzureichend damit, daß sie so gerne bete und das im Dienste 
doch nicht tun könne. 

Für die Störungen zu Beginn ihrer Erkrankung ist Patientin dauernd 
amnestisch, doch erinnert sie sich sehr genau, daß in der ersten Nacht an der 
Klinik eine Kranke starb. Das hätte großen Eindruck auf sie gemacht, sie 
furchtbar erregt. Scheu vor dem Tode bestand überhaupt immer. Ihre Groß- 
mutter starb vor 7 Jahren und heute noch traue sie sich nicht in das 
Sterbezimmer, wenn es dunkel sei; alle Vorsätze nützten nichts gegen diese 
Schwäche. 

Patientin kann den Ausbruch ihrer psychischen Störungen nicht moti- 
vieren, ihr sonderbares Verhalten nicht aufklären. Sie entwickelt ein geord- 
netes Zukunftsprogramm, drängt nach Entlassung. Der hysterische Charakter 
ist ziemlich deutlich. Sie fühlt sich an der Klinik wohl, ist anspruchsvoll 
und launisch, weigert sich zum Examen zu kommen; geht dann freiwillig und 
gibt rückhaltlos Auskünfte. 

8. Dezember. Abends sehr erregt, erklärt, man halte sie zum Narren, 
verspreche ihr immer die Entlassung und doch sei sie noch hier; macht einen 
Erwürgungsversuch angesichts der Wärterin. 

10. Dezember. Räsoniert gegen die Visite über ihre Zurückhaltung, 



53 

wird gleich wieder still, gibt anderen Patienten gute Lehren, spricht ihnen 
mütterlich vernünftig zu. 

18. Dezember. Jetzt dauernd ruhig, äußert fast handgreiflich ihre Sym- 
pathie für einen der Ärzte, dem sie ihre Genesung verdanke. Beschäftigt sich 
auf der Abteilung. Am « 

22. Dezember geheilt entlassen. 

Bei einer Person, die als charakterologisch abnoim, speziell als verlogen 
geschildert wird, die aber nie ErampfantäUe hatte, tritt im Anschluß an eine 
Häufung persönlich unangenehmer Affairen eine akute Geistesstörung auf. 
Wiederum ist es der Bewußtseinsinhalt der letzten Zeit, welcher in verzerrter 
Form von der Patientin aufgerollt wird. Das Delir ist außerordentlich affekt- 
voll — die Kranke nur im Gitterbette auf der Tobabteilung zu halten — 
aber dennoch so oberflächlich, daß ein lebhaftes Anschreien genügt, um die 
Kranke aus der delirierten Situation zu reißen und zu einer vollkommen 
geordneten Antwort zu bringen. Die Drohung, eine Faradisation zu wiederholen, 
die kaum als schmerzhaft bezeichnet werden kann, hat die überraschende 
Wirkung, daß Patientin sich dauernd auf ihre normale Persönlichkeit besinnt. 
Die Geistesstöining trägt etwas Gemachtes an sich; man gewinnt aus dem 
Verhalten den Eindruck, daß die Patientin jederzeit die Sachlage voll 
und ganz beherrscht, daß sie ihr wahres Ich keinen Moment aufgibt und die 
zweite delirante Person nur oberflächlich schauspielert. Man denkt darum auch 
an Simulation; doch ist diese Annahme unhaltbar schon aus dem Grunde, 
weil die Patientin kein Interesse daran haben konnte, geisteskrank zu er- 
scheinen, weil auch die erstmalige Versetzung in eine Irrenstation, speziell auf 
die Tobabteilung, ihr Verhalten nicht zu erschüttern vermag; übrigens fehlten 
ihr wohl auch die Vorbilder, um eine so eigenartige Rolle durchzuführen. Es 
hat vielmehr die angehäufte innere Spannung die Snmmation von Unlust- 
gefühlen bei der minderwertigen hysterischen Person zur Entladung im Sinne 
eines Äquivalents geführt. Sie stand vor Weihnachten postenlos da; nachdem 
ihr auch die Flucht ins Kloster — eine Art physiologischer Reaktion — nicht 
glückte, sprach sie sich in Form des Delirs ihren Groll von der Seele. Jede 
einzelne ihrer Äußerungen, jede ihrer Halluzinationen steht in unmittelbarer 
Beziehung zu den Ereignissen, welche fQr den Ausbruch der Erkrankung vei- 
antwortlich gemacht weMen dürfen: es geht dies aus dem Examen klar 
genug hervor. Auch im späteren war die Labilität des seelischen Gleich- 
gewichtes zu erweisen: eine Unterredung mit dem Arzte über persönliche 
Verhältnisse löst psychische Elementarstörungen aus. Für Hysterie charak- 
teristisch scheint endlich die Art, wie Patientin sich examinieren läßt. Während 
sie handgreiflich lügt, versichert sie, daß sie nie ein unwahres Wort spreche; 
sie spricht und hält doch mit allem, was wichtig wäre, hinter dem Berge. 
Treibt man sie in die Enge, so verwickelt sie sich in Widersprüche, bemüht 
sich gar nicht, dieselben aufzuklären; sie redet sich auf ibre Krankheit aus. 
Durch schmerzhafte Eingriffe kann man die volle Wahrheit erfahren, dieselbe 
ist der Patientin also, und zwar als Wahrheit bewußt. Derselbe Schmerz 
bricht auch den Kran kheits willen. 

Beobachtung V. 

Katharina B., 22 Jahre alt, ledig, katholisch, Prostituierte, kommt am 
2. Juni 1902 an die Klinik. 

Im Parere heißt es: „Patientin verübte vor zirka 1 Woche einen Selbst- 
mordversuch durch Trinken einer Phosphorlösung; sie wiederholte denselben 



54 

heute YormittagS; wurde kurz darauf delirant, schrie; sang, weinte, riß sich 
die Kleider vom Leibe, verlangte zum Kaiser, sah einen Mann mit einem 
Messer in der Hand, der sie ermorden wolle. ^ Behufs des Transportes mufi 
sie auf eine Tragbahre geschnallt werden. 

An der Klinik ist sie zunächst ruhig; sie läßt sich ohne Widerstreben 
den Magen wiederholt auswaschen, Terpentinöl verabreichen und mit Infus. 
Sennae irrigieren. Dann singt sie melancholische Lieder, verlangt dazwischen 
Zigaretten. 

Bei der Nachmittagsvisite liegt die Kranke stumm und unbeweglich da. 
Nach einigen Nadelstichen, die eine erhebliche Sensibilitätsdifferenz zwischen 
rechts und links erkennen lassen, sagt Patientin: „Zum Kaiser möchte 
ich gehen." Erst .nach wiederholtem Eindringen erfolgen Antworten, die 
möglichst inhaltslos, mehr durch die Frage des Arztes suggeriert scheinen: 
Sie wolle dem Kaiser vieles erzählen von der Schlechtigkeit der Menschen, 
sie habe im Leben bereits viel durchgemacht; sei hier im Spital. Unvermittelt 
wieder heftiges Verlangen nach Zigaretten. Die Kranke behauptet, in der 
Hoffnung zu sein; in welchem Monate und von wem, wisse sie nicht; sie habe 
ja seit 5 Jahren ein „Buch^. Da sie das Leben nicht mehr freue, wollte sie 
sich umbringen. Patientin kehrt immer zum Ausgangspunkte zurück: sie wolle 
nur zu ihrem Kaiser fahren, der sie sofort empfangen werde etc. Sie erkennt 
den Arzt als solchen, erklärt sich nicht für krank, bleibt bei all ihren Aus- 
führungen affektlos, wie verschlafen, verfolgt dennoch die Vorgänge in ihrer 
Umgebung. Der gegenwärtige Selbstmordversuch sei der vierte binnen 14 Tagen; 
sie habe immer zwei bis drei Pakete Schwefelhölzer in Wasser zubereitet. Ihr 
Lebensüberdruß sei veranlaßt durch eine Strafe von 24 Stunden Polizeiarrest 
wegen Trunkenheit; Patientin muß aber zugestehen, daß sie bereits mehreremale 
abgestraft ist. Über ihr delirantes Verhalten zur Rede gestellt, meint sie, es 
träumte ihr, daß ein unbekannter Mann, der bis hierher ins Haus mitkam, sie 
mit einem Messer umbringen wollte. Auf einmal fängt die Kranke zu singen an, 
verlangt nach Zigaretten; über energischen Zuspruch erhält man wieder korrekte 
Antworten. 

3. Juni. Klage über Kopfschmerzen. Fleckige Anästhesien, welche die 
Mammae und den Becken gUrtel umfassen; keine Anzeichen von Phosphor- 
vergiftung. 

4. Juni. Klar und geordnet, heiterer Laune; motiviert ihre Suicid- 
versuche mit „Dummheit". Weshalb sie zum Kaiser gehen wollte, weiß sie 
nicht, wahrscheinlich war sie „aufgeregt". In letzter Zeit habe sie sich mit 
ihrem Geliebten zerstritten. Lächelnd gibt sie zu, sie hätte nur schwedische 
Hölzer in Wasser gelöst. 

10. Juni. Seit 4 Tagen außer Bett; Stigmen geschwunden. Die Kranke 
drängt nach Entlassung. Als diese ihr abgeschlagen wird, beginnt sie laut zu 
plärren, eilt dann der Visite in den Garten entgegen, setzt sich zur Eingangs- 
türe, so daß man sie sehen muß, schluchzt ganz herzbrechend. Patientin wird 
nicht beachtet. Als der Arzt unvermutet sich zurückwendet, blickt sie eben 
lächelnden Gesichtes verstohlen in die Höhe. Am 

18. Juni wird sie in der Vorlesung vorgestellt. Sie kommt in ge- 
wählter Toilette, tut als ob sie sich schämen würde, gibt an, wiederholt 
berauscht gewesen zu sein. Vor dem letzten Selbstmordversuche trank sie von 
Nachmittag bis zum frühen Morgen 8 Krügel Bier, 4 Liter Wein und um 
2 fl. 50 kr. (?) Schnaps. Die Kranke erinnert sich, daß sie zwischendurch einmal 
auf der Gasse, im Kaffee „Kaiser", war und vor dem Eingange der Landes- 



55 

irrenaDStalt randalierte. Sie wollte mit aller Gewalt hineiD, um 24 Stunden 
zu verkosten, wie es dort zugehe. Hier in der Anstalt dachte sie im genannten 
Kaffeehaus zu sein, in welchem ihr Geliebter Marqueur werden sollte. Von 
diesem Kaffee Kaiser wird auch die Wahnidee: ^zam Kaiser zu gehen^ ab- 
geleitet. Bezüglich des Mannes mit dem Messer befragt, gibt sie an, einen solchen 
eines Abends tatsächlich gesehen zu haben, der ihr dann in ihren Träumen 
wieder auftauchte. 

20. Juni. Beschäftigt sich fleißig mit Handarbeit; stellt sich bei der 
Visite stets in den Vordergrund, weiß es durch Platzwechsel einzurichten, daß 
sie einigemale gesehen wird; kokettiert mit dem Arzte. Am 

28. Juni treten Menses ein; es besteht also keine Gravidität. 

15. Juli. Patientin hat sich während der festgesetzten Probezeit muster- 
haft aufgeführt; ist vollkommen einsichtig für den Alkoholmißbrauch, verspricht 
Abstinenz; wird unter heutigem entlassen. Am 

23. Jänner 1903 abends 6 Uhr wird die Person ins Polizeigefangen- 
haus gebracht, um daselbst eine ISstündige Arreststrafe zu verbüßen. Um 
8 Uhr treten allgemeine Krämpfe auf; die Kranke erholt sich nach kurzer 
Zeit von ihrer Bewußtlosigkeit, führt Reden des Inhaltes, daß sie schwarze 
Teufel sehe, daB man sie verfolge, mit einem Messer umbringen wolle. Die 
Krämpfe wiederholen sich noch zweimal; dazwischen hochgradige Aufregung. 
Patientin vergießt reichlich Tränen, reißt sich die Kleider vom Leibe, preßt 
mit den Fingern aus ihren Brüsten Kolostrum. 

Bei Ankunft an der Klinik um 11 Uhr nachts will die Kranke gleich 
wieder fort, beruhigt sich dann aber, schläft die ganze Nacht. 

24. Jänner früh. Patientin macht einen verschlafenen Eindruck, ist 
etwas gehemmt, mürrisch. Sie behauptet, daß sie sich fürchte, kann nicht 
angeben, wovor. Über Vorhalt des Parere verstummt sie vollkommen. Sie 
weiß, daß sie ^/^ Tag hier sei, mit der Rettungsgesellschaft eingebracht 
wurde; sie erkennt die Ärzte wieder, bestätigt, daß sie schon einmal in der 
Irrenanstalt war, doch sei sie nicht krank gewesen, will sich an die Vor- 
gänge von damals nicht erinnern; klagt über Kopfschmerzen. 

Der rechte Nervus supra-orbitalis druckempfindlich; ein Druckpunkt unter 
der linken Mammae. Analgetische Flecke unregelmäßig über den Körper ver- 
teilt; an der linken Stirnseite, an beiden Handrücken, am linken Fuße, an der 
rechten Mamma etc. Hände und Zunge zittern. 

Nachmittag ist Patientin lebhaft, freundlich. 

25. Jänner. Anästhesien vollkommen geschwunden. 

26. Jänner. Die Kranke erklärt ihre Einbringung durch Trunkenheit, 
benimmt sich vollkommen geordnet, zutunlich. Wird unter heutigem geheilt 
entlassen. 

Auch eine degenerativ veranlagte Person, die nebenbei dem Alkohol- 
mißbrauch ergeben ist. Sie hat kurz nacheinander — das Motiv war nicht 
eindeutig, vielleicht Auseinandersetzungen mit ihrem Zuhälter, vielleicht wollte 
sie abortieren — einige Phosphordosen (?) genommen und bekommt im Anschluß 
an eine solche und einen Alkoholexzeß Delirien, die einer bei Prostituierten 
sehr häufigen Wach Vorstellung entsprechen. Bemerkenswert ist an dem Fall, 
daß alles, was sie produziert, eigentlich erst in der Gegenwart geschaffen 
wird. Ihr Geliebter sollte Marqueur im Cafe „Kaiser" werden. Ihr Bewußtsein 
hatte sich zuletzt mit diesem Namen beschäftigt; nun verlangt sie zum 
„Kaiser". Die Ärzte aber, die den Namen anders verstehen, fragen sie, was 



56 

sie beim Kaiser wolle, und nun beginnt sie das hysterische Klagelied über die 
Schlechtigkeit der Welt, als Motiv zur Audienz. Der Rapport mit der Umgebung 
ist ein fast ungestörter. Bezeichnend ist auch die Verteilung der Anästhesien 
über Mammae und Beekengürtel, entsprechend der Vorstellung gravid zu sein. 
Nach Ablauf der akuten Störungen wurde der hysterische Charakter recht 
deutlich. Sollte man aber im Zweifel sein, ob es sich nicht doch um einen 
pathologischen Rauschzustand gehandelt haben könne, so lehrt die anschließende 
zweite Krankengeschichte, daß ganz derselbe Zustand, welchen das erstemal 
angeblich der Alkohol provozierte, nun auch durch eine drohende Arreststrafe 
ausgelöst werden kann, diesmal in noch deutlicherer Ausprägung der Neurose, 
während Konvulsionen das erstemal fehlten, treten sie jetzt auf. Patientin deliriert 
zwischen durch und nachher; als stehende Halluzination kehrt der Mann mit 
dem Messer immer wieder; auch die Mammae spielen ihre Rolle. Der Arrest- 
strafe ist sie entgangen; die Genesung erfolgt prompt. 
Die Patientin wird wiederkommen. 

Einer genaueren psychologischen Analyse wurde der folgende Fall 
unterworfen, da es sich um eine intelligente Person handelt. Allerdings 
ist da viel zu erfahren, was erst an späterer Stelle in vollem Zusammen- 
hange gewürdigt werden kann. Doch schien, wegen des im Vordergrunde 
stehenden Delirs, der Kasus am besten hier einzureihen. Das Ergebnis der 
späteren Examina ist chronologisch möglichst geordnet an den Anfang 
gestellt worden, um einen leichteren Überblick über die Entwicklung der 
hysterischen Gesamtpersönlichkeit zu gestatten. 

Beobachtung VI. 

Hedwig S., geboren 1856, katholisch, ledig, Private, kommt am 7. Mai 
1902 an die Klinik. 

Die Kranke war als Kind immer sehr ängstlich, namentlich fürchtete sie 
sich heillos vor Betrunkenen. Irgendein psychischer Shock ist nicht zu eruieren. 
Im Alter von 7 Jahren machte sie Kopftyphus durch, phantasierte damals 
viel. Sie besuchte 5 Volksschulklassen, lernte sehr leicht; infolge ihrer Em- 
pfindlichkeit bedurfte es keiner Strafe: sie mußte weinen, wenn ein strenger 
Blick sie traf. Sie vertrug sich mit allen Leuten gut; man nannte sie phleg- 
matisch, weil sie äußerlich z. B. bei Prüfungen ruhig schien. 

Als sie 12 Jahre alt geworden, starb der Bruder. Dieses Ereignis machte 
weniger Eindruck auf sie als der Schmerz der Mutter; sie weinte nur mit. 
Bald darauf wurde sie durch ein Dienstmädchen sexuell aufgeklärt; in ihrer 
Neugier las sie „unpassende Bücher, versuchte mit dem Finger, wie das ist, 
wenn man heiratet" und masturbierte, angeblich nur bis zum 17. Lebensjahre. 
Damit hatte sie ihre Unbefangenheit verloren, war häufig zerstreut. Im 14. Jahre 
traten die Menses ein. 

Patientin lernte Regenschirmnähen, trat dann in Kondition, die sie aber 
bald aufgab; es paßte ihr nicht, weil .sie einen starken Hang zur Einsamkeit 
fühlte. Sie versuchte sich im Hause zu beschäftigen. Zufällig erfuhr sie, daß 
ihre Mutter an Brustkrebs unheilbar erkrankt sei; gezwungen, vor der Mutter 
ihren Schmerz zurückzuhalten, stopfte sie sich einmal das Taschentuch in den 
Mund, um nicht zu schreien. Das schwere Leiden, die Blutungen gingen ihr 
an die Nerven, trotzdem leistete sie Pflegerinnendienste, oft bis 12 Uhr nachts. 
Als die Mutter starb, fühlte die Kranke anfangs sich gar nicht sonderlich er- 



67 

schlittert, blieb fast heiter bis zum Begräbnisne. In der Kirche kam ihr auf 
einmal ins Bewußtsein, was sie verloren habe; sie begann zu weinen und zu 
schreien, konnte sich gar nicht fassen. Wirtschaftliche Sorgen füllten die 
nächste Zeit. 

Im Alter von 17 Jahren schwärmte sie für einen Schauspieler der 
Hofbuhne; sie besuchte öfters das Theater, legte auf das kleinste Detail 
in Haltung, Kleidung, Miene und Worten ihres Angebeteten Gewicht. Sie 
war glücklich, wenn sie nur überhaupt einen Schauspieler sah. Annäherung fand 
keine statt. Sie versuchte ihre Menschenscheu zu überwinden und ging in eine 
Zeichenschule, wo sie Mädchen kennen lernte, die ganz anders veranlagt 
waren als sie. Patientin wunderte sich, daß man ihr so wenig Aufmerksamkeit 
schenkte, doch will sie deshalb auf andere nie eifersüchtig gewesen sein. 
Auf der Straße angesprochen, lief sie davon oder gab keine Antwort; hingegen 
ließ sie sich körperliche Annäherungen ihres Lehrers gerne gefallen, nicht 
ohne sich hinterher Vorwürfe zu machen. Sie zeichnete überaus fleißig, war 
sehr ehrgeizig, tat alles, um ja nur keine Rüge zu bekommen; doch mußte 
sie schließlich einsehen, daß sie kein Talent zum Zeichnen habe. Sie war 
unterdeß 24 Jahre alt geworden; alle Mädchen hatten einen Beruf, nur sie wußte 
nicht, wozu sie auf der W^elt war. Ins Kloster zu gehen, hatte sie nie er- 
wogen, vielleicht weil sie nicht sonderlich fromm war; sie folgte mehr der 
Überzeugung des Vaters, einem Freigeist, als ihrer tiefreligiösen Mutter. 

Nun begannen Ohnmachtsanfälle. Ganz regelmäßig, wenn Patientin in 
Gesellschaft stumm und schüchtern dasaß, sich langweilte, fühlte sie etwas 
vom Herzen aufsteigen, Ohrensausen; sie wurde sehr blaß und konnte sich 
nicht aufrecht halten; sie sah und hörte aber, was um sie herum vorging. 
In sehr deprimierter Stimmung und dem Gefühle der Vereinsamung trat sie 
gegen den Willen ihrer Schwester einen Posten als Kassierin an. Unter den 
jungen Leuten in jenem Geschäft hatte sie einen bald in ihr Herz geschlossen; 
es kam ihr so vor, als ob auch sie ihm nicht gleichgültig geblieben sei. 
Durch eine ganz harmlose Bemerkung glaubte sie ihn verletzt zu haben; 
seither machte er Witze über die „alte Jungfer", er war ihr zum Trotze 
mit einem Dienstmädchen freundlich; alles höhnte sie ob ihrer Koketterie 
and Eifersucht. Die unglaublichsten Kleinigkeiten gewinnen eine Bedeutung 
für sie. In ihrer Aufregung überfiel sie einmal ein „Herzkrampf", ein furcht- 
barer Schmerz in der Herzgegend. Später kam es ihr vor, als ob ein anderer 
auffallend freundlich mit ihr sei; sie wußte nicht, wohin sie schauen sollte, 
um jenen ersten nicht zu verletzen; sie litt Höllenqualen, verbrachte schlaf- 
lose Nächte, war oft so verwirrt, daß sie nicht zusammenrechnen konnte. Sie 
wurde appetitlos, dazu gesellte sich DiaiThöe; der Arzt diagnostizierte einen 
„schleichenden Typhus". Nach ihrer Genesung wurde sie im Geschäfte wieder 
freundlich empfangen, alles schien vergessen und vergeben. Bald aber ging 
die alte Geschichte los; Patientin hielt es nicht mehr aus, wurde erregt, es 
kam wiederholt zu Auftritten, endlich hielt sie ihre mehrfach zurtickj?ezogene 
Kündigung aufrecht. 

Jetzt war die Kranke erst recht unglücklich; mit einer selbständigen 
Stellung hatte sie kläglich Schiffbruch erlitten, sie wollte sich vom Fenster 
herunterstürzen, doch fehlte ihr der Mut; sie weinte sich nur gründlich 
aus. Nach einiger Zeit ging sie zu weiterer Ausbildung in eine Klavierschule; 
dort war wieder ein junger Mann als Lehrer. Sie hatte einmal etwas von 
herausfordernden Augen gehört, glaubte, daß in ihrem Blicke etwas derartiges 
läge und konnte keinen Mann mehr anschauen. Was nun ihren gegenwärtigen 



58 

Lehrer betrifft, so nahm sie sich fest vor, ihn nicht zu verführen, und ging 
immer mit einem Gebet in die Stunde. Es fiel ihr auf, daß der Lehrer zuerst 
die Kolleginnen abfertigte und dann mit ihr allein blieb. Da auch die Kol- 
leginnen das beredeten, bestand sie einmal darauf, sich als zweite hinzusetzen. 
Patientin empfing den Eindruck, daß der junge Mann ihre Absicht merkte, 
abgekühlt und verletzt wurde. In Selbstquälerei verging das ganze Jahr. 
Wenn er sie ansah, fühlte sie in dem Blicke eine Liebeserklärung; wenn er 
etwas noch so Gleichgültiges sagte, glaubte sie immer Persönliches heraus- 
zuhören; wenn sich im Spiel ihre Hände berührten, konnte sie nicht kalt 
bleiben. Sie beschwor sich, ihm um Gotteswillen nicht zu zeigen, daß sie ein 
Interesse an ihm habe. Nach Überangestrengten Ferien wurde im nächsten 
Schuljahre der Klavierunterricht bei demselben Lehrer fortgesetzt. Die Kol- 
leginnen kamen, wie absichtlich zu spät, so daß Patientin oft durch 72 Stunde 
mit dem jungen Manne allein war. Da er freundlich mit ihr sprach, glaubte 
sie wieder an seine Liebe. Als er einmal die Mädchen aufforderte, noch da 
zu bleiben, empfand sie das wie einen Schlag ins Gesicht, sie kam aus dem 
Takt, auch er schien verlegen. Von diesem Momente an war er ihr zuwider. 

Der Beziehungswahn wurde immer lebhafter. Ängstlichkeit und Miß- 
trauen steigerten sich; wenn sie auf der Gasse ging, glaubte sie, daß die Leute 
sie anschauen; sie beschwerte sich beim Direktor der Schule, daß man sie 
zum Besten halte. Ein Professor sagte einmal einen Vortrag ab; sie meinte, 
das geschehe ihretwegen. Nun nahm sie der Direktor in seine Unterrichts- 
stunde; aber auch er schien in sie verliebt wie der junge Lehrer, sie stürzte 
immer ganz aufgeregt nach Hause, bis ihr der Schulbesuch verboten wurde. 
Nun war Patientin überzeugt, daß alle auf sie erzürnt seien, daß die Leute 
auf der Gasse sie verachten, verhöhnen, verspotten, wie wenn sie im Kopfe 
nicht richtig wäre und sie brach, es war im Jahre 1886, plötzlich los. 

Der damalige Zustand wird folgendermaßen geschildert: Sie schrie, wenn sie 
verrückt sei, solle man sie einsperren wie ein wildes Tier. Auf kalte Umschläge 
erfolgte rasch Beruhigung ; aber in der Nacht kam es ihr vor, als ob sie Fieber 
hätte und schwere Träume. Sie glaubte, daß alle Menschen von ihr etwas haben 
wollen; sie sah den großen schwarzen Hund ihrer Cousine neben sich sitzen, 
bekam große Angst, näßte ins Bett. Sie meinte den Vater stöhnen zu hören, 
lief zu ihm, ob man wirklich von ihr verlange, daß sie in das Bett nässe. 
Plötzlich frug sie: Was ist das. Heiraten? Auf eine Bemerkung des Vaters, 
nicht wahr, du möchtest den . . . heiraten, erwiederte sie: „Aber nein, ich will 
ihn ja gar nicht . . . warum will denn mich keiner?" Sie ging dann wieder 
auf ihr Zimmer. Nächsten Tag konnte sie nicht aufstehen, phantasierte, als 
ob sie die heilige Maria wäre und ein Kind geboren hätte. Im Hofe wurde 
Leder abgeladen; Patientin glaubte für sie, Maria Stuart, werde das Blut- 
gerüste erbaut; oder sie hielt sich für Gretchen; dann kam es ihr wieder vor, 
als sei sie gestorben; sie sah den Himmel offen. Früh morgens wachte sie 
plötzlich auf, der Vater sprach auf sie ein; sie war ganz erstaunt, daß sie 
noch lebe. Es kam ein Arzt aus der Irrenanstalt, sie kehrte sich ihm gar 
nicht zu; als eine Pflegerin erschien, ihr ein Klistier zu machen, regte sie 
sich furchtbar auf, drängte die Frau zur Türe hinaus. In einem lichten Augen- 
blike horte sie eine Frage des Arztes; eine sehr angenehme und sympathische 
Stimme. Sie faßte Zutrauen, war überzeugt, dieser werde sie schon verstehen 
und gesund machen. Zwei Klosterfrauen teilten sich in die Pflege; vor der einen, 
die besonders groß war und die sie für einen Dragoner erklärte, fürchtete 
sie sich; die kleinere hielt sie für einen Mann, den sie in sich verliebt 



59 

meinte. Wesn im Nebenzimmer ein Sessel krachte, glanbte sie, das sei die 
Wiege, wo ihr Eindlein lag. Sie studierte dann darüber nach, woher dieses 
Kind stamme; bildete sich ein, zu einem Kinde komme man sehr leicht, es 
bedürfe keiner näheren Berührung; es genüge, wenn man etwas Sexuelles 
empfinde. Patientin hörte verschiedenerlei Stimmen, wunderte sich über die 
Menschen um sie herum; es schien, als ob ihr alle Zärtlichkeitsbeweise geben 
würden. Sie mufite viel lachen und singen, hatte so ^ eigene^ Gefühle, namentlich 
dem Arzte gegenüber: man elektrisiere oder hypnotisiere sie. „Ihre Sinne 
seien erwacht^ (aus einer Lektüre der letzten Zeit zitiert). Auch an Be- 
wegungshalluzinationen erinnert sie sich, nicht aber an Geruchs- oder Ge- 
schmackstäuschungen. Vor der Tante spuckte sie einmal aus, glaubte, jene 
hätte dann keine Macht mehr über sie; sie empfand Furcht vor den Schatten an 
der Wand, hörte, das sei des Teufels Großmutter. Als Patientin einmal aufstand, 
wurde sie ohnmächtig, es kam ihr vor, als ob man aus ihrem Körper etwas 
herauswinden würde, das sei auch des Teufels Großmutter. Diese Delirien 
hörten rasch auf. Am 16. August war sie erkrankt und am 17. September 1886 
ging sie schon klar und krankheitseinsichtig aufs Land. Die überstandene 
Psychose nahm sie als Sühne und Abschluß; jetzt sei alles wieder gut. 
Sie wurde ruhig, heiter, unbefangen, verkehrte ungeniert. 

1889 starb der Vater an seniler Demenz; diesmal hatte die Pflege sie 
nicht übermäßig angestrengt. Sie beherrschte sich beim Begräbnisse, hinterher 
erfolgte allerdings ein Schmerzausbruch. Von einer gewissen Erregbarkeit und 
Stimmungswechsel abgesehen, verliefen die nächsten Jahre ruhig. 

1806 traf die Kranke in einer Sommerfrische einen Oberlehrer, der 
ihr als edler Mensch gerühmt wurde. Auf eine junge Dame war sie 
seinetwegen eifersüchtig. Den ganzen Winter träumte sie von dem neuesten 
Ideal, ebenso den nächsten Sommer; sie bedauerte lebhaft, daß sie den Mann 
bis 1898 nicht zu Gesicht bekam. Sie glaubte zu fühlen, daß sein 
Interesse für sie inzwischen abgenommen; doch schien er noch frei. Trotz 
ihrer Einsicht, daß sie nicht mehr jung genug sei für ihn, zeigte sie ihm, 
daß er ihr gefalle, daß sie Hoffnungen nähre und er schien ihr Empfinden 
zu erwidern — das alte Spiel. Als sie nach Wien zurückkehrten, war indes 
noch keine Erklärung erfolgt. Patientin bekam Angst vor sich selbst, begann 
sehr fromm zu werden, ging regelmäßig in die Kirche. Anläßlich einer Feat- 
predigt lernte sie dort einen Pater kennen, der ebenfalls tiefen Eindruck auf 
sie machte; sie suchte fortab dessen Predigten auf. Auch hier knüpft wieder 
der Beziehungswahn an. Die Kranke merkte bald, daß der Geistliche speziell 
auf sie achte, direkt zu ihr hinspreche; der Text der Predigt spielte auf sie 
an. Einmal beredete er, daß sie beim Vaterunser nicht niedergekniet war. 
Eine nebenstehende Dame sah zuerst auf die Patientin, dann auf den Prediger; 
derselbe geriet aus dem Konzept, schien sehr erzürnt, sprach von Augenlust. 
Die Kranke kämpfte mit sich, vergebens, sie konnte es nicht übers Herz 
brii^gen, bei der nächsten Predigt zu fehlen. Diesmal sagte der Pater mit 
Beziehung auf die Patientin: „Gibt es einen heiligeren Ort als das Paradies 
und doch hat die Eva darin gesündigt.^ Nun ging sie zu ihm beichten, er- 
hielt gute Lehren. Sie muß zugeben, daß dieselben durchaus unpersönlich 
waren; ihre Überzeugung wurde dadurch nicht erschüttert. Wenn der Geist- 
liche in einer Prozession marschierte, wechselte sie ihren Standpunkt, so daß sie 
ihn mehrmals sah; zugleich empfand sie Gewissensbisse über ihr sündhaftes Treiben. 

Im Sommer 1901 vermied der Oberlehrer plötzlich ihr Haus; er ging 
mit einem Mädchen öffentlich spazieren. 1902 zu Ostern schlief Patientin 



60 

schlecht; sie mußte fort an den Geistlichen denken, glaabte, daß auch er 
ihrer gedächte; sie betete besonders andächtig für sich und ihn. Dann 
traf die Nachricht ein, daß der Oberlehrer sich verlobt habe, was sie sehr 
alterierte. Sie begann über sich und ihr Schicksal zu murren: „Was hatte sie 
von all ihrer Tugend; sie hätte doch jemand glücklich machen können.^ In 
großer Aufregung weinte sie die ganze Nacht, glaubte die Stimme des Geist- 
lichen zu vernehmen. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihre „Jugendsünde" 
dem noch nicht gebeichtet, der ihr jetzt der Liebste auf Erden sei. Am 
26. April 1902 ging sie in die Predigt. Wiederum kam es ihr vor, als ob 
der Pater nur zu ihr spräche, er schien zu schluchzen, brachte die Worte kaum 
hervor: er wollte ihr helfen oder sie strafen dafür, daß sie einem Diener 
Gottes Aufmerksamkeit schenke. Später glaubte sie, daß der Geistliche und 
der Lehrer sich verständigt hätten, zusammen die Patientin zu etwas (Sexuel- 
lem?) zu bringen. Zu Hause konnte sie die alltäglichen Verrichtungen nicht 
mehr besorgen, die Gedanken gingen ihr immer durch. Wegen schrecklicher 
Kopfschmerzen legte sie sich nieder. Zur Jausenzeit war Gesellschaft da, es 
wurde über den Roman „Quo vadis" gesprochen. Und nun begannen Remi- 
niszenzen an Lektüre; sie fühlte so außerordentlich lebhaft mit, wie es geschehen 
kann, daß ein Mädchen sich hingibt; Schauer liefen ihr über den Rücken; sie 
dachte an den Satz: Wenn das W^eib fühlt, daß ihre Stunde gekommen ist, 
so weint sie; sie dachte an Gretchen und begann laut zu weinen. Auf die 
teilnehmende Frage ihrer Schwester wurde sie momentan ruhig, spielte 
Tarock, allerdings schlecht. Abends behauptete sie plötzlich, sie habe sich mit 
dem Geistlichen vergangen; blieb dabei trotz aller Einwände der entsetzten 
Schwester. Nachts schlaflos; sie empfing den herbeigerufenen Hausarzt quasi als* 
Freund, fiel ihm um den Hals. Von der Richtigkeit ihrer Wahnidee überzeugt, 
faßte sie sich bald: das Unglück sei nun schon einmal geschehen, sie müsse 
es über sich ergehen lassen. Die Kranke wurde ruhiger, bis zur Nacht vom 
3. auf den 4. Mai, wo sie derart lärmte und schrie, daß die Hausbewohner 
in ihrer Ruhe gestört wurden. 

Ich sah die Patientin zum ersten Male am 5. Mai 1902 abends. Sie lag 
zu Bette mit geschlossenen Augen, lächelnden Gesichtes, sang und delirierte 
vor sich hin. Energische Aufforderungen blieben unbeachtet, auf Schmerzreize 
erfolgte keine Reaktion. Die Augen wurden krampfhaft geschlossen, wenn man 
das obere Lid zu heben versuchte. Bei ruhigem Zuwarten, zeitweisem freundlichen 
Zuspruch wurde die Kranke allmählich ganz ruhig, schien einzuschlummern. 
Es wurde Beruhigung suggeriert, Paraldehyd angeordnet und eine ausführliche 
Besprechung für den nächsten Nachmittag in Aussicht gestellt. Patientin ver- 
brachte den ersten Teil der Nacht still, begann aber dann wieder zu 
lärmen. Am 

6. Mai zur angegebenen Stunde war die Kranke vollkommen ge- 
ordnet, klar; sie erkannte mich wieder, und begann nun, wenn auch sehr 
zögernd von ihrem Leben zu erzählen. Dabei erwachten depressive Affekte, 
sie wurde ängstlich, duldete absolut nicht, daß ihre Schwester aus dem Zimmer 
gehe. Über ihre Delirien konnte oder wollte sie nichts mitteilen. Sie sei über- 
haupt immer eine sehr verschlossene Person gewesen, meinte die Schwester. Die 
körperliche Untersuchung ergab ausgebreitete Analgesie der Haut, hingegen 
Druckempfindlichkeit der Interkostalräume. Ich suggerierte Beruhigung. Nachts 
begannen die Delirien indes aufs neue; die Kranke sprach mit ihrer toten 
Mutter, erklärte für sie gerne sterben zu wollen. Sie sei aber noch nicht tot, 
da ihr Herz noch poche; man solle sie nicht in den Sarg legen. Dann stieß 



61 

gie mit Händen und Füßen gegen ihre Umgebung, schrie, warum diese den 
Sargdeckel noch nicht schließen wolle, undankbar sei, trotzdem Patientin für sie 
gestorben. Auf Zureden erfolgte keine Reaktion. Patientin wird mittels Trag- 
bahre am 

7. Mai früh ^n die Klinik gebracht. Daselbst ruhig, behauptet, den 
Arzt wieder zu erkennen. Auf dem Krankenzimmer bleibt sie zunächst still 
zu Bett, beantwortet Fragen nach ihren Personalien richtig, andere dem Sinne 
nach, wieder andere gar nicht. Später führt sie triviale Selbstgespräche, wirft 
Teller und Schüssel zum Bett hinaus. 

Nachts trotz Paraldehyd schlaflos, 9ingt (nach Art von Kirchenliedern). 

8. Mai. Patientin lärmt, schlägt mit Händen und Füßen herum, ver- 
weigert die Nahrungsaufnahme. Nachts unruhig und schlaflos. 

9. Mai. Im Selbstgespräch zu Bett; bei Annäherung der Visite macht sie 
mit den Händen abwehrende Bewegungen. Auf Anschreien wird sie ruhiger, 
bringt nur mehr unartikulierte Laute hervor; zieht ihr Hemd aus. Voll- 
ständige Analgesie. Nachmittags flüstert Patientin einzelne zusammenhang- 
lose Worte vor sich hin: ^. . . Königin . . . trinken . . .^ scheint verwirrt, lacht 
aber ganz verständnisvoll auf, als eine Mitkranke eine witzige Bemerkung macht. 

10. Mai. Spricht noch immer vor sich hin, ist aber durch Anrede leicht zu 
fixieren. Patientin erkennt den Professor; ruft dann nach ihrer Schwester. 
Schläft des Nachts. 

11. Mai. Heute ruhig, examinierbar. Die Kranke weiß Wochentag und 
Datum nicht, will nicht glauben, daß jetzt Mai ist. Über die Umgebung ist 
Patientin aber vollkommen orientiert. In beiden oberen Extremitäten rudimen- 
täre Klonismen. 

12. Mai. Die rhythmischen Bewegungen der Arme halten an; dabei zu- 
nehmende Klärung. 

13. Mai. Heute bereits krankheitseinsichtig; freut sich über den Besuch, 
ihrer Schwester. 

15. Mai. Verläßt das Bett. 

1 7. Mai. Zum ersten Male im Garten, klagt hinterher über Kopfschmerzen, 
schläft nachts wenig. 

19. Mai. Analgesie nur mehr an der rechten oberen Extremität, gegen 
die Hand zunehmend. 

21. Mai. Patientin hat ein Anliegen, kann dasselbe kaum vorbringen, 
weil ihr der Atem zu versagen scheint. Ihr Wesen drückt eine schwer zu 
verhaltende Erregung aus. Zum ersten Male spricht sie davon, daß sie nach 
Hause kommen möchte. Am 

22. Mai erzählt die Kranke spontan, sie höre jetzt noch immer die 
Stimme des Geistlichen; sie bemühe sich, nicht darauf zu achten. Es sei 
vielleicht nur Krankheit, oft aber meine sie, daß die Stimmen wirklich seien. 

Ausführliches Examen in mehreren Sitzungen: Mit ermüdender Breite 
erzählt Patientin von ihrer bis nun so freudenleeren Existenz, in deren Ein- 
tönigkeit die trivialsten Erlebnisse tiefe Spuren zurückgelassen haben. Die 
Kranke beschäftigt sich sehr viel mit ihren Erinnerungen; sie gibt selbst zu, 
daß sie förmlich ^wiederkäue", mit einem Ereignisse nicht fertig werden könne. 
Mit geringer Nachhilfe spricht sie sich auch über Herzensangelegenheiten 
offen aus und scheint davon Erleichterung zu empfinden. Stellenweise wird 
sie von depressiven Affekten überwältigt, die in Mißverhältnis stehen zu der 
Nichtigkeit des Reproduzierten. Der größte Teil der Beichte ist in chrono- 
logischer Reihe an der Spitze der Krankengeschichte wiedergegeben; hier sei nur 



62 

der Rest nachgetragen, wobei bemerkt werden muß, daß die zeitliche Lokalisation 
unsicher wird, so wie man sich dem letzten Delirium nähert. 

Wenn die Schwester sie rief, glaubte Patientin, sie dürfe nicht auf sie 
hören, sonst werde sie ganz verderben, ihre letzte Stunde sei da. Einen 
der Ärzte hielt sie für den Tod und hatte schreckliche Angst. Es war 
ihr, wie wenn eine innere Stimme ihr sagte, sie dürfe die Augen nicht auf- 
machen, sonst gehe ihre Seele verloren; sie hielt die Augenlider krampfhaft 
geschlossen; auch vor der Wärterin fürchtete sie sich. Alle kamen ihr falsch 
vor, als ob man sie belügen wolle. Wenn die Türe offen war, dachte sie, 
daß böse Dämonen hereinkommen, daß ihre Stimme die Türe zu schließen 
vermöge; als diese sich schloß, schrie sie wieder, die Türe solle offen sein, 
sprang aus dem Bett und stieß alle hinweg. Die Tröstung des Arztes erschien 
ihr ganz deplaciert; sie dürfe sich keinem Manne ergeben, nur dem lieben 
Gott; ihm müsse sie sich zeigen, deshalb die Entblößungen. Sehr peinlich war 
ihr, daß der Arzt jeden ihrer Gedanken lesen konnte; alle Leute wußten, 
was in ihr vorging, und machten sich darüber lustig. 

Zeitweise verließ sie wegen furchtbarer Kopfschmerzen das Bett. Einmal 
sperrte sie die Wärterin ans dem Zimmer, weil sie sie für den Pater Abel 
hielt und glaubte, sie dürfe sich von diesem nicht berühren lassen, auch da^ 
sei eine Sünde. Eine und dieselbe Person tat ihr bald wohl, dann meinte 
sie wieder, sie müsse sich vor derselben hüten; man wolle sie in die Kirche 
locken, damit sie einmal „etwas anderes^ tue; bis nun war sie taub, stumm 
und blind. Der Geistliche wisse, daß sie den Lehrer wirklich lieb habe und 
werde sie von der Kanzel verlesen. Dann glaubte sie im Sarge zu liegen, sie 
dachte und fühlte sich tot; es kam ihr vor, als ob alle an ihr vorbeizogen; 
sie wurde gefragt, ob sie diesen oder jenen wolle. Aber immer stimmte etwas 
nicht, bald die Stimme, bald das Gesicht, der falsche Blick: sie wurde sehr 
ungeduldig und wollte durchaus den Sargdeckel geschlossen haben. Auf den 
zweimaligen Besuch des Arztes in der Wohnung erinnert sie sich trotz Vor- 
haltes nicht; hingegen weiß sie von ihrem Transport in die Anstalt zu erzählen. 
Es war ihr, als ob der Lehrer mit ihr sprechen würde, der schon lange ihr 
Mann war; sie dutzte ihn, nur habe sie sich ihm noch nicht ergeben. Auf 
der Fahrt begleitete sie die Wärterin; doch glaubte sie immer, als ob der 
Lehrer sie bei der Hand halten würde und ihr zuspräche: „Wir fahren zu- 
sammen nach W . . ." (die Sommerfrische, in der sie ihn kennen lernte). Die 
grünen Bäume der A . . . Straße schienen ihr das zu bestätigen. ^Hast du 
mich wirklich so gern? Willst du meine Frau sein? Sei nur ruhig, ich werde 
für dich handeln." 

An der Klinik erinnert sie sich des Arztes nicht, der sie empfing, 
wohl aber, daß sie Stufen hinaufgetragen wurde, dann in ein Gitterbett kam. 
Die Stimme flüsterte ihr zu: „Das war der göttliche Strahl und ich bin der 
Nährvater. ** Es kam der Heilige Geist. (Hinter diesen Verkleidungen stecken 
die Personen, die in ihrem Leben eine Rolle spielen: Der Schauspieler, ihre 
erste Liebe, ist ihr Sonnenstrahl, der Geistliche, den sie mit einem Römer 
aus dem Roman „Quo vadis^ identifiziert, erschien ihr als Gottes Sohn; den 
Oberlehrer, der Johann hieß, nannte sie im Delirium konsequent Josef.) — 
Noch eine Anknüpfung an die letztvergangene Zeit war herauszufinden: 
Patientin hatte vorige Woche den Kaiser gesehen; die Stimme flüsterte ihr zu, 
sie sei die Kaiserin von Österreich: sie glaubte daher, daß sie in ihrem 
Herrscherbereiche befehlen könne — und warf das Geschirr aus dem Bett. 

Weiters träumte die Kranke von ihrem eigenen Begräbnis. Nachdem 



63 

die Menschen sie so gequält^ mußte sie jetzt alle durch ihren Tod erlösen; sie 
war der ^Schmerzensreich"; die in der Hölle waren und in den Himmel kommen 
wollten, hofften auf sie (Erinnerungen an das Neue Testament). Dann war sie 
die Natur; alle kamen zu ihr und hingen an ihren Brüsten (eine Phrase der 
Lektüre; über die sie sich Gedanken gemacht), der göttliche Odem belebte 
sie; sie selbst war Gott und mußte die Menschen erst schaffen. — Ein alter 
Bekannter erschien ihr als Faust; sie dachte darüber nach; wo dieser sie hatte 
verführen können. Sie war die verlorene Seele und Stimmen riefen ihr zu: 
Jetzt gib nur Acht . . . gi*ößte Gefahr . . . alle Teufel wollen zu Dir und keiner 
will heraus . . . 

Mit Hinweglaasung zahlloser unwesentlicher Details folgt die Darstellung 
der Gedankengänge genau der Art; wie die Kranke sie retrospektiv wieder- 
gibt; sie spricht vielfach zögernd; aber immer bestimmt; verständlich; geordnet. 
Als das Examen hierher gediehen ist, geht mit der Patientin eine sichtliche 
Änderung vor; ihre Äußerungen verlieren den Zusammenhang, Zwischenfragen 
werden unpassend beantwortet, eine ratlose Miene läßt lebhaft ängstlichen 
Affekt erkennen. Der unterbrochene Rapport mit dem Arzte stellt sich indes 
bald wieder her; die Kranke berichtet; daß der Sessel; auf dem sie sitze, sich 
bewege. Nach einer Pause fährt sie auf beruhigenden Zuspruch; wie früher in 
ihren Erzählungen fort: 

Es war einmal ein Leichenbegängnis; bei dem sie nicht weinen konnte; 
nun dünkte sie sich selbst die Leiche, weil ihr die Tränen fehlten. Sie glaubte 
aber noch nicht ganz tot zu sein; das Herz gab keine Ruhe; es hing noch an 
der Welt. Dann kam es ihr vor, als ob sie ihre Mutter aus dem Grabe heraus- 
gegi*aben hätte; die Stimmen sagten; ihre Mutter war eine HurC; wogegen 
Patientin sich wehrte. Der Oberlehrer nannte sie eine Teufelsbrut, sich selbst 
einen Hahnrei; er tröstete sie aber gleich, sie könne ja nichts dafür. Die 
Wärterinnen erschienen ihr wie Hexen, so wild ; auch Mitpatientinnen verkannte 
sie, nahm dieselben füi' gute alte Bekannte. Sie hatte das Gefühl; als ob von 
ihren Händen Strahlenbündel ausgingen; gleich einer Kraft; darum bewegte 
sie die Hände herum. Sie glaubte ihre Schwester mit erlösen zu müssen; 
trotzdem dieselbe sie in das Irrenhaus gebracht hattC; was ganz ungerecht- 
fertigt gewesen sei. Sie wollte dann alle Irren gesund machen, meinte, an 
ihr werde nur die Methode dazu ausprobiert. — Allmählich wurde sie ruhiger, 
klarer; es kam ihr alles vor wie ein Traum, wie eine Krankheit, ähnlich der 
im Jahre 1886. 

5. Juni. Patientin jetzt dauernd geordnet, aber von gedrücktem Wesen, 
wünscht sich hinaus. Sie hat mit einer anderen Hysterica ein so inniges 
Freundschaftsbündnis geschlossen, daß sie Ortsveränderung zu ihrem Vorteile 
ablehnt; da die Freundin davon ausgeschlossen bleiben soll. Die beiden sitzen 
den ganzen Tag beisammen; jede über ihrer Arbeit. — Wiederholter suggestiver 
Zuspruch. — Die Hypästhesie der rechten Seite ist vollkommen geschwunden. 

10. Juni. Es wurde allmählich mit dem Schlafmittel heruntergegangen 
ohne Beeinträchtigung des Wohlbefindens. 

15. Juni. Geheilt entlassen. 

Eine eingeholte Information besagt, daß Patientin verträumt; von stillem; 
gottergebenem Wesen ist, sich mit mechanischer Tätigkeit die Zeit vertreibt, 
sonst aber keine psychischen Störungen erkennen läßt. 

Ein frühgewecktes Kind, das zur Masturbation verführt, augenscheinlich 
unter dem Einflüsse dieser noch scheuer wird, zu Einsamkeit und zu Phantasterei 



64 

neigt. Jedes Ereignis wirkt in ihrem Innenleben viel lebhafter als es zunächst 
äußerlich scheint. Schon in jungen Jahren hat sie einen hysterischen Affekt 
und späterhin Ohnmachtsanfälle, die psychologisch zu motiTieren sind. Die 
Egozentrizität führt fast zu Beziehungswahn. Überall glaubt sie das zu finden, 
wonach ihre sinnlich veranlagte Natur schreit. Ihre Träume, ihre Wünsche 
haben Gestalt gewonnen; endlich entlädt sich die angehäufte Unzufriedenheit 
mit dem Schicksal, das ihr die Erfüllung auch der bescheidensten Wünsche 
versagt, in einem Delir. Sie bleibt während desselben in Rapport mit der 
Umgebung; die Kreise des Wachbewußtseins drängen sich an die Oberfläche; 
es sei nur erinnert an das Heiraten, die heilige Maria, als die Jungfrau, 
welche ein Kind geboren hat. Dazu kommen Reminizenzen aus einer Lektüre, 
die sie erregt hat, lebendig gewordene Phantasiebilder. Die Sympathie, welche 
die Patientin für ihren Arzt empfindet, erleichtert ihr die Genesung. Sie hat 
sich auf sich selbst besonnen, entschlossen, den Kampf ums Dasein wieder 
aufzunehmen. 

Bald aber werden neuerlich erotische Beziehungen entwickelt; sie kann 
darüber nicht hinaus, daß sie ein Weib ist; nur wird, da sie mittlerweile älter 
geworden, die irdische Liebe teilweise in eine solche zum Himmel konvertiert. 
Die Kranke verliebt sich wohl mehr symbolisch, in einen Pfarrer; der Ober- 
lehrer hiogegen. Mann und Existenzmöglichkeit zugleich, wird das Objekt ihrer 
leidenschaftlichen Werbung. Aus der affektvollen Betonung aller diesbezüglichen 
Erinnerungen hatte die Schwester der Patientin den Eindruck gewonnen, daß 
hier die unmittelbare Ursache ihrer letzten Krankheit sitze. Die genaue zeit- 
liche Koinzidenz beweist dies ebenso wie der Gedankeninhalt. Die Patientin 
fühlte sich ihrer letzten Hoffnung beraubt; jetzt hieß es wif'klich, mit dem 
Ijcben, das einzig Leben ihr schien, abschließen. Und nun erfolgt die letzte 
große Revolte des gequälten, unterdrückten „Ich", das für immer in die 
entwürdigsten und peinlichsten Verhältnisse zurückgeworfen wird. Die Kranke 
muß sich von ihrer selbst armen Schwester noch aushalten lassen, ist durch- 
aus überflüssig auf der Welt. Das außerordentlich reichhaltige Delir scheint 
ganz phantastisch zusammengesetzt, ein wirrer Traum, und hinterläßt eine 
ziemlich vollständige Erinnerung neben charakteristischen amnestischen Lücken. 
Wenn man den Einzelheiten nachgeht, kommt man immer und überall auf 
persönliche Beziehungen; es herrschen Zitate, welche Eindruck auf die Kranke 
machten, ihr Schicksal wiederzuspiegeln schienen; nur bekannte Personen 
treten auf in irgendeiner Verkleidung. Spricht man mit der Patientin durch 
längere Zeit über ihre Krankheit, so kann man, von allen Affektäußernngen 
abgesehen, einen rudimentären Verwirrtheitszustand mit Sinnestäuschungen^ 
quasi ein experimentelles hysterisches Delir wieder erzeugen. Der Erregungs- 
zustand klingt unter psychischer Behandlung allmählich ab. Die Kranke läßt 
sich beruhigen und ins wirkliche Leben wieder einführen, tatsächlich bleibt 
es ihr fremd; sie verkriecht sich in ihre Phantasiewelt; vielleicht kann ihr 
der Himmel noch eine Hoffnung gewähren. 

Wenn man einzelne Kapitel dieser Krankengeschichte liest, könnte man 
beinahe versucht sein, an Paranoia zu denken; aber es ist nur Hysterie. 
Patientin wünscht, sie träumt davon, sie glaubt wahrzunehmen, daß alle Leute 
für sie sich interessieren, und zwar in der ihr Bewußtsein beherrschenden 
erotischen Richtung. Die differentialdiagnostische Frage wdrd noch eingehend 
zu behandeln sein. Hier beweist schon der Verlauf, daß Paranoia nicht vor- 
liegt. Die akuten VerwirrtheitsausbrUche hingegen erscheinen wie Zustands- 
bilder einer Amentia. Die persönlichen Eindrücke, die Beeinflußbarkeit der 



65 

Kranken, die unmittelbare Reaktion auf den Eintritt des Arztes, all das sind 
Dinge, die sich in einer Krankengeschichte nicht gut wiedergeben lassen; 
doch dürfte schon die grobe psychologische Analyse gezeigt haben, daß alles, 
was im Rahmen dieser Geistesstörung beobachtet werden konnte, nichts 
anderes ist, als die Persönlichkeit der Patientin; daß die Krankheit kein 
einziges fremdes Element in den geschlossenen Charakter hineinträgt, der als 
ein vorwiegend innerer, passiver zu bezeichnen wäre. Bemerkenswert scheint 
weiterhin, daß aach keine ethischen Defekte nachweisbar sind. Die Patientin 
von gutem Hause wurde .strenge erzogen ; um so schwerer mußte sie unter 
dem Drucke der Verhältnisse leiden. 

Im Gegensatze dazu folgt nun wieder ein moralisch defekter Fall, 
der den Typus des Erinnerungsdeliriums aufs schönste verkörpert. 

Beobachtung VII. 

Josefa K., geboren 1874, katholisch, ledig, Dienstmädchen, kommt am 
12. Dezember 1895 das erstemal zur Aufnahme. 

Im Parere heißt es: Sie wurde auf der Straße bewußtlos aufgefunden 
und zum Amte gebracht. Ohne auf die an sie gerichteten Fragen zu antworten, 
schreit sie ununterbrochen laut: ^Mein armes Kind! Die Kroatin, die es im 
Findelhause übernommen, hat mir immer geschrieben, daß es läuft, Zähne 
bekommt und gedeiht; während es schon lange tot ist. Mein armes Kind!. . . 
Ich bin von Steyr fort, damit ich mich trösten kann . . . aber nur fort von Wien, 
ich kann hier nicht bleiben, ich muß sonst in die Donau, ich kann mir nicht 
anders helfen . . . Ich mußte von Euch fort, denn ich kenne meine Krankheit 
und weiß, was es bedeutet, wenn ich einige Tage Kopfschmerzen habe . . . 
^Meines armes Kind! Geben sie es mir! Es lebt gewiß noch und wird mir vor- 
enthalten ! Seit zwei Jahren habe ich das Kind nicht mehr und kann mich darüber 
noch nicht trösten.^ Patientin ist auf keine Weise zu beruhigen; bei Druck 
in die Unterbauchgegend beginnt sie heftig zu lachen, bekommt Streckkrämpfe 
in den oberen Extremitäten und Nackenmuskeln. 

An der Klinik erwacht sie, luzid mit Amnesie für die im Parere 
berichteten Vorfälle und ihre Überbringung in das Krankenhaus. Sie erzählt, 
daß das jetzt der fünfte Anfall ihrer Krankheit war; der erste trat im 
Jänner d. J. auf, als sie sich über die Nachricht vom Tode ihres Kindes sehr 
kränkte; jedem Anfalle gehen durch zwei Tage stechende Kopfschmerzen, welche 
beiderseits die Scheitelhöhe einnehmen, voraus. Sie sei dabei sehr gereizt, 
möchte alles zerreißen, habe Übelkeit, es würge, sie herauf; sie mache sich 
schreckliche Gedanken, Selbstvorwürfe, daß sie ihr Kind von sich gegeben 
habe, empfinde den Drang ins Wasser zu gehen; dann stürze sie hin und wisse 
nichts von sich. Man erzähle ihr, daß sie lache, weine, spreche; manchmal 
bäume sie sich auf, schlage um sich, fasse sich an den Haaren, reiße sich das 
Crewand vom Leibe. Dauer des amnestischen Zustandes einige Standen; hinter- 
her Wohlbefinden. Intervallär nur hie und da etwas Stimkopfschmerz. 

Der dem jetzigen Anfalle vorausgehende Affekt wurde veranlaßt durch 
neuerliches Lesen der auf ihr Kind bezüglichen Briefe. Über Befragen er- 
fährt man von der Kranken noch, daß sie in den letzten Jahren wiederholt 
nachts aufstand, mehr minder komplizierte Handlungen verrichtete, sich dann 
niederlegte und völlig erinnerungslos dafür war. Einmal soll sie auch des nachts 
in sehr gefährlicher Lage — auf dem Fensterbrett stehend — aufgefunden 
worden sein. 

Baimann, Die hysterischen Geistesstörungen. 5 



66 

13. Dezember. Ohne alle Saggestion durch bloßes Streichen der Stirn 
kommt Patientin in ein Äquivalent. Leichter Stridor laryngis; linksseitiges 
Zittern. Die Kranke fragt wo sie sei; verkennt schreckhaft die Umgebung, 
fängt an in affektvoller Weise von ihrem Kinde zn delirieren, ergeht sich in 
Vorwürfen, und ruft weinend aus: ^ Hätte ich das gewußt, daß er mich stehen 
läßt . . . verlassen vom jedem ... ich werde nicht alt werden.^ Sie wälzt sich 
im Bette herum, bohrt den Kopf in die Kissen, hat jedoch keine Krämpfe, 
nur leicht flimmerndes Zucken in den Oberlidern. Nach 10 Minuten beginnen 
heitere Delirien: Die Kranke lacht fortwährend, meint, sie mache sich nichts 
draus. Nach 5 Mannten erwacht sie plötzlich, staunt darüber, daß sie sich im 
Bette befinde, fragt, ob sie geschlafen, klagt über Schwindel. Amnesie fUr den 
ganzen Zustand. Patientin wird schläfrig und vertällt in tiefen Schlaf. 

15. Dezember. Hypnose mit der Suggestion bis zum Mittagessen zu 
schlafen. Statt aber einzuschlafen, reproduziert die Kranke alles mögliche 
Unangenehme: sie schimpft über den „Hund von Geliebten, der sie sitzen 
ließ^, halluziniert das verstorbene Kind, das angeblich ins Wasser gefallen 
sei. Ein Versuch mit Chloroform vermag den Insult nicht zu bannen; Patientin 
jammert und heult über den verruchten „Hund^, der sie verlassen und den sie 
doch nicht vergessen könne. Plötzlich Wechsel der Szene; heiter expansives 
Delir; gleich darauf wieder Schmerz. Sie werde nicht alt; wenn sie die Donau 
wüßte, hätte sie sich hineingestürzt. Erwachen mit Kopfschmerzen. 

Abends: Verzweiflungsausbruch mit Ausdruck von Lebensüberdruß bei 
klarem Bewußtsein. Sie stellt Suicid in Aussicht, wenn man sie nicht sofort 
entlasse. 

20. Dezember. Ohne äußeren Anlaß erregt, lärmt, äußert Taedium vitae. Am 

26. Dezember wird sie gegen Revers einer Verwandten übergeben, sehr 
bald gesund und befindet sich auf verschiedenen Dienstplätzen zur vollen Zu-* 
friedenheit ihrer Dienstgeber; nur über etwas Vergeßlichkeit wird geklagt. 
Im April 1902 erzählte Patientin einer Bekannten, daß sie einmal auf der 
Straße aufgegriffen und in die Beobachtungsstation gebracht worden sei. Im 
September äußerte sie Angst, daß sie wieder närrisch werde. Am 5. Oktober 
klagte sie über starke Kopfschmerzen, nahm ein Antipyriupulver, ging zu 
einer bekannten Frau und kehrte nicht mehr nach Hanse zurück. 

Als Unbekannte wurde sie in einem fremden Bezirke herumirrend auf- 
gegriffen und aufs Kommissariat gebracht. Dort schrie sie, wand sich in 
tonischen und klonischen Krämpfen. Sie kommt am 6. Oktober um 3 Uhr früh 
sehr unruhig an der Klinik zur Aufnahme, weint und schreit, sie wolle nicht 
mehr leben. 

Patientin bei der Frühvisite anfangs abweisend, beantwortet die Fragen 
mit Widerstreben, aber korrekt. Sie erzählt, daß sie gestern Ausgang hatte, 
kein geistiges Getränk, nur Kaffee zu sich nahm. Unter heftigem Schluchzen 
berichtet sie weiter, daß sie einen schweren Kummer habe; sie könne darüber 
nicht sprechen. Vor 6 Jahren hatte sie auch wegen eines Kummers dieselbe 
Krankheit. Jetzt fühle sie sich unwohl, könne nicht erbrechen. Dabei wirft 
sich Patientin im Bett herum, bohrt den Kopf in die Kissen. Über ihre Ein- 
bringung und wie sie in den . . . Bezirk kam, ist ihr nichts erinnerlich. Wegen 
ihres „Herz" -Leidens geniere sie sich; lächelt verschämt in sich hinein. 
Während der körperlichen Untersuchung protestiert sie plötzlich: „Ich lasse 
mich nicht hypnotisieren." 

Starker Tremor beider Hände; lebhafte, bis zum Klonus gesteigerte 
Sehnenreflexe an den unteren Extremitäten. Ein Druckpunkt im Epigastrium, 



67 

ein anderer in der linken Ovarialgegend. Analgesie gegen Nadelstiche am 
ganzen Körper. 

Patientin will sofort entlassen werden, heult laut; als ihr dieses Ver- 
langen abgeschlagen wird. 

7. Oktober. Äußert in gemacht klingender Weise Lebensüberdruß, ver- 
weigert jegliche Nahrung, will nur Kaffee trinken. 

8. Oktober. Außer der Zeit der Visite unauffällig. Patientin hilft beim 
AuMumen, unterhält sich mit anderen Kranken. Über eigenes Verlangen er- 
hielt sie abends bg Paraldehyd. Gleich darauf begann sie zu lachen; zu 
weinen, wälzte sich am Boden herum, brachte allerlei afifektvoUe Reminiszenzen 
vor von ihrer verstorbenen Mutter, einem ungetreuen Liebhaber; frug, wo man 
zur Donau kommt. Nach einer Stunde Schlaf. 

9. Oktober. Vollkommene Amnesie für den Anfall. Patientin nennt den 
Wärterrapport eine Lüge; entrüstet sich darüber. 

10. Oktober. Die Kranke erhält am Abend Amylenhydrat. Gleich darauf 
neuerlich ein Anfall. Sie gleitet zum Bette heraus, wälzt sich auf dem Boden 
herum, stöhnt, schreit, streckt die Arme, dann arc en cercle. Auf Hautreize 
z. B. kaltes Wasser reagiert Patientin ein wenig. Sie wird isoliert, steht auf- 
recht im Gitterbett, macht delirante Äußerungen wie: ^Mutter, Mutter, ich 
möchte bei dir sein; wenn ich nicht für den Vater zu sorgen hätte, wäre 
ich schon längst bei dir . . .^ Nach 1 Stunde Schlaf. Menses. 

11. Oktober. Für den Anfall selbst vollkommen erinnerungslos; die 
deliranten Äußerungen finden in ihren Lebensschicksalen eine völlige Erklärung. 

In wiederholtem Examen entwickelt Patientin folgende Biographie: 
Mutter starb vor 2 Jahren; Vater lebt in drückenden Verhältnissen und wird 
von ihr unterstützt; ein Bruder leidet an nächtlichen Anfällen, in denen er 
spricht oder aufsteht und herumgeht. Patientin selbst hatte als ganz kleines 
Kind Erstickungsanfälle, erlitt im 6. Lebensjahre ein Schädeltrauma mit Bewußt- 
losigkeit; sonst immer gesund und von heiterer Gemütsart. Mit 15 Jahren wollte 
sie einmal des nachts bei Mondschein zum Fenster hinaussteigen, öfters fand sie 
früh sich selbst mit ihrem Bettzeug am Boden, konnte sich das nicht er- 
klären. Im Alter von 16 Jahren machte sie die Bekanntschaft eines „ Grafen ^^, 
mit dem sie bald sexuell verkehrte; Libido zagegeben. Als sie im dritten Monate 
schwanger war und Über Üblichkeiten klagte, verschwand der „Graf^ auf 
Nimmerwiedersehen. Patientin sei sich erst im fünften Monat über ihren Zustand 
klar geworden. Sie traute sich nicht nach Hause, weinte viel, wollte ins Wasser 
springen. In Wien wurde sie des Kindes entbanden; dasselbe kam aufs Land in 
Pflege; sie schickte regelmäßig Geld und Kleider. Viel zu spät erfuhr sie, daß ihr 
Kind gestorben sei, worüber sie sich sehr kränkte. In der Folgezeit wieder- 
holte Anfälle, indem sie plötzlich, z. B. während des Essens, unter den 
Tisch fiel, lachte, weinte, um sich schlug, so daß sie da vier Männer kaum 
halten konnten. Hinterher vollkommene Amnesie und innerliche Schmerzen. 
„Aus Zorn^ nahm sie sich nun im Alter von 20 Jahren einen zweiten Ge- 
liebten und um nicht in die Hoffnung zu kommen: Rotwein mit viel Safran 
und verrosteten Nägeln. Diese Mischung war ihr als Abortivum empfohlen 
worden. 

Nach ihrer ersten Internierung blieb sie gesund. Als Anlaß zur jetzigen 
Erkrankung ist folgendes zu eruieren. Im Jahre 1900 machte sie in Salzburg 
die Bekanntschaft eines Herrn, der ihr die Ehe versprach. Jetzt anfiings Sep- 
tember war sie wiederum in Salzburg, traf denselben Mann mit einer andern. 
Da wurde ihr so schwer ums Herz. Sie selbst hatte kein Geld, dazu häusliche 



68 

Sorgen: die Schwester schrieb, daß sie nichts mehr zu essen hätten. Nun 
setzte sie sich allerlei in den Kopf, fürchtete, daß der Anfall wiederkäme. 
Potus wird in Abrede gestellt; Intoleranz gegen Alkohol. Über ein sexuelles 
Trauma ist nichts in Erfahrung zu bringen. Im Alter von 16 Jahren, als sie 
noch naiv gewesen sein will, wurde sie im Beichtstuhl gefragt, ob sie Jung- 
frau sei; sie wurde auch über das Wesen der Jungferschaft aufgeklärt. An* 
geblich ging sie darum nie mehr beichten. 

Bei dem Examen ist Patientin sehr zerstreut, tändelt mit ihren Händen, 
lächelt oder macht ein verzweifeltes Gesicht, spielt sich auf die Zurückhaltende 
hinaus und läßt sich ganz triviale Details nur mit größter Mühe entreißen, 
verwickelt sich in Widersprüche. Den Unterschied ihres Verhaltens, wenn sie 
allein und wenn sie den Ärzten gegenüber steht, vermag sie nicht zu be- 
gründen; sie leugnet, je heiter zu sein; habe immer ihre Gedanken, die sie 
nicht offenbaren könne, da sie sonst nicht entlassen werde. Gleich darauf 
betont sie aber ihren Lebensüberdruß; es ziehe sie förmlich zum Fenster: 
,,dann ist alles aus^. Hält man ihr die ewigen Strafen vor, so schweift sie 
sofort ab: „Ich bin schon so alt und habe kein Glück mehr.^ Bei unangenehmen 
Fragen unterbricht sie sofort: „Nicht wahr, morgen werde ich entlassen^^ 
um gleich darauf wieder mit Selbstmord zu drohen: „Wenn ich heute hinaus 
komme, so kann und mag und will ich nicht leben. ^ Bei Nacht habe sie böse 
Träume; sie sehe im Halbschlafe, daß sie jemand umbringen wolle, sei dann 
ganz st«rr und könne sich vor Angst nicht rühren. 

13. Oktober. Wechselndes Benehmen; außer der Visite laut und lebhaft, 
den Ärzten gegenüber stets theatralisch. In der Regel tief ernst, erwartet 
sie mit feierlicher Miene die Ansprache, weigert sich dann, einer ärztlichen 
Anordnung Folge zu leisten, steigt aus dem Bette und bleibt regungslos wie eine 
Statue stehen, solange die Visite in Sicht ist. Des Abends, wenn sie im Kon- 
ferenzzimmer gehört werden kann, deklamiert sie von ihrem Unglück, aber 
auch von einem zu erwartenden großen Glück. 

19. Oktober. Wie man sich etwas eingehender mit der Patientin be- 
schäftigt, kommt sie mit ihren übertriebenen Versicherungen von Lebens- 
überdruß. Sie erklärt, sie wolle sich hier aushungern, lächelt ungläubig, wenn 
ihr mit künstlicher Ernährung gedroht wird, läßt sich nur Ka£fee eintragen. 
Unter der Decke ißt die Kranke aber den Schinken einer Nachbarpatientin 
und mehrfache Portionen. Augenscheinlich als Folge am 

24. Oktober Klagen über gastrische Beschwerden. Patientin hat sich 
auf der Kopftafel den Braten selbst ausgestrichen, da sie von Mitkranken 
wegen ihrer Heuchelei zur Rede gestellt wurde. Leistet keinen Widerstand, 
als derselbe wieder aufgeschrieben wird. 

25. Oktober. Begehrt heute stürmisch ihre Entlassung; droht, sie tue 
sich etwas an, wenn sie übermorgen noch herinnen sei. Dann beginnt sie zu 
heulen und setzt diesen affektierten Schmerzausbruch fort, solange die Ärzte 
in Hörweite sind. 

31. Oktober. Die folgenden Tage trotz hypochondrischer Beschwerden 
ganz zufrieden. Sie verlangt, daß man ihr den Magen aufschneide, um die 
Ursache ihres Leidens zu entdecken. Sie sei ganz voll, könne nicht essen, 
habe Trichinen. 

4. November. Taedium vitae ganz zurückgetreten. Verlautet einem Arzte 
gegenüber, daß sie hypnotisiert werden möchte, klagt über Schlaflosigkeit, 
schläft jedoch ganz gut. Sie gefällt sich noch immer in Posen, blickt häufig 
träumerisch vor sich hin. Wird heute ihrer Schwester übergeben. 



69 

Dieses Delir wäre am besten ein erzählendes zu nennen. Die Patientin 
durchlebt nicht eine Situation; sie macht es wie schlechte Dramatiker, die einen 
Schauspieler auf die Bühne schicken und diesen alles erzählen lassen, was das 
Publikum zum Verständnis des Stückes wissen muß. Die Kranke selbst gibt 
eine lückenlose Exposition. Die Delirien werden jedesmal assoziativ von ge- 
fühlsstarken Erinnerungen her geweckt; es gelingt auch dem Arzte, sie hervor- 
zurufen. Sie sind psychisch beeinflußbar, wechseln die äußere Form, bewahren 
aber den persönlichen Inhalt; sie stehen mit konvulsiven hysterischen An- 
fällen in so naher Beziehung, daß an der Diagnose nicht gezweifelt werden 
kann. Nebstbei ist ein schön ausgeprägter hysterischer Charakter zu ver- 
zeichnen, der namentlich den Ärzten gegenüber hervortritt, während er außer- 
halb der Anstalt nicht nachweisbar ist, also mit dem Augenblicke der Ent- 
lassung abzuschneiden scheint. Die Patientin lügt und schwindelt so klar und 
berechnend, daß es gerade hier schwer fallen dürfte, an unterbewußte 
Simulation zu denken. Das widersprechende Verhalten gehört zum Krankheits- 
bilde. Offiziell hungert sie, darum ißt sie eben den Schinken der Nachbarin 
unter der Decke; sie plärrt um Entlassung, droht in einem Atem, sie werde 
sich sofort umbringen, trotzdem sie weiß, daß gerade diese Drohung ihre 
Entlassung vereitelt. Sie lebt schon viele Jahre trotz dieses Selbstmorddranges 
und sie lebt ganz gerne. Sie wünscht und fürchtet die Hypnose, für die sie 
sehr empfslnglich ist; leider in dem Sinne, daß Ausnahmszustände ausgelöst 
werden, gleichwie durch Schlafmittel (Paraldehyd, Amylenhydrat). Ganz 
heterogene Dinge bewirken eine gleichartige Reaktion der hysterischen 
Persönlichkeit. 

Ätiologisch ist bemerkenswert, daß somnambule Zustände bereits vor der 
Affäre mit dem „Grafen^ bestanden. Die Krankheit geht also weiter zurück, 
als ihre Reminiszenzen vermuten lassen. Es soll hier vorweggenommen 
werden, daß in diesem wie in anderen Fällen irgendwelche affektvoUe Er- 
eignisse des Lebens Inhalt für die Delirien hergeben müssen; Patientin hat 
diese einzige Quelle für Deklamationen, ohne daß doch die Krankheit selbst 
aus diesem Ereignisse abzuleiten wäre. Für eine epileptoide Natur jener 
Antezedentien hat die Beobachtung keinerlei Anhaltspunkt geliefert. 

Einen recht schleppenden Verlauf nimmt 

Beobachtung VIII. 

Franziska P., 29 Jahre alt, verheiratet, katholisch, Bedienerin, kommt 
am 21. Februar 1903 an die Klinik. 

Patientin, die über sehr geringe Kenntnisse verfügt, nur notdürftig lesen 
und schreiben kann, war charakterologisch stets abnorm, sehr reizbar, streit- 
süchtig, fing mit allen möglichen Leuten Liebschaften an, schlug den Mann, 
rief die Polizei ins Haus. 2 Kinder sind gesund; mehrere Abortus (angeblich 
Abtreibungen). In den letzten 2 Jahren ergab sie sich offiziell einem lieder- 
lichen Lebenswandel. 

Die Kranke wird von einer internen Abteilung herUbertransferiert, weil 
sie Chloroform getrunken haben soll, ein Messer an sich nimmt, für die Nacht 
Selbstverbrenn ang mit Spiritus ankündigt. Sie ist mürrisch, schlaflos, weint. 

22. Februar. Patientin sehr gedrückter Stimmung, ist nur allmählich zu 
Antworten zu bringen, örtlich und zeitlich vollkommen orientiert. Sie erzählt, 
daß sie sich von ihrem Manne vor ^/^ Jahren trennen mußte, weil dieser, ein 
Trunkenbold, sie mißhandelt habe. Sie hätte sich als Bedienerin fortgebracht, 
oft Not gelitten ; jetzt sei sie wegen eines Lungenleidens ins Spital gegangen. Da 



70 

sie das Leben verdrieße^ trage sie sich schon längere Zeit mit Selbstmord- 
absichten; das Chloroform nahm sie deshalb ins Spital mit (!); sie mufi zu- 
geben, daß sie nnr sehr wenig davon getrunken haben könne. — Keinerlei 
Verätzungen sichtbar. 

23. Februar, unzugänglich. Wirft mit Wasserbechern gegen andere 
KrankC; muß isoliert werden. Keine Einsicht. 

2. März Dauernd depressiv, abnehmende, dann wieder ansteigende Erregung. 
Schlägt los. 

9. März. Früh bei der Visite kehrt Patientin sich gegen die Wand, 
schimpft und spuckt gegen einen „Schwindler^, reagiert auf keine Ansprache. 
— Mittags stürzt sie auf eine Mitkranke los, würgt dieselbe. — Bei der 
Nachmittags visite klar, geordnet, amnestisch für die Ereignisse des Tages; 
leugnet einen Schwindler zu kennen, bestreitet auf das Entschiedenste aggressiv 
gewesen zu sein. — Abends nicht examinierbar, hochgradig erregt, sucht das 
Gitterbett zu demolieren. Auf eine Hyoszininjektion Beruhigung und Schlaf. 

10. März. Beschwert sich in schreiendem Tone, daß man sie beschimpfe; 
ein „Lausbub sei nachts mit einem Messer zu ihr gekommen^. Die Kranke 
läßt keinen Zweifel darüber, daß sie den Arzt mit der Injektionsspritze meine, 
konstatiert auch ganz richtig, daß derselbe augenblicklich nicht anwesend sei, 
schimpft indes weiter. 

11. März. Fährt auf jede Mitpatientin los, deren sie habhaft werden 
kann; dem Examen gegenüber völlig unzugänglich. Analgesie. Durch die 
Anwesenheit der Ärzte wird die Erregung sichtlich gesteigert. Die Kranke 
tut allerdings, als ob sie niemand bemerken würde, richtet ihre Beschimpfungen 
gegen eine Mitpatientin, die tatsächlich einmal zurückgeschlagen hatte, jetzt 
aber gar nicht im Gesichtskreise ist, und gegen einen fiktiven Liebhaber, „von 
dem sie sich nichts gefallen lasse, der sich entfernen solle" etc. 

So bleibt der Zustand auch in den nächsten Tagen. Patientin hält die 
Augen meist geschlossen, deliriert. Auf Zuspruch wird das Schimpfen lebhafter; 
jede Art Eingriff wehrt sie rücksichtslos ab. Sowie das Gitterbett auch nur 
einen Moment offen bleibt, springt die Kranke heraus, zerreißt und vernichtet, 
was ihr in die Hände fällt; in geradezu raffinierter Weise versteht sie außer- 
ordentlichen Schaden zu verursachen. Nach einer Serie von Apomorphin- 
injektionen wird Patientin am 

14. März etwas freundlicher, lächelt die Ärzte an, um gleich wieder, 
gegen die Wand gewendet, zu schimpfen. Einpackung. 

15. März. Patientin spricht die Visite an, klagt ohne sonderliche 
Erregung, daß man ihr das Hemd nehme; unvermittelt wieder das frühere 
Verhalten. 

17. März. Nachts Strangulationsversuch angesichts «der diensthabenden 
Wärterin. 

Das Delirium dauert an, die Kranke ist aber jederzeit fixierbar, gibt formell 
korrekte Antworten. Während sie eine Matratze oder ein Gitter zerreißt, 
behauptet sie ganz ruhig zu sein und beschwert sich über die Internierung. 
Bei Erwähnung ihres Mannes gerät sie in lebhaften Affekt, schimpft wiederum 
gegen die Wand. 

31. März. Einmal überrascht man die Patientin in lebhaftem Gespräch 
mit anderen Kranken; auf die Fragen des Arztes geht sie nicht ein, behauptet 
nur, ihr Sohn werde kommen, sie abholen. 

Zunehmende Unruhe und Zerstörungssucht. Patientin äußert Wahnideen, 
sie sei verzaubert, man halte ihren Mann hier irgendwo versteckt. Sie wird am 



71 

9. April 1903 in die Irrenanstalt übersetzt, bernhigt sich nur sehr 
allmählich; um wieder vom neuen loszubrechen; und befindet sich anfangs 1904 
immer noch in irrenärztlicher Behandlung. 

Eine schwer degenerativ veranlagte; moralisch und intellektuell minder- 
wertige Person mit a£fektvollen, lange hingezogenen; ziemlich gut charakteri- 
sierten Delirien. Eine körperliche Erkrankung und Notlage — die zunehmende 
Zahl der Jahre läßt den Mangel an Reizen immer mehi* hervortreten — führt sie 
ins Spital, der vorgegebene Lebensüberdruß auf die psychiatrische Klinik. 
Hier entwickelt sich allmählich die Bewußtseinstrübung; die aber stets einen 
lebhaften Rapport mit der Umgebung verrät. Patientin ist einem Examen 
scheinbar zugänglich; stellt alle Missetaten in AbredC; setzt dieselben jedoch 
unter den Augen der Ärzte fort; sie verursacht Schaden; wo sie nur kann, 
überfUllt harmlose Kranke; andererseits deliriert sie stundenlang über ihren 
ManU; knüpft auch an Ereignisse der Abteilung in deliranter Weise an. Alle 
therapeutischen Maßnahmen versagen, wenngleich ein Einfluß immer deutlich 
erkennbar ist und die Kranke sich gegen die verschiedenen Personen; Ärzte, 
die einzelnen Wärterinnen; verschieden stellt. Ihr Charakter; zusammengehalten 
mit dieser Geistesstörung; die ganz monoton sich um eine Erinnerungsreihe 
dreht; indem Patientin sich als die Verfolgte aufspielt, während sie ihren 
Bordellerinnerungen sorgfältig aus dem Wege geht; die Andauer der merk- 
würdigen Amnesien, der anscheinende l'rotZ; der sich gegen die Behandlung 
wehrt; das alles gestattet die Diagnose Hysterie. 

Ein komplizierter Fall, indem allerlei hysterische Einzelstörungen 
neben Delirien das Zustandsbild zusammensetzen, ist 

Beobachtung IX. 

Franziska K.; geboren 1879, katholisch, ledig; Dienstmädchen, kommt 
am 20. Dezember 1900 an die Klinik. 

Vater der Patientin ist Potator strenuas, sehr reizbar; von 13 Geschwistern 
starben drei in fiühester Kindheit. 1 Schwester leidet an Hysteria gravis, 
befindet sich gleichfalls in der Irrenanstalt. Die Kranke ging nach der Schule 
in Dienst; weil sie im Elternhause nicht gut tat; wird als lustig; ja über- 
mütig geschildert. Sie knüpfte ein Liebesverhältnis mit einem Militär aU; der 
sie gegen Eheversprechen deflorierte und überdies gonorrhoisch infizierte. Dann 
▼erließ er sie. Patientin nahm Lysol; wurde ins Spital, von dort auf die 
Beobachtungsstation gebracht mit folgenden Angaben: Hysterische Anfälle; 
seit einigen Tagen vermehrte, zeitweise tobsuchtartige Aufregung. 

Nach kurzer Isolierung beruhigt sich die Kranke: sie stellt Anfälle in 
AbredC; gibt Exzitation zU; ebenso die SelbstmordversachC; bedauert nur; daß 
dieselben ohne Erfolg waren; so wie sie in Freiheit komme, werde sie sich 
doch umbringen. Keine Motivierung hierfür. — Das Abdomen in seinen 
unteren Regionen, der Genitalerkrankung entsprechend; druckschmerzhaft. 

28. November. Ruhig. 

30. November. Nach der Visite lärmt und schreit die Patientin; droht bei 
Annäherung alles zusammenzuschlagen; will sich über ein Geländer hinunter- 
stürzen. In der Zelle stößt sie mit dem Kopfe gegen die Wand, im Gitter- 
bette gegen die Eisenstangen. Auf Morphiaminjektion vorübergehend Beruhigung. 
Des Nachts setzt sie ihre Selbstbeschädigungsversuche fort. Sie reagiei*t nicht 
auf Anruf; hingegen mit Schmerzäußerung bei Druck auf das linke Hypogastrium. 



72 

1. Dezember. Dauernd unruhig; früh und abends Morphium. Patientin 
motiviert heute über dringliches Zureden ihren Lebensüberdruß: Sie habe 
zuverlässige Nachricht, daß ihr AmatuS; mit dem sie durch 2 Jahren ging und 
dessentwegen sie sich auch mit den Eltern zerwarf, jetzt eine andere geheiratet 
habe, trotzdem ihr aber schreibe und sie in dem Glauben lassen wolle, er 
werde sie zur Frau nehmen. 

2. Dezember. Neuerlich Exzitation; die Kranke zerreißt Wäsche, ist un- 
zugänglich. 

3. Dezember. Nachts zwei Anfälle von Jaktation, Unruhe, Jammern ; Patientin 
behauptet, daß sie nicht schlafen konnte, weil man ihren Namen fort- 
während rief. 

9. Dezember. Bei der Visite heftiger Affekt; die Kranke drängt fort, sie 
halte es hier nicht aus; aus dem blinden Raufen wird ein Delirium. Strangulations- 
versuch. Patientin verlangt nach einem Messer, um sich zu töten: ,,Ich komme 
schon, ich verzweifle, ich werde wahnsinnig." Duboisin und Morphiuminjektion, 
Schlaf; dann Amnesie. 

16. Dezember. Ähnliche AnfHUe mit lebhaftem Selbstbeschädigungstrieb 
wiederholen sich. 

19. Dezember. Spielt mit einem abgerissenen Rockband; gibt zu, sie habe 
sich damit aufhängen wollen. Stiert dann nach der Decke, behauptet, sie sähe 
eine Hochzeit. Am 

20. Dezember kommt die Kranke hochgradig erregt in der Irren- 
anstalt an, muß durch vier Wärterinnen in die Zelle gebracht werden. Examen, 
Untersuchung sind völlig unmöglich. Patientin will sich durchdrängen, rauft 
gegen die Türe, wiederholt schreiend immer dieselben Phrasen: ^Um Gottes 
willen, lassen sie mich, was wollen Sie von mir, ich will niemand sehen." 
Alsbald Beruhigung. 

Nachmittags vollkommen geordnet, gibt ihre Personalien richtig an, 
erzählt, daß man ihr am Beobachtungszimmer sagte, sie hätte Tobsuchtsanfälle. 
Sie sei aber nicht tobsüchtig, habe keine Anfälle, sei überhaupt nicht krank. 
Patientin weiß noch, daß sie mit einer Wärterin in die Kanzlei kam, weiter- 
hin besteht ein absoluter Erinnerungsdefekt. Nach der Adresse ihres früheren 
Dienstherrn gefragt, will sie sich zuerst nicht erinnern; bei immer wieder- 
holtem Andringen nähert sie sich der vollständigen Antwort immer mehr. 
Sie nennt zuerst die Straße, dann die Hausnummer, endlich den Namen. In 
ähnlicher Weise lassen sich auch andere Daten aus der Kranken herausholen. 
Mit dem Fortschreiten des Examens beginnt ihr Bewußtsein sich zu trüben; 
sie verweigert die körperliche Untersuchung und nur über Zuspruch ist eine 
oberflächliche Sensibilitätsprüfung möglich. Dieselbe ergibt eine genau in der 
Mittellinie abgegrenzte linksseitige Hypästhesie, welche gegen die unteren 
Extremitäten zunimmt; am Fußrücken kann man eine tiefe Hautfalte durch- 
stechen, ohne die geringste Reaktion. Kornealreflex erhalten. Als der Gaumen- 
reflex geprüft wird, meint Patientin plötzlich, sie werde doch keinen Bleistift 
schlucken; sie gerät in Erregung, fährt sich mit beiden Händen durch die 
Haare, wirft sich herum, springt wieder auf, stößt nach allen Seiten gegen 
das inzwischen geschlossene Bettgitter an, schüttelt dasselbe, stürzt kopfüber 
auf die Polster los. Dabei sieht sie starr nach einer Richtung und schimpft 
gegen diese: „Ihr Mörder, Räuber, ihr Verfluchten, laßt mich los, was wollt 
ihr von mir . . . ** Trotz des exzessiven wie blinden Tobens vermeidet sie alle 
harten Stellen des Bettes, so daß nicht die geringste Verletzung erfolgt. 
Diese Szene, während welcher die Kranke auf äußere Einwirkung nicht im 



73 

mindesten reagiert, dauert über 15 Minuten ; dann wird Patientin ruhig, scheint 
benommen. 

21. Dezember. Die Kranke ist klar, gibt die Adresse ihres Dienstgebers 
prompt an. Die Amnesie setzt mit der Überbringung ein, umfaßt auch den 
gestrigen Paroxysmus. Als man diesbezüglich dringend fragt, starrt Patientin 
vor sich hin, lacht, murmelt; sie bewegt die Hände im Sinne der Abwehr, 
zeigt lebhafte Angst, zittert, atmet krampfhaft. Dann beginnt sie laut zu 
peroriercD, teilweise an Sinneseindrücke der Umgebung anknüpfend: ^Die 
elende Hochzeit, ich soll stehen und zusehen . . . Du, geh weg, ich brauch' 
es nicht mehr. Was haben's getan, ich will niemand, keinen Menschen . . . 
Mich will man angurten, da müßt ihr früher aufstehen . . . Warum bin ich 
krank, was kuriert man mich noch immer? . . . Ich soll bei der Tafel ein 
Gedicht vortragen? So hört Frau Hütt^. Patientin deklamiert pathetisch, aber 
abgehackt, läßt einzelne Worte aus. Dann erzählt sie von einem Kapellmeister, 
der ihr eine Botschaft von ihrem Bräutigam brachte. Letzterer habe in einer 
Zwangslage die andere geheiratet. Nun wird sie höchstgradig erregt und 
schreit: „Fort ihr Kanaillen, ihr elenden Weiber, ihr wollt Gesellschaftsdamen 
sein?^ Sie springt auf, will durch das Gitter, „Ich kann euch nicht sehen, 
ihr grinsenden Gesichter, wenn ich auch von meinem Vater verstoßen bin, ich 
brauche kein Mitleid, von keinem Menschen, fort, fort.^ Die Kranke tobt im 
Bette, wirft sich in die Höhe, föllt flach rücklings auf die Unterlage zurück, 
zerreißt ihr Hemd von oben bis unten: „Ich will zugrunde gehen, ich brauche 
kein Mitleid . . . (Larmoyant): Zu was ist die Erinnerung, da ich mich doch 
seit einem Jahre zu verbergen trachte. Warum bin ich nach Wien geflohen? 
Ich hätte in S. bleiben können.'^ Plötzlich wieder erregter: „Mit deinem eigenen 
Säbel werde ich mich töten und das sogleich.^ Bei diesen Worten dreht sie 
das zerrissene Hemd blitzschnell zusammen und versucht sich zu strangulieren. 
Nur nach einem Kampfe gelingt es, ihr dasselbe wegzunehmen. Patientin ver- 
langt nach einem Messer, um sich zu erstechen; sie klagt Gott an, daß er ihr 
jetzt diese Strafe geschickt habe, wo ohnehin durch die Erblindung der Mutter 
so viele Lasten auf ihren Schultern ruhen. Sie wirft sich noch eine Weile 
gegen die Netze des Bettes, bleibt endlich erschöpft liegen, schläft ein. 

24. Dezember. Die Kranke geordnet, bittet bei der Morgenvisite um die 
Erlaubnis aufstehen zu dürfen; sie ist sehr matt, schwankt beim Gehen. — 
Nachmittags gehemmt, muß bei jeder Frage lange nachdenken, gibt aber das 
Datum richtig an, ebenso den Tag ihrer Hierherkunft. Den Arzt kenne sie 
erst seit heute früh. 

28. Dezember. Neuerlich ein psychischer Anfall von dem oben ge- 
schilderten Gepräge. 

2. Jänner 1901. Seit 7 Uhr früh im Paroxysmus: Vollkommen entkleidet 
tobt sie im ausgepolsterten Bette, stößt kurze Sätze hervor: „Warum soll ich 
mir das gefallen lassen? Eher zerschlag ich mir den Schädel an der Wand, 
ehe ich mich von euch zugrunde richten lasse, euch Rechenschaft gebe. Ich 
will wieder fort, ich will Ruhe haben ..." 

4. Jänner. Um 7 Uhr und um 10 Uhr je ein halbstündiger Anfall. In 
der Zwischenzeit am ganzen Körper Hypästhesie. 

5. und 6. Jänner. Je ein Anfall. 

7. Jänner. Liegt mit verhülltem Gesichte zu Bett. Als man sie vor- 
sichtig aufdeckt, wendet sie sich mit lauten Vorwürfen gegen den Arzt: 
warum man sie hereingezwungen habe? man solle sie lieber ins Kriminal 
schicken; dort hätte sie wenigstens ein stilles Loch für sich. 



74 

8. Jänner. Vormittags wieder 1 Anfall; dann dui'ch einige Tage Parese 
in beiden unteren Extremitäten, links stärker. 

Die Anfalle kehren jetzt ziemlich regelmäßig wieder, knüpfen an kleine 
äußere Ereignisse, ein zu spät gekommenes Butterbrot, die unvorsichtige 
Antwort einer Wärterin, das Versagen eines Wunsches an. In den lebhaft 
afifektvollen Reden der Kranken spielt Vergangenheit und Gegenwart durch- 
einander. Patientin scheint dabei zu halluzinieren und wendet sich in feind- 
seliger Weise gegen die halluzinierten Personen. Sie ist auf der Höhe des 
Paroxysmus jeder äußeren Einwirkung unzugänglich. Nach dem Anfalle gerirt 
sie sich müde, gehemmt; sie spricht mit klagender Stimme, erinnert sich 
nicht an das, was sie eben gesagt und getan. Nachdem Apomorphininjektionen 
bei Beginn der Explosionen einigemale den Paroxysmus unterdrückt hatten, 
sistieren die Anfälle nun für längere Zeit. 

30. Jänner. Besuch der hysterischen Schwester. Patientin erscheint etwas 
deprimiert, zeigt keine Erregung. 

11. Februar. Die Kranke berichtet bei völliger Klarheit in ganz affekt- 
loser Weise über Verfolgungen und Gesichtstäuschungen. Sie sehe Männer in 
der Zelle herumgehen; einen Hund, der durch die Ventilation hinausschlüpfe; 
beim Fenster winkte ihr eine Hand. Patientin wehrt sich gegen die Erklärung 
des Arztes, daß das Sinnestäuschungen sein könnten; sie bleibt steif und fest 
dabei, daß diese ihre Wahrnehmungen einer möglichen Wirklichkeit entsprechen. 

1. März. Überaus wechselnd in der Stimmung, ebenso wechselnd in 
ihren Sympathien. Die Kranke spricht mit einem der Ärzte ganz rückhaltlos, 
entschließt sich sogar zu einer gynäkologischen Untersuchung, während sie 
wenige Tage darauf für diesen Herrn ebenso unzugänglich ist, wie für die 
anderen. Sie steht, ohne Versuch sich zu beschäftigen, in einem Winkel, wird 
gereizt, wenn man sie anspncht. Anderemale drängt sie nach Entlassung; 
auf eine hinhaltende Antwort erfolgen Explosionen, indem sie stundenlang 
schreit, gegen Ärzte und Wärterinnen losgeht. Die psychomotorische Elr- 
regung erreicht die Höiie der früheren Anfälle, nur fehlt jetzt eigentlich 
der Anfall; die bewußte Persönlichkeit bleibt dauernd in Rapport mit der 
Umgebung. Die Kranke ereifert sich über die gegenwärtige Situation, schimpft 
über die Wärterinnen, äußert Lebensüberdruß und ist einmal so hartnäckig 
in ihrer Selbstbeschädiguog, daß alle Mittel versagen und sie gegurtet werden 
muß. Erst nach Stunden vergeblichen Kampfes beruhigt sie sich, bittet um 
ihre Befreiung und verhält sich vollkommen still, als sie losgebunden wird. 
Aber wenige Tage später bricht die frühere Reizbarkeit wieder durch, so daß 
ein Verkehr mit der Patientin, eine körperliche Untersuchung, unmöglich ist. 

1. April. Die Kranke hat mit einer ihrer Wärterinnen ein Liebesverhältnis 
angeknüpft; es kommt zu Disziplin Verletzungen; die beiden Frauenspersonen 
verabreden sich gegen die Traktpflegerin. Patientin muß transferiert werden. 

Auf der neuen Abteilung ist sie durch 8 Tage ruhig, verträglich, hat 
keinerlei Anfälle mehr, bietet außer Stimmungswechsel nichts Auffallendes. Am 

20. April wird sie in die heimatliche Anstalt übersetzt. 

Sie muß sich dort sehr brav aufgeführt haben, denn nach wenig Wochen 
kommt sie, körperlich sehr erholt, am Arme ihrer „Freundin^, der damals 
strafweise entlassenen Pflegerin, in bester Laune besuchsweise an die Klinik 
und erzählt, daß es ihr draußen in der Freiheit ganz gut ergehe. 

Ein schweres psychisches Trauma löst bei der veranlagten Person die 
Erkrankung aus. Unlustgefühle über den Schimpf, der ihr äuge tan, führen zuerst, 



75 

fast physiologisch weiblich^ zu Selbstmorddrang; bald mischen sich psychische 
Störungen in Gestalt einer Abwehrreaktion hinzu, die endlich ins Ungemessene 
wächst. Patientin halluziniert ihrem Vorstellungskreise entsprechend (Hoch- 
zeit etc.); der Inhalt ihrer Delirien bezieht sich ganz ersichtlich fast immer 
auf eine Auseinandersetzung mit ihrem Geliebten; die Wärterinnen werden 
als Nebenbuhlerinnen dazngenommen. Später knüpft die Kranke nur mehr an 
die Gegenwart au; sie scheint sich mit der Vergangenheit abgefunden zu 
haben. Man möchte von pathologischen Afifekten sprechen, wenn die Patientin 
nicht genau ebenso sich verhielte, wie früher in den deliranten Anfällen; sie 
geht nur jetzt unmittelbar auf Personen ihrer Umgebung los. Es ist dies 
vielleicht ein Fingerzeig dafür, daß nahe Beziehungen zwischen Afifekt und 
Delir bestehen; tatsächlich sind Übergangsformen im Kasus VIII und auch 
sonst bei Hysterischen zu beobachten. 

Eine Änderung des Aufenthaltsortes führt ganz unvermittelt zur Genesung, 
wohl durch Anregung neuer Gedankenkreise. Patientin hat ihr wahres Herz 
entdeckt; man kann sagen, die Liebe hat sie gesund gemacht. Sie hat nun 
ein leidenschaftliches Interesse, aus der Anstalt herauszukommen, und Arm in 
Arm mit ihrer Freundin blickt sie auf das einstige Verhältnis zu einem Manne 
ganz affektlos herab. Da alles hier so dem Typus der Hysterie entspricht, 
scheinen differential- diagnostische Bemerkungen wohl überflüssig. 

Gewissermaßen als Gegenstück ein Kasus, wo ein kaum mehr als 
Delir zu bezeichnendes Rudiment eines solchen einem ausgesprochen 
hysterischen Charakter aufgepfropft ist. 

Beobachtung X. 

Hedwig F., 21 Jahre alt, ledig, katholisch, Eoloristin, kommt am 
12. Jänner 1903 an die Klinik. 

Patientin lernte mittelmäßig, soll von jeher nervös, verzogen, überspannt, 
leicht erregbar sein. Vom 10. bis zum 11. Jahre „Herzkrämpfe ^: Gefühl, daß 
eine Kugel vom Magen in den Schlund aufsteige, Unfähigkeit zu sprechen. 
Solche Anfälle von zirka Sstündiger Dauer wiederholten sich oft mehrmals 
des Tages. Seit dem 14. Lebensjahre ist sie in ihrem Berufe tätig, sehr ge- 
schickt, fleißig und verwendbar. Da die romantisch veranlagte, überdies körper- 
lich sehr gefällige Person hoch hinaus wollte, gab es in der letzten Zeit 
Differenzen mit ihrem kleinbürgerlichen Verehrer. Derselbe drohte, wenn sie 
ihn stehen lasse, bekomme sie etwas mit ihm zu tun. Darüber sei die Kranke 
in große Angst geraten. 

Patientin wird dem Kommissariate zugeführt. Es heißt, daß sie sich von 
zwei Leuten verfolgt wähne, von welchen der eine mit einem blitzenden Schwerte 
auf sie losgehe, während der andere dazu lache; sie wollte sich darum vom 
vierten Stocke eines Hauses herabstürzen, weiters erklärte sie, in die Donau 
springen zu müssen. Dem Arzte antwortet sie auf Fragen über ihre Generalien 
korrekt, sie ist räumlich und zeitlich orientiert, erscheint jedoch sehr aufgeregt, 
ängstlich und wiederholt die obigen Angaben. 

Seit Ankunft an der Klinik ruhig; Patientin hat nachts gut geschlafen. 

13. Jänner. Geordnet, erklärt sich für gesund, lacht über Vorhalt ihrer 
Äußerung von dem Manne, der sie mit dem Schwerte zu erstechen drohte. Das sei 
nicht wörtlich zu nehmen. Sie leugnet in bestimmtester Weise, je eine Sinnes- 
täuschung gehabt zu haben; hingegen gibt sie zu, daß sie sehr nervös sei und 
anfallsweise weinen müsse. Auch gestern fiel ihr etwas ein, eine Herzens- 



76 

angelegenheit, über die sie sich nicht näher aussprechen wolle. Sie empfand 
Angst, machte sich Vorwürfe über ihr Vergehen, bereue, einen Herrn (ihren 
Verehrer) beleidigt zu haben. 

15. Jänner. Die Daten des Parere werden hartnäckig geleugnet; sonst 
fällt nur eine Überregbarkeit in affektiver Richtung auf. Greheilt entlassen. 

Die früher konvulsiven Anfälle der Patientin haben sich in hysterische 
Weinkrämpfe umgewandelt. In begreiflicher Furcht vor den Drohungen ihres 
Liebhabers objektiviert sie diese in einem sie verfolgenden Manne mit blitzendem 
Schwerte. Wer der Tertius gaudens ist, ließ sich nicht herausbringen, vielleicht 
nur eine Kontrastfigur. Daß nicht eine einfache Affekthalluzination vorliegt, 
zeigt die Bestimmtheit, mit welcher die Kranke an der Realität dieser ganz 
plötzlich, wie anfallsweise aufgetretenen Sinnestäuschungen auch dem Amts- 
arzte gegenüber festhält. Trotzdem sie sonst schon vollkommen klar ist, zieht 
sie noch die Konsequenzen aus dem Delirium. An der Klinik leugnet sie 
alles ab, da das überaus bewegliche, lebensfrohe Geschöpf den Wunsch hat, 
möglichst bald wieder entlassen zu werden. 

Insofern hier ein kurzdauerndes Delirium in den habituellen Geistes- 
zustand hinein fortwirkt, entsteht eine Ähnlichkeit mit jener Form hyste- 
rischer Psychosen, die im nächsten Unterkapitel abgehandelt werden soll. 
Es wird sich erweisen, daß eine scharfe Abgrenzung nicht möglich ist 
und bei derart rudimentären Bildern überhaupt versagt. 

Alle bis nun vorgeführten Fälle von hysterischem Delirium betreffen 
Individuen des weiblichen Geschlechtes. Tatsächlich, wohl aus einem 
inneren Grunde, überwiegt die Weiblichkeit hier auch ganz unverhältnis- 
mäßig. Das theatralische Handeln, das affektvolle Hineinleben in rührende 
Reminiszenzen scheint dem Charakter des Mannes ferner zu liegen. Und 
wenn die hysterische Geistesstörung nur wenig Sinnestäuschungen und 
GeftLhlsausbrüche, mehr mangelhafte Auffassung der Umgebung bringt, 
wenn wechselnde Amnesien eventuell mit konvulsiven Bewegungen anfalls- 
weise auftreten, so pflegt man nicht mehr von Delirium zu sprechen. Immer- 
hin wurden an der Klinik auch Patienten masculini generis gesehen, die 
sich hier noch einreihen ließen. 

Beobachtung XI. 

Eduard P., 29 Jahre alt, katholisch, ledig, Magazinsaufseher, kommt am 
14. August 1903 an die Klinik. Es wird berichtet, daß er in letzter Zeit sehr 
aufgeregt, schlaflos war, Anfälle von Bewußtseinstrübung hatte, sich von den 
Leuten verfolgt glaubte. 

15. August. Ruhig, geordnet. In aasführlicher und zusammenhängender 
Darstellung beschäftigt der Patient sich ausschließlich mit seiner Krankheit: 
Er habe sich stets alles zu Herzen genommen, sei müde, alkoholintolerant; 
auf zwei Krügel Bier mußte er schlafen oder weinen. Nach einem Schreck 
im Frühjahr 1900 einigemale Enuresis nocturna; seither sei er besonders 
leicht erregbar und furchtsam. 1902 fiel er von einem Tische, auf dem er 
schlafend lag; hierauf Kopfschmerzen. Nun hätten Zustände begonnen, in 
denen er nichts von sich wisse, Dinge tue, an die er sich hinterher nicht 



77 

erinnere. So habe er einmal seinen Schwiegervater bedroht. Patient beschreibt 
zwei Arten von Anra. Außerdem habe er die Empfindung, als ob er im Innern 
(nicht akustisch) Befehle vernähme, die sich auf die jeweilige Situation beziehen^ 
z. B. nach einer bestimmten Richtung zu sehen, eine schlafende Katze auf- 
zuwecken. Unvermittelt fragt der Kranke, ob es richtig sei, daß er hypnotisiert 
werde; er habe nämlich in den letzten Tagen ein Gefühl von Steifheit in den 
Augen gehabt und im Spiegel gesehen, daß dieselben gelb und trübe seien. 
Mit großer Gewissenhaftigkeit und sichtlicher Beängstigung zählt er eine 
Menge der geringfügigsten körperlichen Störungen auf, bricht dabei in 
Weinen aus. 

17. August. Der sonst vollkommen geordnete Patient hat abends einen 
Angstanfall; er wünscht Arzt und Priester, da er vom Herrgott, gegen den er 
sich versündigt, abberufen werde; er faltet die Hände, fleht zu Gott um Ver- 
zeihung, erscheint sonst im Bewußtsein nicht tiefer gestört. Nach einer 
Stunde Beinihigung. Amnesie. 

19. August. Verlangt Pulver; es habe ihm jemand in die Augen geschaut, 
darauf empfand er Kopfweh; er lasse sich das nicht gefallen. ^Ich bitte den 
Leuten ihr Tun zu verbieten, da diese offenbar den Zweck verfolgen, mich 
noch mehr verrückt zu machen, als ich schon bin." Einer Korrektur un- 
zugänglich; Patient versichert, er könne nicht garantieren, ob er nicht noch 
jemand ohrfeigen werde. 

22. August. Unauffällig bis heute nachmittags, wo er einen Aufregungs- 
zustand bekommt, behauptet, er vernehme Gottes Stimme; ein Mitkranker, den 
er mit Namen bezeichnet, habe ihn hypnotisiert. 

28. August Drängt sich stets an die Visite: er sei hier zur Heilung, 
nicht damit von allen Seiten Experimente an ihm gemacht werden. Er höre 
fortwährend sprechen, auch die Stimme des Arates. Verlangt wieder nach dem 
Geistlichen, um zu beichten« 

8. September. Das widerspruchsvolle Verhalten des Kranken, der eine 
Reihe von Kostaufbesserungen durchgesetzt hat, immer behaglich schmauchend 
auf dem Bette liegt, bei unvermutetem Durchgange des Arztes aber aufspringt 
und um den Priester bittet, veranlaßt heute ein eingehendes Examen. Patient 
kommt geordnet in die Kanzlei, nimmt Platz und beginnt mit feierlicher Stimme 
zu erklären, daß er halluziniere; „ich weiß, daß das Einbildungen sind, aber ich 
glaube an Gott . . .'' Über die unvermittelte Frage, wie oft er eingesperrt 
gewesen sei, stutzt er einen Moment, zählt aber dann eine Liste von Abstrafungen 
auf. Wegen Körperverletzung, wegen Einbruch, wegen Falschmünzerei. Auch für 
seine Einbringung ist ein Motiv zu eruieren. Er hatte ein Mädchen verführt — 
nach des Patienten Darstellung sie ihn — und war Vater geworden. Er 
zahlte die Alimente nicht, wurde wiederholt gepfändet; endlich hatte er mit 
dem Vater seiner „Braut" einen Auftritt, der eine neuerliche Verurteilung 
(3 Monate schwerer Kerker) und auch Verlust seines Postens bedingte. 
Patient hoffe durch ein Krankheitszeugnis seine Wiederanstellung durchsetzen 
zu können. Er schildert die Anfälle heute in etwas abweichender Weise: er 
verliere das Bewußtsein, dann sage ihm eine Stimme: T^Leg Dich unter den 
Tisch." 

Der Kranke, der sich schon einmal mit TodesbefUrchtungen unter- 
brochen und nach dem Priester verlangt hatte, bekommt nun seinen Anfall. 
Das Gesicht konge»tioniert, beginnt er zu jammern, wünscht einen Geistlichen, 
behauptet, die Stimme Gottes zu hören . . . Von Bewußtseinsstörung kann 
keine Rede sein; wenn Patient auch einzelne Fragen des Arztes zu überhören 



78 

scheint; so antwortet er doch ganz prompt auf andere; er bestätigt z. B. 
bereitwilligst; daß das sein Anfall sei. Wiewohl er sich etwas ungeordnet 
benimmt; bleibt er stets in Rapport mit der Umgebung. Ein tieferer Affekt ist 
nicht wahraunehmen; Einwänden gegen die Echtheit seines Anfalles begegnet 
er mit Repliken; ganz logisch; ohne gereizt zu werden. Schließlich bewegt er 
die Lippen, ohne zu sprechen; vermeidet ganz auffallend den Blick des 
Arztes. Als dieser das Examen für längere Zeit unterbricht; den Patienten 
scheinbar sich selbst überläßt; gibt derselbe Zeichen von Ungeduld; er springt 
wiederholt auf; versichert; seine Zeit sei kostbar, er wolle den Priester etc. 
Außer einem Druckpunkt an der linken Mammilla keine Sensibilitätsstörungen. 
Traitcment moral. 

Patient macht nur noch zwei schüchterne Versuche; den Priester zu ver- 
langen. Energisch abgewiesen; zur Arbeit angehalten, bleibt er völlig frei 
von psychischen Störungen bis zu seiner Entlassung am 28. September 1903, 
die er durch diplomatische Künste noch um einige Tage hinauszuschieben 
verstand. Warum; wird begreiflich; wenn man die Exekutions- und Expens- 
noten ansieht; die einander auf dem Fuße folgten. 

Da hier der Krankheitswille so begründet war, daß er ein Vortäuschen 
krankhafter Erscheinuogen im Vollbewußtsein gerechtfertigt hättC; um so mehr, 
als schwere moralische Defekte vorlagen; bedarf die Diagnose Hysterie einer 
Motivierung. Am beweisendsten ist wohl das Anfallsweise der Störung und 
die vasomotorischen Symptome. Konvulsive Elemente wurden nicht beobachtet, 
wohl aber traten spontan; meist aber durch äußere Einflüsse ausgelöst; Äqui- 
valente auf; die ihrem Gepräge nach nur als Delirien bezeichnet werden 
können. Der Mangel der Verwirrtheit, Rapport mit der Umgebung; völlige 
Amnesie charakterisieren ebenso wie die Vielgestalt und die lebhafte subjektive 
Krankheitsüberzeugung; während andererseits für Simulation das Vorbild 
gefehlt haben dürfte; Patient war nie in irrenärztlicher Pflege. Die plötzliche 
radikale Heilung entspricht der Logik der Erkrankung; die hier ihre Existenz- 
berechtigung verliert; im Momente; wo sie nicht mehr anerkannt und damit 
zwecklos wird. 

Sämtliche Fälle hysterischen Delirs bei Männern, die an der Ellinik 
zur Aufnahme kamen, v^aren gleich rudimentär. 

Ganz kurz sei nur noch eines Studiosus juris gedacht, der im Anschlüsse 
an Überarbeitung und Existenzsorgen Verwirrtheitszustände darbot. Plötzliches 
Auftreten der Wahnidee; ein unbekannter Mann habe seinen Kopf gestohlen^ 
denselben zwar zurückgebracht und wieder aufgesetzt; es sei aber doch nicht 
der richtige Kopf; darob große Erregung; Angst, verändertes Gemein- und 
Ich- Gefühl. In der Zwischenzeit gute Erinnerung und Einsicht; Patient selbst 
analysiert seine psychischen Störungen wie - ein Unbeteiligter. Mit der Über- 
bringung in die Anstalt und Sicherstellung seiner Zukunft wird er gesund. 

Noch ein paar Worte wären über die hysterischen Delirien des 
Kindesalters zu verlieren. Dieselben zeichnen sich vor denen der Erwach- 
senen durch eine gewisse Verschiedenheit des Inhaltes aus. Es fehlt 
natürlich das sexuelle Moment; dafür findet man gerne dämonomanische, 
übersinnliche oder auch triviale Vorstellungskreise. Die Delirien dauern 
häufig kurz, fallen auf durch Inkoordination, weiters durch eine Überfülle 



79 

motorischer Reizerscheinungen. Sie sind besonders interessant für das Stn- 
diam des Wesens der Hysterie, da sie über die von aller Reflexion nnd 
Erfahrung abgelöste Umsetzung eines psychischen Trauma in Krankheits- 
erscheinungen, über die gewissermaßen vorgebildeten Mechanismen der 
Hysterie belehren. Mangels einer instruktiven eigenen Erfahrung sollen 
zwei Fälle aus der Literatur kurz wiedergegeben werden, beide seiner- 
zeit von B er dach mitgeteilt. 

1. Ein 11 jähriger Schtller der vierten Volksschulklasse kommt gerade 
dazu, wie von einem Neubau ein Arbeiter herunterfällt und blutüberströmt 
liegen bleibt. Der Junge empfindet Schaudern und Brechreiz, langt aber wohl 
in der Schule an; nach einer Stunde stürzt er bewußtlos zusammen; darauf 
folgt ein hochgradiges Erregungsstadium. Patient macht die tollsten Sprünge, 
die sonderbarsten Attitüden, steht auf dem Kopfe, produziert arc de cercle, 
Ucht krampfhaft. Nach IV« Stunden konnte er in lethargischem Znstande n»ch 
Hause gebracht werden; er schläft ein; erwacht mit Amnesie. In drei Wochen 
Heilung, nachdem noch einige rudimentäre Anfälle aufgetreten wjiren. 

2. 11 jähriger Schüler der vierten Volksschulklasse. Vor zwei Jahren 
heftiges Erschrecken, damals Kopfschmerz, Brechreiz, Schwindel. Jetzt erklärt 
der Kranke plötzlich, er wisse nicht, wie ihm sei, die Welt komme ihm 
anders vor. Er stürzt bewußtlos zusammen, heftige allgemeine Krämpfe 
wechseln mit den seltsamsten Gliederverrenkungen. Patient kriecht auf den 
Händen mit hochgehaltenen Beinen, macht eine Brücke, stellt sich in strammer 
militärischer Haltung auf, sitzt einige Minuten träumend am Sopha. Plötzlich 
stürzt er schreiend mit geballten Fäusten und starrem Blick gegen die Wand; 
hochgradig erregt, geht er auf jedermann, der sich ihm nähert, in wildester- 
Weise los; nach einer Stunde wird er dämmerhaft, schläft ein. Oft 20 — 30 
solcher Anfalle im Tage. 

Diese Paroxysmen führen eigentlich zum hysterischen Anfalle zurück. * 
Es sind nur selbständig gewordene Attitudes passionelles, das stumme 
Delirinm ganz von motorischen Reizerscheinungen überwuchert. Ent- 
sprechend dem gesteigerten Bewegungsdrange des Kindesalters tobt auch 
hier die innere Erregung im Muskelspiele sich aus, ohne daß das Beminis- 
zenzdelir vollkommen fehlen würde. Allerdings verkleidet sich der AflFekt, 
welcher die Krankheit auslöst; er kann sogar pervertiert werden, wie 
z. B. der schöne Fall von Batistelli beweist, wo ein 12 jähriger Knabe 
im Anschluß an Prügel und Erschrecken Anfälle von Zwangslachen bekam. 
Frug man ihn um den Grund seines Lachens, so gab er an, drohende 
Stimmen zu hören und die Prügel zu fühlen: ein rudimentäres Äquivalent, 
das kaum mehr als Delirium zu bezeichnen wäre. 

c) Die hysterischen Dämmerzustände. 

Nun schließt eine Reihe von Symptomenbildern an, welche unter 
die Bezeichnung Delirium nicht passen wollen, weil delirante Erscheinungen, 
die eigentlich bei allen hysterischen Psychosen vorübergehend beobachtet 
werden und durch ihre Eigenart für die Diagnose außerordentlich wichtig 



80 

sind, in diesen Fällen zurücktreten. Dadurch rückt ein anderes Symptom, 
die scheinbare Einschränkung des Bewußtseinsinhaltes, die Erschwerung der 
Apperzeption in den Vordergrund. Insofern bei den jetzt zu besprechenden 
Formen von Geisteskrankheit Reizerscheinungen eine geringere Rolle 
spielen, hält man sich an die Störung der Orientierung und des Assoziations- 
zusammenhanges, die Umdämmerung des Bewußtseins und spricht von 
hysterischen Dämmerzuständen. 

Aus dem Gesagten schon ergibt sich, daß die Dämmerzustände nicht 
abzugrenzen sind. Manche Autoren gebrauchen diese Benennung mit 
besonderer Vorliebe und im weitesten Umfange, so daß die meisten akuten 
hysterischen Psychosen eigentlich Dämmerzustände darstellen würden. 
Sachlich läßt sich dagegen natürlich nichts einwenden; nur die gegen- 
seitige Verständigung wird dadurch erschwert. Nachdem man einmal 
symptomatologisch differenziert und verschiedenerlei Unterformen nach dem 
äußeren Gepräge der klinischen Bilder unterscheidet; nachdem eine ganze 
Anzahl treffender Bezeichnungen im Gebrauch ist, dürfte es sich empfehlen, 
den Ausdruck Dämmerzustand auf jene Fälle zu beschränken, wo die 
Bewußtseinstrübung hervorsticht, während das Symptbmenbild eine un- 
bestimmte Mischung heterogener Elemente ohne eigentliche Reizerschei- 
nungen darstellt. Es dürfte aber nicht viel Zweck haben, eine schärfere 
Umgrenzung des Begriffes Dämmerzustand zu versuchen, da es sich nur 
um eine äußerliche Unterscheidung zwischen wesensverwandten Zuständen 
handelt, da die akute hysterische Psychose alles sagt, was diagnostisch, 
prognostisch und therapeutisch von Wichtigkeit ist. 

Diese Dämmerzustände sind als hysterisch am besten dann gekenn- 
zeichnet, wenn sie unmittelbar mit einem Anfall zusammenhängen. Sie 
erscheinen tatsächlich auch prä- und postparoxysmell, wo sie der letzten 
Phase des Anfalles entsprechen. Ein sehr instruktiver Kasus, ein Kind 
betreffend, wurde als Beobachtung III schon vorgeführt. Geistesstörungen 
gleichen Gepräges können zwischen Anfällen stehen, endlich gibt es die- 
selben Zustände ohne Konvulsionen. Wenn sie bei Hysterischen plötzlich, 
anfallsweise auftreten, tragen sie augenscheinlich den Charakter eines 
Äquivalentes, um so mehr, wenn sie unmittelbar oder nach einer mehr- 
stündigen Latenz auf eine Affekterregung folgen. Schwieriger zu beur- 
teilen sind Fälle, in denen die Bewußtseinsänderung allmählich eintritt. Man 
hat dann eine Periode, wo die Alteration nur durch genaue Untersuchung 
nachzuweisen ist. Die Kranken benehmen sich äußerlich korrekt, sprechen 
geordnet. Wie bei Hysterie ganz gewöhnlich machen sich die im Normal- 
zustande vorhandenen Ideenkreise, Gefühlsbewegungen, Antriebe bemerk- 
bar, so daß die Handlungen vollkommen dem Charakter des Individuums 
entsprechen, das Herauswachsen der Geistesstörung aus der Persönlichkeit 
aufs schönste studiert werden kann. 

Die traumhafte Bewußtseinsveränderung erreicht verschiedene Grade; 



81 

typisch ist ein unaufhörlicher Wechsel ihrer Intensität in Abhängigkeit 
von der Außenwelt, die scheinbaren Widersprüche im Symptomen- 
bilde. Während die Kranken, wenn sie sich gehen lassen können, viel- 
leicht gar nicht auffallen, findet der Arzt Bewußtseinslücken, die sich 
wie bei Hysterie so regelmäßig, auf bestimmte Reihen von Vorstellungen, 
auf bestimmte Ideenverknüpfungen beschränken, systematisiert sind. Die 
Patienten machen den Eindruck plumper Simulanten, indem bei erhaltener 
Auffassung schwieriger Probleme gelegentlich gerade elementare Kenntnisse 
fehlen; Kenntnisse, welche die Kranken bestimmt besessen hatten, ja 
jetzt noch besitzen müssen, wie ihr Verhalten verrät; aber durch Befragen 
kann man das nicht eruieren. Doch nicht nur Ausfälle befremden; 
gelegentlich kommt es dazu, daß statt des Begriffes, welcher zu mangeln 
scheint, ein anderer gesetzt wird, der mit dem vorliegenden Gegenstand 
in irgendeiner Beziehung, gewöhnlich in der der Ähnlichkeit oder des 
Kontrastes steht. Der Patient verkennt Dinge des alltäglichen Gebrauches, 
mit denen er in ganz richtiger Weise manipuliert; er redet unsinnig, indem 
er der nächstliegenden richtigen Assoziation wie absichtlich aus dem Wege 

geht, an ihrer Statt eine möglichst falsche wählt. 

# 

So hörte ich von einem jungen Mann, der anfallsweise, unvermittelt 
ein verändertes Gebaren zeigt. Er erklärt die Löwenmuster im Teppich für 
wirkliche Löwen, behauptet, daß diese ihn beißen wollen; Flaggenstangen auf 
einem gegenüberliegenden Festplatze nennt er Spazierstöcke und fragt den 
Vater, was diese da bedeuten. 

Dem Examen gegenüber äußert sich diese für den hysterischen 
Dämmerzustand als pathognostisch angegebene Störung in Form des 
sogenannten Vorbeiredens oder Danebenantwortens (Ganser, Jelly, 
Raecke). Die Kranken vermögen Fragen allereinfachster Art nicht zu 
beantworten, obwohl sie durch die Art ihrer Antwort kundgeben, daß 
sie den Sinn der Frage aufgefaßt haben. Die einfachsten Bechenexempel 
werden nicht gelöst; dafür Zahlen genannt, die nur dem Bestreben ent- 
sprungen scheinen, etwas Falsches oder Unmögliches zu erwidern. Vor- 
gewiesene Gegenstände werden mit der Bezeichnung eines beliebigen 
andern Objektes belegt, Personen des alltäglichen Umganges erhalten 
falsche Namen. Dazwischen kommen wieder richtige, aber auch ganz 
ungehörige Antworten nach anderen Denkkategorien. 

Das Symptom der gesucht verkehrten Antwort findet sich allerdings 
noch bei einer andern Gruppe von Geisteskranken, nämlich als Ausdruck 
des katatonen Negativismus. Da es auch hier auf psychische Prozesse, 
die krankhafte Absicht, nicht das Richtige zu erwidern, zurückzuführen 
sein dürfte, besteht Wesensverwandtschaft in der Genese des Symptoms bei 
diesen Psychosen und bei Simulanten; nur ein verschiedener Grad von 
Bewußtheit kann den zugrunde liegenden Motiven zugeschrieben werden. 
Wie einwandfreie Beobachtungen beweisen, bieten Simulanten ganz 

Bai mann, Die lijsterischen Geistesstörungen. 6 



82 

dieselben ErscheinuDgen, natürlich voUbewußt. Man muß also Katatonie und 
Simulation ausschließen, wenn man das Symptom als pathognostisch für die 
Diagnose Hysterie verwerten will. 

Änsdrtioklich sei bemerkt, daß das Gesagte auf die Kontrast- 
antworten sich bezieht, denn einfaches Danebenreden, ein Kleben an 
früheren Antworten oder gar nur mangelhafte Ausklinfte trifft man bei 
den verschiedensten Psychosen, freilich auch bei hysterischen Dämmer- 
zuständen. Bei Hysterie, bei Katatonie, übrigens bei allen Verblödungs- 
prozessen kann man erfahren, daß gelegentlich Worte, die in der Um- 
gebung fallen, den Kranken beeinflussen, indem sie ganz, bruchstückweise 
verstümmelt, eventuell um neue Silben vermehrt in der nächsten Antwort 
wiederkehren; daß man so in die Lage kommt, quasi auf experimentellem 
Wege eine Art Vorbeireden hervorzurufen. 

Sinkt das Bewußtsein auf tiefer traumhafte Stufe, dann erfolgen 
die Antworten mühsam, zögernd, wie bei Verwirrtheits- und Hemmungs- 
zuständen überhaupt. In weiterer Steigerung der Benommenheit erscheinen 
die Kranken immer läppischer, blödsinniger; sie zeigen einen hilflosen 
Gang, sprechen mit kindlich rührseliger Stimme, zeitweise unzusammen-^ 
hängend, ja sie bieten Zustandsbilder der akuten Demenz, nur daß die 
Handlungen verkehrter sind, als bei den verwirrtesten unserer Geistes- 
kranken, weil sie immer eine gewisse Absichtlichkeit und Planmäßigkeit 
erkennen lassen. In schreiendem Widerspruch zu ihrer Desorientiertheit 
verraten diese Patienten ein ausgezeichnetes Verständnis für die Umgebung 
dadurch, daß sie nur ungeordnet sind in einem bestimmten Räume, in 
bestimmter Gesellschaft, während sie gelegentlich einmal das Krankheits- 
bild eines Nachbarn ganz getreu nachahmen und dadurch ihre scharfe 
Auffassung dokumentieren. 

Insofern die Unmöglichkeit der Reproduktion nicht auf Kenntnisse, 
sondern auf die persönlichen Erfahrungen der näheren und ferneren 
Vergangenheit sich erstreckt, spricht man von Amnesien, welche in 
typischer Ausprägung, meist als systemisierte vorkommen, dadurch eben- 
falls das Aussehen von bewußten Lügen annehmen. Die Auffassung als 
hysterisch wird wesentlich gefördert, wenn so ein Patient z. B. genau 
weiß, daß ein anderer Kranker auf ihn losschlug, wenn er sich aber 
nicht erinnert, daß gleichzeitig auch er selbst Prltgel austeilte u. dgl. 

Es können Hemmung, Mutazismus, plastische ausdrucksvolle Stellungen, 
Klownismen, Krämpfe den Zustand komplizieren. Letztere erleichtern die 
Diagnose ebenso wie konjugierte Ablenkung des Kopfes und der Augen 
nach einer Seite, Strabismus convergens, indem die Bulbi auf die Nasen- 
spitze eingestellt sind, Laterospasmus u. dgl. mehr. 

Zu der in Rede stehenden Gruppe Hysterischer gehören Patienten, 
welche in einem dämmerhaften Zustande herumgehen, allerlei unsinnige 
und unmotivierte Aktionen unternehmen, z. B. ganz unvermutet einen- 



83 

Selbstmordversuch. Die Handlungen können aber auch zweckmäßig 
erscheinen, indem der Antrieb aus einer gegebenen Situation entspringt: 
Eine Patientin, Dame aus der Gesellschaft, die im Dämmerzustande 
zugunsten wohltätiger Zwecke Geld sammelt. Oder die Individuen werden 
kriminell, dies um so leichter, als bei der Einengung des Bewußtseins die 
egoistischen Motive Überwiegen, das Ich sich rücksichtsloser auslebt und 
das Fehlen von Hemmungen zu Gewalttaten und AngriflFen drängt. 

Das psychische Zustandsbild wird vielfarbiger durch Lachen, 
Weinen, Schreien, namentlich bei Kindern. Man hat Dämmerzustände 
beschrieben, in denen traumhaft gesprochen oder bizarre Phantasievor- 
stellungen, d. h. wohl wirkliche Erlebnisse in Verkleidung vorgebracht 
wurden, fragmentarisch, in abgerissenen Worten; anderersdts sah man 
zwangsmäßig erleichterte Reproduktion von Erlebtem, Gelesenem, Logorrhöe. 
Organempfindungen können illusionär verarbeitet werden, nur ganz flüchtig 
treten Sinnestäuschungen auf, selbst einzelne Wahnideen. Störungen des 
Gefühlslebens bleiben im Hintergrunde; zur Demenz gehört Apathie, an 
der zähe festgehalten wird; doch findet man auch Depression, vorüber- 
gehend ängstliche Verstimmung; Nahrungsverweigerung. 

Erwähnt wurde schon, daß die Dämmerzustände entweder akut 
einsetzen oder allmählich einschleichen; ersteres namdltlich dann, wenn 
eine Gemütserschütterung oder ein toxisches Agens^ wie Alkohol, die 
Geistesstörung unmittelbar auslöst Als psychische Ätiologie kommt hier 
auch Kriminalität in Betracht. Mit besonderer Vorliebe bricht gerade 
diese Form hysterischer Geistesstörung bei Degenerierten aus, wenn sie 
zur Verantwortung gezogen werden sollen — eine Tatsache, auf die 
namentlich Ganser und Raecke aufmerksam gemacht haben. Die 
differential-diagnostischen Schwierigkeiten der vollbewußten Simulation 
eines Defektindividuums gegenüber können unüberwindliche sein. 

Die Dämmerzustände dauern entweder sehr kurz, manchmal nur 
Stunden, oder sie halten, allerdings mit Unterbrechung durch lichte Augen- 
blicke, Tage, Wochen und selbst mehrere Monate an; sie hören früher 
auf, wenn die geeigneten Einwirkungen von außen erfolgen. Geradezu 
verblüfiend ist in manchen Fällen die enorme Suggestibilität dieser 
Hysterischen, insofern Änderung der Umgebung, Drohungen, therapeutische 
Maßnahmen prompt auch das Zustandsbild ändern. Anderemale befremdet 
die Hartnäckigkeit, mit welcher die Patienten an Wahnideen kleben, 
trotzdem sie bereits Einsicht und Verständnis bekunden. Wieder andere 
Kranke zeigen sich wählerisch: Manchen Reizen gegenüber sind sie voll> 
kommen unzugänglich; man kann sie anschreien, ohne die mindeste 
Reaktion zu erhalten, eine mechanische Erschütterung z. B. hingegen 
beendet in brüsker Weise den Anfall. 

Aus Zweckmäßigkeitsgründen sei mit einem Kasus begonnen, der 

6* 



84 

diagnostisch vollkommen klar liegt, indem an einen Dämmerzustand ein 
hysterischer Anfall mit postparoxysmellem Delir anschließt. 

Beobachtung XII. 

Marie H.^ geboren 1877, katholisch, ledige Dienstmädchen, kommt am 
17. Jänner 1900 mit folgendem Rapporte an die Klinik: 

H. wurde heute als abgängig angezeigt, dann ganz zufällig in einer 
geschlossenen Eiste am Dachboden des Hauses aufgefunden. Sie war zuerst 
bewußtlos, bekam beim Erscheinen der herbeigerufenen Rettungsgesellschaft 
hysterische Krämpfe^ begann dann laut zu schreien^ Verfolgungsideen zu äußern: 
man wolle sie erstechen, erschießen. 

Bei der Aufnahme um 10 ühr vormittags hält sie die Augen geschlossen 
und spricht im Tone lebhaftesten Angstafifektes fortwährend vor sich hin. Der 
Inhalt ihrer Äußerungen dreht sich um Halsabschneiden, Messer, Pistolen, 
Verfolger. Sie ruft ihren Vater zu Hilfe, man solle sie verschonen, nicht um- 
bringen. Durch Fragen ist sie in ihrem Monologe nicht zu unterbrechen. Das 
geht so fort bis um 1 Uhr mittags, wo sie plötzlich ruhig und klar wird. 

18. Jänner. Die Kranke weiß über die Vorgänge des 17. von 2 Uhr 
nachts bis 1 Uhr mittags nichts anzugeben. Am 16. um 5 Uhr abends habe 
sie in der Wohnung ihrer Herrschaft Licht gemacht und sich in die Wasch- 
küche im dritten Stock hinauf begeben. Sie wurde bald durch Rufe alarmiert; 
es war Feuer in der Wohnung ausgebrochen. Die Kranke erschrak sehr heftig, 
um so mehr, als jhr von der Dienstgeberin die Schuld an dem Brande zu- 
geschoben wurde. Nachdem das Feuer gelöscht war, ging sie neuerdings in 
den Waschraum und arbeitete hier, soweit ihr erinnerlich, bis zirka 2 Uhr nachts. 
Patientin ist erstaunt zu hören, daß sie in einer Kiste aufgefunden wurde. — 
Zahlreiche Druckpunkte; Ovarie; Hypästhesie der rechten Gesichtshälfte; 
stellenweise zuckt die Kranke auf Nadelstiche heftig zusammen. 

19. Jänner. Klagt nur über einen stechenden Schmerz im Kopfe; sonst 
gehe es ihr ganz gut. Die Amnesie besteht in der gleich scharfen Begren- 
zung fort. 

2. Februar. Dauernd geordnet; Stigmen geschwunden. Geheilt entlassen. 

Man hört von einem heftigen Schreck; obendrein wurde die Patientin 
durch den Vorwurf, am Ausbruche des Feuers schuld zu sein, in Angst und 
hochgradige Aufregung versetzt; sie geht auf den Dac£boden, kauert sich in 
eine Kiste^ deren Deckel sie über sich schließt. Es ist keine Aufklärung zu 
bekommen, was dieses sonderbare Handeln bedeutet; dasselbe setzt gewisse 
Bewußtseinsvorgänge voraus. Man darf vielleicht eine symbolische Deutung 
versuchen: die Kranke will dem ungerechten Voi*wurfe entgehen; in einer Art 
Vogel-Strauß-Politik sucht sie sich zu verstecken. Sie flüchtet die Stiegen 
hinauf; am Ende des Weges mag eine gerade bereitstehende Kiste den Aagen- 
blickimpuls erweckt haben, hineinzukriechen. Nun wird sie aber gefunden, in 
einer Situation, die dem wachen Bewußtsein unerträglich erscheinen muß; 
Patientin liegt bewußtlos da und als die Ärzte auf den Plan treten, um sie 
ins Leben zurückzurufen, setzt ein konvulsiver Anfall ein, gewissermaßen als 
Retter in der Not. Hierauf folgt eine Geistesstörung, die in verzerrter Form 
die Angst der Kranken wiedergibt. Klinisch hat man als pathologische Reaktion 
der hysterischen Persönlichkeit auf den schweren Affekt einen präparoxysmellen 
Dämmerzustand und ein postparoxysmelles Delir, diese beiden Grundtypen 



85 

hysterischer Psychosen darch den Anfall, zu dem sie gehören, in eine Einheit 
verschmolzen. 

Es können durch überwuchern von Sinnestäuschungen und Wahn- 
ideen auf dämmerhaftem Grunde fließende Übergänge zum Delir ent- 
stehen. An Beobachtung X knüpft unmittelbar der nun mitzuteilende 
Kasus. Das initiale Delir wird zu einer einzelnen Sinnestäuschung oder 
Wahnidee; das Stadium mangelnder Korrektur bei anscheinender Klarheit 
dehnt sich aus und man darf einen Dämmerzustand diagnostizieren. 

Beobachtung XIII. 

Rosa St., 16 Jahre, ledig, katholisch, Magd, kommt am 9. Jänner 1903 
an die Klinik. 

Mutter hysterisch und imbecill; von 11 Kindern leben nur mehr sechs. 
Patientin fuhr am 6. Jänner 1903 von ihrer kleinen Heimatsgemeinde weg, 
um in Wien einen Dienstplatz zu finden. Noch am 9. früh bemerkte die 
Wohnungsgeberin nichts Auffallendes an der Person, als sie mit ausgeschnittenen 
Zeitungsannoncen wegging. 

Die Kranke suchte indes die nächste Wachstube auf, bat dort, man möge 
sie vor den Verfolgungen eines Mannes schützen, der sie erstechen wolle. Sie 
zeigt Angst, antwortet fast auf jede Frage nur: „Ich weiß nicht.^ Sie vermag 
ihren Namen nicht anzugeben; erst nachdem ihr mehrere Namen, schließlich 
auch ihr eigener (nach einem Dokument) vorgesagt werden, flüstert sie: „Ja.^ 
Sie kenne ihren Verfolger nicht, fürchte aber niedergestochen zu werden; 
darum möge man sie nicht nach Hause bringen, sie wähne sich dort nicht 
sicher; übrigens weiß sie auch die Wohnung nicht. 

Bei Ankunft an der Klinik erregt, schläft des Nachts wenig. 

10. Jänner. Patientin vollkommen geordnet, spricht fließend, klagt über 
Magenweh. Erst über Vorhalt gibt sie zu, gestern bei der Polizei gewesen 
zu sein. Sie hätte gar nicht gewußt, daß das die Polizei sei, sie wollte 
sich nur verstecken vor „Einem, der sie immer ersticht." Durch stets fort- 
gesetzte Fragen, die sie immer nur aufs knappste, oft nur formell beantwortet, 
erfährt man endlich, daß sie den Mann sogar gesehen habe, sie könne sich 
aber auf sein Äußeres nicht erinnern. Auf den Widerspruch aufmerksam 
gemacht, weicht sie aus; in die Enge getrieben, behauptet sie endlich, er sei 
ihr in der Nacht „vorgekommen". Örtlich vollkommen orientiert; Krankheit 
wird abgelehnt, Potus negiert, ebenso jeder Affekt. Seit November 1902 sei 
sie ohne Beschäftigung. — Unscheinbare, kleine rothaarige Frauensperson. — 
Faradisation. 

11. Jänner. Andauernd klar, ruhig zu Bett, bleibt dabei, der Mann mit 
dem Messer existiere; sie habe ihn heute nachts noch gesehen, allerdings nur 
im Traume, als man ihr zusetzt. 

12. Jänner. Patientin zeigt heute, wie lange das Messer gewesen, mit 
welchem der Mann sie erstechen wollte (zirka 2 dm). Trotzdem man ihr die 
schreiendsten Widersprüche nachweist, wiederholt sie ihre Angaben, ganz 
affektlos, mit unaufrichtigem Gesichtsausdruck. — Energische Faradisation. 

14. Jänner. Beginnt zu korrigieren ; gibt preis, daß jener Unbekannte» 
den sie sich „eingebildet", doch eigentlich ein Bekannter gewesen sei, mit 
dem sie eine Herzensaffäre habe. Sehr zurückhaltend. 

17. Jänner. Volle Krankheitseinsicht; bezieht die abgelaufenen Störangen 
auf ihren Liebeskummer. Geheilt entlassen. 



86 

Wenn hier ein Crimen vorausgegangen; hätte man unzweifelhaft 
zuerst an Simulation denken müssen. Die Antworten der Patientin er- 
schienen so unwahr^ so ungeheuerlich und unvermittelt im Hinblicke auf 
den sonstigen Bewußtseinsinhalt; sie ließ sich auch in die Enge treiben 
und modifizierte ihre Aussagen jeden Augenblick wie ein Lügner vor 
Gericht im Kreuzverhöre. Trotz völliger Klarheit hält sie aber die Grundhallu- 
zination aufrecht; sie kommt immer wieder auf dieselbe zurück, bis sie einige- 
male kräftig faradisiert worden ist. Der Dämmerzustand; das Nichtwissen der 
Personalien ist klar genug ausgesprochen; das einleitende Delir könnte als 
eine Art Wunschdelir bezeichnet werden. Die Patientin gestand eine unglück- 
liche Liebe ein. Sie wollte; daß ein bestimmter Mann sie verfolge und sie 
halluzinierte diese Verfolgung in einer ziemlich kenntlichen Verkleidung. Die 
psychologische Analyse vieler Fälle führt nämlich zu dem Ergebnisse; daß 
dieser „stehenden'^ Halluzination eine sexuelle Bedeutung zukomme. 

Es fehlen im vorliegenden Falle zwar alle konvulsiven Erscheinungen; 
«8 fehlen auch körperliche Zeichen der Neurose; trotzdem ist die Psychogenie 
so klar ausgesprochen; daß man an der Diagnose nicht zweifeln wird. Nicht 
nur die Lügen der Patientin sind charakteristisch; man stößt hier obendrein 
auf ein wertvolles psychisches Stigma; den Krankheitswillen. Die ganz klare 
Patientin weiß sehr genaU; was man ihr als Krankheit anrechnet. Es wurde 
ihr von der Umgebung und von den Ärzten kein Zweifel darüber gelassen; 
daß man ihr den Unsinn nicht glaube. In hartnäckigem Trotze hält sie daran 
fest; sie will krank erscheinen; sie will gar nicht entlassen werden im Gegen- 
sätze zu anderen klaren Patienten. Nachdem für Simulation jeder Grund fehlt; 
muß man ein solches Verhalten auf Rechnung der Hysterie setzen. Es wird sich 
noch erweiseu; daß es keine Kranken gibt; die sich so gegen das Gesundwerden 
sträuben wie Hysterische; wenn eine zureichende Krankheitsursache andauert. 

Nur durch den Bewußtseinsinhalt unterscheidet sich die einen Mann 
betreffende 

Beobachtung XIV. 

Leopold B.; 33 Jahre alt, Witwer, katholisch, Kellner. 

Im Alter von 3 Jahren einige nächtliche Angstanfälle mit verstörtem 
Aufschreien; sonst psychisch stets normal. Nach erfolgreichem Schulbesuche 
war er in seinem Berufe tüchtig; lebte mit der Gattin bis zu deren Tode 
»(1901) in 4jähriger guter Ehe. Seit Anfang 1903 konnte er keine ordent- 
liche Stellung finden; hatte GeldsorgeU; war leicht verstimmt, gedrückt. Potns 
jnäßig; 1 bis 2 Krügel Bier pro Tag. Seit dem 18. Juli ging er wieder in 
einen Dienst. Am 24. Juli besuchte er das Grab seiner Gattin; am 25. Juli 
verließ er zur gewohnten Stunde das HauS; ohne daß man etwas Auffälliges 
an ihm bemerkte. Er begab sich aber auf eine Donaukanalbrücke und prome- 
nierte dort so lange hin und her; bis er arretiert und zum Amte gestellt 
wurde. Hier war er sehr erregt; verlangte, man sollte ihn weglassen, da er 
■«eine Frau suchen müsse. Dieselbe sei seit früh aus der Wohnung abgängig, 
■er könne sie nirgends finden, wolle deshalb zum Kaiser gehen; in der Hof- 
Jburg werde man ihm bei der Suche gewiß behilflich sein. 

Patient kommt an die Klinik ganz ruhig, schläft des Nachts. 

26. Juli. Beim Examen geordnet, doch mimisch insofern auffallend, als 
-er, sich selbst überlassen, zu Boden starrt, ohne die Umgebung zu beachten. 
Angesprochen ist er aufmerksam, über Ort und Zeit vollkommen orientiert, 
^ibt Auskunft über alle Vorgänge, an die er seine „idee fixe" anknüpft. Als 



87 

«r sich gestern nach Mitternacht zu Bette begab; habe er gesehen, daß die 
Frau wie immer in ihrem Bette schlief. Als er vormittags aufstand, war das 
Lager der Frau schon in Ordnung gebracht, sie selbst aber verschwunden. 
Daraufhin begann er zu suchen, in der ganzen Stadt, im Prater, in verschie- 
-denen Wirtshäusern, woselbst er auch einiges trank. Endlich traf er bei der 
. . . brücke einen Wachmann und packte diesen an, ob er seine Frau nicht 
gesehen habe. Der Kranke erklärt es heute für einen Unsinn, eine Einbildung, 
daß er annahm, der Wachmann müsse seine Frau kennen. Für die Erzählung 
von der Audienz besteht Amnesie; sonst ist die Erinnerung ganz treu. Patient 
verlangt mit düsterer Miene Entlassung; er sei besorgt um seine lungenkranke 
Gattin; dieselbe könne sich etwas angetan haben. Als der Arzt ihm vorhält, 
daß die Frau ja vor 2 Jahren gestorben sei, protestiert er energisch; er sei 
jetzt 7 Jahre verheiratet; seine Gattin liege oder sitze im Zimmer, könne 
wegen ihrer Krankheit nicht arbeiten, gehe an schönen Tagen spazieren etc. 
Patient negiert zuerst ganz bestimmt, daß er vorgestern am Friedhof ge- 
wesen sei; allerdings gehe er 3- bis 4 mal im Jahre hin, um das Grab einer 
Schwester und der Schwiegermutter aufzusuchen. Nach einigem Nachdenken 
bestätigt er aber, daß er auch am 24. Juli mit seiner Kleinen am Friedhof war. 
Über dringende Aufforderung, sich der Inschriften an den Gräbern zu erinnern, 
die er mit dem Kinde besucht habe, nennt er wieder nur Schwester und 
Schwiegermutter; über fortgesetzten Zuspruch bricht er endlich erregt in die 
Worte aus: ^ Jetzt weiß ich nicht, ist meine Frau gestorben oder nicht ?^ 
Weinend fügt er nach einer Pause hinzu, er erinnere sich jetzt schon, daß seine 
Gattin vor 2 Jahren an ihrer Lungenkrankheit verschieden sei. Die vorhin 
von ihm geschilderte Situation beziehe sich auf die Zeit, als die Frau noch 
lebte. Patient korrigiert alle seine Detailangaben. Er glaubt selbst, daß der 
vorgestrige Friedhofsbesuch zu seiner „Einbildung^ gefQhrt habe, da er sich 
dort immer sehr aufrege; allerdings begann seine Krankheit erst, nachdem er 
auf dem Wege ins Geschäft Y^ Liter Wein mit Gießhübler getrunken. Er 
habe die Vorstellung, daß die Frau lebe, wohl öfters im Schlafe, niemals aber 
im wachen Zustande gehabt. 

Patient, der volle Krank hei tseinsicht zeigt, sich geordnet benimmt, wird 
am 10. August 1903 geheilt entlassen. — Am 

23. September 1903 geht der Mann in ein Wirtshaus, erklärt, seine Gattin 
erwarten zu wollen. Da er außerdem Selbstmordabsicht äußert, wird er neuer- 
lich aufs Beobachtungszimmer gebracht. Er kommt hier in trauriger Stimmung 
an, schläft des Nachts gut. 

24. September. Patient erkennt die Abteilung wieder, ist vollkommen 
geordnet, wiewohl er bezüglich der zeitlichen Orientierung falsche Angaben 
macht. Er bleibt dabei, daß seine Frau noch lebe; ärgerlich fügt er hinzu, 
wenn er das behaupte, bringe man ihn hierher, darum sage er lieber nichts. 
Auf Suggestivfragen geht er nicht ein; als man ihm die frühere Kranken- 
geschichte, seine eigene Krankheitseinsicht vorliest, fUhrt er auf, das sei alles 
nicht wahr. Er starrt unwillig vor sich hin. Als der Arzt endlich freundlichen 
Zuspruch versucht, erklärt er verzweifelt: „Ja, sie ist am Friedhof — damit 
ich Ruhe habe!^ 

Patient von femininem Habitus, zeigt gut entwickelte Mammae, sogar 
Drüsengewebe, weiblich gruppierte Schamhaare. Er läßt sich tiefe Nadelstiche 
ohne Reaktion gefallen, steckt sogar die Hände der Nadel entgegen. 

Nachmittag. Der Kranke hält trotz neuerlichen Zuspruches an seiner 
Wahnidee fest. Als er mit dem faradischen Pinsel bearbeitet wird, rötet die 



88 

Haut sich lebhaft; zudem äußert er Schmerz. Nach wenig Pinselstrichen 
ändert er sein Verhalten; es sieht aus, wie wenn er in sich zusammenbräche; 
mit leiser, zitternder Stimme, wie ein Schuldgeständnis, erfolgt die KoiTektur: 
er bestätigt unter Angabe des Todestages das Ableben seiner Frau. Da er 
dieselbe sehr gern hatte, rege er sich an ihrem Grabe immer sehr auf; darum 
habe er sich neuerlich eingebildet, daß er sie gesehen. Nebenbei gibt er Potus 
als Ursache seines Dämmerzustandes zu. 

Dauernd klar, krankheitseinsichtig. Am 5. Oktober 1903 geheilt entlassen. 

Die Einschränkung des Bewußtseinsinhaltes konzentriert sich hier auf 
eine Erinnerungsgruppe, die der Patient in seiner Krankheit einfach vergißt. 
Die Lücken der systematischen Amnesie werden ausgefllUt, das Ganze mit der 
Gegenwart verwebt. Der Alkoholkonsum darf als auslösendes Moment Berück- 
sichtigung finden; vielleicht trank der Mann auch, ^um zu vergessen''. Von 
einem pathologischen Rausch kann natürlich nicht gesprochen werden, da daa 
Spirituosenquantum, welches Patient vor seinem Dämmerzustand trank, der all- 
täglich gewohnten Menge entsprach; da die Wahnidee auch durch eine durch- 
schlafene Nacht festgehalten wurde. Hingegen wächst die geistige Störung aus 
einem Schmerzaffekt, der wiederaufgefrischten Erinnerung an das Ableben der 
geliebten Frau, heraus; es ist ein Wunsch, ein Traum, in den das „Ich'' sich 
flüchtet in Widerspruch mit der rauhen Wirklichkeit. Das erste Mal genügt 
einfacher Zuspruch, um den Patienten zur Korrektur zu bewegen; das zweite 
Mal, wo auch Stigmen deutlich ausgesprochen sind, erfordert es eines starken 
äußeren Gegenreizes. Der Krankheitswille hat unter dem Einflüsse ungünstiger 
Lebensverhältnisse an Energie zugenommen. 

Was an hysterischen Psychosen bei Männern auf der Klinik be- 
obachtet wurde, trägt zu allermeist die Züge eines Dämmerzustandes, gsLUZ 
ähnlicher Art Ebenso gemeinsam ist diesen Fällen, daß sie mit Alkoholismua 
vergesellschaftet sind, daß ein Alkoholexzeß den Agent provocateur der 
Geistesstörung bildet. Es scheint unnötig, noch Krankengeschichten diese» 
einheitlichen Gepräges anzuschließen; ganz kurz sei nur über die „Idee" 
referiert, die einem weiteren Falle masculini generis zugrunde lag. 

Patient veranlaßt seine Aufgreifung und erzählt, er habe seinen 8jährigen 
Buben in die Donau geworfen, weil jener so schlimm sei. Er hätte ihn schon 
früher erschlagen mögen, da wäre er aber gestraft worden; jetzt könne man ihm 
nichts antun, weil er Statthaltereibewilligung habe. — An der Klinik hält 
der Kranke, der sonst ganz klar und geordnet ist, an diesen Ideen fest. So- 
lange man ihm ruhig zuhört, schmückt er die Erzählung mit allen Details 
aus: Vor 2 Tagen bekam er das amtliche Dekret in die Hand, er sah den 
Buben im Wasser etc. Patient zeigt außerordentliche Neigung, vom geordneten 
Examen zu seinen ^ErinnerungsfUlschungen" zurückzukehren, blickt dabei 
immer vor sich hin. Die Suggestion, all das bis zur nächsten Visite zu korri- 
gieren, sonst werde er faradisiert, wirkt prompt. 

Wenn die Dämmerzustände durch längere Zeit sich hinziehen^ 
muß eigentlich, der Beweglichkeit und Polymorphie der Hysterie ent- 
sprechend, das Bild vielgestaltiger werden. Äußere Reize lösen Affekte 
aus, delirante Elemente mischen sich bei; und es bleibt dem subjektiven 
Ermessen des Beobachters überlassen, ob er in der Namengebung auf 



Ö9 

die grundlegende Verschleierung des Bewußtseins Rücksicht nehmen will. 
Als Beispiel eines solchen protrahierten Dämmerzustandes diene: 

Beobachtung XV. 

Rosa K., geboren 1876, katholisch, ledig, ohne Beschäftigung. 

Vater der Patientin leidet seit dem 40. Lebensjahre an epileptischen 
Anfällen. Von 11 Geschwistern starben 5 in der Kindheit an Fraisen, 1 Bruder 
in der Irrenanstalt. Nach zufriedenstellendem Schulbesuche war die Kranke 
3 Monate bei einer Modistiu, mußte diese Beschäftigung aber aufgeben wegen 
Asthenopie. Ende 1899 klagte sie über Rückenschmerzen, lag durch 3 Monate 
zu Bett. Als sie in einem Spitale Aufnahme suchte, entließ man sie in 
kürzester Frist; die Ärzte sagten, es fehle ihr nichts. Im Oktober 1900 
wurde sie ganz plötzlich lärmend, schrie: ^Die Auferstehung kommt'' u. dgl., 
wollte immer aus der Wohnung fort, lachte ohne Grund, war dann wieder 
verstimmt; sie betrachtete die im Zimmer befindlichen Heiligenbilder, sang 
dabei: „Väterlein komm, Mütterlein komm; Pfui, erlöset mich von dem 
Schlechten. ** Am 

29. Oktober früh richtete sie sich im Bette auf und rief mit gefalteten 
Händen: „Vater, ich gehe in den Himmel, alle Engel werden zur Seite stehen.^ 
Dem Polizeiarzte gegenüber ist sie ruhig, vermag Datum, Wochentag oder 
Monat nicht anzugeben. Sie blickt ängstlich um sich oder lächelt, läßt weitere 
Fragen unbeantwortet. 

Auf der Beobachtungsstation gibt sie zum Teil geordnete Auskunft oder 
entschuldigt sich in stereotyper Wiederkehr, daß sie durch überstandene 
Krankheiten geschwächt sei und darum keine bessere Antwort wisse. Sie 
bezeichnet sich als geistig gesund, findet an den im Parere berichteten 
Äußerungen nichts Auffallendes, hält mit Aufklärung zurück. — Gegen die 
körperliche Untersuchung wehrt sie sich, Patientin ist nicht zum Zeigen der 
Zunge zu bewegen, kl^gt über Schmerzen beim Ansetzen des Hörrohres. Links- 
seitige Ovarie nebst kutaner Hyperästhesie an dieser' Stelle. 

31. Oktober. Bisher ruhig, teilnahmslos gegenüber der Umgebung; ver- 
sucht dann plötzlich auf das Fenster zu steigen, wendet sich vom Arzte ab, 
weicht jeder Anrede aus, will entkommen. 

1. November. Jagt die Ärzte von der Visite weg mit dem Rufe: „Vater, 
rette meine Seele vor diesen bösen Geistern ; Vater, rette sie." 

3. November. Singt in ekstatischer Weise: „Rein und keusch will ich 
sein, Gott schütze mich.^ — Nach Isolierung regungslos am Rücken liegend, 
hält die Augen geschlossen, bewegt hie und da die Lippen, ignoriert Fragen, 
wehrt sich aber kräftig gegen Eingriffe. 

4. November. Nimmt Nahrung geordnet; sonst ganz ablehnend und 
stumm. Am 

6. November abends bezeichnet sie den Arzt als Christus, dann wieder 
als Doktor, äußert Wahnideen: sie sei mit dem Himmel in enger Verbindung. 
(rihi als Grund ihres Stummseins an, daß sie nicht verwirrt sei, verstummt 
gleich darauf, zieht die Decke über den Kopf. 

9. November. Beschwert sich, daß man sie vergifte, indem man ihr durch 
das Zellenfenster etwas hereinspritze. Es seien Soldaten, mit denen sie immer 
kämpfen müsse. Beginnt zu weinen. 

17. November. Pose feierlicher Ruhe, ignoriert das Eintreten der Ärzte. 

Wechselndes Zustandsbild bis zur Ankunft in der Irrenanstalt am 
5. Dezember. Am 



so 

6. Dezember. Regungslos in Rückenlage, mit ängstlichem Gesichtsans- 
druck. Auf Ansprache gibt die Kranke keine Antwort. Wiederholt wird die 
Miene weinerlich. Bei Druck auf irgendwelche Körperstellen, besonders am 
Abdomen zuckt Patientin mit reflexartiger Promptheit zusammen. 

7. Dezember. Ganz interesselos für die Umgebung; antwortet heute erst 
nach längerem freundlichen Zuspruch. Sie wisse nicht, wo sie sich hier befinde, 
vielleicht in einer Wachstabe, auch das Datum könne sie nicht angeben. Auf 
viele Fragen beginnt die Kranke zu schluchzen und stürmisch zu atmen. 
Sie sei ängstlich und traung, weil sie nach Hause möchte; bezeichnet sich als 
gesund. Bericht über Sinnestäuschungen: schreckhafte Gestalten, Engel; gräß- 
licher Geschmack im Munde, übler Geruch. — Vermehrte Speichelsekretion. 

8. Dezember. Die ruhige Rückenlage wird nur vorübergehend unter- 
brochen durch Aufregungszustände. Patientin beginnt zu lärmen und zu toben. 
Sehr wechselnde Hyperästhesien. 

Jänner 1901. Ängstlich, antwortet nicht auf Ansprache, verkriecht sich 
unter die Matratze. 

Februar. Rückenlage; spricht mit den Verwandten, die sie besuchen, 
nicht aber mit den Ärzten. Am 

4. März 1901 in die heimatliche Irrenanstalt übersetzt; von dort am 
5. Jänner. 1902 als geheilt entlassen. Am 

13. Jänner 1902 erscheint sie im Ambulatorium, klar, krankheitsein- 
sichtig, mit zahlreichen Zeichen der Neurose: Singultus, Lach- und W^ein- 
krämpfen, durch die ärztliche Untersuchung auszulösen; außerdem besteht 
eine linksseitige Hyperästhesie und ein Phantomtumor im oberen Teile des 
Abdomens. Patientin berichtet auch noch über zahlreiche Anfälle. 

Eine exquisit hysterische Person, deren Psychose durch 13 Monate 
Internierung erforderte. Patientin wird aber nicht gesund, sondern wechselt 
nur die Symptome. Wegen körperlicher Störungen läßt sie sich jetzt im 
Nervenambulatorinm weiter behandeln. Das wenig leistungsfähige Individuum 
gibt eine unmittelbar psychische Ätiologie nicht preis; daß man gerade aus 
ihren so unbedingt ablehnenden Antworten ein Recht hat, auf Herzenskummer 
zu diagnostizieren, lehrt der Umgang mit Hysterischen. Überdies ist der 
religiöse Inhalt ihrer Delirien, die übertriebene Prüderie bei körperlicher 
Untersuchung ein weiterer Fingerzeig für den Erotismus ihres Wesens, der bei 
dem Mangel jedes körperlichen Reizes sie wohl zwang, sich als „rein und 
keusch^ dem Herrn zu empfehlen. Im einzelnen bietet das Zustandsbild ein 
Mosaik der verschiedensten Elementarstörungen, die sich zu einer hysterischen 
Psychose zusammenfügen. Eine gewisse Hemmung und Umdämmerung des 
Bewußtseins, bis zu völligem Nichtwissen sich steigernd, steht indessen immer 
im Vordergrunde. 

Wie zum Delir so führen die Dämmerzustände aber auch zum 
hysterischen Charakter zurück. Weites Abschweifen ihrer Gedanken, ufer- 
lose Phantasietätigkeit, ebenso monotones Zwangsdenken läßt die 
Hysterischen verträumt erscheinen, was bei Schilderung des Charakters 
bereits hervorgehoben wurde. Indem die habituelle Zerstreutheit episoden- 
weise sich steigert, indem irgendwelche Innenvorgänge die ganze Auf- 
merksamkeit der Patienten mit Beschlag belegen, werden daraus Zustände 
von Wachträumen, von piathologischer Träumerei. Die Kranken starren 



91 

aasdruckslos vor sich hin, nehmen nichts von alledem wahr, was um sie 
herum vorgeht, schrecken erst bei starken Reizen empor; es vergeht aber 
noch einige Zeit, bevor sie den Kapport mit der Umgebung vrieder auf- 
nehmen — sie dämmern weiter oder wehren sich gar gegen das Erwecken, 
schleppen wenigstens Stimmungsanomalien nach. Erinnerungsbilder, die 
sinnliche Qualitäten annehmen, zu Halluzinationen werden, andererseits 
Znknnftswünsche füllen das Bewußtsein aus und diese psychischen Vorgänge 
tiben nachhaltigen Einfluß auf das Gesamtgebaren der Patienten. Eine 
fließende Reihe vermittelt zwischen den bewußten und gewollten flüch- 
tigen Episoden des Charakters und den hysterischen Dämmerzuständen, 
die sich andererseits den Delirien immer mehr nähern, je anteilvoller und 
plastischer die Kranken träumen. So gibt es Hysterische, die auf traum- 
hafter Bewußtseinsstufe ganze Szenen theatralisch aufführen, die Um- 
gebung im Sinne des Delirs in ihre Pantomime einbeziehen. In der 
Literatur sind Fälle verzeichnet von Patientinnen, die Verlobung 
mit einem imaginären oder vergebens erwai*teten Bräutigam feiern. 
Eine Kranke Bohns schreibt Briefe an einen ideellen Verlobten, 
empfängt solche, die sie selbst in seinem Namen an sich geschrieben 
hat. Hier spaltet sich die Persönlichkeit; neben dem „Ich" tritt eine 
Person der Wünsche und Gedanken handelnd auf. Man findet Kinder 
sowie Erwachsene, welche in einer erträumten Rolle aufgehen, fast 
delirieren, aber doch jeden Moment leicht zu erwecken und zum nor- 
malen „Ich" zurückzuführen sind, wo der Dämmerzustand einem lebhaften 
Traume gleicht; andererseits trifft man Fälle, wo diese Traumpsychosen 
hartnäckig festgehalten werden, das wache Ich sich mit dem träumenden 
Ich identifiziert So einen schönen Dämmerzustand beschreibt z. B. Pick: 

Ein ISjähriges Mädchen erklärt sich für die Kaiserin Elisabeth von 
Österreich, schreibt kindische Briefe an den Kaiser, ist durch keinen Wider- 
spruch zu überzeugen. Die Genese des Wahnes wird klar durch das 
«Studium der verträumten Persönlichkeit, die formlich Traumdelirien im 
Sinne ihres Wahnes durchlebt; dazwischen wiederholt hysterische Krampf- 
anfalle, welche über den Charakter der Psychose keinen Zweifel lassen. 

Der hysterische Dämmerzustand kann mit dem Drange verbunden 
sein fortzulaufen. Als klassisches Beispiel eines solchen Dämmerzustandes 
mit delirantem Inhalt sei ein Kasus von Bolteau zitiert. 

Patientin verliert aus Schreck über eine angekündigte Operation durch 
3 Tage das Bewußtsein, sie irrt in der Umgebung von Paris herum, hal- 
luziniert Ärzte mit weißen Röcken und blanken Messern, die hinter ihr her- 
laufen. Sie erkennt Begegnende nicht, erweckt den Eindruck einer Be- 
trunkenen. Endlich spricht sie einen Sicherheits Wachmann um Schutz an. Auf 
der Wache lärmt und schreit sie, beruhigt sich aber bald. Erwacht klar mit 
Amnesie für den ganzen Zustand; in der Hypnose vermag sie Details aus der 
Zeit anzugeben. 

Über einen solchen Bewußtseinsinhalt ist in anderen Fällen nichts 



92 

zu erfahren. Dieselben gleichen äußerlich jenen Zustandsbildern, die bei 
Epileptikern, bei Dösequilibres unter wechselnder Bezeichnung als 
fugues, Porio- oder Dromomanie, auf gut Deutsch als Wandertrieb 
bekannt sind. 

Insofern es sich um die hysterische Form handelt, findet man in 
der Vorgeschichte dieser Kranken zum Teil sicher hysterische Züge, 
sehr häufig Bewußtseinsstörungen, recht charakteristisch solche in Form 
traumhafter Versunkenheit; anderemale hört man von nächtlichen Angst- 
anfallen in früher Kindheit. Dem Ausbruche der Psychose gehen Aura- 
erscheinungen voraus : Verstimmung, Mißmut, Schweigsamkeit, Kopf- 
schmerzen, schlechter Schlaf. In der Regel werden die Gedanken der 
Patienten auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, sie bereiten sich wohl gar 
für die Reise vor; dann aber wird ohne Rücksicht darauf losmarschiert, 
auf Atmosphärilien nicht geachtet. Die Kranken hungern durch längere 
Zeit, leben von mitgenommenem Gelde oder betteln um Brot. Nur selten 
benehmen sie sich ziemlich geordnet; bei Untersuchung ist die Um- 
dämmerung des Bewußtseins nicht zu verkennen oder die Patienten 
werden direkt aufgegrifien, weil sie in durchnäßten, schmutzigen Kleidern 
auf Kulturboden herumirren. Diese spezielle Form des Dämmerzustandes, 
von den Franzosen Automatisme hysterique ambulatoire genannt, hat 
eine außerordentliche Neigung sich zu wiederholen; die Dauer des ein- 
zelnen Anfalles ist verschieden. Näheres sei den Epikrisen der Kranken- 
geschichten entnommen, die hier angereiht werden: 

Beobachtung XVI. 

Hedwig J., 29 Jahre alt, katholisch^ SpenglergehilfensgattiD; kommt am 
16. November 1902 an die Klinik. 

Patientin seit 3 Jahren verheiratet; nie gravid. Menses stets protrahiert 
(10 — 12 Tage) regelmäßig, in Swöchentlichem Intervall. Zur Zeit der Periode 
bestand etwas Erregung, Mattigkeit; die Kranke sei dabei öfters wie „verwirrt"^ 
kenne sich nicht recht aus. Vor 1 Jahre starb ihr Vater, den sie sehr betrauerte. 
Sie hatte diesen Unglücksfall indessen verwunden; nur äußerte sie in den 
letzten Wochen öfters, sie wolle am Jahrestage des Todes (15. November) das 
Grab des Vaters in Mähren besuchen; fiel durch traurige Verstimmung auf. 
Am 15. November verließ sie frOhmorgens das Haus, ohne ein verändertes 
Benehmen zu zeigen; sie wollte in die Kirche und dann einkaufen. Am 

16. November abends wird eine ,,unbekannte Frauensperson'' dem 
Polizeiarzte vorgeführt. Dieselbe gibt nach langem Fragen an Hedwig 2.u 
heißen, verheiratet zu sein; nähere Daten bezüglich des Nationales sind auf 
keine Weise erhältlich. Wohl aber erzählt sie, daß ihr Vater zu Leopold! im 
vorigen Jahre gestorben sei; sie habe sich darüber sehr gekränkt. Gestern 
sei sie einkaufen gegangen, habe eine Kirche besucht, weiter erinnert sie sich 
nur, daß sie in der letzten Nacht nicht geschlafen, seit, gestern weder ge- 
gessen noch getrunken habe. 

Bei der Aufnahme an der Klinik etwas erregt, beruhigt sich aber bald. 
Nachts wenig Schlaf. 



93 

17. November. Patientin zeigt während des Examens eine stumpfe aus- 
druckslose Miene, ist wie schwerbesinnlich, gibt die Antworten zögernd, als 
ob ihr alles erst nach und nach in Erinnerung käme. Zuweilen legt sie den 
Finger an die Stirn, nimmt die Miene des angestrengtesten Nachdenkens an, 
im übrigen begleitet sie jede Silbe mit einer Abwärtsbewegung des gestreckten 
Zeigefingers der rechten Hand. Das ganze Gebaren sieht so aus, wie wenn 
die Kranke recht nachdrücklich demonstrieren wollte, daß sie ganz blöde sei; 
wie wenn das mangelhafte Ausdrucksvermögen durch eine derartige Gesti- 
kulation unterstützt oder ersetzt werden müsse. Das kindische Benehmen 
täuscht übrigens nur kurze Zeit. Bei entsprechendem Nachdruck erhält man 
einzelne ganz Üben*a8chend verständige Antworten auf ürteilsfragen, während 
die Patientin dem Examen über Personalien noch völlige Verständnislosigkeit 
entgegenzubringen scheint, ganz einfältig antwortet. Das bessert sich aber 
rasch. Macht man sie dann aufmerksam, daß sie doch weiß, was sie kurz 
zuvor nicht zu wissen behauptete, so greift sie sich immer an den Kopf und 
bemerkt, das sei ihr eben erst eingefallen oder darauf komme sie erst nach 
und nach. Zusammengefaßt bestätigen ihre passenden und richtigen Antworten 
die Daten der Anamnese. 

Am Todestage ihres Vaters, dessen Liebling sie gewesen, sei sie morgens 
vom Hause fort, zunächst in die Kirche, dann einkaufen; dann sei sie immer 
weiter und weiter gegangen, habe nicht gewußt wohin, glaubte, wenn sie so 
fortgehe, komme sie zum Grabe des Vaters. Wie lange und wo sie herum- 
geirrt, wisse sie nicht; sie habe sich endlich überhaupt nicht mehr ausgekannt, 
darum einen Wachmann gefragt und ihn gebeten, er möge sie nach Hause 
oder zum Grab ihres Vaters bringen; sie habe ihm ihren Namen nicht sagen 
können; derselbe sei ihr entfallen gewesen. Mit zwei Herren fuhr sie des 
nachts in einem Wagen hierher; hier habe sie sich erst etwas besonnen; die 
Wärterin ließ sie das ABC hersagen, bei diesem Anlasse sei ihr ihr Name 
eingefallen. Sie habe gegenwärtig keine Schmerzen; da (auf den Kopf deutend) 
fehle ihr noch etwas, sie wisse aber nicht, was es sei; sie fühle sich marode. 
Die Lücke in ihren Angaben (15. — 16. November) vermag Patientin nicht 
zu ergänzen, sie scheint sich nicht einmal klar darüber, wie lange es seit 
dem Leopoldstage her sei. Hingegen erhält man über ihr Vorleben erschöpfende 
Auskünfte. Ehe bis nun kinderlos. Alle Monate, wenn sie die Regel habe, sei 
ihr sehr schlecht; sie müsse im Bett liegen; es steche sie im Rücken, sie habe 
Krämpfe im Unterleib, keinerlei Anfälle, sei noch nie in einem Spital gelegen. 
Die Kranke unterbricht durch die Bemerkung, ihr Mann werde sie schon von 
hier abholen, reklamiert den Ehering, den man ihr abgenommen habe. 

Rechtsseitige Hemianästhesie und Hemianalgesie; linke Mamma druck- 
schmerzhaft. Subjektiv bestehen starke Schmerzen in der Nackengegend. Menses. 

18. November. Vormittagsvisite: Das Verhalten der Patientin ist im 
allgemeinen unverändert; nur zeigt sie sich etwas ängstlich erregt und 
weinerlich. Sie versichert, wie um sich zu trösten, morgen werde ihr Mann 
sie abholen, morgen sei Samstag; daran schließt sie die Bemerkung, der 
Leopoldstag sei am Mittwoch (recte!) gewesen. Auf die Frage, was sie seither 
gemacht habe: ^Ja, das eben geht mir ab!^ Sie habe drei Nächte bereits 
hier verbracht. 

Auch dem faradischen Pinsel gegenüber ist die Schmerzempfindung an 
der rechten Körperhälfte erheblich herabgesetzt. Passive Bewegungen in den 
Gelenken der rechten oberen und unteren Extremität durch Spasmen etwas 



94 

erschwert, werden nicht gefehlt, aktive nur zögernd und unsicher ausgeführt; 
links prompt. Reflexe beiderseits gleich, nicht gesteigert. 

24. November. In den letzten Tagen geordnetes, wenn auch noch 
etwas dämmerhaftes Verhalten. Die Erinnerungslücke besteht fort. Auf 
Fragen wiederholt Patientin die obigen Angaben, allerdings mit steter Vari- 
ation. So erzählt sie heute, sie habe wegen des einjährigen Todestages ihres 
Vaters geweint; in der Kirche sei ihr schlecht geworden, worauf sie dieselbe 
verließ. Von den weiteren Vorfällen wisse sie nichts als daß sie weinend 
herumgegangen und am nächsten Tage von einem Herrn hierher ins Spital 
gebracht worden sei. Der Einkaufskorb kam ihr auf unbekannte Weise 
abhanden. Auch für die erste Zeit des Aufenthaltes an der Klinik besteht 
mangelhafte Erinnerung. Die Kranke erkennt den Zustand als psychotisch an, 
gerät sehr leicht ins Weinen, insbesondere, wenn sie über den Verlust dea 
Vaters oder über ihre bisherige Kinderlosigkeit spricht. 

Die Hemianästhesie und Hemianalgesie ist nach dreimaliger, energischer 
Faradisation vollkommen zurückgegangen. 

26. November. Auch heute macht Patientin noch den Eindruck der 
Schwerbesinnlichkeit, respektive den eines ziemlichen Schwachsinns. Als der 
Arzt mit mehreren Herren anspielungsweise von Amnesien spricht, die Erlebnisse 
in sich schließen, deren Reproduktion den Kranken peinlich sein müßte; daß 
auch hier eine Nacht in die 36 Stunden der Amnesie falle: erhebt sich 
Patientin mit lebhaftem Affekt, protestiert in ganz fließender Diktion gegen 
derartige Zumutungen und verrät, daß sie die möglicherweise ehrenrührige 
Deutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vollkommen verstanden hat. 

Abends: Versuch einer Hypnose. Die Kranke ist sehr leicht hypnotisierbar^ 
wird in die Zeit der Amnesie zurückgeführt und produziert Äußerungen vom 
Standpunkt der Situation am 15. November (Kirche, Einkaufen, Gehen, immer 
fort gehen etc.), die sie wieder zu durchleben scheint. Ihre Antworten, an die 
Fragen des Arztes enge anknüpfend, werden in steigendem Angstaffekt gegeben,, 
verraten keine Details, beschi*änken sich auf ganz allgemeine Eindrücke, 
z. B. „Immer fort und fort gehen! — Nehmen denn die Gassen kein Ende? 
— Hier ist es so weit, sind nur Felder. — Die Lichter sind schon ange- 
zündet. — Ich muß nach Hause. — Führt mich niemand? ..." Die amnestische 
Lücke des 15. — 16. November wird nicht weiter ausgefüllt. Patientin verneint 
auf direktes Befragen, für die Nacht vom 15. zum 16. jeden Unterstand; an 
die eben berichteten Äußerungen knüpft sie gleich die Begegnung mit dem 
Wachmanne, der ihre Aufnahme veranlaßte. Es wird Amnesie suggeriert. Das. 
Erwachen zieht sich etwas hinaus; nachher völliges Wohlbefinden. 

29. November. Ruhig, geordnet, psychisch völlig frei; keine Stigmen 
mehr. Wird unter heutigem geheilt entlassen. 

Eine rein psychologische Erkrankung. Patientin ist kinderlos, kränkt 
sich darüber sehr. Zur Zeit der Menses, die sie an ihre Geschlechtsfunktion 
erinnern, ist sie sogar leicht ^ verwirrt'^. Mangels der Kinder klammert sie 
sich an ihren Vater, an welchem sie mit der Zärtlichkeit des Lieblings hängt; 
jener stirbt, nun naht der Jahrestag seines Todes und trifft mit den Mensea 
zusammen. Sie will auf sein Grab, ihr Bewußtsein schränkt sich auf die 
Vorstellung ein, daß sie zu Hause unglücklich ist und zu ihren Vater muß. 
Sonst weiß sie gar nichts, nicht einmal ihren Namen oder ihre Adresse. — 
Der Fall' illustriert die nahen Beziehungen zwischen dem Automatisme 
ambulatoire und den Dämmerzuständen; es soll damit gerechtfertigt sein, daE 



9& 

im vorliegenden Buche der hysterische Wandertrieb dieser Unterform der 
akuten hysterischen Psychosen angegliedert wird. An der Klinik bietet die 
Kranke nur einen hysterischen Dämmerzustand; sie täuscht einen ganz un- 
glaubwürdigen Blödsinn vor, was so schlecht gelingt, daß sie, in die Enge 
getrieben, nach und nach das Meiste von dem preisgibt, was sie augenblicks 
vorher nicht zu wissen erkläi't hatte; sie verrät ein ganz ausgezeichnetes Ver- 
ständnis in jener Szene am 26. November; man hätte selbst einer Patientin 
von voller Fassungskraft nicht zutrauen können, daß sie eine so verhüllte- 
Anspielung verstehe. 

Das Bewußtsein wird auch im folgenden noch von den Triebfedern der 
Krankheit beherrscht; Patientin kommt immer wieder auf den Leopoldstag 
zurück, spricht auffallend viel von ihrem Manne. Man hätte möglicherweise 
eine ganz falsche Vorstellung von diesem Verhältnis gewinnen und glauben, 
können, sie sei darüber unglücklich, von ihrem Gatten fort zu sein und habe 
denselben außerordentlich lieb. In Wirklichkeit ist der Mann einer der Erankheits- 
faktoren. Er itlllt ihr Bewußtsein sehr wenig aus, in ihm sieht sie die Ursache 
der Kinderlosigkeit. — An der Hysterie ist wohl nicht zu zweifeln, wenn es 
auch nicht gelingt, in der Hypnose, etwas darüber zu erfahren, was Patientin, 
während der ErinnerungslQcke getan. Man könnte sie oder eine Andere für 
fähig halten, sich in einem solchen Zustande zu prostituieren, da sie auf legalem 
Wege nicht zur Mutterschaft kommt. Die Amnesie würde das dann mit eineuL 
wohltätigen Schleier bedecken. 

Beobachtung XVH. 

Katharina W., 19 Jahre, ledig, katholisch^ Magd, wird am 10. November 
1902 an die Klinik gebracht. 

Eine Schwester, 27 Jahre alt, leidet seit einem Jahre an Schwindelanfällen, 
bei denen sie manchmal bewußtlos zusammenstürzt, ^/^ Stunde liegen bleibt;, 
niemals Krämpfe. Patientin selbst überstand mit 6 Jahren Keuchhusten, dabei 
angeblich Konvulsionen, einmal kurzdauernd verwirrtes Reden. Seither sollen 
anfallsweise auch starke Kopfschmerzen auftreten. Patientin legt sich dabei, 
stets zu Bett, erscheint etwas benommen. Seit dem 9. Lebensjahre beobachtet 
man zeitweilig, mehrmals im Jahre, an den Oberarmen und Oberschenkela 
hämorrhagische Flecken, die ganz von selbst entstehen, nach 4 — 5 Tagen 
wieder verschwinden. Menses seit dem 16. Jahre stets unregelmäßig; zu der 
Zeit war Patientin aufgeregt, jähzornig und leicht verletzlich. 

Jetzt erkrankte sie an einer merkwürdigen Bewegungsunruhe, welche 
durch 4 Wochen andauerte. Am 8. Juni 1901 entwich Patientin, ohne da^ 
man ihr vorher etwas angemerkt hätte, aus dem Hause; sie ging nach B.. 
ins Spital, blieb dort 4 Tage. Im August desselben Jahres entwich sie un- 
motiviert zum zweiten Male, wurde am nächsten Tage auf der Straße von der 
Wache aufgegriffen und zurückgebracht. Dann blieb sie gesund bis zum 
4. März 1902, an welchem Tage ein hysterischer Anfall auftrat von 4 stündiger 
Daner mit erhaltener Erinnerung. Bald darauf entwich die Person das dritte- 
mal, kam nach einem Tage von selbst zurück, gab nicht an, was sie getrieben 
habe. Vor der Einbringung durch einige Wochen Kopfschmerz, Schlaflosigkeit,. 
Kcitweise choreiforme Zuckungen. Am 8. und 9. November 1902 machte Patientin 
einen verwirrten Eindruck, blickte zeitweise starr vor sich hin. 

Am 10. November stand sie zur gewohnten Zeit auf, war sehr still,, 
verstört. Vormittags begann sie plötzlich das Bettzeug zu zerkleinem, schnitt sich 
den Zopf ab, drohte Feuer anzumachen, alles zusammenzuschlagen, wenn man 



96 

sie nicht fortlasse. Da sie unaufhörlich dringend, in anscheinend verwirrter 
Weise fortverlangte, wurde sie dem Amtsarzte vorgeführt. Sie gibt dort an, 
große Angst zu haben, den Drang zum Davonlaufen zu fühlen. An die Klinik 
gebracht, spricht sie wenig, geht zu Bett, schläft gut. Am 

11. November beim Examen zeigt Patientin saloppe Manieren, ist 
unaufmerksam, ziemlich wortkarg. Sie weiß sich hier in einem Spital, kennt 
dessen Namen nicht, erklärt keine Wahrnehmungen über die Art ihrer Mitkranken 
gemacht zu haben. Das Datum wird nach einigem Nachdenken richtig an- 
gegeben. Sie klagt über Hinterkopfschmerzen; in ganz affektloser, fast schläfriger 
Weise berichtet sie, daß ihr Vater sie durch die Rettungsgesellschaft einbringen 
ließ, weil sie sich die Haare abgeschnitten habe, Einrichtungsstücke anzünden 
wollte; Motiv: weil es im Zimmer zu kalt war. Sie erzählt spontan, daß sie 
schon in einem Krankenhause war, damals Zuckungen in Händen und Füßen 
hatte, der Arzt diagnostizierte hysterische Anfälle. Seither habe sie deren schon 
über 20 gehabt; dieselben dauern mehrere Tage, hinterlassen vollständige 
Erinnerungslosigkeit. In diesen Anfällen laufe sie auch davon. Erregtheit und 
Jähzorn gibt sie zu; wenn sie sich sehr ärgere, zittere sie durch einige 
Tage. Nach beendetem Schulbesuch war sie nur ein einzigesmal durch 
4 Wochen als Dienstmädchen in Stelle, motiviert ihr Nichtstun mit Krankheit. 
— Unterleib etwas druckempfindlich auch beim Aufheben von Haut falten, 
außerdem Druckempfindlichkeit am Scheitel, an den V- Austrittspunkten, an 
der Wirbelsäule, am Brustkorb; doch ruft auch Druck an allen übrigen 
Körperteilen unmutige Abwehrbewegungen herbei. Pupillen übermittelwcit, 
stark different. 

12. November. Heute im ganzen etwas freier; Patientin wiederholt 
häufig die Frage, ob es draußen regne; motiviert dieselbe damit, daß man 
dann nicht hinausgehen könne. 

14. November. Sehr streitsüchtig, gerät mit einer gleichgearteten Mit- 
kranken in Konflikt, läßt sich nicht beruhigen; erklärt, wenn sie herauskomme, 
werde sie ihrer Gegnerin die Zähne einschlagen. 

16. November. Wieder beruhigt, hält an den Erinnerungslücken fest. 
Sie fühle Kopfschmerzen, sei reizbar, ärgere sich, laufe dann fort, ohne sich 
vorzubereiten, oft auch ohne ausreichende Bekleidung. Auch durch Suggestiv- 
fragen ist weiter nichts Tatsächliches zu eruieren. Patientin gibt ihre 
Krankheit bereitwillig zu, motiviert dieselbe in wechselnder Weise und wird 
am 18. November 1902 ihren Angehörigen übergeben. 

Während die Antälle an der Klinik ausgesetzt hatten, beginnen sie jetzt 
wieder; allwöchentlich tritt ein solcher auf, von Sstündiger Dauer mit Be- 
wußtseinsverlust, nachher Amnesie, fortwährende Kopfschmerzen. Patientin 
arbeitet gar nichts, Schlafsucht bei Tage wechselt mit Schlaflosigkeit bei 
Nacht. Mitte März 1903 wird das Verhalten angeblich ganz normal; die An- 
fälle haben aufgehört. Am 

19. April 1903 ist Patientin schlaflos, wie verloren und verwirrt. 
Am 20. April bedroht sie den Vater und die Familienmitglieder mit Er- 
schlagen, beginnt zu schreien und zu toben. Am 21. früh 7 Uhr verläßt sie 
ihre Wohnung, kommt erst am 22. 6 Uhr abends in sehr aufgeregten Zu- 
stande nach Hause, erzählt, sie habe von ihrem Verehrer sechs Ohrfeigen erhalten, 
auch habe er ihr das Erschlagen in Aussicht gestellt. Patientin wird immer 
wilder, haut um sich, rauft sich die Haare aus, demoliert die Wohnung, will 
Brand legen; um 8 Uhr abends Bewußtlosigkeit, Krämpfe. Die Kranke kommt 
angegurtet an die Klinik, liegt bis zum Morgen steif da. 



97 

23. April. Vollkommen geordnet^ gibt Auskunft, erinnert sich des 
früheren Aufenthaltes hier; war heute früh beim Erwachen überrascht, sich 
am Beobachtungszimmer zu finden. Seit 14 Tagen starke Kopfschmerzen, 
in den letzten 4 Tagen seien dieselben besonders heftig geworden, so daß 
sie zu Hause saß und sich nicht beschäftigte; für das weitere besteht voll- 
kommene Erinnerungslosig;keit. Patientin klagt auch gegenwärtig über heftige 
Cephalaea und Schwindel; läßt die Lider wie schläfrig sinken, ist im Examen 
wenig aufmerksam und äußerungsunlustig. — Auffallende Gesichtsrötung. 
Der ganze Schädel ist druckempfindlich, ebenso das Gesichtsskelett, besonders 
stark die V-Austrittspunkte, auch fast der ganze Rumpf; weniger die Glied- 
maßen. Kein Zungenbiß. Menses. 

24. April. Druckempfindlichkeit geschwunden. 

27. April. Patientin lacht wfederholt krampfhaft auf, ist überhaupt meist 
guter Dinge, nur für das Examen fast unzugänglich, behauptet nichts zu 
wissen, sie könne nicht nachdenken, weil sie davon heftige Kopfschmerzen 
bekomme. Dabei nimmt die sehr bewegliche Person ein außerordentliches 
Interesse an der Umgebung, steht eine halbe Stunde lang in der Türe, um bei 
der Aufnahme neuer Ankömmlinge zuzuhören; sie unterhält sich lebhaft mit 
ihren Gesinnungsgenossinnen, tollt herum oder liegt in Halbschlaf zu Bett. 
Unvermittelt ist sie reizbar, beklagt sich, wenn eine unruhigere Kranke in die 
Nähe gerät, wirft mit übertriebenen Ausdrücken herum: sie könnte alles 
zerreißen, sei wild wie ein Tiger und dergleichen. 

3. Mai. Bei dem Versuche eines Examens, das auf die Proteste der 
Kranken keine Rücksicht nimmt, ist zu erheben, daß sie ein Liebesverhältnis 
hat; sie gibt aber sonst über affektive Erregung, namentlich in früher Jugend 
absolut nichts preis. Sie erklärt, nicht zu wissen, was Hypnose sei. Als der 
Arzt sie ruhig anblickt und ihr die Schlafsuggestion erteilt, springt sie mit 
affektierter Lebhaftigkeit auf und schreit: „Ich will nicht schlafen.^ Über 
Zuspruch ist sie zwar sofort zu beruhigen; doch springt sie nochmals auf, 
erklärt sie bekomme Schwindel. Sie taumelt zum Tisch wie betrunken, ver- 
mag sich kaum an denselben zu klammern. Plötzlich setzt sie sich wieder 
geordnet nieder. 

In die Irrenanstalt übersetzt. — Gerade während der Drucklegung dieser 
Arbeit kommt die Kranke neuerlich am Beobachtungszimmer zur Aufnahme. 

• Die Diagnose wird hier dadurch erleichtert, daß die Fugues mit hyste- 

rischen Krampfanfällen abwechseln, sowie durch das exquisit hysterische 
Gebaren der Patientin; die Leidseligkeit, die sie im Spital so betont, die 
„ furchtbaren '^ Kopfschmerzen, auf die sie sich beruft, um dem Arzte jede 
Auskunft verweigern zu können; gleich darauf bricht sie wieder in einen 
Lachkrampf aus. Von Zeit zu Zeit treten pathologische Affekte auf, Geistes- 
störungen im unmittelbaren Anschluß an Anfälle, wo bei umdämmertem Be- 
wußtsein die höchsten Grade von Aufregung sich einstellen. Der Drang zum 
Fortlaufen schließt nicht immer an Anfalle an; er wird psychologisch nicht 
näher motiviert, vielleicht, daß ihr die strenge Behandlung zu Hause unbequem 
war. Der gewisse Zusammenhang mit den Menses deutet wohl auf eine 
gesteigerte geschlechtliche Erregbarkeit; sexuelle Beziehungen werden nicht 
geleugnet. Schließlich sieht man Bilder, die zwischen Delir, Dämmerzustand 
and hysterischem Affekt die Mitte halten, im ganzen also einen außerordentlich 
komplizierten Fall. 

Bai mann, Die hysterischen Geistesstörungen. i 



98 

Beobachtung XVIII. 

Maximilian E., 22 Jahre alt, katholisch, ledig, eliemaliger Postbeamter 

Die viel später erhobene Anamnese ergibt folgendes: 4 Geschwister des 
Kranken starben in frühester Kindheit, außerdem abortierte die Mutter 2mal. 
Patient, ein Siebenmonatkind, war stets schwächlich, Oberstand verschiedene 
Kinderkrankheiten, im 6. Jahre eine schwere Soharlachdiphtherie mit lange 
nachdauemden Seh- und Ilörstörungen, die ihn schwer herunterbrachte. Er 
soll gut gelernt haben; doch war er eigentümlich unbeständig; bald arbeitete 
er Tag und Nacht hindurch, dann mußte er wieder mit aller Strenge zum 
Lernen angehalten werden. Aus der 5. Realklasse trat er freiwillig aus, da 
er behauptete, eine Stellung in Aussicht zu haben. Er war 5 Wochen in 
Paris, um französisch zu lernen, absolvierte einen Staats Verrechnungskurs und 
trat endlich bei der Post als Praktikant ein. Im September 1900 wurde 
er angeschuldigt, ein Postpaket gestohlen zu haben; nach sechswöchentlicher 
Untersuchung wurde er zwar freigesprochen, aber auch entlassen. Seit 
dieser Zeit erschien der Kranke in seinem Wesen ganz verändert; er 
log die Eltern immer an, behauptete fortwährend, daß er Anstellungen 
bekomme, blieb vom Hause fort, schloß sich einer Gesellschaft von Dieben 
an, stahl Winterröcke und wurde im Jänner 1902 wegen dieses Deliktes mit 
5 Monaten Kerkers bestraft. Dann irrte er wieder arbeitslos umher, benutzte 
aber das Elternhaus als Absteigquartier. Er stahl und versetzte, was ihm 
unter die Hand kam, war scheu, unfreundlich gegen seine Angehörigen, 
trank und rauchte viel, was er früher nie getan hatte. Im Oktober 1902 
sagte er seinem Vater, daß er durch einen Freund einen Posten in Leipzig 
erhalten habe; der Vater gab ihm Geld für die Reise. Am 20. Oktober 1902 
reiste er ab und ließ nichts mehr von sich hören. 

Patient ist übrigens wiederholt aus dem Elternhause durchgebrannt. 
Das erste Mal am 22. Juni 1891, also im Alter von 11 Jahren; Vater holte 
ihn am 13. Juli von Eger ab. Das zweite Mal am 20. Oktober 1891 nach 
Wiener-Neustadt; schon am 28. Oktober kehrte er freiwillig zurück. Das 
dritte Mal am 10. Februar 1896; er kam am 17. Februar retour. Das vierte 
und fünfte Mal am 6. November 1901 und am 3. Dezember 1901. Nur 
einmal hatte er sich mit Geld versorgt gehabt. Motive waren keine zu 
eruieren. Er sprach nicht darüber. 

Am 30. November 1902 gegen V28 Uhr abends tauchte der Kranke 
in Breitenfurth (im Wiener Walde) auf, aß in einem Gasthause 1 Portion 
Gnlyas, trank 2 halbe Liter Bier und Y^ Liter Wein, entfernte sich gegen 
VslO Uhr unter Zurücklassung von Hut und Havelock, ohne die Zeche 
zu begleichen. Um V2II Uhr trat er ohne Hut und Überrock aber mit einer 
Schnurrbartbinde angetan in Laab am Walde in die Gendarmeriekaseme. 
Er gibt an John Garrick zu heißen, in London City 1870 geboren, dorthin 
zuständig und von Beruf Schauspieler zu sein. Seit 10 Jahren wandere er 
in der Welt herum und sei auf verschiedenen Bühnen des In- und Auslandes 
in Schillerschen und Goetheschen Stücken aufgetreten. Zuletzt hätte er in 
einem großen Hause in Linz gewohnt. Vater, Bruder und Schwester leben 
noch. Über deren Aufenthaltsort befragt, gibt er nur zur Antwoii;: ^Ja, ja.^ 
Auch sonst ist absolut nichts zu erfahren, was zur Eruierung seiner Identität 
dienen könnte. Er sagt immer nur: ^Das weiß ich nicht oder, ja vor 
längerer 2^it.^ — Während der eingeleiteten Recherchen wird Patient unter 
Bewachung gehalten. Er ist gegen jedermann sehr höflich, artig, ruhig, 
beschäftigt sich mit Lesen; nur abends wenn es dunkel wird, beginnt er zu 



99 

deklamieren. Ohne daß über seine Persönlichkeit irgend etwas ermittelt 
worden wäre, kommt er am 

9. Dezember 1902 an die Klinik. Er ist ruhig, schläft des Nachts. Beim 
Examen am 

10. Dezember macht der Kranke in ganz geordneter aber auffallend 
teilnahmsloser Weise folgende Angaben: Er sei hier auf einer Beobach- 
tungsabteilung im IX. Bezirke Wiens. Jetzige Jahreszahl sei 1912. Sein 
Vater heiße Sebastian K., wohne S . . . gasse 24, 2, sei Amjtsdiener im . . » 
Ministerium (richtig!) Er selbst sei 1880 in London geboren, also jetzt 
32 Jahre alt (^). Sein Vater war nie in London, seine Mutter auch nicht. 
Die Frage, wie er dann dort geboren sein könne, läßt Patient unbeantwortet. 
Da er keine Freude am Studium hatte, brach er dasselbe ab und ging nach 
Paris. 18 Jahre alt, kehrte er nach Wien zurück, war längere Zeit 
beschäftigungslos, bis er endlich Praktikant bei der Post wurde. 

Vor 10 Jahren (im Jahre 1902) ging er ohne Wissen und Willen seiner 
Eltern vom Hause weg, da er unbedingt Schauspieler werden wollte. Seit 
damals heiße er nicht mehr K., sondern John Garrick; doch sei das nicht 
sein Künstler-, sondern sein wirklicher Name, den er ein Recht habe zu 
führen. Diese 10 Jahre wisse er auch nichts mehr von seiner Familie. Er sei 
Autodidakt, wandere zu Fuß durch die Welt: London, Paris, Berlin, Dresden,. 
Leipzig. Er spielte Heldenrollen in klassischen Stücken (Schiller, Goethe, 
Shakespeare), nicht um Geld, meistens zu wohltätigen Zwecken. Zu seinem 
Lebensunterhalte brauchte er nichts, da er als Künstler immer bei ver- 
mögenden Gönnern zu Gaste war. Über Befragen bestätigt er, daß er auch 
im Wiener Hofburgtheater auftrat (Wallenstein, Götz) unter der Direktion 
Bnrkhardt. Im Deutschen Volkstheater spielte er gleichfalls (Graf Wetter 
V. d. Strahl). Patient erzählt, daß er stets mit großem Erfolge gastiert, seine 
Rollen leicht gelernt, aber auch rasch vergessen habe. Er zitiert auf Verlangen 
einige der bekanntesten Verse aus Faust. Seit zirka einem Jahre werde er in 
Laab im Arreste gehalten aus unbekanntem Grunde; er sei daselbst eines 
Morgens erwacht, ohne zu wissen, wie er dahingekommen. — Kriminalität, 
AniUlle, Lues werden negiert, Potus nur in mäßigen Grenzen zugegeben. 

Fliehende Stirne; Hinterhauptsstufe. Druckempfindlichkeit beider Nn. 
snpraorbitalcs. Submammilläre Druckpunkte beiderseits. Deutliche Empfindlich- 
keit rechts im Hypochondrium. Über Hautsensibilität sehr wechselnde, un- 
verläßliche Angaben: Nadelstiche werden links etwas schmerzhafter empfunden. 

Nachmittags in der Vorlesung vorgestellt, hält Patient den schreiendsten 
Widersprüchen zum Ti*otz sein System aufrecht und gestaltet es über Suggestiv- 
fragen immer ungeheuerlicher, dabei doch streng und folgerichtig aus. Er sei 
durch die ganze Welt gekommen, spielte in Indien, Persien, China, Tunis; 
die dortigen Landessprachen könne er zwar nicht, aber es gäbe überall deutsche 
Theater. Einwände bringen den Kranken nicht aus seinem Gleichmut. Er 
spricht ganz fließend. 

13. Dezember. Patient teilt mit, daß er als neunjähriges Kind von 
Hause weggelaufen, bis Bodenbach gefahren sei und von dort eine Fußtour 
nach Eger gemacht habe. Erst nach einem Monate keiirte er zurück. Ei|i 
andermal sei er nach Graz gegangen. 

15. Dezember. Korrigiert heute vollständig, erzählt, daß ihm gestern 
eine Zeitung in die Hand fiel mit dem Datum 14. Dezember 1902; er 
fand darin Artikel über Ereignisse, von denen er vor kurzem hörte; er 
dachte nach und kam so dazu, seine Wahnideen richtigzustellen. Er gibt 

7* 



100 

prompt seine ganze Vorgeschichte an, verschweigt dabei freilich alles Krimi- 
nelle. Ende Oktober 1902 fuhr er mit Bewilligung seiner Eltern nach Leipzig, 
blieb dort einige Tage; anfangs November reiste er nach Dresden; von diesem 
Moment ab fehlt die Erinnerung. Patient weiß nur, daß er in Laab längere 
Zeit im AiTCst war, von dort der Klinik tibergeben wurde. Er kennt alle 
Details der letzten Tage, weiß, daß er in der Vorlesung vorgestellt wurde, 
zeigt das Bett, auf dem er nach der Ankunft gelegen; er beschreibt die Ärzte, 
die sich mit ihm beschäftigt haben, bestätigt, daß er früher tatsächlich Schau- 
spieler werden wollte und während seines Realschulstudiums viel aus klassischen 
Stücken lernte. 

Im folgenden ein etwas schläfriges Wesen; den Ärzten gegenüber mürrisch, 
abweisend. Sonst liegt er stundenlang behaglich auf das Bett gestreckt und 
raucht seine Pfeife, schreibt den Eltern einen rührenden Brief: „Wenn Ihr 
liebe Eltern noch lebt, was ich zu Gott hoffe, so kommt mich besuchen, so 
bald es Euch möglich ist, denn man hat mich hier eingesperrt und hält mich 
hier gefangen ohne jeden Grund . . . Ich bin gesund, aber hier gefällt es mir 
gar nicht.^ Dann folgen Wünsche um Tabak und besseres Essen; der Brief 
schließt: „Euer unglücklicher Sohn John Garrick Maximilian K . . . '^ 

Der Kranke leugnet mit Konsequenz alles, was ihm persönlich unangenehm 
sein kann, rühmt sich verschiedener Kenntnisse, die er gar nicht besitzt. 
Über seine Innenvorgänge recht verschlossen, bei längerem Examen ungeduldig, 
so daß eine nähere Genese seiner Psychose nicht zu erfahren ist. 

Patient führt so ein vegetatives Dasein bis zu der am 5. Februar 1903 
erfolgten Entlassung. 

Ein charakterologisches abnormes, dabei ethisch minderwertiges Indi- 
viduum mit verbrecherischen Anlagen. Über die früheren Wanderungen 
desselben wäre das Urteil nicht so leicht, wie gerade diesmal, wo die 
hysterische Natur des ganzen durch die darauffolgende Geistesstörung 
wohl genügend klargestellt wird. Es kommt hier, so wie die Situation 
für ihn unhaltbar geworden ist, zu einem Krankheitsbild, das anderen Beob- 
achtungen vollkommen analog, eine Änderung des Persönlichkeitsbewußtseins 
bringt im Sinne einer knabenhaften Traumidee; ein kindischer Wunsch ver- 
wirklicht sich, allerdings nur im Rahmen der Krankheit. 

Dieser Fall zeichnet sich durch einen Grad von Logik aus, wie sie nur 
einer vollbewußten Hirntätigkeit, also z. B. bei einem Simulanten möglich 
scheint. Daß Patient ganz konsequent alle Jahreszahlen und Daten seinem 
fingiertem Alter entsprechend umrechnet, daß er durch keinen Einwand aus 
der Fassung zu bringen ist, immer eine Antwort weiß, die kaum zu wider- 
legen ist; seine Klarheit und dabei das starre Festhalten an den unsinnigen 
Lügen und Übertreibungen, die er mit ernstem Gesichte vorbringt: das alles 
macht einen geradezu verblüffenden Eindruck. Glücklicherweise ist unmittelbar 
vor diesem Dämmerznstand kein Verbrechen zu verzeichnen, sonst wäre die 
Differentialdiagnose 'gegen Simulation tatsächlich schwer. In späterer Zeit 
ist einer eben eingelangten mündlichen Mitteilung zufolge der Patient aller- 
dings wieder kriminell geworden. Seine systematischen Amnesien, welche die 
Abstrafungen betreffen, können ebensogut als Lügen genommen werden. Un- 
zweifelhaft recht hat er mit der Behauptung, daß die Korrektur dem eigenen 
Kaohdenken entspringt, die Anknüpfung die er vorgibt, ist hingegen ganz 
willkürlich. Daß der Patient es sich möglichst bequem einrichtet, daß er einen 
rührenden Brief an seine Eltern schreibt, um dieselben nur ja von seiner 



101 

Krankheit zu überzeugen, daß er dabei gleichzeitig allerlei kleine Wünsche 
äußert; die die Behaglichkeit seines Nichtstun verschönern sollen, sei nur 
nebenbei bemerkt. 

Der Erinnerungsdefekt ist in allen diesen Fällen außerordentlich 
hartnäckig, auch durch Hypnose nicht aufzuhellen. Wenn ein solcher 
Erfolg die Diagnose Hysterie auf das Glänzendste rechtfertigt, so muß 
andererseits doch zugegeben werden, daß das Mißlingen des Examens 
im hypnotischen Schlafe die Diagnose Hysterie nicht widerlegt. Man 
würde viele Patienten wohl auch im Wachzustande zum Sprechen 
bringen können, doch erfordert das eine noch eingehendere Beschäftigung 
mit den Kranken, ein näheres Studium ihrer intimen Persönlichkeit, als 
das bei den oben wiedergegebenen Fällen, zum Teile aus äußeren Gründen 
möglich war. 

d) Andere Formen der akuten hysterischen Psychosen. 

Wie schon bemerkt, ist es wohl nicht angezeigt, bei den akuten 
hysterischen Geistesstörungen eine Unzahl von Formen zu unterscheiden. 
Viele derselben wollen indes weder unter die Bezeichnung Delir, noch 
unter den Terminus Dämmerzustand passen, weil sich Züge in den Vorder- 
grund schieben, die besser anderen Typen der Psychiatrie entsprechen. 
Unter den Störungen, welche hysterischen Anfällen vorausgehen, ebenso 
unter denen, welche unmittelbar an den Anfall schließen, trifft man 
Symptomenbilder, welche am ehesten manisch, melancholisch, stuporös 
genannt werden können. Sowohl manische, melancholische als auch 
stuporöse Zustände mit dem Attribut hysterisch sind in der Literatur 
verzeichnet. Es werden dies Geistesstörungen sein, welche bei Hysterischen, 
von Anfällen losgelöst auftreten und ihre Wesensgleichheit mit den par- 
oxysmellen Psychosen durch die identischen Grundzüge ihres Verlaufes 
deutlich genug zu erkennen geben, während sie sich von den analogen 
funktionellen, nichthysterischen Psychosen nach Entstehung und Aufbau 
unterscheiden. Doch sind auch in der äußeren Erscheinungsform 
gewisse Differenzen für den aufmerksamen Beobachter unverkennbar. 
Manche Autoren heben hervor, daß es sich bei Hysterie nur um schwache 
Nachahmungen der betreffenden nichtneurotischen Krankheitsbilder 
handle; die charakteristischen Züge seien verschwommen, die Grund- 
stimmuDg werde nur oberflächlich festgehalten, das ganze Bild getrübt 
durch fremde, zum Teile widersprechende Elemente. Man trifft Symptom- 
kombinationen von einer Eigenart, daß man gar kein Analogon unter 
den akuten Psychosen mehr finden kann. 

So ein atypisches Bild ist z. B. 

Beobachtung XIX. 

Marie B., geboren 1880^ katholisch, ledig, kommt am 16. Oktober 1902 
an die Klinik. 



102 

Ihr Vater ist ein jähzorniger Mensch, Potator, die Mutter willensschwach. 
Mit 13 Jahren Schädeltrauma. Die jetzige Erkrankung begann 1900 mit 
Heiserkeit; dann folgten häufige hysterische Anfälle (Are de cercle, mehr- 
stündige Klonismen mit Bewußtseinsverlust.) Auf Brommedikation hörten dieselben 
auf. Seit Juni 1902 Verfolgungsideen: die Nachbarsleute reden Schlechtes 
über sie, die Leute merken ihr an, daß sie krank sei etc. Sie las alles 
Mögliche aus der Zeitung heraus, daß man sie umbringen, aufhängen wolle. 
So oft an der TQre geläutet wurde, äußerte sie lebhafte Angst; sie war sehr 
mißtrauisch, glaubte, die Speisen seien vergiftet; später modifizierte sie diese 
Idee: Sie selbst vergifte die Speisen dadurch, daß sie dieselben anrühre. Am 
11. Oktober „ Tobsuchtsanfall ^. Die Kranke sah einen weißen Mann zur Türe 
hereinschauen, halluzinierte Reden der Mutter; dann riß sie einen Handtuch- 
rechen aus der Wand, zerschlug eine Aschentasse. Läßt sich freiwillig in die 
Klinik aufnehmen. 

Hier ist Patientin vollkommen klar, orientiert. Sie erzählt, daß sie 
Kopfschmerzen hatte; plötzlich schlug sie alles zusammen. Ein unmittelbarer 
Anlaß zu diesem Aufregungszustande kann nicht eruiert werden. Die Kranke 
ist überhaupt zurückhaltend; gibt nur an, daß sie früher immer heiter war, 
während sie jetzt zu depressiven Verstimmungen neige; eben während des 
Examens beginnt Patientin zu weinen. An der Realität ihrer Sinnestäuschungen 
hält sie fest. Das Essen war bitter, die Mutter hatte die Absicht, sie zu ver- 
giften, man wolle sie zu Hause nicht. Über Zuspruch konzediert sie freilich 
selbst die Unwahrscheinlichkeit dieser Meinung. Sensibilitätsdi£ferenz zwischen 
rechts und links. 

Im folgenden fühlt die Kranke sich ganz wohl. Sie liegt ruhig zu Bett 
oder beschäftigt sich mit Handarbeit, zeigt freie Miene; bezüglich einer 
psychischen Ätiologie ihrer Erkrankung gibt sie nur Liebeskummer zu. Da 
sie keinerlei Symptome mehr bietet, wird sie zur Entlassung bestimmt. Als am 

18. Oktober die Mutter erscheint, sie abzuholen, versteckt Patientin sich 
unter der Decke, äußert lebhafte Angst, ihre Mutter werde sterben, sie habe 
das in der Zeitung gelesen. Die Entlassung muß rückgängig gemacht werden. 

Eingehendes Examen: Die Kranke erinnert sich, daß sie als Kind über- 
fahren wurde; das eine Rad drückte sie an der Hüfte; ob sie damals erschrocken, 
weiß sie nicht. Als sie 3 — 4 Jahre alt war, kam einmal ein schwarzer Mann, 
der wie ein Kaminfeger aussah; derselbe verschwand wieder. Auch ganz kleine 
schwarze Männer sah sie ins Zimmer treten und wieder weggehen, am hellen 
Tage, bei vollem Bewußtsein. Durch dringliches Zureden ist Patientin von 
der Krankhaftigkeit dieser Erscheinungen (Halluzinationen?) zu überzeugen. 
Als sie in der dritten Volksschulklasse war, wurde einmal ein Krampus 
in die Wohnung gelassen, über den sie heftig erschrak, seither datiere ihre 
Schreckhaftigkeit. Mit 14 Jahren verliebte sie sich in einen Freund ihres 
Bruders; sie sagte das der Mutter, diese dem Vater; derselbe schimpfte 
sie zusammen. Der junge Mann, der davon erfuhr, mied fortan das Haus. 
2wei Jahre später machte ihr ein anderer den Hof und eine Liebeserklärung; 
sie aber wies ihn zurück, da ihr Herz noch immer dem ersten Freunde gehöre. 
Durch eine Tratscherei erfuhr jener von ihrer stillen Neigung und machte sich 
über die „dumme Gans" lustig. Als dies der Patientin zu Ohren kam, weinte sie 
viel, kränkte sich furchtbar. Nach einiger Zeit lernte sie einen dritten jungen 
Mann kennen, der ihr zu Gesicht stand. Wieder offenbarte sie sich ihren 
Eltern, die Auskünfte über den Bewerber lauteten aber schlecht, der Vater 
schimpfte und prügelte sie. Der Jüngling wollte indessen nicht mehr von ihr 



103 

lassen, er verfolgte und bedrohte sie; einmal mußte er über Intervention eines 
Herrn sogar arretiert werden. Seither fürchte sich Patientin allein über die 
Gasse zu gehen. 

Ihre jetzige Krankheit wurde durch Eifersüchteleien eingeleitet, wie 
Patientin nur zögernd zugesteht. Man brachte sie fälschlich mit einem Gesellen 
in Kombination, worüber sie sich furchtbar ärgerte; man sandte beleidigende 
Ansichtskarten mit ihrer (gefälschten) Unterschrift an die Arbeitgeberin. Auch 
zu Hause gab es Szenen; eine Schwägerin eiferte mit ihr und auf so einen 
Verdroß hin wurde Patientin heiser. Wenn eine psychologische Motivierung 
versucht werden soll, möchte man sagen, Patientin konnte nichts erwidern 
oder sie zog es vor zu verstummen — sie verlor die laute Sprache. Am 
Sylvesterabende fühlte sie sich krank, blieb im Bette. Die große Gesellschaft 
im Hause machte einen furchtbaren Lärm. Es wurde ihr so schlecht, daß sie 
gar nicht denken konnte; sie klopfte darum an die Wand und als die Leute 
aus dem Nebenraume herbeieilten, trat der erste konvulsive Anfall auf — 
vielleicht krankhafter Ausdruck des Argers, daß man sich um sie gar nicht 
kümmerte; nun zwang sie die Rücksichtslosen Rücksicht zu üben. Durch 
drei Wochen hatte sie nun fortwährend Anfälle; so oflt jemand ins Zimmer 
kam, riß es sie am ganzen Körper; sie konnte sich aber durch eine 
Willensanstrengung ruhig halten. Auf Brommedikation hörten die Anfälle 
langsam auf. 

Im Juni 1902 fiel ihr ein Bügeleisen von ^l^ni Höhe auf den Kopf, 
ohne daß sie im mindesten Schaden litt. Ihre jetzige Krankheit bezieht sie auf 
ein Gefrorenes; dabei scheint eine gastrische Störung vermittelt zu haben. Sie 
aß nichts, weil sie einen bitteren Geschmack im Munde hatte und das Essen 
vergiftet glaubte. Trotzdem sie sich nicht ganz richtig, wie verwirrt im Kopfe 
fühlte, wurde eine Wallfahrt nach Mariazeil angetreten. Dieselbe lief gut ab — 
Patientin war immer sehr fromm gewesen — aber auf der Rückfahrt wurde ihr 
wieder schlecht, sie sprach irre, wollte immer davonlaufen, ohne zu wissen wohin, 
bekam heftige Kopfschmerzen. In diesen Tagen sah sie den weißen Mann 
(lebendig gewordenes Erinnerungsbild ihres Bruders, der einmal mit Bandagen 
umwickelt ins Haus gebracht worden). Sie hörte die Mutter in der Küche 
«agen: „Bleib heraußen", was jene später ableugnete. Als man sie wieder 
einmal am Fortgehen hindern wollte, riß sie einen bei der Tür befindlichen 
Rechen heraus. Auch das geht auf eine Erinnerung zurück. Als Kind hat sie 
einmal einen Tobsüchtigen gesehen, was ihr damals einen sehr lebhaften Eindruck 
machte. Sonst ist über Innenvorgänge nichts zu erfahren, doch scheint noch 
etwas hinter der außerordentlichen Empfindsamkeit zu stecken; Patientin ge- 
steht, zu Hause öfters geweint zu haben und bietet auch an der Klinik ge- 
legentlich depressive Stimmung. 

21. Oktober. Neigung zum Erröten sehr auffallend. Heute wird noch 
eine Wahnidee geäußert. Die Kranke glaubt, sie werde umgebracht; motiviert 
das damit, daß sie in einem Buche über Maria Kulm gelesen habe, viele 
Junge Mädchen seien umgebracht worden. — Patientin gibt rückhaltlos zu, 
daß sie an ihren ersten und einzigen Geliebten noch immer viel denke, daß 
sie während ihrer Krankheit stets an ihn dachte. Hier setzt nun das Traitement 
moral ein, das sehr wirksam scheint, denn im weiteren ist Patientin frei 
von psychischen Störungen, bietet eine gleichmäßige, nicht mehr deprimierte 
Stimmung, erklärt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Da sie 
jetzt selbst den Wunsch nach Entlassung äußert, wird sie am heutigen Tage 
und mit Erfolg ihrer Mutter übergeben. 



104 

Ein Fall von Hysterie mit vielgestaltigen psychischen Äußerungen. 
Schon als kleines Kind will die Patientin halluziniert haben; sie war immer 
sehr schreckhaft, emotiv. Peinliche Affekte und Liebeskummer, der durch 
verschiedenerlei Umstände neu aufgewühlt wurde, bedingen das Einsetzen 
von Beziehungs- und Verfolgungsideen, die systemlos variirt werden; eine 
einzelne Gesichtstäuschung, innere Erregung, vorwiegend depressive Ver- 
stimmung komplizieren den Zustand, für welchen wohl Krankheitsgefühl^ 
nicht aber Krankheitseinsicht besteht. Jedem Zuspruch zu Trotze koiTigiert 
Patientin nicht. 

Bemerkenswert ist, daß auch hier die Sinnestäuschungen alle nur 
lebendig gewordene Erinnerungen darstellen von Ereignissen, welche die 
Kranke seinerzeit einmal sehr impressioniert hatten. Überhaupt, je mehr 
man sich mit einem Falle von Hysterie abgibt, um so mehr ist man in der 
Lage, alles aus der Person heraus zu erklären; nur kostet das viel Zeit; es 
bedarf oft stundenlanger Mühe, bevor man von einer Patientin, z. B. über die 
Ursache von Gemütsbewegungen, etwas erlUhrt. Man könnte glauben, daß 
manche Erinnerung peinlich empfunden und darum gerne vermieden wird. 
Manchmal empfängt man auch nur den Eindruck, als ob die Kranke sich bloß 
interessant machen, den Wert des Preisgegebenen durch Zurückhaltung erhöhen 
wolle, eine Art Spiel, Koketterie mit dem Arzte treibe. Natürlich muß dann erst 
noch die Probe auf die Richtigkeit des Geständnisses gemacht werden. Gewisse 
Gedankengänge wiederholen sich allerdings immer wieder; man glaubt die 
Hysterischen einmal zu kennen, damit das Recht auf Analogieschlüsse zu 
haben. Auch hier sind Antworten vorausgenommen, weniger auf die Bestätigung 
oder Verneinung, vielmehr auf die affektive Reaktion Gewicht gelegt. Die 
Patientin kann nein sagen, aber in einer Weise, welche die gegenteilige Ver- 
mutung bestätigt und umgekehrt. Oft ist ein ganz stummes Examen schon 
lehrreich, anderemale werden viele Worte gesprochen, Erfindungen und Lügen 
nur vorgebracht, um einem peinlichen Thema auszuweichen. 

Bei dem in Rede stehenden Kasus mußte man den bestimmten Eindruck 
empfangen, daß Mutter und Tochter sich sehr schlecht vertrugen. Die Tochter 
hatte allen Grund, der Mutter zu grollen. Sie war im Elternhause erkrankt; 
an der Klinik fühlt sie sich ganz wohl, vereitelt ihre erste Entlassung, indem sie 
in deutlicher Beziehung zu der Ankunft der Mutter neuerlich mit psychischen 
Störungen einsetzt, die sie bei ihrer Klarheit und dem ärztlichen Zuspruch 
als krankhaft anerkennen mußte. Auch sie wollte noch krank sein bis es 
gelang, sie durch vernünftigen Zuspruch mit den Tatsachen auszusöhnen. 

Weitaus größere diagnostische Schwierigkeiten ergeben sich aber, 
wenn die Hysterie, wie es auch vorkommt, genauer an den Typus einer 
akuten, funktionellen Psychose sich hält. 

Es wäre wärmstens zu befürworten, die Worte: hysterische Manie 
und hysterische Melancholie zu vermeiden — Stupor ist ja nur die Be- 
zeichnung für ein Symptom — da sonst die psychiatrische Nomenklatur 
noch mehr sich verwirrt. Höchstens dürfte man von einer akuten hyste- 
rischen Geistesstörung manischer, melancholischer Form sprechen. 

Erster e wird beschrieben als lebhaft psychomotorische Erregung; 
die Kranken schwätzen, singen, lachen, schreien, ohne ideenflüchtig zu 
sein, doch meist zusammenhangslos; sie gestikulieren, zerreißen ihrei 



105 

Kleider, werfen alles über den Haufen, beschimpfen die Wärterinneu, 
spucken, greifen die Umgebnug an, alles ohne Einsicht, wie wenn sie 
durch einen unwiderstehlichen Zwang getrieben würden: ein im höchsten 
Grade flegelhaftes Benehmen ohne das Geschick und die Erfindungsgabe 
der Manischen. Bezeichnend ist es, wenn solche Patientinnen selbst um 
die Zwangsjacke bitten und dann erst zu toben anfangen. Sie beruhigen 
sich plötzlich, um nach einem geringfügigen äußeren Anlasse von neuem 
loszubrechen. Erotische und religiöse Wahnideen können geäußert werden. 
Doch wäre zu fordern, daß Sinnestäuschungen vollkommen fehlen, 
sonst liegt ein hysterisches Delir vor, gegen welches in vielen Fällen 
eine Abgrenzung nicht möglich ist. Übrigens wird auch bei nicht 
hysterischen Erregungszuständen die Grenze zwischen Manie und Amentia 
von den einzelnen Beobachtern verschieden gezogen. 

Diese manische Form soll bei schon lange bestehender Hysterie, 
namentlich bei Frauen, nach schweren seelischen Erschütterungen auf- 
treten, manchmal zur Zeit der Menses rezidivieren, sich mit konvulsiven 
Zuständen mischen. Doch kommt sie auch bei Männern, und gerne bei 
Kindern vor. Der Zustand dauert in der Regel kurz, hinterläßt meist 
Amnesie, was bei der Diagnose wesentlich hilft. Der Beweis, daß es 
um Hysterie sich handelt, kann natürlich nur im einzelnen konkreten 
Falle erbracht werden. Nachdem unter den eigenen Beobachtungen 
keine einzige den Typus dieser Varietät genügend deutlich zu repräsentieren 
scheint, sei ein Kasus Moravcsiks kurz wiedergegeben: 

Ein hysterisches Mädchen verliert seinen Vater durch den Tod. Sie 
weint viel am Friedhof während der Trauerrede. Auf einmal läuft sie zum 
Sarg; schlägt unter lautem Schluchzen mit der Faust dreimal auf den Deckel; 
fängt an zu lachen, zu singen, zu schreieu; bietet das Bild einer aus- 
gesprochenen Manie. Sie plaudert in einem fort, stets lächelnd, läuft aus einem 
Zimmer ins andere, verspottet die erschrockene Umgebung und die herbei- 
geeilten Ärzte mit den trivialsten Worten, persifliert ihren geistigen und 
körperlichen Zustand in der rücksichtslosesten Weise; sie macht frivole, 
schamlose Bemerkungen, verkennt Personen ; nachts ist sie ruhiger, am nächsten 
Tage klar. — Auf den psychischen Chock hin erfolgt hier eine Umkehrung 
des Affektes. 

Melancholische Zustände scheinen nicht gar so selten zu sein, ent- 
sprechend der unzufriedenen depressiven Grundstimmung des hysterischen 
Charakters. Im unmittelbaren Anschluß an eine schwere Gemüts- 
erschütterung kann statt der physiologischen Traurigkeit normaler Menschen 
bei Hysterischen durch pathologische Andauer und Übertreibung des Aus- 
druckes eine Geistesstörung vom Gepräge der Melancholie entstehen. 
Doch gibt es gewisse Unterschiede. Die Leidseligkeit des Melancholikers 
erfahrt bei der Hysterica gern eine solche Steigerung, daß man fast den 
Eindruck empfängt, es mache den Kranken geradezu ein Vergnügen, ihre 
Symptome zu produzieren. Vorwiegend sind es überhaupt subjektive Be- 



106 

schwerden, körperliche Leiden, krankhafte Enipfindungen, Unzufriedenheit 
mit einem wirklich grausamen Schicksal, die hinter den Lamentationen 
stecken. Diese verraten auch deutlich genug eine gesteigerte Liebe zum 
„Ich", sowie Angst um das eigene Wohl, vor Krankheit und Tod, womit der 
zur Schau getragene Lebensüberdruß seltsam kontrastiert. Die Patien- 
tinnen sind geräuschvoll, ungemein wortreich, dabei ungewöhnlich abhängig 
von der Umgebung, indem es gelingt, den scheinbar tiefsitzenden Affekt 
durch Ablenkung, Zerstreuung, Amüsement in den Hintergrund zu 
drängen. 

An erster Stelle sei über einen Fall berichtet, der einer anderen 
sozialen Sphäre angehörig, nicht an die Klinik kam. 

Beobachtung XX. 

Frau N. N., von Jugend auf außergewöhnlicli lebhaft, regsam, lernbegierig, 
von einem umfassenden und gründlichen Wissen, andererseits künstlerisch reich 
begabt; führt ihren hysterischen Charakter auf einen Schreck zurück, den sie 
im 16. Lebensjahre erlitt. Sie hatte sich ohne Wissender Eltern zu Professor 
V. Seh. begeben, um diesen wegen eines kleinen Leidens zu konsultieren. Un- 
vermittelt wurde die junge Dame durch die Mitteilung überrascht, daß sie 
herzkrank sei. Noch jetzt — es sind seither mehr als 16 Jahre verflossen, 
ohne daß irgendwelche Störungen von selten des Herzens vorliegen würden 
— gerät Patientin bei Reproduktion dieser Szene in lebhaften Affekt, der sich 
bis zu Tränenausbrtichen steigern kann; es war ihr damals, „wie wenn die 
Sonne plötzlich unterginge '^y sie weiß gar nicht, wie sie nach Hause kam. 
Immer und immer wieder bricht die Beftlrchtang eines Herzleidens durch 
und ist auf keine Weise dauernd zu beseitigen. Die Frau hat das aber bis 
zum heutigen Tage ihrer Familie gegenüber als Geheimnis bewahrt. 

Die hysterischen Stimmungsschwankungen halten sich anfangs in sehr 
mäßigen Grenzen; sie stehen auf der Grandlage eines sonnig heiteren 
Temperamentes, das zusammen mit der übergroßen Beweglichkeit eine 
chronische Hypomanie vorgetäuscht hätte. Im unmittelbaren Anschluß jedoch 
an zwei schwere Enttäuschungen brachen jedesmal mehrmonatliche melan- 
cholische Zustandsbilder aus. Und als endlich ein wirklicher Schicksalsschlag 
erfolgte, der nicht nur die Kranke, sondern auch die Familie traf, den sie als 
die Vernichtung ihrer ganzen Lebenshofifnung bezeichnete, konnte ich einen 
dritten solchen Zustand in seiner ganzen Entwicklung wie in seinem Verlaufe 
beobachten. 

Die Dame wird schlaflos, eine furchtbare Angst packt sie; sie berichtet 
über vereinzelte primitive Halluzinationen zur Nachtzeit (Glocken läuten, 
Polster fliegen durch die Luft) und binnen wenig Tagen ist das Bild einer 
schweren Melancholie da, die ansteigend, absteigend, zeitweise unterbrochen, 
andauert. Wenn jemand die Patientin nur jetzt gesehen, hätte er ohne näheren 
Einblick in die Genese des Leidens und ohne Kenntnis der Persönlichkeit 
unzweifelhaft Melancholie diagnostizieren müssen. Bei eingehenderer Be- 
schäftigung mit der Kranken fiel allerdings manches auf und im Rückblick 
auf die ganze abgelaufene Zeit ist unzweifelhaft, daß das Zustandsbild zur 
Hysterie gerechnet werden muß. 

Neben der tieftraurigen Verstimmung mit Einschränkung des Interessen- 
kreises wurden Selbstanklagen laut, die sich bis zu SelbstbeschimpAing und 



107 

Wüten gegen die eigene Person steigerten. Patientin überströmte in Worten 
und Schilderungen ihres Elends; sie gab sich in ganz wahnhafter Weise 
Schuld an einem Elementarereignis, das dem menschlichen Willen durchaus 
entrückt ist und war, trotz ihrer sonst außerordentlichen Intelligenz und 
Klarheit jeder Korrektur unzugänglich. Man hatte den Eindruck, daß ihr diese 
Selbstvorwürfe Erleichterung schafften. Sie wiederholte dieselben unzählige 
Male, schnitt jede Diskussion dadurch ab, um nur ja sich selbst zu überzeugen, 
ihre eigene Kritik niederzuhalten. Am schlimmsten war es, wenn man die 
Kranke allein ließ und in den Nächten; bezeichnend hingegen, daß man Patientin 
durch eine Reise, durch irgendwelche neue Eindrücke ablenken und ganz 
verwandeln konnte. Sie benahm sich dann wie in gesunden Tagen, brachte 
den Dingen wieder Interesse entgegen. Schließlich traten die schweren depressiven 
Verstimmungen ausgeprägt anfallsweise auf. Schlechtere Tage wechselten mit 
besseren, aber immer bestand großes Bedürfnis nach Aussprache und Trost. 
Ich erlaube mir, mit Hinweglassung persönlicher Stellen einiges aus einem 
Briefe dieser Zeit wiederzugeben: 

„Die heutige Nacht war wieder schrecklich; aller Mut, alle Zuversicht 
sind fort, ich sehe alles schwarz, mich für das Ijeben nervös. Die Schlaf- 
losigkeit ist wohl das Ärgste, was es überhaupt nur gibt ; dann wieder derselbe 
circulus vitiosus der Gedanken. — Es ist oft wirklich zum Verrücktwerden . . . 
Dabei grolle ich mir selbst, daß ich so gar keine Selbstbeherrschung besitze 
und diesen nervösen Anfällen ganz machtlos gegenüberstehe. Bei Tage ist 
es etwas anderes, da hat man Ablenkung, aber die Nacht, die so lange wird! 
Ich nehme schließlich doch Brom, aber es nützt nichts mehr. Dabei reißt es 
mich mit dämonischer Gewalt zu einem neuen Versuche; ich glaube, ich werde 
nicht eher ruhig sein, ehe ich nicht entschlossen bin, denselben zu unter- 
nehmen; andererseits habe ich Angst davor, daß mir die Haare zu Berge stehen! 
Ich bin nicht ganz beisammen, in keiner W^eise . . . Die Selbstvorwürfe, die 
ich mir noch obendrein mache, die sich stets darauf beziehen, daß ich mir 
Versäumnis aufdisputiere . . . 

Verzeihung, daß ich Sie mit diesen Lamentationen quäle. Für sie hat 
es ja wissenschaftliches Interesse und mir erleichtert es ein wenig das Herz. 
Ach, wann werde ich wieder froh und gesund sein, wie früher? Sie werden 
sagen, es sei hauptsächlich meine eigene Schuld; ja, aber ich kann mir nicht 
immer helfen. Diese Nächte werde ich wahrlich nie vergessen, das stunden- 
lange Alleinliegen, das Schlafbedürfnis und die Unfähigkeit auszuruhen und 
einzuschlafen! Ob es wirkliche oder eingebildete Leiden sind; es ist etwas 
Furchtbares und dabei weiß ich, daß es eine Sünde ist, sich zu kränken, daß 
meine unglückselige fixe Idee daran schuld ist und die Einbildung, wenn alles 
geklappt hätte, so wäre die Sache nach Wunsch ausgefallen. Und mit all dem 
mache ich nicht nur mich unglücklich und nervös, sondern auch jemanden 
anderen, der es wahrlich nicht um mich verdient hat. Ich glaube, ich halte 
es heute nicht aus . . . ^ 

Dieser Brief, welcher flott und in einem Zuge geschrieben ist, schildert 
so recht den Seelenzustand, in dem das gesunde ^^Ich'' eigentlich das kranke 
beobachtet, kritisiert, zum Teil ganz treffend beurteilt: wiederum eine Spaltung 
der Persönlichkeit. Der Brief allein dürfte für die hysterische Natur des ganzen 
beweisend sein; ebenso beweisend sind aber die zahlreichen Widersprüche im 
Krankheitsbilde. Patientin verständigte Arzt und Familie davon, daß sie sich 
einen Strick im Kasten aufgehoben habe; sie bestimmte nach stets wieder- 
holten Suiciddrohungen endlich als Termin, um aus dem Leben zu scheiden 



108 

einen 6 Monate entfernten Tag, während ein unmittelbarer Selbstmord aus 
Rücksicht auf den ganz fremden Hotelier (Patientin weilte damals im Seebade) 
abgelehnt wurde. Die Kranke quälte den Arzt stundenlang mit der Forderung; 
er müsse sie vergiften. Unzähligemale warde die Frage gesteil t^ mit welchem 
Gifte dies geschehen würde, es solle möglichst schmerzlos sein. Es war er- 
schütternd anzusehen, wie die Patientin sich marterte, in der pessimistischen 
Schilderung der gegenwärtigen Lage übertrieb, um nur auch sich selbst ihre 
Krankheit einzureden. Ebenso klar war es aber, daß die Patientin selbst gerne 
anders gewollt hätte, daß sie ein heißes Verlangen nach Gesundheit und Glück 
kaum unterdrücken konnte; kein Zweifel, daß sie selbst furchtbar unter dem 
Schicksalsschlage litt, nur widerwillig dem Zwange sich beugte. Da sie 
den Überfluß an Unlustgefühlen allein zu verarbeiten nicht imstande war, 
mußte sie denselben auf die Umgebung ableiten. Im Kampfe mit dem Schick- 
sale hatte sie den Kürzeren gezogen; als der unterlegene Teil wütet sie blind 
gegen sich, da ihr der Gegner nicht standhält. 

Wie schon angedeutet, Ortswechsel, Beschäftigung, psychische Behand- 
lung waren immer von bestem Einfluß und schließlich erfolgte durch An- 
regung gesunder Vorstellungsgruppen ganz unvermittelt die Genesung respektive 
der Übergang zum habituellen Zustand großer geistiger Regsamkeit. Aller- 
dings ist ein guter Teil der früheren Heiterkeit wohl für immer dahin. 
Scheinbar spontan, in Wirklichkeit durch Erinnerungen, ebenso durch äußere 
Anlässe, können flüchtige Depressionen jederzeit ausgelöst werden. Trotz der 
mangelhaften Nahrungsaufnahme — Patientin ließ sich zum Essen sehr zu- 
reden — waren die körperlichen Störungen außerordentlich gering. 

Es sei ausdrücklich bemerkt, daß in diesem Falle körperliche Stigmen, 
ebenso konvulsive Elemente vollkommen fehlten. Hysterischer Charakter und 
Suggestibilität begründen die Diagnose; der Verlauf bestätigt sie. Deutlich ist 
zu verfolgen, wie die Erkrankung unmittelbar aus der Persönlichkeit heraus- 
wächst, nur eine pathologische Reaktion auf einen Affektchock darstellt. Dabei 
bleibt die Patientin auf demselben ethisch hohen Niveau, das sie auch sonst 
einnimmt; voll Rücksicht auf ihre Umgebung, leidet sie selbst wohl am meisten. 

In der Regel macht es aber den Eindruck, als ob die hysterischen 
Depressionszustände ihren Trägerinnen gar nicht nahe gehen w^ürden. 
Der schreiende Widerspruch zwischen dem bequemen, faulen oder gar 
kriminellen Verhalten und der nur mit Worten, speziell dem Arzte 
gegenüber geäußerten Melancholie ist es, der zur richtigen Diagnose ver- 
hilft. Dieselbe ist schon leichter in dem folgenden Falle, der in jeder 
Beziehung einen Gegensatz zu dem früheren bildet. 

Beobachtung XXI. 

Rosa K., 22 Jahre, ledig, katholisch, Bonne, wird am 

20. März 1908 früh durch einen Polizeiagenten zum Amte gestellt, weil 
sie sich des abends zuvor unter falschem Namen mit einem unbekannj:en 
Herrn in einem Hotel ganz an der Peripherie der Stadt einlogiert hatte. Es 
schien sich um eine nicht konzessionierte Prostituierte zu handeln. Sie 
verweigert die Angabe ihres Namens, macht sich mit einer Korrespondenz- 
karte zu schaffen — es heißt, daß Patientin dieselbe vernichten wollte — 
welche sie, dem Aussehen nach, vielleicht schon Wochen bei sich getragen 
haben mußte. Diese Karte enthält ihren vollen richtigen Namen, ihre Adresse, 



109 

ebenso die Personalien ihrer Schwester und ihrer Eltern: die vollständigste 
Legitimation^ die man sich nur za denken vermag; dieselbe kann zum Abschicken 
nicht bestimmt gewesen sein, denn sie ist auch an der Adreßseite kreuz und 
quer mit Text überschrieben. Es heißt da: ^Bitte, meinen Eltern zu tele- 
graphieren und meiner Schwester auch; denn ich war unglücklich auf der 
Welt; darum wollte ich ein Ende machen; liebe Eltern, verzeiht mir das, was 
ich mir angetan habe, ja; lebt alle wohl auf Nimmersehen!!! Ich bin nicht 
recht bei Sinnen, lebt wohl auf Nimmersehen!!! Ich war nicht recht gescheit, 
verzeihet mir!" Außerdem noch eine Menge Verfügungen über ihre Sachen. 
Patientin nennt auch jetzt noch ihren Namen nicht, behauptet, diese Karte, 
nicht geschrieben zu haben; sie leugnet, Geld zu besitzen, doch wird bei der 
Leibesvisitation solches gefunden, das sie sehr lebhaft zu verbergen bestrebt ist 
und das augenscheinlich in der eben abgelaufenen Nacht verdient worden war. 
Dem Polizeiarzte gibt sie zögernd ihre richtigen Generalien an, verweigert 
aber jede weitere Auskunft. 

Zur Anamnese: Ein älterer Bruder wurde vor 3 Jahren geisteskrank, 
starb in der Irrenanstalt. Seit 5 — 6 Jahren klage Patientin über Kopfschmerzen, 
besonders bei Aufregung, sei jähzornig, reizbar, verlogen. Vor 2 Jahren * ein 
Verhältnis mit einem jungen Mann, das dieser nach 5 Monaten löste; doch 
habe die Kranke darüber sich nicht sonderlich alteriert. Seit einem Monat, 
nach einem Ausflug auf den Semmering, sprach sie unaufhörlich von heftigen 
Kopfschmerzen, von Selbstmord, machte aber nie den leisesten Versuch; im 
Gegenteile versichert die Schwester, daß Patientin trotz des geklagten Kopf- 
schmerzes ganz heiter, vergnügungssüchtig war. 

Bei Ankunft an der Klinik betrachtet die Kranke ihre Umgebung mit 
aufmerksamen Blicken, gibt aber auf Fragen kaum eine Antwort: „Sie wisse 
nicht, wie sie hereingekommen sei.^ Gegen körperliche Untersuchung abweisend. 

Bei einem unvermuteten Rundgange wird Patientin in lebhafter Unter- 
haltung mit zwei Degenerierten angetroffen; sie verstummt sofort. 

21. März. Vormittags visite: Ängstliches, verlegenes Wesen, sehr zurück- 
haltend in ihren Antworten, örtlich und zeitlich orientiert. Seit 14 Tagen habe 
sie Suicidabsichten, doch bestätigt sie, bis jetzt keinen Versuch gemacht zu 
haben; schüttelt, wie verständnislos den Kopf, wenn man die nächtliche Affare 
berührt. 

Nachmittagsexamen: Patientin geriert sich leidend, klagt über Kopf- 
schmerzen, die sie „seit jeher" habe. Schilderung derselben nach keiner 
Richtung typisch; die Kranke benutzt dabei Suggestivfragen, erklärt dann, seit 
Jänner hätte die Cephalaea immer mehr zugenommen; sie, die fiiiher sehr 
lebenslustig gewesen, sei seither ganz trübsinnig, es freue sie nichts mehr. 
Patientin fragt den Arzt, ob sie kopfkrank sei, klagt über Schlaflosigkeit, 
negiert Anfälle. Über ihr Verhalten gibt sie unaufrichtige widersprechende 
Auskünfte. Intelligenz entsprechend trotz mangelhaften Schulerfolges. — Gynäko- 
logischer Befund: Hymen defloriert. Gonorrhöe ascendens. 

23. März. Bei dem heutigen ausfahrlichen Examen ist Patientin sehr 
gehemmt, antwortet auf alle Fragen zwar richtig, aber erst nach langem 
Zögern, muß immer wieder stimuliert werden. Sie läßt sich zu dem Geständnis 
herbei; daß sie fast keine Posten hatte, redet sich darauf aus, daß sie ja 
krank war; über die letzten Ereignisse will sie nicht sprechen, sie erinnere 
sich nicht. Zur Vorgeschichte erzählt Patientin immer in gleicher Verstimmung 
und Hemmung, daß sie im Alter von 18 Jahren nach Wien kam, hier einen 
Postbeamten kennen lernte, mit dem sie durch 8 Monate ^^ging^. über ihr 



110 

Sexualleben befragt; verwickelt sie sich in die schreiendsten Widersprüche, 
will trotz aller Vorhalte glauben machen^ daß sie auch jetzt noch Jungfrau 
sei; sie müßte betäubt worden sein, wenn sie sich ja einmal vergessen haben 
sollte. Sie blickt träumensch vor sich hin, ist dabei außerordentlich aufmerksam 
auf die Umgebung, fixiert jeden Schatten am Fenster, meidet aber den Blick 
des Arztes, erklärt, eine unbequeme Frage im nächsten Moment schon ver- 
gessen zu haben, antwortet ausweichend, unmöglich, schwört aber, die Wahr- 
heit zu sprechen. Sie tut ganz entrüstet, als man ihr Lügen nachweist. 

29. März. Beschäftigt sich mit Lektüre, steht oft in der Türe, wenn 
es irgend etwas zu sehen gibt. Der Visite gegenüber zu Bett, immer gehemmt 
and verstimmt, äußert andauernd Taedinm vitae. Sie wird am 

31. März ihren Angehörigen übergeben. 

Hier wird der Lebensüberdruß in einer Weise zur Schau getragen, die 
nicht ernst genommen werden kann. Patientin präpariert eine Korrespondenz- 
karte, auf der sie sich selbst als geisteskrank bezeichnet, sie nimmt von 
allen auf Nimmerwiedersehen Abschied, läßt sich aber — wie oft, wurde nicht 
festgestellt — von fremden Herren auf der Gasse ansprechen und ins Hotel 
führen. Die hysterische Verlogenheit steht jederzeit obenan; die traurige Ver- 
stimmung und Hemmung der Melancholie wird nur der Familie und der ärztlichen 
Visite gegenüber festgehalten, dient gewissermaßen als Vorwand zum Nichtstun. 
Der Arzt, welcher die Kranke nur vorübergehend sieht und von der Vor- 
geschichte nichts weiß, müßte Melancholie diagnostizieren, um so mehr als eine 
hier nachweisbare Ovarie, durch eine Genitalaffektion vorgetäuscht, den Wert 
eines Stigma nicht beanspruchen konnte. 

Angeschlossen sei ein Fall, welcher zu Bildern hinüberleitet, die 
im folgenden besprochen werden sollen. 

Beobachtung XXIL 

Cäcilia Seh., geb. 1882, katholisch, ledig, Dienstmädchen, wurde mit 
dem Sanitätswagen zum Amte gebracht. Sie befindet sich in so hochgradiger 
motorischer Erregung, daß man ihr die Zwangsjacke anlegen muß; sie reagiert 
auf keine der an sie gestellten Fragen. Auf der Tragbahre wirft sie sich 
herum, stöhnt unaufhörlich, bringt nur die Worte hervor: „Ich muß sterben.*' 

An die Klinik kommt Patientin ruhig; sie blickt unverwandt vor 
sich hin, zeigt einen leichten Schütteltremor der Hände und des rechten Beines. 
Auf Fragen antwortet sie passend, nur etwas zurückhaltend, sehr leise, monoton, 
interesselos. Die Örtlichkeit erkenne sie nicht. Sie erzählt, daß sie in der 
vergangenen Nacht nichts geschlafen habe, ängstlich gewesen sei; es gehe ihr 
nahe, daß die Eltern sie nicht mögen. Heute früh verrichtete sie noch ihre 
Arbeit, setzte sich dann tief verstimmt in ihr Zimmer. Über die weiteren 
Vorgänge, ihre Einbringung, wisse sie gar nichts; als sie zu sich kam, sei 
sie hier gewesen. Die Ejranke klagt über Kopfschmerz und Aufregung; seit 
sie in Wien im Dienste sei, freue sie nichts mehr, sie hatte oft schon Selbst- 
mordideen. Patientin schildert sich überhaupt als sehr verdrießlich, erregbar; 
seit zwei Jahren habe sie Ohnmachtsanfälle, offc von V^^^^^^^S^^ Dauer. — 
Nach Schwinden des Schütteins dauert in der rechten Hand ein feinschlägiger 
frequenter Tremor nach. , 

Zur Anamnese wird noch folgendes erhoben: Heuer zu Neujahr schrieb 
die Kranke einen Brief nach Hause, sie müsse sich soviel kränken und sei in 



111 

großer Aufregung, da sie von ihrer Dienstfrau ungerecliterweise der Ver- 
untreuung einer Krone beschuldigt werde. Diese Dame teilt hingegen mit, 
daß sie mit der Patientin stets außerordentlich zufrieden war; nur habe es 
in der letzten Zeit wegen eines Liebeshandels starke Aufregungen gegeben. 

9. Jänner 1901. Mißgestimmt, läßt den Arzt ganz unbeachtet, erkundigt 
sich nicht nach ihrer Situation, äußert keinen Wunsch betreffs der Zukunft. 
Nachts wälzt Patientin sich heftig im Bette herum. 

10. Jänner. Andauernd moros, bricht aaf die Frage nach dem Grunde 
ihrer Verstimmung in Tränen aus, gibt zur Antwort, daß die Mutter sie nicht 
gern habe. 

12. Jänner. Schimpft vor sich hin; anderemale weint und schluchzt sie, 
äußert Lebensüberdruß. Am 

15. Jänner kommt Patientin in die Irrenanstalt. Sie erscheint stark 
gehemmt, schwer besinnlich, wie traumhaft verloren; dabei ist der Gesichts- 
ausdruck mürrisch. Auf alle Fragen erfolgt nur ein stereotypes: ^Ich weiß 
nicht.^ Nicht einmal ihre Generalien vermag die Kranke anzugeben. Sie nimmt 
mit Nachhilfe genügend Nahrung, sitzt den ganzen Tag teilnahmslos auf einem 
Fleck, schläft nachts gut. — Allgemeine hochgradige Hypalgesie; in der 
Muskulatur keine Spannungszustände. 

16. Jänner. Auch heute beantwortet Patientin die meisten Fragen mit: 
„Ich weiß nicht^, behauptet dann hier bei ihrer Großmutter zu sein, erinnert 
sich nicht, daß sie zuletzt bei einer Frau F. in Dienst stand. Sie kenne gar 
keine Frau dieses Namens. Von Ohnmachts- oder Krampfanfällen will sie 
gleichfalls nichts wissen. Einfache Aufforderungen befolgt sie, wenn auch 
zögernd; auf Nadelstiche reagiert sie gar nicht; einmal huscht während der 
Untersuchung ein flüchtiges Lächeln über ihre Züge. — Kalte cyanotische Hände. 

23. Jänner. Ein Anfall. Die Kranke stürzt zusammen, verdreht die Augen 
nach rechts; keine Zackungen. Dauer etwa V^ Stunde. 

2. Februar. Die ganze Zeit über liegt Patientin zu Bette; sie weint viel, 
klagt, daß sie sich schlecht fühle. 

4. Februar. Seit gestern spricht die Kranke spontan. Sie weiß nicht, 
wie lange sie hier ist, wie sie hereinkam, wo sie vorher, wo sie bedienstet 
war; sie erinnert sich nicht, die Ärzte schon gesehen zu haben; sie konnte 
nicht sprechen. Jetzt sei ihr im Kopfe leichter. — Ovarie; ebenso ein Druck- 
punkt in der Herzgrube nachweisbar. 

5. Februar. Klage über Kopfschmerzen. 

6. Februar früh Anfall; Zusammenstürzen, tonische Spannung. 
20. Februar. Ein gleicher Anfall. 

24. Februar. Klagt über Schwindel und Kopfschmerzen. 

25. Februar. Setzt heute allen Fragen absoluten Mutazismus entgegen; 
weint bitterlich. Analgesie. 

26. Februar. Ganz klar, erinnert sich an kein Ereignis des gestrigen 
Tages, weiß aber, daß sie seit ungefähr einem Monat hier sei, früher bei 
Frau F. in Dienst stand. 

27. Februar. Im unmittelbaren Anschlüsse an eine Erregung Weinkrampf 
und symmetrisch tonische Krämpfe in den oberen Extremitäten. Die Pupillen 
weit, reagieren gut. 

2. März. Wiederholt Erbrechen. 

14. März. Seit dem letzten Anfalle absoluter Mutazismus. 

23. März. Liegt mit geschlossenen Augen dahin, atmet stertorös, reagiert 



112 

auf keinerlei Reize. Puls klein, frequent; Blutdruck 90 mm Quecksilber. Bei 
Druck auf die Bulbi vertieft sich die Atmung etwas. 

1. April. Andauernd stumm, bringt ihre Wünsche nur brieflich vor, 
spricht auch bei Besuchen ihrer Angehörigen nichts; beschäftigt sich aber mit 
Handarbeit. Innige Freundschaft mit einer hysterischen Kranken derselben 
Abteilung. 

19. April. Patientin, die bisher den Ärzten gegenüber trotzig und ab- 
weisend war, beginnt plötzlich wieder spontan zu sprechen, zeigt auch mimisch 
einen ganz anderen Ausdruck. Sie berichtet, daß sie die Zeit über nicht 
sprechen konnte. Sie sei früher über alles aufgeregt gewesen, jetzt aber schon 
ruhig. Amnesie für die Zeit ihres Dienstes bei Frau F., für die Internierung 
und die letzten Wochen. 

2. Juni. Dauernd geordnet, freundlich, arbeitet sehr fleißig, äußert 
Krankheitseinsicht; doch besteht Amnesie in dem eben bezeichneten Umfange 
sowie Hypalgesie fort. Am 

10. Juni wird Patientin geheilt entlassen. 

Eine Fülle von hysterischen Einzelheiten, obenan Anfalle sowie um- 
schriebene Amnesien speziell für alles, was der Patientin unangenehm ist und 
für Krankheitssymptome, so daß an der Diagnose nicht gezweifelt werden 
kann. Auch der hysterische Charakter ist deutlich genug. Bemerkenswert 
scheint, daß der Liebeskummer den Eltern gegenüber in einen Diebstahlsvor- 
wurf sich verkleidet; die Ärzte hingegen will sie glauben machen, sie kränke 
sich über mangelnde Liebe seitens der Eltern. Die depressive Verstimmung 
mit Reizbarkeit untermischt, tritt in Anfällen auf, könnte eine periodische 
Geistesstörung vortäuschen. Der Mutazismus, durch rudimentäre Dämmer- 
zustände eingeleitet, bildet eine Komplikation; er entspricht nur zum Teile 
der Hemmung des Depressionszustandes, macht vielmehr einen selbständigen 
Eindruck. 

Der eben vorgeführte Kasus gehört darum teilweise schon zu den 
Mischfällen zwischen Depression und Stupor; in fließender Reihe kommt 
man dann zu Patienten, welche in großer Apathie schluchzen, nur 
stotternde Laute hervorbringen, endlich zu Fällen, welche stumm herum- 
sitzen, die Nahrung verweigern, Kot und Urin unter sich lassen oder 
Katalepsie zeigen; dabei werden Raptus beobachtet, Verzweiflungsaus- 
brüche mit blindem Wüten gegen die eigene Person. 

Diese Stuporzustände sind als hysterisch dadurch charakterisiert, 
daß sie einen gewissen Zug der Unaufrichtigkeit tragen, daß das Ver- 
halten der Kranken sehr merklich von der jeweiligen Umgebung und 
von äußeren Eindrücken abhängt So kann dieser Stupor gelegentlich, 
wenn der Kranke unbeobachtet ist, verschwinden, oder der Patient 
macht sichs überhaupt bequem und hält die Gliedmaßen in einer ange- 
nehmen Stellung fest. Die vegetativen Funktionen brauchen nicht gestört 
zu sein. Solche Kranke essen im hysterischen Stupor mit gutem Appetit, 
halten sich, was besonders auffällt, sauber. Die Schmerzempfindlichkeit 
und die Reaktion auf schmerzhafte Eingriffe ist nicht immer völlig auf- 
gehoben. Diese Psychosen dauern Stunden bis Monate; in kriminellen 



113 

Fällen pflegen sie zu verschwinden, wenn das Individaam eingesehen 
hat, daß es durch seine Krankheit nichts erreicht. Auch sonst gelingt 
es therapeutisch einzugreifen, das Zustandsbild wenigstens zu ändern. 
Allerlei Zwischenformen fbhren zu den übrigen akuten Geistesstörungen 
der Hysterie hinüber. 

Von Fällen der letzten Zeit wäre folgender hier einzureihen. 

Beobachtung XXIII. 

Marie K., 23 Jahre, katholisch; ledig, Magd, kommt am 19. März 1903 an die 
Klinik. 

Das Parere lautet: Patientin versuchte heute nach einem Wortwechsel 
mit ihrem Geliebten vom Fenster des dritten Stockwerkes auf die Straße zu 
springen, wurde jedoch rechtzeitig daran gehindert. Vor 14 Tagen ein gleicher 
Versuch. Sie liegt bewußtlos auf der Tragbahre, reagiert weder auf Anruf, 
noch auf Berührung. 

20. März. Die Kranke hat spontan eine etwas auffallende Lage eingenommen: 
sie hält die beiden Arme gestreckt, symmetrisch, nicht ganz im rechten Winkel 
vom Stamme ab. Man könnte glauben, sie wolle die Haltung einer Gekreuzigten 
nachahmen. Da aber das Bett zu schmal ist, hat sie den rechten Winkel 
zwischen Rumpf und oberen Extremitäten gerade nur um so viel vermindert, 
daß die Arme, größtenteils unterstützt, bequem und schmerzlos auf der weichen 
Unterlage aufruhen. Sie ist anscheinend tief komatös. Bei schmerzhaften Reizen 
röten sich lebhaft die Wangen, es erfolgt aber keine Reaktion, weder Sprach- 
noch Abwehrbewegungen. Man kann bei den Brustwarzen Hautfklten mit 
einer Nadel ganz durchstechen, ohne daß die Patientin auch nur mit den 
Wimpern zucken würde. Der erhobene Arm sinkt schlaff in die frühere 
Stellung herab; wenn man den Oberkörper erhebt und die unterstützende 
Hand wegzieht, fällt die Kranke zurück, das Hinterhaupt bohrt sich in die 
Kissen; Patientin verharrt in dieser passiven Lage. An den Stellen, wo Haut- 
falten durchstochen wurden, haben sich isoliert Urticaria-Quaddeln gebildet. 

Patientin wird nun faradisiert (Pinsel). Zu Beginn der Prozedur liegt sie 
noch in der letztbeschriebenen Stellung, wie ein Kadaver. Sofort nach 
Anwendung stärkerer Ströme kommt etwas Leben in den Körper; sie macht 
Flnchtbewegungen, erst langsam, dann immer lebhafter und nachdrücklicher; 
sie öffnet den Mund, beginnt zu sprechen, indem sie in leisem, klagendem 
Tone um Hilfe bittet; sie beantwortet ein paar Orientierungsfragen, steht endlich 
über Befehl auf, geht ein paar Schritte mit langsam schlürfendem Gang. Dann 
legt sie sich wieder zu Bett; anscheinend erschöpft, läßt sie sich in Rücken- 
lage willenlos zurücksinken. 

Nachmittags. Patientin spricht, zunächst nur polnisch, läßt erst über 
dringenden Zuspruch deutsche Worte hören; sie bestätigt die Daten des Parere, 
ist aber amnestisch vom Augenblicke der Suicidabsicht bis heute Vormittag. 

Hier war die Diagnose schon vor der therapeutischen Einwirkung zu 
stellen. Die anscheinend gesunde Person versinkt nach einer Aufregung 
plötzlich in einen Zustand von Scheintod. Der hysterische Affekt hat seine 
Form geändert; zuerst Selbstmordversuch, natürlich in Gegenwart von Personen, 
dann Krankheit. An der Klinik fällt ein Widerspruch auf. Patientin liegt im 
tiefsten Koma dahin, aber mit frischer, roter Gesichtsfarbe. Bewußtlose Kranke 
haben die Arme, wenn die Wärterinnen unachtsam sind, teilweise unter ihrem 

Raimann, Die hysterischen Geistesstörungen. o 



114 

Körper, soDst aber an den Körper angeschlossen. Die Hvsterica bringt die 
Extremitäten in eine sonderbare^ man möchte sagen, affektierte Stellung. Sie 
erscheint gegen Nadelstiche vollkommen unempfindlich, nicht so gegen den 
faradischen Strom: eine Beobachtung, die sich immer wieder bestätigt. 
Die Willensenergie, die man nötig hat, um die Reaktion auf einen Nadelstich 
zu unterdrücken, ist eine relativ geringe. Unangenehmer hingegen ist längere 
Einwirkung eines faradischen Pinsels. Die Hysterischen sind durch die schmerz- 
haftere Prozedur, die doch ihrer Analgesie entsprechend fQr sie auch nicht 
schmerzhaft sein sollte, viel eher zu beeinflussen; es wird diese merkwürdige 
Tatsache zu Schlußfolgerungen im V. Kapitel Anlaß geben. Wenn die Er- 
krankung keine sehr schwere ist, so sieht man, wie auch im vorliegenden 
Falle, einen sofortigen Erfolg. 

In naber Verwandtschaft mit den Stuporzuständen stehen jene Formen 
hysterischer Geistesstörung, die als Schlafanfälle, von den Franzosen 
als Attaques de sommeil bezeichnet werden. Es ist wohl nur eine Kon- 
struktion, wenn man sie aus der Resolution nach dem Anfalle erklärt 
Sie kommen zwar im Anschlüsse an einen Paroxysmus, aber auch selbst- 
ständig vor, wären dann als Äquivalent zu betrachten. 

Der Beginn ist verschieden, entweder plötzlich — der Kranke 
stürzt zusammen, wie vom Blitze getroiFen — die sogenannte Forme 
apoplectique, oder das Individuum, das eben noch im Gespräche war, 
verstummt, sinkt nach vorn über; manchmal schläft der Patient mitten 
in seiner Beschäftigung ein, bleibt stehen oder sitzen (Forme narcoleptique ). 
In der Regel sind Vorsymptome zu erkennen. Schwere, Eingenom- 
menheit des Kopfes, Kopfschmerz, Übelkeit, Schwäche, Schwarzwerden 
vor den Augen, Mißstimmung, Gereiztheit, Trauer oder unbändige Heiter- 
keit, Gesichtstäuschungen; der Kranke läßt alles aus der Hand fallen, 
wird schläfrig und schläft ein. Der Wille scheint nur einen beschränkten 
Einfluß auf die Coupierung des Paroxysmus zu haben. Manchmal ist ea 
auch durch energische Prozeduren nicht gelungen, den Schlaf zu unter- 
drücken. So hat Pitres in einem Fall Brechmittel, körperliche Bewegung, 
Duschen vergebens versucht, nur Kompression der linken Ovarialgegend 
wirkte in diesem Sinne. 

Die Schlafanfälle dauern einzelne Sekunden bis Stunden. Das 
Individuum kann aber auch durch Tage, Wochen oder selbst Monate in 
tiefem Schlafe liegen. (Lethargische Form der großen Schlafsucht.) In 
der Literatur sind Fälle von jahrelanger Dauer verzeichnet, doch ist die 
Frage gestattet, ob es sich da nicht um Katatoniker gehandelt habe; 
ein differentialdiagnostisches Problem, das erst neuerer Zeit in aussichts- 
voller Weise angegangen werden könnte. Recht bedeutungslos erscheint 
hingegen die Tatsache, daß in den länger dauernden hysterischen Schlaf- 
anfällen auch eine Albgrenzung vom hysterischen Stupor anmöglich wird. 
Die Benennung als Schlafanfall hält sich an etwas Äußerliches; die 
vorherrschende Passivität und Mnskelerschlaffung dieser Kranken erweckt 



115 

den Eindruck von Schlafenden; nicht selten findet man aber auch Kata- 
lepsie, wie bei Stuporzuständen; endlich können an einem und demselben 
Patienten Attaken verschiedenen Gepräges sowie Mischformen zwischen 
Krampf-, Hemmungs- und Lähmungszuständen beobachtet werden. Bei 
der Wesensgleichheit dieser hysterischen Psychosen ist Vereinfachung 
der Nomenklatur dringend geboten; namentlich möge man darauf ver- 
zichten, kombinierte Krankheitsformen aufzustellen. 

Der Schlaf ist entweder ganz leicht oder so tief, daß man von 
hysterischem Scheintod gesprochen und allen Ernstes differentialdiagno- 
stische Behelfe gegenüber dem wirklichen Tode aufstellen zu müssen 
glaubte. Im ersten Falle genügt oft Bespritzen des Gesichtes mit kaltem 
Wasser, um den Anfall zu unterbrechen; in den schwereren ist auf keinerlei 
Weise Erwachen zu erzwingen. Häufig folgen viele kurze Anfälle, bis 
zweihundert in vierundzwanzig Stunden rasch aufeinander. Dauern die 
Anfälle länger, dann liegt die Ernährung darnieder, die Ausscheidungen 
sind entsprechend vermindert. 

Einem mittelschweren Grade der Erkrankung entspricht ungefähr 
folgendes Bild: Patient liegt da mit oberflächlicher, nicht schnarchender 
Atmung; die Gesichtsfarbe ist normal, vielleicht etwas blaß, anderemale 
beobachtet man Rötung der Wangen und Ohren. Die Glieder sind kalt, 
cyanotisch, in typischen Fällen erschlafft. Die Augenlider flimmern. Die 
Sehnenreflexe sind normal oder gesteigert, die Sensibilität gewöhnlich 
aufgehoben, soweit, daß alle Haut- und Schleimhautreflexe fehlen. Doch 
verunreinigen sich die Kranken nie; sie entleeren ructus. Die hystero- 
genen Zonen verhalten sich verschieden; es kann gelingen, die Kranken 
von hier aus zu erwecken, so daß sie Nahrung zu sich nehmen, dann 
aber weiterschlafen. Gelegentlich helfen auch Krampfanfälle im Verlaufe 
des Lethargus zur Diagnose mit. Der Bewußtseinszustand wechselt. Manch- 
mal besteht absolute Bewußtlosigkeit, anderemale die sogenannte Lethargie 
lucide. Die Kranken hören, was um sie vorgeht, ja es scheinen Gehörs- 
und Geruchsvermögen verschärft; es erfolgen zweckmäßige Reaktionen 
auf halb bewußte Schmerzen, Wechsel der Lage; die Kranken erinnern 
sich später an alles. Außerdem wird ein Bewußtseinszustand geschaffen 
durch Träume und Sinnestäuschungen. Die Patienten murmeln einzelne 
Worte, wenden sich nach einer Seite, schlafen weiter; oder man findet 
als Ausdruck der psychischen Vorgänge allerlei Ausdrucksbewegungen, 
wie Grüßen, Hilferufen etc. In zwei Fällen Löwenfelds traten gegen 
Ende des Anfalles Delirien auf; der eine Patient sprach vernünftig über 
Alltagsereignisse, der andere hatte melancholische oder heitere, von außen 
nicht zu beeinflussende Delirien. 

Die Kranken erwachen wie aus normalem Schlafe oder mit einem 
Krampfanfalle. Nach dem Aufhören eines Lethargus, besonders eines län- 
geren, hört man Klagen über Müdigkeit, Kopfdruck; man beobachtet aber 

8* 



116 

auch psychische Störungen, Erinnerungsfälschungen, Pseudodemenz und 
ziemlich regelmäßige Amnesie, wenn auch keine völlige. Die hysterische 
Natur der Störung bestätigen Patienten, welche ohne den mindesten 
Schaden an ihrer geistigen Gesundheit tausende solcher Anfälle durch- 
machen. 

An die Klinik kam ein hochkomplizierter Fall von hysterischer 
Geistesstörung, bei welchem im Anschlüsse an die eingeleitete hypnotische 
Behandlung Schlafanfälle auftraten mit Reproduktion von Erinnerungen 
und einem lebhaften Rapport zur Umgebung. Da auch dieser Kasus einen 
Übergang zum folgenden vermittelt, mag er hier wiedergegeben werden, 
obzwar der Charakter der Psychose, im ganzen genommen, seine Ein- 
reihung an späterer Stelle erfordern würde. 

Beobachtung XXIV. 

Mathilde II.; geboren 1871; ledig; Beamten^tochter; aufgenommen am 
7. Mai 1900. 

Schwere hereditäre Belastang: Mutter der Patientin ist hysteridch; der 
Vater nervös; zwei Geschwister starben in früher Kindheit; Bruder des Vaters 
ging an progressiver Paralyse zugrunde; andere 4 — 5 Seitenverwandte starben in 
der Irrenanstalt. 

Die Kranke selbst zeigte von Kindheit an ein eigentümliches Wesen; 
sie war reizbar, herrschsüchtig; andererseits rührselig; weinte leicht. Diese 
charakterologischen Eigenschaften traten vor zirka 10 Jahren noch auffallender 
hervor; als ein junger Mann; mit dem sie so gut wie verlobt war, sich aus 
finanziellen Gründen plötzlich zurückzog und brieflich abschrieb. Patientin 
rannte damals mit dem Kopfe gegen eine Wand. Sie wurde menschenscheu, 
wollte nicht mehr aus der Wohnung; gibt erotische Träumereien zu. Als jener 
junge Mann eine ihrer Freundinnen heiratete (Sommer 1899); setzten Gehörs- 
täuschnngen ein; Selbstmordversuch, „in Verzweiflung^ unternommen (Kaliumper- 
manganat); Nahrungsverweigerung. Dann schien der Intellekt abzusinken, Patientin 
wurde läppisch, benahm sich wie ein Kind, spielte nur mit Kindern. Ende 
Dezember 1899 Depression. Nach zwei freien Monaten setzen akut wieder 
Gehörshalluzinationen eiU; neuerlicher Selbstmordversuch; Einbringung. 

In der Anstalt ist die Kranke vollkommen klar; örtlich und zeitlieh 
orientiert; arbeitet; schläft wenig. Sie berichtet über lebhafte akustische 
Täuschungen: durch das Telephon hörte sie; der Bruder habe gestohlen; auf 
der Gasse rief man ihr Schimpfworte nach: alte Jungfer, Hure; sie hörte aber 
auch wieder, was die Familie in der Wohnung vertraulich gesprochen hatte, 
endlich Musik. Daneben besteht Beziehungswahn: Man lachte auf der Strafle 
über sie und ihre Familie. Keine Systemisierung. Krankheitsgefühl: Patientin 
glaubte wahnsinnig zu werden; schrieb auf einen Zettel; sie komme noch 
einmal in die Irrenanstalt. Mit ihrer Einbringung setzen diese Störungen 
scharf ab. Tiefe Reflexe lebhaft; Andeutung von Fußklonus. 

Im folgenden bietet die Kranke außer einer rührseligen Stimmung; großer 
Neigung zum Weinen keinerlei Symptome. Sie ist einsichtig für den größten 
Teil ihrer Halluzinationen. Bei wiederholtem Examen ergibt sich noch, daß 
die Patientin das gelöste Liebesverhältnis als Ursache ihrer Krankheit be- 
zeichnet; so wie sie davon zu sprechen beginnt; zittert sie und hat Tränen 



117 

in den Augen; sonst geordnet, wiederholt Ausgänge; am 1. Angust 1900 in 
hänsliehe Pflege entlassen. 

Sie ging aufs Land und blieb ziemlich normal bis November, aU 
sie mit der Familie in die Stadtwohnnng zurückkehrte und von dem Selbst- 
mord einer ehemaligen Mitpatientin erfuhr. Die Gehörstäusohungen traten 
wieder auf; Mitte Mai 1901 verweigerte sie die Nahrungsaufnahme (Ver- 
giftungswahn), sprach nichts, zitterte, starrte vor sich hin, bekam einen Krampf 
im Nacken; dann sprang sie auf, agierte mit den Händen, schrie verwirrtes 
Zeug, beschimpfte ihre Eltern, so daß sie am 22. Mai 1901 neuerlich ein- 
gebracht werden mußte. 

Patientin zeigt jetzt ein wesentlich anderes Zustandsbild als bei der 
ersten Aufnahme. Sie greift einzelne Worte aus den Gesprächen der Um- 
gebang auf, knüpft vielfach unsinnige Bemerkungen an: „Mein Vater ist ein 
Franzose, das ist der Mann mit dem abgehauenen Ohr, ich bin die eiserne 
Jungfrau, Hypnose ist ein Unsinn etc.^ Beim Examen ist sie örtlich voll- 
kommen, zeitlich mangelhaft orientiert; sie reimt und macht scherzhafte Be- 
merkungen auch zu den Fragen. Hyperästhesie der rechten Stirnhälfte. 

23. Mai. Vollkommen orientiert; dann aber wahnhafte Äußerungen: sie 
liege im Grabe, sei tot; reagiert auf keinerlei Reize. 

24. Mai. Etwas Krankheitseinsicht. Ganz unvermittelt tritt ein heftiger 
Angstaffekt auf; sie schreit, weil eine Mitpatientin sie fixiere, vergräbt ihr 
Gesieht in die Decke. 

Im folgenden klar, krankheitseinsichtig, doch ohne Neigung zu ge- 
selligem Verkehre. 

16. Juni. Patientiil stürzt des Nachmittags bewußtlos zusammen; ist dann 
hochgradig erregt, total verworren. 

17. Juni. Die Kranke singt, deklamiert. Nachmittags traurig, dabei 
örtlich und zeitlich orientiert. Halluziniert, daß ihrer Mutter die Augen aus- 
gestochen werden. * 

18. Juni. Zunehmend unruhig. Patientin peroriert unter lebhaften Gesti- 
kulationen mit lauter Stimme, knüpft an alle Vorgänge der Umgebung an, 
ohne ideenflüchtig zu werden. 

Im folgenden langsame Beruhigung; rascher unmotivierter Stimmungs- 
wechsel; bei vollkommener Orientierung vereinzelt wie wahnhaft klingende 
Äußerungen: „Ich bin die Kronprinzessin.^ 

6. August. Faßt die Frage eines Arztes, ob sie nicht ein Buch (zum 
Lesen) haben wolle, als Beleidigung; es sei ein „Gesundheitsbuch" gemeint. 
Eine Patientin habe sie, augenscheinlich im Auftrage des Arztes, darüber 
aufgeklärt. 

1. Oktober. Arbeitet sehr ungleichmäßig, schreibt einen Brief des In- 
haltes, daß sie im Vorgarten lauter Bekannte antreffe; überaus erregbar, zittert 
nach den Besuchen ihres Bruders am ganzen Körper. 

1. November. Ausführliches Examen: Patientin berichtet von ihren 
peinlichen häuslichen Verhältnissen. Ihre Mutter leide an Verfolgungswahn, 
trieb allen möglichen Unfug, verhängte die Fenster, war auf ihre Tochter 
eifersüchtig, ließ sie nicht zum Vater, ging gegen sie los. Im Alter von 
19/20 Jahren Absage des Verlobten. Im Sommer 1899, als jener Ungetreue 
eine andere heiratete, kamen noch weitere Widrigkeiten. Gegenüber logierte 
sich ein junger Mann ein, der ungebührliche Worte herüberrief. Wenn 
Patientin dann aus dem Hause ging, lachten die Hausleute, verspotteten sie 
mit den Ausdrücken jenes jungen Mannes. Die Kranke bleibt dabei, einzelne 



118 

Schimpfworte wirklich gehört zu haben; die anderen „Stimmen" erkennt sie 
als krankhaft an. Sie erinnert sich an alle Details ihres ersten und zweiten 
Anstaltsaufenthaltes. Bevor sie das zweite Mal eingebracht wurde und 
ebenso am 16. Juni d. J. hatte sie einen Anfall: sie konnte plötzlich nicht 
mehr sprechen^ der Kopf wurde ihr schwer und fiel zur Seite^ Hände und 
Füße wurden steif; das Bewußtsein blieb erhalten. Als Kind wiederholt 
Ohnmächten. Sowie die Rede peinliche Erinnerungen streift, vermag die 
Kranke kaum die Tränen zurückzuhalten, bebt am ganzen Körper. Sie gibt 
zu, eine sehr lebhafte Phantasie zu haben; sie träume sich auch bei Tag in 
Situationen hinein, die sie in Romanen gelesen, in Erlebnisse der eigenen Ver- 
gangenheit; doch sei sie durch angenehme Gesellschaft jederzeit herauszureißen. 
2u Visionen mit sinnlichen Qualitäten kam es aber nicht, außer im Herbste 1899, 
als sie Fieber hatte und lebhaft phantasierte. Bedeutende konzentrische 6e- 
^ichtsfeldeinschränkung. 

9. November. Patientin wird hypnotisiert, was ungemein leicht gelingt. 

10. November. Zweite Hypnose; der Schlaf wird vertieft und die Patientin 
im kataleptischen Stadium examiniert. Man erfährt wieder, daß die Kranke unter 
den Wahnideen ihrer eifersüchtigen Mutter sehr litt, um so mehr als sie sich 
beherrschen mußte; außerdem bestanden Zukunftsbefürchtungen. Sie war eine alte 
Jungfer geworden, wenn jetzt der Vater die Augen schloße, welches Los hätte 
sie zu erwarten? Auf ihre erste Enttäuschung geht sie nur nebenbei ein. In der 
Hypnose ist die Überzeugung von der Realität der Beziehungswahnideen leicht 
zu erschüttern; Patientin empfängt beruhigende Versicherungen. 

11. November. Während des Wachexamens wird die Kranke einen Augen- 
blick sich selbst überlassen; der rückkehrende Arzt findet sie mit geschlossenen 
Augen am Sessel sitzend, den Kopf stark vornübergeneigt, leise Worte vor 
sich hinmurmelnd. Auf Anrufen erwacht sie sofort, ist ganz klar. Befragt, 
was es denn gebe, erwidert sie, sie habe schon seit längerer Zeit solche Zu- 
stände von Halbschlaf; sie könne die Augen nicht aufmachen, höre aber alles, 
was um sie herum vorgehe. 

13. November. Dritte Hypnose. Dieselbe gelingt sehr leicht, gelangt 
aber nicht bis zum Stadium der Katalepsie. Patientin gerät bei Besprechung 
ihrer Vergangenheit in außergewöhnlich heftige Erregung; als der Arzt Be- 
ruhigung suggeriert, schreit die Kranke — immer noch mit geschlossenen 
Augen — laut und in heftigstem Afiekt auf: „Ich kann nicht vergessen! Sie 
haben nie jemand lieb gehabt, sonst würden Sie wissen, was das bedeutet, 
monatelang seinen Vater nicht sehen zu dürfen.^ Dabei beginnt Patientin zu 
weinen. Auf tröstlichen Zuspruch schüttelt sie nur unwillig den Kopf, läßt 
sich nur langsam und mit Mühe beruhigen. Aus der Hypnose geweckt, ist sie 
geordnet, bedankt sich und geht still ab. Des Abends jedoch im Bette beginnt 
sie zu lärmen: Sie wisse, daß ihre Mutter krank sei, sie habe sie darum doch 
gem. Der „Schuft^ dürfe sie nicht ausfragen, sie unnütz aufregen ; auf krampf- 
haftes Weinen folgt Beruhigung und Schlaf, ohne jede äußere Einwirkung. 

14. November vormittags. Sitzt über ihrer Arbeit; später schläft sie 
ein, neigt den Kopf leicht zur Seite, spricht dabei einzelne indifferente Worte 
laut vor sich hin. 

Nachmittags geordnet, in mittlerer Stimmungslage; erinnert sich, gestern 
abends auf den Arzt geschimpft zu haben. Sie sei eingeschlafen und habe 
Worte vor sich hergesagt, die zu wiederholen sie sich jetzt scheue und die 
sie lebhaft bedauere. Auch heute vormittags nickte sie wieder so ein. Sie höre 
und fühle dann alles, spreche vor sich hin, könne nur die Augen nicht auf- 



119 

machen. Sie habe heute den Arzt gesehen als Faust im Zaubermantel, doch 
ohne Farben (psychische Halluzination). 

18. November. Hin und wieder Schlafanfälle. Sprachprobe: „Der Dozent 
wird sehr krank werden; ich habe es schon im Traume gehört; ich glaube^ 
«r hat ein Gemütsleiden; hören sie zu, lassen sie ihn nicht zum Medika- 
mentenkasten. Ja, ja es ist sehr ernst^ ich werde noch lange nicht nach Hause 
kommen. Sie Dr. A. können die Patienten übernehmen. Eine Merkwürdigkeit, 
die Finger sind vollkommen ausgebildet. Es ist 11 Uhr, am besten kann es 
der Herr Professor ... es ist überhaupt mein Fehler, daß ich ihm alles ins 
Gesicht sage. Wer zuviel die Wahrheit spricht, muß deswegen eingesperrt 
sein ..." etc. 

22. November. Die Hypnosen sind eingestellt worden; die Kranke wird 
aufgefordert, sich zu beherrschen, nicht über der Arbeit einzunicken. Sie fühlt 
sich subjektiv wohl, ist in der Regel guter Laune, arbeitet mit Ausdauer. — 
Heute wieder ein Schlafanfall. Patientin sitzt mit geschlossenen Augen da, 
macht Scherze. Als die Visite kommt, erzählt sie gerade, dafi Primarius Dr. St. 
nach Mauer-Öhling versetzt werde.*) Mehr und mehr hat sich die Eigen- 
tümlichkeit herausgebildet, daß die Kranke einen Satz laut beginnt; schon 
nach den ersten Silben sinkt die Stimme, es erfolgt ein unverständliches Ge- 
murmel, schließlich sind nur noch Lippenbewegungen zu sehen. Auf die erste 
Frage erwidert sie erregt: „Fragen Sie nicht so dumm!" (Woran denken 
Sie?) ^Gedanken sind zollfrei . . . das ist eine dumme Frage . • . was ein 
Frauenzimmer denkt? Ein Frauenzimmer denkt ja nicht viel ... ich denke 
vielleicht mehr wie Sie" (lächelt dabei). Als sie geschüttelt wird, blickt Pa- 
tientin plötzlich starr in die Höhe, sieht den Arzt an, bleibt munter. Sie 
erinnert sich, gesprochen zu haben, was sie vorher las, dann (lächelnd) daß 
sie sogar ein wenig grob war. — Die Kranke zeigt eine eigentümlich fleckige 
Rötung am Halse; wird dringend ermahnt, nicht mehr untertags einzuschlafen. 

Erst Mitte Dezember in rascher Aufeinanderfolge wieder einige Auto- 
hypnosen. Die Visite trifft sie in einem solchen Zustande an. Sprachprobe: 
^Was brauche ich Deinen Dienst, was geht mich Dein Bureau an; mich hast 
Du zu besuchen. Mathilde, hast Du heute noch Stunde? (Prof.: Ja«) So, also 
bei wem denn, hinüber in die Lederergasse? (Prof.: Ja.) Sie gehen gar nicht 
mehr aus, das verbiete ich Ihnen (Prof.: Warum denn?) So, so ich werde 
Ihnen helfen ... ich möchte nur angeben daß . . . (unverständlich) . . . (Prof.: 
Was wollen sie angeben? Geben Sie nur an!) Haben Sie das schon einmal 
gesehen? (Prof.: Was?) Ich möchte nur sagen ... am Tag um diese Zeit 
(Prof.: Was geschieht um diese Zeit?) ..." — Auf Berührung wacht Patientin 
auf, versichert, es gehe ihr gut; sie ist indessen schlummersüchtig, beginnt 
sofort wieder zu schlafen; antwortet mit geschlossenen Augen. Sie weiß, daß 
der Professor an ihrer Seite steht. Als eine Nadel verlangt wird, lacht sie. 
Auf einen leichten Stich zuckt sie zusammen. Öffnet iür einen Moment die 
Augen, schließt sie aber gleich wieder. Plötzlich schreit sie laut auf: ^Herr 
Professor, berühren sie mich nicht, ich verbiete mir das . . . (leiser fortfahrend) 
Sie haben eigentlich keine Veranlassung, mich hier zu behalten. (Die Kranke 
spricht immer leiser und verliert sich in ein unverständliches Gemurmel.) Ganz 
unvermittelt ist Patientin auf einmal wach, blickt verständnisvoll vor sich hin, 
schließt aber gleich wieder die Augen. Auf Kommando macht sie im Schlafe 
eine Bewegung. — Hypnose durch Verbalsuggestion. Auf die Frage, ob sie 
schon schlafe, murmelt die Kranke zuerst, dann ruft sie laut: ^Nein!" Wieder 

♦) Eine Prophezeiung, die seither eingetroffen ist! (Anm. d. Verf.) 



120- 

Öfifnen und Schließen der Augen. Sie erinnert sich ihrer früheren Hypnosen^ 
behauptet immer viel fester geschlafen zu haben als jetzt. Patientin wird auf- 
gefordert; die Uhr anzublicken; Katalepsie erst nach dreimaligem Befehle. 
Suggestion: Sie werden untertags nicht mehr einschlafen! Stehen Sie auf! Die 
Kranke folgt erst beim fünften Male unter Nachhilfe; setzt sich gleich wieder, 
schreit heraus: „Ich will . . . ^ (Suggestion: Sie dürfeu; sie können nicht sprechen !) 
Man sieht; wie die Kranke die furchtbarste Anstrengung mapht; immer wieder 
ansetzt; aber nur einen Vokal hervorstößt. Sie springt in [die Höhe, schlägt 
endlich eine grelle Lache auf. Sie wird aufgeweckt. Patientin erklärt; sie fühle 
sich ganz wohl bis auf ein Zittern im ganzen Körper; sie lag in „gezwungenem 
Schlafe'^; erinnert sich des Auftrages aufzustehen und nichts zu sprechen. 
Sie konnte wirklich auch nicht sprechen; „nicht der Kopf; wohl aber der 
Wille war gelähmt^. — Trotz der wiederholten Ermahnung nicht einzuschlafen, 
nickt die Kranke auch in den folgenden Tagen noch einigemale ein. 

23. Dezember. Neuerlich Autohypnose. Patientin hat keine rechte Krank- 
heitseinsicht dafür; weiß auch keinen bestimmten Anlaß für den einzelnen An- 
fall. Sie erhält einen Ausgang mit ihrem Bruder; empfindet die Außenwelt 
nicht unangenehm; glaubt; sie könnte wie früher ihrer Mutter im Häuslichen 
helfen. Wenn ihre Eltern sterben; müßte sie dann eine Stelle antreten. 

3. Jänner 1902. Patientin arbeitet dauernd und fleißig; besucht den 
Vorgarten; schläft gut. 

8. Jänner. Heute nachts spricht die Kranke in französischer Sprache 
laut auf, erinnert sich des Morgens nicht mehr daran. 

16. Jänner. Bis zum heutigen Tage vollkommen geordnet. Abend» 
gibt es eine Auseinandersetzung mit einer Mitpatientin. Nachtsüber ist die 
Kranke sehr laut und störend. 

17. Jänner. Bei der Frühvisite liegt Patientin mit geschlossenen Augen 
änßerungslos zu Bett; über energischen Zuspruch beginnt sie einzelne Worte 
vor sich hinzumurmelU; die sofort ins Unhörbare verklingen. Es wird ver- 
geblich versucht, mit ihr in Rapport zu treten. Auf schmerzhafte Reize schreit 
Patientin: ^Au!^ Die Aufforderung auf 1; 2, 3 zu erwachen; bleibt wirkungs- 
los; ebenso Anblasen; Aufreißen der Augen; höchstens daß die Kranke einzelne 
Worte etwas lauter ausstößt. ^Wenn ich nicht will; so will ich nicht ^ ist 
unter dem übrigen Gemurmel deutlich zu verstehen. Als der faradische Apparat 
gebracht wird; beginnt Patientin zu raufen; die nun hervorgestoßenen Worte 
verraten volles Verständnis der Situation. Die Kranke schreit: ;,Au weh!'' öffnet 
über direkten Befehl die Augen; will sie sofort wieder schließen. Sie spricht 
die Personen ihrer Umgebung richtig aU; macht auch sonst passende 
Bemerkungen: „Sind Sie nicht so grausam!^ Aber erst beim 3. Ansetzen des 
Pinsels bleibt die Kranke ganz wach; erklärt sich bereit, aufzustehen. Dann 
erzählt sie im Zusammenhange; daß sie gestern abends grundlos beschimpft 
wurde; sie schlief ein und delirierte. Heute früh weiß sie genaU; daß die 
Visite bei ihr war; fürchtet jetzt wieder einzuschlafen; bleibt aber wach. 

28. Jänner. Patientin spricht noch immer in gewisser Erregung von 
dem Streite. Wie sie nach der Aufregung einschlafen und sprechen konnte^ 
begreift sie nicht. Bei einer anderen Person habe sie derlei Zustände nie 
beobachtet. Die Kranke erinnert sich genau an den Inhalt des Gesprochenen, 
unverständlich Gebliebenen; sie hielt eine Vorlesung über hysterische Schlaf- 
zustände. Lebhafte Zuckungen im Gesicht; die Augen schwimmen. Am 

27. und 28. Jänner je eine Autohypnose; Patientin spricht von der 
Abreise eines Onkels. 



121 

15. Februar früh wieder ein Schlafzustand, der durch Faradifiieren 
kaum zu coupieren ist; die Krauke erhält dann ein kühles Halbbad^ schimpft, 
wird aber ruhig, nachdem sie zu Bett gebracht worden ist. Am 

5. März wird Patientin in der Vorlesung vorgestellt. Einfaches An- 
starren genügt, sie in den Schlafzustand zu versetzen; Lippen und Nasen- 
flügel vibrieren stark; die Augenlider zittern. Einzelne abgerissene Worte, 
die sich in ein Gemurmel verlieren: „Herr Professor ... ich glaube . . . 
sie . . • sie . . . haben sie . . . einen . . .^ beginnt leise zu singen: „Willst du 
in die Zukunft schauen, mußt du ins Grab . . . Ich werde Ihnen das Ganze 
erklären; die Hypnose hat bei den verschiedenen Menschen . . .^ Die Auf- 
forderung aufzustehen, hat gar keine Wirkung. Nachher schläft Patientin auf 
der Abteilung weiter, rezitiert einen Monolog aus Don Carlos I. Akt. Endlich 
gelingt es, einen Rapport mit der Kranken herzustellen und sie unter der 
Suggestion des Wohlseins aus dem Zustande zu erwecken. 

22. März. Schlafanfall von 40 Minuten Dauer. Am 

10. April desgleichen. 

15. April. Patientin wird wegen eines Sehnenscheidenganglion der 
rechten Hand an die chirurgische Klinik geführt. Als das Operationsterrain 
mit Äther gereinigt wird, tritt wiederum ein Schlafanfall auf. Die Kranke 
weint, lacht, singt, spricht verwirrt. Die Operation kann ohne Lokal- 
anästhesie durchgeführt werden. 

1. Juni. Die ganze Zeit über ruhig, zufrieden, unauffällig, erwartet die 
in Aussicht gestellte Entlassung. Bezüglich ihrer Zukunft ist sie jetzt 
optimistisch. Vollkommene Krankheitseinsicht. 

6. Juni. Retrospektives Examen: Die Affektbetonung der alten Er- 
innerungen ist noch nicht vollkommen abgeblaßt. Die Patientin versichert, daß 
jener junge Mann ihre erste und einzige Liebe war, daß sie nach Lösung 
des Verhältnisses viel träumte, augenscheinlich sexuelle Empfindungen hatte. 
Sie spricht sich darüber nicht aus, schließt plötzlich die Augen, deckt dieselben 
mit der einen, dann mit der anderen Hand und murmelt wieder einzelne 
Worte vor sich hin. Da sie durch Aufforderung nicht zu wecken ist, wird mit 
Rücksicht auf die abendliche Stunde Isolierung verfügt. Dieselbe ist von 
prompter Wirkung. Es tritt überhaupt kein Anfall mehr auf. 

Im Sommer 190tS eingezogene Erkundigungen bestätigen das Ergebnis 
eines früheren Besuches, welchen ich der Patientin abstattete. Sie blieb ge- 
sund bis auf einige hysterische Charakterzüge: eine gewisse Reizbarkeit und 
ein nervöses Gebahren. Über direkten ärztlichen Rat wurde sie von der 
Stadtwohnung fem auf dem Lande gehalten, wo einzelne Anknüpfungspunkte 
fehlen; sie war sogar fähig, mit ihrer Mutter zusammenzuleben. Seither ist 
sie, wie ich einer mündlichen Mitteilung verdanke, allerdings wieder erkrankt 
und der Irrenanstalt übergeben worden. 

Hier war es s^Qfangs gar nicht leicht nachzuweisen, daß alles, was die 
Patientin produzierte, nur Hysterie sei; das Einleitungsstadium schien so ganz 
dem einer Paranoia zu gleichen. Die genau erhobene Anamnese lieferte aller- 
dings wichtige Anhaltspunkte und die notwendigen psychologischen Binde- 
glieder zur richtigen Diagnose. Man sieht die Kranke zu Hause gequält von 
einer hysterischen Mutter, welche gleichzeitig eifersüchtelt und Verfolgungs- 
ideen äußert. Patientin erlebt eine schwere Enttäuschung; aus rein finan- 
ziellen Gründen zieht sich ihr Bräutigam zurück. Sie ist erotisch veranlagt, 
verliert sich in Träumereien, während sie sich von der Wirklichkeit abwendet. 



122 

von jedem Manne, der sich ihr nähert, auch nur das Schlechteste glaubt. Sie 
hat Kinder so gerne, hätte am liebsten eigene gehabt. Der Verlobte, der ihr 
untreu wurde, heiratet eine andere. Zu den Affekten gekränkter Liebe und 
Eifersucht gesellt sich das Gefühl, ihre Bestimmung verfehlt zu haben. Eben 
in diesem Momente setzen gleichlautende Gehörstäuschungen ein, die zum Teil 
vielleicht auch Gehörsempfindungen sein konnteo, wie die Beobachtungen auf 
der Straße. Es machten sich wohl wirklich ein paar Straßenjungen über die 
sonderbare alte Jungfer lustig. 

Nach wiederholten verunglückten Selbstmordversuchen erfolgt endlich 
ihre Einbringung in die Anstalt und merkwürdigerweise schneidet damit die 
Krankheit scharf ab. Daß es sich um Dissimulation nicht handelte, ergibt der 
weitere Verlauf; Patientin wird entlassen. 

Im Anschlüsse an die Übersiedlung in die Stadtwohnung, wo auch die 
erste Erkrankung ausgebrochen war, beginnt neuerlich eine psychische Störung. 
Dieselbe zeigt nicht nur in schönster Weise die Abhängigkeit von der Umgebung, 
man kann die Diagnose diesmal auch auf einen Erampfanfall stützen. Das 
Zustandsbild bei der Aufnahme ist diesmal ein anderes. Die Situation der Patientin 
hat sich gegen früher verschlechtert, die Aussichten auf Verwirklichung ihrer 
Lebenshoffnung sind noch geringer geworden. Sie klammert sich an die 
Krankheit und entnimmt ihrer Internierung nicht mehr die Suggestion zur 
Genesung. Es folgen ganz merkwürdige Symptomenkomplexe, in denen aber 
immer erotische Beziehungen durchschimmern, neuerlich ein Ohnmachtsanfall. 
Das Verhalten der Patientin ändert sich erst, sowie man in richtiger Erkenntnis 
der Natur des Krankheitsprozesses sich mit der Persönlichkeit eingehender zu 
beschäftigen beginnt. 

Die Patientin ist ungemein suggestibel; demgemäß auch außerordentlich 
leicht zu hypnotisieren, attachiert sich dem Arzte. Der Fall scheint zu beweisen, 
daß es nicht die Aussprache, das Abreagieren alter Affekte in einem Über- 
schwang von Worten ist, was den Krankheitsprozeß günstig beeinflußt, 
denn die Patientin hat von ihren Herzensgeheimnissen das meiste nur erraten 
lassen. Die Examina in der Hypnose riefen wiederholt neue Krankheits- 
erscheinungen, Kunstprodukte hysterischen Gepräges hervor, die an und für 
sich behandelt werden mußten; und dies gelang, ohne daß man alte Erinnerungen 
nochmals berührte. 

Bald tritt der erste Schlafanfall auf. Patientin ist ohne weiteres durch 
Anruf zu wecken. Am 13. November lehnen sich übermächtige Affekte, die 
sie zu verarbeiten nicht imstande ist, gegen den ärztlichen Zuspruch auf und 
im unmittelbaren Anschlüsse an diese Hypnose erlebt man einen Schlafanfall 
mit affektvoller Reproduktion der letzten Szene und Verzerrung der wahren 
Empfindung der Kranken. Die Schlafanfälle wiederholen sich in Serien. Die wenig 
zusammenhängenden Äußerungen, welche da laut werden, sind jenen vollkommen 
analog, die Patientin ganz am Beginn, zur Zeit ihrer Vei*wirrtheit vor sich 
hinsprach, das heißt, der Mechanismus ist der gleiche, der Inhalt ein anderer. 
Sie knüpft jetzt an die Gegenwart an, wie sie früher an die Vergangenheit 
sich angelehnt hatte. 

Es wird nunmehr ausschließlich Wachsuggestion verwendet und diese 
einmal durch den faradischen Pinsel unterstützt, der von ganz ausgezeichneter 
Wirkung ist, einen hohen Einfluß des Willens auf den Ablauf der Zustände 
beweist. Leider erfolgt Gewöhnung an diesen Schmerz; die späteren Male ist 
eine Wirkung kaum mehr nachzuweisen. Am 5. März kann man besonders deutlich 
sehen, wie Hypnose und diese Schlafzustände zusammenhängen. Das einfache 



123 

Anblicken weckt die Erinnerung an die Hypnose und als Autohypnose tritt 
so ein deliranter Schlafzustand ein. Die Genesung hat auffallend lange an- 
gehalten; daß die überaus traurigen häuslichen Verhältnisse die Kranke 
schließlich wieder überwältigten, dürfte niemand wundernehmen. 

Solche hypnotische Zustände sind anfangs natürlich als Kunst- 
produkte zu betrachten. Indem die Mitwirkung der Patientin aktiver, 
schöpferischer sich gestaltet, indem die BewuÖtseinsstörungen scheinbar 
selbständig eintreten, im Verlaufe der Zeit von der äußeren Beeinflussung 
sich loslösen und den Autosuggestionen gehorchen, werden selbstständige 
hysterische Geistesstörungen daraus, hier in der Form von Schlafanfällen. 
Unter anderen werden auch Fälle dieser Art von den Franzosen als 
Somnambulismus beschrieben. Aus einem schon genannten Grunde empfiehlt 
es sich, alle symptomatologischen Bezeichnungen, die man dem psychi- 
atrischen Wortschatze entnimmt, dadurch zu rechtfertigen, daß man sich 
genau an die geltende Begriffsbestimmung hält. Somnambulismus, durch 
das deutsche Wort Schlafwandeln vollkommen wiedergegeben, wäre 
demgemäß auf Patienten einzuschränken, welche Ortsveränderungen, 
Handlungen auf traumhafter Bewußtseinsstufe aus dem Schlafe heraus 
vornehmen. 

Auch bei der Hvsterie trifft man somnambule Zustände sensu 
strictiori. Nur wachsen dieselben selten direkt aus dem Schlafe hervor; 
fast immer treten sie ein unter Vermittlung konvulsiver Elemente, oft 
ausgeprägter Anfälle, so daß eigentlich keine freistehende Geistesstörung 
vorliegt. Je selbständiger der Somnambulismus wird, um so mehr geht 
das Verhalten des Patienten von dem eines lebhaft Träumenden zu dem 
eines anscheinend Wachen über. Der Kranke führt Handlungen aus, die 
dem trivialen Alltagstun entsprechen; er nimmt von der Außenwelt Notiz, 
wird aber beherrscht durch Halluzinationen respektive Erinnerungen nach 
seiner individuellen Eigenheit. Er bewegt sich meist in einem engen Vor- 
stellungskreise, so daß es nur auf Umwegen möglich wird, die Gedanken- 
richtung zu beinflussen; eher als durch zweckbewußte Worte gelingt dies 
durch einfache Sinnesreize. Man hat auch mit Erfolg versucht, die hysterischen 
Somnambulen zu hypnotisieren. Wiewohl oder vielleicht besser, da die 
Aufmerksamkeit hochgradig eingeschränkt ist, kann die Leistungsfähigkeit 
im einzelnen gesteigert erscheinen. Als Typus sei ein von Mesnet beschrie- 
bener Fall hier kurz wiedergegeben. 

Die Patientin hat um 3 Uhr früh schwere Konvulsionen, steht dann auf, 
kleidet sich an, und zwar ganz allein, schiebt die Möbel weg, die ihr im Wege 
stehen, ohne anzustoßen, ist viel sorgloser, beweglicher als bei Tage. Sie geht 
zunächst in den Zimmern herum, öffnet die Türen, steigt in den Garten hin- 
ab, läuft, springt über die Bänke, trotz des starren Blickes ganz sicher. Den 
Ärzten bringt sie keine Aufmerksamkeit entgegen, sie antwortet auf Fragen 
nicht, betrachtet Menschen nur als Hindernisse, denen sie ausweicht. Die äen- 
sibilität scheint aufgehoben. Vor 5 Uhr begibt sie sich wieder in ihr 



124 

Zimmer^ kleidet sich schnell aus^ legt sich ins Bett und erwacht sofort., ohne 
Spnr einer Erinnerung. Zweimal kam es in solchen AnfUllen zu Selbstmord- 
versuchen, doch hatte die Kranke vorher die Familie von dieser Absicht ver- 
ständigt. 

Nur als ein ganz rudimentärer Fall kann angereiht v\rerden 

Beobachtung XXV. 

Franziska P., 21 Jahre alt, katholisch, ledig, Handarbeiterin, kommt am 
11. Februar 1899 an die Klinik. 

Mutter der Patientin ist dauernd in einer Irrenanstalt interniert; sie 
selbst überstand als kleines Kind Morbillen, besuchte fünf Klassen Dorfschule 
mit gutem Erfolge, trotzdem sie schon zu dieser Zeit Anfälle hatte, in denen 
sie bewußtlos nach rückwärts umfiel, mit dem Kopfe anschlug, doch ohne sich 
je zu verletzen. Mit 14 Jahren menstruiert. Seither besteht, besonders nach 
Aufregungen, ein bellender Husten, der von den Ärzten als hysterisch erklärt 
wurde. Die Kranke behauptet, nie mit einem Manne zu tun gehabt zu haben, 
was sie aber nicht hinderte, eine Genitalaffektion (Gonorrhöe) zu erwerben. 
Seit Ende 1898 Schmerzen und Krämpfe zur Zeit der Menses. Weiters krampf- 
artige Schmerzen längs der Sehnen des Vorderarms, Würgen im Halse, wie 
wenn ein Knödel darin stecken würde, und endlich wiederholt jede zweite bis 
dritte Nacht Verwirrtheitszustände mit Amnesie; Patientin erfährt erst durch 
ihre Umgebung, daß sie schreie, phantasiere, ihre Schwester kratze und schlage; 
nur einmal sei sie Über ihr eigenes Schreien erwacht. Labile Stimmung, meist 
Depression mit Selbstmorddrohungen, veranlassen ihre Internierung. Die An- 
gehörigen erzählen noch von Ohnmachtsanfällen mit Schlingkrämpfen; einmal 
mußte sie katheterisiert werden. — Kalte, livid verfärbte, schweißige Hände, 
kalte Füße. Leichte Druckschmerzhaftigkeit der Interkostalräume. Im Epi- 
gastrium ein Phantomtumor, linksseitige Ovarie; sämtliche Reflexe lebhaft 
gesteigert. 

Die Internierung und etwas Traitement moral haben den Erfolg, daß 
Patientin bis zum 17. März 1899 von Anfällen frei bleibt. Sie ist geordnet, 
arbeitet fleißig. 

Am 17. März nachts schreit die Kranke auf, jammert, singt durch etwa 
15 Minuten; erinnert sich nachher an nichts. Ebenso am 

18. März nachts Husten, Aufschreien, Lachen und Singen durch 15 Minuten; 
Amnesie. 

Energischer Zuspruch wirkt. Patientin wurde dann beurlaubt, bekam 
auch außer der Anstalt keine Anfälle und konnte am 15. April geheilt entlassen 
werden. 

Eine bis in frühe Kindheit zurückreichende Hysterie, welche sich in 
Form körperlicher Störungen, sowie in vielgestaltigen Anfällen äußert. Neben 
einem schön ausgeprägten hysterischen Charakter tritt eine umschriebene 
Psychose, mit krampfhaften Elementen durchsetzt, ausschließlich zur Nacht- 
zeit auf. 

Wiederum sei betont, daß auch der Somnambulismus von den anderen 
Formen hysterischer Psychose nicht scharf zu trennen ist, daß es genau 
die gleichen Bilder sind, wie sie bei Tage gesehen werden, nur nennt 
man sie hier anders, Delirien oder Dämmerzustände. Der Umstand, 



125 

daß der Somnambulismus aus dem Schlafe heraus entsteht, begründet 
tatsächlich nicht mehr als eine verschiedene Benennung der wesens- 
gleichen hysterischen Geistesstörung. 

Somnambule Zustände kommen auch im Kindesalter vor und können 
hier mit Attitudes passionnelles verknüpft sein, so daß man an die End- 
stadien des klassischen Anfalles erinnert wird. Als Beispiel sei ein Fall 
Harringtons zitiert. 

Ein 15jähriger Junge erhält in einem Streite einen Schlag auf den Kopf; 
in der folgenden Nacht springt er bei aufgehobenem Bewußtsein im Bette in 
die Höhe, schlägt um sich und macht die ganze Szene des Streites vom Tage 
vorher noch einmal durch. Auf Anruf reagiert er absolut nicht. Die gleichen 
Anfälle wiederholen sich in derselben und den folgenden Nächten sehr oft. In der 
Zwischenzeit erschien der Knabe vollkommen normal^ wußte von nichts. Nach 
zwei Monaten verschwanden diese Störungen^ doch blieb ein leicht erregbares 
hysterisches Wesen zurück. — Hier spielt sich das somnambule Äquivalent in 
Form eines Erinnerungsdelirs ab. 

Statt aus dem natürlichen Schlafe wachsen somnambule Zustände 
auch aus einem Schlafanfalle hervor, respektive sie erscheinen in einen 
solchen eingeschaltet. Den Übergang zu dieser Varietät hysterischer 
Psychosen bilden die mussitierenden Delirien, die man nach Schlafanfällen 
beobachtet Deutlicher ist folgender Kasus (Mesnet). 

17 jähriges anämisches Mädchen. Patientin scheint aus ihrem Schlafanfalle 
zu erwachen, hält aber die Augen geschlossen. Sie sieht und hört nicht, be- 
merkt die umstehenden Personen nur durch das Gefühl; die Hautsensibilität 
ist gesteigert. Die Augäpfel sind konvulsiv nach innen gerollt. Die Kranke 
versucht die Lider mit den Fingern zu öffnen und sagt dabei, sie sehe nichts 
als rot. Sie steht auf, immer mit geschlossenen Augen, zieht sich an, will 
ausgehen, entwickelt große Kraft, als man sich ihr entgegenstellt. Sie richtet 
ihr Bett, legt sich hinein, springt aber an die Türe, als jemand aus dem 
Zimmer geht. Sie spricht viel and rasch, verfällt nach etwa 2 Stunden wieder 
in lethargischen Schlaf, aus welchem sie mit völliger Erinnerungslosigkeit er- 
wacht. Erfolglose Hypnose verschlimmert die Anfälle, veranlaßt eine Modifikation 
des somnambulen Delirs; Patientin macht sich über die Ärzte lustig. 

Endlich gehen somnambule Zustände aus der Hypnose hervor, spon- 
tan oder über ausdrücklichen Wunsch des Hypnotiseurs. Man erhält tat- 
sächlich genau die gleichen Bilder, wenn man einem Medium aufträgt herum- 
zugehen und allerlei Arbeiten zu verrichten. Die Bezeichnung hypnotischer 
Sonmambulismus ist längst eingebürgert und man hat ein Recht, diese 
Bezeichnung zu gebrauchen, insofern man auch von einem hypnotischen 
Schlafe spricht. — 

Ebenso selten als interessant sind eigenartige Formen akuter hyste- 
rischer Geistesstörungen, die wesentlich durch das gesetzmäßige Spiel 
von Amnesien zustande kommen. 

Die einfachste dieser Formen ist die sogenannte Attaque de d^lire 
ekmnesique (Espinas, Pitres). Die Erinnerung ist nur bis zu einer 



126 

gewissen Zeit erhalten, fehlt für alles Spätere, so daß das Individuum in 
einer früheren Lebensepoche zu weilen scheint eventuell Kind spielt 
Tatsächlich besteht wohl nur die Autosuggestion, wieder so jung zu sein. 
Die Kranke versetzt sich in die frühere Zeit zurück, ohne die frühere 
Persönlichkeit zu werden. Als Typus folgender Fall: 

Eine Patientin, die seit mehreren Jahren bald an Krämpfen, bald an 
Schlafzuständen, bald an Anfällen dieses Delirs leidet. Letztere künden sich 
an durch düstere, träumerische Stimmung, Schluchzen, Muskelzucken, Magen- 
beschwerden, Globus. Eine Kugel komme vom linken Hypogastrium, durch- 
wandere einigemale den Leib und steige dann unter Angstgefühl zum Herzen. 
Nun beginnt die Kranke mit lauter Stimme zu reden, sie ist in vergangene 
Zeiten zurückversetzt. Bald spricht sie als 22jähriges Mädchen mit ihrem 
Geliebten, bald mit ihren Gespielinnen, lebt als 7 jähriges Kind bei ihrer 
Amme am Lande, pflückt Blumen, summt ein Liedchen, spricht in ländlichem 
Dialekt. Dabei verkennt Patientin die gegenwärtige Umgebung, scheint Fragen 
nach späteren Erlebnissen nicht zu verstehen. Hinterher natürlich Amnesie. 

Man hat geeignete Medien durch Hypnose dazu gebracht, ganz die- 
selbe Rolle zu spielen; wieder ein Beweis für die Analogie des hypno- 
tischen und hysterischen Geisteszustandes. In letzterem Falle bewirkt 
Eigensuggestion das Auftreten von Erscheinungen, die dort ein gebietender, 
fremder Wille aufzwingt. 

Es gibt noch andere Formen von systematisierten Amnesien, welche 
ungewöhnliche hysterische Krankheitsbilder erzeugen. Charcot und 
Öouque 8 beschreiben einen Kasus, bei welchem im Anschluß an eine er- 
schreckende Nachricht eine delirante Attake auftritt mit nachfolgender 
retrograder Amnesie bis zu einem bestimmten Tage; auf der anderen 
Seite schreitet die Amnesie vorwärts, erfaßt alle Ereignisse der Gegenwart: 
eine sogenannte Amnesie r6tro-änt6rograde. Des Nachts und in der Hypnose 
waren alle Erinnerungen zu wecken. In demselben Maße als Besserung 
eintrat, rückte der Tag des Erinnerungsausfalles vor. Ebenso wurden 
Wahrnehmungen bis zu 24 Stunden im Gedächtnisse behalten. Ein Fall von 
S6glas und Bonnus erschien durch eine solche retro-anterograde Amnesie 
verwirrt. 

Die Amnesien können Störungen des Persönlichkeitsbewußtseins 
bewirken. Da sind in erster Linie die ätats seconds der Franzosen zu 
verzeichnen. Das Individuum führt gewissermaßen zwei Leben oder 
richtiger zwei Gedächtnisse. Im Zustande II hat es alles vergessen, was 
sich in I ereignet; es erinnert sich aber im nächsten II wieder daran. Diese 
Spaltung der Persönlichkeit ist nicht so befremdlich, wie es auf den 
ersten Anblick hin scheint; angedeutet war sie schon bei manchen der 
in extenso hier vorgestellten Hysterischen. In Delirien und Dämmer- 
zuständen tritt gelegentlich eine andere Person an die Stelle der bis- 
herigen (vide Beobachtung XVIII, wo der Kranke seine Persönlichkeit 
zum Teil aufgibt und sich mit einer zweiten identifiziert). Zu einem Etat 



127 

second wird ein solcher Dämmerzustand durch die mehr weniger regel- 
mäßige Wiederholung sowie dadurch, daß die Erinnerung sich um die 
beiden Bewußtseinskeme gruppiert. Von dieser Art sind ganz hervor- 
ragende Fälle in der Literatur: an der Klinik war keine Gelegenheit 
solche zu sehen. Sie dürften auch für die Praxis minder wichtig sein als 
für die Theorie, insofern sie ausgezeichnete Studienobjekte abgeben. 

Der erste bemerkenswerte Kasus dieser Art ist die Feiida Azams. Bei 
dieser Person traten von ihi*em 14. Lebensjahre an zunächst karz dauernde, 
später immer mehr sich ausdehnende £tats seconds auf. Der Zustand 1 ist mit 
Depression verbunden, in II ist die Patientin heiter, gesprächig, liebenswürdig, 
beweglich, ja übermütig. Der Übergang erfolgt anfangs durch einfache Vor- 
boten, später durch eine Geistesstörung vermittelt. Ideen Verwirrung, die Kranke 
nimmt eine schreckhafte Miene an, erkennt niemanden mehr, hat Gesichts- 
und Gehörstäuschungen, nach einigen Stunden kommt der Zustand II, der 
immer länger, schließlich bis 3 Monate dauert und völlige Erinnerungslosigkeit 
hinterläßt, während die Kranke an das vorhergehende II sich erinnert. 

Charcot teilte den Kasus einer 88jährigen Patientin mit, welche nach 
6 Jahren hysterischer AnfUlle 1884 im Anschlüsse an einen £tat de mal in 
den li. Zustand geriet, der mit kurzer Unterbrechung bestehen blieb. Das Ge- 
dächtnis reichte nur bis 1884 zurück. Die Kranke wußte nichts von ihren 
Verwandten, von ihrem Heimatsort, dagegen kannte sie alle Personen ihrer 
jetzigen Umgebung, hat von einer Mitkranken lesen, schreiben und rechnen 
gelernt. Herrschte man sie an: „Erwach!^ so tritt nach einem skizzierten 
Anfalle für 5 — 15 Minuten wieder I auf. Patientin erinnert sich ihres Lebens 
bis 1884, glaubt dementsprechend jung zu sein, hat alles spätere vergessen. 

Hier ist also der gesamte Erinnerungskomplex in zwei Teile reinlich 
geschieden, die miteinander abwechseln, daher die Bezeichnung „Alter- 
nance". Zustand I umfaßt das ganze frühere Leben, II das Leben von 
einem bestimmten Zeitpunkte an. In allen diesen Fällen ist es die Amnesie, 
welche die beiden Zustände auseinander hält. I sowohl als II setzen ihr 
'eigenes Bewußtseinskontinuum fort; die Erlebnisse von I reichen in 11 nicht 
hinein. Die Dauer dieser abnormalen Bewußtseinszustände, die meist 
durch hysterische Anfälle eingeleitet und abgeschlossen werden, schwankt 
zwischen Minuten und Monaten. Es kann aber auch ein Zustand hart- 
näckig festgehalten werden. Im Falle als dies I betrifft, führt das zu dem 
schon besprochenen Delirium ekmnesticum. Ebensogut wurde indes ein 
dauerndes II beobachtet, gewissermaßen eine andere Persönlichkeit. Diese 
ll-Znstände zeigen im allgemeinen starke Gesichtsfeldeinschränkung, 
allgemeine Unempfindlichkeit, dafür verschwinden Lähmungen, Kon- 
trakturen, welche in I bestanden. Damit fühlen sich die Kranken wohler, 
die geistige Leistungsfähigkeit ist scheinbar gesteigert. In der Mehrzahl 
der Fälle wird Charakterveränderung ad peius hervorgehoben, nur ein 
18jähriger Hystericus Camusets war sanft und verträglich, während er 
sich im Normalzustande streitsüchtig und diebisch aufführte. 



128 

Die beiden Zustände können sich immer mehr sondern; so wird 
von Guinon ein Fall berichtet, wo I sehr kurz dauert, fast nur in der 
Nacht auftritt; II hat keinerlei Erinnerung an den Bewußtseinsinhalt von I, 
kennt nur den Namen des Vaters und seine Adresse, lernt allerdings 
langsam. In noch weiterer Steigerung werden zwei ganz verschiedene 
Personen daraus, die durch kein Band mehr zusammengehalten sind, wo 
auch das Bindeglied des „^^^^ fehlt, die sogenannte Alienation der 
Franzosen (Fülle von Dufay, Pitres, Gumpertz). 

Letzterer berichtet über ein 9jähriges Mädchen, das sonst ruhig, höflich, 
bescheiden, anfallsweise motorische Unruhe zeigt, schimpft, kratzt, schlägt, mit 
kindisch lallender Stimme spricht und sich für ihre verstorbene Tante erklärt; 
ihre Wohnung sei ^Friedensstrafie 49 im Himmel". 

In einer anderen Form wird dieser völlige Wechsel der Persönlichkeit 
ausgedrückt, wenn die Kranke von sich selbst in der dritten Person 
spricht, unter Anführung des Namens, z. B.: 

^Marguerite ist unwohl, man soll sie in Ruhe lassen, ich bin Marguerites 
Freundin, ich liebe sie und fühle, was sie betrifft, mit." Auf ein Anbot geistiger 
Getränke erwidert diese Patientin: „Ich danke sehr, Marguerite, darf nicht 
trinken, aber ich bin so frei und nehme gerne an.^ 

Doch gibt es auch da Misehfälle, indem trotz der autosuggestiven 
Annahme einer fremden Person kein vollständiges Aufgeben des eigenen 
pich" stattfindet, wo also gewissermaßen zwei Persönlichkeiten neben- 
einander stehen (^Fall von Antonini). 

Einem eventuell durch Autohypnose provozierten regelmäßigen II 
Zustand entsprechen wohl nach allem, was darüber zu erfahren ist, die 
Traneezustände spiritistischer Medien, so der berühmten Patientin von 
Flournoy, die sich in den Spirit Leopold verwandelt, welcher früher 
als CagUostro die Königin Marie Antoinette geliebt hat, die als indische 
Prinzessin Sanskrit schreibt oder auf einem fremden Planeten eine Mars- 
und Uranusspraehe konstruiert Insofern spiritistische S^ancen zu Er- 
werbszwecken ausgeführt werden, dürften die Grenzen zwischen Hysterie 
und Schwindel wieder fließende werden, wie aus dem erst vor kurzem 
durchgeführten Prozeß gegen das ^ Blumenmedium" Rothe hervorgeht, 
die in diesen Trancezuständen auswendig gelernte Bibelstelien zitiert 
und Gegenstände, die um wenige Pfennige vorher im Bazar gekauft 
worden waren, aus der Luft auffängt ^vide übrigens die ausführliche 
Publikation Henuebergs\ 

Es sollen später Fälle zur Sprache kommen, wo aus der einen hysteri- 
schen Persönlichkeit, allerdings durch künstliche Einwirkung, mehr als 
twei Personen werden. Einen Kasus, der völlig spontan dreierlei Zustände 
L IL IIL beolmchten ließ, brbgt Mason. 

Alma entwiekelt sich als Kind normaU ist gut veranlagt, mit 18 Jahren 



129 

längere Zeit neurastheniscli; überangestrengt, zu Ohnmächten geneigt; dann 
6 Jahre gesund. Im Anschlüsse an eine Typhuspneumonie häufige Ohnmachtd- 
anfälle. Beim Erwachen aus einem solchen nennt Patientin sich Twocy, ist 
«ine ganz andere^ aasgesprochen lebhaft, kindisch^ mit geringem Wortschatz^ 
ungrammatischem Dialekt, schmerzfrei; weiß nichts von den Erlebnissen und 
Erfahrungen der ersten Person. Dieses II dauert durch einige Stunden^ gelegentlich 
mehrere Tage, dann kehrt I zurück. I und II wechseln nun miteinander ab; 
völlig voneinander getrennt; indem jeder Zustand immer dort fortsetzt; wo 
er zuletzt aufgehört. I hat keine Ahnung von II; wohl aber kennt Twocy 
die Alma und bewundert sie wegen der Erfahrung; der Geduld im Ertragen 
von Schmerzen; hinterläßt schriftliche Aufzeichnungen im Dialekt fflr I. Unter 
dem Einflüsse einer hypnotischen Behandlung wurde II seltener; trat nur noch 
bei großer Ermüdung und psychischen Erregungen auf. Matrimonium. Twocy 
kommt noch einmal; verabschiedet sich zugleich; nachdem es III; The Boy 
angemeldet. Nach einem Ohnmachtsanfall von mehreren Stunden erscheint III; 
ernst; dreist; kennt verschiedenes nicht; was I gelernt hat; arbeitet sich aber 
schnell hinein; ist genau über I und II orientiert; besteht oft durch mehrere 
Tage. Beobachtungsdauer 10 Jahre. 

Eine andere Gruppe akuter Psychosen wächst aus dem hysterischen 
Charakter heraus; allerdings finden sich fließende Übergänge zu den eben 
besprochenen Formen geistiger Störung, sehr häufig Mischungen, welche 
eine Abgrenzung unmöglich machen und die innere Einheitlichkeit aller 
jener Krankheitsbilder zeigen, welche einerseits aus dem Anfalle, anderer« 
seits aus dem hysterischen Charakter sich entwickeln. Gelegentlich der 
Erörterungen des zweiten Kapitels wurde schon festgestellt, daß eine An- 
zahl psychischer Elementarstörungen im hysterischen Charakter schlummert, 
die vom praktischen Standpunkte freilich noch nicht als krankhaft auf- 
gefaßt werden, indem man in weiten Kreisen des nichtärztlichen und 
selbst des ärztlichen Publikums erst dann von Psychose zu sprechen 
pflegt, wenn das betreffende Individuum der Behandlung in einer 
geschlossenen Anstalt bedarf. 

Solche Elementarstörungen sind z. B. die pathologischen Lügen, 
die zweckbewußte Erfindung, Verleumdung, Nachahmung, wirkliche 
Simulation, welche die Patienten mitunter sogar als gemeingefährlich 
erscheinen läßt. Jene Hysterica der persönlichen Erfahrung, die Rohr- 
zucker in ihrem Harne auflöste und sich dann über die Ärzte moquierte, 
welche ihren Diabetes nicht nachweisen konnten, ist eigentlich geistes- 
krank, allerdings harmlos und nicht anstaltsbedürftig. Ernster sind 
schon die anscheinend nicht so seltenen Fälle junger Mädchen, die durch 
Ätzmittel eine fortschreitende gangränöse Geschwtirsfläche erzeugen und 
sich damit ftlr das ganze Leben entstellen. Diese typischen Beispiele 
bewußter und später eingestandener hysterischer Betrügerei, die einem 
normalen Bewußtsein unverständlich bleiben, da man kein Verständnis 
Air die Motive eines solchen Tuns hat, können ganz gut als akute 
hysterische Psychose aufgefaßt werden, denn das Individuum wird ent- 

Rainiann, Die hysterischeu Geistesstörungen. 9 



130 

larvt, gesteht die Simulation zu, benimmt sich durch einige Zeit wieder 
relativ geordnet. 

Im Wesen des hysterischen Charakters liegt es, daß seine krank- 
haften Züge durch wechselseitige Einwirkung von selten der Umgebung 
sich steigern; die Patienten werden in erhöhtem Maße auffällig und 
bemühen sich nun, diese Auszeichnung auch wirklich zu verdienen. 
Namentlich in Sanatorien kann man die sonderbarsten Streiche beob- 
achten, die aus dieser Neigung, Aufmerksamkeit zu erregen, leicht 
erklärlich werden. Zur Aufnahme in die Irrenanstalt führen die harm- 
loseren Unterhaltungen der Hysterischen kaum je. Doch erzählen auch 
dort die Patientinnen ganz gerne von ihren Gefiihlsperversionen, daß sie 
Petroleum oder Fußbodenwichse getrunken, haben, sich mit Benzin 
parfümieren etc. 

Wichtiger sind die akuten Psychosen, welche pathologischen 
AflFektäußerungen entsprechen. Unvermittelte extreme Gefühlsausbrüche 
gehören zum Wesen der Hysterie. Die Selbstbeherrschung schwindet 
einmal so weit, daß die Anstaltsaufnahme der Patientin notwendig wird, 
ohne daß etwas anderes vorliegen würde, als die abnorme hysterische 
Reaktion auf einen äußeren Reiz, auf eine wirkliche Beeinträchtigung^ 
oder eine Summe vieler kleiner Unannehmlichkeiten, welche endlich die 
Toleranzschwelle überschreiten. Zur Illustration zwei Fälle aus der letzten Zeit. 

Beobachtung XXVI. 

Auguste D., 19 Jahre alt; katholisch; ledig; ohne Beschäftigung, kommt 
am 12. Oktober 1902 an die Klinik. 

Ein sehr intelligenter; sympathischer Arbeiter kennt Patientin seit 
3 Jahren; lebt seit 2 Jahren mit ihr zusammen. Diesem Verhältnisse ent- 
stammt ein Kind. Erst seit Geburt dieses Kindes (23. August 1901) sei die 
Kranke psychisch auffällig; erregbar; sie fing Streit an; motivierte denselben 
mit Geldverlegenheit; die auf unnötige Einkäufe folgte. Am 28. Augast 1902 
nach einer Auseinandersetzung wollte Patientin mit dem Kinde ins Wasser 
geheu; ließ sich indes vom Liebhaber zurückhalten. Später äußerte sie Eifer- 
suchtsideeU; drohte, sie würde ihren Geliebten bei eventueller Untreue mit 
Vitriol anschütten. Zuletzt; da die Person nach 2 Tagen von 10 fl. nichta 
mehr übrig hatte und keine Rechenschaft ablegen woUtC; versuchte sie wiederum 
mit dem Kinde in den Donaukanal zu springen, wurde jedoch daran gehindert 
und der Polizei übergeben. 

Am Kommissariate erscheint sie orientiert; aber sehr erregt: als Ur- 
sache ihres Selbstmordversuches gibt sie rohe Behandlung seitens ihres Ge- 
liebten an; sie weiß noch nicht; was sie nun machen werde. 

An der Klinik etwas ruhiger; deprimiert; schläft nachts gut. 

13. Oktober. Die Kranke ist niedergeschlagener Stimmung, weint 
zeitweise still vor sich hin. Fragen gegenüber bleibt sie anfangs stumm^ 
später gibt sie flüsternd Antwort; endlich beruhigt sie sich; spricht in ge- 
wöhnlichem Ton; bricht nur zeitweise bei irgendeiner Antwort in lautes 
Schluchzen aus. Patientin örtlich und zeitlich völlig orientiert; gibt ge- 
ordnet Aufschluß über ihr bisheriges Leben. Sie kenne ihren Geliebten seit 



131 

5 Jahreo, sei wegen des anßereheliclien Kindes von ihren Eltern verstoßen. 
Sie habe sich schon vor 2 Monaten wegen eines Streites umbringen wollen^ 
zumal er ihr oft mit der Einsperrung ins Irrenhaus drohte; auch gestern war 
sie so erregt, daß sie das Kind im Arm am Ufer des Donaukanales hin- und 
herrannte, bis ein Wachmann sie aufgehalten habe. Nun erschöpft Patientin 
sich in Klagen, man habe ihr das Kind weggenommen, sie wisse nicht, wo es 
sei. Entschieden erklärt sie, daß sie hier nicht bleibe. Intelligenz intakt. 

Anästhesie und Analgesie im Bereiche der Stirne, symmetrisch abge- 
grenzt. Beide Mammae druckschmerzhaft; um dieselben eine analgetische Zone. 
Leichte Hypalgesie der ganzen linken Körperseite. 

Die Kranke verweigert die Nahrungsaufnahme, ist gereizt, weinerlich, 
zeitweise unmotiviert heiter, beschwert sich in trotzigem Tone über ihre 
Internierung. 

18. Oktober. Analgesie konstant. 

24. Oktober, über Verbalsuggestion ist die analgetische Zone um die 
linke Mamma verschwunden. 

29. Oktober. Patientin bietet 2 Seelenzustände nebeneinander. Außer- 
halb der Zeit der ärztlichen Visite ist sie heiter, lebhaft, mit Kolleginnen 
zum Scherzen aufgelegt, oft ausgelassen. Sie beobachtet alles, was um 
sie herum vorgeht, berichtet auf Distanz bereitwillig über Vorkommnisse auf 
der Abteilung. Bei der Visite ist sie meist trauriger Stimmung. Sowie maD 
sich mit ihrer Person beschäftigt, macht sie ein finsteres Gesicht, wirft sich 
im Grolle auf die andere Seite, ist schroff abweisend, wenn sie nicht im 
Affektausbruch zu schimpfen beginnt. Den sie besuchenden Liebhaber quält sie 
mit Eifersucht, schmäht ihn, behauptet, er habe es darauf angelegt, sie ina 
Irrenhaus zu bringen. 

3. November. Erregt, weint; schleudert den Ärzten die Mitteilung ent- 
gegen, sie habe ihr Kind nachts weinen gehört. 

5. November. Die Kranke bleibt auch über logische Vorhalte dabei, daß 
ihr Kind hier gesclirien habe; man empfängt den Eindruck der Unaufrichtigkeit. 
Sie hetzt Mitpatientinnen auf, den Ärzten gegenüber unfreundlich zu sein. 
Doch gelingt es mit Anwendung einiger Geduld, sie ziemlich zu beeinflussen 
und durch steten Zuspruch selbst die Reizbarkeit zurückzudrängen. 

9. November. Die Kranke beginnt sich zu beschäftigen; die Stimmung 
schwankt fast innerhalb physiologischer Breite. Sie fordert nicht mehr so 
stürmisch ihre Entlassung; erklärt sich endlich sogar bereit, den Eltern einen 
versöhnlichen Brief zu schreiben. 

13. November. Analgesien vollkommen geschwunden. 

20. November. Geordnet, einsichtig; nur ausnahmsweise depressive Ver> 

Stimmung. Sie erklärt ganz ruhig, daß sie an Selbstmord nicht mehr denke. Am 

29. November 1902 wird Patientin als geheilt zu ihren Eltern entlassen. 

Am 9. September 1903 wird die Person zum Amte gebracht mit der 
Anzeige, daß sie sich in die Donau stürzen wolle. Sie ist sehr einsilbig, 
verweigert die Angabe des Namens, nennt sich endlich (ganz falsch) 
Dörfler. Das Leben freue sie nicht, sie wolle sich dalier umbringen.. An die 
Klinik kommt sie noch unter dem falschen Namen, doch schon in heiterer 
Stimmung; sie wiederholt jetzt lachend, sie wolle nicht mehr leben, weil ea 
sie nicht mehr freue. Schläft des Nachts. 

10. September. In bummel witziger Laune erklärt die Patientin, ihr 
früherer Name gefalle ihr nicht, darum habe sie sich den jetzigen beigelegt; 
sie finde das ganz in der Ordnung. In zusammenhängender Darstellung be- 



132 

richtet sie dann über die Zwischenzeit. Sie war zunächst bei den Eltern im 
Häuslichen und bei der Feldarbeit beschäftigt^ mußte aber zu ihrer Ent- 
bindung (10. Juni 1903) wieder nach Wien. Ihre Gravidität habe sie an der 
Klinik seinerzeit verschwiegen^ da die Ärzte ja doch nicht alles wissen mußten. 
Nach dem Partus erkrankte sie an Fieber; die Kosten des Unterhaltes wurden 
von ihrem Greliebten bestritten^ bei dem sie auch wohnte. Sie hatte die Ab- 
sicht^ denselben zu heiraten^ sei bereits zweimal aufgeboten worden; am 
20. September wäre Hochzeit gewesen. Gestern nun ging sie am Ufer des 
Donaukanales auf und ab; als ein Wachmann auf sie los kam^ teilte sie dem- 
selben mit; daß sie ins Wasser springen wolle. Ihren Lebensüberdruß kann 
sie nicht motivieren; sie glaube, daß sie mit ihrem Bräutigam nicht glücklich 
werde. Auf logische Vorhalte folgen affektvolle Gebärden. Ihr Benehmen ist 
überhaupt affektiert; körperliche Untersuchung lehnt sie von vornherein ab; 
nur nach langem Parlamentieren läßt sich feststellen^ daß die Stirne und beide 
Handrücken analgetisch sind. 

11. September. Patientin verlangt sofort Eostaufbesserung, die ihr aus 
therapeutischen Gründen abgeschlagen wird; daraufhin erklärt die Kranke, 
sie werde überhaupt nicht essen. 

13. September. Dem zielbewußten Vorgehen gegenüber fügt sie sich; die 
Reizbarkeit ist diesmal auffallend gering. Sie hatte gynäkologische Behand- 
lung verweigert; wenige, aber entschiedene Worte des Arztes genügen und 
sie geht in die Ambulanz. Grundstimmung anscheinend euphorisch, trotzdem 
Patientin dauernd knapp gehalten wird. 

15. September. Verlangt heute nach ihrer Entlassung, schreibt einen 
ganz geordneten Brief nach Hause, man möge sie erwarten. Da sie sich die 
Zeit über vollkommen normal benimmt, gab man ihr am 

19. September sogar einen freien Ausgang ohne Begleitung behufs 
Ordnung ihrer Angelegenheiten. Sie wählte selbst eine Stunde, zu der sie 
ihrem Bräutigam nicht begegnen konnte und kam pünktlich zurück. Am 

20. September 1903 fuhr sie dann in die Heimat. 

Eigentlich nichts anderes als ein zur Psychose ausgewachsener hysterischer 
Charakter. Patientin ist verlogen, eifersüchtig reizbar; sie vermag mit dem 
Gelde nicht umzugehen, eine Eigenschaft, die man bei vielen Hysterischen 
findet. Es gefällt ihr etwas, sie kauft impulsiv, ebenso rasch verliert sie die 
Freude daran wieder, kauft etwas Neues; zu alledem fehlt die Kritik, welche 
die Ausgaben in entsprechenden Grenzen hält. Ihr Geliebter stellt sie zur 
Rede; nun kommt als probates Mittel der zweimalige Versuch mit dem Kinde 
ins Wasser zu gehen, und sie kann den Spieß umdrehen. So weit hat ihr 
Liebhaber es gebracht; in die Irrenanstalt läßt er sie sperren! Vielleicht darf 
man auch sagen, eine nur ins Hysterische gesteigerte weibliche Logik. — Durch 
stete Einwirkung auf die sehr suggestible Patientin gelingt es allmählich, sie 
entlassungsfähig zu machen. Erst nach einem Jahre kommt sie wieder, diesmal 
mit etwas durchsichtigerer Ätiologie. Wie sie schließlich selbst klar ausspricht, 
fühlt sie in dem Liebhaber die Ursache ihrer Krankheit. In ihm sieht sie die 
■Quelle ihres Unglückes, obendrein kann er nicht alle ihre Ansprüche befriedigen, 
ihre Träume erfüllen; der Kindersegen scheint ihr direkt gegen den Strich 
2U gehen. Sie ist aber materiell von ihm abhängig, vermag auf eigenen Füßen 
nicht zu stehen. Auch jetzt hat sie ihn aufgesucht, weil sie ihn brauchte; 
•der bestgemeinte Vorschlag zu heiraten, stammt von ihm. Sie wehrt sich 
dagegen, aber im Gefühl ihrer Abhängigkeit und Schwäche, nicht direkt; sie 



13S 

Hucht vielmehr die Aostalt auf^ die sie, aller VerpflichtUDgen ledig, den Eltern 
wieder zuführt. Wahre BefriedigUDg bietet ihr das einförmige und arbeits- 
reiche Landleben nicht; in absehbarer Zeit wird es sie wiederum in die Groß- 
stadt ziehen; die Hoffnung, hier das Glück zu finden, wird abermals getäuscht 
werden. Die Lösung jeder schwierigen Situation verbürgt ihr aber ihre 
Krankheit, die im kritischen Momente helfend einspringt. 

Etwas komplizierter ist die folgende 

Beobachtung XXVIL 

Vinzenzia R., geboren 1878, katholisch, ledig, Dienstmädchen, kommt 
am 25. Mai 1899 an die Klinik. 

Patientin machte mit fünf Jahren Masern durch, absolvierte fünf Klassen 
Volksschule mit mäßigem Erfolge. Seit einem Ohrenleiden im 17. Lebensjahre 
ist sie am rechten Ohre taub, links schwerhörig, doch in sehr wechselndem 
Grade. Mit der Pubertät änderte sich das psychische Verhalten der Kranken; 
sie wurde ängstlich, reizbar, leicht verletzlich, jähzornig, traf mehrfach Anstalten 
zum Selbstmord. Einmal wollte sie ins Wasser springen, ein zweites Mal sich 
mit Zündhölzchen, ein drittes Mal mit Laugenstein vergiften. Konvulsive 
Zustände waren nie vorhanden; nur verfiel Patientin in W^einen und Schluchzen 
bei der geringsten Kleinigkeit. — Wegen Genitalblutungen (fraglicher Abortus) 
wird sie auf eine chirurgische Abteilung aufgenommen; sie stört durch un> 
aufhörliches Weinen und Jammern und muß auf das Beobachtungszimmer 
transferiert werden. 

Daselbst ist sie weinerlich, äußert Taedium vitae, weil sie das Leben 
nicht mehr freue. — Hyperästhesie am Abdomen und Oberschenkeln; sub- 
jektiv Clavus, hie und da Globus. 

21. April. Die Kranke klagt beständig über Bauchschmerzen ohne nach- 
weisbare Ursache; sie geht nur mit vorgebeugtem Oberkörper; wenn sie sich 
aber unbeobachtet glaubt, ist der Gang ganz normal. Nachts unruhig, verlangt 
nach einem Umschlag, den sie selbst in der kürzesten Zeit wieder entfernt. 

23. April. Ruhig, wünscht Kostaufbesserung. 

28. April. Dringt auf sofortige Entlassung, um sich ins Wasser stürzen 
zu können. 

1. Mai. Fängt ohne nachweisbaren Grund zu lärmen an, schläft gut auf 
Wasserinjektion. 

6. Mai. Patientin springt plötzlich auf, wälzt sich am Boden, schreit, sie 
müsse wegen starker Bauchschmerzen wahnsinnig werden. Nach eingetretener 
Beruhigung erzählt sie, sie habe eine große Menge Indianer und ein Meer 
voll Blut mit vielen Leichen in lebhafter Bewegung gesehen. Diese Hallu- 
zinationen traten nur in der linken Gesichtsfeldhälfte auf. 

10. Mai. Klar, sieht links die tote Mutter, welche ihr winke. Wünscht 
Gift, um zu sterben. 

23. Mai. Bereitet neuerlich Selbstmordversuche vor. 

In die Irrenanstalt kommt die Kranke ganz heiter; sie geht singend 
mit Blumen in der Hand umher, spricht unaufhörlich, aber recht einfältig. 

26. Mai. In höchster Aufregung heult und weint Patientin, sie habe 
nichts getan und man lasse sie nicht hinaus. Sie beruhigt sich jedoch sofort und 
erzählt ihre Lebensgeschichte. Wegen einer bösen Stiefmutter sei sie vor 
Jahren vom Hause weggelaufen, in den verschiedenen Dienstplätzen hielt sie 
es nirgends lange aus (neuerlich ein Weinparoxysmus). Zuletzt wohnte sie 
mit ihrem Geliebten zusammen; wo? das sage sie nicht; eher lasse sie sich 



134 

^das Herz herausreißen'^. Nach einem im zweiten Monate eingetretenen Abortus 
suchte sie wegen Schmerzen das Krankenhaus auf. Wenn sie gewußt^ wohin 
sie komme; hätte sie sich umgebracht. „Lieber sterben^ als hier bleiben.^ Auf 
die Frage nach Halluzinationen und Anfällen gerät sie in große Aufregung 
und beteuert entrüstet, daß sie nie Anfälle habe und ganz gesund sei. In 
zornigem Afifekt verlangt sie schließlich ihre Entlassung. — Im ftlnften 
Interkostalraum links ein Druckpunkt; linksseitige Ovarie. Im Gegensatze dazu 
ist die linke Seite sonst analgetisch, besteht Hyperästhesie und Hyperalgesie 
auch der tiefen Teile rechts. 

26. Mai. Patientin schreit, drängt hinaus. Nachts guter Schlaf. 

27. Mai. Früh abweisend, zieht bei Annäherung des Arztes die Decke 
über den Kopf, schimpft, es sei ihr zu fad, sie lasse sich nicht einsperren. 

30. Mai. Seit zwei Tagen ganz ruhig, geordnet, beschäftigt sich mit 
häuslichen Arbeiten, klagt über Genitalblutungen. 

1. Juli. Die Reizbarkeit gänzlich geschwunden; die Kranke ist ungemein 
«rotisch, lacht beim Herannahen der Ärzte in ganz läppischer Weise, tollt oft 
ausgelassen durch die Zimmer, bemüht sich dann wieder, einen elegischen Ton 
anzuschlagen, spricht von ihrem gebrochenen Herzen, daß sie verHihrt 
wurde etc. 

28. Juli. Sie kommt von einem Urlaube vorzeitig und freiwillig zurück, 
ist sehr deprimiert. Die Schwester erzählt, daß Patientin in der Nacht auf sie 
hinstürzte, sie gewürgt und gebissen habe. Die Kranke ist dafür amnestisch; 
sie weiß nur, daß sie schreckhaft von Toten und Feuer träumte. Nach zwei 
Tagen wieder das frühere läppische, heitere Verhalten. 

In den folgenden Monaten leicht querulierend, von stets sich steigernder 
Reizbarkeit. Schlägt man ihr einen Wunsch ab, so erfolgen heftige Aus- 
brüche, die das Gepräge eines pathologischen AfTekts, hochgradige Bewußt- 
seinsstörung verraten. Patientin beruhigt sich aber immer gleich wieder. Um 
der drohenden Transferierung in die heimatliche Irrenanstalt zu entgehen, 
welche die Kranke außerordentlich zu fürchten scheint, wird ihrem dringenden 
Wunsche entsprechend versucht, sie in häusliche Pflege abzuschreiben. Als 
ihre Schwester sie abholen kommt, beginnt Patientin ohne ein Wort zu 
sprechen krampfhaft zu weinen, dann zu toben, schlägt Fensterscheiben ein 
und kann nur mit Mühe überwältigt werden. Sie schläft ein, erwacht 
erinnerungslos. 

Im folgenden nimmt die Reizbarkeit noch weiter zu. Die Kranke fordert 
unaufhörlich ihre Entlassung, die sie doch selbst wiederholt unmöglich machte, 
gerät bei ablehnender Antwort in tobsüchtige Erregung, schlägt Fensterscheiben 
ein, scheint dabei lebhaft zu halluzinieren. Sie ist von außen in keiner Weise zu 
beeinflußen, haut mit den durch Glasscherben verletzten Händen blind wütend 
um sich, wendet sich oft in eine bestimmte Richtung, schreit und schimpft 
gegen imaginäre Feinde: „Ihr Mörder, Ihr habt meine Mutter umgebracht, 
Jetzt wollt Ihr mich umbringen^ etc. Nach einigen Stunden klingen diese 
Ausnahmszustände durch einen Schlaf kritisch ab; Patientin ist dann völlig 
amnestisch. 

14. Dezember 1899. Als die Kranke abtransferiert wird, äußert sie, 
sie werde den Ärzten zum Trotze recht brav sein, um bald entlassen zu 
-werden. Das ist ihr auch gelungen. 

Über die Diagnose „Hysterie" ist wohl kein Wort zu verlieren. Betont 
sei, daß die Patientin zweimal ihre Entlassung vereitelt, daß sie zuerst krank 



135 

«ein will, während eine Ortäveränderung prompte Genesung herbeiführt; dies- 
mal auf Grund ausgesprochener Eigensuggestion. Neben dieser Suggestibilität 
und einer Unzahl hysterischer Einzelstörungen auf Grundlage eines hysterischen 
Charakters beherrschen die pathologischen Affekte das Bild. 

Derart stürmische Ausbrüche führen in den allermeisten Fällen auf 
dem Umwege durch einen Selbstmordversuch zur Aufnahme, wie bei den 
zwei letzten Patientinnen. Die Hysterie greift in ihrer Übertreibungssucht 
gleich zum äußersten Mittel und es entspricht mehr dem Charakter des 
Weibes, passiv auf das eigene Leben zu verzichten, als aktiv gegen ein 
fremdes loszugehen. Totschlag im AflFekt erwartet man wohl nur von hyper- 
modernen Frauenrechtlerinnen. Hat ein Weib Absichten gegen fremdes 
Leben, dann spielt der Giftmord, welcher nur Verschlagenheit, aber keine 
Körperkraft, kein Einsetzen der physischen Persönlichkeit erfordert, die 
größte Rolle; die Affekthandlungen aber beschränken sich auf Angriffe 
mit zur Hand liegenden Wurfgeschossen, auf ein Vitriolattentat, welches 
nicht den Kopf kostet, und den Selbstmordversuch. 

Es gibt Hysterische, welche geradezu selbstmordsüchtig sind und 
eine Unzahl Tentamina suicidii, freilich alle mit glücklichem Erfolge 
überstanden haben. Die Beurteilung der hysterischen Selbstmordversuche 
ist ebenso wechselnd, wie die Auffassung des Verhaltens dieser Kranken 
überhaupt. Während einzelne Autoren versichern, daß es den Hysterischen 
bitter ernst sei mit dem Lebensüberdruß, wird von anderer Seite auf 
das Theatralische des Unternehmens, auf die umständliche Vorbereitung 
hingewiesen, endlich auf die zahlreichen Erfahrungen, denen eine große 
Anzahl eigener angeschlossen werden kann, daß die Hysterischen Selbst- 
mordversuche nur unternehmen unter Bedingungen, wo sie nicht reüssieren 
können: so der Versuch, aus dem Fenster zu springen in Gegenwart des 
Arztes; sich aufzuhängen vor den Augen der Leute; ins Wasser zu gehen 
nachdem gemächlich alle Kleidungsstücke abgelegt worden sind, was, 
nicht unbemerkt bleibt. Freilich kommt es auch da zu Unglücksfällen; 
80 stürzte sich ein junges Mädchen eigener Beobachtung aus dem Parterre- 
fenster; sie kam auch richtig auf die Füße zu stehen, glitt aber aus und 
brach sich dabei die Lendenwirbelsäule. Ebenso können Vergiftungsver- 
suche zu einem tödlichen Ende führen, da die Patientinnen die heim- 
tückischen Wirkungen mancher Gifte nicht kennen. Sonst aber haben 
die Hysterischen wohl immer ihren besonderen Schutzengel, d. h. der 
Wille zum Leben ist so mächtig, daß er das Gelingen des Selbstmordes 
vereitelt. Und tatsächlich ist die Zahl geglückter Selbstmorde hysterischer 
Kranker eine verschwindend kleine; während man eine traurig große 
Zahl von Melancholikern kennt, die trotz der strengsten Aufsicht sich 
das Leben zu nehmen verstanden. 

Eine Mehrzahl der in Rede stehenden Patienten spielt mit dem 
Gedanken des Selbstmordes; es wird damit kokettiert, gedroht, die 



136 

Familie in Atem gehalten, ohne daß es den Kranken auch nur im 
mindesten ernst damit wäre, wie sie in einer Anwandlung von Auf- 
richtigkeit selbst zugeben und wie ihr sonst oft sehr lebenslustiges und 
genußsüchtiges Gebaren zeigt. Läßt die besorgte Umgebung sich schrecken, 
dann wird so eine Patientin, die den Lebensüberdruß stets im Munde 
führt, einer Irrenanstalt tiberantwortet; merkwürdig ist, daß das Taedium 
vitae auch hier noch betont wird und die Entlassung erschwert. Nachdem 
diese Kranken ihre Selbstmordabsichten niemals dissimulieren, sollte man 
eigentlich annehmen, die Internierung werde geradezu angestrebt. Andere- 
male drängt es sich auf, daß die Hysterischen mit ihren Drohungen 
ganz bestimmte Zwecke verfolgen, z. B. nach einem Krimen sich der 
Verantwortlichkeit entziehen wollen. Die Unterscheidung gegenüber einer 
Melancholie ist wohl immer leicht zu treflFen, weil die gesamte Stimmung 
weniger eine deprimierte als eine erregte ist, Auflehnung gegen die 
Umgebung vorherrscht. 

Die AfFektausbrüche der Hysterischen können in fließendem Über- 
gange zu Äquivalenten sich entwickeln in deren vielgestaltigen Formen. 
Wenn die AflFekte eine gewisse Höhe erreichen, so trübt sich immer da» 
Bewußtsein; das geschieht schon bei maßlosen Affekten Gesunder, um so 
leichter bei Hysterischen; demgemäß folgen dann Erinnerungslücken, 
Amnesien. Gleichzeitig treten motorische ßeizerscheinungen hervor. Die 
Patienten wälzen sich am Boden, schleudern ihre Gliedmaßen herum — 
ein rudimentärer Krampf, oder sie raufen blind wtitend, zerreißen ihre 
Kleider, schlagen, beißen, spucken auf die Umgebung los — ein Tob- 
suchtsanfall, oder sie delirieren. Hier trifft man auf eine Eigentümlichkeit, 
die zum Wesen der Hysterie gehört: Die Neigung zu Sinnestäuschungen, 
zu rudimentären Delirien. Es gibt Hysterische, die, man könnte sagen, 
de norma in jedem Affekt halluzinieren. 

Eine letzte Gruppe hysterischer Geistesstörungen leitet bereits zu 
den chronischen Psychosen hinüber; es sind jene, bei denen ein anderes 
Symptom des hysterischen Charakters, der Krankheitswille, dominiert. 
Nur psychologisch können die hier eingereihten von den übrigen Formen 
hysterischer Geistesstörung unterschieden werden; denn oft genug sticht 
der Krankheitswille hervor. Hier aber sind die Patientinnen krank, nicht 
um der Krankheit, sondern um ganz bestimmter Zwecke willen. 

Dazu bedarf es in vielen Fällen nicht einmal einer Geistesstörung; 
es genügen die körperlichen Erscheinungen der Hysterie, besonders die 
Anfälle. Dieselben häufen sich so weit, daß mit der Patientin nichts mehr 
anzufangen ist; man muß entweder nachgeben oder sie einer Anstalt 
überantworten. Insofern krankhafte Eigensuggestionen zum ausschlag- 
gebenden Impuls werden, darf man von einer Psychose engeren Sinne» 
sprechen, auch wenn fast nur körperliche Symptome erkennbar sind. 
Ließe man die Störung im Seelenleben hier außer acht, so würde die 



137 

Krankengeschichte nichts verzeichnen als ein Durcheinander körperlicher 
Symptome, regellos auftretender Krämpfe. Zu seiner Überraschung 
gewahrt man bei der psychologischen Analyse ein geistiges Band, das 
alle diese Erscheinungen zusammenhält; das Auftauchen jedes einzelnen 
Symptoms ist zeitlich und nach seiner Formengestaltung bedingt. Die 
ganze Krankheit verläuft gleichsam nach einem wohl durchdachten 
Plane, man möchte glauben, auf Grund von bewußter Überlegung; 
die Paroxysmen gehorchen psychischen Gesetzen. Diese Fälle sind sehr 
wichtig, weil sie die Einheit der Psychose Hysterie beweisen; sie scheinen 
auch viel häufiger als man gemeinhin annimmt. Es lassen sich zwei Gruppen 
unterscheiden : 

Erstens eine aktive Form, die sich nur bei jugendlichen Individuen 
findet; Kranke, die der Umgebung ihren Eigensinn aufzwingen wollen. 
Es sind Hysterische, die mit dem Leben keineswegs abgeschlossen haben, 
bei denen sich Reizvorgänge im Nervensystem abspielen, hin und wieder 
stürmische Affektausbrüche, dazu Simulation, das Bild recht vielgestaltig 
machen. Einen Kasus, wo eigentlich Anfälle ausreichen, um das 
Gewünschte d4irchzusetzen, repräsentiert 

Beobachtung XXVIII. 

Rosa K., geboren 1888, kath., ledig, Kleidermacherin, wird wegen ihrer 
hysterischen Antälle an die Klinik gebracht (April 1902). 

Ein kleines, graziles, sehr blasses, mit außerordentlich erregbaren Vaso- 
motoren ausgestattetes Mädchen, das eine leichte Differenz der Sehnenrefiexe, 
Hypästhesie der linken Gesichtshälfte^ linksseitige Ovarie erkennen läßt. 

Mutter starb an Tuberkulose. Schwerer Geburtsakt. Die Patientin über- 
stand mehrfach Kinderkrankheiten. Die ersten Anzeichen von ^ Nervosität^ 
stellten sich im 12. Lebensjahre ein. Die früher immer lustige Patientin 
begann zu „denken^. Aus der Schule kam sie in ein Kloster zur weiteren 
Ausbildung. Dort wurde sie tiefsinnig, wollte gleich ganz bei den Schwestern 
bleiben. Damit war der Vater nicht einverstanden; er nahm sie aus dem 
Kloster. Die Kranke hatte seitdem an nichts mehr Freude, am ehesten wäre 
sie noch Industriallehrerin oder Buchhalterin geworden; der Vater zwang sie 
aber Kleidermachen zu lernen. Patientin fUgte sich mit innerem Wider- 
streben; das Kloster ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie wurde immer 
bigotter; Schwärmerei für Geistliche hatte von jeher bestanden, nun ging sie 
täglich in die Kirche, trat einem frommen Vereine bei. Ohnmachtsanfälle 
bestehen seit 5, hysterische Krampfanfälle seit 2 Jahren, zeitweise gehäuft, 
nur ausnahmsweise von Delirien gefolgt. 

Patientin von stillem, so recht gottergebenem Wesen, liegt ruhig, wunsch- 
los zu Bett, hat die ersten Tage regelmäßig je 2 Anfälle. Vor denselben 
fühle sie nur Bangigkeit, dann verliere sie nicht ganz das Bewußtsein, sie 
höre sprechen, verstehe aber nicht. Auftrag: Die Anfälle müssen aufhören. 

Tatsächlich hat Patientin bis zum 21. April täglich nur mehr je einen 
Paroxysmus; immer abends außer der Zeit der Visite. Als heute der Arzt gerufen 
wird, ist der Krampf schon vorrüber. Die Kranke bestätigt, daß sie einen 
solchen hatte; sie wußte alles, was um sie herum vorging; nur konnte sie 
sich nicht rühren. Als der Arzt fortgehen will, beginnt sogleich ein neuer 



138 

Anfall. Patientin wird ganz steif, bohrt das Hinterhaupt in die Kissen^ schließt 
die Augen. Öffnet man dieselben gewaltsam, so sieht man, daß die Sehachsen 
auf die Nasenspitze eingestellt sind. Nach wenigen Augenblicken gehen die 
Bulbi gerade aus, um dann neuerlich zu konvergieren. In kurzen Pausen 
erfolgen ruckartige Stöße, symmetrisch mit beiden Armen, Aufbäumen von 
Brust und Bauch. Die Kranke reagiert auf keinen Anruf, keinen Nadelstich. 
Dauer des Anfalles ^/^ Stunden. 

Patientin gewöhnt sich langsam ein, wird freier, manchmal leicht heiter; 
sie erholt sich auch körperlich, verläßt am 24. April das Bett; an diesem 
Tage kein Anfall, ebensowenig am 25., wo mit dem ausführlichen Examen 
begonnen wird. 

Das junge Mädchen ist außerordentlich intelligent und berichtet in form- 
gewandter Darstellung über ihre Lebensverhältnisse. Als die Kranke 47^ Jahre 
alt war, starb ihre Mutter; indessen machte das keinen Eindruck auf sie; 
ebensowenig als der Vater noch im selben Jahre wieder heiratete. Im Alter 
von 12 Jahren sah sie einmal, wie ein Kind in die Pferde lief; sonst ist kein 
psychisches Trauma zu eruieren. Patientin hatte schon früh ausgesprochene 
Sympathien und Antipathien. So fühlte sie sich zu ihrem Religionslehrer außer- 
ordentlich hingezogen. Sie wurde von demselben mit einigen Kolleginnen öfters 
eingeladen; daraus entstanden Tratschereien, weshalb ihr der Vater den Besuch 
des Pfarrhofes verbot. Sie ging trotzdem hin, wich erst bösen Gerüchten und 
einem anonymen Briefe. Dann kam sie ins Halbinternat zu den Barmherzigen 
Schwestern. Zu Hause gab es erregte Auseinandersetzungen wegen ihrer über- 
großen Frömmigkeit, ihr Vater machte ihr Schwierigkeiten, wenn sie die 
Fastengebote aufs strengste einhalten wollte. Während sie sich ärgerte, wenn 
man vom Heiraten sprach, kein Verständnis für die Ehe hatte, gefiel ihr das 
Klosterleben sehr gut; sie ließ sich durch den geistlichen Direktor zu allen 
möglichen Andachtsübungen bestimmen. Um diese Zeit dachte sie viel an die 
Untreue einer früheren Freundin, litt unter den häuslichen Zwistigkeiten, verlor 
den Appetit. 

Nun begann ihr schlecht zu werden, besonders in der Kirche, die 
sie täglich besuchte; so w^ie sie an die frische Luft trat, war es wieder 
gut. Einmal beichtete sie, daß es über ihre Beziehungen zu jenem Geistlichen 
Tratschereien gegeben habe; sie sprach sich aber nicht aus und macht sich 
jetzt noch Vorwürfe darüber, daß sie nicht alles klarlegte. Als nach dieser 
Beichte der Priester abspeisen kam, wurde sie das erste Mal ohnmächtig; sie 
verlor vollkommen das Bewußtsein, fühlte nicht, daß sie umfiel; ewachte in 
den Armen einer Frau. Diese Ohnmächten wiederholten sich öfters; besonders 
in der Kirche und bei den unerfreulichen Diskussionen zu Hause. Ihr Ent- 
schluß ins Kloster zu gehen war jetzt unerschütterlich. Der erste große An- 
fall ereignete sich im Jahre 1901 gelegentlich geistlicher Exerzitien in St. P. 
Patientin gibt folgende Darstellung. Sie traf übermüdet in dieser Stadt ein, 
aß mangelhaft, lief noch herum, Sehenswürdigkeiten besichtigen. In der Kirche 
hatte sie ihren bestimmten Platz in der Nähe des Ausganges; die ganze Um- 
gebung wußte, daß sie an Ohnmächten leide. Die Kranke war in einer ge- 
wissen Spannung, sie wollte ihren Kolleginnen die Freude nicht machen, bei 
der schönen Rede des Geistlichen zu weinen, beherrschte sich gewaltsam, 
doch in der Befürchtung, es könnte etwas geschehen. Nun trat der erste 
Anfall auf und wiederholte sich in kurzen Zwischenräumen, so daß binnen 
3V2 Tagen 40 AnfUlle kamen. Von ihr gingen die AnfUlle auf einen Teil 
ihrer Freundinnen über. Eine regelrechte psychische Epidemie! 



139 

Das postparoxysmelle Delirium^ das nur außerordentlich selten auftritt, ist 
die Umbildung eines wirklichen Erlebnisses. Eine Kollegin und Fieundin lud sie 
zu sich und machte ihr eine Eifersuchtsszene: sie gehe immer nur dann in 
die Kirche, wenn ihr Beichtvater Dienst habe. Dabei schien der Patientin dieses 
Frauenzimmer ganz verändert im Gesichte, wie eine wilde Katze; Katze auch 
daimm, weil sie so falsch war und anonyme Briefe geschrieben respektive ge- 
fälscht hatte. Nach einigen schlechten Nächten fühlte die Kranke dann einen 
Druck, wie wenn dieses Frauenzimmer wirklich als wilde Katze sie bedrängte, 
und sie halluzinierte dieses Bild. 

Die Patientin ist von unerschütterlicher Frömmigkeit, hält namentlich 
an allen Äußerlichkeiten der Religion fest; sie erkannte von jeher nur die 
Autorität des Katecheten an, tat ihm alles zu Gefallen, verweigerte anderen 
Personen den Gehorsam. Sie erscheint von gleichmäßiger innerer Heiterkeit 
erfüllt, läßt nach außen gar nicht merken, daß ihr etwas nahegeht, ist aber 
doch sehr empfindlich gegen die kleinlichsten Auseinandersetzungen. Sie schluckt 
jeden Widerspruch hinunter, handelt nach eigenem Willen. Das Gedächtnis 
scheint treu, für Lügen ist kein Anhaltspunkt zu gewinnen. Neigung 
zu Eifersüchteleien; schon als Kind bemerkte sie, daß die Mutter ihre andere 
Schwester lieber hatte. Warum sie mit den Eltern nicht auskommt, weiß sie 
nicht zu erklären. Im Kloster habe man sie so liebevoll behandelt un^ zu 
Hause gebe es immer Streit. Am 

26. April noch ein Anfall. Patientin verlangt nach ihrem Beichtvater; 
sie wolle sich aussprechen. Läßt sich aber dahin bringen, mit dem Anstalts- 
Seelsorger vorlieb zu nehmen. Am 

29. April, 2. und 6. Mai je ein leichter Anfall. 

8. Mai. Nach mancherlei Schwierigkeiten und Mißverständnissen findet 
die Unterredung mit dem Geistlichen statt, welcher die Kranke an die Ärzte 
verweist Depression; Patientin legt sich ins Bett. 

9. Mai. Verlangt spontan, dem Arzte alles anvertrauen zu dürfen. Sie 
habe ihren Katecheten wirklich geliebt, ist überzeugt, daß auch er sie liebte. 
Eine Reihe von Mädchen war wiederholt zur Jause in den Pfarrhof eingeladen, 
dann erschien sie auch allein dort, wurde von dem Pater bevorzugt. Um so 
empörter war sie über die anonymen Briefe, mit denen man sie auseinandertrieb. 

15. Mai. Nachmittags Besuch des Vaters. Patientin beklagt sich dann, 
daß sie aufs Land solle, was gegen ihren Willen sei. 

16. Mai. Liegt heute zu Bett; sie habe sich gestern so aufgeregt (was 
ihr übrigens nicht anzumerken war). Sie wolle lieber hierorts in ein Konfektions- 
geschäft eintreten. Motiviert die Antipathie gegen einen Landaufenthalt damit, 
daß sie dort in ihren Keligionsübungen zu kontrolliert sei. Nur in Wien 
könne man ohne Aufsehen täglich in die Kirche gehen. Die Kranke läßt durch- 
blicken, daß persönliche Beziehungen noch mitspielen. — Während die 
Patientin dem Vater gegenüber trotzig ist, gelingt es dem Arzte leicht, darch 
Zuspruch sie beliebig zu dirigieren. Es wird ihr aufgetragen, sich des Kloster- 
gelöbnisses für die nächste Zeit entbinden zu lassen. Sie müsse ganz gesund 
sein und sich überzeugt haben, daß sie für das Leben in der Welt nicht 
tauge. Über ein paar freundliche Worte erklärt sie sich sogar damit ein- 
verstanden, aufs Land zu gehen. Seit dem 6. Mai vollkommen anfallsfrei, 
arbeitet regelmäßig schließt mit einer Leidensgefährtin ein inniges Freundschafts- 
verhältnis. 

Am 6. Juni ereignet sich auf einer benachbarten Abteilung ein hysterischer 
Schlafzustand, von dem die Kranke nur durch Hörensagen Kenntnis erlangt. 



140 

Am 7. Juni nachmittags, zur Zeit der Visite, schließt sie plötzlich die 
Augen, beginnt vor sich hinzusprechen, wie ihr Vorbild, läßt sich von der 
befreundeten Hysterica mit rührender Sorgfalt betreuen. Zu Bett gebracht, 
mussitiert sie in monotoner Weise weiter (religiöse Reminiszenzen, Heiraten); 
keine Konvulsionen, keine Katalepsie. Sie reagiert weder auf Anruf, noch auf 
schmerzhafte Reize. Dieser Zustand dauert bis 7 Uhr abends an. Nachts schläft 
die Kranke gut. Am 

S. Juni beim Kirchenbesuche ein gleicher Anfall; sie wird ins Bett 
getragen. Kurze Aufforderung des behandelnden Arztes, das Bett zu verlassen, 
ist von prompter Wirkung. Patientin bleibt von jeglichen Störungen frei und 
wird am 13. Juni zum Landaufenthalt entlassen. 

Die psychologische Analyse ist hier recht lehrreich; ebenso das Spiel 
der häufigeren und selteneren AniUlle, die entweder bei öfifentlichen religiösen 
Übungen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie lenken, meist aber sich genau 
den bewußten und auch eingestandenen Zwecken anpassen. Über Hysterie und 
Frömmigkeit wurde schon gesprochen; daß Frömmigkeit und Sexualität ihre 
Beziehungen haben, dürfte ebenso außer Zweifel stehen, es sei nur an die 
religiösen Schwärmereien erinnert, den Klosterdrang, der fast physiologisch 
beim Erwachen der ersten dunkeln Sexualgefühle, nicht nur bei Mädchen, oft 
auch bei jungen Männern zur Beobachtung kommt; an die brünstige Heiligen- 
verehrung — schon das Wort ist bezeichnend für das Feingefühl des Volkes — , 
die Flucht in die Religion bei sexueller Unbefriedigung. Auch bei der in Rede 
stehenden Hysterica führt der unwiderstehliche Drang ins Kloster zu gehen auf 
normale oder pathologische Sexualität zurück. Man erfährt, daß der etwas frei- 
geistige Vater ihren übei*triebenen religiösen Übungen, speziell allerdings den 
Einzelbesuchen bei Geistlichen, gewaltsam ein Ende machte, daß er sie um 
jeden Preis und gegen ihre Neigung zu einem weltlichen Berufe anhalten 
wollte. Nun setzen die Anfalle ein und zwingen den Vater nachzugeben. Er 
ist der Kranken gegenüber machtlos; dieselbe bringt die Stiefmutter, die ganze 
Bekanntschaft auf ihre Seite und arbeitet sich schließlich in die Irrenanstalt. 
Erst dort gelingt es ihr klar zu machen, daß sie ins Kloster nur gehen könne, 
wenn sie gesund sei. Es wird eine Bedenkzeit ausbedungen, aber der Vater 
muß sich doch fügen, sie hat seine Zusage in der Tasche. 

Noch eine ganze Reihe kleiner Einzelheiten ist der Krankengeschichte zu 
entnehmen. Der erste Anfall entstand wohl auf körperlicher Grundlage. Die 
Abspannung frühmorgens beim Verweilen in einer überfüllten Kirche, die 
bleichsüchtigen jungen Personen sehr leicht zu einer Ohnmacht verhilft, führte 
auch hier zu Bewußtseinstrübung. Einmal vollkommen nüchtern unter dem 
Gemütseindrucke des heiligen Abendmahles, wurde sie wirklich ohnmächtig. 
Nun ist bei der enorm suggestiblen Person die Störung gebahnt; autosuggestiv 
wiederholt sich die Synkope, zunächst in der Kirche, sowie sie daran denkt; 
später als Zweckmittel bei häuslichen Auseinandersetzungen. Es ist ganz 
bezeichnend, daß auch an der Klinik ihr Verhalten vollkommen der Art 
.entspricht, wie Patientin behandelt wird: in den Tagen, wo man ihren Wünschen 
Schwierigkeiten zu bereiten scheint, anfangs Mai, kommen Anfalle, die schon 
lange ausgeblieben waren, ihre Stimmung ist umgeschlagen. Vom Anstalts- 
geistlichen abgewiesen, wird sie tief deprimiert, liegt zu Bette, nimmt einen 
ganz anderen Gesichtsausdruck an, bis sie mit sich selbst wieder im Reinen 
und entschlossen ist, dem Arzte zu beichten. Der Besuch ihres Vaters wirkt 
immer schlecht, der ihrer Schwester, eines übermütigen, jugendtollen Mädchens^ 



• 141 

mit der sie allerlei Heimlichkeiten zu haben schien, günstig. Endlich bietet 
sie noch einen hysterischen Schlafzustand, der auf Entfernung übertragen wird 
and die Labilität dieses Nervensystems aufs schlagendste beweist. 

Einen Übergang zu der zweiten Form bildet 

Beobachtung XXIX. 

Anna D., 33 Jahre alt, ledig, katholisch, Magd, kommt am 9. März 1903 
an die Klinik, nachdem sie durch lautes Schreien auf einer internen Ab- 
teilung störend geworden ist. 

Sie gibt beim Examen Auskunft unter Tränen und übertreibt ihre pathetisch- 
theatralischen Gebärden und Gestikulationen, in einem Grade daß es kaum 
möglich ist, ernst dabei zu bleiben. Sachlich kommt nur heraus, daß sie Mutter 
eines 11 Jahre alten Kindes sei; der Vater dieses Kindes habe sie verlassen. 
Seither (6 Jahre) leide sie an Antillen, die als typisch hysterische beschrieben 
werden. Um ihren Seelenschmerz zu übertäuben, in der Hoffnung zu gesunden, 
habe sie sich bemüht, nochmals gravid zu werden, wie sie in Einfalt, die rühren 
soll, erzählt. Allein trotz eines zweiten Partus sei sie noch krank. Hier an 
der Klinik könne sie unmöglich bleiben. Mit dem Ausdrucke des tiefsten 
Schmerzes erhebt sich Patientin vom Sessel, taumelt und stürzt wieder auf 
den Sessel zurück; sie ist kaum aus dem Zimmer zu bringen. Körperliche 
Untersuchung unmöglich; sowie man sie irgendwo berührt, beginnt sie zu 
zappeln oder schleudert sich in die Höhe. 

Der Zustand bessert sich rasch. Die Kranke markiert zwar psychische 
Störungen: wenn man sich mit ihrer Nachbarin zu lange beschäftigt, beginnt 
sie zu monologisieren. Allein das geht bei Nichtbeachtung schnell vorüber. 
Einen Tränenausbruch erzielt man nur mehr bei Berührung ihres Herzens- 
romanes. 

Nach Stägigem Aufenthalte in der Klinik ist Patientin so ruhig ge- 
worden, daß sie in häusliche Pflege übergeben werden kann. 

Von einer Geistesstörung im engeren Sinne ist hier keine Rede; die 
Karrikatur, welche sie liefert, hat nur den Zweck, mehr Teilnahme zu er- 
zwingen, ihr Erlebnis — die alltägliche Geschichte — reicht augenscheinlich 
dazu nicht ans. Alle Ausdrucks-, aber auch alle Reflexbewegungen sind ins 
Ungeheuerliche gesteigert, ohne daß daraus auf eine besondere psychische 
Energie geschlossen werden dürfte. Patientin ist ohne Beschäftigung und kann 
die ganze Spannkraft ihres Nervensystems in Ausdrucksbewegungen erschöpfen. 
Dieselben ermöglichen die Diagnose auch auf den ersten Blick. Die Art, wie 
sie zum Examen antritt, wie sie auf die ersten Fragen reagiert, lassen keinen 
Zweifel über, daß es sich um eine Hysterica handelt. 

Bliebe noch zu erörtern, warum es gerade jetzt zu der Exazerbation 
des Dauerzustandes kam. Psychologisch ist dieselbe sehr leicht zu motivieren. 
Patientin war schon 5 Monate ohne Posten und ließ sich von Verwandten 
erhalten. Da diese aber von der Schwere der Erkrankung oder eigentlich von 
der Arbeitsunfähigkeit nicht so überzeugt waren, wie die Patientin selbst, 
so einigte man sich, das Spital aufzusuchen. Auf der internen Abteilung 
deutete man der Kranken an, daß es mit ihr noch nicht zu Ende gehe; man 
konnte ihr nicht einmal die beanspruchte Invalidität zugestehen. Nun revoltiert 
sie und erzwingt durch ihr Lärmen die Anerkennung ihrer Krankheit als 
Oeistesstörung. Das genügt vorläufig, macht auf die sonst zärtlich besorgten 
Verwandten so viel Eindruck, daß diese sich bemühen, die Patientin aus dem 



142 • 

gesperrten Zimmer möglichst bald zu erlösen. Da die Ärzte hier übrigens 
auch keine Miene machen, die Schwere ihrer Krankheit gelten zu lassen, so 
beeilt sie sich, den Augenblick der gflnstigsten Konjunktur zu nutzen und 
versucht es wieder in Familienpflege. 

Man kann einwenden, daß alle diese Raisonnements Gedanken- 
gänge eines unbeteiligten Dritten sind, welche in die Patienten hinein 
interpretiert werden. Tatsache ist, daß über das Innenleben, über das 
Vorhandensein von Motiven durch die Kranken direkt nur selten Auf- 
klärung zu bekommen ist — immerhin gibt es Hysterische, welche so 
beschränkt oder anfallsweise so aufrichtig sind, daß sie Einblick in ihr 
innerstes Wesen gestatten, Triebfedern ihres Handelns erraten lassen. Dem 
was sie erzählen gegenüber tut größte Skepsis Not, der von den Patienten 
oft aufdringlich geäußerten Selbstkritik ist am wenigsten zu glauben. 
Wenn man aber das gesamte subjektive und objektive Beobachtungs- 
material verarbeitet, findet man logische Verbindungsglieder und ist zu 
der Annahme gezwungen, daß parallelle Gedankenreihen in der kranken 
Persönlichkeit ablaufen. Schließlich lassen sich psychische Vorgänge 
nur auf die Weise studieren, daß man Analogieschlüsse vom eigenen 
Seelenleben auf das des zweiten Individuums zieht. Die Möglichkeit weiter 
zu forschen. Neues, immer wieder Bestätigtes zu erfahren, rechtfertigt 
diese grundlegende Prämisse. Wenn man nun sieht, daß bestimmte An- 
nahmen* regelmäßig, bei einer stets wachsenden Zahl von Hysterischen 
zutreffen, indem um eine Zielvorstellung die psychischen Prozesse sich 
gruppieren, indem ein Leitgedanke den Verlauf so und so vieler Fälle 
verständlich macht: dann kann man nur mehr darüber streiten, ob der 
Wille krank zu sein, bewußt oder unterbewußt, die Äußerungsweise des 
Individuums beeinflußt. 

Die zweite Gruppe dieser Art von Hysterischen wird gebildet 
durch ältere Personen, nur ausnahmsweise jugendliche, schwer degenerativ 
veranlagte Individuen, die das Gemeinsame haben, daß die Insuffizienz 
des Körpers und des Geistes im Vordergrunde steht. Diese Leute fühlen 
sich den Anforderungen des Lebens in der menschlichen Gesellschaft, 
dem Kampfe ums Dasein nicht gewachsen; es ist der mehr oder weniger 
deutlieh ausgesprochene Wunsch nach einer bequemen Versorgung, einer 
arbeitsfreien, vegetativen Existenz, welcher die Krankheitserscheinungen 
beherrscht. Man kann die Patienten am treffendsten charakterisieren 
durch die Bezeichnung Spitalschwestern. 

Die Hervorbringung von Krankheitserscheinungen scheint eine 
gewisse Anstrengung zu kosten; man kann den Eindruck nicht loswerden, 
daß diese leistungsunfähigen Patientinnen, wo es nur angeht, selbe vermeiden 
jeweils gerade nur soviel Symptome produzieren, als sie brauchen, um 
ihre Anstaltsbedürftigkeit zu motivieren. Im Gegensatze zu der aktiveren 
Hysterie treten hier hysterische Anfälle gar nicht bei der Visite auf 



143 

sondern anßerhalb derselben. Bezeichnenderweise berichten die Patientinnen 
spontan über solche und ganz merkwürdig ist, daß die aufmerksame 
Umgebung oft von diesen Anfällen nicht das mindeste wahrnehmea 
konnte. Es sieht fast so aus, wie wenn die Patientinnen sich nicht 
trauen würden, ihre höchst primitiven Krankheitsäußerungen der Kritik 
der Ärzte preiszugeben, einen regelrechten Anfall gar nicht zusammen- 
bringen und sich darum auf das einwandfreiere Selbstreferat beschränken. 
Gelegentlich wird ganz naiv die subjektive Krankheitsüberzeugung nicht 
weiter begründet. Insofein es gelingt, therapeutisch einzugreifen, einen 
gewissen Zwang auszuüben, sind diese Fälle, allerdings nur in einem 
kleinen Bruchteile heilbar. Man trifft sie, wie schon bemerkt, gar nicht 
selten. Da sie aber unproduktiv, von außergewöhnlicher Einförmigkeit sind, 
sollen aus einer größeren Zahl einschlägiger Beobachtungen hier nur zwei 
Typen wiedergegeben werden, eine ältere und eine jüngere Person betreffend. 

Beobachtung XXX. 

Emilie S.^ 42 Jahre alt^ Witwe^ katholisch; Bedienerin^ kommt am 
6. März 1903 an die Klinik. 

Im Parere heißt es: In früherer Zeit weniger, seit 14 Tagen außer- 
ordentlich häufig, fast stündlich Anfälle von 10 Minuten Dauer, verschieden- 
artigem Verlauf, nachfolgender Amnesie; körperliches Übelbefinden, Kopf- 
schmerzen und Irrereden. Patientin bittet selbst um Aufnahme. 

Ruhig, schläft des Nachts. 

7. März. Geordnet, gibt aber auf Fragen nur unvollständig Auskunft. 
Sie erkennt die Örtlichkeit als Spital, weiß nicht welches; sie kennt weder 
Jahreszahl noch Wochentag, nennt als Monat Jänner, meint heute den 
dritten Tag hier zu sein. Ihr Mann £ei vor 3 oder 4 Jahren gestorben. Seither 
lebe sie mit ihren 4 Kindern von Unterstützungen. Bis vor 6 Jahren war sie 
ganz gesund; seit damals Anfälle, die etwa V2 'Stunde (!) anhalten. Die Leute 
erzählen ihr, daß sie phantasiere. Sie war schon wiederholt in Krankenhäusern, 
kann aber weder Zeit noch die tarnen der Anstalten nennen. Endlich klagt 
sie ausfuhrlich über Kopfschmerzen, die sie in die Scheitelgegend und in die 
linke Schläfe lokalisieren, über Schwindel, Sehschwäche, zusammenziehende 
Schmerzen in der Herzgrube etc. — Gegenüber Druck wird am ganzen Körper 
lebhafter Schmerz geäußert, ohne daß lokalisierte Druckpunkte auffindbar 
wären; auf jeden Eingriff rengiert die Patientin mit Jammern. Über Auftrag 
führt sie nur sehr beschränkte und kraftlose Bewegungen aus; eine Lähmung 
ist nirgends nachzuweisen. Allgemeine taktile Anästhesie; doch werden 
einzelne Male an verschiedenen Stellen der rechten Körperhälfte Spuren 
von Empfindung angegeben. Gegenüber Nadelstichen links Analgesie, rechts 
Hypalgesie. Passive Finger- und Zehenbewegungen werden links gar nicht 
wahrgenommen, rechts wohl, aber nicht näher erkannt. Glaucoma simplex. 

16. März. Patientin erklärt sich einverstanden mit der vorgeschlagenen 
Operation, nimmt dann die Zustimmung wieder zurück, sie fürchte sich. Stets 
leidselig, sonst ganz geordnet, zu Bett. 

18. März. Wehrt sich mit großer Entschiedenheit gegen Transferierung 
auf eine interne Abteilung; sie will hier bleiben, bittet gleichzeitig um Auf- 
besserung des Speiszettels. 

20. März. Muß zugeben, daß sie nicht geisteskrank ist, daß sie an der 



144 

Klinik überhaupt noch keinen Anfall hatte. Da sie schwach sei; nicht arbeiten 
könne, bittet sie neuerlich, hier bleiben zu dUrfen. Am 

21. März wird Patientin trotz ihres Protestes transferiert, um wenige 
Tage später der Versorgung übergeben zu werden. 

Eine Kranke, die man widerrechtlich ihrer Freiheit nicht berauben kann; 
Patientin wäre am liebsten in die Irrenanstalt gegangen, wohl weil sie sich 
dort am ehesten aufgehoben glaubte. Nur die Psychiatrie gewährte ihr einen 
Unterschlupf; jede interne Abteilung hätte sich bestrebt, die Kranke schleunigst 
wieder zu entlassen, wie sie aus eigener Erfahrung wußte. Daher die sonst 
unbegreifliche Vorliebe für die jedem anderen so schreckliche und lärmende 
Umgebung. Draußen hat die Person in drückender Notlage vom Bettel gelebt, 
wobei ihre Anfälle möglicherweise eine Rechtsgrundlage sowie einen Schutz 
vor polizeilicher Verfolgung bilden. Sie verdient jedoch das Existenzminimum 
nicht mehr; die Anfälle werden außerordentlich häufig, so daß der Amtsarzt 
gerührt, sie der Klinik zuweist. Damit sind die Anfälle wie abgeschnitten. 
Ähnliche Beobachtungen treffen flir Hysterische dann zu, wenn die Kranken 
den Schädlichkeiten ihrer ständigen Umgebung entzogen werden, wenn die 
Internierung einen psychischen Eindruck auf sie macht. Letzteres Moment fällt 
vollkommen weg, da es sich um eine alte Spitalsschwester handelt; nur der 
Existenzsorgen ist sie durch die Aufnahme enthoben; die Anfälle haben ihr zu 
einem warmen Essen verholfen. Nun siegt ihre Schwäche; sie spart mit 
aktiven Krankheitserscheinungen; man kann sich des Eindruckes nicht er- 
wehren, daß sie den Mut nicht aufbringt, an der Klinik so einen Anfall zu 
wiederholen. Laut Anamnese sind dieselben verschiedenartig verlaufen; auch 
das spricht dafür, daß hier wohl kaum ein streng gesetzmäßiger Mechanismus 
bei völliger Ausschaltung des Bewußtseins ablief. Der Arzt bemühte sich ver- 
gebens, irgend etwas Anfall ähnliches zu provozieren; die Kranke beschränkt 
sich auf subjektive Klagen, deren Unwahrheit man ihr nicht beweisen kann. 
Die körperlichen Stigmen der Neurose beleuchten den Charakter dieser Leid- 
seligkeit. — Psychisch besteht eine Denkträgheit mit dem Nichterinnern- 
wollen, wie es ganz typisch bei Hysterie vorkommt. 

Patientin ist nicht dazu zu bringen, das Bett zu verlassen; sie muß in 
die Versorgung geschrieben werden, insofern allgemeine Unlust und Schwäche- 
gefUhle die Versorgungsbedürftigkeit begründen. Ihr beginnendes Glaukom 
kann als Krankheit nicht gerechnet werden, da das Sehvermögen für ihre 
Beschäftigung noch vollkommen ausreicht. Es ist nur ein bezeichnendes Detail, 
daß sie jede Behandlung des greifbaren Leidens ablehnt, sich auf der Augen- 
klinik gar nicht behandeln lassen will, sie braucht ja ihre Krankheit. 

Beobachtung XXXI. 

Melanie Z., 2 4 Jahre alt, ledig, katholisch, Magd, kommt am 16. November 1902 
an die Klinik. 

Patientin konnte in der Schule nicht mit, wurde nach Hause geschickt. 
Seit drei Jahren bestehen ohne bekannten Anlaß AnfUUe; die Kranke 
stürzt um, wird dabei rot im Gesicht, schreit o weh! schluchzt, hat Atemnot; 
bald ist sie steif, dann schlägt sie wieder mit beiden Händen herum; einmal 
wurde Are de cercle beobachtet Man schildert die Patientin als sehr verlogen. 

17. November. Klar, erzählt, daß sie seit drei Tagen auf einem neuen 
Dienstplatz sei; sie fühlte sich vollkommen wohl bis gestern früh 6 Uhr, wo 
sie beim Aufwaschen zusammenstürzte und bewußtlos blieb bis 9 Uhr; dann 



145 

ging sie zu ihrer Schwester^ dort wurde sie wieder bewußtlos bis 1 Uhi*; um 
2 Uhr kam der dritte Anfall, sie mußte weinen. Um 4 Uhr erwachte sie, wurde 
ins Spital gebracht. Gegenwärtig habe sie noch Kopfschmerz und Schwindel. 
Zur Anamnese gibt Patientin an, daß sie bis zum 19. Jahre im Elternhause 
war, dann in Dienst trat, nirgends es aushielt. Seither leide sie auch an 
ihren Anfällen. Sie fühle Schwindel, sehe Farben, wisse nichts von sich; sie 
liege durch eine Stunde da wie ein Stück Holz; niemals habe sie sich eine 
Verletzung zugezogen. Die Anfälle kommen speziell nach Aufregungen; gestern 
aus Angst, ihren Posten wieder zu verlieren. — Die Kranke, mit ihrer Ein- 
bringung ganz einverstanden, ist hier zufrieden; draußen habe sie ja niemand, 
der für sie sorgen könne. 

Neuropathischer Gesichtsausdruck; mehrfache Degenerationszeichen. Schädel 
fast überall, außerdem alle Nervenpunkte druckempfindlich. In der linken 
Gesichtshälfte Hypalgesie; Analgesie über beiden Mammae. Menses. 

21. November. Analgesie stark schwankend, heute nirgends nachzuweisen, 
wechselnde Hypalgesien. 

28. November. Patientin berichtet bei der Visite, daß sie einen Anfall 
hatte. Wärterinrapport: Die Kranke habe sich im Bette hin und hergewälzt; 
antwortete aber während dessen auf Ansprache. 

7. Dezember. Ein gleicher „Anfall^. Patientin wünscht dringend hier zu 
bleiben. Da keine weiteren Störungen auftreten, wird sie als zu selbständiger 
Lebensführung ungeeignet am 

21. Dezember in die Versorgung abgegeben. 

Die kurzen Daten dieser Krankengeschichte erhalten eine Bedeutung 
erst unter Berücksichtigung der äußeren Verhältnisse. Ein psychologisch 
forschendes Examen war bei dieser schwachsinnigen Person völlig aussichts- 
los; für ein determinierendes Trauma liegt kein Anhaltspunkt vor. Man sieht 
aber, daß die Anfälle beginnen, sowie die Patientin selbständig durch Arbeit 
sich fortbringen soll: eine Aufgabe, der das angebored minderwertige 
Zentralnei*vensystem nicht gewachsen ist. Andererseits ist sie aus besserer 
Familie, hatte auch bessere Zeiten gesehen. Sie möchte weiter gehätschelt 
werden und vereitelt jeden Versuch, sie auf eigene Füße zu stellen, durch 
Anfälle. Es ist die bekannte hysterische Umkehrung, wenn die Kranke äußert, 
sie bekomme einen Anfall, weil sie gleich beim Eintritt in den Dienst Angst 
habe, ihren Posten zu verlieren. Sie will ja nicht dienen, fühlt sich untauglich 
zu jeder Arbeit, wie sie dem Arzte ganz offenherzig zugibt. Die schreckliche 
Tatsache ihrer Internierung, die Furcht vor den Geisteskranken löst merk- 
würdigerweise keinen Anfall aus. Man erklärte der Patientin, daß sie nicht 
anstaltsbedürftig ist; sie soll ihren Angehörigen zurückgegeben werden. 
Als unmittelbare Antwort darauf berichtet bei der nächsten Visite die Patientin 
selbst, daß sie einen Anfall gehabt habe. Überzeugender kann der Zweck des- 
selben nicht demonstriert werden; sie bringt sich um die Freiheit, wie sie 
sich um ihre Dienstplätze gebracht hat Die Bewegungsformen sehen übrigens 
gar zu willkürlich aus, so daß sie nicht einmal der Wärterin imponieren. Auch 
die Kranke selbst scheint nicht so viel Zutrauen zu ihrem Anfall zu haben, 
um sich der Skepsis der Ärzte auszusetzen. Erst als die Erinnerung an den 
Paroxysmus zu verblassen beginnt und neuerlich die Entlassungsfrage vor ihr 
erörtert wird, kommt ein zweiter Anfall, den nur die Nachbarin beobachtet. 
Immerhin genügt derselbe, um die Angehörigen von der Unheilbarkeit des 
Leidens zu überzeugen; Übeniahme wird abgelehnt und die Patientin, welche 

Raima QU, Die hysterischen Gelstesstöruugeu. 10 



146 

kaum einen Affekt^ aber auch keine ordentliche Hysterie aufbringt, muß der 
Versorgung tibergeben werden. 

I 

Einen geradezu komisehen Anstrich gewinnt diese Unfähigkeit, den 
Ärzten gegenüber irgendwelche aktive Krankheitserscheinungen aufrecht- 
zuerhalten trotz des lebhaften Krankheitswunsches und wahrscheinlich 
auch Krankheitsgefühles in folgender 

Beobachtung XXXII. 

Elisabeth K.; 34 Jahre alt; katholisch, verheiratet^ Kleinhäuslerin. 

Seit 7 Jahren bestehen Krampfanfälle mit Bewußtlosigkeit, nachfolgender 
Amnesie, meist in der Nacht; nachher klagte Patientin durch mehrere Tage 
über Kopfschmerz, erschien der Umgebung „verwirrt". Seit 2 Jahren kommen 
solche Anfälle mehrmals täglich; seit 15. Jänner 1903 erscheint die Kranke 
dauernd verwirrt, spricht davon, daß das Haus und die Kinder verhext seien^ 
schläft nicht, macht Fluchtversuche. 

3. März 1903. Seit der Aufnahme ruhig. 

4. März. Bei der Visite gibt Patientin sehr schleppend Auskunft. Ziemlich 
unklar und widerspruchsvoll berichtet sie von Anfällen, beginnt während der 
körperlichen Untersuchung die Hände mit gespreizten Fingern vor sich hin- 
zustrecken und rhythmische Schüttelbewegungen auszufuhren; sie spricht dabei 
fort, behauptet, das sei der Anfang. Als man die Sache nicht sehr ernst 
nimmt, gibt sie zu, sie wisse nicht, sei es die Kälte oder der Anfall. Während 
dieser Zeit sind die Pupillen ziemlich weit, reagieren nicht auf Licht! Bei 
psychischer Ablenkung hören die Schüttelbewegungen allmählich auf. Patientin geht 
auf Fragen ein, zeigt dauernd besorgten Gesichtsausdruck. Sie sei über Veran- 
lassung ihres Arztes vom Manne hierher gebracht, um gesund zu werden. Sie weiß 
sich im Wiener allgemeinen Krankenhause; zeitliche Orientierung unvollständig. 

Einige Stunden später neuerliches Examen: Die Anfalle beginnen mit 
einer aufsteigenden Sensation in der Magengrube; sie verliere das Bewußtsein. 
Seit 2 Jahren sei sie sehr vergeßlich geworden, trotzdem habe sie die Wirtschaft 
geführt und gekocht. Über die letzten Tage wisse sie nichts, weil sie den 
Krampf hatte; sie soll den Ofen umgeworfen haben. Während der ganzen 
Unterredung befinden sich die beiden auf den Oberschenkeln aufliegenden Arme 
in einem rhythmischen Schütteltremor, der nicht beachtet wird. 

14. März. Patientin hat die ganze Zeit über noch keinen Anfall gehabt, 
obzwar sie einmal über einen solchen berichtete. Meist leidender Gesichts- 
ausdruck; macht sich einen ungeheuren Verband „über den schmerzenden Kopf^. 

15. März. Heute wie immer vollkommen klar. Bezeichnet sich als sehr 
erregt, erklärt, sie wolle in dem ^'üdischen Bett^ nicht liegen bleiben, weist 
darauf hin, daß rechts und links von ihr Jüdinnen liegen. Sie spricht 
zusammenhangslos von Teufel und Kopfabscbneiden, lacht selbst, als man ihr 
die Sinnlosigkeit des Gesagten vorhält, ohne ihre Äußerung zurückzunehmen. 

18. März. Im Hofe Lärm, die Kranke erwachte, frug, was los sei. Heute 
behauptet sie einen Anfall gehabt, sich in die Zunge gebissen za haben, doch 
ist keine Spur einer Verletzung aufzufinden; auch von dem Anfalle wurde 
nichts beobachtet. Patientin weigert sich direkt, das Spital zu verlassen; 
„ihre Krankheit sei so furchtbar"; sie verlangt Medikamente, will wenigstens 
14 Tage noch bleiben; spricht immer von ihren Anfällen. 

19. März. Alltäglich derselbe Dialog: Sie i^nd gesund; wann gehen 
Sie nach Hause? „Wenn es der Herr Doktor erlauben." Lieber heute wie 



147 

morgen. ^Bitt schön, darf ich noch dableiben?'^ Patientin beruft sich auch 
darauf, daß ihr Mann sie noch nicht holen wolle. 

25. März. Glücklich darüber, daß sie ein kleines entzündliches Infiltrat 
im oberen Lide vorweisen kann. 

28. März. Spricht seit 24 Stunden davon, daß ein Anfall kommen wird. 
Sie fühle es im voraus. 

29. März. Erwartet noch immer den Anfall. 

30. März. Menses. 

81. März. Ohne Anfall geheilt den Angehörigen übergeben. 

Die Beobachtungsdauer ist zwar kurz, trotzdem dürfte Epilepsie, auch 
in der Vorgeschichte, auszuschließen sein. Die Anfälle wiederholen sich mehrmals 
täglich und werden als so schwer geschildert, daß man einen epileptischen 
Charakter, wohl auch Demenz hätte finden müssen. Statt dessen sieht man nur 
eine übertriebene Leidseligkeit, die charakteristischen zögernden, wie wohl- 
überlegten unbestimmten Antworten, das Nichterinnern. Aber selbst angenommen,, 
die Kranke hätte einmal einen echten epileptischen Anfall gehabt: Das, was sie 
an der Klinik bietet, läßt sich nur als Hysterie auffassen. Sie beginnt sofort 
bei der ersten Visite mit einem Schütteln, das ganz wesentlich von dem ab- 
weicht, was die klassische Hysterie bietet. Es sind ganz langsame, streng 
taktmäßige Schlagbewegungen mit beiden Vorderarmen. Beim Examen setzen 
dieselben noch fort, um dann für immer auszubleiben, nachdem die Kranke 
gezwungen wurde zuzugestehen, daß das kein Anfall sei. 

Nachdrücklich auf ihre Gesundheit verwiesen, beginnt sie mit sub- 
jektiven Beschwerden, klagt über Kopfschmerzen, bezeichnet sich als erregt, 
ohne daß man das Mindeste davon merken würde. Sie erzählt von Träumen, 
beschwert sich über ihre jüdischen Nachbarinnen und als das alles nicht 
w^irkt, behauptet sie endlich, einen Anfall mit Zungenbiß gehabt zu haben. 
Trotz der absolut zuverlässigen Nachtwache wurde von einem solchen keine 
Spur wahrgenommen; die Zunge ist vollkommen unverletzt. Zur großen 
Heiterkeit des ganzen Krankenzimmers lehnt Patientin in der entschiedensten 
Weise ab, das Spital zu verlassen. Die Geisteskranken ihrer Umgebung 
schrecken sie nicht, sie fühlt sich im Gegenteil den ganzen Tag zu Bette sehr 
wohl und behaglich. Mit schwerer Mühe gelingt es, die Angehörigen zu über- 
zeugen, daß die Krankheit nicht so besorgniserregend sei, daß ein ganzer 
Monat ohne Anfall verstrichen, daß man doch wieder einen Versuch machen 
sollte, Patientin nach Hause zu nehmen. Höchst unfreiwillig verläßt uns die Kranke. 

Ganz dasselbe, was hier von den Anfällen bemerkt wurde, gilt 
natürlich von den anderen Manifestationen der Hysterie, gilt speziell von 
Geistesstörungen. Auch diese können als Mittel zum Zweck dienen, den 
Krankheitswillen so offenkundig verraten, daß man den Eindruck der 
Unanfrichtigkeit, der Simulation nicht abweisen kann. Im einzelnen Falle 
ist es vielleicht unmöglich zu entscheiden, ob nicht ein Teil der Krank- 
heitserscheinungen tatsächlich gemacht wird; psychische Symptome haben 
immer etwas Subjektives an sich. Doch ist die Entscheidung, ob echt 
oder simuliert unwesentlich; ob mehr oder weniger bewußt vom Zentral- 
organ her geschaffen, jedenfalls sind es Erscheinungsformen der zugrunde- 
liegenden Geisteskrankheit Hysterie. 

Zu allermeist tragen diese Zweckpsychosen die Züge einer einfachen 

10» 



148 

melancholischen Verstimmung. Schon eingangs wurde darauf hingewiesen, 
daß das drückende Gefühl der eigenen Schwäche und Unfähigkeit, der 
Unzufriedenheit mit sich selbst und der Welt zur depressiven Grund- 
stimmung der Hysterie führt. Ganz physiologisch verliert sich der Opti- 
mismus der Jugend durch den schweren Kampf ums Dasein, die sich 
häufenden Schicksalsschläge, so daß diese Kranken schließlich das 
Elend ihres verfehlten Lebens in eine dauernde traurige Verstimmung 
zusammenfassen. Da Depressions- und Hemmungszustände den ge- 
ringsten Aufwand an Willensenergie erfordern und leicht festzuhalten 
sind, insofern sie sich beliebig steigern lassen und höchstens Tränen- 
ausbrtiche kosten, die ja bei Frauen so billig sind, kommen sie den 
Eigenheiten der hysterischen Veranlagung aufs schönste entgegen. Es darf 
daher nicht wundernehmen, wenn fast alle diese insuffizienten Kranken, 
nachdem sie im Leben Schiffbruch erlitten, auf ihre alten Tage mit einer 
Art Melancholie sich ein Plätzchen in einer Irrenanstalt erobern. Doch 
dürfte es sich empfehlen, den Ausdruck hysterische Melancholie auch 
für diese Zustandsbilder zu vermeiden; denn nach Genese, Verlauf und 
Beeinflußbarkeit unterscheiden sich diese Verstimmungen wesentlich von 
der Melancholie. Im Kapitel DifTerentialdiagnose wird sich Gelegenheit 
finden, noch näher darauf einzugehen, das Gesagte auch durch einen 
instruktiven Fall zu belegen. 

Schließlich sei bemerkt, daß die Insuffizienz, welche in hysterische 
Geistesstörung sich umsetzt, keineswegs funktionell sein muß. Es gibt 
Patienten, welche durch schwere erschöpfende Krankheit in einen solchen 
Zustand gekommen sind, andere, wo chronische Leiden Spitalsbedürftigkeit 
verursachen, und mehr nebenbei äußert sich die Hysterie; die objektiv 
nachweisbare Grundkrankheit wird hysterisch verarbeitet, meist auch 
hysterisch übertrieben. Letzteres wird namentlich dann deutlich, wenn die 
Erscheinungsform der Psychoneurose der Insuffizienz widerspricht, wenn 
neben hochgradiger körperlicher Leistungsunfähigkeit sehr aktive Äußerungen 
der Hysterie, neben den allerdings unvermeidlichen Depressionen Reizvor- 
gänge in Form von Anfällen, selbst von Aufregungszuständen zu be- 
obachten sind, wenn neben der Schwäche die Reizbarkeit als gleich- 
berechtigter Faktor das Krankheitsbild determiniert. Nur ein Fall dieser 
Art sei hier noch mitgeteilt. 

Beobachtung XXXIII. 

Marie W., geboren 1861, ledig, katholisch, Handarbeiterin. 

Die Patientin von Jugend an kränklich, hat einen Gelenksrheumatismus, 
wiederholt Spitzenkatarrhe und eine Krankheit des linken Auges über- 
standen, derzufolgo das Auge erblindete. Seit einigen Monaten sei sie verstimmt 
und in sich gekehrt, außerdem werden kleptomane Anwandlungen berichtet. 

Dem Amtsarzt gegenüber zeigt sie ein trauriges Wesen, sie antwortet 
erst nach langem Überlegen, sichtlich unentschlossen. Vor Jahren sei ihr ein- 



149 

mal eine Arbeit nicht gelungen, wie sie es wünschte, seitdem könne sie nicht 
mehr so arbeiten. Sie mache sich darum bittere Vorwürfe, halte sich für gott- 
verlassen und vom Unglück verfolgt, denn sie sei außerstande, ihre alte 
Mutter zu ernähren. Auch kommen ihr, namentlich nachts, böse Gedanken, 
die ihr dann tagsüber nicht aus dem Kopfe wollen. In der letzten Zeit wurde 
es so arg, daß sie an Selbstmord denke. — Ovarie leichten Grades. 

Bei der Aufnahme am 8. Juli 1894 erzählt Patientin, sie fühle sich 
krank, weil es ihr im Kopfe nicht so wäre wie früher, sie habe wenig Ver- 
trauen zu sich selbst. 

11. Juli. Patientin meist in sich gekehrt, teilnahmslos für die Vorgänge 
der Umgebung, klagt, daß sie nicht so sei wie sie möchte. 

12. Juli. Status idem. Die Kranke wird in die Irrenanstalt transferiert. Am 

24. Juni 1898 kommt sie zum zweiten Male am Beobachtungszimmer 
zur Aufnahme. 

Das Parere lautet diesmal ganz anders: „Seit 1890 Symptome von 
Hysterie (Ilerzkrämpfe); ferner Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Schlaflosigkeit 
aus geringfügigen Anlässen gerät Patientin in hochgradige Aufregung, in 
welcher sie wie sinnlos gegen die Umgebung wütet. 

25. Juni. Bestätigt, daß sie von jeher kränklich, nervös, erregbar 
sei. Sie könne ihren Beruf als Kleider macherin nicht mehr ausüben, da 
sie beim Anblick eines lebhaft gefärbten Stoffes sofort Kopfschmerz und Er- 
brechen bekomme. Sie ließ sich darum von der Mutter erhalten; auf Vorwürfe 
derselben reagierte sie sehr energisch eventuell mit Tätlichkeiten. 

30. Juni. Hier ruhig, aber voll hypochondrischer Beschwerden. Unter 
dem Datum des 

2. Juli verfaßt sie eine ungeheure Biographie. Sie verlegt ins Jahr 1890 
ihren ersten melancholischen Anfall. Sie stürzte sich damals vom 2. Stock 
nicht herunter, weil sie befürchtete, sie könnte mit gebrochenen Gliedeiii am 
Leben bleiben. 1892 bei der zweiten „Melancholie" berichtet sie ausfUhrlich wie 
sie stets Kostaufbesserung verlangte und gleich die Behandlung im Spital 
(interne Abteilung) verließ, weil man sich nicht genügend mit ihr beschäftigte. 
1894 kam sie durch das Beobachtnngszimmer in die Irrenanstalt. Es folgt 
ein rührender Bericht über ihre gynäkologische Untersuchung. Sie betont 
ihre Anständigkeit etwas zu auffallend. 1896 hätte sie wieder interniert werden 
sollen; da aber die Mutter eine kleine Unterstützung erhielt, ging es auch 
ohne die Anstalt. Jetzt begann der Zustand wieder mit Anfällen von 72^^^°" 
digem Weinen. In poetischer Schilderung heißt es dann weiter, daß sie sich 
nur mit dem Bewußtsein zu Bette legte, den nächsten Tag nicht mehr zu 
erleben, daß sie sich den Kopf an einen Kasten rannte, mit den geballten 
Fäusten gegen die Schläfen pochte, daß sie nicht imstande war, gewisse 
Marktgegenstände einzukaufen, immer standen ihr die Tränen in den Augen etc. 
Den Schluß bilden Anklagen gegen das Schicksal. 

Dauernd anspruchsvoll, streitsüchtig; sie schickt Beschwerdebriefe an 
die Direktion, verlangt in die Versorgung. Dabei immer die gewisse über- 
triebene Ausdrucksweise: „Sie wolle sich am Gasluster aufliängen" oder „mit 
einem Revolver erschießen^, natürlich nur in ihren Briefen. 

Der Wunsch nach Versorgung wird ihr erfüllt; sie geht am 22. Juli 1898 
dorthin ab. 

Am 7. Juni 1901 läßt sie sich ihren Cystenkropf operieren. Sie hat 
dauernd KrampfaniUlle, bei denen sie über allerlei Parästhesien im Schlund 
und in der Herzgegend klagt, schreit und lärmt. Am 



150 

2. Juli 1901 führt ein besonders schwerer Anfall zur Aufnahme an die 
Klinik. Patientin ist sehr gesprächig^ berichtet, dafi sie zweimal in der Heil- 
anstalt AUand gewesen; dann folgt eine ausHihrliche Schilderung ihrer AnfUUe, 
die wiederum reichhaltiger geworden sind. Sie habe in der Magengegend die 
Empfindung, wie wenn ein Stein daselbst läge, hierauf Herzklopfen, Zusammen- 
schnüren des Kehlkopfes und Brustkorbes, Zucken io den Armen, krampfhaftes 
Zusammenziehen der Hände; das dauere ^4 ^^^ mehrere Stunden. In letzter 
Zeit täglich viele solche Paroxysmen. Sie wurde von der Rettungsgesellschaft 
ins Spital gebracht, gestern entlassen, habe nachts sofort schwere Anfälle 
bekommen und sei über eigenes Verlangen darum wieder eingebracht worden. 

2. Juli. Die Kranke macht bald nach dem Examen Würg- und Husten- 
bewegungen, gerät in einen Verzweiflungsaffekt, äußert eine pathetische Bitte 
an Gott, er möge sie zu sich nehmen. 

7. Juli. Erregt, geschwätzig, anspruchsvoll, streitsüchtig, verweigert die 
Einnahme des ihr verordneten Medikamentes, schläft nachts mit Unterbrechung. 

In den endlosen Briefen, welche Patientin verfaßt, ist die Zwischenzeit 
immer in ausführlicher Weise besprochen. Man sieht, daß sie sich in den ver- 
schiedensten Spitälern herumtreibt, von Abteilung zu Abteilung wandert, so 
daß sie schon überall recht gut bekannt ist. Bald ist es ein Arzt, der durch 
die Bemerkung, sie spiele Komödie, die Kranke so weit verletzt, dafi sie vor 
Entrüstung keine Worte mehr finden kann; bald sind es Wärterinnen, welche 
ihr ihre Krankheit nicht glauben. Mit flammenden Worten verwahrt sie sich 
gegen dieses Unrecht, das man ihr zufüge. Es sei wahr, daß sie sich vor 
Schwindel und Schw^äche nicht auf den Beinen halten konnte und die Diener 
im Hause nennen sie eine Spitalsschwester! Sie ist die arme Märtyrerin, die 
mit der Zunge allerdings redlich ihr Teil zurückgibt. Sie beschreibt genau 
die Intervention der Umgebung während ihrer öffentlichen Anfalle und denkt 
noch mit Schreck an eine Dusche kalten Wassers zurück, die ihr da einmal 
a,ppliziert wurde. Auch über Verfolgungen von selten ihrer Familie hat sie sich 
zu beklagen. 

Auf ihrer Wanderung kommt die Patientin am 27. Jänner 1903 wieder 
«inmal an die Psychiatrie, da sie wegen Unruhe und Abfassung von Beschwerde- 
briefen als geisteskrank betrachtet worden war. 

28. Jänner. Bei der Untersuchung etwas gedrückte Stimmung, von 
geordnetem Verhalten. Ihre Ausführungen sind formal ganz einwandfrei. 
Auf der medizinischen Abteilung sei sie durch das Leiden der Nachbar- 
patientin, welche dieselbe Krankheit hatte wie ihre verstorbene Mutter, sehr 
-erregt worden. — Zahlreiche Druckpunkte. 

29. Jänner. Eifersüchtelt, behauptet, daß sie sexueller Beziehungen ver- 
xlächtigt werde, weil sie einmal an einen Arzt der Klinik einen Brief geschrieben 
habe. Das wurde beredet. 

31. Jänner. Ganz ruhig und anfallsfrei wird sie rücktransferiert. Am 

15. März treten die Krämpfe in größerer Intensität auf; da die Patientin 
obendrein Selbstmordideen äußert, kommt sie neuerlich zur Aufnahme. Erregt, 
^streitsüchtig, muß isoliert werden, beruhigt sich aber bald. 

16. März. Passendes Benehmen, erzählt in sehr wortreicher Weise, sie 
habe die Unterstützung von 5 Gulden aufgebraucht, um eine neue angesucht, 
£ei abschlägig beschieden worden, darum Aufregung, Anfall. Eine Selbstmord- 
drohung wird ohne weiteres zugegeben. — Druckpunkte am Scheitel und längs 
der ganzen Wirbelsäule sowie an vielen Stellen des Körpers. Nadelstiche 
werden links stärker als rechts empfunden. Geht mit kleinen Schritten, sinkt 
nach der Seite. 



151 

17. März. Ausgesprochen hysterischer Charakter ; sie beschuldigt die Um- 
gebung; schreibt lange Briefe, in denen sie sich als die verfolgte Unschuld 
hinstellt und einen der Herren gegen den andern ausspielt. Mit ihrer Zustimmung 
in die Irrenanstalt übersetzt. 

Die erste Krankengeschichte beginnt wie die einer Melancholie; auch 
an Irresein in Zwangsvorstellungen konnte man denken. Die Diagnose Hysterie 
wäre wohl nur zu stellen gewesen, wenn man auf zwei Momente geachtet 
hätte, die vielleicht keine absolute Geltung haben, hier aber durch den weiteren 
Verlauf diese Geltung erlangen: das Vorhandensein einer Ovarie sowie die 
Selbstkritik. Die Kranke fühlt sich krank und gibt bereitwillig zu, was 
Melancholiker zurückzuweisen oder nur eben zuzugestehen pflegen. Bei der 
zweiten Aufnahme erfährt man etwas über hysterische Anfälle, die schon 
lange bestehen sollen. Das Zustandsbild ist auch ein ganz anderes geworden. 
Es mag diese wie andere Erfahrungen lehren, dafi man Hysterie nie ausschließen 
darf, bevor nicht eine zu Ende geführte Beobachtung vorliegt, bevor nicht 
der Fall nach allen Richtungen hin genau studiert wurde. 

Im folgenden herrschen überhaupt Anfälle und hysterischer Charakter 
vor. Patientin wird in immer kürzeren Zwischenräumen auf verschiedene 
Spitalsabteilungen aufgenommen, läOt sich einmal sogar operieren, gerät in 
Streit, weil man ihr nicht alle Beschwerden glauben will, weil ihre Heuche- 
leien und Übertreibungen den Spott der Umgebung herausfordern. Schließlich 
als sie überall genügend bekannt ist, kommt wieder eine ausgesprochene 
psychische Erkrankung, die Selbstmorddrohung. Es bleibt nichts über, als die 
Patientin einer humanitären Anstalt zu überantworten, da sie wegen eines 
schweren Lungenleidens tatsächlich arbeitsunfähig ist. 

Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren; es ist mit einem 

Wort die Soror nosokomialis, deren Krankheitswille, deren Pflegebedörfnis 

iu Formen sich äußert, welche der Hysterie eigen sind, in wirklichen 

Krankheitserscheinungen, die darum auch als hysterische und nicht als 

simuliert betrachtet werden müssen. Allerdings gehorcht die Hysterie hier 

den Gesetzen, die rein theoretisch für intelligente, denkende Simulanten 

aufgestellt werden könnten. Vom unerfahrenen Stümper unterscheiden 

sich diese Patienten schon durch die Ökonomie in der Produktion von 

Symptomen; noch mehr, es sieht gerade so aus, wie wenn diesen 

insnffizienten Hysterischen selbst die Anstrengung eines zwecklosen 

Anfalles zu viel wäre und sie sich darum auf das AUernotwendigste 

beschränken würden. In jeder Krankengeschichte ist das zu verfolgen. 

So verschwenderisch sie sonst mit den Ausbrüchen ihres Charakters sind 

in Wort und Schrift, Psychosen sensu strictiori werden immer nur dann 

herausgearbeitet, wenn es unbedingt erforderlich ist, bestehen möglichst 

kurze Zeit; vielleicht darf man auf ein allgemeines Gesetz zurückgreifen, 

das im Haushalte jedes lebenden Organismus überall die größte Sparsamkeit 

aufzeigt. 

e) Die chronischen hysterischen Psyehosen. 

Die letztbesprochene Gruppe akuter hysterischer Geistesstörungen 
führt eigentlich schon in die chronischen hinein; denn nur in seltenen 



152 

Fällen ist es möglich, diese Patienten der menschlichen Gesellschaft 
wiederzugeben. Nach theoretischem Erfordernis gelänge das nur bei 
inhumanem Vorgehen, wenn man diesen Individuen den Aufenthalt 
in der Anstalt so verleiden, so abschreckend gestalten könnte, daß hieraus 
ein wirksames Gegenmotiv gegen die Willensschwäche und das Sich- 
gehenlassen geschöpft würde, während jetzt noch die Irrenanstalt degene- 
rierte und nicht degenerierte Geisteskranke mit gleicher Liebe umfängt. 
Wie übrigens bei hartnäckigen Simulanten, sind auch gegen Hysterische 
Repressivmaßregeln noch keine Gewähr. Es gibt für ein arbeitsscheues 
Individuum keine größere Qual und keine härtere Strafe als das Arbeiten- 
müssen und das Gesundseinmüssen kann für eine derartige Hysterie 
nur auf eine Stufe damit gestellt werden. 

Man lernt hier keine neuen Formen mehr kennen. Die chronischen 
hysterischen Geistesstörungen entstehen durch Aneinanderreihung jener 
Zustandsbilder, die bereits besprochen wurden, durch Steigerung des hyste- 
rischen Charakters als eines Dauerzustandes; sie sind untermischt mit 
verschiedenerlei seelischen und körperlichen Elementarstörungen der 
Hysterie in buntester Abwechslung. 

Die im Verlaufe der Krankheit auftretenden, kürzere oder längere 
Zeit währenden, scheinbar grundlosen Verstimmungen, die bald mehr 
traurig, bald mehr ängstlich sind, werden von unbestimmten »Verfolgungs-, 
Versündigungswahnideen begleitet; flüchtige sowie protrahierte delirante 
Zustände lösen einander ab; oft wiederholen sich nur Anfälle ohne 
geistige Störungen. Dann kommen wieder Aufregungszustände aller Art, 
hysterische AflFekte, bloß im Schimpfen sich äußernd oder bis zur Zer- 
störungswut gesteigert, in der Regel an einen äußeren Anlaß anschließend, 
von ganz unregelmäßigem, wie zulälligem, doch aber dem Spiele der Vor- 
stellungen gehorchendem Verlaufe. Der stete Wechsel mehr minder 
krankhafter Symptome bedingt eine chronische Geistesstörung, welche 
den größten Teil des Lebens andauert; häufig in ansteigendem Verlaufe, 
indem zuerst nur leichte Verstimmungen, eine gewisse Reizbarkeit vor- 
handen ist, dann aber allmählich, gewöhnlich im Zusammenhang mit 
äußeren Ereignissen, eine Exazerbation zur Anstaltsbedürftigkeit führt und 
die Hysterie, einmal in den neuen Rahmen eingelebt, den Rückweg 
nicht mehr findet oder nicht mehr finden will. Abgrenzbar sind diese 
Formen natürlich nicht; praktisch genommen muß man alle hysterischen 
Psychosen hierher rechnen, die prognostisch als durchaus ungünstig, 
d. h. unheilbar aufzufassen sind, und das sind alle jene, wo die 
krankhaften Eigensuggestionen oder der Wille krank zu sein auf Grund 
der pathologischen Anlage oder ungünstiger Lebensverhältnisse dominiert. 
Man findet auch hier wieder die aktiven, überwiegend allerdings die 
passiven Äußerungen der Hysterie. Die Bilder, die im einzelnen gesehen 
werden, sind die allerverschiedenartigsten. Begonnen sei mit einem 



153 

Kasus, der aus Anfällen und Delirien, also in der denkbar einfachsten 

Weise zusammengesetzt ist und schon über ein Dezennium in Irrenanstalten 

sich befindet. 

Beobachtung XXXIV. 

Marie E., geboren 1871, ledig, katholisch, Magd, kommt am 

24. Dezember 1892 wegen eines Anfalles zur Aufnahme. Im Jahre 1889 
wurde ihr plötzlich einmal schlecht, heiß im Kopf, ohne daß sie dabei umfiel; 
sie war dann abgeschlagen, hatte keinen Appetit. Diesem ersten Anfalle folgten 
in vierwöchentlichen Pausen, doch ohne Beziehung zu den Menses, ganz ähnliche. 
8ie soll an dem betreifenden Tage schon früh blaß sein, Kopfschmerzen haben ; 
sie arbeite aber immer, bis ihr schwindlig werde, sie wisse 5 Minuten nichts 
von sich, bleibe stehen, gebe auf Fragen keine Antwort, lasse, was sie in der 
Hand halte, fallen. Nach ^^ bis Yg Stunde setze sie ihre Arbeit fort, klage 
über Kopfschmerzen und Mattigkeit; einmal fing sie mit Kohlen, die sie eben 
gefaßt hatte, zu werfen an. Im letzten Anfalle begann sie so zu schreien, daß 
die Hausleute zusammeneilten, wollte davonlaufen, ins Wasser springen. Für 
diese Details ist Patientin amnestisch; sie gibt nur zu, aufgeregt gewesen zu 
sein, weil der Herr sie ins Hotel geben wollte (?). Da an der Klinik keine 
Störungen zu beobachten sind, wird die Kranke am 

20. Jänner 1893 entlassen. 

In der folgenden Zeit ist sie nur zum kleineren Teile in Freiheit, wieder- 
liolt in der Irrenanstalt. Bei dem geringen symptomatologischen Interesse des 
Falles mögen nur die letzten Wiener Krankengeschichten auszugsweise wieder- 
gegeben werden. 

8. Jänner 1903. Kommt aus einem Dienstplatz mit folgenden Angaben: 
Psychisch auffallend, moros, für Verkehr wenig zugänglich. Übertrieben spar- 
sam, habe sie den Kindern den Zucker zum Frühstück vorgezählt, mit der 
Begründung, es heiße sonst, daß sie etwas wegnehme; die Kranke sei Männei*n 
gegenüber sehr zurückhaltend gewesen. Jetzt Beziehungsideen: Patientin äußerte, 
alle Leute auf der Gasse drehten sich nach ihr um, guckten aus den Fenstern 
auf sie etc. Sie klagte gleichzeitig über allgemeine Mattigkeit, Kopfschmerzen. 

9. Jänner. Sitzt mit ratloser Miene da, scheint ihre Umgebung nicht 
recht aufzufassen, blickt wiederholt wie suchend im Zimmer umher. Fragen 
gegenüber sehr unaufmerksam, erwidert meist: „Ich weiß es nicht, ich kenne 
mich nicht aus.^ Die Kranke äußert, es sei ihr seit kurzer Zeit so eigen, 
sie könne nicht denken; in der Nacht sei sie schlaflos, sehe eine Menge der 
verschiedensten Gestalten, fortwährend höre sie Stimmen, vielen Lärm und 
Reden durcheinander. Örtlich und zeitlich ist sie nicht orientiert. Patientin 
horcht gelegentlich auf, spricht über Aufforderung kurze Sätze nach, die sie 
von den Stimmen hört. „Jetzt ist sie da! jetzt ist sie da!^ wird indes bald 
wieder abgelenkt. 

10. Jänner. Liegt mit etwas ängstlich gespannter Miene zu Bett. Im 
Examen ist sie ziemlich gut fixierbar; antwortet auf alle Fragen, die 
Orientierung und Daten betreffen, sie wisse es nicht, sei krank, sie kenne sich 
nicht aus. Wenn auf einer solchen Frage ernstlich insistiert wird, erfolgt 
endlich eine Auskunft, die zeigt, daß Patientin doch vollkommen orientiert 
ist. Sie klagt über Kopfschmerzen; es sei ihr schlecht; sie könne nicht mehr 
recht denken. Sie höre die verschiedensten Stimmen, sehe des Nachts Männer, 
nebelhafte Gestalten, die sie nicht recht beschreiben könne, es sei ihr überall 
unheimlich, sie wisse nicht recht, wo sie sei, könne die Zeit nicht abschätzen. 



154 

Mit dieser zur Schau getragenen Ratlosigkeit kontrastiert die genaue Kritik, 
•die Patientin an ibrem Verhalten und Zustand übt; die in der Form geordneten 
sprachlichen Äußerungen, welche keine Zunahme der Ermüdung erkennen 
Jassen. Bei Untersuchung der Sensibilität und auf Druck lebhafte, wie über- 
triebene Schmerzäußerungen und Abwehrbewegungen. 

11. Jänner. Ruhig, lacht öfters auf; berichtet, sie wolle nicht mehr leben, 
weil sie verwirrt sei. Die Schmerzreaktion erweist sich als sehr wechselnd: 
«ine Untersuchung, die eine Stunde später vorgenommen wird, ergibt keinerlei 
Hyperalgesie. Gegend Abend heute, wie auch am Vortage lebhafter Angst- 
affekt. 

17. Jänner. Halluziniert dauernd; erklärt, sie sei zu müde, die Sätze 
nachzusprechen. 

23. Jänner. V2H ^^^ abends ein Anfall. Die Wärterin berichtet 
folgendes: Patientin ging, nachdem sie vorher schon geschlafen hatte, auf den 
Abort ; nach einigen Minuten wurde sie im Klosett sitzend in eine Ecke gelehnt 
aufgefunden, schien ohnmächtig, reagierte nicht auf Anruf, hatte die Augen 
geschlossen, die Hände zur Faust geballt; bei Eingriff preßte sie die Arme 
gegen ihre Brust, ließ sich zusammensinken, während Arme und Beine steif 
blieben. Auf Anruf einer Freundin wälzte sie sich ein paarmal am Boden, 
legte sich aufs Gesicht, stand dann mit Unterstützung auf, legte sich ins Bett, 
schlief bis zum Morgen. 

24. Jänner. Klage über Kopfschmerz, morose Stimmung, sonst Status 
quo ante. 

31. Jänner. Kein Freiheitsbedürfnis; Patientin wird, da sie keine offen- 
kundigen Störungen zeigt, unter heutigem als geheilt entlassen. Am 

27. Februar trat sie bei einem Herrn in Dienst, erzählte diesem, daß 
sie seit 5 Jahren die Wirtschaft eines Verwandten in Salzburg leite; daß sie 
die Absicht hatte, nach Amerika zu gehen, die Idee aber aufgab, weil sie 
hörte, daß während der Fahrt die Seekranken ins Wasser geworfen werden; 
sie zeigte auch Prospekte aus Reisebureaus. Am 

12. März bekam Patientin eine Korrespondenzkarte von einem ihr be- 
kannten Schneidermeister. Sie besuchte den Mann, kehrte mit der Nachricht 
zurück, daß ihr der Schneidermeister einen Heiratsantrag gemacht habe. Die 
folgenden Tage war sie stützig, mürrisch, vollführte oft nicht die an sie ge- 
richteten Aufträge. Am 18. März kündigte sie ohne Motivierung; gleich darauf 
bat sie, wiederum bleiben zu dürfen und klagte darüber, daß sie der Heirats- 
antrag ganz verwirrt gemacht hätte, sie fürchte sich vor „Kinderbekommen''. 
Am 20. März Nahrungsverweigerung. Die Kranke wird aufgefordert, sich zu 
Bett zu begeben; sie legt sich angekleidet nieder, reagiert nicht auf Fragen, 
blickt starr vor sich hin. Am 

21. März sollte Patientin Einkäufe besorgen, die ihr diktiert werden, 
wobei sie statt „Fleisch" auffallenderweise „Freitag" schreibt. Kurz darauf 
ein Anfall: Die Kranke hebt beide Hände auf, sagt zur Dienstgeberin, sie 
komme ihr ganz verändert vor, stürzt dann zusammen, verdreht den Kopf, 
verzerrt das Gesicht. Auf Krämpfe in den oberen Extremitäten folgt Bewußt- 
losigkeit (zirka 20 Minuten), Amnesie. 

Nachmittags bei der Aufnahme ist Patientin unruhig, rauft beim Ent- 
kleiden, legt sich in das Bett einer andern; bald darauf still, liegt mit ge- 
schlossenen Augen da, ohne Anteil an der Umgebung zu nehmen; dem Arzte 
gegenüber ist sie abweisend, sie gräbt den Kopf ins Kissen, leistet jedem 
Eingriff passiven Widerstand, befolgt Aufträge nicht. Endlich äußert sie in 



155 

^nz ruhigem Tone, sie wolle sich heute nicht anschauen lassen, da sie im 
Kopfe nicht richtig sei. Sie erkennt den Arzt wieder, ebenso die Örtlichkeit, 
in ihrer apodiktischen Weise erklärt sie aber, sie wisse nichts; fügt bei, 
niemand erkenne ihren Zustand, niemand könne ihr helfen. In etwas gereizter 
moroser Weise lehnt sie jedes weitere Examen ab; sie verweigert auch soma- 
tische Untersuchung. — Starke, anscheinend intendierte Muskelspannung. 
Oegen Nadelstiche erfolgen Abwehrbewegungen, nachts schläft die Kranke gut. 

22. März. Geriert sich heute freier; wiederholt auf alle Fragen: „Mir 
ist heute schon besser^; lehnt in ungezogener W^eise jede Antwort ab. Wälzt 
«ich im Bett herum, schließt die Augen. 

23. März. In die Irrenanstalt transferiert. 

Es dürfte sich hier wohl nur um eine Differenzierung gegen Epilepsie 
handeln. Doch ist schon bei oberflächlicher Bekanntschaft mit der Kranken 
klar, daß von epileptischem Charakter keine Rede sein kann, während das 
Nichtwissen und die Krankheitsbetonung, dazu der Charakter der Anfalle, 
dieselben als hysterische stigmatisieren; um so mehr, als schließlich ein Dauer- 
zustand resultiert, der den Eindruck der Ungezogenheit macht. Patientin 
hält es in keinem Dienst aus, beginnt ganz unmotiviert mit ihrer Pseudo- 
logie, kündigt selbst, wenn ihr nicht gekündigt wird. Sie hat im Laufe der 
Jahre die Anstaltsbehandlung schätzen gelernt und will sich nunmehr in Frei- 
heit nicht mehr fortbringen. 

Prinzipiell unterscheidet sich Beobachtung XXXIV nicht von den 
am Schlüsse des vorigen Kapitels und manchen an früherer Stelle mit- 
geteilten. Eine gewisse Anzahl von Hysterischen hat die Neigung, un- 
heilbar psychotisch zu erkranken; es ist eigentlich nur eine Frage der 
Zeit, ob man ein diesbezügliches Urteil schon bestimmt abzugeben vermag. 
Der Schein einer Progression taucht dadurch auf, daß verschiedene Einzel- 
stömngen in kürzeren Zwischenräumen sich wiederholen, der Zustand 
im einzelnen immer reicher ausgestaltet wird. Tatsächlich herrscht der 
bunteste W^echsel, kein Symptom wird dauernd festgehalten und kein 
einziges hinterläßt einen Defekt, der nicht schon in der Anlage vorgebildet 
gewesen wäre. 

Eine andere Eigentümlichkeit der chronisch hysterischen Psychosen 
liegt in ihrer Natur. Alle Elementaräußerungen der Krankheit haben die 
Tendenz zu remittieren und zu intermittieren, andererseits wird durch die 
Aneinanderreihung der Affektausbrüche des hysterischen Charakters auch 
ein remittierend-intermittierender Verlauf des ganzen durch das Leben sich 
hinziehenden Zustandes bewirkt. Dazu kommt, daß die Geistesstörungen 
weiblicher Individuen eine gewisse Periodizität schon aus Gründen der 
periodischen Veranlagung des Weibes selbst tragen, indem, wie eigentlich 
normal, eine gesteigerte Labilität der Psyche an die Menses anknüpft. 
Hierdurch kann ein menstruelles oder ein periodisches Irresein in kurzen 
Phasen vorgetäuscht werden. Die Beobachtungen sind nicht einmal so 
selten, wo gerade nur zur Zeit der Regel hysterische Symptome auftreten. 
Häufiger ist der Dekursus allerdings ein etwas unregelmäßiger auf Grund 



156 

äußerer oder innerer Einflüsse. Während der einzelne Aflfektausbruch durcb 
einen kleinen Anstoß hervorgerufen, durch Ablenkung verändert, beseitigt 
wird, kehren — durch Erinnerungszwang oder durch die äußeren unauf- 
hörlichen Reize angeregt — pathologische Gedankenverbindungen doch 
immer wieder und geben ein Mosaik der verschiedenartigsten Stimmungs- 
exzesse, das mit Schwankungen respektive Unterbrechungen anhält. 

Damit nähert man sich Zustandsbildern, welche im Rahmen des 
manisch-depressiven Irreseins gesehen werden. Zu einem typisch zirkulären 
Verlaufe wird es wohl nur ganz ausnahmsweise kommen. Immerhin 
ergeben sich ernste differential-diagnostische Schwierigkeiten aus der 
merkwtirdigen Tatsache, daß bei zirkulären Psychosen eine Reihe bysteri- 
former Erscheinungen, Ohnmachtsanfälle, eine gewisse Beeinflußbarkeit, 
theatralisch-afifektiertes Gebaren, eine Sucht zur Übertreibung beobachtet 
wird, was eine außerordentliche, wenngleich nur äußerliche Ähnlichkeit 
im Symptomenkomplexe bedingt. Sachlich bedeutsamer erscheint die 
Konstatierung, daß das Verhältnis zwischen Hysterie und maniscli- 
depressivem Irresein, überhaupt allen Formen degenerativen Irreseins in 
weiterem Sinne ein anderes ist als das zwischen Hysterie und nicht 
degenerativen Psychosen, wie schon eingangs flüchtig erwähnt wurde. 
Degenerativ veranlagte Individuen besitzen von Haus aus hysterische 
Neigungen und umgekehrt: alle Hysterischen zeigen als Degenerierte eine 
Neigung zu Periodizität der psychischen Störungen. Es mag also hier tat- 
sächlich eine Kombination von periodischen Verstimmungen aus innerer 
Gesetzmäßigkeit und Hysterie gefunden werden. Immerhin muß die Klinik 
zwei verschiedene Krankheitstypen unterscheiden, wenn die Übergänge auch 
so fließend sind, daß erst nach längerer Beobachtung, vielleicht im Rück- 
blick auf die ganze Biographie durch die psychologische Analyse eine 
Entscheidung getrofl^en werden kann, während dem augenblicklichen Zu- 
stande gegenüber eine subjektive Meinungsdiffereoz möglich ist, indem 
der eine Beobachter etwas als hysterisch erklärt, was der andere noch 
zum Erscheinungsbilde des zirkulären Irreseins rechnet. Ein wohl ein- 
deutiger Fall soll hier eingereiht, ein etwas schwieriger zu beurteilender 
im Kapitel „Difi'erentialdiagnoso" analysiert werden. 

Beobachtung XXXV. 

Elise P., geboren 1883, katholisch, ledig, Dienstmädchen, kommt am 
16. November 1900 an die Klinik. 

Mutter der Patientin nervös, starb früh an Tuberkulose; die Kranke 
selbst zeigte sich unverwendbar, hatte keine Ausdauer zur Arbeit, konnte mit 
Geld nicht umgehen, nicht einmal ganz kleine Einkäufe besorgen. Sie weist 
nur zwei Posten auf, die sie nach 4 und 3 Monaten unter eigenen Umständen 
wieder verließ. Das erste Mal wurde sie entlassen, weil sie ein Kleid in 
Petroleum getränkt hatte, als Grund angab, daß sie Petroleum gerne rieche. 
Seit jeher schon habe sie ihre Taschentücher in Petroleum, Benzin oder 
Kampferlösungen getaucht, gleichsam als Parftlm. Am zweiten Posten erklärte 



157 

sie unter Yorweis eines gefälschten Schreibens, daß ihre Eltern gestorben^ 
ein Bruder darüber irrsinnig geworden sei und sie sich nun umbringen milssC; 
zum Fenster hinabznspringen beabsichtige. Patientin kam darum (im Juli 1900) 
zu den Eltern, sollte sich hier im Häuslichen beschäftigen, legte aber nur 
über Drängen Hand an. Sie war wortkarg, wollte das Haus nicht verlassen. 
Die eigentlich seit der Kindheit gedrückte Stimmung — es soll nie ein 
Lächeln Über ihr Gesicht geglitten sein — nahm in den letzten zwei Monaten 
zu. Sie klagte Über heftige Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. In der Nacht 
sah sie allerhand Bilder und Leichen, äufierte TodesbefUrchtungen. Vor mehreren 
Tagen sei sie bei einem Leichenbegängnisse gewesen, vor ihr sei eine Kerze 
in der Mitte abgebrochen, auf den Boden gefallen und verlöscht; das sei ein 
sicheres Zeichen, daß sie sterben werde. Endlich schrieb sie einen Brief an 
ihren Bruder^ in welchem sie Selbstmord durch Erstechen oder durch Herab- 
stürzen in Aussicht stellte. Ethische Defekte. Sie ging einmal mit einem ihr 
nicht näher bekannten Manne in ein Hotel. 

Im Beobachtungszimmer läßt sie sich zum Examen führen, sitzt 
regungs- und interesselos da, blickt vor sich ins Leere. Auf Fragen antwortet 
sie leise, zögernd, meist mit: ^Ich weiß nicht ^, ist aber durch nach- 
drückliche Wiederholung der Frage zu einer sachlichen Auskunft zu bringen. 
Auf Nadelstiche erfolgen kurze lebhafte Fluchtbewegungen, doch weicht die 
Kranke dem drohenden Stiche auch bei mehrmaliger Wiederholung nicht im 
geringsten aus. Sie besorgt ihre Bedürfnisse, pflegt ihren Körper, bleibt die 
übrige Tageszeit im Bette liegen, das Gesicht in den Polster gedrückt; sie 
spricht mit niemandem, ignoriert den Besuch der Angehörigen, ist nur zu 
der Mitteilung zu bringen, daß sie das Leben nicht mehr freue und sie darum 
sterben wolle; außerdem klagt sie über Schmerzen am Hinterhaupte. 

In die Irrenanstalt kommt Patientin mit apathischem G^sichtsausdruck, 
absolut mutazistisch; keinerlei Spannungszustände in der Muskulatur. Die 
Kranke befolgt zögernd einfache Aufforderungen, nickt sinngemäß ^sl^ oder 
^nein^ mit dem Kopfe. 

17. November. Schlaf und Nahrungsaufnahme ungestört. Patientin be- 
schäftigt sich nicht, ist den Ärzten gegenüber vollkommen schweigsam, ver- 
kehrt aber ganz lebhaft mit einigen Kolleginnen, die sie vom Beobachtungs- 
zimmer her kennt. 

18. November. Heute zum Reden aufgelegt; allerdings erfolgen die 
Antworten etwas zögernd und mit monotoner Stimme. Die Kranke ist örtlich 
und zeitlich vollkommen orientiert, erzählt von Sinnestäuschungen: Sie höre 
schimpfen, Musik; sehe öfters den Tod in Gestalt eines Gerippes vor sich. Sie 
fürchte sich aber nicht, denn sie wolle wegen ihres Kopfleidens gerne sterben. 
Sie glaube, daß die Leute ihre Gedanken wissen, sie merke es ihnen an. 
€^dankenecho besteht indessen nicht. Patientin steht ihrer Lage ganz ver- 
ständnislos gegenüber, weiß nicht, warum sie hereingekommen, von welchen 
Umständen ihre Entlassung abhänge; sie macht sich auch keine Gedanken über 
die berichteten Halluzinationen, nimmt dieselben als etwas Gegebenes einfach 
hin; dabei subjektives Krankheitsgefühl. 

20. November. Böse Träume: Totenköpfe sagen ihr, daß sie sterben 
müsse. Sie möchte sich am liebsten das Leben nehmen. Beschäftigt sich mit 
Handarbeiten. 

26. November. Liegt zu Bette mit tiefleidendem Gesichtsausdruck, spricht 
kein Wort. Allgemeine Hyperalgesie. 

29. November. Druckempfindlichkeit des Nerv, supraorbitalis und 



158 

occipitalis links, Hyperästhesie und Hyperalgesie der ganzen linken Körperseite^ 
die gegen den Fuß zn abnimmt. Der zehnte dorsale Wirbeldorn druckempfindlich. 
Leichte motorische Schwäche im linken Arm und Bein; starke Einschränkung 
des Gesichtsfeldes links. 

9. Dezember. Seit einigen Tagen freier, wird zweimal hypnotisiert, was 
ohne Schwierigkeit gelingt. 

19. Dezember. Bei der Visite wieder wortlos, zu Bett, wendet sich 
vom Arzte ab, verbirgt das Gesicht in den Händen; außerhalb der Visite 
lebhaft, verkehrt mit der Umgebung. 

31. Dezember. Patientin schließt intime Freundschaft mit hysterischen 
Mitkranken, wechselt von Zeit zu Zeit das Objekt ihrer Zuneigung; den 
Ärzten gegenüber meist unzugänglich, beginnt höchstens in gereiztem Tone 
zu querulieren, zu schimpfen und zu zertrümmern. 

Dieser Zustand ändert sich erst gegen Juni 1901. Die Hemmung, die 
womöglich noch tiefer geworden ist, da Patientin jede Annäherung energisch 
abwehrt und wenig Nahrung zu sich nimmt, wechselt mit deutlich manischen 
Episoden. Die Kranke steht plötzlich auf, spricht laut und lebhaft, be- 
schäftigt sich mit ihrer Handarbeit; äußert allerlei Wünsche, ist heiter. Über 
die Innenvorgänge während der Hemmungszustände kann oder will sie keine 
Aufschlüsse geben. Im folgenden tritt Erotismus immer stärker hervor. Patientin 
geht mit aufgelösten Haaren einher, spricht von Heiraten, singt, reimt, macht 
einem der Ärzte eine Liebeserklärung. Auch in ruhigen Zeiten unmotivierte 
Raptus. Am 

1. August z. B. sitzt die Kranke ganz still im Garten und erwartet 
die Schwester, um mit derselben in den Vorgarten zu gehen. Als die Schwester 
angemeldet wird, springt Patientin plötzlich in die Höhe und schlägt in wohl- 
vorbereiteter Weise blitzgeschwind 6 große Fensterscheiben ein. 

Häufig Klagen über Kopfschmerzen. 

8. September. Äußert eine Reihe von Beeinträchtigungsideen: Man wollte 
sie die Buchhaltung nicht lernen lassen; die Schwester sekierte sie; die Inter- 
nierung hier sei ein Racheakt der „in höchstem Grade verrückten Schwester". 
Rechtsseitige Ovarie; linksseitige Hypalgesie (Brust ausgenommen) andauernd. 

Unregelmäßiger Stimmungswechsel. Die Kranke duldet wochenlang keinen 
Besuch, will bald ihre Mutter, bald ihre Schwester nicht sehen; ist heate mit 
einem Arzte freundlich, um ihm tagsdarauf eine schwere Eßschale nach- 
zuschleudern, bittet schriftlich um Entschuldigung; all das ohne adäquaten 
Affekt. Ende November kommt eine heitere Zeit; Patientin schreibt lustige 
Briefe, Gredichte, persifliert sich selbst. Unvermittelt wird sie wieder trotzig, 
beschimpft die Ärzte, droht dieselben zu insultieren: ^ Jeder Arzt ist falsch!^ 
Sie stellt Selbstmord in Aussicht, markiert tatsächlich auch ein Tentamen 
suicidii, indem sie mit einem Knopf ihren linken Vorderarm zerkratzt. In 
einem Briefe wieder Wahnideen: schon als sie ein kleines Kind war, legte 
man es darauf an, sie in die Irrenanstalt zu bringen. 

Die Kranke besucht regelmäßig den Vorgarten, die Kirche, alle Unter- 
haltungen; wiederholt Ausgänge; dabei ängstigt sie ihre Angehörigen durch 
die fortdauernden Selbstmorddrohungen, fUgt hinzu, in die Anstalt kehre sie 
lebend nur zurück, weil sie es ehrenwörtlich versprochen habe. Die auch bei 
mittlerer Stimmungslage sehr unverträgliche Patientin wird wegen ihrer ,, Ver- 
stellung den Ärzten gegenüber^ von den Mitkranken gehänselt, reagiert daraut 
mit Fenstereinschlagen. 

Das Jahr 1902 eröffnet in unnahbarer Stimmung. Am 



159* 

3. Jänner verlnngt sie auf die Zwischenabteilung, sie halte es wegen 
einer bestimmten Person nicht länger aus. 

4. Jänner. Heiter, gesprächig, arbeitet. 

5. Jänner. Lebhafte Eifersüchteleien; kündigt vormittags in ganz ruhigem^. 
Tone an, daß sie nachmittags viele Fensterscheiben einhauen werde. Als der 
Arzt nachmittags kommt, geschieht das tatsächlich. Sie begleitet die Anord- 
nungen des Arztes mit frechen Bemerkungen. Hinterher tanzt sie im Saal& 
herum; behauptet, sie habe es nur aus Bosheit getan. 

6. Jänner. Lacht und spricht sehr viel. 

9. Jänner. Arbeitet fleißig, ruhig. 

10. Jänner. Verstimmt zu Bett, den Kopf vergraben. Steht gleich nach- 
der Visite auf, ist sehr laut und lebhaft, verstummt plötzlich sowie der Arzt 
unvermutet zurückkehrt. 

16. Jänner. Durch einige Tage fleißig; heute nachmittags wieder ver> 
stimmt, zu Bette. 

17. Jänner. Erregt, weint, verlangt in die Zelle. Angeblich wurde sie 
von einer Mitpatientin beschimpft. Löst sich die Haare auf, schluchzt laut. 
In der Zelle rasche Beruhigung; geht schon abends auf die Zwischenabteilung 
zurück. 

18. Jänner. Wieder verstimmt zu Bett, antwortet auch auf dringliche 
Fragen nicht. 

19. Jänner. Klagt über Halsschmerzen. Kaum merkliche Rötung einer Tonsille. 

20. Jänner. Läppisch, heiter, bleibt zu Bette. 

21. Jänner. Macht übermütige Scherze. Erklärt, sie wolle nach Afrika 
fahren, nehme sich einen der Ärzte in einer Kiste mit; derselbe müsse aber 
die Uniform ablegen, sonst glauben die Leute dort, daß sie Krieg fQhren. — 
Setzt sich abends nackt auf die Steinfliesen des Ganges, in der ausgesprochenen 
Absicht, Halsweh zu bekommen. 

22. Jänner. Schimpft, warum sie in der Irrenanstalt sei, droht mit. 
Fenstereinschlagen. 

29. Jänner. Deprimiert. 

30. Jänner. Geht auf den Ball. 

Seither vollkommen unnahbar, sitzt immer in einem Winkel, wählt und 
wechselt den Platz jedoch so, daß die Visite öfters an ihr vorüber muß. An- 
gesprochen bleibt sie stumm. 

14. Februar. Springt abends plötzlich auf, schlägt Fensterscheiben ein^ 
verletzt sich ziemlich schwer. Spricht beim Verbinden nicht, rauft mit 
den Wärterinnen. — Erkundigungen in der Umgebung klären dieses Ereignis 
auf. Patientin hat auf dem Balle die Bekanntschaft eines männlichen Geistes- 
kranken gemacht; dieser richtete Liebesbriefe an sie, die abgefangen wurden; 
Patientin erfuhr davon. Es gab einen Tratsch auf der Abteilung; man redete 
ihr ein, in der Krankengeschichte stehe, daß sie Liebesbriefe schreibe etc. 

15. Februar. Vollkommen ruhig, geht in den Vorgarten. 

20. Februar. Queruliert wegen ihres Verbandes, dann wegen ihrer Ohren. 

25. Februar. Läuft mit aufgelösten Haaren umher, nennt die Mitkranken 
scherzhaft mit erfundenen Namen. 

2. März. Erregt, teilt Ohrfeigen aus; schreit, wenn man sie zur Rede 
stellt; beruhigt sich auf der Tobabteilung immer sofort. 

7. März. Stellt heute die Ärzte bei der Frühvisite in sehr erregter 
Weise, sie lasse sich nicht zum Narren halten, agitiert heftig mit den Händen, 
schlägt vier Fensterscheiben ein. Nach einer Apomorphininjektion beruhigt. 



160 

14. März. Seit gestern gehemmt, deprimiert, spricht absolut uichts. 

15. März. Frtlh zur ärztlichen Visite stnmm; steht dann auf, ersucht 
um einen Ausgang. Als derselbe aus administrativen Gründen verschoben wird, 
meint sie, das war böse Absicht. 

16. März. Sehr heiter, lacht, lärmt; Tobabteilung. 

20. März. Verlangt allerlei Benefizien, die sie auch auf Umwegen durch- 
setzt. Höhnt dann den Arzt, derselbe habe vergeblich versucht, ihr etwas zu- 
fleiß zu tun. 

26. März. Streitsüchtig, droht, daß sie etwas anstellen werde. Schlaf gut. 

27. März. Abweisend, verlangt, man solle sie in Ruhe lassen. 

28. März. Heiter, wieder zugänglich. 

29. März. Sehr unwirsch, abweisend. 

30. März. Früh heiter, zugänglich; abends wegen Versagen eines Wunsches 
gereizt. 

1. April. Kommt hochgradig erregt von der Ohrenklinik zurück; der 
Arzt dort habe gesagt, es fehle ihr eigentlich nichts; darüber ist Patientin 
ungeheuer aufgebracht, sie schimpft, schreit, droht mit Selbstbeschädigung, 
rauft sich tatsächlich Haare aus. Im Gitterbett rasche Beruhigung. 

2. April. Trotz Versagen eines Wunsches ruhig. 

5. April. Erregt, droht die Fenster einzuschlagen oder sich etwas anzutun. 

6. April. Klagt über Halsschmerzen. Objektiv nihil. 

7. April. Mntazistisch. 

12. April. Wieder erregt; weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen. 

13. April. Schreit, schimpft, droht; wird ins Gitterbett gelegt. 

14. April. Patientin hat sich allmählich in eine Neuordnung des Dienstes 
gefügt, macht ihrem Arzte keine Schwierigkeiten mehr, dafür apostrophiert sie 
andere Herren in läppischer Weise, lacht überlaut. 

19. April. Ruhig. 

21. April. Hochgradige, heitere Verstimmung, verlangt Bier, Entlassung, 
in den Hörsaal. Auf der Abteilung bleibe sie nicht, sie sei kein Narr. 

22. April. Depression. 

28. April. Heute wieder laut. 

27. Apnl. Nach drei ruhigen Tagen lärmend, verlangt einen Ausgang. 
Mittags Beruhigung. — Bei der Nachmittags visite ist Patientin still und 
stumm. Abends beginnt sie zu schreien, bedroht die Umgebung; sie reiße 
allen die Haare aus. Zerschlägt einen Teller. Gitterbett. 

28. April. Schon von weitem vernehmlich, macht Witze, lacht selbst 
darüber. Mit komischem Pathos erzählt sie, daß sie gestern der Wärterin 
eine Nase drehte und darum ins Gitterbett gelegt wurde. Als die Visite sich 
entfernt, löst Patientin unter unbändiger Heiterkeit die Maschen des Netzes 
auf, kommt herangestürmt, weiß eigentlich nicht, was sie verlangen soll, meint 
endlich: ihre Entlassung. — Sie spricht den ganzen Tag. Abends zerreißt sie 
einen Deckenspiegel und eine Matratze, fragt scherzend vorher immer, ob sie 
das tun soll. Schlaf gut. 

29. April. Ruhig. Will abends plötzlich auf die Tobabteilung. Nach 
wenig Minuten verlangt sie wieder auf die Zwischenabteilung zurück; auch 
dieser Wunsch wird ihr erfüllt. 

30. April. Sehr erregt, beschwert sich beim Professor, daß der Arzt sie 
zum Narren halte; schlägt mit einem Fußschemel eine größere Anzahl Fenster- 
scheiben ein. Nach Apomorphininjektion ruhig, zu Bett. 

15. Mai. Die Zeit über unauffUllig, arbeitet fleißig. 



161 

19. Mai. Plötzlich heiter erregt; begrüßt stürmisch den Arzt, überreicht 
einen Fliederbusch; macht dabei einen Liebesantrag. 

20. Mai. Vollkommen rnhig, arbeitet. 

25. Mai. Zu Bett, Kopfschmerzen. 

26. Mai. Außer Bett, wünscht in eine andere Anstalt transferiert zu 
werden. 

5. Juni. Hochgradige heitere Verstimmung; erzählt den Mitpatienten, sie 
habe sich mit dem Arzte verlobt. Sie dekoriert das Gartentor mit Kränzen, 
schmückt sich und eine schwachsinnige Mitkranke. 

6. Juni. Überreicht Zettel, auf denen „Gebote^ für die einzelnen Herren 
stehen; nur wenige derselben erheben sich auf das Niveau eines Witzes. 

17. Juni. Mit zweitägiger Unterbrechung wieder lärmend, springt mit auf- 
gelösten Haaren herum, präsentiert Blumen. Sie verlangt einen anderen Lieb- 
haber, ihre Entlassung, droht mit Fenstereinschlagen, behördlicher Anzeige; 
läßt sich ohne weiteres abweisen. 

18. Juni. Für die Visite zieht Patientin immer ihr schönstes Kleid, ein 
Babykostüm an, das sie dann sofort wieder ablegt. Zur Vorlesung gerufen, 
stürmt sie laut und lachend in den Hörsaal; doch macht ihre Heiterkeit einen 
künstlichen, übertriebenen oder gar erzwungenen Eindruck. Es fällt der Kranken 
wenig ein; auch besteht kein Bewegungsdrang. In schamloser Weise erzählt 
sie, daß sie in die Anstalt kam, weil sie sehr verliebt war, sehr viele Alte 
als Geliebte draußen hatte; wieviel wisse sie nicht, da sie keine Notizen 
darüber führte. Sie würde sich schämen, wenn sie noch Jungfrau wäre. Das 
goldene Kreuz, das sie am Halse trägt, behauptet sie gestohlen zu haben; 
einer Wärterin droht sie „Watschen mit Sprungfedern" an. Was man ihr über 
Selbstmordversuche vorhält, seien nur Erdichtungen; es wäre übrigens kein 
Schade, wenn sie hin würde. — Bei der körperlichen Untersuchung macht sie 
ungezogene Bemerkungen; bei der Prüfung auf Ovarie z. B. „weiter geht's nicht 
sonst kommt man auf einen Punkt, auf den man nicht kommen darf". — Aus- 
gedehnte Analgesien, dazwischen Druckpunkte, so zwischen den Schulterblättern, 
wo Druck Opisthotonus auslöst. 

19. Juni. Lacht und spricht den ganzen Tag; nachts ruhig. 

21. Juni. Zu Bett, klagt über Kopfschmerzen. 

Die folgenden Tage auf der Höhe erotischer Erregung. Sie ist ganz phan- 
tastisch geschmückt, trägt in Haar und Gewand unzählige Bändchen in allen 
Farben, Blätter, künstliche Blumen aus Seidenpapier, Schmuck etc. Eine kleine 
Idiotin derselben Abteilung hat sie bis ins Detail genau gleich geschmückt. 
Auch die Wände werden mit allerlei Flickwerk beklebt. Überreicht zahllose 
Schriftstücke dummen Inhaltes. Schläft nachts gut. 

30. Juni. Verlangt ins kalte Bad, droht mit Fenstereinschlagen, muß 
ins Gitterbett gelegt werden. Abends ruhig. 

2. und 3. Juli. Übertrieben laut, läppisch heiter. Wünscht eine Ent- 
fettungskur. 

4. Juli. Reizbar; reißt sich nach der Visite die Haare aus. — Motiviert 
ihre Aufregung damit, daß sie keine Schilddrüsentabletten bekomme. 

6. Juli. Geordnet, verfaßt neuerlich eine Eingabe um Transferierung. 

8. Juli. Vorübergehend reizbar, verbietet dem Arzte, sie anzusprechen. 

Die folgenden Tage arbeitet Patientin und grüßt. 

20. Juli. Deprimiert, zu Bett. 

22. Juli. Sehr heiter, dekoriert die Gartentüre, setzt eine phantastische 
Haube auf. 

Raimaun, Die hysterisclien Geiätesstörun^en. 11 



162 

23. Juli. Erregt; bescliimpft den Arzt; arbeitet gleichzeitig. Bei der 
Nachmittagsvisite zu Bette; dann steht Patientin wieder auf und setzt sich 
zur Handarbeit. 

26. Juli. Fleißig, dabei reizbar, unzugänglich. 

28. Juli. Die Kranke geht ins kalte Bad; kehrt zurück mit der Klage; 
es sei ihr nicht wohl; legt sich zu Bett. 

Durch 3 Tage Temperatursteigerung bis 39'7, ohne objektiven Befund. Am 

1. August. Temperatur normal. Patientin ruhiger; es kommt im August 
nur einmal im Anschlüsse an eine ärztliche Ansprache zu Fenstereinschlagen; 
meist arbeitet die Kranke sehr fleißig. 

Am 25. Juni 1903 wird Patientin in eine andere Irrenanstalt transferiert. 

Im Überblicke über das ganze Krankheitsbild läßt sich folgendes sagen: 
Deutliche Züge hysterischen Charakters sowie einzelne hysterische Symptome 
gehen voraU; dann setzt eine Verstimmung ein; die man für Melancholie halten 
könnte; wenn nicht der gewisse unaufrichtige Zug den Beobachter auf eine 
andere Fälirte brächte. Patientin schreibt an sich selbst einen Unglücksbrief 
erfundenen Inhaltes; weist denselben vor; macht ihrer Dienstgeberin die offizielle 
Mitteilung; daß sie sich umzubringen beabsichtige; eine bei Melancholikern 
ganz ungewöhnliche Form. Tatsächlich ist keine Hemmung eingetreten;. 
Patientin wollte nie etwas arbeiten; sie findet nur jetzt in der übertriebenen 
Ausmalung ihrer Todesverkündigung, welche durch die Erscheinung des Todes 
in Person noch unterstützt wird, ein Motiv. Wie ein vertrauliches Examen im 
Beginne des Leidens wahrscheinlich macht; itihrt die Verstimmung auf ein 
Ereignis zurück; daß der Kranken noch in der Erinnerung überaus peinlich 
bleibt; auf ihre Defloration. Sie verarbeitet dieses Trauma aber in hysterischer 
Weise. Die schwere Depression wird durch freie Momente abgelöst; und zwar 
in deutlicher Beziehung auf die Umgebung. Bei der Visite wortloS; unterhält 
sie sich mit anderen Patienten recht lebhaft. Sie beginnt die Annehmlichkeiten 
des Lebens wieder zu schätzen und fühlt sich als Kranke in der Irrenanstalt 
recht wohl. Bald kommt es zu Aflekten der Reizbarkeit; endlich zu anscheinend 
manischen ZustandsbilderU; ohne Witz und Erfindungsgabe. Da außerdem Wahn- 
ideen der Beeinträchtigung geäußert werden und zwar bei mittlerer Stimmungs- 
lage; so entsteht ein kompliziertes Zustandsbild, das nach dem objektiven 
Bericht der Krankengeschichte um so schwerer zu werten ist, als man den 
unaufhörlichen Stimmmungskontrasten in engem Rahmen nicht gerecht werden 
kanU; da obendrein ein Eingehen in die Gedankengänge der Patientin auf 
technische Schwierigkeiten stieß. Jede Beschäftigung mit ihr veranlaßt gleich- 
geartete KrankC; sie bei ihrer schwachen Seite zu fassen und zu hänselU; was zu 
Zornesexplosionen und Fenstereinschlagen Anlaß gibt. 

Zum Verständnis des Gesagten muß berichtet werden; daß durch die 
Erfindungsgabe der Patientin ein Roman gesponnen wurdC; der die Kranke in 
nahe Beziehungen zum Arzte bringt. Die Patientin rühmt sich unter Berufung 
auf eine augebliche gemeinsame Bekanntschaft besonderer Protektion; wird 
daher gereizt; wenn man sich gar nicht mit ihr beschäftigt, sie wird von den 
anderen attakiert; wenn man ihr einen Wunsch erfüllt. Somit bestanden auf 
der Abteilung geradezu unerträgliche Verhältnisse. Immerhin gelang es durch 
Erkundigung in der Umgebung eine Reihe sonst rätselhafter Stimmungs- 
anomalien glatt aufzuklären, soweit, daß das Treiben der Patientin zumeist nur 
als Reaktion auf äußere Vorgänge und unmittelbare Reflexion darüber er- 
schien. Wenn man so im Gegensatze zu der rein organischen; zwingenden 



163 

Verstimmnng des manisch-depressiven Irreseins die einzelnen Xrankheits- 
momente psycholo^sch motivieren kann; wenn man weder Melancholie noch 
Manie; sondern nur Stimmungsexzesse vorfindet; wenn man obendrein hyste- 
rischen Charakter; Suggestibilität; eine ÜberftUle psychischer und körperlicher 
Stigmen vor sich sieht: dann hat man wohl das Recht, Hysterie zu diagno- 
stizieren. 

Auch die chronischen Formen hysterischer Geistesstörung gaben 
Anlaß, eine Reihe von Bildern abzugrenzen, und zwar nach der äußer- 
lichen Ähnlichkeit mit anderen bekannten Psychosen des Systems. Man 
hat mehrere Formen von hysterischer Paranoia, sogar eine hysterische 
Pseudoparalyse unterschieden. 

Tatsächlich äußern fast alle Hysterischen Verfolgungsideen; aucb 
die letzt vorgeführten Patienten. Jede Hysterica glaubt sich mißver- 
standen, unterdrückt, weniger geliebt als ihre Schwestern, für närrisch 
erklärt, verspottet, verfolgt, eventuell sogar vergiftet. Die Kranken knüpfen 
ganz regelmäßig an ein affektbetontes Ereignis an: alles sei eine Intrigue, 
angezettelt von ihren Nebenbuhlerinnen, nur um ihnen zu schaden; oder 
es werden hypochondrische Befürchtungen geäußert. Es ist weiters selbst- 
verständlich, daß die Hysterischen ihrer erhaltenen Besonnenheit ent- 
sprechend diese Wahnideen in ein gewisses System bringen. Das alles 
berechtigt aber noch nicht zur Diagnose Paranoia. Zum klinischen Bilde 
der letzteren gehört vor allem ein typischer Verlauf, die Weiterbildung 
des Systems durch Beziehungswahn, zunächst streng einheitlich und kon- 
sequent, die Progression bis zu einem Terminalstadium psychischen 
Verfalles. 

Aus dem Verfolgungswahn der Hysterischen leuchtet der hysterische 
Charakter unverkennbar heraus, dazu kommen Widersprüche im Sym- 
ptomenkomplexe. Die Patienten scheinen unjiufrichtig, indem z. B. der zu 
erwartende depressive Affekt fehlt; die Erzählung wird mit lächelndem 
Gesicht vorgebracht; es sieht wenigstens so aus, wie wenn die Kranken 
das Lächeln nur schwer verhalten könnten. Sie blicken den Arzt von 
der Seite an, fügen eine Kritik bei, bitten nur ja zu glauben, es sei 
wirklich so. Sie rühmen sich förmlich gewisser Wahnideen, ohne die Kon- 
sequenzen aus ihnen zu ziehen, sie drängen der Umgebung ihre Sinnes- 
täuschungen entgegen, suchen damit Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie 
beobachten die Wirkung ihrer Konfabulationen, daß die ganze Welt sie 
verfolge, daß sie jedermann zur Last sind, daß man ihre Gesellschaft 
meide; finden sie Gehör, so malen sie immer plastischer, gebrauchen 
dichterische Ausdrücke. Anderenfalls suchen sie sich ein dankbareres 
Publikum. Manchmal brechen die Verfolgungswahnideen der Hysterischen 
stürmisch aus, es ist eine plötzliche Massenverfolgung, wie beim Alkohol- 
wahnsinn. Das Krankheitsbild schließt wieder als Hysterie. Der hier 
zu vertretenden Auffassung nach wäre die Bezeichnung „hysterische 

11* 



164 

Paranoia" zu vermeiden, die Fälle sind entweder Paranoia oder Hysterie. 
Soweit Krankengeschichten in der Literatur vorliegen, gehört das Gros 
der scheinbaren Mischfälle zur Paranoia. Die eigene Erfahrung verzeichnet 
unter all den vielen Hysterischen keinen einzigen Kasus, der tatsächlich 
durch längere Zeit differential- diagnostische Schwierigkeiten hätte ver- 
ursachen können; am ehesten illustriert noch die paranoische Verkleidung 

einer Hysterie 

Beobachtung XXXVI. 

Christine L., geboren 1883, ledig, katholisch, Näherin. 

Patientin wird als charakterologisch abnorm geschildert; eigensinnig und 
unfttgsam, erliob sie die Hand gegen die eigene Mutter, ging dann mit einem 
jungen Manne durch. Seither zürnt der Vater und ist eine Rückkehr ins Eltern- 
haus unmöglich. 

2. Februar 1901. Sturz über eine Treppe, ein Stockwerk hoch. Es 
werden die Erscheinungen einer Gehirnerschütterung berichtet. Aphasie und 
Inkontinenz gingen rasch vorüber, eine rechtsseitige Hemiparese bleibt zurück. 
Seither auch psychische Störungen: Patientin sehr nervös, reizbar, leidet an 
Aufregungszuständen, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Sie kommt am 
24. September 1902 an der Nervenklinik zur Aufnahme: 

Die rechtsseitige Hemiparese zeigt einige Besonderheiten, welche die 
Diagnose Hystene rechtfertigen. Beim Zähnezeigen verzieht Patientin beide 
Mundwinkel wenig; beim Sprechen besteht keine Innervationsdifferenz zwischen 
rechts und links. Die Zunge wird ausgiebig und gerade vorgestreckt. Bei Auf- 
forderung, dieselbe seitlich zu verschieben, bringt die Kranke selbe nur mühsam 
nach links, gar nicht nach rechts. Der rechte Arm ist kaum abgemagert, liegt 
meist regungslos neben der Patientin. Fordert man irgendwelche Bewegungen, 
so kommen einige ruckartige schüttelnde Aktionen zum Vorschein. Die Kranke 
geht vorn übergebeugt, den Blick auf den Boden geheftet, sie schiebt das 
rechte Bein schleifend ruckweise vor; keine Zirkumduktion, auch die Prüfung 
des Flankenganges (Schul 1er) ergibt nicht das Verhalten der organischen 
Hemiplegie. Hochgradige Einschränkung des Gesichtsfeldes, rechtsseitige Hemi- 
anästhesie, Hemianalgesie, Störung der tiefen Sensibilität; auch sind rechts 
Gehör, Geruch, Geschmacksempfindungen herabgesetzt. 

Unter faradischer Behandlung bessert sich der Nervenstatus sehr rasch, 
der rechte Arm wird unter schüttelnden Bewegungen bis über den Kopf ge- 
hoben. Der Gang ist kaum mehr gestört. 

24. Oktober. Patientin verwendet die rechte Hand zum Arbeiten, Häkeln. 
15. November. Abends. Die Kranke erbricht, liegt dann somnolent dahin. 

17. November. Schläft noch immer mit kurzen Unterbrechungen, nimmt 
keine Nahrung. Aufgeweckt, antwortet sie schleppend nur wenn man sie 
stimuliert. Sie fragt nach dem Tage, weiß die Namen der Ärzte und Wärterinnen 
nicht anzugeben, schläft sofort wieder ein. Puls und Temperatur normal. — 
Die Bettnachbarin berichtet, daß die Patientin wiederholt Selbstmordabsichten 
äußerte, dieselben mit ihren häuslichen Mißhelligkeiten sowie mit ihrem Leiden 
motivierte, daß sie 20 Sulfonalpulver mit in das Spital gebracht und bei sich 
versteckt habe, am 15. abends 3 Stück davon nahm. In den Effekten der 
Kranken, die sofort durchsucht werden, ist nichts zu finden. Übersetzung auf 
die psychiatrische Klinik. 

18. November. Patientin liegt mit geröteter Facies still zu Bett, klagt 



165 

über leichten Schwindel und Kopfdrnck. Auf Fragen bestätigt sie leise und 
zögernd die Angaben der Mitpatientin. Keine Hämatoporphinurie. 

20. Norember. Andauernd etwas somnolent. Puls und Herzaktion mäßig 
frequent, arrhythmisch. Gang etwas taumelnd; der Kopf wird nach der rechten 
Seite geneigt gehalten; die Kranke motiviert dies mit Schwindelgefühl ; in der 
Arty wie sie die Lider hebt^ gewinnt man den Eindruck des Gemachten. 

21. November. Heute viel freier, Patientin bleibt dabei, daß sie drei 
Sulfonalpulver nahm, die übrigen will sie ins Klosett geworfen haben; motiviert 
ihre Tat mit Ärger und Aufregung. 

5. Dezember. Sehr zurückhaltend, blickt dem Arzt nie ins Gesicht. 

20. Dezember. Weint oft in der Nacht, heute auch während der Visite. 
Nachher darüber befragt erklärt sie, sie sei für alle ein Stein des Anstoßes^ 
weil sie so ungeschickt sei; alle ärgern sich über sie und verfolgen sie. 
„Jeder Pflasterstein habe Augen.^ Sie fühle sich deshalb und wegen ihrer 
Arbeitsunfähigkeit sehr unglücklich; habe die Pulver genommen, um sich um- 
zubringen. 

5. Jänner. Andauernd depressiv gestimmt, weicht untersuchenden Ein- 
griffen wie ängstlich und mißtrauisch aus. 

19. Jänner. Patientin wird aufgefordert, eine Anknüpfung mit den Eltern 
zu versuchen. Sie schreibt einen rührenden Brief an ihre Mutter, welche ihr 
trotz des Vorgefallenen gut geblieben ist. Ebenso sucht eine Bekannte der 
Kranken zu vermitteln, doch ohne Erfolg; der Vater mache keine Miene, seiner 
Tochter zu verzeihen. 

2. Februar. Patientin schreibt wieder: 

„Liebes gutes Mütterchen! Vor allem entschuldige mir, liebes gutes 
Mütterchen, daß ich dich schon wieder mit einem Schreiben belästigen tue. 
Tränen in den Augen und auf den Knien flehend, bitte ich liebe, liebe Mutter, 
komme und hole mich ab, abgesehen daß ich fast nicht mehr im Kranken- 
haus sein kann; sowohl zu Hause als auch in Wien werden mir dieselben 
verletzenden Worte immer ins Gesicht geschleudert, deshalb ich nicht mehr 
mit Personen verkehren kann; ich finde weder Rast noch Ruhe, weil ich 
überall, wo ich hinkomme, verleumdet und verfolgt werde. Liebes Mütterchen, 
ich bin ja gesund, versage mir meine Bitte nicht und komme bestimmt mich 
abzuholen/^ 

10. Februar. Andauernd still und scheu, sitzt oder steht bei ihrem Bett 
in tiefem Nachsinnen. 

1. März. Vom Hause ist keine Nachricht mehr eingetroffen. Die depressive 
Verstimmung der Kranken weicht einer zunehmenden Gereiztheit. 

15. März. Über Befragen mit dem Ausdruck der Unaufrichtigkeit Bericht 
über Verfolgungen seitens aller Mitpatienten. Auch die ganz fremden Kranken 
rufen ihr Schimpfworte zu, wie „Mensch^ etc. Zu einer Wiederholung der 
möglicherweise obszönen Worte ist Patientin nicht zu bewegen. 

20. März. Verlangt in erregtem Tone ihre Entlassung, wolle nach Hause 
zu den Eltern. Über Einwände schweigt sie. 

3. April. In die Irrenanstalt transferiert, wo sie das Bild eines Dämmer- 
zustandes bietet. 

Eine exquisit hysterische Person, die, aus dem Eltemhause verstoßen, 
ein unerfreuliches Dasein führt. Durch elektrische Behandlung gelingt es, die 
körperlichen Störungen rasch zu einer weitgehenden Besserung zu bringen. 
Die Kranke ist durch den Behandlungszwang beinahe arbeits- und damit ent- 



166 

lassungsföhig. Nun setzen psychische Störungen ein. Patientin kündigt Lebens- 
überdruß HU; motiviert denselben in Widerspruch zur Wirklichkeit mit ihrem 
Nervenleiden und als die Nachbarin nicht rechtzeitig Mitteilung davon macht, 
finden die Ärzte endlich das Bild einer schweren Schlafmittelvergiftung, aller- 
dings nur in seinen subjektiven Symptomen. 

Ich kann für meine Person den Verdacht nicht unterdrücken, als ob die 
ganze Sulfonalvergiftung nur eine freie Erfindung der Patientin gewesen wäre. 
In ihren Effekten wird nichts vorgefunden. Es fehlt jeder objektive Anhalts- 
punkt, auch die Benommenheit schien nicht echt, da die Kranke wie mit unge- 
heuerer Kraftanstrengung, aber doch jederzeit die Lider hob und dann ganz 
richtige Antworten gab oder in bestimmt prompter Weise ihr Nichtwissen 
behauptete. Analoge Fälle dürften nicht so selten sein. loh lernte eine 
Hysterica kennen, welche nach Einatmung von 2 Tropfen Chloroform eine 
mehrstündige tiefe Narkose mit nachfolgendem 24stündigem Erbrechen sich 
leistete; eine andere, die in allerdings nicht überzeugender Weise einen 
Scheintod als Vergiftung von Chloroformgrünöl vortäuschte, die nachgewiesener- 
maßen aber gar nicht in der Lage war, das Medikament sich zu verschaffen. 

Ob man nun den Selbstmordversuch anerkennt oder nicht, jedenfalls 
bringt er der Kranken keinen Schaden; er erschwert nur ihre Entlassung. 
Nicht als ob Patientin das bew^ußterweise gewollt hätte; gewiß wäre sie 
am liebsten zu ihren Eltern zurückgekehrt, hätte sich zu Hause weiter pflegen 
lassen, allein der geistesgesunden Tochter gegenüber blieb der Vater un- 
versöhnlich. Vielleicht konnte man von einem Selbstmordversuch der Gemüts- 
kranken mehr Eindruck auf sein Herz erwarten. Nachdem ein Brief der Mutter 
auch diese Hoffnung zunichte gemacht, drängt Patientin nur mehr in schwäch- 
licher Weise auf Entlassung; sie weiß keine Antwort, wenn man fragt, wohin 
sie gehen wolle. 

Gleichzeitig beginnt sie Wahnideen zu äußern, welche den Eindruck 
der Unaufrichtigkeit machen, wie schon in der Krankengeschichte hei^-or- 
gehoben. Es fehlt der Nachdruck, diese Ideen werden zögernd, wie ver- 
suchsweise geäußert. Dabei blickt Patientin zu Boden, als wäre sie sich der 
Lüge bewußt. Sie kleidet diese Ideen in eine übertriebene poetische Aus- 
drucksweise, sie läßt mehr erraten als sie aufklären würde. Ein System ist 
nicht herauszubringen. So bereitwillig sie die Verfolgungen selbst zugibt, dem 
Examen gegenüber hüllt sie sich in Schweigen. Wenn man die Gehörs- 
täuschungen als solche glaubt, stellen sie nur lebendig gewordene Erinnerungen 
«nd Selbstvorwürfe dar. Sie spielen auf den Fehltritt der Patientin an. Es war 
zu erwarten, daß dieses initiale paranoide Stadium nicht den Verlauf einer Para- 
noia nehmen, sondern nach kürzerer oder längerer Zeit anderen Erscheinungen 
Platz machen würde, wie bei allen anderen hysterischen Patientinnen, deren 
Krankheitsgeschichten ebenfalls vorübergehend ganz ähnliche Zustandsbilder 
•brachten. 

Was die Paralyse ähnlicher Bilder betrifft, so muß gleich fest- 
gestellt werden, daß es bei Hysterie keine virirkliche, sondern nur eine 
Pseudodemenz gibt, namentlich in Dämmerzuständen. Allerdings kann 
•die Hysterie auch auf dem Boden des Schwachsinnes stehen; bei wirk- 
lichem Blödsinn dürfte der hier vorgebrachten Auffassung nach eine 
Hysterie aber nicht mehr zustande kommen. Diagnostische Schwierigkeiten 
mögen sich in dem einen oder anderen Falle vorübergehend erheben, 



167 

wenn den Verlauf einer Paralyse hysteriforme Erscheinungen komplizieren, 
eigenartige Krampfzustände, Singultus, Sensibilitätsstörungen, vielleicht 
an Verstellung erinnernde Bilder, selbst Kontrastantworten. Anderer- 
seits ahmt die Hysterie eine Reihe von paralytischen Symptomen, Demenz, 
Euphorie, selbst Sprachstörung nach; doch muß eine Differentialdiagnose 
zwischen beiden Krankheitsentitäten immer möglich sein. Die Paralyse 
ist ein fortschreitendes, unaufhaltsam zum tödlichen Ende führendes Leiden, 
die Hysterie eine funktionelle Neuropsychose: Damit ist der unüberbrück- 
bare Gegensatz wohl scharf genug ausgedrückt. 

Der Versuch, solche Typen der chronischen Hysterie aufzustellen, 
ist ein recht undankbarer, denn nur in einer Minderzahl der Fälle sind 
Ähnlichkeiten mit den nicht hysterischen Psychosen zu verzeichnen und 
dann sind die Ähnlichkeiten wohl nur äußerliche. Man vernmständlicht 
die Nomenklatur und kann der Mehrheit der Krankheitsbilder doch nicht 
gerecht werden, die in der Regel eine bunte Mischung der verschiedensten 
Elementarstörungen auf den hysterischen Charakter aufpfropfen. Die 
Mannigfaltigkeit, die Polymorphie dieser Zustände ist nicht zu erschöpfen. 
Schon vorhin wurde von der Wiederkehr einzelner Affektausbrüche des 
hysterischen Charakters, einzelner akuter Psychosen gesprochen. Einige 
dieser wiederholen sich geradezu aus innerer Notwendigkeit: wenn Etats 
seconds z. B. durch, das ganze Leben sich fortspinnen, so entsteht 
eigentlich auch eine chronische, hysterische Geistesstörung. 

Zur Symptomatologie derselben wäre einiges nachzutragen, was 
bis nun kaum berührt wurde. Es fügt sich an dieser Stelle zweck- 
mäßig ein, weil es gerade bei den chronischen Psychosen zur Ausfüllung 
der freien Intervalle dient, hier häufiger beobachtet wird oder wenigstens 
bei dem mehr schleichenden Verlauf deutlicher auffällt, als während der 
stürmischen Exazerbationen der Hysterie. 

Hierher gehören Halluzinationen, welche bei den chronischen Formen 
gewissermaßen durch das ganze Leben andauern, ohne daß eine ab- 
grenzbare Geistesstörung etwa ein Delir vorläge. Manchmal freilich 
treten die Sinnestäuschungen nach Art eines Anfalles auf, scheinbar 
spontan oder in Anknüpfung an einen Anlaß; der das Gemüt in Be- 
wegung bringt Es ist die bekannte Zwischenform zwischen Affekt und 
Delir. Die Patientin sieht z. B. Fratzen hinter allen Möbeln hervorlugen, 
die bei mittlerer Stimmungslage wieder verschwinden. Eine Hysterica, 
die vor kurzem an der Klinik war, bekam nach jeder Aufregung, doch 
mehrmals im Tage auch ohne solche, Kopfschmerzen, sah plötzlich 12 bis 
15 nackte graue Gespenster, mit Stöcken und Sensen bewehrt um sich 
herumstehen; die Gestalten blickten sie an, sprachen gelegentlich dro- 
hende Worte, trugen ihr allerlei verrücktes Zeug auf. Natürlich sind 
auch diese Wahrnehmnngstäuschungen aus der Persönlichkeit heraus ab- 
zuleiten. Derartige anfallsweise Störungen lassen sich theoretisch als 



168 

hysterische Paroxysmen deuten, die durch das ganze Leben wieder- 
kehren, aber auf eine gewisse Gemütserregung mit einzelnen Halluzi- 
nationen reduziert sind. 

Anderemale werden von Hysterischen Sinnestäuschungen dauernd 
oder wenigstens durch längere Zeit vorgegeben mit gleichgültiger Miene 
wie etwas ganz Gegenstandsloses, vielleicht aber nur deshalb, weil die 
Tatsache des Halluzinierens an und für sich ein genügendes Krankheits- 
motiv ist. Fast immer sind es Visionen, wie scheint darum, weil bei den 
meisten Menschen der Gesichtssinn und die Gesichtsbilder das Bewußtsein 
beherrschen und weil die Hysterie, wie schon wiederholt betont, sich 
den normalen psychischen Gesetzen anschließt. Der Simulant, welcher 
noch keine Gelegenheit hatte, in der Irrenanstalt von dem Überwiegen der 
„Stimmen" etwas zu erfahren, beginnt auch immer mit Gesichtstäuschungen. 
Wie bei Simulanten entsprechen auch bei Hysterischen die Visionen 
ihrer Gedankenrichtung. In früheren Jahrhunderten waren es Engel, 
Heilige, Teufel; bei frommen Jungfrauen ist das auch heute noch der 
Fall. Anderemale sind es Löwen, Tiger als affektauslösende Täuschungen, 
Hunde, Katzen als Lieblingstiere, letztere vielleicht auch als Symbol der 
Falschheit, Mäuse, Ratten, Spinnen, Käfer, Schlangen, Frösche als ekelhafte 
Kreaturen, der hysterischen Geschmacksperversion entsprechend. Doch 
erblicken diese Patienten auch bekannte und unbekannte Gesichter oder 
Fratzen, die sich aus wirklichen Tapetenmustern oder frei im Gesichts- 
felde entwickeln, fast immer zu den Kranken in Beziehung treten, sie 
wenigstens anblicken. Hübsch ist jener Fall, wo eine Hysterica all- 
abendlich durch ein Loch in der Diele eine Gestalt emporsteigen sieht, 
welche die Züge jener Person trägt, mit der sich ihre Gedanken tags- 
über beschäftigt haben. 

Gewisse Halluzinationen sind typisch, fast diagnostisch verwertbar, 
da sie bei einer großen Zahl von Hysterischen beobachtet werden: der 
Mann mit einem langen Messer, die Mutter im Leichengewande. 

Eine geringere Rolle spielen Gehörstäuschungen (Hilferufe von Ver- 
wandten), Geruchs- und Geschmackstäuschungen, namentlich solche un- 
angenehmen, oft höchst sonderbaren Charakters (der Geruch nach ver- 
brannter Mehlspeise) Dann gibt es Tast-, Schmerz-, Temperatur-, Muskel- 
gefühls-Halluzinationen, z. B. die Hallucinations motrices der Sprach- 
muskulatur, Gemeingeflihlshalluzinationen, endlich als eine gewissermaßen 
spezifisch weibliche Qualität die der Sukkuben und Schwangerschaftsgeflihle. 

Der Bericht über diese Sinnestäuschungen macht den Eindruck 
der Unaufrichtigkeit — fast alle Beobachter heben das hervor — wie 
es scheint hauptsächlich durch den Widerspruch hervorgerufen, daß 
die oft schon inhaltlich unsinnigen Halluzinationen durch das sonst 
klare Bewußtsein nicht korrigiert werden, daß man die Kranken ad 
absurdum führt, sie scheinbar von der Irrealität dieser Täuschungen 



169 

überzeugt, sie aber doch immer wieder auf dieselben zurückkommen. 
Freilich haben Halluzinationen an und für sich eine überwältigende 
Kraft, die sich bei anderen Formen geistiger Störung oft genug bewährt; 
doch gibt es keinen geistesklaren Patienten, der seine Sinnestäuschungen 
kritiklos entgegennehmen würde — Zustände von Demenz ausgeschlossen. 
Der Paranoiker macht sich Einwände, die Übertragung von Gehörs- 
eindrücken z. B. auf größerere Entfernungen muß mit seinem bisherigen 
Erfahrungsschatze irgendwie in verständlichen Zusammenhang gebracht 
werden; die Physik, bei beschränkten Leuten der Aberglaube liefern die 
Bindeglieder. Die Hysterie a berichtet über Gehörstäuschungen, ohne 
jeden Erklärungsversuch; sie hält Gesichtshalluzinationen gegen das 
Zeugnis des Tastsinnes fest. Sie läßt sich durch Logik in die Enge treiben, 
modifiziert die Sinnestäuschung dementsprechend oder dieselbe wird ganz 
zurückgezogen, durch eine andere derselben Kategorie ersetzt. Eine 
Kranke, die man aufforderte, dem halluzinierten Manne die Hand zu 
reichen, erklärte die Erscheinung sei in diesem Augenblicke verschwunden ; 
sowie der Arzt von seinem Verlangen abstand, war der Mann wieder da. 
Sehr wichtig für die Diagnose hysterischer Dauerzustände ist ein 
nicht aufdringliches Symptom, das nur durch ein genaues Examen 
erhoben werden kann, Amnesien, in der Regel wechselnden Umfanges 
besonders dann charakteristisch, wenn sie sogenannte systemisierte 
darstellen, sich auf einen bestimmten Komplex von Erinnerungen 
erstrecken. Selten ist eine länger währende Amnesie ant6rograde, indem 
die Kranken jedes gegenwärtige Ereignis augenblicklich vergessen oder 
nur durch eine bestimmte kurze Zeit im Gedächtnis behalten, um es dann 
erst zu verlieren. Bei verschiedenartigen Krankheitszuständen, auch bei 
Hysterie, trifft man die retrograde Amnesie. Endlich können die beiden 
Endpunkte des Ausfalles parallel miteinander vorwärts schreiten, so daß 
die Patienten in dem Maße, als sie die Gegenwart vergessen, ans der 
Vergangenheit Erinnerungen hervorholen, d. h. die Reminiszenz an ein 
kürzlich vorgefallenes Ereignis verschwindet auf einige Zeit, um dann 
wieder zurückzukehren; es schiebt sich gewissermaßen ein immer gleich- 
breiter dunkler Streifen auf dem Erinnerungsfelde vor (Fall von Wizel). 
Diesen Raritäten gegenüber steht die gewöhnlichste Form der hysterischen 
Amnesie, die inselförmige. Einzelne Erinnerungen sind ausgefallen, und 
zwar wichtige, affektvolle, während belanglose Details aus derselben 
Zeit gemerkt werden. Eine Systemisierung der Amnesie nach erkennbaren 
Zielvorstellungen ist möglich und besonders kennzeichnend, wenn nur 
Dinge vergessen werden, die den Kranken persönlich unangenehm sind, 
welche in Beziehung stehen zu den psychischen Traumen, die sie er- 
litten. Die Patienten wissen z. B. nicht, was es vor wenig Stunden 
gegeben hat, sie leugnen einen Konflikt ab, sie verschweigen die aus- 
lösende Krankheitsursache, sie sprechen aber gelegentlich von diesen 



170 

vergessenen Ereignissen im Schlafe, sie geben Auskunft in der Hypnose. 
Nicht gar so selten sind auch Fälle, welche Amnesie nur dem Arzte 
gegenüber behaupten. 

Weiters findet man bei den chronisch hysterischen Geistesstörungen 
den Übergang in verschiedene Bewußtseinszustände. Die relativ klaren 
Kranken sind ungemein leicht hypnotisierbar. Es werden Fälle berichtet, 
wo es gentigte, die Patientin einfach anzublicken, um sie in Hypnose 
^u führen. Ein solcher Kasus ließ sich durch den Arzt nicht mehr er- 
wecken; als eine Frauensperson die Patientin au ihre häusliche Be- 
schäftigung erinnerte, sprang diese aber sofort auf (Zacher). Andere 
Fälle wurden durch den Befehl des Erwachens aus der Hypnose in som- 
nambule Zustände versetzt, mit reger psychischer Tätigkeit und Halluzi- 
nationen. In einem Kasus von Hebold bestanden dreierlei, eigentlich 
viererlei psychische Persönlichkeiten nebeneinander: I. Der gewöhnliche 
wachklare Zustand, doch mit gesteigerter Suggestibilität dem Hypnotiseur 
gegenüber; II. der hypnotische Schlaf, in welchem Patientin völlig willenlos 
ist, für ihre Person aber Erinnerungsfähigkeit in größerem Umfange hat 
als in I; bei manchen Erweckungs versuchen sieht die Kranke verstört aus, 
bleibt auf einem Fleck stehen, weiß von nichts, ist erstaunt, verwirrt, 
alles erscheint ihr neu (III); endlich IV. die Autohypnose, in welcher 
Patientin frühere Erinnerungen reproduziert und leicht zu erwecken ist. 
Indem Störungen der eben- und vorangeführten Art sich selbständig machen, 
können sie ein Krankheitsbild beherrschen. 

Aber auch die moralischen Defekte, die bei schwerer Hysterie nur 
selten fehlen, können Anlaß geben, daß man das betreffende Individuum 
dauernd einer Irrenanstaltsbehandlung zuweisen muß. Patientinnen, welche 
das Lügen und Schwindeln chronisch eventuell gewerbsmäßig zum 
eigenen materiellen Vorteil betreiben, sind Hochstaplerinnen, Betrügerinnen, 
die im letzten Kapitel näher betrachtet werden sollen. In der Anstalt ver- 
anlassen die ethischen Defekte sowie der rücksichtslose Egoismus große 
Unzukömmlichkeiten. Die Kranken sind einerseits unfügsam, dissozial, 
andererseits komplottieren sie zusammen; sie hetzen eine ganze Abteilung 
durcheinander, stiften Unfrieden, schimpfen, mißhandeln, verleumden; kurz 
ein Benehmen, von dem man nicht weiß, ob man es Ungezogenheit oder 
moralischen Defekt oder Hysterie im Sinne von Krankheit nennen soll. 
Wenn diese Patientinnen den kürzeren ziehen, wüten sie gegen die 
eigene Person, sie zeigen hartnäckigen Selbstbeschädigungstrieb, flechten 
die Gitternetze auf, zerreißen ihre Kleidungsstücke, um sich zu erwürgen; 
sie stecken sich Nägel in die Körperhöhlen, Xadeln in das Fleisch, ver- 
schlucken Gebrauchsgegenstände, oft in der ausgesprochenen Absicht, der 
Umgebung unangenehm zu werden. 

Man trifft gelegentlich vorübergehend, durch Monate vielleicht selbst 
durch Jahre festgehalten, Störungen von selten der Sprache, Aphonie, 



171 

als nervöse Funktionsstörung, seltener Äphasieu wechselnder und lau- 
nischer Form, Agrammatismus oder Mutazismuö als rein psychisches 
Symptom. Die hysterische Stummheit setzt entweder plötzlich ein oder sie 
wird durch Heiserkeit, durch ein Stammeln respektive Stottern eingeleitet, 
dann bringen die Kranken überhaupt keinen Laut mehr heraus. Dabei 
bleibt die Gebärdensprache erhalten, wird in affektvoller, ganz ballet- 
mäßiger Weise zur Pantomime übertrieben. Diese Hysterischen spielen 
große stnmme Szenen, deuten sehr plastisch zunächst auf ihre Lippen 
oder auch auf ihren Kopf, unter das Kinn, reißen den Mund weit auf 
zum Zeichen, daß sie nicht sprechen können, ohne über diese schreckliche 
Tatsache sonderlich betrübt zu sein. Haben sie wirklich ein Anliegen, z. B. 
Aufbesserung des Speisezettels, dann greifen sie nach einem Bleistift 
und schreiben ihre Wünsche auf. 

Doch erheben sich diagnostische Schwierigkeiten bei Hysterischen, 
die eine organische Sprachlähmung ziemlich getreu nachahmen. Auch an 
der Klinik kamen hinwieder Mischformen von sensorisch-motorischer Aphasie 
zur Beobachtung, in welchen nur mancherlei Widersprüche von einem 
Tage zum anderen, einmal sogar während einer Untersuchung, die Wei- 
gerung bestimmte Worte nachzusprechen, anderweitige hysterische Sym- 
ptome, namentlich die therapeutische Beeinfiußbarkeit, die Diagnose Hysterie 
sicherten. Aus der Literatur wären als bemerkenswert zu zitieren ein 
Kasus von Ladame, der nur einzelne rauhe Laute, wie han, hon... 
ausstoßen konnte. Ein jüngst von Schnitze mitgeteilter Fall eines hyste- 
rischen Militärhäftlings bot eine linksseitige Hemiplegie, brachte nur die 
Worte: Tabak, tschau, Luise hervor; er verstand alle Fragen, unterhielt 
«ich schriftlich sehr flott. Sehr schöne Fälle von hysterischem Stottern 
und hysterischer Aphasie bringen Charcot und Cartaz, Ballet und 
Tissier, Greidenberg, Wernicke, Möbius. Ein Kasus letzteren Autors, 
scheinbar eine motorische Aphasie und Agraphie, verrät seinen Ursprung 
dadurch, daß der vollkommen stummen Patientin plötzlich ein Wort ent- 
schlüpfte, das mit richtiger Betonung und ganz korrekt ausgesprochen, 
auf Verlangen nicht wiederholt wurde; auch schreien und husten konnte 
sie nicht. Bezeichnend ist wohl, daß sie nichts las als ihres Mannes Hand- 
schrift, während sonst das Verständnis erhalten war. 

Die Psychogenie der Störung wird besonders klar in einem Falle 
von Breuer und Freud: die Patientin schien für ihre Muttersprache 
motorisch und sensorisch aphasisch, während sie eine fremde Sprache 
(Englisch) vollkommen beherrschte. An die Stelle des Defektes setzte 
bliese Kranke aber eine positive und geradezu staunenswerte' Leistung; 
sie las einen deutschen Text fließend englisch vor, d. h. sie übertrug 
unter dem Lesen. Der Krankheitswille kennt die Gesetze der organischen 
Sprachstörungen nicht; ein ganz bestimmtes Motiv veranlaßt das so 
charakteristische Verhalten. Das Studium der Persönlichkeit ergibt das 



172 

Vorbandensein des Wunsches, aus der unsympathischen Umgebung sich 
herauszulösen. Und was der Gesunde tut — etwas Unangenehmes über- 
hören und nicht darauf antworten — das wird hier konsequent ins 
Pathologische gesteigert. Ohne Vermittlung eines Denkprozesses ist das 
natürlich nicht möglich. 

Boedeker beobachtete bei Hysterie eine der Sprache bei Paralyse, 
bei multipler Sklerose sehr ähnliche; in einem dritten Falle wurde wie 
bei Gaumensegellähmung langsam und näselnd gesprochen. Reden in 
hoher wie in abnorm tiefer Stimmlage kommt bei Hysterie vor. Auch 
wenn die Psychoneurose organische AflFektionen des Zentralnervensystems 
nachahmt, also neurologische Symptomenbilder, ist die Quelle der Störung 
unmittelbar in seelischen Vorgängen zu suchen. Das Verstummen des 
Geisteskranken, der Mutazismus, wird bei Hysterie zu einem Nichtreden- 
können; andere Alterationen des Sprach Vermögens werden aus der Um- 
gebung aufgenommen, imitiert. Gelegentlich findet man Störungen des 
Schreibens; so berichtet Lepine Über einen Kasus, der rot wurde und 
den Bleistift fallen ließ, als er schreiben sollte; Ballet und Sollier 
über Kranke, die Buchstaben, Zahlen und ganz kurze Worte schreiben 
konnten, im übrigen aber agraphisch waren. 

Eine weitere Komplikation dieser chronisch hysterischen Zustände 
bilden vegetative, doch aus der Psyche ableitbare Störungen, so einmal 
schlechter Schlaf. Man trifft Kranke, welche behaupten und bei der 
Behauptung bleiben, daß sie des Nachts schlaflos daliegen. Untersucht 
man näher, so stellen sich die Angaben hinwieder als Lügen heraus; die 
Patientin hat ganz gut geschlafen. Vielleicht kann man die Kranken 
selbst tiberzeugen, daß ihnen eine ganze Menge von Reizen während der 
Nacht entgangen ist, trotzdem sie sich schlaflos glaubten; sie haben also 
geschlummert, sind nur wiederholt, und plötzlich erwacht. Oder der 
Schlaf hat wirklich gefehlt; es gibt Hysterische, die wie viele Neuropatheii 
an hartnäckiger Schlaflosigkeit leiden, die dann tagsüber, gewissermaßea 
zur Kompensation, schläfrig sind. Bei anderen dieser Patienten ist der 
Nachtschlaf außergewöhnlich tief. Der Satz Solliers, daß normaler 
Schlaf Hysterie geradezu ausschließe, bedarf allerdings einer Ein- 
schränkung. 

Schon im Übergang zum Schlafe treten halb traumhaft Sinnes- 
täuschungen auf, die sogenannten hypnagogen Halluzinationen: z. B. 
verfolgende Menschen- und Tiergestalten. Bei der mangelhaften Selbst- 
kritik ist zwischen Halluzination und Traum bei Hysterischen überhaupt 
keine scharfe Grenze ; die Kranken sprechen manchmal von nächtlichen 
Visionen, wiewohl es sich doch eigentlich nur um Träume handelt. 
Diese findet man auch wenn der Schlaf sehr tief ist; sie sind lebhafter^ 
reichhaltiger, verwirrter, als bei Gesunden; Tiere spielen eine große 
Kolle. Oder die Hysterischen träumen das Gegenteil von dem, was sie 



173 

zu wünschen scheinen, was sie bei Tage bestreben und tun: sie träumen 
in Kontrasten, wie man das auszudrücken pflegt. Schreckhafte Träume 
steigern sich zu Alpdrücken, nächtlichen Angstanfällen, zu Aufschreien, 
ja selbst zu rudimentärem Somnambulismus. Die Traumbilder wirken 
dann auf das wache Leben, werden als Motiv vorgegeben fttr plötzlichen 
Stimmungsumschlag, selbst für Handlungen. Nach einer schlechten Nacht 
Yoll böser Träume erheben sich die Kranken ganz zerschlagen; tagsüber 
sind sie mißgestimmt und müde, sie fürchten schon die nächste Nacht. 
Im Gegensatz zu diesen unglücklichen Patientinnen haben andere wieder 
Träume mit beglückendem Inhalt, wie man sie nennen möchte, Wunsch- 
träume. In diesen Fällen beschäftigen sich dann die Kranken intensiv 
mit ihren Träumen, schöpfen hieraus allerlei Größenideen; sie betrachten 
sich als Fürstinnen, Gattinnen des Heilands, erleben sehr erwünschte 
Notzuchtsattentate. Sie spinnen sich in diese Träumereien ein, reproduzieren 
dieselben auch bei Tag, erwachen eigentlich gar nicht, vermeiden die 
Wirklichkeit. Solche Patientinnen können dauernd im Bette liegen, ohne 
etwas anderes zu tun, als in Traumerinnerungen zu schwelgen. Wird ein 
derartig traumhafter Bewußtseinszustand auch äußeren Eingriffen gegen- 
über festgehalten, dann liegt ein hysterischer Dämmerzustand vor. Andere- 
male werden die nächtlichen Träume inhaltlich nicht erinnert, doch bleibt 
dann wenigstens von der begleitenden Gemütserregung eine Spur im 
Bewußtsein zurück. 

Es gibt Hysterische, welche die Nahrungsaufnahme verweigern. Die 
Kranken erklären, daß sie prinzipiell nicht essen, sie erteilen eine 
trotzige, ausweichende Antwort oder sie führen ein bestimmtes Motiv an, 
das aber gewöhnlich nicht das wahre ist. So werden Appetitmangel, ab- 
scheuliche Geschmackstäuschungen, Ekel behauptet; die Patientinnen 
schieben religiöse Gründe vor, sie wollen sich eine höhere Stufe im 
Himmel erwerben oder sie berufen sich auf eine Stimme, die ihnen ge- 
bietet zu fasten. Die Störung ist aber psychogen, durch ein persönliches 
Erlebnis zu verstehen; seltener beruht sie auf Anomalien der Yerdauungs- 
tätigkeit, Organempfindungen; in der Begel wird Kränkung der Eigen- 
liebe als Beweggrund anzunehmen sein; die Patientinnen wollen sich 
interessant machen, Beachtung, Mitleid erzwingen, sich mit der Haus- 
ordnung in Widerspruch setzen; vielleicht schlummert dahinter aber nur 
der Wunsch, schlank zu bleiben. Um eine entsprechende Pression auf 
die Umgebung auszuüben, in der hysterischen Übertreibungssucht greifen 
sie gleich zum äußersten Mittel, behaupten, sie wollen sich zu Tode 
hungern. Gar nicht selten ist die Abstinenz nur eine scheinbare, indem 
Nahrungsmittel heimlich genommen, Kolleginnen gestohlen und unter der 
Decke oder am Abtritt verzehrt werden. Eine Kranke eigener Erfahrung 
sammelte Speisenreste aus dem Abwaschkübel, um ihren Hunger zu stillen; 
einmal dabei betreten, wie sie einer Nachbarin das Bier wegtrank, schützte 



174 

sie vor, sie hätte das für Ätzlauge gehalten und nur getrunken, um sich 
zu vergiften. Wenn aber eine Hysterica auf Grund tlberwertiger 
Assoziationen ernsthaft die Nahrung verweigert, dann ist dieser Trotz 
schwer zu brechen, weil die ganze Intelligenz, die ganze Willenskraft der 
Patientin dazu veo\^endet wird, die ärztlichen Bemühungen unwirksam zu 
machen. Solche Hysterische sträuben sich mit aller Gewalt, suchen die 
Zwangsernährung zu vereiteln, und lernen es wenn dieselbe doch gelingt, 
durch künstliches Erregen des Brechaktes die Nahrung wieder heraus- 
zubefördern. Doch pflegen derlei Demonstrationen glücklicherweise bald 
vorüberzugehen. Es spricht nur So Hier davon, daß eine Hysterica sich 
tatsächlich zu Tode gehungert hätte. 

Eine Ausnahme bildet wohl der von Stefani mitgeteilte Kasus; 
neben den verschiedenartigsten hysterischen Anfällen traten solche 
des heftigsten Heißhuogers auf, in welchen der Kranke alles Erreich- 
bare aß, verschlossene Türen erbrach, um irgend etwas erlangen zu 
können. Erbrechen war bei diesem, wie bei anderen hysterischen Pati- 
enten regelmäßiges Symptom. 

Weiters triflTt man psychogene Störungen in der Kot- und Urinent- 
leerung. Sowohl Durchfälle, als hartnäckige Obstipation wird beobachtet. 
Das Auftreten von Pollakisurie erwähnt Souques. Überreichliches 
Trinken von Wasser und wässerigen Flüssigkeiten führt zur Absonderung 
großer Mengen eines blassen Harns von außerordentlich niedrigem spezi- 
fischen Gewicht, der sogenannten Urina spastica. Die Kranken können ins 
Bett nässen (Hirschl); auch Karplus erwähnt eine Zimmerepidemie von 
Incontinentia urinae auf Grund von Imitation. Allerdings ist diese Anomalie 
selten; nicht einmal schwer stuporöse Hysterische sind unrein. Der Hysterie 
eigentümlich ist vielmehr die ßetentio urinae, der Sphinkterkrampf; es 
gibt Patientinnen, die sich durch lange Zeit katheterisieren lassen. Auch 
für die Genese dieses Symptoms ist psychische Infektion von besonderer 
Bedeutung; das Entgegenkommen eines Arztes kann zurfolge haben, daß 
auf einer Kraakenabteilung, in einem Sanatorium, wo Hysterische in Be- 
handlung stehen, das Symptom nicht ausstirbt, während es anderenorts 
gar nie beobachtet wird. Von aufrichtigen Patientinnen erfährt man, daß 
sie gegen Genitalberührungen außerordentlich empfindlich sind; die 
sexuelle Grundlage des Leidens wird wohl auch beleuchtet durch die 
Prüderie bei Vornahme der Prozedur; namentlich die sensibleren Damen 
der Privatpraxis bestehen darauf, daß unter der Decke katheterisiert 
werde; nur ein bestimmter sympathischer Arzt darf diese Operation vor- 
nehmen. Ist derselbe zufällig nicht anwesend, dann wird der Harn 
unglaublich lange zurückgehalten; man sieht die Blase bis zum Nabel 
sich ausdehnen, während die Kranken durch keine Prozedur zum 
Urinieren zu bewegen sind, ehe nicht „ihr" Arzt erscheint. 

Daß bei den chronisch hysterischen Geistesstörungen auch allerlei 



175" 

nervöse Symptome angetroflFen werden, gleichzeitig eventuell im Wechsel 
mit psychotischen Elementen, ist selbstverständlich. Diese Fälle bilden 
die besten Belege für die einheitliche Auffassung der Hysterie in ihrer 
Gänze. Es sind dieselben Individuen, die auf verschiedenen Spitals- 
abteilungen herumgelegen sind und nun unter den Augen der Irrenärzte 
jahrelang an ihrer Krankheit fortspinnen. Weder die häusliche Pflege, 
noch das Sanatorium kennt eine Differenzierung. Indem man die 
Persönlichkeit dieser chronischen Hysteriker studiert, sieht man, daß 
logisch die anscheinend körperlichsten Symptome aus den Gedanken- 
gängen herauswachsen, suggeriert werden, daß die Krankheit nur un- 
erschöpflich ist in immer neuen Ausdrucksmitteln für den oft sehr 
monotonen Gedankeninhalt. Körperliche und Geistesstörungen engeren 
Sinnes sind einander gleichwertig, werden in gleicher Weise verwendet, 
können sich gegenseitig vertreten. Auf die sogenannten nervösen Symptome 
der Hysterie soll hier nicht eingegangen werden, da alle Autoren, welche 
über Hysterie geschrieben haben, mit denselben sich ausführlich, zum 
Teil vielleicht über Gebühr beschäftigen. Alle möglichen Innervationen 
und Innervationsgruppierangen die unter physiologischen oder patho- 
logischen Verhältnissen beobachtet werden, die denkbar sind, man möchte 
sagen, Innervationsspiele, auf welche ein Zufall die Patienten brachte, 
werden hier als Krankheitssymptome verwendet. Natürlich muß eine 
Einteilung nach Mobilität und Sensibilität, nach dem Vorzeichen -f- und 
— d. h. nach Reiz und Lähmung möglich sein, ohne daß eine solche 
Übersicht dem Wesen der Sache näher zu kommen vermöchte. Innervations- 
gruppierungen, die bei keiner anderen Krankheit je gefunden werden, 
sind freilich pathognostisch für Hysterie, aber auch nur darum, weil die 
Hysterie eben alles kann. Eine Ausnahme bilden einzelne Typen, 
Mechanismen, die erfahrungsgemäß immer wiederkehren und dadurch 
eine generelle Bedeutung gewinnen, die sogenannten Stigmen. Doch 
entscheidet auch hier nie das einzelne Symptom; bei dem steten Wechsel 
derselben ist nur eine zusammenfassend psychologische Betrachtungsweise 
den Schwierigkeiten der Diagnose in jedem Falle gewachsen. 

Auf einiges allgemeine sei besonders aufmerksam gemacht. Die 
Aufrechterhaltung einer funktionellen Blindheit oder Taubheit, ausge- 
dehnter Lähmungen oder Kontrakturen erfordert soviel innere Spannkraft, 
daß für eine gleichzeitige Psychose wenig mehr erübrigt; nur besonders 
leistungsfähige Nervensysteme bringen das auf, sonst überwiegt entweder 
die Neurose oder die Psychose, d. h. neurotische und psychotische Sym- 
ptomenkomplexe lösen einander ab. Durcheinander, zugleich mit akuter 
Geistesstörung beobachtet man aber Elementarvorgänge, lebhafte psy- 
chische Reflexe, Lach-, Wein- und Schreikrämpfe, die nicht enden zu 
wollen scheinen, ganz ohne Beziehung zur Affektgrundlage stehen, primi- 
tive Reizsymptome, Zittern, Blepharospasmus, Tortikollis, Hüpfen, Tanz- 



176 

rhythmen, allgemeine Bewegungsunruhe, die an Chorea erinnert; Aus- 
strahlungen zentraler Vorgänge in Bahnen, die sonst nicht unter dem 
Willenseinflusse stehen, von sehr tief gelegenen Zentren innerviert virerden, 
so das Heer angio- und trophoneurotischer Störungen: fluxionäre Hyper- 
ämien, Dermographie, lokale Zyanose, Asphyxie; Hauteruptionen, wie Urti- 
caria, Zoster und ähnliches; Ödeme, das von Gharcot sogenannte blaue und 
weiße Odem; tachykardische Anfälle etc. die echtesten Krankheitszeichen. 

Eine andere Gruppe von körperlichen Symptomen ist kontrovers. 
Es mag in seltenen Fällen die Hysterie durch Bahnungsanomalien 
Störungen psychogen erzeugen, die anderemale Ausdruck der Psychose 
sind, d. h. willkürlich gemacht, mit großem Raffinement und noch größerer 
Hartnäckigkeit vorgetäuscht werden. Hierzu gehört z. B. Meteorismus, in 
der Regel erzeugt durch Verschlucken von Luft, die unter lauten 
Geräuschen wieder entleert oder auch für Plätschergeräusche im Magen 
verwendet wird. Ein Teil der Fälle von Grossesse nerveuse schafft sich 
ebenso künstlich sein zweites Symptom, das Erbrechen. Das sogenannte 
hysterische Fieber, dessen Vorkommen von namhaften Autoren in Abrede 
gestellt wird, dürfte wohl auch kaum ohne komplizierendes körperliches 
Leiden (eventuell eine latente Tuberkulose) unmittelbar psychogen auf- 
treten; der Praktiken, um ein Thermometer zum Steigen zu bringen, 
gibt es mehrere. Ebenso gehört zu den vorgetäuschten Symptomen das 
Blutschwitzen, speziell der fromme Betrug der Stigmatisation. 

Besonders rätselhaft schienen früher Kranke, die durch längere 
Zeit keine Nahrung nahmen, keinen Stuhl oder keinen Harn entleerten. 
Die etwas kritischere Neuzeit hat derartige Widersprüche mit den sonst 
herrschenden Naturgesetzen in befriedigender Weise geklärt; und nur 
besonders intelligenten Hysterischen ist es gelungen, ihre StoflFwechsel- 
anomalien auch unter verschärfter Kontrolle fortzuführen. Es sei auf die 
zwei schönen Beobachtungen Meyers verwiesen, dessen eine Patientin in ein 
ganz kleines, im Taschentuch zu verbergendes Milchtöpfchen hineinurinierte, 
um den Harn in einem günstigen Augenblicke fortzuschütten oder, wenn 
das nicht ging, zu trinken. Kein Wunder, daß man in klassischen Fällen 
der Literatur ammoniakalische Massen respektive Harnstofi^ im Erbrochenen 
nachweisen konnte. Ähnlich ist es wohl auch mit dem Koterbrechen. 
Zugestanden wird die Selbstbeschädigung in zahlreichen Fällen von 
Geschwürsbildung; ebenso klar ist der Betrug mit ungeeigneten Mitteln, 
Einbringen von Zucker, Eiweiß oder Milch in den Harn etc. Ergibt sich 
aus alledem die Notwendigkeit, die Symptomatologie der Neurose 
wesentlich einzuengen, so wächst in demselben Maße die Psychose 
Hysterie; bei all den angeführten Erscheinungen steht man mitten drin. 
Es handelt sich meist nur um episodische Komplikationen der un- 
verkennbar zugrundeliegenden Krankheit, die bei lange hingezogenem 
Verlauf besonders gerne zur Ausfüllung von Pausen verwendet werden. 



177 

Ancli unter den Trägern chronischer Geistesstörungen gibt es 
natttrlich solche mit dem Charakter der Schwäche, unproduktive Hysterien, 
welche durch die Ökonomie des Erankheitsvorganges überraschen und am 
Schlüsse des vorigen Unterkapitels bereits skizziert wurden. Der Patient 
braucht keine neuen Symptome zu schaffen, er genfigt, um krank za 
erscheinen, den allerbescheidensten Ansprüchen, wenn irgendein patho- 
logischer Zustand der Vergangenheit nicht korrigiert, nicht als Krankheit 
anerkannt wird. Und hierin speziell leisten die chronisch Hysterischen 
Unglaubliches. Dieser Widerstand gegen die Korrektur begegnet bei ganz 
klaren Patienten immer und immer wieder; er hat einen hohen 
diagnostischen Wert, da er der offenkundigste Ausdruck des Ej'ankheits- 
willens ist. 

Die besonnenen Patienten werden durch ihre Umgebung, durch die 
Ärzte, durch die eigene Kritik und die eigenen Wahrnehmungen darüber 
aufgeklärt, daß eine Sinnestäuschung vorgelegen haben muß, sie wissen, 
was man ihnen als Wahnidee anrechnet, sie sollen ja nur etwas in Ab- 
rede stellen; man vergleiche damit die meisterhafte Art, in welcher 
lebhaft halluzinierende Paranoiker schon nach dem zweiten, dritten Examen 
zu dissimulieren beginnen, wie der Melancholiker seinen alles beherr- 
schenden Affekt zu verbergen versteht. Diese Art von Hysterischen kehrt 
durch Wochen, ja durch Monate immer wieder auf eine längst ver- 
gangene Krankheitserscheinung zurück; ohne etwas Neues zu produzieren, 
halten sie nur den Ärzten das Erinnerungsbild immer wieder vor: 
„es war so"; Fälle, die durch lange Zeit eigentlich nur Symptome 
erinnern. 

Die unendliche Yielgestalt des chronischen Hysterismus ist nicht zu 
erschöpfen; er kommt dadurch zustande, daß regellos, wenn auch zeitweise 
mit Neigung zu Progression, Einzelstörungen sich häufen, akute hysterische 
Psychosen sich aneinanderreihen, auf der dauernden Grundlage eines 
ausgeprägten Charakters; eine Anzahl schwer degenerativ veranlagter 
Formen von Hysterie erobert sich auf diese Weise ein dauerndes 
Plätzchen in einer Irrenanstalt. Das Kapitel möge geschlossen werden 
mit der Wiedergabe zweier Krankengeschichten, die das (xesagte 
illustrieren. 

Beobachtung XXXVII. 

Anna F., geboren 1842; katholisch; Beamtenswitwe; erschien am 
21. Juni 1901 vor dem Polizeikommissariate mit der Bitte, man möge ihr 
helfen; sie werde schon seit längerer Zeit von Juden und Wachleuten verfolgt, 
man rufe ihr zu: „Diebin; Gaunerin" usw. Sie habe keine Ruhe und Rast und 
wage nicht; die Straße zu betreten; sie leide an Angstgefühlen, bedeutender 
Aufregung; sei auch schlaflos. 

Am Beobachtungszimmer benimmt sich die Kranke passend; redet nur 
auflaüend viel. Sie deutet nachts jedes Geräusch als Eindringen der Juden. 
Beim ärztlichen Examen erkennt sie die Örtlichkeit; beurteilt die Art der 

Raitaanu, Die hysteri^clifu GeistesstOruiiiren. 12 



178 

Mitkranken richtig. Als Jahreszahl nennt sie 1191, schreibt diese Zahl 1901; 
sie berechnet den Monat nach den Zahlungen ihres Zimmerherrn als Jnli. 
Seit 3 Tagen werde sie verfolgt, auf der Straße laufen ihr alle Leute nach, 
schauen sie an, bleiben stehen, umzingeln ihr Haus. Die Juden rennen mit 
Schirmen und Stöcken herum, strömen aus allen Bezirken zusammen 
und suchen sie. Äußerungen hörte sie keine. Man habe sie faasen wollen, 
da sie unter dem Verdachte stehe, eingebrochen und gestohlen zu haben. Sie 
sei in den letzten Tagen bei mehreren Gerichten gewesen, um Schutz zu ver- 
langen. Seit Oktober 1900 habe sie Sausen und Krachen in den Ohren; seit- 
her sei sie auch des Nachts schlatlos, höre immer klopfen; wahrscheinlich 
mache das jemand ihr zufleiß. Sie bemerke weiters, daß man ihr Schmutz 
vor die Tür werfe, ihr die Fenster verschmiere. 

Von einer Nichte, welche die Patientin seit deren 85. Lebensjahre kennt 
ist zu erfahren, daß die Kranke stets als „verrückt^ galt, infolge zahlloser 
Sonderbarkeiten im äußeren Verhalten; irgend etwas Wahnhaftes ist aber nicht 
zu einiieren. 

Am 26. Juni kommt Patientin in die Irrenanstalt. Sie spricht unauf- 
hörlich, oft sich überstürzend, aber doch zusammenhängend; wiederholt die 
bisherigen, teilweise sich widersprechenden Angaben. In ihre Türe steckte man 
Karten mit verschiedenen Beschimpfungen (Sau, Luder, Hure etc.). Sehr affekt- 
voll äußert die Kranke, sie wolle aus dem Leben scheiden, damit sie mit 
ihrem Manne vereinigt sei. Gestern habe sie einen Selbstmordversuch unter- 
nommen, damit sie im Krankenhause sterbe wie ihr Gatte. Sie schnürte sich 
den Hals ein and glaubte so für immer einzuschlafen, allein sie wachte wieder 
auf. An der vorderen Peripherie des Halses, in der Höhe des Kehlkopfes, 
bieht man tatsächlich strichf(5rmige Exkoriationen. 

Sehr dürftig genährte, blasse Frauensperson, deren Züge noch jetzt die 
Spuren früherer großer Schönheit erkennen lassen. Über dem Hinterhaupte 
(ine Sem lange, stark druckempfindliche Narbe, der entsprechend der Schädel- 
knochen strichförmig eingesunken erscheint. Sehr druckempfindlich ist das 
Kopfskelett, das Brustbein, die Extremitätenknochen; Zusammenpressen des 
Thorax und des Beckens wird gleichfalls schmerzhaft empfunden. 

28. Juni. Unausgesetzt lebhafte Äußerungen von Verfolgungswahn. Auch 
die Wärterinnen hier sind von den Juden bestochen; jede einzelne hat 10 fl., 
die Traktwärterin 20 fl. bekommen. Auf welchem Wege die Kranke zu dieser 
Idee gelangt, ist nicht zu erheben. 

30. Juni. Behauptet unter anderem, daß man einen Mann nicht zu 
ihr gelassen habe. Das war ihr Feind, der sie denunzieren wollte; er 
schreibe über sie Briefe und in die Zeitungen, lasse sie seit 3 Jahren durch 
die Juden verfolgen. GehÖrstäuschungen sind keine zu eruieren; hingegen 
spricht Patientin von einer Gestalt, die aus dem Garten auf sie blicke. 

3. Juli. Beklagt sich andauernd über die Juden, gestikuliert in hoch- 
gradigem Affekt mit Händen und Füßen, läßt sich nicht beruhigen. 

Mit Ausnahme des 15. Juli, wo die Kranke bei der Visite ruhig an- 
getroffen wird, keine Wahnideen äußert — dabei scheint die Drucksehmerz- 
haftigkeit der Knochen geringer — stets von gleichem Verhalten. 

20. Juli. Springt aus dem Bette, sie müsse fort, zum Präsidenten, 
zum Kaiser, alles erzählen. Die Juden wollen ihr Blut abzapfen, sie umbringen, 
sie zu einer Mumie machen, damit man an ihr studiere. Von allen Seiten, 
von den Mitkranken, den Wärterinnen, den Fenstern her, werde sie beschimpft. 
Tobabteilung. 



179 

Nachmittagd ruhig; hat keine ErinDerung für ihre Aufregang am Vor- 
mittage. 

24. Jnli. Auch heute will die Kranke noch nicht wissen, warum sie 
von einer andern Abteilung herübergebracht wurde. Man habe sie „mit einem 
Kotzen gefangen''. Sie glaubt sich jetzt im Keller, während sie früher im 
1. Stock gewesen sei (beide Abteilungen sind zu ebener Erde). Gesichts- 
täuschungen: Sie sah Wasser, Schnee auf den Bäumen im Garten. 

27. Juli. Schimpft in den unflätigsten Ausdrücken, bezieht Vorgänge 
in der Umgebung auf sich, verkennt alles in feindlichem Sinne. Räsoniert 
darüber, wie mit anderen Kranken umgesprungen werde. 

Nachmittags vollkommen ruhig, bestreitet geschimpft zu haben; kann 
sich auch über Vorhalt nicht darauf erinnern. 

31. Juli. Vor der Visite sehr erregt, schlug eine Fensterscheibe ein, ver- 
letzte sich am Unterarm. Bei der Visite leugnet sie entschieden, die Scheibe 
zertrümmert zu haben. Ihre Verwundung erklärt sie als Biß einer Katze. Die 
Druckschmerzhaftigkeit der Knochen ist nicht mehr nachweisbar. 

1. August. Bleibt trotz Widerspruches dabei, daß sie von der Katze in 
den Arm gebissen worden sei. Außerdem erzählt sie, es sei ein ganzer Zug 
von Geistern durch das Zimmer gegangen; dieselben waren ganz weiß ge- 
kleidet, trugen weiße Handschuhe. 

6. August. Stets klar, rasch wechselnder Bewußtseinsinhalt. Heute traurig, 
verzweifelt: man habe die Schrift vom Grabe ihres Mannes gestohlen, sie wisse 
nun nicht, wo sie begraben werden solle. Wenige Tage darauf erregt: sie 
müsse den Revolver, den sie im Kasten hier eingesperrt habe, herausnehmen 
und alle Leute erschießen. 

23. August. Bei völlig erhaltener Onentierung und passendem Benehmen 
äußert Patientin die unsinnigsten Wahnideen. Sie reiht unvermittelt eine 
an die andere, stellt keinen Zusammenhang zwischen ihnen her, über- 
stürzt sich dabei in ihren Reden: Sie spüre, daß ihr Kopf offen sei, das 
Gehirn aus dem Schädel heraushänge und der Wind dasselbe hin und her 
bewege. Der Kaiser müsse sie heiraten, er sei ihr 15.000 fl. schuldig. Ein 
Komplott wurde geschmiedet, sie umzubringen; heute nachts sei ein schwarzer 
Mann gekommen, der sie bei den Füßen gezogen habe. Es ist eine Sprach- 
störung zu bemerken, darin bestehend, daß einzelne anlautende Konsonanten, 
z. B. h, t, stotternd vervielfacht werden. 

24. August. Die gestern angedeutete Sprachstörung hat eine Steigerung 
erfahren. Die Kranke vermag anfangs gar nicht zu reden; sie bringt nur 
den Laut kakakakaka . . . hervor; ist dabei sehr erregt, macht krampfhafte 
Inspirationsbewegungen. Einzelne vorgesagte Laute spricht sie korrekt nach; 
auf einmal beginnt sie spontan, stottert dabei, wiederholt Silben. Die Sprach- 
störung macht den Eindruck des Willkürlichen. 

26. August. Heute vollständiger Mutazismus. Angesprochen, agiert Pa- 
tientin lebhaft mit den Händeo, greift nach dem Bleistift, um ihre Gedanken 
schriftlich auszudrücken, gibt keinen Laut von sich. Äußerliche Faradisation 
des Halses ohne Erfolg. 

27. August. Neuerlich Faradisation. 

28. August. Die Kranke spricht heute, mit leichter Andeutung von 
Stottern; behauptet, sie konnte nicht reden, es habe ihr die Kehle ein- 
geschnürt, nachdem in der vorangehenden Nacht ein Mann ihr die Kehle 
durchschneiden wollte (Traumhalluzination). 

10. September. Zunehmend ruhiger und geordneter. 

12» 



180 

18. September. Patientin plötzlich wieder sehr erregt; behauptet, man gebe 
ihr Gift; alle seien ihr aufsässig; wegen schlechter Kost und Behandlung 
wolle sie fort. 

23. September. Allgemeine Hypalgesie; druckempfindlich hingegen ist ein 
Punkt unter der linken Mamma, einer in der linken Ovarialgegend, einer an 
der Brustwirbelsäule. Die Kranke hält daran fest, dafi man ihr alles gestohlen 
habe, daß die Juden sie verfolgen. Sie sei übrigens eine große Sünderin, werde 
auf den Friedhof gehen zu ihrem Manne; dann werde das Grab sich öffnen 
und sie sich hineinlegen. 

15. Oktober. Etwas ruhiger. Rechtsseitige Hemianästhesie. 

24. Oktober. Kommt heute mit der Mitteilung, daß sie auf dem rechten 
Ohre nichts höre; die rechte Gesichtshälfte anästhetisch und hypalgetisch. 
Gesichtsfeld hochgradig eingeschränkt, rechts stärker als links, die Kranke 
sieht rote und grüne Feuerringe. Lebhafte Träume, Globus. 

25. Oktober. Gesichtstäuschungen dauern an, werden aber nicht weiter 
wahnhaft verarbeitet. Bei Berührung persönlicher Angelegenheiten gerät 
Patientin in depressiven Affekt, in einen unhemmbaren Redefluß. 

26. Oktober. Retrospektives Examen: In lebhafter, oft sich überstürzender 
Weise berichtet die Kranke, daß sie im Jahre 1841/42 oder 43 geboren 
sei, sie müsse dazu ihren Taufschein ansehen. Vater und Mutter gesund. Auf 
8 Kinder folgte als letztes eine Zwillingsgebnrt, Patientin mit einem Bruder, 
der bald starb. Von den übrigen 8 ist nur mehr eine Schwester am Leben, 
allerdings verschollen. Fraisen. 7 jährig, in der Schule, habe sie der 
Lehrer einmal zur Strafe auf den hohen Ofen hinaufgesetzt. Sie erinnert 
sich sehr genau an die Details von damals. Als die Schülerinnen fortgingen, 
bemerkte eine: „So, jetzt bleibst du über Nacht.^ Patientin stürzte herunter, 
fiel mit dem Kopfe gegen ein Eisen, schlug sich blutig (daher ihre Narbe 
am Kopfe); war dann 3 Tage bewußtlos, durch 2 Jahre kränklich, lag viel 
zu Bett wegen Schwäche. Sie vertrug keinen Lärm, weinte immer gleich, 
rühmt sich dessen, daß so viel teilnehmende Freunde damals kamen, sie zu 
besuchen und zu trösten. Ihre Lernfähigkeit sei Hir immer dahin gewesen, sie 
fühlte sich gleich beleidigt und ging nie mehr in die Schule. Oft Kopf- 
schmerzen, die sie für 2 — 3 Tage ins Bett zwangen; sie erbrach, ohne etwas 
gegessen zu haben. 

Die ersten Menses mit 14 Jahren. Die Kranke weinte damals, hatte 
Angst, versteckte ihr Hemd, war dann sehr aufgebracht als dasselbe gefunden 
wurde. Seit dem Tode ihrer Mutter ging sie viel zu deren Grab, schlief 
dort wiederholt ein, nachdem sie sich ausgeweint hatte; mußte gesucht werden. 
Einmal wurde sie auf dem Friedhof eingesperrt. Mit 15 Jahren lernte sie 
einen Husarenrittmeister kennen. Patientin erzählt, augenscheinlich unwahr, daß 
ihr Vater sie eines Nachts fortschickte und daß der Offizier sie bei dieser 
Gelegenheit deflorierte; sie habe das damals nicht verstanden. Dann kam sie 
zu einer Tante, die als Kupplerin mehrfache Herrenzusammenkünfte vermittelte. 
Sie war eine sehr verliebte Natur, empfand aber beim Koitus kein Vergnügen, 
nahm angeblich kein Geld an. Endlich zog sie nach Wien. Auch hier 
wohnte sie bei einer Zuhälterin, die sie schlecht und leichtsinnig machte, doch 
will die Kranke nur „feine" Bekanntschaften gehabt haben, immer im Glauben, 
der Betreffende werde sie heiraten 

Ihren späteren Mann traf sie 1868 und verkehrte zunächst außer- 
ehelich mit ihm. Er war Witwer mit einem Sohne; auch dieser machte 
ihr den Hof. Eines Nachts träumte sie, ein Geistlicher sei bei ihr, sie wachte 



181 

mit einem heftigen Schrecken anf, da saß der Sohn am Bettrande. (?) — Sie 
hatte ihren Bräutigam sehr gern, trotzdem er eine schlechte Partie und viel 
krank war. An Hämorrhoiden, Asthma, Herzverfettung habe sie ihn jahrelang 
gepflegt wie ein treuer Hund. Von allen Seiten wurden ihr Elogen gemacht 
über die großartige Pflege. Endlich heiratete sie dieser Bräutigam (wohl aus 
Dankbarkeit) im Jahre 1890, starb aber schon 1891 im allgemeinen Kranken - 
hause. Bei der Erzählung dieses Todes verliert Patientin sich in endlose 
Details. Einmal wurde sie vormittags nicht zu Besuch gelassen; als sie nächsten 
Nachmittag kam, lag ihr Mann schon in der Totenkammer; die Wärterin 
sprach von einem neuen Medikament; wahrscheinlich hatten die Ärzte an ihm 
experimentiert. Sie habe es damals furchtbar getrieben, aus Leibeskräften 
geschrien, die Totenträger bestochen, um ihren Gemahl noch einmal sehen zu 
können. Sie schließt eine Wahnidee an: Ihr Bruder starb plötzlich ohne Arzt, 
er sei von seiner jungen Frau vergiftet worden, die sein Geld haben wollte; 
ein Apotheker lieferte ihr Digitalis. Sie erstattete keine Anzeige, da sie 
fürchtete, erschlagen zu werden. Sie selbst weiß bestimmt, daß sie nur bis 
Februar 1902 leben werde; sie wolle zu ihrem Manne. 

Seit dem Tode desselben lebe sie vom Zimmervermieten, in inniger 
Gemeinschaft mit einem Hunde, der ihr Lager teilte. Die Kranke renommiert 
mit einer ttbertriebenen Liebe zu Tieren; angeblich sparte sie sich es am 
Essen ab, um den Kutschern flir gute Behandlung der Pferde Trinkgelder 
geben zu können. — Im folgenden einigemale Influenza, Kopfschmerzen; 
oft weinte sie ohne Grund. Sie besuchte regelmäßig das Grab ihres Mannes 
am Zentralfriedhof, wie einst das ihrer Mutter; einmal wurde sie auch 
dort eingesperrt. Ihre Schritte klangen ganz dumpf, hallten wie im 
Keller, eine große Angst packte sie; sie betete den Mond an, er solle sie 
leiten, damit sie die Nacht dort bleiben könne; schon als kleines Kind habe 
sie immer alles dem Monde anvertraut. Während sie ging, mußte sie auf ein- 
mal stehen bleiben, wie wenn ihr „etwas'' den Weg verstelle; endlich kam 
Licht; die Nachtwächter liefen schreiend vor der schwarzgekleideten Gestalt 
davon. 

Vor zirka einem Jahre wurde sie von einem Radfahrer niedergestoßen ; sie 
erschrak sehr, trug aber nur eine Exkoriation am Knie davon. Wegen großer 
Schmerzen und Sausen in der linken Kopfseite ließ sie sich über zwei Monate 
elektrisieren. Sie schlief schlecht, litt an Angstgefühlen, fürchtete, es habe 
jemand in ihre Wohnung sich eingeschlichen, traute sich darum nicht nach 
Hause; sie verhängte die Fenster nicht, um eventuell gleich herunterspringen 
zu können. Im Traume hörte sie ihres Mannes Schritte, wie er die Türschnalle 
in die Hand nahm; dann erschien er ihr auch, einmal in Uniform, einmal im 
Mentschikoff und blickte sie liebevoll an. 

Ihre Verfolgungen datiert sie erst seit Pfingsten dieses Jahres; abgesehen 
davon, daß ein „ Judenbub ^ seit vielleicht 3 — 4 Jahren ihre Fenster schmutzig 
mache. Unmittelbar vor ihrer Einbringung hatte sie sich mit ihrem Zimmer- 
herrn, einem Juden, in erregter Weise auseinandergesetzt; dei'selbe war 
ihr die Miete schuldig geblieben und mußte gepfändet werden. Ihre weiteren 
Erlebnisse erzählt die Patientin konform den Angaben der Krankengeschichte ; 
überall frugen sie die Juden: „Was suchen Sie?'^ Mit Stöcken und Schirmen 
gingen sie ihr nach. 

Im Beobachtungszimmer glaubte sie sich zuerst in einem Bad; sie sei 
damals verwirrt gewesen. In der Irrenanstalt war sie zeitlich und örtlich 
orientiert, vernahm Beschimpfungen, hörte auch, daß die W^ärterinnen bestochen 



182 

wurden, um Auskunft über sie zu geben. Sie sah bei Nacht mit offenen 
Augen verschiedene Gesichter, Gestalten, die hin- und hergingen; am hell- 
lichten Tage auf einem Baume im Garten einen Juden, der sie anblickte; 
außerdem sah sie viele Juden, Engel, Kinder, Schnee, Ochsen, einen hohen 
Berg, Gesträuch, Wasser, in dem eine menschliche Gestalt schwamm etc., hielt 
den Oberwärter fdr ihren Feind. Am 31. Juli erwachte sie aus einem Traume, 
fühlte plötzlich, daß sie ins Wasser falle, erdrückt werde; sie sprang auf und 
schlug eine Fensterscheibe ein. Sie wußte zunächst nichts davon, glaubte auch 
nicht, was die Leute sagten. Die unwahre Angabe des Katzenbisses führt die 
Kranke darauf zurück, daß sie tatsächlich als lOjähriges Kind einmal von 
einer Katze gebissen wurde. — Patientin erzählt immer mehr Sinnestäuschungen. 
Sie halluzinierte den Mond und zwei Gesichter in ihm; glaubte, daß das ein 
Zeichen sei von Gott. Am 23. August erblickte sie im Krankenzimmer einen 
ordinären Mann mit braunem Gesicht, Schnurrbart, wahrscheinlich ein Jude, 
der ein Messer nahm, sie packte und ihr den Hals abschneiden wollte. Sie 
erschrak, zeigte ihm die Türe, konnte vor Schrecken nicht reden (Erklärungs- 
versuch der damaligen Aphasie). Ein andermal sah sie, wie zwei Menschen sich 
ein Grab ausschaufelten, oder es kam ein Bekannter aus ihrer Vergangenheit, 
ganz naß, mit schwarzen Armen und wollte sie umfangen, während sie im 
Freien unter einem Baume lag. Weiters behauptet sie, den Erzherzog Rainer 
und dessen Obersthofmeister sehr gut zu kennen. Sie konstruiert diese Bekannt- 
schaft in ganz wahnhafter Weise durch Beziehung. — Für das Vorgebrachte 
fehlt der Patientin die Krankheitseinsicht; sie hält an der Realität aller Sinnes- 
täuschungen, Wahnideen und Delirien auch Einspruch gegenüber fest. Sie ver- 
weigert es, sich hypnotisieren zu lassen. 

28. Oktober. Versichert in lebhafter Weise, sie habe gut geschlafen. Zu 
eventuellen Nachträgen ihrer Biographie aufgefordert, beklagt sie sich über ihre 
Verwandten, die kein Gefühl für sie hatten; sie weiß auch, daß die Leute sie 
für verrückt hielten; daß sie in einem nicht näher zu bestimmenden Alter 
wiederholt ohnmächtig wurde, so einmal als sie einen jungen Mann, ein ander- 
mal als sie eine blutige Hand sah. In ihren Reden ist die Kranke heute ganz 
unzusammenhängend, sie lacht und grimassiert, wiegt im Sitzen den Körper 
hin und her, ringt die Hände, hüpft dann im Zimmer auf und nieder. Dabei 
spricht sie unaufhörlich, renommiert, macht läppische Witze. Sie weiß angeblich 
nicht, wieviel 3X2 ist. Schließlich kommt sie wieder auf das Grab ihres 
Mannes; schon seit ihrer Jugend verlange sie sich zu sterben, nun wolle sie 
das gemeinsame Grab herrichten. — Zu einer Hypnose ist Patientin auch 
heute nicht zu bringen; sie läßt sich trotz Zuspruches nicht genügend fixieren, 
kneift die Augen zu, wenn sie auf einen Punkt blicken soll, sieht dann wieder 
höhnisch lächelnd auf den Arzt, beantwortet die Schlafsuggestion mit dem 
Rufe: „Ich schlafe nicht, ich will nicht schlafen, geben Sie sich keine Mühe!" 

30. Oktober. Sehr erregt, nicht zu unterbrechen, schimpft den Ärzten 
nach. Sensibilitätsstörung andauernd. 

2. November. Heute gelingt die Hypnose ohne Schwierigkeit; es wird 
Schlaf und Beruhigung suggeriert. Amnesie. 

4. November. Die Kranke lehnt in ruhigem Tone die Hypnose ab, sie 
könne heute nicht schlafen, wünscht nur eine Kerze für ihren Mann. 

5. November. Guter Laune, geordnet. 

6. November. Zum Arzte gerufen, scheint sie anfangs zerstreut, läßt sich 
aber verbal und durch Zudrücken der Augen leicht hypnotisieren. Die post- 
hypnotische Suggestion, daß sie die Nadelstiche auf der rechten Gesichtshälfte 



188 

so gut fühlen werde, wie linkS; gelingt prompt. Neuerliche Suggestion, daß sie 
rechts ebenso gnt hören und sehen werde wie links. Das scheint aber znviel 
verlangt zu sein, denn die Kranke erwacht noch bevor der Auftrag hiezu 
gegeben ist, in einer sehr sentimentalen Stimmung. Sie wünsche dem Arzte 
alles Gute, sich selbst aber den Tod; sie stehe allein, fühle sich so bang und 
habe ein schweres Herz. Manchmal komme sie sich vor^ wie ein junges Mäd- 
chen, das in unbefriedigter Sehnsucht nach einem Ideal sich verzehre. Bald 
aber iUllt sie in die gewöhnlichen Ideenkreise zurück: die Traktwärterin habe 
einmal von ihr gesagt, dieser Schlampen kriegt ein eigenes Grab und jetzt 
sei diese falsche Person ins Gesicht ihr so freundlich. 

7. November. War für abend wieder zum Arzte bestellt, wurde infolge 
Mißverständnisses nicht vorgelassen, wartete über 1 Stunde; hernach furchtbar 
erregt, schrie, schimpfte. 

8. November. Beruhigt sich erst nach erhaltener Aufklärung. Die rechts- 
seitige Gesichtsanalgesie und -anästhesie wird durch den faradischen Pinsel 
und Zuspruch prompt beseitigt. 

9. November. Patientin ist sehr gesprächig. Als an die Hypnose geschritten 
werden soll, bemerkt die Kranke, sie könne schon lange nicht schlafen, werde 
auch heute nicht einschlafen. Wenn sie den Kopf schüttle, so höre sie ein 
Läuten. Heute um Mitternacht flog eine weiße Tanbe über ihr; sie fühlte 
dieselbe auf dem Kopfe; vielleicht war es der Heilige Geist. Verlangt 
eine Pflanze, die sofortigen Herzstillstand bewirke; sie habe bis längstens 
Februar 1902 zu leben. Es sei ihr so schwer; sie empfinde einen Druck auf 
der Brust, Herzklopfen; manchmal komme es ihr vor, als wenn sie gar nicht 
sie selbst wäre. Sie mache sich Selbstvorwürfe, daß sie sich das Lieben nicht 
schon nahm. Die Patientin lehnt es energisch ab, gesund zu werden; sie wolle 
nicht gesund werden, es freue sie nichts mehr. Und wie man sie behandelt! 
Man habe sie wie eine Katze gefangen und in einen Sack gesteokt. Niemand 
nahm sich ihrer an. Sie sei soviel gekränkt worden, könne dem Stiefsohn, der 
sie tödlich beleidigt, nie verzeihen. Dann konfabuliert sie von Beziehungen zu 
bedeutenden Persönlichkeiten, deren eine ihr sogar einen Diamantring ver- 
ehrt habe. 

10. November. Beschäftigt sich den Ärzten gegenüber ausschließlich 
mit ihrem Grabe am Zentralfriedhof. Wenn man sie durch Vorhalt der 
Widersprüche in die Enge treibt, kehrt sie immer zu sentimentalen Redens- 
arten zurück: sie werde den Herrgott bitten, daß er sie erlöse. An 
allem Unglück sei aber der jüdische Zimmerherr schuld, gegen den sie sich 
in einer Flut von Schmähungen ergeht; Reproduktion von Erinnerungen, die 
mit einem stürmischen Affektausbruche einhergehen. — Ein geordnetes Ge- 
spräch ist heute unmöglich. Sie unterbricht stets mit affektierter Ver- 
zweiflung: sie wolle nicht leben; sie verdiene nicht daß sie auf der Erde 
herumlaufe. In rascher Abschwächung fUhrt sie fort: sie wünsche sich einen 
jähen Tod. Sich das Leben nehmen, sei etwas Schreckliches, das könne sie 
gar nicht tun. Sie habe heute in der Kirche inbrünstig gebetet, daß der 
Heiland sie zu sich nehme. Die Hypnose wird verweigert, Patientin vergräbt 
das Gesicht in die Hände, etc. Als sie das Konferenzzimmer verlassen soll, 
wird sie sehr liebenswürdig, bittet den Arzt um Entschuldigung, daß sie ihn 
so quäle, meint, die alten Weiber seien einmal unausstehlicL Es sieht aus, 
als ob sie sich nicht losreißen könnte, sie beginnt mit immer neuen rühr- 
seligen Betrachtungen und muß förmlich auf ihre Abteilung gedrängt werden. 

12. November. Heiter, versichert, sie habe gut geschlafen. Dann beklagt 



184 

sie sich aber^ daß die Visite zu kurz währte^ deklamiert wieder von ihrem 
Lebensüberdruß. 

13. November. Freundlich; spürt angeblich den faradischen Pinsel auf 
der rechten Gesichtshälfte nicht, stößt ihn dann plötzlich mit einer unwilligen 
Gebärde fort. — Abends kindisches Benehmen, will sich nicht hypnotisieren 
lassen. Sie ziert sich, scheint abweisend, gibt aber dann zu verstehen, 
daß ihre Gedanken lebhaft mit dem Arzte sich beschäftigen. Bericht über 
einen Traum: Sie glaubte in S. zu sein, an einem Flusse, der von schwarzen 
Holzplanken eingesäumt war. Plötzlich wirft ein Mann einen weißgelben Hund 
ins Wasser. Sie erschrak, wachte mit dem Gefühl eines nassen Fußes auf. 

15. November. Im Wesen der Patientin ist langsam eine Veränderung 
zu bemerken. Sie wird ruhig, verträglich, entschließt sich endlich sogar, das 
Bett zu verlassen. Aus äußeren Gründen, hauptsächlich aber, nachdem der 
Fall nun klargestellt ist, unterbleiben fortan die langen abendlichen Unter- 
redungen. 

22. November. Die Kranke berichtet über massenhafte Gesichtstäuschungen 
im wachen Zustande, die sie als real auffaßt: ein Grab, König Ludwig, ver- 
schiedenerlei Tiere. 

27. November. Abends Schüttelfrost, Temperatur 39*7. 

28. November. Früh Temperatur 38*4, abends 39*6. Patientin sehr 
reizbar, klagt über Vernachlässigung. 

Die folgenden Tage fieberfrei, häufig Typus inversus, Morgentemperatur 
z. B. 37-7, mittags 37-2, abends 36*5 

3. Dezember. Früh wieder 38*0, abends 37*5. Patientin liegt dauernd 
zu Bette, queruliert, man gebe ihr eine Suppe, in welche die Blätter der 
Bäume aus dem Garten eingekocht sind; dieselben kratzen sie im Halse. Sie 
werde deshalb zum Kaiser gehen müssen, sich beklagen. 

4. Dezember. Temperatur 38*5, abends 37*7. 

5. Dezember. Brechneigung; Zunge stark belegt; Temperatur 38*0 — 
38-8— 37-5. 

6. Dezember. Fieberfrei; sehr heiter, macht übermütige Witze. Sie be- 
komme heute einen kleinen Buben. Will die Zunge nicht zeigen. Ihre Lunge 
sei schon ganz herausgeatmet, da sterbe man bald, erklärt sie mit dem fröh- 
lichsten Gesichte. Verlangt gleichzeitig ein Naturschnitzel. 

Die folgenden Tage leichtes Fieber mit höheren Morgentemperaturen. 
Puls zirka 130. Diarrhöe; mangelhafte Nahrungsaufnahme. Seit 

13. Dezember dauernd fieberfrei. Klagt über die verordnete Reisspeise; 
dieselbe sei ungenießbar; allerlei extravagante Wünsche: Hasenrücken. Die 
Laune wird langsam besser. 

28. Dezember. Zunehmende Rekonvaleszenz. Die Kranke verläßt das 
Bett; ohne sonderlichen Affekt beklagt sie sich, daß sie kein Christkindl bekam. 
Taubes Gefühl und Hypästhesie an der rechten Gesichtsseite. 

31. Dezember. Sitzt vollkommen angekleidet, mit schwarzen Glace- 
handschuhen auf ihrem Bett, beklagt sich in höchster Erregung, daß eine 
Mitpatientin sie „angesteckt^ geschimpft habe; sie lasse sich ihre Ehre nicht 
rauben. Sie müsse fort. 

1902. Die Produktion neuer Wahnideen und Sinnestäuschungen hat 
eigentlich aufgehört. Patientin hält nur allen Vernunftgründen zu Trotz, hart- 
näckig an der Realität des früher Vorgebrachten fest. Im übrigen bietet sie 
ein typisches Charakterbild, das später zusammengefaßt werden soll; nur einige 
markante Details aus der Krankheitsgeschichte seien noch herausgegriffen. 



185 

Im Jänner vorwiegend Hypochondrie; queruliert wegen des KnicS; auf 
welches sie vor V4 Jahren stürzte; läßt sich durch Wochen deswegen behandeln. 

Dann beschäftigt sie sich mit ihrem Begräbnis. Sie müsse einen Aus- 
gang habeu; um dafür vorzusorgen. In aufdringlicher Weise verlangt sie, man 
solle sie mit dem Zentimeterbande messen, um die Länge des Sarges be- 
stinnmen zu können. Sie beschreibt denselben genau; er soll mit schwarzem 
Tuch überzogen sein und ein silbernes Kreuz tragen. In endlosen Wieder- 
holungen füllt sie Monate mit diesem Thema. Unterdes hat der Krieg mit 
der Umgebung wieder begonnen. Am 

1. April kommt es zu einer regelrechten Rauferei. Patientin schlägt 
eine Fensterscheibe ein und muß auf die Tobabteilung gebracht werden. Das 
g^bt ihr endlos Stoff für ihre Klagen, man habe ihr dabei die Kippen 
eingedrückt, den Arm ausgekegelt etc. — Ein andermal weiß sie sich eines 
großen Steines zu bemächtigen, versteckt denselben, in der unverkennbaren 
Absicht, eine andere Kranke, welcher in letzter Zeit eine ganz besondere 
Aufmerksamkeit gewidmet wurde, zu attackieren (Eifersucht). 

Wirklich produktiv wird sie erst wieder vom 1. Oktober ab, wo der 
Arzt die Klinik verläßt. Nun werden Wahnideen geäußert, durch Sinnes- 
täuschungen gestützt, zum System zusammengefügt: ihr Freund sei in feind- 
seliger Absicht beseitigt worden. Gelegentlich eines Besuches (1903) fand 
ich sie noch immer auf der Tobabteilung, feierlich ernst und reizbar. 
Eine nicht endenwollende Flut von Beschwerden über ungerechte Behandlung 
und Unterdrückung strömt von ihren Lippen. Zwischen den vielgestaltigen, 
spezifisch hysterischen Psychosen herrscht der hysterische Charakter, der eine 
Höhe der Entwicklung erreicht, welche fQr sich allein die dauernde Internierung 
der Patientin erforderte. 

Sie bietet ein widerspruchsvolles launisches Verhalten. In stetem Streit 
and Zank mit ihrer Umgebung, unterscheidet und zeichnet sie die Arzte aus. 
Sie wartet darauf, daß man sie anspricht, versucht allerlei Mittel, um etwas 
Abwechslung in die Sache zu bringen. Bald liegt sie ganz unter der Decke 
oder gibt wenigstens keine Antwort; bald steht sie gerade zur Zeit der 
Visite monologisierend gegen ein Fenster gewendet, meist aber kehrt sie sich 
erwartungsvoll den Ärzten zu, scheut sich auch nicht, selbst das Wort zu 
ergreifen« Hat sie einmal durch Zufall eine Visite versäumt, so räsoniert 
sie stundenlang. Zufrieden ist sie übrigens nie; immer klagt sie über Ver- 
nachlässigung, man solle endlich einmal sich mit ihr beschäftigen; anderemale 
ergeht sie sich in überschw anglichen Lobeshymnen; sie erhebt die „aus- 
gezeichneten^ Herren in den Himmel, um gelegentlich einen kleinen Wunsch 
daran zu knüpfen. Zum Essen läßt sie sich gerne nötigen, durch Wochen 
nahm sie nur Suppe und Tee, um dann reuig wieder zu einer Extraspeise 
zurückzukehren. Ebenso klagt sie darüber, daß sie schlecht schlafe, erzählt 
viel von bösen Träumen, ist aber nicht dazu zu bringen, ein Schlafmittel 
einzunehmen, als täte es ihr leid, dieses Klagethemas beraubt zu werden. 
Sie kokettiert fortwährend mit dem Sterben, ihre angenehmsten Träume 
seien noch, wenn sie sich gestorben glaube. Nur mit den Wärterinnen macht 
sie keinen Frieden, sie tyrannisiert dieselben durch ihre Ansprüche, bei jeder 
Gelegenheit schimpft sie über die ^Schlampen^, die „elenden Figuren", die 
sie mißhandeln, vergiften, ihre Briefe unterschlagen etc. 

Stete Eifersüchtelei scheint der Grundzug ihres Wesens; sie rühmt sich 
des Interesses eines der Herren, das sie auf jede Weise zu erregen und 
wachzuhalten versucht, wird von den Mitpatientinnen durch teilweise erfundene 



186 

Geschichtchen aufs höchste erbost. Zeitweise Extravaganzen: sie verlangt einen 
Sonnenschirm^ um in den Garten gehen zu können, schreibt einen Brief an 
einen ihr ganz unbekannten Universitätsprofessor, den sie zur Übernahme der 
Klinik beglückwünscht und in gedrechselten Phrasen auf den Pfad der 
Menschlichkeit verweist. Ihre Eitelkeit äußert sich auch in Kleinigkeiten; sie 
drapiert sich mit großer Freude in allerlei geborgte Kleidungsstücke, sie 
strahlt vor Glück, als sie in der Vorlesung vorgestellt wird und sich durch 
1 Stunde als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fühlt; sie findet dann gar keine 
Worte, um den Vortragenden genügend zu feiern; sie gibt hier auch teilweise 
ihre Krankheit zu, während sie sonst beim Examen mit der größten Hart- 
näckigkeit die Realität ihrer Wahrnehmungen verteidigt. Sie scheint sich 
des Interesses, das ihre Krankheit erwecken muß, soweit bewußt; daß sie 
mit der Erzählung ihrer Gesichtstäuschungen gar nicht zurückhalten kann 
und ungefragt herausplatzt. Andererseits entspricht diese Aufdringlichkeit dem 
Krankheitswillen und dieser ist nicht einmal so unmotiviert, da Patientin, einer 
selbst|lndigen Lebensführung nicht mehr fähig, eigentlich durch Existenznöten 
aufs Kommissariat getrieben wurde. 

Die Hysterie könnte im vorliegenden Falle auf einen Schreck und eine 
Schädel Verletzung im siebenten Lebensjahre zurückgeführt werden, wenn man 
sie nicht als angeboren betrachten will; an der Minderwertigkeit der Patientin 
ist nicht zu zweifeln. Sie kann trotz aller Mühe die Tatsache nicht ver- 
schleiern, daß sie durch Prostitution den Lebensunterhalt erwarb. Nebenbei 
war sie aber intelligent genug, einen kleinen Beamten dahin zu bringen, daß 
er ihr den Namen seiner Frau gab. Der hysterische Charakter veranlaßt 
schon im frühen Kindesalter allerlei Streiche, welche die Umgebung ver- 
anlaßten, die Person als verrückt zu betrachten. Der unmittelbare Ausbruch 
ihrer Anstaltsbedürftigkeit führt aber auf schwere finanzielle Bedrängnis 
zurück. So lange die Kranke zu leben hatte, überschritt die Hysterie das 
sozial Mögliche nicht. Nun knüpfen Aufregung und Not an einen jüdischen 
Zimmerherrn an und in strengster Logik beginnt sie mit der Wahnidee, die 
Juden verfolgen sie. Der Wahn wird weiter ausgebaut, durch Sinnestäuschungen 
gestützt. Die Kranke geht gleich zu den höchsten Behörden und liefert sich 
so in die Irrenanstalt, um dieselbe nicht mehr zu verlassen. 

In dem Chaos von Träumen, Sinnestäuschungen, Wahnideen, das Pa- 
tientin in fließender Rede vorbringt, kann man sich zunächst gar nicht zurecht 
finden. Neben hysterischen Absonderlichkeiten führt das meiste auf Erinnerungs- 
bilder zurück, man erkennt verzerrte Szenen aus ihrem früheren Leben oder 
Wünsche, die Gestalt gewonnen haben. Einzelnes dürfte ganz zufUUig geträumt 
oder erst im Augenblicke des Examens suggeriert, geschaffen werden. Dafür 
spricht auch, daß eine ausführliche Unterredung selbst eine Geistesstörung 
auszulösen imstande ist, wie z. B. am 28. Oktober 190L Die anfängliche 
Psychose hätte vielleicht nicht gleich als Hysterie imponiert; die Art aber, 
wie sie mit allen späteren, sicher hysterischen Symptomen verwoben wird, die 
Einheitlichkeit des ganzen auf einen hysterischen Charakter aufgebauten Bildes, 
nebenbei die Unzahl von Stigmen, das alles stützt wohl die Auffassung des 
großen Komplexes, in welchem auch ein Status febrilis hysfcericus nicht fehlt, 
der allerdings durch eine latente Tuberkulose, eventuell durch eine gastro- 
intestinale Erkrankung viel einwandfreier erklärlich scheint als durch die 
Annahme einer unmittelbar psychogenen Beeinflussung des Temperaturzentrums. 

Während hier als entscheidendes Krankheitsmotiv Notlage zu be- 



187 

trachten wäre, da die Frau dem versorgungsbedürftigen Alter näher- 
kommt und ihre körperlichen Beize sich nicht mehr in Geld umsetzen 
lassen, soll ein männlicher Hjstericus angeschlossen werden, bei dem 
schwere angeborene Minderwertigkeit und Arbeitsscheu noch in sehr 
jugendlichem Alter zur Irrenanstaltsaufnahme führte. 

Beobachtung XXXVIII. 

Jircek Rudolf; geboren 1882^ katholisch; SchuhmacberlehrliDg. 

Wird von seiner Meisterin als boshaft und verschmitzt geschildert. Er 
schlägt sich mit einer Hacke gegen den Kopf; gelangt am 25. November 1896 
in einem hysterischen Anfall mit Lähmung der linksseitigen Extremitäten; 
Bewußtlosigkeit; großen rollenden Bewegungen der AugeU; Kaumuskelkrämpfeu; 
im Spital zur Aufnahme. Das Bild kehrt am Tage einige Male wieder. Da er 
droht; im Falle der Entlassung sich mit einer Hacke den Schädel zu spalten; 
wird er auf das Beobachtungszimmer transferiert. 

Patient, der sonst gewöhnlich zu Neckereien geneigt sein sollte; ist hier beim 
Examen träge, von sehr geringer Intelligenz. Aus seinen widersprechenden 
Aussagen scheint hervorzugehen, daß er ein schlechter Schüler war: auch 
Lügenhaftigkeit gesteht er zu. Vor mehreren Monaten sei er von den Gesellen 
äußerst roh behandelt worden; von selten des Meisters und der Meisterin 
hätte er es jedoch gut gehabt. Weiß; daß er Kopfschmerzen bekam; dann 
^ verrückt^ wurdC; gebissen und geschlagen habe; von Selbstbeschädigungs- 
absichten will er aber nichts erinnern. Er wechselt beständig in seinen Angaben; 
beschränkt sich schließlich darauf; auf jede Frage mit ^Ja^ zu antworten. 

Aus dem Status somaticus: Prominente Tubera frontalia und parietalia; 
Kiefer auffällig hervortretend. Filtrum verkürzt, so daß das Rot der Oberlippe 
abnorm breit erscheint. Gaumen außergewöhnlich steil. Perkussion an Scheitel 
und Hinterhaupt schmerzhaft. Die Nn. supraorbitales und ein Punkt submaxillar 
links lebhaft druckempfindlich. Das Gesichtsfeld beiderseits konzentrisch einge- 
engt; die Hörschärfe links etwas geringer als rechts. Druck auf den 5. Brust- 
wirbeldorn sehr schmerzhaft. Genauere Prüfung ergibt, daß diese Schmerz- 
haffcigkeit einer Hautstelle zukommt, die nach der Art der Schmerzreizung 
verschieden liegt; auf Kneifen unmittelbar über dem Wirbel; auf Nadelstiche 
aber in einem etwa handßächengroßen Umfange. Sehr druckempfindlich ist der 
rechte IV. Interkostalraum von der Brustwarze bis zur Wirbelsäule; ein Punkt 
rechts im Hypogastrium mit Ausstrahlen des Schmerzes bis in die linke 
Supraclaviculargrube. Infantiles Genitale. 

Der Kranke versichert; in der Stime und am Hinterhaupte an Schmerzen 
zu leideu; und zwar seit 6 TageU; habe deshalb geweint. 

30. November. Heute Detailangaben über die 2ieit der Geistesstörung. 
Sein Meister habe ihm erzählt; er sei von 5 — 8 Uhr verrückt gewesen; habe 
gebunden werden müssen; weil er ein Bett zerschlug. Er habC; wie er sich 
genau entsinne; 200 Schafe gesehen; die er zählte und die ein Hirt führte. 
Auch Vögel und andere TierC; an die er sich nicht mehr erinnere; habe er 
erblickt. Die Schafe waren verschiedenfarbig; er bemerkte zu dem Hirten, 
was das für schöne Schafe seien und dieser erwiderte: 7,Ja;^ fügte dann bei: 
„Siehst dU; da kommt ein Wagen mit zwei PferdeU; dich abzuholen; weil du 
verrückt geworden bist.^ Das Verhalten des Patienten bleibt die ganze Zeit 
ttber unverändert. Er wird am 

5. Dezember 1896 entlassen. 



188 

Erst später wird festgestellt^ daß der Bursche nicht Jircek heißt, daß 
diese Krankengeschichte zu den folgenden gehört. 

Am 30. Oktober 1900 wurde er unter dem Namen Rudolf Skandera zum 
Amte gestellt, da er versucht hatte, bei einem Fenster hinauszuspringen. Ek* 
war in höchster Aufregung, schrie, schlug um sich und konnte nur mit Mühe 
gefesselt werden. In seinen unzusammenhängenden Reden wiederholte sich das 
Wort „Hermine". Nachtsüber beruhigte er sich; des Morgens schritt er mit 
verschränkten Armen, mürrischem Gesichtsausdruck, starrem Blick im Zimmer 
auf und ab, erschien klar, orientiert, erklärte, wenn man ihn entlasse, werde 
er sich bestimmt etwas antun; er könne ohne seine Hermine nicht leben und 
die Eltern dieses Mädchens gestatten nicht, daß er mit ihr gehe. 

Bei der Aufnahme im allgemeinen Krankenhaus erkennt Patient die 
Örtlichkeit sofort wieder; zeitlich ist er leicht desorientiert. Er deutet die 
Personen der Umgebung als Bekannte, hält z. B. seinen Bettnachbarn für den 
Mann, der ihn am Herunterspringen hinderte. — Druckschmerzhaftigkeit am 
Hinterkopf und über beiden Nu. supraorbitales; Hyperästhesie in der rechten 
Submaxillargegend und in der Höhe des fünften Brustwirbels. 

2. November. Schreibt seiner Hermine einen Brief: Sie möge ihn besuchen, 
er wolle sie zum letzten Male sehen, dann werde er sich vom Fenster stürzen. 
Klage über Kopfschmerzen, die anfallsweise seit 10 Jahren bestehen. Trinken 
könne er nichts, weil er nichts vertrage. Geschlechtlicher Verkehr wird 
in Abrede gestellt. 

5. November. Der Kranke äußert andauernd Lebensüberdruß. Sowie er in 
Freiheit gelange, werde er um 20 Kreuzer Phosphor kaufen und sich umbringen. 
Er jammert Über seine verzweifelte Lage; wenn er sich etwas in den Kopf 
setze, komme ihm der Rappel und er mache dann einen Unsinn. 

9. November. In der Irrenanstalt trifft Patient ganz heiter ein, er begrüßt 
die Zimmergenossen mit lauten Zurufen, reißt seinen Hemdkragen herunter; 
dann erst beginnt er scheu im Zimmer umherzublicken. — Bei der ärztlichen 
Besprechung sitzt er stumm und teilnahmslos da, mit müdem Gesichtsausdruck, 
fUngt zu weinen an. Nach dem Grunde seiner Verstimmung befragt, 
erklärt er, er sei so traurig wegen seiner Hermine. Nun zeigt der Kranke 
lebhaftes Angstgefühl, ruft in verzweifeltem Tone: „Morgen werde ich hin- 
gerichtet, weil ich vom Fenster herunterspringen wollte." Unter lautem 
Schluchzen und Klagerufen erzählt er dann weiter, daß er gestern nachts im 
Landesgerichte mit der Hermine beim Fenster gesprochen und diese ihm das 
Todesurteil verkündet habe. Er versichert den Arzt, daß er auch jetzt im 
Landesgerichte sei; er will den Wärter nicht mehr erkennen, der ihn 
vor zwei Stunden übernommen hat. In monotoner Wiederholung fährt er fort: 
„Ja, gehenkt werden wir!" drängt hinaus, er wolle vor seinem Tode noch 
mit der Hermine sprechen; er sieht ängstlich, scheu herum, hält sidi den 
Kopf, springt ans dem Bette, will sich vom Fenster hinabstürzen. 

Nach der Besprechung beruhigt sich der Patient sehr bald, vermag sich 
an die vorgebrachten Ideen nicht mehr zu erinnern. Gegen Abend abermals 
unmotiviertes Auftreten von Angst; er glaubt, daß der neben ihm liegende 
Kranke ihn ermorden wolle. 

10. November. Erklärt selbst, es komme zuzeiten so wie ein Anfall 
über ihn. Derselbe beginne mit heftigen Kopfschmerzen und Schwindel, dem 
Gefühle, als ob er ohnmächtig würde; bei nicht ganz klarem Bewußtsein 
stellen sich allerlei Visionen ein: er sehe „Feuerspritzer", seine Hermine wie 
in einen leuchtenden Nebel gehüllt; er spreche zu ihr und sie antwortete ihm; 



189 

erst weDD er wieder ganz bei sich sei, erkenne er, dafi das alles nur eine 
Tänschang war. Die Hermine sage immer, er werde hingerichtet, daher solche 
Angst, daß er nicht wisse, was er tue und sich umbringen wolle. In der 
Zwischenzeit geordnetes Verhalten; die Druckhyperästhesien dauern an. 

Zur Anamnese macht Patient ganz unzuverlässige Angaben. Seinen 
ersten Aufenthalt am Beobachtungszimmer schmückt er aus; er habe damals 
16 — 18 Tage lang Tiere gesehen, in der Nacht sich unter das Bett oder auf 
die Tischkante gelegt, zur Türe hingesetzt und laut geweint. Einmal bekam 
er auch einen Streckkrampf. 

1. Dezember. Hat in der letzten Zeit gearbeitet, ist meist heiterer 
Stimmung. Ohne Veranlassung treten Zustände auf, in welchen er dem Arzte 
keine Antwort gibt, sich sträubt, wenn er zn Bett gebracht werden soll. 
Nachts gelegentlich Anfalle, in denen er weint oder sehr erregt mit dem 
Kopfe gegen die Bettstangen stößt, aufspringt, unflätig schimpft, anscheinend 
gegen eine illusionierte Person, die ihm nicht einmal in der Nacht Ruhe lasse. 

24. Februar 1901. Andauernd Stimmungswechsel, zahllose Wttnsche und 
Beschwerden, aber kein Erregungszustand mehr. 

21. März. Spielt Karten, Billard, ziemlich verträglich; schwindelt aber 
einen Brief an die Behörde hinaus, in welchem er seine lange Interniernng 
und die Anstalts Verhältnisse kritisiert. 

1. April. Steter Abteilungswechsel, großer Freiheitsdrang. 

2. April. Ausführliches Examen: Der Kranke ist völlig orientiert, gibt 
prompte, sinngemäße Antworten. Er bezeichnet sich als vollkommen gesund, 
und zwar seit Mitte Dezember vorigen Jahres. Bis dahin habe er immer noch 
die Stimme seiner Geliebten Hermine gehört, welche ihn beschimpfte. Darüber 
sei er wiederholt in furchtbare Wut geraten. Genauer befragt, muß er zu- 
geben, daß er nicht eigentlich halluzinierte. Nur wenn er an die Person dachte, 
kam es ihm so vor, als ob er sie schimpfen hören würde. Andere Sinnes- 
täuschungen, speziell des Gesichtssinnes werden ebenfalls strikte geleugnet. 
Kein Beziehungswahn. — Als Ursache seiner Internierung gibt er eine heftige 
Gemütsbewegung an, er erhielt plötzlich die Mitteilung, daß seine Geliebte 
mit ihm gebrochen habe. Darum wollte er sich das Leben nehmen; zuerst 
ging er an die Donau, kehrte nach Hause zurück, um sich mit einer Hacke zu 
erschlagen, endlich beschloß er zum Fenster hinunterzuspringen. Patient er- 
innert sich noch, daß die anwesenden Zimmerkameraden ihn zurückgerissen 
hätten; dann Amnesie, für später nur summarische Erinnerung. Seine Auf- 
regungen motiviert er durch Verfolgung von selten der Hermine. Bestimmte, 
doch widerspi*echende, zum Teil sicher falsche Angaben über seine Ante- 
zedentien. — Stigmen geschwunden. 

7. April. Leicht reizbar, beginnt in halblautem Tone zn schimpfen, 
sowie ihm ein Wunsch versagt wird. 

25. April. Der Kranke drängt unaufhörlich in die Freiheit, verapricht 
sich brav zu halten. Da er keine ausgesprochenen psychischen Störungen 
bietet, wird er unter Heutigem als geheilt entlassen. 

Aber schon am 30. April nachts V^ 1 Uhr gab der Bursche im Stadt- 
park 2 Schüsse ab, schrie dabei: „Du mußt hin werden.^ Der herbeieilende 
Sicherheitswachmann entriß ihm ein geladenes Terzerol und brachte ihn zum 
Amte. Hier verweigerte .er auf Fragen die Antwort, wiederholte nur immer: 
„Du mußt hin werden!" Er bespuckte die Umgebung, versuchte die Wach- 
leute zu beißen. 

Bei der Aufnahme ist er oberflächlich orientiert, etwas schlafsüchtig. 



190 

In ziemlich gereiztem Tone Bericht^ er sei gestern von der Erscheinung der 
Hermine verfolgt worden, habe sich um 6 Uhr abends ein Terzerol gekauft 
and ging ins Wirtshans; für die weiteren Vorgänge Amnesie. In der Nacht 
habe er wiederholt die Hermine gesehen; sie sei mittelgroß, blond, schwarz 
gekleidet. — Clavus, Globus, beiderseitige Ovarie, linksseitige Hypästhesie. 

1. Mai. Verlangt auf eine andere Abteilung; erzählt heute die Vorgänge 
im Stadtpark; da die Hermine nicht von ihm wich, habe er geschossen. Der 
Kranke behauptet, öfters an Zuckungen der Extremitäten zu leiden bei er- 
haltenem Bewußtsein. Er habe sich dabei wiederholt verletzt, ohne daß eine 
Spur dieser Verletzungen an ihm zu finden ist. 

4. Mai. In die Irrenanstalt gebracht, zeigt Patient ein ^verschlossenes 
mürrisches Wesen und gibt in kurzen Worten folgende Darstellung. Nach 
seiner Entlassung lebte er vom Krankengeld. Um den Nachstellungen seiner 
Geliebten zu entgehen, fuhr er nach Kutti (Ungarn), verfehlte jedoch den Zug 
kam nach Preßburg. (?) Dort kaufte er sich einen Revolver, reiste nach Wien 
ziirtlck. Nun verfolgte ihn die Hermine wieder; darauf die nächtliche Schießerei. 
Die Möglichkeit, daß er sich etwas eingebildet habe, gibt er zu, ebenso 
reichlichen Alkoholkonsum; drängt auf Entlassung. 

6. Mai. Andauernd depressiv verstimmt, äußert Selbstmordgedanken oder 
verlangt, man solle mit ihm ein Ende machen. Auch Selbstanklagen; er sei 
leichtfertig, könne kein Greld in der Tasche haben, ohne es zu vertun; habe 
sich dem Trünke ergeben. Zwischendurch wieder Versicherungen, er werde 
sich bessern, sich ein Arbeitsbuch nehmen, nicht mehr trinken usw., wenn 
man ihn entlasse. Er sei nicht krank. Warum dürfe seine Geliebte nicht 
zu ihm? Gleich darauf beklagt er sich über deren Untreue, doch muß er zu- 
gestehen, daß er selbst ihr untreu geworden ist, erst vor wenig Tagen eine 
Straßenbekanntschaft anknüpfte; vergießt dabei Tränen über sein Schicksal. 

Die „Straßenbekanntschaft" besucht den Kranken in der Anstalt und 
deponiert folgendes: Sie kenne den Mann seit 3 Tagen. Er schien zerstreut, 
sprach wenig, erwähnte nichts von einer Hermine. Er reiste angeblich ab 
nach B., wo er gar nichts zu tun hatte, forderte sie auf, ihn bei der Rück- 
kehr vom Bahnhof abzuholen, kam aber nicht. Zu ihrem Erstaunen schrieb er 
ihr aus des Irrenanstalt. 

10. Mai. Der Kranke bringt allerlei Gravamina vor: es gehe ihm hier 
schlechter als in einem Gefängnisse; er wolle aufgehängt werden; beruhigt 
sich immer rasch. Dabei trägt er sich sehr elegant, stutzerhaft; benutzt auch 
während der Gartenarbeit einen Zwicker aus Fensterglas. 

16. Juni. Seit gestern sehr erregt, verlangt in die Zelle, wünscht eine 
Unterredung mit dem Arzte im Hörsaal. Hier erzählt er, Christus sei ihm 
erschienen, habe ihm gesagt, er müsse für den Mord, den er begangen, büßen, 
sowie Christus für die Menschheit gebüßt. Auf Zwischenfragen vervnckelt er 
sich in die handgreiflichsten Widersprüche. Einerseits bestätigt er, daß er 
gegenwärtig die erste Christusvision hatte, andererseits will er glauben machen, 
Christus habe ihm die Ermordung seiner Hermine anbefohlen. Schließlich steht 
man vor einem Chaos unvereinbarer Behauptungen. Dem logischen Vorhalte 
der Unmöglichkeit gegenüber schweigt der ganz klare und besonnene Patient. 
Er wird auf die Tobabteilung gebracht. 

17. Jnni. Liegt ruhig zu Bette, erinnert sich der äußeren Vorgänge der 
letzten Tage, leugnet aber, erregt gewesen zu sein. Er habe sich in den Hör- 
saal fuhren lassen, weil er mit dem Professor sprechen wollte, um in die 
Zelle zu kommen. All seiner unsinnigen Reden von gestern entsinne er sich 



193 

« 

zieht die Strümpfe von unten über die Hosen etc.; g^ern hat er die Zigarette 
übertrieben schief im Munde. Ein Witz soll es augenscheinlich auch sein^ daß 
er den stellvertretenden Arzt des Nachmittags trotz aller Abweisung regel- 
mäßig mit Extrawünschen quoad Speisezettel behelligt. 

8. März. Wird heute über wiederholtes Drängen seinerseits zum 
Examen gerufen. Er will entlassen werden^ sich eine Stelle als Hausknecht 
suchen ; den Plan zii den Ti*appisten zu gehen, habe er aufgegeben, weil er 
horte, daß das Leben dort schlecht sei. Patient äußert Einsicht in das Krank- 
hafte seines Zustandes; was er aber sonst erzählt, ist voller Widersprüche, 
eine chronologische Orientierung in seinen Erlebnissen unmöglich. Er muß 
zugeben, daß er seit Jahren nicht mehr gearbeitet hat, motiviert das mit einer 
nicht nachweisbaren Augenverletzung. Auf seine Angaben über die Christus- 
vision kann er sich jetzt absolut nicht erinnern. 

15. März. Seine Erzählungen variieren unaufhörlich in den Details. 
Weist man ihm Widersprüche oder Unmöglichkeiten nach, so repliziert er 
immer, er erinnere sich nicht genügend. Seine Arbeitsbücher habe er verloren. 
Eine Polizeistrafe wird doch zugegeben. 

15. April. Ausgänge, die ihm mit angeblichen Verwandten hin und wieder 
bewilligt wurden, benutzt er, um mit einer Wärterin ein Verhältnis anzuknüpfen. 
Er wird am 24. Mai in die heimatliche Irrenanstalt transferiert. 

Aus einer Selbstbiographie, welche der Kranke über Auftrag verfaßte, 
ergeben sich noch mancherlei Details. Im I. Kapitel erzählt er, daß er im 
Alter von 8 Jahren von einem Birnbaum stürzte, auf das Hinterhaupt ßel und 
Schmerzen hatte bis zum 11. Jahre; dnnn ließen dieselben nach, um mit 
14 Jahren w^ieder zu beginnen. Das II. Kapitel beginnt: „Als ich in Jahre 
1><96 in S. in der Lehre wahr und in die gewerbe schul ging so ist mir ein, 
gefallen nimst dir das Leben, so bin ich von ersten Stok herunter geschprungen 
habe mir aber nichz gemacht habe mir kalte umschlage gemacht und das vahr 
vorbei, und dann ging ich einmal mit ein paar schuhe in ein anderes Dorf 
liefern und am rückweg falt mir ein kaufs dir einen pistole und fahrst nach 
Wien und erschist dich, dann ist mir eingefalen du hast dir das Leben nicht 
gegeben so würdest du dirs auch nicht nehmen, und habe mir ein Arbeitz buch 
gelest und habe gearbeitet, dan in 2 Wochen drauf habe ich die Hermine 
kennen gelernt und bin mit ihr bis (zu die Ostern ge) am 19. Oktober 
gegangen und eines schönes tages kome ich zu hause und vasche mich zie 
mich auNund vil fortgehn. da aber sagt mir die Zimmerfrau Rudolf vo gehn 
sie hin? so sag ich ich hole die Hermine ab und sie sagt mir es gibt was 
neies. sag ich was. ja der Hermin ihr Mutter vahr da und hat gesagt sie darf 
au nicht mit ihr gehn indem sie noch zu jung ist mich hat das natürlich sehr 
gekrenkt und habe sehr khopf schmerzen bekomen und bin zu der Donau 
dan vider zurick und hab die Hakn genommen und hab mirs voln in köpf 
hineinhaun vehrend dem reist mirs sie die Zimmerfrau aus der Hand, dan bin 
ich so gesesen und auf einmal fält mir ein Stürzt dich von 3 Stok hinunter 
vie ich nunter schpringen viel so hat mich der kammerher aufgehalten am 
dritten Tag vürde ich vach schau mich um so se ich das ich auf der Beobachtung 
bin. dort habe ich sie immer schprechen gehört mit einem andern so hat sie 
mich 14 Tage gekvelt. dan habe ich ru gehabt, in 15 zenten Tag bin ich in 
die Irn Anstalt gekomen. Da habe ich sie noch 3 Monate gehört auf einmal 
wars gar dan bin ich (entlasen enth) losen worn und habe 110 gülden gehabt 
in zveiten Tag ge ich in Aiigarten und habe die Mitzi Matula (.die „Straßen- 
bekanntschaft". Verf.) kennen gelernt, da habe ich das ganze geld heraus 

Raima IUI, Dio liyst^Miscln»!» Gti"3ti'sst<>runifen. 13 



194 

gesclimisen und habe dabei fest getru-nken, nur Wein und volte zu meine 
eitern fahren fuhr aber nach Budapest und kaufe mir eine pistole um 2 fl 50 kr 
ein Vs ^^^^ pulver, und ^j^ kilo schrod und eine schachtl khapsln und fuhr 
nach vien und ging zu hause und ging durch die Stat. vie ich zum Statpark 
kom so habe ich auf die Hermine geschosen veil sie mir immer nach ist, und 
mir gesagt; dort must du hin gehn und dort darfst du nicht hin gen ich bin 
beer für mich allein und hab losgezielt am zveiten schus ist sie gefallen, dan 
vars gar. vo sie hin gekomen ist das veis ich nicht veil mich das nicht intresirt. 
dan habe ich im Jahre 1897 ein Madl kennen gelernt nun ich ge in ersten 
Sontag hin und sie sagt mir ich mus jeden Sontag mit ihr in die kirche gehn. 
in neksten Sontag ge ich vie der hin sie komt nicht herunter ge dan vieder 
abend um 6 uhr hin se ich sie mit zwei Soldaten gehn. vas soll ich dir du 
bestie machen hab ihr eine ohrfeige gegeben und bin fort, sie hat mich an- 
gezeigt und ich habe 24 Stund arrest bekomm." 

Das III. Kapitel erziihlt seine allererste Einbringung auf das Beobachtungs- 
zimmer: „Nun in Jahre 1892 vie ich in der Lehre vahr bei her Johann 
Neurocni von 1892 — 1886 (soll wohl heißen 1896 Anm.) ein mal ging ich 
zu Lederhandler auf die Walensteinst. bin in einer virtel Stunde zurik er 
sagt mir wo varst du so lang ich gab ihm zu antwort bein Lederhandler^ auf 
das gibt ehr mir eine ohrfeige ich gab ihm zu antwort, was schlagen sie mich 
sie (Mäd) Marder, auf das haut ehr mich am köpf, (abes) aber so das mir 
nichz mehr dran gelegen, (ist) dan habe ich mich zum Boden gestürzt und 
den köpf in die erden hinein gebaut, in driten Tag werde ich wach se ich daß ich 
im Spital bin. in virten tag komt die lehrmeisterin zu mir und sagt ob ich 
vieder zurik ge so gab ich zur antvort bevohr ich zu ihnen ge so nehm ich 
.holz hakn und hau mirs im khopf. auf das bin ich auf die Beobachtung 
gekomen und bin aber in ßrzeh Tagen entlasen, und bin mit meinem fotem 
nach Ungarn." 

In dieser Weise geht es weiter. Leider sind seine Angaben nicht nur 
zeitlich durcheinandergeworfen, sondern auch durchaus unglaubwürdig, da man 
ihm schon einen großen Teil der objektiven Ereignisse (Hermine, Vater) als 
erlogen nachweisen kann. Deshalb sowie wegen seines Schwachsinnes ver- 
sagte jede psychologische Analyse. — Patient taucht bald wieder in Wien 
auf. Am 

4. August 1902 arretiert ihn ein Sicherheitswachmann, weil er des 
abends in auflUlliger Weise am Donaukanalufer promenierte. Bei der amts- 
ärztlichen Untersuchung ist er aufgeregt, beißt die Zähne zusammen, ballt die 
Fäuste, blickt starr vor sich hin und verlangt stürmisch, man solle ihn weg- 
gehen lassen, damit er seinem Leben ein Ende machen könne; er wolle ver- 
recken wie ein Hund. — Er kommt ruhig an die Klinik, schläft des Nachts. 

5. August. Erzählt, daß er gestern in lebeusUberdrüssiger Stimmung 
mehrere Gasthäuser besuchte, Wein und Bier trank. Genaue Erinnerung au 
die Vorgänge des Abends. Er erwähnt oberflächlich einen Konflikt mit seiner 
Geliebten, motiviert seinen Lebensüberdruß nicht, klagt über Beklemmungen 
auf der Brust, Kopfschmerzen. 

7. August. Der Kranke verlangt in unwirschem Tone auf den Korridor, 
verweigert eine Begründung dieses Verlangens. Er hetzt die eben aus der 
Zelle gekommenen Patienten auf, sie mögen trachten, wieder hinüberzukommen, 
„weil es dort mehr Spaß gäbe". 

12. August. Heute auch den Ärzten gegenüber aufrichtig: Am Korridor 
sei es lebhafter. 



195 

13. August. Zufrieden, schreibt auf den Boden der Zelle: Fremden ist 
der Eintritt verboten; beklebt die Wand mit Papier. 

15. August. Schmückt sich läppisch mit einem Ring aus Wolle, steckt 
«inen Schildpattkamm ins Haar, weil es ihm so gefalle. 

18. August. Immer kindischer. Patient hat die Brust mit improvisierten 
Orden und Heiligenbildern, die Schuhe mit Papierschnitzeln behängt. Er grüßt 
in militärischer Weise, spricht in erregtem Ton: Wenn er sonst gar nichts 
habe, wolle er wenigstens schön sein. Er hilft bei Zimmerarbeiten. 

20. August. Droht, falls man ihn entlasse, den Selbstmordversuch ge- 
scheiter anzustellen; wenn er aber nach der Irrenanstalt L. zurückgebracht 
werden sollte, deren Direktor er allerlei Übles nachsagt, so werde er aus 
dem Wagen springen. Arbeiten könne er nicht wegen Sehschwache und Schmerzen. 
Patient wird in die Anstalt übersetzt. 

Zuletzt traf ich ihn im Sommer 1903 in freier landwirtschaftlicher Be- 
schäftigung geradezu blühend von Aussehen in der Irrenkolonie Haschhof. 
^ein Gesicht strahlte anläßlich einer Festlichkeit von Glück. 

Aus Ungarn war die Nachricht eingetroffen, daß der Bursche weder 
Jircek noch Skandera heißt, sondern M. und daß er nicht in dem von ihm 
angegebenen Orte zuständig ist. Wie er sich in den Besitz der entsprechenden 
Dokumente gesetzt habe, blieb unaufgeklärt. 

Ohne den Zusammenhalt der verschieden benannten Krankengeschichten, 
namentlich aber einem kurzen Zeitabschnitte gegenüber, wäre es vielleicht 
möglich gewesen, bei der Diagnose des vorliegenden Falles zwischen Hysterie 
und degenerativem Irresein zu schwanken. Allerdings sollte der hier ver- 
tretenen Auffassung nach die Diagnose d6g6n6rescence mentale nur ein Not- 
behelf sein, insolange der Kasus nicht vollkommen geklärt ist; es wäre Gewicht 
darauf zu legen, daß man eine bestimmte Tnterform jener großen Gruppe 
«rkenne. 

Während der klinischen Beobachtung zeigen sich durch den größten 
Teil der Zeit nur Sonderbarkeiten der Aufführung, Verlogenheit, allerdings 
auch Sensibilitätsstörungen, Stigmen; doch genügt das manchmal nicht. 
Glücklicherweise leuchten hier die Grundzttge des hysterischen Charakters, 
speziell die Suggestibilität, immer so lebhaft durch, daß die Diagnose auch zu 
stellen gewesen wäre, ohne die hysterischen Krampfanfälle und die typisch 
hysterischen Äquivalente, die außerhalb der Klinik liegen. Es ist eine merkwürdige 
Erfahrung, die wiederholt gemacht werden konnte; bei einer Aufnahme an einem 
bestimmten Orte produzieren die Kranken unzweifelhafte AnfUUe, dann durch 
Jahre in einer andern Irrenanstalt nicht; ein neuerlicher Ortswechsel und 
sofort sind die Anfälle wieder da. Die psychischen Störungen, das Gesamt- 
verhalten ist aber vollkommen das gleiche. Selbst wenn man nur den Krampf- 
anfall als einwandfreieste Äußerung der Hysterie betrachtet, muß man die 
Kranken die ganze Zeit über als Hysteriker gelten lassen. 

Immer wieder äußert Patient einen unsinnigen Lebensüberdruß, aus dem 
er nie die Konsequenzen zieht: dieses schon so oft illustrierte geradezu 
pathognomonische Symptom. Jedes Blatt der Krankengeschichte erfreut durch die 
komischesten Widersprüche. Er spaziert gemächlich am Donauufer, läßt sich aufs 
Kommissariat führen; dort verlangt er in stürmischer Weise fortgelassen zu 
werden, um sich ins Wasser zu stürzen. Er hat schon die geladene Waffe in der 
Hand, schießt in die Luft etc. Bei dem ersten Aufenthalte des Patienten am 
Beobachtungszimmer kommt es anknüpfend an die Konvulsionen, zu läppischen 

13* 



196 

ErzähluDgen von Schafen und einem Hirten, die den Eindruck einer Augenblicks- 
schöpfung machen. Erzählungen ganz desselben Kalibers trägt er später noch 
wiederholt entgegen, er läßt sich auf eine Diskussion nicht ein; erinnert sieh 
dann nicht mehr. Übrigens verrät er sich einmal in jenem Brief an die junge 
und körperlich sehr gefällige Geisteskranke, seine Flamme, indem er von Dingen 
ganz gut wußte, für welche er Amnesie vorlog. Er deutet sogar ziemlich 
direkt an, daß er nur den Ärzten zu Trotz irgendeinen Unsinn einzahlt habe. 
Wäre dieser Brief nicht zufällig aufgefangen worden, so hätte man tiefsinnige 
Betrachtungen über die Genese dieses Äquivalentes anstellen können, während 
es nur eine, seinem Intelligenzniveau vollkommen entsprechende plumpe 
Simulation war. Er brauchte eine Geistesstörung, da er in den Hörsaal geführt 
werden wollte, nur dort sprechen zu können erklärte. Man ist in diesem 
Falle in der glücklichen Lage, auch bezüglich der Beweggründe gar nicht 
weit suchen zu müssen. Dieselben sind gar nicht krankhafter Natur; auch seine 
Begeisterung für die anfangs verschmähte Hypnose und für das Elektrisiert- 
werden führen darauf zurück, daß er bei dieser Gelegenheit zarte Beziehungen 
anknüpfen konnte. Als dies abgestellt wird, ist auch sein Enthusiasmus für 
das Heilverfahren verschwunden. 

Merkwürdig ist die Erscheinung, daß der Patient seinen wahren 
Namen abwirft, ganz sinn- und zwecklos, aber mit eiserner Konsequenz an 
einem zweiten respektive dritten festhält. Damit steht der Kasus durchaus 
nicht vereinzelt da; selbst unter den hier mitgeteilten Fällen von Hysterie 
sind Falschmeldungen zu verzeichnen; eine ziemliche Zahl hat wenigstens 
ihren Namen abgeworfen und kommt als N. N., unbekannte Frauensperson in 
die Klinik. Man darf das vielleicht symbolisch nehmen. Mit dem Namen 
ist die bisherige Persönlichkeit, alle ihre Beziehungen zur Außenwelt als 
Erinnerungskomplex untrennbar verbunden, im Klange des Namens gewisser- 
maßen verdichtet. Nun stellen die Hysterischen eine neue Persönlichkeit dar 
und bekunden das auch nach außen durch den neuen Namen. Wunsch nach 
Abwechslung, Koketterie, die Sucht aufzufallen wären oberflächlichere Mo- 
tivierungen des Phänomens. Sehr einfach ist es natürlich, wenn im Dämmer- 
zustand der Negativismus, der Wunsch nichts zu wissen, so weit führt, daß 
auch der eigene Name entfallen zu sein scheint. 

Noch zu anderen Erwägungen gibt der eben vorgeführte Patient Anlaß. 
Derselbe erfindet nämlich ganz frei eine Ätiologie seines Leidens im Sinne 
einer schweren Gemütsbewegung, genau entsprechend der allgemein herr- 
schenden Laienvorstellung, daß eine Geisteskrankheit nur aus einem Gemüts- 
kummer hervorgehen könne. Tatsächlich hat hier nie ein psychisches Trauma 
stattgefunden; ein Lebenskünstler wie dieser Bursche ließe sieh durch keine 
Widrigkeit des Schicksals um seine gute Laune bringen. Er produziert eine 
romantische Liebesgesohichte, deren Heldin nicht existiert und während er 
mit jedem weiblichen Wesen anbandelt, das in seine Nähe kommt, deklamiert 
er pathetisch von seinem Herzenskummer. Ti'otzdem man ihn bereits kennt, bei 
späteren Aufnahmen, drängt er immer noch dieses Motiv entgegen. Er predigt 
eindringlich die Lehre, daß man den Hysterischen nicht ohne weiteres glauben darf. 

Schließlich sei auf das Weibische seines ganzen Wesens aufmerksam 
gemacht, die Tränenausbrüche, die Eitelkeit, die sich bis zu läppischem Auf- 
putz und Schmuck versteigt. Die ganze Krankengeschichte wäre hier zu 
wiederholen. Sie ist eine Sammlung der schönsten Exzentrizitäten. Trotz seiner 
Jugend und Arbeitsfähigkeit mißglückt jeder Entlassungsversuch. Patient kommt 
umgehend wieder in die Irrenanstalt zurück. 



IV. Ätiologie. 

über die Ursachen, welche zum Ausbruche der Hysterie führen, 
sind die verschiedensten Meinungen geäußert worden. In alten Zeiten 
glaubte man, daß Wanderungen des Uterus die Hysterie schaffen; 
noch Romberg erklärte sie für eine genitale Reflexneurose und selbst 
in neuester Zeit halten Gynäkologen an dieser Anschauung fest: was 
längst tiberwunden schien, kehrt, freilich in modernisierter Form, wieder 
und fordert zu einer Stellungnahme heraus. Alle fremden und eigenen 
Erfahrungen über die Entstehungsbedingungen der Hysterie, speziell der 
hysterischen Geistesstörungen sollen, soweit sie einer strengeren Kritik 
standhalten hier zusammengefaßt und nach der üblichen Einteilung, in 
prädisponierende und determinierende gesondert besprochen werden. 

Was einmal das Alter betrifft, so findet sich die Hysterie zu allen 
Zeiten menschlicher Existenz, die beiden Endpunkte vielleicht ausge- 
nommen. Eine Hysterie der Säuglinge (Chaumier, Ollivier, Magitot) 
ist höchst zweifelhaft, hysterische Geistesstörungen in dieser Zeit sind 
undenkbar; sie erfordern e'.ne gewisse Höhenentwicklung der psychischen 
Prozesse. Eine Hysterie bei Tieren iHigier, Lepinay) mag es allerdings 
80 gut geben, wie eine Verstellung in der Tierwelt, d. h. man be- 
obachtet, daß ein Tier eine Rolle spielt, die seiner Individualität sonst 
fremd ist. — Die ersten sicheren Fälle von Hysterie triffl man an im 
Alter von 2, 3 respektive 4 und 5 Jahren, häufiger schon im folgenden 
Quinquenniam; mit besonderer Vorliebe treten offenkundige hysterische 
Erscheinungen um die Zeit der Geschlechtsreife ein — ein Umstand, der 
die Annahme kausaler Beziehungen zwischen Sexualorganen oder Sexual- 
funktion und Hysterie nahelegte. Aber auch im 4., 5. und 6. Lebens- 
jahrzehnte entwickeln sich hysterische Psychosen zum ersten Male. 
Landouzy und de Fleury borit^hten über senile Hysterie, Dnpre sah 
sie bei einem Greise von 74 Jahren. 

Für die Erkrankung an Hysterie wird der semitischen Rasse eine 
größv^re Prädisposition zugesehrieben, ohne daß die Erfahrungen an der 
Klinik dies augenfällig bestätigen würden; nur in den Sanatorien trifft 
man ungewöhnlich viele und spezifisch schwere Formen von Hysterie bei 
Jüdinnen; indessen ist an diesen Orten aus mehrfachen Gründen die 
Zahl der Judinnen an und für sich überwiegend. 

AVeitgehende Verschiedenheiten bestehen im Vorkommen der Hysterie 
nach Zeiten, Ländern und Völkern. Große hysterische Epidemien in 



198 

inniger Beziehung zum religiösen Kult gehören wohl der Vergangenheit 
an. Die Zeit, welche eine exakte Diagnose ermöglicht, ist noch zu 
kurz, um über Schwankungen in der Häufigkeit des Auftretens, über eine 
eventuelle Frequenzzunahme der Hysterie etwas auszusagen. Es wird 
behauptet, daß sie bei Kindern am Lande oder in kleinen Städtchen häufiger 
sei als in der Großstadt, während sie bei Erwachsenen weniger in der Land- 
bevölkerung, als hauptsächlich in der Großstadt ihr Frequenzmaximuni 
aufweise. Der Wiener Boden ist der Entwicklung hysterischer Geistes- 
störungen nicht ungünstig; allerdings betriflTt ein Teil der beobachteten 
Fälle Individuen, die erst kürzlich aus der Provinz zugereist waren, 
Deutsche, Slawen, Italiener und Orientalen. Vielleicht ist mit Rück- 
sicht auf dieses zusammengewürfelte Material der Formenreichtum so 
beträchtlich, die Zahl der Erkrankungen so groß, wenn beides auch nicht 
entfernt an die Pariser Hysterie heranreicht. 

Es ist bezeichnend und hat unzweifelhaft eine gewisse Richtung der 
sexuellen Theorien gefördert, daß an Hysterie das weibliche Geschlecht 
außerordentlich viel häufiger erkrankt als das männliche. Schon die vor- 
geführten Krankengeschichten überraschen dadurch, daß alle Typen 
hysterischer Geistesstörung an Frauen beobachtet wurden und nur ge- 
legentlich ein Mann zur Hlustration des Gesagten herangezogen werden 
konnte. Dieser Geschlechtsunterschied tritt aber nicht unabhängig von 
anderen Faktoren auf, zunächst einmal vom Alter. Die weitaus größere 
Neigung des weiblichen Geschlechtes zu Hysterie, welche auch die deutschen 
und englischen Autoren registrieren, wächst sich erst allmählich heraus. 
Bis zum 12. Lebensjahre erkranken ungeföhr gleich viel Knaben und 
Mädchen, ja manche kleine Statistik erweist sogar ein Überwiegen der 
Knaben; dann ändert sich dieses Verhältnis rapid. Im folgenden sind die 
Fälle nach Alter und Geschlecht übersichtlich zusammengestellt, die im 
Zeiträume vom 1. Oktober 1902 bis 31. März 1904 am hiesigen Beob- 
achtungszimmer zur Aufnahme gelangten (dazu die im Buche verwerteten 
klinischen Anstaltspatienten). Die wiederholt aufgenommenen sind dabei 
nur einmal gezählt, und zwar mit dem Alter der ersten Anstaltsbedürftigkcit: 



Alter 


männlich 


weiblich 


Zusammen 


5 10 




1 


1 


11 15 


1 


4 


5 


16-20 


4 


37 


41 


21 25 


11 


42 


53 


26 30 


6 


19 


25 


31 35 


8 


9 


17 


36 40 


2 


6 


8 


41 45 


2 


9 


11 


46 50 


1 


4 





ol — oo 




1 


1 


56 60 




2 


2 



Summe 35 134 169 



199 

Das Maximum der Aufnahmen fällt also in das Dezennium vom 
16. bis zum 25. Lebensjahre. Auf die einzelnen Jahrgänge verteilen sich hier: 



uhre 


Aufnahiucn 


16 


5 


17 


U 


18 


7 


19 


13 


20 


7 


21 


12 


22 


17 


23 


8 


24 


7 


25 


9 



Somit liegt im 22. Lebensjahre der Gipfel der Erkrankungshäufig- 
keit. Das Durchschnittsalter, in welchem zuerst Anstaltsbedürftigkeit auf- 
trat, berechnet sich zu 26 Jahren; die Hysterie natürlich wurde schon 
früher diagnostizierbar. Leider versagt die Statistik; in genau erhobenen 
Anamnesen findet man bis in die frühe Kindheit zurückreichend Charakter- 
abnormitäten und einzelne hysteriforme Erscheinungen, wie noch besprochen 
werden soll. 

Das Verhältnis männlich zu weiblich beträgt in obiger Zusammen- 
stellung 35 : 134 = 1 M. : 38 F. Während dasselbe in den neueren 
deutschen Statistiken zwischen 1 M. : 5 F. (Jolly) und 1 M. : 17 F. (Bauer- 
Löwenfeld) schwankt, — ersterem Verhältnisse kommen die meisten 
Zustammenstellungen recht nahe — überraschen die Ziffern der französischen 
Autoren. Die Schule Charcots zählt durchschnittlich 1 M. : 2 F., Marie 
(umgerechnet) 1 M. : 0*65 F., Souques gar nur 1 M. : 0*5 F.; d. h. männ- 
liche Hysterie doppelt so häufig als weibliche. Die Wiener Zahlen für 
die hvsterischen Geisteskranken stehen zwischen denen der Deutschen 
und Franzosen. Die extrem abweichenden Resultate der beiden letzt- 
genannten Autoren aber bedürfen einer Erklärung, die nur in dem anders- 
artigen Untersuchungsmaterial zu finden ist, Es wurden Männer der tiefsten 
Gesellschaftsschichten, Arbeiter und deklassierte Individuen, Frauen von 
etwas höherem sozialem Niveau gegenübergestellt; speziell die ganz 
schweren Fälle von Hysterie seien da bei Männern noch unverhältnis- 
mäßig viel häufiger als bei Weibern. Man sieht daraus aufs schlagendste, 
wievielerlei Faktoren und in welchem Ausmaße dieselben Form und 
Häufigkeit der Hysterie beeinflussen. 

Was den Stand betrifft, so erkranken ledige Personen häufiger an 
Hysterie, doch wird hier eine kausale Beziehung wohl nur vorgetäuscht 
Die männlichen Degenerierten bringen es zu keiner Lebensstellung, 
heiraten demgemäß nicht, und von jugendlichen weiblichen Personen, 
namentlich solchen, welche in den öffentlichen Spitälern zur Aufnahme 
kommen, ist der größte Teil unverheiratet, abgesehen davon, daß ein 



200 

Mädchen, welches an hysterischen Geistesstörungen leidet, jeden Bewerber 
abschreckt. Tatsächlich findet sich in den Krankengeschichten hin und 
wieder der Vermerk, daß ein Liebhaber, durch die ungezügelten Aus- 
brüche des hysterischen Charakters betroffen, sich zurückzieht, * worauf 
die Psychose mit neuer Gewalt einsetzt. Die Ehe bietet aber keinen 
Schutz vor dem Ausbruche hysterischer Erscheinungen; im Sanatorium 
überwiegen die hysterischen Frauen; bei diesen werden die schwersten 
Fälle dieser Erkrankung beobachtet. 

Weiters hat man die gesellschaftlichen Verhältnisse angeschuldigt, 
den Zwang der Konvention, der Heuchelei, den steten Druck, unter 
welchem die modernen Menschen leben: alles Schädlichkeiten, welche 
die weibliche Hälfte der Menschheit härter belasten. Zu der ökonomischen 
und sozialen Abhängigkeit kommen hier noch die Fesseln der Sitte, 
welche kein Ausleben gestatten wie beim Manne. Andere Autoren machen 
ganz allgemein die verfeinerte Kultur mit der steigenden Inanspruch- 
nahme des Nervensystems, Steigerung der Genußsucht, die immer raffi- 
niertere Reizmittel verlangt, für das Auftreten der Psychoueurose verant- 
wortlich, um so mehr, als die großen Ideen, die fanatische Begeisterung 
früherer Jahrhunderte, die Wiege so vieler hysterischer Epidemien, heut- 
zutage fehlen und jedes Individuum aus sich heraus erkranken muß. 
Unmittelbar läßt sich der Einfluß des Milieus, der Unigel)ung nur dort 
erkennen, wo die übergroße Beachtung und Teilnahme, die ein k(')rperliche8 
Leiden findet, eine Hysterie gewissermaßen heranzüchtet. 

Über die Beziehungen der Erkrankung zum Berufsleben kann man 
leicht irregeführt werden, da den öflentlichen Irrenanstalten fast aus- 
schließlich Frauenspersonen in dienenden Stellungen zuw^achsen. Doch 
trifft man hysterische Psychosen ebensogut bei Haustöchtern ohne Beruf, 
nicht gar so selten bei Prostituierten. Nach Wernicke sollen die Gou- 
vernanten regelmäßig der Hysterie verfallen. Vorwiegend erliegen ihr 
Personen, denen ihr Beruf zu anstrengend ist, die er nicht freut, Unter- 
gebene der niedrigsten Kangsklassen, welche vielfachen Kränkungen, 
Mißhelligkeiten ausgesetzt sind. Doch kommt die Hysterie in schweren 
Zustandsbildern auch bei den nicht arbeitenden Frauen der sogenannten 
besten Gesellschaft vor. 

Von den individuell prädisponierenden Ursachen wäre an erster 
Stelle die Heredität zu nennen. Beim Durchblättern der Kranken- 
geschichten von Hysterikern fällt zu allermeist die Erwähnung einer 
degenerierten psychopathischen Familie auf. Bricjuet, welcher die erste 
sorgfältige Statistik lieferte, sagt: Individuen, welche von hysterischen 
Eltern stammen, sind 12mal mehr zu Hysterie prädisponiert als andere; 
für die Tochter einer hysterischen Mutter beträgt die Wahrscheinlichkeit, 
in gleicher Weise zu erkranken, mehr als Sv,; je schwerer die Hysterie der 
Eltern, um so gefährdeter die Kinder. Charcot verzeichnet in min- 



201 

destens 40 Prozent, Kraepelin in 70—80 Prozent der Falle schwere 
erbliche Belastung; Alkoholismus der Eltern muß mitgezählt werden. 

Wie bei Schwachsinnszuständen hört man in der Anamnese von 
Hysterischen über Geburtsschädlichkeiten oder vorzeitigen Geburtsakt 
berichten — eine auffallende Zahl von Siebenmonatkindern ist unter den 
Kranken eigener Beobachtung. Ebenso gelten als prädisponierende Momente 
Kopftraumen in früher Jugend, die allerdings gewiß keine ausschließliche 
Bedeutung haben, weil sie gar zu oft sich ereignen, ohne daß eine 
hysterische oder psychopathische Konstitution nachfolgte; eher trifft das 
zu für infantile Hirnerkrankungen, die als Fraisen sich zu äußern pflegen. 

Als Zeichen von Hysterie finden sich an den Individuen, die später 
manifest erkranken, allerlei Eigentümlichkeiten: Eigensinn, Unstetigkeit, 
SchW' atzsucht, Neigung zu prahlen und zu schwindeln; übertriebene 
Frömmelei, große Gemütsreizbarkeit mit exzessiven Zornausbrüchen, un- 
vermittelter Stimmungswechsel, Anlage zur Schwärmerei, also ein hyste- 
rischer Charakter in nuce. Dazu kommen krankhafte Furchtsamkeit, 
Insomnie, Traumhalluzinationen, Wachträumen, nächtliches Aufschreien, 
Delirien bei geringem Fieber. Eine ziemliche Zahl von Hysterischen bietet 
Beschränktheit, selbst Imbezillität; nicht wenige geraten auch mit der 
sozialen Ordnung in Konflikt, es sind konstitutionell minderwertige 
Persönlichkeiten, die declassös der Franzosen. Anderemale aber erkranken 
an Hvsterie intellektuell und moralisch sehr hochstehende, überaus fein- 
fühlige, verletzliche Individuen, gegen deren Bezeichnung als Entartete 
das Sprachgeftihl sich sträubt, wenngleich die Empfindsamkeit, Sentimen- 
talität, die bis zur Selbstquälerei gesteigerte Gewissenhaftigkeit und 
Skrupulosität sie doch aus der Schar der normalen Menschen herausheben 
und wenigstens die Bezeichnung als „Abgeartete" nahelegen. 

Auch körperlich haben die Hysterischen einiges Bemerkenswerte. 
Man sieht in großer Zahl kongenitale Anomalien, die sogenannten 
Degenerationszeichen. Recht allgemein bekannt sind die schwimmenden 
neuropathischen Augen. Viele Hysterische zeigen Pupillendiff*erenz, die 
im Zustande der Erregung auffallender wird. Die Pupillen spielen über- 
haupt außergewöhnlich lebhaft, Zunge und Finger zittern, die tiefen 
Reflexe an den Extremitäten sind gesteigert, manchmal bis zum Klonus. 
Ganz besonders fallen vasomotorische Störungen auf, die Neigung zu 
ausgedehntem Erröten, so daß bei jedem Aft'ekt, z. B. Annäherung der 
ärztlichen Visite, nicht nur Ohren und Gesicht, sondern auch die oberen 
Thoraxgegenden rot aufflammen; anderemale sieht man einzelne Flecken, 
die rasch wieder vergehen oder lange bestehen bleiben; aus den Nadel- 
stichen bei der Sensibilitätsprüfung wachsen Quaddeln hervor. Es gibt 
aber auch sehr blasse Patienten mit kalten Händen, zyanotischen Beinen: 
alles Störungen, die einer angeborenen abnormen Anlage entsprechen. 

Daß eine fehlerhafte Erziehung zu der Erkrankung disponiert, 



202 

ist eigentlich selbstverstilndlieh. Im kindlichen Seelenleben liegen ja die 
Keime zur Hysterie; der Hang zur Träumerei, zu schrankenlosem Spiel 
der Phantasie, zur Verstellung und Lüge, zum weichlichen Sichgeheu- 
lassen. Wenn diesen Neigungen nicht energisch entgegengetreten wird, 
wenn die Kleinen obendrein das Beispiel hysterischen Charakters tag- 
täglich vor Augen haben, dann kann schon durch den bei Kindern so 
geläufigen Mechanismus der Nachahmung eine Hysterie herauswachsen. 
Bei näherem Einblicke in manche Familie gewinnt man die Überzeugung, 
daiJ mit Naturnotwendigkeit die Hysterie fortgepflanzt wird und aggraviert; 
sie liegt da gewissermaßen in der Luft. 

Im späteren Leben spielen allerlei Schädlichkeiten eine Rolle, 
zunächst einmal Vergiftungen. 

Chronischer Alkoholismus in der Aszendenz bedeutet eine hereditäre 
Prädisposition. Er schädigt auch das Individuum selbst, insofern er die 
Widerstandskraft des Nervensystems, die soziale Stellung untergräbt; 
es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die Hysterie in den 
später unhaltbaren Positionen als rettender Engel einspringen muß. Unter 
Umständen kombiniert sich Alkohol mit anderweitigen Schädlichkeiten. Es 
ist w^ohl kein Zufall, daß gerade unter den besonders rührseligen Patienten 
solche mit alkoholischen Antezedentien sich befinden. Alle Tage beobachtet 
man, wie gemütsweich die Säufer sind, wie ein Paar ernste Worte de» 
Arztes genügen, um selbst Männern die Tränen aus den Augen zu locken. 
Dieses leichte Ansprechen der Aff^ekte scheint in Zusammenhang zu stehen 
mit der Wirkung der Gifte des chronischen Alkoholismus und eine Brücke 
zu bilden zur Cbererregbarkeit der affektiven Sphäre bei Hysterie. 

Als determinierendes Moment spielt dann der akute Alkoholismus 
eine KoUe; häufig löst ein einmaliger Alkoholexzeß einen hysterischen 
Anfall aus. Die Hysterie ist schon vorhanden; der Alkohol stellt ein 
feines Reagens auf dieselbe dar. Namentlich die traumatische Hysterie 
wird durch Alkohol akut gesteigert Salmer on betont die Wichtigkeit 
des Absynths in der Ätiologie der Erkrankung. 

Hysterie und hysterieähnliche Zustände wurden ferner beschrieben 
bei Vergiftungen mit Blei, Quecksilber, Schwefelkohlenstoff (Köster), 
Tabak, Leuchtgas (Behr), Kampfer (Planat), Chloroform (Michaud 
und Oelkers), Bittermandelessenz (Brugia). Alle diese Fälle gestatten 
eine einheitliche Auffassung, die im späteren noch auszuführen ist* 
Allgemein wird davor gewarnt, Hysterischen Morphium zu geben und 
mit Recht: Insofern es sich um degenerativ, süchtig veranlagte Personen 
handelt, besteht immer die Gefahr des chronischen Morphinismus, 
der dann auf die Hysterie zurückwirkt. Hier interessiert aber etwas 
anderes. Schon Neveu-Dewtrol betont, daß bei der Morphiumentziehung 
hysterische Erscheinungen auftreten. Ganz regelmäßig ist zu sehen, 
daß die Leute in der erzwungenen Morphiumabstinenz sich benehmen 



203 

wie Hysteriker, theatralische Affcktaasbrtiche mit Haarausraufen, Selbst- 
morddrohungen, fast delirante Aufregungszustände durchmachen; es kann 
eine vorher latente Hysterie um so eher manifest werden. 

Minder bekannt ist vielleicht, daß auch in der Abstinenz nach 
anderen Nervinis die Psychoneurose ausbricht, so bei Kokain. Da an der 
Klinik ein außerordentlich instruktiver Fall beobachtet werden konnte, 
bei welchem die allerersten Erscheinungen der Hysterie aus der Kokain- 
psychose allmählich hervorgehen und die Symptomatologie durch die 
Ätiologie bestimmt wird, so sei der Kasus hier eingereiht. 

Beobachtung XXXIX. 

Anna V., 35 Jahre, ledig, katholisch, Wärterin, kommt am 7. März 1902 
an die Klinik. 

Zwei Geschwister hatten Fraisen; die älteste Schwester ist sehr nervös, 
schreckhaft. Als Kind war Patientin ängstlich, emotiv, zitterte leicht. Im 
Alter von 16 Jahren Erscheinungen eines Lungenleidens; im 21. Jahre ein 
Partus. Anfangs März 1902 fiel an der Kranken eine gewisse Bewegungsunruhe 
auf; sie kämmte sich immerfort und riß an den Haaren. Man entdeckt, daß 
sie Kokainistin ist, weshalb sie dem Beobachtungszimmer überstellt wird. 

Patientin hat im Zopfe ein Fläschchen mit Kokainlösung und eine 
Injektionsspritze versteckt; läßt sich mit dem Arzt zunächst in eine geordnete 
Konversation ein. Sie habe in letzter Zeit täglich eine Anzahl Spritzen, einer 
207o(-) Kokainiösung injiziert, sonst kein Gift genommen. Anläßlich der 
körperlichen Untersuchung wird sie sehr erregt, protestiert, schreit, kratzt und 
beißt, ist nicht zu beruhigen. 

8. März. Heute früh, nach fast schlafloser Nacht unruhig, abweisend; 
später heiter, kindisch, mitteilsam; motiviert die gestrige Szene damit, daß sie 
die Untersuchung wegen Ungeziefers und Würmern am Körper verweigern 
mußte; sie hatte die Empfindung, sehr schmutzig zu sein und schämte sich vor 
den Ärzten. Auf der ganzen Hautfläche, auch unter den NUgeln und im Haar 
sitzen kleine schwarze Tiere, gehen beständig auf und ab, können trotz aller 
Bemühungen nicht eingefangen, nicht abgestreift werden. In den Augen spüre 
sie Stechen, die Zunge sei auch mit solchen Insekten förmlich überzogen 
gewesen und als sie spuckte, habe sie die kleinen Tiere von ihrem Sputum 
weglaufen gesehen. Dieselben Empfindungen (taktile und optische) auch am 
Mons Yeneris und am Anus. Auf dem Boden erblicke sie mehrere ähnliche, 
jedoch etwas größere, schattenartige, schwarze Tiere und dunkle Flecken, wie 
von Fett; am Plafond bewegliche größere Gestalten. Früher habe sie in ihrem 
Zimmer öfters schwarze Ratten und Mäuse gesehen, die sie mit einem Besen 
erschlagen wollte, die aber immer zurückkehrten. In der Hauptallee des 
Spitalgartens hatte sie einmal große Angst vor einer wilden Katze, welche 
sie anstarrte. Patientin fühlte sich beobachtet, glaubte immer, daß die Um- 
gebung das Ungeziefer an ihrem Körper wahrnehmen könne, sie trug Tücher 
um Hals und Nacken, wo die Tiere am reichlichsten umherliefen, sie griff 
häufig zum Spiegel, um ihr Haar zu betrachten, sah auch im Reflexbilde die 
kleinen Tiere und mußte sich daher so häufig kämmen, zum Teile sogar ihre 
Haare ausreißen. 

Seit Jahren habe sie sich Morphium injiziert und seit September vorigen 
Jahres (?), um ihren Morphinismus zu behandeln, zum Kokain gegriffen. Ohne 
Injektion habe sie immer Kopfdruck, Angst, ein Gefühl der Schwere im 



204 

ganzen Körper, Unföhigkeit zu jeder Arbeit und Übelsein gespUrt; Erscheinungen 
die — allerdings nur für ganz kurz — nach einer Kokaininjektion ver- 
schwanden. In letzter Zeit totale Appetitlosigkeit; das Kokain habe ihr Essen 
und Trinken ersetzt und sie zur gewohnten Arbeit befähigt. 

Die Außen- und besonders die Innenfläche beider Oberschenkel ist mit 
Injektionsnarben, Blutunterlaufungen und Pigmentierungen bedeckt; an der 
rechten Schienbeinkante eine guldengroße Verbrennungsnarbe. (Patientin begoß 
sich im Bade mit lieißem Wasser, um die Insekten zu töten!) 

Bald nach der ärztlichen Exploration wird die Kranke erregt, fUngt an 
zu schreien, um sich zu hauen, doch scheint das Bewußtsein nicht weiter 
getrübt. 

9. März. Nachts einige Stunden Schlaf. Patientin ist zeitweilig geordnet, 
gibt dann zusammenhängende Auskunft über ihre Parästhesien und Halluzinationen. 
Zeitweise jedoch sehr erregt, unzugänglich. 

Abends: Heiter, geht halb angezogen am Korridor auf und ab, singt, 
macht dem Arzte eine Liebeserklärung, umarmt ihn, wirft sich auf das Bett, 
zeigt ostentativ ihre Brust, schwärmt von platonischer Liebe, vom Frühling, 
wird sehr sentimental und pathetisch, erzählt Bruchstücke aus Roseggers 
Novellen. Nach Kinderart fragt sie, ob sie die Klinik gleich verlassen könne, 
ihr früherer Vorgesetzter möge sofort kommen, sie zu befreien; sie sei nicht 
närrisch. Jede Bitte wiederholt sie unzähligemale in zärtlichem Tone; . läßt 
sich nicht unterbrechen, singt und spricht abwechselnd, begleitet ihre Äußerungen 
mit lebhafter, ausgesprochen kindischer Mimik. Sieht eine schlangenartige, 
schwarze, sich lebhaft bewegende Erscheinung auf der Wand. Während ihrer 
Spaziergänge auf dem Korridor blickt sie gegen die Fenster, behauptet den 
früheren Assistenten zu sehen. 

10. März. Euphorisch, etwas lärmend. 

20. März. Läppisch, ausgelassen, tänzelt herum, legt sich auf den Fuß- 
boden, wiederholt immer die Worte: es ist doch zum Lachen. 

3L März. Allgemeine motorische Unruhe, spricht und liest laut in aflfekt- 
voUem Tone, läuft dazwischen herum, schreibt einen geordneten Brief, in 
welchem sie um Beschäftigung bittet. 

4. April. Morgens noch wie sonst. Dann plötzlich stumm, bei Fragen 
unwillig, verkehrt mit der Umgebung nur schriftlich. 

6. April. Nach energischer Zurückweisung ihrer Zettel redet Patientin 
wieder. 

19. April. Duzt den Arz' heute wie schon gelegentlich, obwohl sie ihn 
sicher nicht verkennt; beschäftigt sich auf der Abteilung. 

27. Mai. Seit gestern Abend völlig entkleidet, wälzt sich am Boden 
herum, stöhnt und schreit; sie imitiert aufs genaueste eine Patientin der 
gleichen Abteilung (Chorea gravidarum), 

6. Juni. Seit 2 Tagen still, ruhig, zu Bett, gcriert sich wie eine 
Schwerkranke; spricht außerordentlich langsam, gedehnt und leise, klagt öfcers 
über Kopfschmerz und Schwächegefühl. 

19. Juni. Die ganze Zeit über zu Bett, macht einen müden, schläfrigen 
Eindruck. Dabei ist sie stets vollständig orientiert und hat gute Merkfähigkeit. 
Wiewohl sie sich hie und da mit Handarbeiten beschäftigt, zeigt Patientin 
dem Arzt gerne in etwas demonstrativer Weise ihre Denk-, Sprech-, Arbeits- 
unfähigkeit, klagt selbst darüber. 

20. Juni. Läßt heute nachts Stuhl ins Bett, nachdem sie gestern der 
Wärterin angekündigt hatte, es werde noch so weit mit ihr kommen. 



205 

30. JiiDi. Die Kranke wälzt sich heute während der Visite im Bette 
iierum, zappelt mit den Extremitäten und rauft sich einige Haare aus. Nachher 
erklärt sie auf Fragen „das komme so"^. 

August. Raucht in der letzten Zeit sehr viel Zigaretten; sonst un- 
verändert der Irrenanstalt tibergeben. Mangelhafte Krankheitseinsicht, kann 
sich die Vorgänge am Beobachtungszimmer nicht erklären, hält sich gegen- 
wärtig für gesund, zeigt allerdings noch Sonderbarkeiten, weicht Fragen aus, 
legt den Kopf auf den Tisch und meint, man brauche nicht alles zu sagen; 
fragt unvermittelt, ob der Arzt durch Blicke ihre Gedanken erraten wolle. 

4. September. Patientin kommt unwillig zum Examen, schaut im 
Zimmer herum, meint gereizt, sie brauche den Examinierenden nicht anzusehen, 
er sei nicht so interessant; als der Arzt weiter fragt, springt sie vom Sessel 
auf, tut, als ob ihr alles schon ekelhatt wäre, „man wisse ohnedies alles". 
Dann ergreift sie selbst das Wort, deutet wie absichtlich an, sie möchte wieder 
Morphium nehmen, damit könne sie sich alle Sorgen vertreiben. Sie wolle als 
Wärterin ins allgemeine Krankenhaus zurück, habe aber gehört, daß sie diese 
Stelle nicht mehr bekomme, kränke sich deshalb, schlafe darum auch in der 
letzten Zeit schlechter. 

Im folgenden leicht reizbar, gibt gerne spitze Antworten, sonst un- 
uufnUlig. Am 

4. Oktober geheilt entlassen. 

Patientin erscheint im Krankenhause aufgeregt, äußert Selbstmordideen. 
Heim Versuche, sie als Pflegerin zuzuteilen, gebärdet sie sich nach einigen 
Stunden schon derart, daß man sie in die Reserve setzen muß. Am 

17. Oktober brachte sie sich in ihrer Dienstwohnung am linken Vorderarm 
eine Schnittverletzung bei; von der chirurgischen Abteilung wurde sie wegen 
ihrer Unfiigsamkeit aufs Beobachtungszimmer transferiert. Sie kommt hier 
lärmend an, beruhigt sich aber sehr bald. 

18. Oktober. Zeitlich und örtlich orientiert, begrüßt stürmisch die ihr 
bekannten Ärzte, läuft im Zimmer hin und her, zeigt lebhaftes Mienenspiel, 
gestikuliert theatralisch, arbeitet mit ihren aufgelösten Haaren herum. Sie 
spricht nahezu unausgesetzt, ist sich ihrer Situation vollkommen bewußt. Sie 
schimpft, macht Witze, verlangt nach Zigaretten etc. Die Agitationen und der 
Affekt stehen mit dem Inhalt des Geäußerten nur wenig in Zusammenhang; 
man gewinnt den Eindruck, als wäre vieles gemacht. 

20. Oktober. Schreit, singt, duldet absolut keine Kleidung, demoliert 
das Gitterbett; ungenügende Nahrungsaufnahme. 

28. Oktober. Patientin, die trotz ihrer W^itze, z. B. Schiller sei ihr 
Schwager, stets vollkommen die Lage beherrscht, ist außerhalb der Visite 
manchmal ganz ruhig, die Visite hat immer eine psychomotorische Erregung 
zur Folge. Besonders lebhaft sind die Gestikulationen der linken oberen 
Extremität, die, zum Kopfe gebracht, dann in weitem Bogen durch die Luft 
'geführt wird. Die Kranke fährt sich wie kämmend durch die Haare, wischt 
oder wehrt ab. Zeitweise beobachtet man auch Beschleunigung und Vertiefung 
der Atmung. Einmal große Szene; sie wälzt sich am Boden herum, will sich 
die Kleider herunterreißen. 

6. November. Gelegentlich des Eintreffens ihres früheren Assistenten 
außerordentliche Affektsteigerung. Patientin eilt im Sturmschritt auf und ab, 
schimpft „der Hund, der Elende"; wird durch jeden Zuspruch nur noch 
erregter, fetzt ihr Gewand herunter, fällt endlich keuchend, wie bewußtlos, 
über ihr Bett. 



206 

22. November. Die ganze Zeit über sehr anspruchsvoll; fröhnt mit 
Leidenschaft dem Rauchen^ spricht von den Glücksempfindungen, die der 
Kokaininjektion folgten. Wohl im Zusammenhang damit stellt sie metaphysische 
Spekulationen an, fragt, was das Glück sei? Impressionabel, leicht verletzlich; 
über Innenvorgänge zurückhaltend, sonst zu Gespräch und Unterhaltung sehr 
geneigt, witzig. Am 

25. November neuerlich in die Irrenanstalt transferiert, ist sie derart 
unruhig, daß sie auf die Tobabteilung versetzt werden muß. Sie schreit, 
klatscht in die Hände, rüttelt am Gitter, wirft sich wild im Bette herum; 
typische Attitudes passionnelles. Nahrungsaufnahme und Schlaf ungestört. 

27. November. Patientin ergeht sich in theatralisch-pathetischen Gesten, 
vollführt in raschem Wechsel mit den Armen eigentümlich schleudernde 
Bewegungen, erklärt sich ftlr ganz gesund; die Leute haken sie für närrisch, 
hier im Irrenhause werde sie es gewiß werden. 

3. Dezember. Merklich ruhiger, beschimpft aber die Ärzte, wenn ihre 
Wünsche um Kostaufbesserung nicht erfüllt werden. 

Im Laufe des Dezember schreitet die Beruhigung fort; Patientin be- 
schäftigt sich, ist außerhalb des Bettes haltbar, freundlich, zugänglich. Die 
oben erwähnten Schleuderbewegungen werden zur Zeit der Visite noch 
fortgesetzt. 

1. Jänner 1903. Ungemein anspruchsvoll, empfindlich; die kleinsten 
Anlässe lösen typisch hysterische Anfälle mit Are de cercle aus, die durch 
Druck auf die Ovarialgegend meist leicht coupiert werden können. Pathetisch- 
affektiertes Wesen; gefällt sich in Selbstmordäußerungen; verlangt als Lektüre 
Faust oder dergleichen. 

Gelegentlich eines Besuches in der Irrenanstalt traf ich die Patientin 
auf der Tobabteilung philosophierend an; diesmal waren es Schöpfungsfragen, 
Betrachtungen über Werden und Vergehen, mit denen sie mich begrüßte. 

Eine hereditär belastete Person, die niemals etwas Hysterisches erkennen 
ließ, bis sie durch ihren Beruf zum Kokainmißbrauch verführt wird. Dem 
Gifte verdankt sie eine in Worten unfaßbare Euphorie, ein Glücksgefühl, aus 
dem sie plötzlich gerissen wird. Dazu kommen die Affekte, die von der 
Kokainpsychose ausgehen, und so entsteht ein eigenes Bild, das erst allmählich, 
aber immer deutlicher zur Hysterie wird; schließlich fehlen auch die großen 
konvulsiven Anfälle nicht mehr. Die Kranke, welche ihr Nachahmungstalent 
schon am 27. Mai bekundet hat, kopiert sich in der Hysterie gewissermaßen 
selbst. Die merkwürdigen Bewegungen der oberen Extremitäten, welche 
diesem Falle sein ganz individuelles Gepräge geben, führen unzweifelhaft auf 
die stete motorische Unruhe, das Wischen und Kämmen des Kokaindelirs 
zurück, es sind genau dieselben Innervationsim pulse; Patientin arbeitet noch 
immer mit ihren Haaren herum, wie sie dies anfangs getan, nur haben sich 
diese bewußten und willkürlichen Bewegungen in einen Automatismus verwandelt. 
Ebenso ist die zweite merkwürdige Erscheinung, die Neigung zur Metaphysik, 
zu philosophischen Betrachtungen der Kranken aufgezwungen durch den 
Vergleich zwischen einst und jetzt. Das Kokain und di^ damit assoziierte 
Glücksempfindung kann sie aus ihrem Gedächtnis nicht verdrängen; sie ist 
unzufrieden, unglücklich, nicht existenzfähig und diese drückende Mißstimmung 
entlädt sich in hysterischer Umformung, zum Teil in Heiterkeitsaffekten; 
ziemlich direkt aber auch in Betrachtungen über das Wesen der Glücks- 
«mpfindung. So atypisch der Kasus sonst scheint — er wäre in das Formen- 



207 

scliema der Hysterie nicht leicht einzureihen — so sicher ist <lie Diagnose 
imd die Genese der Erkrankung. Ausdrücklich soll betont werden, daß nach 
dem Charakter der psychischen Störungen die Diagnose Hysterie eher möglich 
war, als von der neurologischen Seite her; während die Psychose sehr aus- 
geprägt ist, kommen Stigmen erst spät und rudimentär zur Beobachtung; die 
klassischen Anfälle bestätigen nur mehr die gestellte Diagnose. 

Ein Delirium ausgesproeheu hysterischen Charakters, mit eigentüm- 
lichem Schluchzen verbunden, konnte an der Klinik auch einmal in der 
Abstinenz nach chronischem Paraldehydmißbrauch beobachtet werden. 

In allen diesen Fällen anseheinend toxischer Genese ist darauf hin- 
zuweisen, daß es sich unzweifelhaft um hysterisch prädisponierte, wenn 
nicht gar schon hysterische Individuen handelt, bei denen die Vergiftung 
oder die Abstinenz nur zum auslösenden Anlaß wird. Schon die Vielzahl 
und Verschiedenartigkeit der toxischen Agentien macht es höchst unwahr- 
scheinlich, daß sie selbst und unmittelbar die Hysterie schaifen; ganz 
akzidentell bricht diese gelegentlich aus nach normalen Dosen ge- 
bräuchlicher Medikamente, Paraldehyd, Amylenhydrat (Mihi', Phenacetin 
(Illowa). Beweisend ist es, wenn völlig die gleichen Krankheits- 
erscheinungen bei einem und demselben Individuum einmal durch ein 
psychisches Trauma, das anderenial durch eine Medikation, das drittemal 
etwa gar nur durch Streichen der Stirn hervorgerufen werden { veigl. 
Beobachtung VII). Zugeben kann man höchstens, daß die durch manche 
Gifte gesetzte Schädigung, namentlich eines in Entwicklung begriffenen 
Gehirnes der hysterischen Veranlagung in etwas entgegenarbeitet. 

Analoges läßt sich von einer andern Gruppe physischer Noxen 
behaupten. Schwere Krankheiten, die mit einim schlechten Ernährungs- 
zustande einhergehen, Anämie, Chlorose, dürften durch Herabsetzung der 
Widerstandskraft, Schwächung des Nervensystems die Disposition zur 
Erkrankung an Hysterie steigern. Diese wurde übrigens zu den ver- 
schiedensten körperlichen AflFektionen in Beziehung gebracht, namentlich 
zu akuten Infektionskrankheiten, wobei an eine kombinierte Aktion 
der StofTwechselstörung und der Bakterientoxine gedacht werden darf. 
So sah man Hysterie nach Typhus iFriedländer), Pneumonie, Scarlatina, 
Diphtherie, Meningitis cerebrospinalis (Roller), nach Influenza ( Joubioux», 
Kheumatismus acutus, Gonorrhöe; dann bei angeborenem oder in früher 
Jugend erworbenem Vitium cordis (Girandeau\ nach Syphilis (Fournier, 
JoUy, Kirkoff), Malaria, Denguefieber (Naef), nach Insolation (Leuch, 
Binswanger). Schon die Vielheit und Vielart dieser Ursachen beweist, 
daß es sich um die unmittelbare Ätiologie der Hysterie nicht handeln könne. 

Eine })esondere Bedeutung hat man seit altersher den Krankheiten 
der weiblichen Sexualorgane zugewiesen. In dem Maße, als die Psycho- 
genie immer erkennbarer zur Grundlage der Hysterie wurde, zogen die 
Gynäkologen von der ,, Vorstellungskrankheit" sich zurück; allerdings 



208 

nicht, ohne daß zeitweise doch ein neaier Vorstoß erfolgen würde; nur 
mit dem letzten und bestimmtesten sollen die folgenden Zeilen sieh 
beschäftigen. 

W. A. Freund sucht die Ursache der Hysterie in einer Erkrankun«: 
der Paramelrien. Die Ovarien läßt er beiseite, sie lösen nach ihm ganz 
andersartige Störungen aus; aber die Parametritis chronica atrophicans 
ziehe immer eine Hysterie nach sich. Freilich könne bei torpiden oder 
in jeder Beziehung widerstandskräftigen Personen jene Neurose in 
geringer Ex- und Intensität sich bemerkbar machen, sie fehle aber nie. 
Freund muß zugestehen, daß es Hysterie auch bei Personen gibt, an 
welchen man die chronische Parametritis nicht nachweisen kann; und 
diesem Teile seiner Behauptung wird alle Welt zustimmen. Den Geltungs- 
wert seines ersten Satzes stößt der Autor dadurch um, daß er den Begriff 
der Hysterie etwas eigenartig faßt. Da die Definitionen der Neurologen 
nicht vollkommen tibereinstimmen, schlägt Freund vor, hysterische Er- 
scheinungen nur diejenigen zu nennen, „welche erwiesenermaßen von 
den weiblichen Genitalien aus auf reflektorischem Wege an anderen 
Organen erregt werden'^. Abgesehen davon, daß es schwer halten dürfte, 
von Ausnahmsfällen abgesehen, den stringenten Beweis dieses reflektorischen 
Zusammenhanges zu erbringen, bewegt Freund sich da in einem Zirkel. 
Wenn man aber statt Hysterie Reflexneurosen setzt, so sind die Aus- 
führungen dieses Forschers der Beachtung weitester Kreise wert, um 
so mehr als er den bis nun so dunkeln Begriff des Reflexes anschaulich 
zergliedert und aus reichster Erfahrung durchaus maßvolle Folgerungen zieht. 

Wenn die Hysterie an eine Genitalerkrankung anschließt, bandelt 
es sich immer um Individuen, welche prädisponiert waren; nie erzeugt 
das Frauenleiden die Hvsterie, diese wird nur aus ihrem Schlummir 
geweckt, und zwar durch psychische Vermittlung. Gelegentlich meiner 
Arbeit „Zur Frage der kausalen Beziehungen zwischen Frauenleiden 
und Geisteskrankheiten"*) habe ich im speziellen Hinblick auf die 
hysterischen Psychosen folgendes ausgeführt: Das Bewußtsein an einer 
Genitalerkrankung zu leiden, muß um so schädlicher sein für das 
seelische Befinden, als die Sexualfunktion im Leben der Frau die 
Szene beherrscht. Wenn das geleugnet werden sollte, braucht man bei- 
spielsweise nur auf die so häufigen Beobachtungen zu verweisen, daß 
Sterilität oder selbst nur der unerfüllte Wunsch nach einem männlichen 
Deszendenten Verstimmungen auslöst, welche durch ihre Maßlosigkeit, 
ihre Dauer, die körperlichen Begleiterscheinungen als Psychose imponieren, 
daß das Gefühl weiblicher Unvollkommenheit in Fällen von Vaginismus 
z. B. zu Selbstmordversuchen treiben kann. Wenn der Arzt obendrein 
(Gelegenheit hat zu sehen, mit welch liebevoller Sorgfalt die Sexualfunktion 
von weiblichen Personen kontrolliert wird, wie, namentlich bei den so- 

*) Festschrift Chrobak, Wien 1903. 



209 

genannten besseren Ständen, jede Verfrtlhung der Menses um einen halben 
Tag, wie eine subjektiv empfundene, objektiv gar nicht nachweisbare 
Sekretion aus dem Genitale zu Selbstquälereien führt, welche knapp an 
der Grenze des Pathologischen stehen: dann wird man die psychische 
Vermittlung nicht so gering einschätzen. Diese und nur diese läßt begreiflich 
erscheinen, daß kein Parallelismus zwischen Schwere der Genitalerkrankung 
und Psychose besteht, daß eine Stenose des Orificium uteri, eine Retro- 
flexio, ein Cervixkatarrh hysterische Seelenstörungen veranlassen, während 
Blutungen, Säfteverluste, Schmerzen nur neurasthenische Zustandsbilder 
schaffen. Ganz tiberzeugend sprechen für die psychische Genese einer 
Reflexhysterie jene Fälle, bei welchen irgendeine Scheinoperation rein 
suggestiv einen glänzenden Heilerfolg erzielt. 

Man hat die Menses selbst unter den veranlassenden Momenten der 
Hysterie angefahrt. Tatsache ist, daß manche hysterische Frauen sich 
um diese Zeit besonders kritisch fühlen, daß pathologische Affektausbrüche^ 
Halluzinationen, gehäufte Anfälle oder sogar Geistes8tr)rung besonders, 
gern mit den Menses zusammentreffen. Doch muß das Wort Kausalität 
hier im weitesten Sinne genommen werden; nicht einmal in dem Falle, 
daß eine erste hysterische Geistesstörung im Anschluß an die Menses 
auftritt, kann man die letzteren verantwortlich machen; denn dieselben 
Frauen haben ihre Menses in kurzen Intervallen und jene Geistesstörung 
ist ihre erste und vielleicht einzige. Es scheint auch ungerechtfertigt 
anzunehmen, daß bei einer gleichzeitigen Störung im Sexualsystem 
die Pathogenität der Periode gesteigert werde; wenigstens bietet das 
vergleichende Studium aller vorliegenden Krankengeschichten keine zu- 
reichenden Beweise für eine solche Annahme. Hysterische mit ganz nor- 
malen Genitalien haben zur kritischen Zeit schwere Störungen und 
gynäkologisch kranke Frauen vertragen ihre Menstrualbeschwerden, ohne 
hysterisch zu reagieren. Man trifft umgekehrt bei Hysterischen gelegent- 
lich heftige Schmerzen, Dysmenorrhöe, ohne jeden erklärenden Befund, als 
Symptom der Hysterie selbst, z. B. Ovarialgia hysterica, die sich zur 
Zeit der Menses einstellt. 

Das Zusammentreffen verschiedener hysterischer Symptome in zeit- 
licher Koinzidenz mit der Periode wird verständlich, wenn man auf die 
physiologische Wellenbewegung Hegars zurückgreift, an welcher der 
ganze Körper, mit ihm das Zentralnervensystem des Weibes teilnimmt. 
Die unmittelbare Beobachtung lehrt, daß zur Zeit der Menstruation das 
Vorstellungs- und Empfindungsleben auch der normalsten Frau alteriert 
wird. Die hysterisch veranlagte Person kann eine ganz andere werden, 
ohne selbst ein Bewußtsein davon zu haben. Das psychische Gleichgewicht 
ist um den kritischen Termin erschüttert; wo schon Labilität vorhanden 
war, wird diese gesteigert. Es ist daher begreiflich, daß krankmachende 
Einflüsse während der Periode eher zum Ziel gelangen; in der Alteration 

Raima im. Die hysterisclien (teistesstörun^^'n. 1* 



210 

des Organismus, welche die Menses begleitet, wäre ein die Disposition 
förderndes Moment zu suchen. Als solches gilt die Periode übrigens bei 
allen Formen degenerativen Irreseins. Ebenso bekannt ist, daß gerade 
um diese Zeit am leichtesten pathologische Impulse zum Siege gelangen, 
es sei nur an die Ladendiebstähle menstruierender Frauen, die Pyromanie 
etc. erinnert. 

Hysterische Geistesstörungen nach Wochenbetten, namentlich nach 
rasch aufeinanderfolgenden, können in verschiedener Weise erklärt werden. 
Der Partus bedeutet eine körperliche Schwächung; er ist unter Umständen 
auch ein psychisches Trauma. Bezeichnend sind Fälle hysterischer 
Psychosen, nachdem hintereinander eine Reihe von Mädchen zur Welt 
gekommen war, während die Frauen respektive deren Familie an einem 
männlichen Deszendenten das größte Interesse gehabt hätten. 

Daß sexuelle Exzesse speziell Masturbation schädlich wirken, wie 
alle Debauchen, indem sie die Widerstandskraft des Nervensystems herab- 
setzen, erscheint selbstverständlich. Man hat ebenso die sexuelle Abstinenz 
in der Ätiologie der Hysterie eine Rolle spielen lassen. Beim Manne kann 
Abstinenz wohl nur schaden, wenn sie trotz lebhafter Libido erzwungen 
wird; sie pflegt übrigens neurasthenische Zustände auszulösen. Bei 
asexuell veranlagten Männern fehlt eine Quelle der heftigsten Er- 
schütterungen; nur der Kampf mit den zur Leidenschaft anwachsenden 
Impulsen stellt größere Anforderungen an das Nervensystem. Nicht zu 
bezweifeln ist, daß eine Anzahl von Männern in absoluter, andere 
wenigstens in relativer Abstinenz leben, ohne überhaupt zu erkranken; 
somit dürfte auch hier die persönliche Veranlagung entscheiden. Bei Frauen 
wirkt zunächst das seelische Moment, die Nichterfüllung des Berufes als 
Gattin und Mutter, obendrein bedeutet die Nichtbeachtung von seiten der 
Männerwelt, das Zurückstehen im Kampfe um den Mann eine schwere 
Kränkung. Schließlich führt bei einer gewissen Anzahl sehr temperament- 
voll veranlagter Mädchen und Frauen die erzwungene Unterdrückung 
der Sexualität, die Unmöglichkeit ihre Gefühlswelt seelisch und physisch 
auszuleben, zu unbefriedigenden inneren Spannungszuständen und hier 
setzen manchmal hysterische Störungen ein. Auf derartigen Erfahrungen 
beruhen unzweifelhaft alle die alten Theorien von der revoltierenden 
Gebärmutter bei Hysterie. 

Andererseits aber ist bei männlichen wie bei weiblichen Individuen 
auch der normale Geschlechtsverkehr eine Quelle von psychischen und 
körperlichen Erschütterungen; er bedingt die heftigsten Affekte und an 
diese kann die Hysterie anknüpfen. Es ist speziell die Insuffizienz des 
impotenten Mannes der im Schwächegefühle und der Erschöpfung nach 
einer Ejaculatio praecox, als Kranker Nachsicht von seiner Partnerin 
heischt und in der Hysterie ein Refugium findet. Ebenso ist zu be- 
obachten, daß die Unbefriedigung der sexuell lebhaft erregten Frau in 



211 

körparlichen Bewegungsformeii sieh Hußert. welche den hysterischen 
Konvnlsionen außerordentlich nahestehen, namentlich wenn noch Kom- 
plikationen hinzutreten. So kann der Affektsturm nach einem illegalen 
Koitus, wo der Einsatz der Geschlechtsehre doch nur eine Enttäuschung 
brachte, sich in einer Art entladen, daß man einen hysterischen Anfall 
vor sich zu haben glaubt. 

Die bisherigen Betrachtungen führen zu einem Moment, welches 
eigentlich schon die ganze Zeit über immer und immer wieder gestreift 
werden mußte: Das Trauma in des Wortes weitester Bedeutung, 
besonders das psychische Trauma. Es kann ein Eisenbahnzusammen- 
stoß, es kann eine Ohrfeige, es kann aber auch ein Wort hysterische 
Erscheinungen auslösen. Daß in den zwei ersten Fällen weniger die me- 
chanische Erschütterung als die seelische Emotion wirkt, wird bewiesen 
durch Individuen, bei welchen die Manifestationen der Hysterie einmal 
auftreten nach einem Unfälle, die gleichen Symptome das zweitemal 
auf einen Affekt hin; Beweis weiter, daß die schwersten hysterischen 
Erscheinungen zu beobachten sind, ohne daß irgendeine Verletzung 
vorausgegangen ist. Inwieweit das Trauma die Hysterie schafft, ob es 
etwa nur eine bereits latente offenkundig macht, darüber sind die 
Meinungen geteilt. Speziell die hysterischen Geistesstörungen werden aller 
Erfahrung nach fast ausschließlich durch psychische Ursachen vermittelt, 
und hiebei kommt man der Bedeutung des Wortes Ursache näher als 
bei allen früher aufgezählten Momenten. 

Jede plötzliche und intensive negative GefUhlsschwankung kann 
eine latente Hysterie zum Ausbruche bringen, einer schon vorhandenen 
neue Symptome hinzufügen. Ob eine solche Gefühlsschwankung wirkt, 
hängt natürlich von dem betreffenden Individuum ab. Jeder ist in anderem 
Grade und an einer anderen Stelle verletzlich, je nach seiner persönlichen 
Eigenart und Anlage. Von vornherein läßt sich aber sagen, daß die 
Frauen das vulnerablere genus darstellen, a priori ist verständlich, 
daß die vielen Angriffe, denen ihre Geschlechtsehre ausgesetzt ist, einen 
beliebten Anknüpfungspunkt für die Hysterie bilden, während der aktive 
Mann dieser Ätiologie gänzlich ermangelt. 

Damit wäre die Frage über die Bedeutung des sexuellen Traumas 
angeschnitten. Nach der Auffassung mancher Autoren würde dasselbe die 
Ätiologie der Hysterie geradezu beherrschen. Man muß zugeben, daß 
hier eine ganze Summe von Schädlichkeiten vereinigt und potenziert er- 
scheint. Vom Sexualleben werden, namentlich beim Weibe, schwere 
und nachhaltige Affekte ausgelöst, die um so tiefer nachwirken, als 
sich häufig Folgen, Enttäuschungen, körperliche und materielle Schäden 
an geschleclitliche Angriffe knüpfen, ganz abgesehen davon, daß ein 
unvorbereitetes weibliches Gemüt in einen unheilvollen Zwiespalt mit 
sich selbst gebracht werden kann. Da kein Grund vorliegt, außer diesen 

14* 



212 

psychisch wirksamen Faktoren dem sexuellen Trauma noch eine 
spezifische Wirkungsweise zuzuschreiben, wäre es daher den psychischen 
Ursachen der Hysterie einzuordnen, es wäre eine der vielerlei Quellen, 
aus welchen die Hysterie schöpft. Es will übrigens scheinen, als ob das 
sexuelle Trauma in seiner Bedeutung und in der Häufigkeit seines Wirkens 
entschieden überschätzt würde; mit maßgebenden Autoren muß hier 
bestritten werden, daß es die alleinige Ursache der Hysterie sein könne. 
Auch bei dieser Ätiologie handelt es sich wohl immer um von Hause 
iaus abnorme Individuen, deren ungewöhnliche Keaktionsweise auf äußere 
Eeize schon bei anderen Gelegenheiten festzustellen gewesen war. 

Bricht die Hysterie aus, so rückt, wie schon bemerkt wurde, die sexuelle 
Sphäre in den Vordergrund; viele Patientinnen werden erotisch, erfinden 
sexuelle Attentate, wenn sie über keine obszönen Erinnerungen verfügen. 
Und so geschieht es, daß man auf ein Geschlechtstrauma stößt oder eigentlich 
gestoßen wird. Dasselbe bedeutet weniger für die Ätiologie als für die Sym- 
ptomatologie der Erkrankung. Bedauerlich ist, daß ein so geistvoller Forscher 
wie Freud in letzter Zeit jede andere Möglichkeit ablehnt und die Hysterie 
immer auf ein sexuelles Erlebnis zurückführt oder eigentlich auf deren 
mehrere, denn der Autor erklärt als spezifische Bedingung der Hysterie 
sexuelle Passivität in vorsexuellen Zeiten. Das erste Erlebnis muß der 
frühen Kindheit angehören und in wirklicher Irritation der Genitalien 
(koitusähnliche Vorgänge) bestanden haben. Von hier gehe die hysterische 
Reaktion gegen Pubertätserlebnisse und die Entwicklung hysterischer 
Symptome aus. Dieses zweite sexuelle Trauma könne verschiedenartig 
sogar geringfügig sein, z. B. Aufnahme von Mitteilungen über Geschlechts- 
vorgänge, obszöne Fragen, etc. Der ungewöhnlich unangenehme Eindruck 
von der Genitalsphäre her werde von den Kranken gewaltsam unter- 
drückt. Er werde nicht abreagiert, nicht korrigiert, die Patienten bemühen 
sich nur ihn zu vergessen, sie drücken ihn ins Unbewußte hinab, wo er 
weiter existiert und hysterische Erscheinungen auslöst. 

Von dem Gedanken der Psychogenie ausgehend, wurde bei jedem 
Falle von Hysterie, der sich genügend intelligent erwies, versucht, ätiologisch 
in die Tiefe zu dringen. Es wurde das Wachexamen auf persönliche Er- 
innerungen, in der Regel unter vier Augen, in einer ziemlichen Anzahl 
das in tiefster Hypnose herangezogen, was noch ergiebiger sein muß, als 
die von Freud befolgte Methode, welche ja nur den Schwierigkeiten der 
Hypnose ausweicht; es wurde auch seine Methode versucht: und das 
Ergebnis? Man erfährt von den verschiedensten Gemütsbewegungen. 
Spezifisch weiblich ist es, daß viele auf erotischem Gebiet weitesten 
Sinnes sich bewegen, der Herzenskummer im populären Wortsinn. Und 
immer ist das Trauma der Veranlagung angemessen; überaus empfängliche 
Naturen werden schon pathologisch affiziert durch Eindrücke, Erfahrungen, 
denen kein weibliches Wesen entgehen kann; man findet eine besondere 



213 

Prüderie gerade in höheren sozialen Schichten, wo die überaus streng 
durchgeführte räumliche Trennung der Kinder nach Geschlechtem und 
die ununterbrochene Aufsicht am ehesten vor Eindertraumen schützen 
muß, wo es tatsächlich gelingt, die Mädchen bis zu bedeutenden Alters- 
stufen vollkommen naiv zu erhalten; wo man also erwarten sollte, daß 
eine Reflexion auf noch frühere Erlebnisse fehlt. Bei diesem Prinzipe 
ist es aber selbstverständlich, daß jedes Mädchen einmal in seinem 
Leben ein schweres Trauma erleiden muß; einmal klärt doch Zufall oder 
Bestimmung in roher Weise auf und stellt alle so fest eingeprägten 
moralischen Begriffe und Wertungen, die ganze künstliche Welt, in die 
man das Geschöpf eingesponnen, auf den Kopf. Gesunde Nervensysteme 
vertragen auch das ohne Schaden; pathologische machen eine Krise 
durch, deren Ausgang eben von der Art ihrer Veranlagung abhängt. 
So entsinne ich mich einer weiblichen Person, welche dem legal durch 
den Gatten erweckten Wollustgefühle fassungslos gegenüberstand, die 
Vorstellung der Sündhaftigkeit nicht entwurzeln konnte und in vergeb- 
lichem Kampfe gegen die Natur, die sie eingelerutermaßen mit Sünde 
und Höllenstrafen identifizierte, an einer schweren Neurose erkrankte. 
Für moralisch Schwachsinnige hingegen gibt es kein sexuelles Trauma; 
man darf wohl nicht davon sprechen, wenn sie einen Liebhaber verführen. 
Individuen der ersten wie der zweiten Kategorie werden hysterisch und 
berichten dem Arzte in aiFektvoller Weise, was sie erlebten. 

Unter allen Eigenbeobachtungen ist nur ein Fall, welcher der 
sexuellen Ätiologie von Freud halbwegs entgegenkommt, wenigstens 
in der Art, wie das Geständnis gemacht wurde. Der Kasus sei hier an- 
geschlossen, weil er mehr als alle kritischen Bedenken, als alle gegen- 
teiligen Erfahrungen für den im vorliegenden vertretenen Standpunkt 
spricht: 

Beobachtung XL. 

Karoline S., geboren 1879, katholisch, ledig; stammt von einem trunk- 
süchtigen Vater, der zweimal in irrenärztlicher Behandlung stand, und von 
einer „geisteskranken" Mutter. Eine ältere Schwester ist hochgradig nervös, 
aber nicht hysterisch. Patientin hatte vom 6. bis zum 14. Lebensjahre 
choreatische Zackungen; seit dem 18. Jahre bestehen; meist durch psychische 
Momente ausgelöst, in der letzten Zeit durchschnittlich Imal im Monat, früher 
öfters, durch Globus eingeleitet, Anfälle von Bewußtlosigkeit mit tonischen 
, Krämpfen, Are de cercle, tobsuchtartiger Erregung, Aggression gegen die 
Umgebung; kein Zungenbiß, niemals Verletzangen. Dauer eines solchen Anfalles 
2 — 8 Stunden, einmal aucli drei Tage. Nachher war die Kranke vollkommen 
orientiert, geordnet, bot Amnesie. Am 9. Juli 1901 geriet sie nach einem 
Zusammentreffen mit einem ehemaligen Verehrer, der sie jetzt ignorierte, in 
heftige Aufregung, wollte sich vom Fenster herabstürzen. Als man ihr in den 
Weg trat, begann sie irre zu reden, lief in der Wohnung umher, schlug sich 
auf den Kopf, warf die Einrichtungsgegenstände durcheinander. Sie hielt sich 
die Ohren zu, rief, die Musik solle nicht spielen, man möge schöner singen, 



214 

da brennts! Patientin schien auch Stimmen zu hören, denen sie in abgerissenen 
Sätzen Antwort gab, während sie auf Ansprache nicht reagierte. Nur mit 
großer Mühe, unter Aufgebot aller verfügbaren Hausleute, konnte sie au 
Gewalttaten respektive an der Flucht gehindert werden. 

10. Juli. Starrt mit ängstlicher Miene, zeitweise gestikulierend oder 
grimassierend, vor sich hin, sagt mehrmals: „Da sind sie!^ Unvermittelt 
Lächeln. Zahlreiche Degenerationszeichen, neuropathisches Auge. Patellar- 
sehnenreflexe gesteigert, Fußklonus. Steifigkeit in der Haltung, Versteifung der 
Extremitäten bei Versuchen passiver Bewegungen. Am 

19. Juli früh wird die Kranke in der Irrenanstalt aufgenommen, zeitlich 
und örtlich orientiert, klar, amnestisch für das Vorgefallene, in weinerlicher 
Stimmung. 

20. Juli. Patientin weiß, daß sie infolge eines Streites in große Erregung 
geraten sei, erst nach einigen Tagen wieder zu sich kam. 

21. Juli. Die Kranke ist außerordentlich leicht zu hypnotisieren; trotzdem 
sie noch nie hypnotisiert worden ist, genügt es, sie zu fixieren, ihr die Schlaf- 
suggestion zu geben und sie schläft ein; sie erwacht ebenso prompt auf Befehl. 

22. Juli. Als Vorbereitung für ein Examen wird Patientin neuerlich 
hypnotisiert, die Hypnose vertieft. 

23. Juli. Dauernd geordnet. Zur Anamnese trägt die Kranke nach, daß 
der erste konvulsive Anfall nach einem Streite mit ihrem rohen und oft 
betrunkenen Vater auftrat. Ursache des Streites war ein Liebesverhältnis. Die 
Exploration auf ein sexuelles Trauma bleibt erfolglos. 

In der Hypnose wird nun versucht, mit der Kranken in Rapport zu 
treten. Sie antwortet zögernd, leise, wie automatisch, erinnert sich genau des 
letzten Anfalles am 9. Juli abends. Es war ein Dienstag; der Cousin warf 
ihr vor, daß sie mit ihrem Verehrer ausgegangen war, was gar niclit stiitt- 
hatte. Darüber regte sie sich sehr auf und der Anfall trat ein. Therapeutische 
Suggestion für die Gegenwart. 

24. Juli. Kindisch affektiertes Gebaren, weinerliche Stimmung. Die ge- 
samte linke Körperhälfte ist in hohem Maße druckempfindlich, Ovarie; die 
ganze rechte Körperhälfte analgetisch. Hier fehlen auch der Skleral-, der 
Nasen-, Ohren- und Würgreflex. — Auf Behandlung mit dem faradischen 
Pinsel verschwindet die Hemianalgesie binnen wenig Sekunden. 

In der Hypnose wird etwas zurückgegangen. Die Anfälle bestehen seit 
dem t4. Lebensjahre, als sie der Vater einmal mißhandelte. Jetzt sieht sie im 
Anfalle immer das Bild des Vaters vor sich, wie er sie auf den Kopf sclilägt. 

26. Juli. Erschrickt über eine lärmende Mitpatientin, welche Fenster- 
scheiben einschlägt; darauf konvulsiver Anfall. Bei der Visite amnestisch dafür. 

27. Juli. Schläft etwas schwer ein. Berichtet, sie sei gestern erschrocken, 
hatte Angst, daß ihr etwas geschehe; sah den Vater mit der Hacke vor 
sich. Posthypnotische Suggestion. Wacht zur angegebenen Zeit von selbst auf, 
verlangt zu essen. 

29. Juli. Auch heute etwas verzögertes Einschlafen. Nochmaliges Examen 
über den letzten Paroxysmus. Die Gestalt des Vaters kommt immer von der 
rechten (anästhetischen!) Seite; sie sieht ihn während des ganzen Anfalles; 
keine anderen Halluzinationen oder Delirien. 

2. August. Bei der Visite laut weinend angetroffen, gibt keinerlei Auskunft. 

Nachmittag Hypnose. Wird wegen des Weinens gefragt. Sie habe sich 
gekränkt, weil ihr Bräutigam nichts von sich hören lasse. Er müsse doch 
wissen, daß sie hier sei. 



215 

4:. August. Liegt früh zusammengekauert am Fußboden; aufgefordert 
aufzustehen, tut sie es sofort, beginnt aber neuerlich zu weinen. 

Nachmittag Besuch ihres Cousins; nachher gut aufgelegt. Hypnose. Sie 
kränke sich noch immer wegen des ungetreuen Bräutigams. Im 11. Lebens- 
jahre habe sie etwas „Abscheuliches" gesehen. Ein alter Herr habe etwas 
von ihr verlangt, sei ihr nachgelaufen. Um keine Suggestivfragen zu geben, 
kann nicht weiter eingedrungen werden; es handelt sich, nach dem Zögern 
der Patientin zu schließen, um ein heikles Thema. Sie war damals nicht 
allein, sondern mit der Schwester; sie lief davon, hatte große Angst, daß 
jener Herr ihr wehe tun, sie vergewaltigen werde. 

7. August. Erzählt heute in der Hypnose nach einigem Stocken, es war 
auf den Feldern von H., da habe der betreffende Mann seinen Geschlechtsteil 
hergezeigt, sich an sie herangedrängt. Sie und die Schwester hätten den 
Vorfall in den nächsten Tagen besprochen. Etliche Wochen später traf sie 
auf der Straße einen Menschen, der ein ganz ähnliches Gesicht hatte; sie 
erschrak und bekam zu Hause einen Anfall. Als sie sechs Jahre alt war, starb 
ihre Mutter, sonst keinerlei Gemütsbewegungen. Sie habe böse Träume von 
Leichen, wilden Tieren; fühle sich darum am Morgen unwohl, fürchte sich 
auch abends vor dem Schlafengehen. 

10. August. Patientin beschäftigt sich mit Handarbeit, ist von leicht 
erotischem Gebaren. Ohne eruierbare Ursache besteht heute Nachmittag durch 
einige Zeit totale Amaurose. Bei der Visite ist nichts mehr davon zu kon- 
statieren. Die Kranke erzählt, daß sie zuerst Flimmern vor den Augen hatte, 
daun überhaupt nichts mehr sah. 

27. August. Andauernd geordnet, anfallsfrei; die Sensibilitätsstörungen 
vollkommen geschwunden. Im Wachzustande keinerlei Erinnerung an die in 
der Hypnose preisgegebenen Erlebnisse. Daß dieselben real sind, ergibt ein 
Examen mit der verheirateten Schwester. Dieselbe erinnert sich zunächst an 
nichts. Erst als man ihr mit Details nachhilft, kommt ihr plötzlich die 
Erinnerung und sie erzählt spontan dieselbe Geschichte. Patientin wird heute 
als geheilt entlassen. 

Hier ist in einer Zeit vor der Pubertät das Vorkommen einer sexuellen 
Attacke auch anamnestisch erhärtet. Dieselbe wird vollkommen verstanden 
— CS handelt sich ja um Großstadtkinder — aber auch nicht tragisch ge- 
nommen, von den beiden Schwestern in mädchenhafter Neugier besprochen, 
somit entschieden „abreagiert" und vergessen. Die Kranke läßt sich die 
Erinnerung nur in der Hypnose entreißen. Durch assoziative Weckung jenes 
Ereignisses soll der erste hysterische Anfall aufgetreten sein. Ist die Hysterie 
damit erkläi't? Beide Schwestern sind hereditär belastet, die jüngere schwerer, 
entsprechend dem progressiven Charakter der Erkrankung in der Aszendenz; 
das prägt sich auch psychisch und körperlich aus. Während die ältere 
Schwester nur „nervös", in der menschlichen Gesellschaft ganz gut möglich 
ist, ist die jüngere dissozial; sie ist auch körperlich so auffallend als 
„Degeneriei^te^ stigmatisiert, daß das rudimentäre sexuelle Trauma gar nicht 
erfordert wird. Über eine in frühere Kindheit zurückzuverlegende Irritation 
der Genitalien war nichts zu erheben; wohl aber führte die Kranke später 
einen leichten Lebenswandel. Ihr Vater erhebt die Hand gegen sie; nun 
bekommt sie ihren zweiten Anfall; die Anfalle wiederholen sich fortan regel- 
mäßig; sie deliriert die letztere Szene, die augenscheinlich mehr Eindruck 
«auf sie gemacht hat. Den unmittelbaren Ausbruch ihrer Geistesstörung ver- 



216 

anlaßt ein Herzenskummer^ der gerade im vorliegenden Falle nicht sehr tief 
gehen konnte: unglückliche Liebe. Verschiedene Affekte also Jiösen bei einer 
von Haus aus hysterisch veranlagten Person die Hysterie aus. 

Jedenfalls kommt viel darauf an, was man die Hysterischen fragt 
und wie man sie fragt. Diese Kranken sind ebenso Kausalmenschen wie 
wir alle. Das allgemeine Vorurteil geht dahin, daß Krankheitserscheinungen, 
Seelenstörungen nur aus einem Seelenkummer hervorgehen können, und 
Gemütsbewegungen liegen ja immer parat. Obendrein reagieren die 
Hysterischen auf Aftekteindrücke durchaus pathologisch, ihre Krankheits- 
erscheinungen knüpfen tatsächlich an psychische Vorgänge an. Bekräftigt 
der Arzt diesen Mechanismus, dann kann die Ätiologie des Falles leicht 
erschöpft scheinen. Die Hysterischen haben eine besondere Fähigkeit, 
Gedankengänge des Fragenden in virtuoser Weise zu erraten, mit Schöp- 
fungen des Augenblickes ihm zuvorzukommen, wie eine große Zahl von 
Erfahrungen lehrt. Verlangt man von ihnen Auskunft über sexuelle Er- 
lebnisse in Pubertät und Kindheit, so darf man überzeugt sein, daß auch 
die vorsichtigste Frage ihnen solche zu suggerieren vermag, wenn sie 
dieselben nicht hätten. Es ist aber gar nicht notwendig, frei zu erfinden, 
da die große Mehrzahl der Menschen über mehr minder harmlose Er- 
innerungen verfügt. Das Zusammenleben von Knaben und Mädchen 
in einer Familie, in den für beide Geschlechter gemeinsamen Elementar- 
schulen, wie sie früher allgemein, heute noch auf dem flachen Lande 
bestehen, führt zu manchen übermütigen Streichen, wobei die Mädchen 
gerne der passive Teil sind. Es ist wohl allgemein bekannt (vgl. neuestens 
Ellis), wie zeitig sich die ersten, freilich noch unverstandenen Sexual- 
impulse regen. Fälle, wie der in der letzten Beobachtung vorliegende, 
sind auch weder in der Großstadt, noch auf dem Lande so außer- 
ordentlich selten. Man macht kein Aufhebens davon; die ganz bedeutende 
Zahl der Exhibitionisten, die zur Anzeige gelangen, ist doch nur ein ver- 
schwindender Bruchteil. Aber auch das Dienstpersonal beteiligt sich an 
der „Aufklärung" der Kinder. Wenn man Gelegenheit hat zu vertrau- 
lichen Gesprächen, kann man Wunderdinge erfahren über die Häufigkeit, 
mit welcher junge Mädchen des Mittelstandes sexuelle Erfahrungen 
sammeln; man braucht nicht erst in ein belgisches oder französisches 
Seebad zu gehen. Für ein normales weibliches Individuum ist dergleichen 
ein mehr- oder minder peinliches Erlebnis, kein lYauma. Die Hysterischen 
erzählen mit besonderem Nachdruck von derartigen Abenteuern und sind 
mit leichter Nachhilfe von selten des Arztes bereit, ihre Krankheit davon 
abzuleiten, ohne daß die Kausalität stichhaltig zu begründen wäre. 

Freud betont, daß er in jedem Falle von Hysterie auf sexuelle 
Traumen stoße. Er würde sie ebenso bei Gesunden finden, falls diese 
sich entschließen, ganz rückhaltlos ihre halbvergessenen Kindheits- 
erinnerungen aufzufrischen und ihm mitzuteilen, wozu ja jeder Antrieb 



217 

fehlt. Dazu noch ein lokales Moment. Die Freud sehe Theorie ist hier 
in den weitesten Kreisen genau bekannt. Die Kranken, die ihn auf- 
suchen, wissen im vorhinein, was er aus ihnen herausfragen will; es 
sind nur Patienten, die von der Kausalbedeutung ihrer Sexualerinnerungen 
sich haben überzeugen lassen. Individuen, bei denen die Geschlechts- 
motive keine Rolle spielen, wissen, daß sie hier vergebens Hilfe suchen 
würden. Das scheint einer der Gründe, daß einzig dieser Autor seine 
felsenfeste Überzeugung an jedem neuen Falle bestätigt findet, während 
andere Untersucher ebenso bestimmt zu andersartigen Schlußfolgerungen 
kommen. 

Doch es gibt auch wirkliche Attentate, Notzuchtsversuche, denen 
kleine Mädchen von senil Dementen, von Lüstlingen, von moralisch 
Schwachsinnigen ausgesetzt sind. In tieferen sozialen Schichten ist das 
Zusammenleben von Personen verschiedenen Geschlechtes, von Ehe- 
paaren und Kindern in einem Baume beinahe Regel. Die Tochter schläft 
da neben Vater oder Bruder in einem Bette; man erfährt gelegentlich 
von Zärtlichkeiten, die an das Mädchen verschwendet wurden. Und keine 
Hysterie! Andererseits sieht man Hysterische, die man so genau kennt 
wie sich selbst, Hysterische aus den sogenannten besten Ständen, wo die 
Mädchen, stets unter vielfacher Obhut, wie Edelfräulein erzogen und vor 
jedem freieren Lufthauch behütet werden, wo also von einem wirklichen 
sexuellen Trauma absolut nicht die Rede sein kann und trotzdem Hvsterie 
schon in jungen Jahren. 

Die kindliche Hysterie ist vielleicht an und für sich überzeugend. 
Ich habe den schönsten hysterischen Charakter bei einem kleinen, kaum 
fünfjährigen Mädchen gesehen, das seine hysterische Mutter in der schau- 
spielerisch vollendetsten Weise kopierte (ebenfalls ein Kasus aus gutem 
Hause), wo von der Wiedererweckung vorpubertätlicher Ereignisse durch 
einen erotischen Eindruck im Ernste wohl nicht die Rede sein kann. 
Auch bei dem achtjährigen Mädchen (Beobachtung III) wird man vei- 
:gebens nach Sexualität suchen. Ebenso vergeblich bei moralisch schwach- 
sinnigen Männern, bei den schwer insuffizieuten Hysterien, den Spitals- 
schwestern, welche der Krankheitswille zur Verstellung antreibt, Patien- 
tinnen, die meist erst im Klimakterium in der Hvsterie ihre Zuflucht suchen. 
Entscheidend ist der Gegensatz: während das Examen bei nichthysterischen 
Individuen sexuelle Traumen, auch Kindertraumen, die schon vergessen* 
waren, ergibt, werden solche bei Hysterischen vermißt. Damit fällt die 
ausschließliche Gültigkeit der Freud sehen Lehre, was sein Verdienst 
nicht schmälert, auf die bedeutsame Rolle der Sexualität in der Patho- 
genese der Neurosen überhaupt nachdrücklich hingewiesen zu haben. 

Es stützt wohl auch die hier vorgetragene Anschauung, wenn man 
registriert, daß die Aura, das Delir, die einzelne hysterische Geistes- 
49törung gelegentlich ein sexuelles Erlebnis herausgreifen, das viel später 



218 

stattgefunden hat als die erste Manifestation der Hysterie. Unter allen 
Vorstelliingskomplexen möchte man sagen, eignen sich gerade die 
sexuellen im weiteren Sinne ganz besonders zu affektvollem Vortrage. 
Die Rolle der treulos Verlassenen, der um ihr Lebensglück betrogenen 
ist ebenso dankbar und bei den Hysterischen beliebt wie die der um 
ihre Tugend kämpfenden, der vor Sehnsucht vergehenden Braut. Indessen 
leben aber in den hysterischen Reizerscheinungen auch erregte Aus- 
einandersetzungen, Schimpf- und Streitszenen etc., wenn dieselben nur 
dramatisch reproduziert werden können. Die Wahl der Motive scheint 
mehr von symptomatologischem Interesse. 

Das sexuelle Trauma würde also in die Reihe der gemütlichen 
Schädlichkeiten rangieren; es stellt in schien brüsken Formen eine 
unzweifelhaft sehr wirksame Noxe dar; allerdings muß es eine labile 
weibliche Psyche treffen. Vollkommen gleichwertig ist wohl das Schreck- 
trauma, mit und ohne Unfall, welches bei Veranlagten die sogenannte 
traumatische Hysterie hervorruft. Auch wenn gleichzeitig eine mechanische 
Erschütterung stattfand, wie bei Sturz aus einem schnellfahrenden Vehikel, 
bei Erdbeben, Blitzschlag (Reichel), elektrischen Entladungen (Strauß, 
Hoc he), ist, wie schon angedeutet, auf die psychische Auslösung daN 
Hauptgewicht zu legen. Eigene Beobachtungen von Hysterie sowohl 
nach Blitzschlag als nach elektrischer Entladung lehrten bei näherer Nach- 
forschung, daß im ersten Falle nur der Widerschein eines Blitzes, im 
zweiten ein ganz unbedeutender Induktionsschlag den Anknüpfungspunkt 
abgaben, von welchem die Kranken zuerst und nachdrücklich erzählten, 
während das weitere Examen andere Gemütsbewegungen aufdeckte; ja 
die Patientinnen kamen im Verlaufe der Zeit von der ursprünglichen 
Ätiologie selbst ab. Auch hier war übrigens die unverhältnismäßige 
Schwere der Hysterie von vornherein auffallend, im Hinblicke auf die 
unbedeutende auslösende Ursache. 

Bevor das psychische Trauma in seiner allgemeinen Fassung vor- 
geführt wird, möge es gestattet sein, zwei Krankengeschichten zu bringen, 
welche bezüglich der Ursache selten klar liegen und verschiedene Formen 
der Gemütsaffektion beleuchten. 

Beobachtung XLI. 

Josefine E.^ 20 Jahre alt^ ledige katholisch^ Dienstmagd; kommt am 
22. März 1903 an die Klinik. 

Patientin früher immer gesund. In den letzten Wochen ließ sie sich mit 
einem Soldaten ein, der im selben Hause tätig war, und vernachlässigte da- 
durch ihren Dienst. Da Ermahnungen nichts fruchteten^ wurde ihr gekündigt. 
Als sie den Posten verlassen sollte, begann sie krampfhaft zu weinen; die 
herbeigeholten Ärzte fanden sie anscheinend bewußt- und regungslos; dann 
traten Streckkrämpfe mit Opisthotonus auf; endlich lag sie still und stumm. 
Sie war nur dazu zu bringen, sinngemäß zu nicken, konnte sich anscheinend 



219 

nicht auf den Füßen, nicht einmal sitzend erhalten. Als man sicli noch weiter 
mit ihr beschäftigt, verfällt sie wieder in lautes Weinen. 

An der Klinik läßt sie sich entkleiden und zu Bette bringen. Nach 
kurzer Zeit wird sie mitteilsam, erzählt den Zimmergenossinnen ihre Schick- 
sale. Nachts schlaflos. 

23. März. Die Kranke benimmt sich geordnet, spricht sehr lebhaft. Es 
sei ihr gestern schlecht geworden; sie fühlte Schwindel, starke Kopfschmerzen; 
weiter wisse sie nichts, bis sie sich hier im Bette fand; doch ist merk- 
würdig, daß Patientin sich gar nicht wunderte, als sie im Spital erwachte. 
Über Vorhalt erinnert sie sich auch an die Visite der Ärzte; sie war außer- 
stande zu sprechen. Sie behauptet, im Dienste sich tadellos aufgeführt zu 
haben; vor acht Tagen erkrankte sie an rheumatischem Gesichtsschmerz. Sie 
gerät in lebhaften Aflfekt, tut sehr entrüstet, als man auf ihre erotischen 
Beziehungen zu sprechen kommt. Gibt nur zu, wenige Worte mit dem Soldaten 
gewechselt zu haben. Sie war es, die wegen ihres Gesichtsschmerzes kündigte. 

Erythematöse Flecken in der oberen Brustgegend; Nadelstiche werden 
am Haise^ an Wange und Kinn links stärker empfunden als rechts. 

30. März. Stigmen verschwunden. Hier dauernd unauffällig; bleibt bei 
ihren Angaben, hält auch an der Amnesie fest. Kein Freiheitsdrang, kein 
Wunsch nach Beschäftigung. Am heutigen Tage als geheilt den Angehörigen 
übergeben. 

Ein klinisch recht bedeutungsloser Fall, der nur deshalb bemerkenswert 
erscheint, weil die subjektive Anamnese in charakteristischer Weise durch 
die objektive ergänzt respektive berichtigt werden konnte. Er zeigt die nicht 
mehr neue Tatsache, welchen Wert die Geständnisse mancher Hysterischen 
haben.* Würden nur die Angaben der Patientin vorliegen, so müßte man wo- 
möglich eine V.- Neuralgie als Ursache der transitorischen Geistesstörung an- 
sehen; in Wirklichkeit verhält es sich aber ganz anders. Der Patientin wird 
gekündigt, was ihr besonders schmerzhaft ist, da sich gerade zarte Bande zur 
bewaffneten Macht angesponnen hatten. Sie muß hinaus, wer weiß, in welche 
kasernenferne Gegend das Schicksal sie verschlägt. Während ein temperament- 
volles Stubenmädchen die Türen zuschlägt, einiges Geschirr zu Boden wirft, 
bekommt die passiv veranlagte einen Weinkrampf, die ebenerwähnte Kranke 
als Hysterica ihren ersten Anfall. Das ist die ihrer Organisation entsprechende 
Antwort auf den Gemütsaffekt. 

Ganz anders ist zu werten 

Beobachtung XLH. 

Marie V., geboren 1859, Witwe, katholisch. Garderobierin, wird am 
2. Oktober 1902 wegen eines Selbstmordversuches zum Amte gebracht. Während 
der Untersuchung durch den Polizeiarzt liegt sie in Konvulsionen, gibt nur 
mühsam in den freien Zeiten Antwort, klagt über Schmerzen in der linken 
Körperhälfte. 

An der Klinik ist Patientin ganz ruhig, geordnet; sie erzählt, daß 
sie seit 10 Jahren an Herzkrampf leide. Bei der Reproduktion ihrer schmerz- 
lichen Erlebnisse beginnt sie lebhaft zu weinen; überhaupt bewegt sie sich 
viel im Affekt. Sie hatte jetzt ihre Stelle verloren und aus Verzweiflung dar- 
über wollte sie sich vom vierten Stockwerk herabstürzen. Als Leute sie zurück- 
rissen, erschrak sie darüber so, daß sie wiederum den Anfall bekam. Mäßiger 
Schnapsgenuß wird zugegeben. — Zittern der Zunge und der Lippen, auf- 



220 

geregte Herzaktion; links inframammillar ein Drackpankt^ ebenso in der Ovarial- 
gegend. Sehnenreflexe lebhaft, anf die andere Seite überspringend. Leichte 
Hypalgesie der linken Hand und des linken Fußes. Am 

5. Oktober ist Hypalgesie auf der ganzen linken Seite nachzuweisen, 
Herabsetzung des Nasen- und Gaumenreflexes, während die rechte Seite deutlich 
hyperästhetisch ist. Von einer außergewöhnlichen Labilität der Stimmung ab- 
gesehen, ohne psychische Störungen. 

7. Oktober. Bei der heutigen ausHlhrlichen Besprechung gibt die Kranke 
folgendes an: Sie mußte schon mit acht Jahren unter fremde Leute; heiratete 
im Jahre 1885, ohne ihren Mann zu lieben; dieser war ihr nur wie ein Bruder 
oder Vater. Nach zwei Jahren Abortus, da sie schwer arbeiten mußte. Sie 
lebte überhaupt in den kümmerlichsten Verhältnissen, fand einen Halt nur 
am lieben Gott, in ihrer Frömmigkeit; der Himmel mußte ihr über alles irdische 
Leid hinweghelfen. 

Mit ihrer Schwägerin war es trotzdem nicht auszuhalten. Als diese 
sie wieder einmal beschimpfte: böhmische Mutter Gottes, Bestie, Canaille etc., 
wehrte sich Patientin und schimpfte zurück. Der Schwiegervater machte 
dieser Szene ein Ende dadurch, daß er die Kranke ein paar Treppen hin- 
unterstieß. Patientin kam zu Fall, schlug sich zwei Zähne aus. Da packte sie 
ein furchtbarer Schmerz im Herzen, Herzklopfen, dann warf es sie nieder 
und sie wand sich in Krämpfen. Obzwar ihr der Schmerz fast die Sinne raubte, 
wußte sie doch stets von sich. Das dauerte so mehrere Stunden. Der zweite 
Anfall trat auf, als der Mann ihr einmal aus geringfügigem Anlasse eine 
Ohrfeige gab. Damals wurde sie bewußtlos bis zu dem Momente, wo sie den 
Mann wieder vor sich knien sah. Bei der Reproduktion dieser Dinge gerät 
die Kranke in einen lebhaften Affekt und weint. Auf die teilnehmende ("rage 
hin schluchzt sie noch stärker. Sie habe immer ehrlich gearbeitet, nie 
jemandem etwas zuleide getan, im Gegenteil ihr letztes noch hergeschenkt, 
und doch könne sie nicht leben, der Herrgott habe sie verlassen. 

Seit jener Ohrfeige ist Patientin schwerhörig, ein Übel, das sich in der 
letzten Zeit noch steigerte und ihr den Lebensunterhalt weiter erschwerte. Auch 
ihr Eheleben trübte sich. Ihr Mann verlangte drei- bis viermal im Tage den 
Koitus und das widerte sie um so mehr an, als er gleichzeitig andere Verhält- 
nisse unterhielt. Nun starb dieser Mann und trotz aller Versprechungen, daß 
sie bei dessen Familie stets ein Heim finden werde, nahm man ihr die letzten 
Sachen und setzte sie auf die Straße. Als sie dann noch ungerecht verklagt 
vor Gericht zitiert wurde, kam der dritte Anfall. Als Garderobierin brachte 
sie sich mühselig fort. Die unmittelbare Vorgesetzte war ihr feindlich. Infolge 
ihrer Schwerhörigkeit versah sie ihre Obliegenheiten nur mangelhaft. Schmeicheln 
lag ihrer Natur ferne, obendrein wurde sie verleumdet, ohne sich zur Wehre 
setzen zu können, weil sie nicht hörte, was man über sie sprach. Wiederum 
gerät Patientin in den heftigsten Weinaffekt, als sie diese ihre Not klagt. In 
der letzten Zeit träumte sie, ihr Mann fordere sie auf, zu ihm zu kommen. 
Nach endlosen Beschimpfungen durch die Obergarderobierin (die Törrische usw.) 
wurde ihr endlich gekündigt; nun stand sie da, vollkommen mittellos, ohne 
Aussicht, einen andern Posten zu finden. Als sie nächsten Tag zur gewohnten 
Stunde fortgehen wollte und nicht wußte wohin, stieg sie aufs Fenster und 
verlor die Besinnung. Das war jetzt ihr vierter Anfall. 

10. Oktober. Die Kranke ist geordnet, gerät sofort ins Weinen sowie 
man sie auf ihre Notlage bringt. Sie ist übrigens sehr arbeitsfreudig und nur 



221 

mit Mühe dazu zu tiberreden, sich in die Versorgung schreiben zu lassen. Sen- 
sibilitätsstörungen geschwunden. 
22. Oktober. Transferiert. 

Die Hysterie manifestiert sich hier nur in ganz wenigen (vier) An- 
fällen; jeder nach einem schweren psychischen Trauma. Als Effekt des unbe- 
friedigenden GrundzustandeS; der veraweiflungsvoUen Stimmung, des vergeb- 
lichen Ringens um Anerkennung der persönlichen Existenzansprüche; trifft 
man eine stets lauernde depressive Verstimmung; als körperlichen Ausdruck 
Sensibilitätsstörungen. Wird das belastete Gemüt von einem Affektsturm auf- 
gewühlt; so entlädt sich die unerträglich gewordene Spannung in allgemeinen 
Konvulsionen. Das letzte genauer zugängliche Ereignis aus dem Leben der 
Patientin ist so recht bezeichnend für die Hysterie. In Not und Verzweiflung 
stürzt sie zum Fenster und doch bleibt der Trieb, die Liebe zum Leben sieg- 
reich. Sie gestikuliert so lange zum Himmel hinauf, bis Leute auf sie auf- 
merksam werden und sie vom Fenster herabreißen. Nun hilft ihr der Anfall 
glücklich über den schrecklichsten Moment hinweg, den des geretteten Selbst- 
mörders. Es wird die Öffentlichkeit gewissermaßen aufgerufen, daß hier ein 
Menschenleben vergebens versucht, den schweren Kampf ums Dasein mit eigener 
Kraft auszukämpfen. 

Bemerkenswert erscheint nur noch, daß in diesem Falle zwar eine 
Anomalie des sexuellen Fühlens — Anästhesie — nebenher ging, daß aber 
weder grundlegend; noch Anfälle auslösend irgend etwas Sexuelles angeschuldigt 
werden konnte. Patientin bezeichnet sich als eine innerliche, und dokumentiert 
sich durch mancherlei Züge als Gefühlsnatur. Außerdem trug sie in der Organi- 
sation eine gewisse Entladungsmöglichkeit des Zentralnervensystems in Form 
konvulsiver Anfälle mit sich herum. 

Die beiden eben vorgeführten Fälle lehren, daß Gemütsbewegungen 
verschiedener Art eine Hysterie auslösen. Sie schaffen die Krankheit nicht, 
aber sie bedingen den einzelnen Anfall, die einzelne Äußerung. Oft sind 
es tatsächlich die kleinsten Kleinigkeiten, die ein überempfindliches Gemüt 
zum Anlasse nimmt: eine Auseinandersetzung, ein Streit, eine Kränkung 
nicht sexuellen Inhaltes können ebensogut einen hysterischen Paroxysmus 
verursachen wie ein normaler, legaler Koitus. In der Regel allerdings 
liegen größere Anlässe vor, wirkliche Affektstttrme; es wirkt in diesem 
Sinne auch die Summation vieler kleiner Erschütterungen: ein unglück- 
liches Familienleben, stets sich steigernde Not des Daseins, wo jeder neue 
Tag hoffnungsloser beginnt als sein Vorgänger, Schrecken, Angst, Sorge, 
gekränkter Ehrgeiz, schlechter Geschäftsgang, finanzielle Verluste. Anzu- 
ferkennen ist die tiefer gehende Wirkung solcher Aflbkte, welche schweigend 
hinuntergewürgt werden müssen, wie das jeder gelegentlich an sich selbst 
erfährt. Es entsteht eine innere Spannung, die sich dann in irgend- 
einer Form zu entladen pflegt, bei hysterisch Veranlagten eben in Form 
von Hysterie. 

Dieser grundlegende, eigentlich entscheidende Faktor der Veranlagung 
darf nicht zu gering eingeschätzt werden. Vor Aflekten ist ja niemand 
bewahrt; wie er daranf antwortet, das hängt ab von persönlicher Erreg- 



222 

barkeit und Temperament. Es gibt von Gebart aas glückliche Phlegmatiker, 
die in stoischer Rahe allen Wechseirällen des Lebens gegenüberstehen, 
oder Sangniniker von gesegnetem Humor; Individuen, die alles sofort 
in irgendeiner Weise abschütteln. Besonders gefährdet und disponiert 
an Ilvsterie zu erkranken sind innerliche Menschen mit lebhafter Affekt- 
erregbarkeit, bei denen jedes Ereignis lange nachzittert, erst spät in 
seiner vollen Tragweite gewürdigt wird, wo die Selbstbeherrschung den 
inneren Kampf verbirgt, dieser aber den Organismus doppelt hart trifft. 
Ebenso sind mehr zur Hysterie disponiert willensschwache Naturen, die 
gewohnt sind, sich gehen zu lassen, die es nicht vermögen, starke Affekte 
und Vorstellungen, welche überragend zu werden drohen, durch Gegen- 
vorstellungen zu beherrschen und zu mäßigen. 

Ein ätiologisches Moment spielt bei den hysterischen Psychosen eine 
größere Rolle als in der ganzen übrigen Psychiatrie. Das ist die Über- 
tragung solcher Zustandsbilder von einer Person auf die andere, die 
(ibertragung durch Ansteckung. Einen vorbereiteten Boden vorausgesetzt, 
genügt oft der Affekteindruck, die Wirkung auf die Umgebung, welche 
ein hysterisches, aber auch irgendein anderes ungewöhnliches Zustandsbild 
hervorruft, um sofort hysterische Erscheinungen zu provozieren. Es handelt 
sich auch hier eigentlich um ein psychisches Trauma, das eine sug- 
gestible Person krank macht durch Überwältigung. An das gasförmige 
Gift Kröners glaubt wohl heute niemand mehr. 

Wenn behauptet wurde, daß jede induzierte Psychose eine Hysterie 
sei, so geht man damit etwas zu weit, nachdem Fälle genug bekannt 
sind, wo ein Querulant z. B. ein schwachsinniges Individuum mit seiner 
Paranoia infiziert. Aber für die große Mehrzahl aller durch Infektion 
entstandenen Geistesstörungen wird das seine Richtigkeit haben. Man 
unterschätzt gewöhnlich die außerordentliche Gewalt der Suggestion, die 
von einer überragenden Persönlichkeit ausgeht, um so mehr, wenn diese 
Persönlichkeit sich zum Träger von Ideen macht, welche dem zweiten 
Individuum förderlich, sympathisch sind. Liegen die Ideen gar in der 
Zeitströmung, sind sie im dunkeln Gefühle einer Volksschichte vorgebildet 
kommen dann noch Massenwirkungen hinzu, so greift die Infektion rapid 
weiter und kann schließlich zu ganzen Endemien ftihren. Und alle diese 
gewissermaßen suggerierten Geistesstörungen müssen unter die Hysterie 
gezählt werden; dies um so mehr, als die psychogene Entstehung bezeich- 
nenderweise auch hysteriforme Mechanismen auslöst und nebstbei echte 
hysterische Symptome beobachtet werden. 

Unbestreitbar ist, daß die Hysterie bei der Gründung von Religionen 
eine ungeheure Rolle gespielt hat. Noch heute sieht man Analoges; es 
ist nicht notwendig, hierzu in weltferne Gegenden abzuschweifen; die 
Hysterie, auch die greifbar körperliche Neurose, feiert in allen Wunder- 
nnd Gnadenorten ihre Triumphe. Namentlich naive Völker sind außer- 



223 

ordentlich infektionsempfänglich. Doch ist es nicht Kritikschwäche, welche 
jene Gläubigkeit fördert, eher Impressionabilität, auch die Rassenanlage 
hilft mit, denn hochgebildete Nationen, z. B. die Franzosen, die Nord- 
amerikaner, leisten hier Hervorragendes. Als ein Beispiel aus jüngerer 
Zeit, das über die Fortpflanzung von Religion und Hysterie durch Massen- 
wirkung belehrt, sei die auf russischem Boden spielende Geschichte der 
Sekte der Malewaschcina (Sikorski^ zitiert. 

Die Geruchs- und Empfindungshalluzinationen des Stifters Malewanij 
hatten sich auf die Anhänger übertragen. Dazu kamen Gehörs-, Gesichts- 
täuschungen, KrampfaniUlle, so daß manchmal die ganze Gesellschaft Attitudes 
passionelles zeigte oder rhythmische Bewegungen; Hüpfen, Springen, Tanzen, 
in die Hände klatschen, Schlagen der Brust, des Gesichtes, Haareraufen, 
Stöhnen, Schreien, Bellen, Wiehern, zu Boden stürzen. Während sie sinnlose 
Phrasen verbigerierten, glaubten sie eine fremde Sprache zu sprechen; dabei 
war die Schmerzempfindung aufgehoben. Als Grundlage des Ganzen uner- 
schütterlicher Glaube an die himmlische Mission und die Gottähnlichkeit ihres 
geistigen Oberhauptes. 

Auch der Spiritismus ist eine Religion, indem er das Glauben an 
Stelle von Wissen setzt. Beziehungen der Hysterie zum Spiritismus be- 
stehen tatsächlich, wie schon erwähnt wurde. Hier interessiert speziell 
die unter günstigen Umständen rasche Verbreitung derartiger Glaubens- 
lehren, indem jede Sitzung neue und fanatische Anhänger auch in ge- 
bildeten Kreisen schafft. Wenn man, wie erst kürzlich in dem Prozeß 
Rot he von Zeugen beschwören hört, daß Glaseier tatsächlich in der Luft 
aus nichts entstanden seien, so kann man nur au Gesichtstäuschungen 
psychogenen Ursprunges denken. Die Leute sehen, was sie zu sehen 
glauben, respektive sehen wollen. Hysterie trägt diesen Wunderglauben, 
wie soviele andere und überwältigt scheinbar Gesunde. Es sind übrigens 
Fälle in der Literatur, welche beweisen, daß ein spiritistischer Vortrag 
oder spiritistische Experimente ausgeprägte hysterische Geistesstörungen zu 
schaffen vermögen, natürlich nur bei Disponierten z. B. Gilles de la 
Tourette, die von Charcot erzählte Geschichte einer hysterischen Epi- 
demie betreffend drei Geschwister, welche an einer spiritistischen Sitzung 
teilgenommen hatten, der schöne Kasus von Pick und andere. 

Kommt hier die Hysterie den Individuen entgegen, indem sie sich 
in religiöse Ideen kleidet, die ihrem Wesen nach eine Kritik eigentlich 
nicht gestatten, so ist auch die einfache, unverhüllte Hysterie von einem 
Individuum auf das andere übertragbar. Besonders leicht geschieht 
dies bei ungebildeten Berufsständen, Bauern u. a. Pitres welcher sich 
sehr eingehend mit der epidemischen Entstehung der Hysterie beschäftigt, 
teilt zwei größere Epidemien mit, die von Morzine (1861 — 1865) und die 
von Verzegnis (1878). Neumann beschreibt eine hysterische Haus- 
epidemie. Diese und andere Beobachtungen zeigen, wie in einem gewissen 
Milieu eigentlich jeder Mensch infektionsempfänglich ist; man braucht 



224 

gar nicht an den Aberglauben zu appellieren, es gentigt, daß irgendein 
physisches Agens die kritischen Fähigkeiten mindert, die Willenskraft 
schwächt. In einer sehr lehrreichen Erfahrung Geniks ist es Alkohol, 
der die hemmenden Einflüsse des Großhirns schädigt, so daß eine Epidemie 
hysterischer Krämpfe ausbricht. 

Nach einer Hochzeit im Moskauer Gouvernement bekam zuerst der 
Vater des Bräutigams einen hysterischen Anfall, in welchem er anfing, zu 
weinen, seine Kleider zu zerreißen; gleich darauf erkrankte seine Schwester 
an einem ähnlichen Anfall, und so ging es weiter; sämtliche Personen schrieen 
laut und sinnlos auf. 

Diese Empfänglichkeit, die bei Erwachsenen erst durch äußere Mittel 
geweckt werden muß, ist in der Kinderseele schon de norma vorhanden, 
und es sind seit jeher Kinder die widerstandsunfähigsten Objekte für 
derartige suggestive Übertragungen, wie eine Unzahl einschlägiger Beob- 
achtungen in der Literatur beweist. Hysterische Epidemien, namentlich 
in Schulen, wurden neuerer Zeit wiederholt beschrieben (Wichmann, 
Rieger, Kirchgässer); so in der Dorfschule zu Tinz von Hirt: Von 
38 Mädchen erkranken 20 an Zittern, Krampfanfällen respektive Ohn- 
mächten. Rembold erzählt folgende Epidemie, gleichfalls aus einer 
Mädchenschule: 

Ein Kind sank bewußtlos über die Bank, 9 andere dazu, während 15 
jammerten, heulten und nicht zu beruhigen waren. Auch in der Klasse nebenan 
wurde ein 13jähriges Mädchen ohnmächtig. Die heulenden Kinder wurden 
von Rembold an das offene Fenster gestellt, mit der Aufforderung, frische 
Luft zu schöpfen. Die wie ohnmächtig Liegenden, deren Lider zitterten, die 
aber sonst auf Rufen, Schütteln nicht reagierten, bekamen eine nach der 
andern Yg Liter kalten Wassers ins Gesicht, dazu den energischen Befehl, 
sofort aufzustehen und die dummen Geschichten zu lassen. Siehe da, es war 
geradezu komisch, wie eine nach der andern mit einem tiefen Atemzug auf- 
fuhr, mit erstauntem Gesicht umherblickte. Damit war die Epidemie zu Ende. 

Erst im Sommer 1903 spielte sich hier in Wien eine ganz ähnliche 
Schulepidemie ab, wie ich einer mündlichen Mitteilung verdanke. Be- 
sonders bemerkenswert durch ihre Ausbreitung ist endlich jene von 
Holwede aus einer Bürgerschule zu Braunschweig berichtete, wo gar 
42 Mädchen im Alter von 8 — 14 Jahren erkrankten. Charakteristisch 
ist überall das plötzliche Auftreten der hysterischen Störungen inmitten 
scheinbar völliger Gesundheit des Individuums, was die Impressionabilität 
der Kinderseele dokumentiert. Es reicht bei Kindern tatsächlich die normale 
Suggestibilität aus, damit ein genügend afFektvoller Eindruck einfach 
durch Nachahmung hysteriforme Störungen auslöst. Man kann doch nicht 
gut annehmen, daß alle Schülerinnen einer Klasse hysterisch veranlagt sind. 

Auf die psychische Infektion wurde darum so ausführlich einge- 
gangen, weil sie nicht nur für die Genese vieler Fälle von Hysterie und 
speziell für die Formengebung entscheidend ist, sondern weil man damit 



225 

auch dem Wesen der Sache etwas näher tritt, wie im folgenden Kapitel 
näher erhellt. 

So wie der Anblick eines hysterischen Anfalles einem psychischen 
Trauma gleichzusetzen ist, ähnlich kann die Schwester der Hysterie, die 
Hypnose wirken und eine hysterische Geistesstörung hervorbringen. Ein 
Fall von Nolan: 

Ein englischer Soldat, erblich nicht belastet, allerdings Potator and 
körperlich heruntergekommen, macht einen mehrmonatlichen hochkomplizierten 
Dämmerzustand durch, nachdem eine Frauensperson ihn in tiefe Hypnose ver- 
setzt hatte. Im Zustandsbild finden sich bezeichnenderweise allerlei Erinnerungs- 
halluzinationen an die Hypnose. 

Auch Higier beobachtete post-hypnotische Dämmerzustände. 

Es handelt sich ja doch nur darum, daß irgend etwas einen leb- 
haften psychischen Eindruck macht, um einer veranlagten Hysterie Ge- 
legenheit zu geben, auszubrechen. Die durchsichtigste Form gewisser- 
maßen der psychischen Ätiologie ist jene, wo die Krankheit unmittelbar 
angeregt wird durch gewisse Ideenassoziationen, geweckt durch Erin- 
nerungen, die mit der Krankheitsvorstellung verknüpft sind. Alle Tage 
kann man beobachten, wie eine Hysterica manifeste Erscheinungen, patho- 
logische Affekte bietet, sowie man ihre wunden Stellen im GemUte be- 
rührt, ein Wort an Ideenkreise mahnt, die eine Exazerbation ihres Leidens 
veranlaßten. 

Dieser Mechanismus hat wohl Freud vorgelegen, als er sagte, kein 
hysterisches Symptom gehe aus einem Ereignisse allein hervor, sondern es 
wirke nur die assoziativ geweckte Erinnerung an frühere Ereignisse. 
Tatsächlich läßt sich in vielen Fällen aus den Geständnissen der Kranken 
eine derart vermittelte Ätiologie entnehmen; fraglich aber bleibt, ob man 
verallgemeinern, ein unbedingtes Gesetz aufstellen darf. Übrigens scheint 
das nicht wesentlich. Damit überhaupt etwas auf uns wirkt, muß es im 
Spiele der Assoziationen lebhaft geflihlsbetonte Erinnerungen wecken, 
welche den primären Gefühlssturm noch anschwellen machen. Im Falle 
der Hysterie sind dies peinliche Vorstellungen und depressive Affekte. 
Es gibt in diesem Sinne Vorgänge, welche die übergroße Mehrzahl aller 
Menschen affizieren, andererseits Ereignisse, die geradezu einen höchst 
persönlichen Geltungswert besitzen, indem sie eben pathogene Erinnerungen 
heraufbeschwören; auf assoziativem Wege wird das Gleichgewicht eines 
Nervensystems erschüttert. Aber auch nur dann und nur in diesem Sinne 
spricht man von einem psychischen Trauma. Niemand nimmt wohl an, 
daß das äußere Geschehnis unmittelbar die Hysterie provoziere. 

Und "auch die determinierenden psychischen Traumen müssen eine 
veranlagte Persönlichkeit vorfinden, die bei den bisherigen Erörterungen 
immer mehr in den Vordergrund trat. Es ist das Individuum, welches 
erkrankt, welches der Hysterie mehr weniger entgegenkommt. Charak- 

Raimann, Die liysterischen Geistesstörunj_'en. !•> 



226 

terisiert wurde bereits jene Labilität des Seelenlebens, die Haltlosigkeit 
Affekten gegenüber, die eine bestimmte Kategorie von Menschen den 
Hysterischen nähert, ebenso gefährdet sind auch Leute mit einer über- 
spannten Fhantasietätigkeit, Individuen, die eigentlich in ihrem Normal- 
zustande stets Phantastereien nachhängen, v^obei Glticksvorstellungen, 
Bilder einer großen Zukunft oder auch erotische eventuell religiöse Szenen 
bis zur Verzückung ausgeträumt werden, während der reale Boden unter 
den Füßen schwindet. Hier schlummert die Hysterie unter einer zarten 
Hülle; schließlich genügt ein ganz harmloser äußerer Anlaß. So gibt 
es Fälle in der Literatur, wo scheinbar das Anhören einer schaurigen 
Erzählung die Hysterie hervorruft (Ziehen, Sperling). Bei einer Patientin 
von Pitres tritt die Hysterie auf, da die Lehrerin vom Untergange 
Herculanums erzählt. Ein Fall eigener Beobachtung bekommt seinen 
ersten hysterischen Anfall, als in der Schule von Gespenstern gesprochen 
wird: die Kranke beginnt Geister zu sehen. Hier ist die Lehrerin an 
der obendrein chronischen Hysterie ganz unschuldig. Das betreffende 
achtjährige Kind hat nur die Gelegenheit benutzt, mit seinem Leiden 
herauszurücken, ihm einen Gedankeninhalt zu geben. Ist der Mechanismus 
der Hysterie gebahnt oder ausgefahren, dann genügt irgendein un- 
angenehmer Sinneseindruck, eine Theatervorstellung, ein Traum, ein Wort, 
um hysterische Erscheinungen auszulösen; die Patienten sind den ein- 
fachsten Gemütsbewegungen gegenüber beherrschungslos. Hier entfernt 
man sich am weitesten von der Ätiologie der Krankheit, man kann von 
Ursache schwer oder gar nicht mehr sprechen; es handelt sich eigentlich 
um die Auslösung von Einzelerscheinungen bei angeborener Hysterie. 
Namentlich wenn solche Beobachtungen, wie häufig, Kinder betreffen, 
sprechen sie ebenso entschieden wie eine Entstehung durch Unfall gegen 
die sexuelle Genese, machen vielmehr auf die Wichtigkeit der hysterischen 
Reaktionsweise, als der tatsächlichen Grundlage der Hysterie, aufmerksam. 

Die Unzahl der verschiedensten Ursachen reduziert sich somit auf 
eine einzige, den angeborenen, vielleicht auch in früher Jugend erworbenen 
Seelenzustand, der einem krankhaften Gehirnzustande entsprechen muß. 
Wenn man hinzufügt, daß beim Weibe in der Genitalfunktion eine er- 
giebige Quelle für jene Reize und Schädlichkeiten liegt, welche auf dem 
vorbereiteten Boden hysterische Erscheinungen auslösen; daß bei ent- 
sprechender Veranlagung oder bei Herabsetzung der Widerstandskraft des 
Nervensystems durch Gifte und erschöpfende körperliche Krankheiten, 
geringfügige andere Traumen psychischer Natur provozierend wirken: so 
sind alle Tatsachen der Erfahrung über das Auftreten der Hysterie befrie- 
digend in Einklang gebracht. 

Aus dem Zusammenwirken der zwei Faktoren, der konstitutionellen 
Veranlagung und der auslösenden Traumen erklären sich alle schein- 
baren Widersprüche. Ein sehr labiles Nervensystem erkrankt nur dann 



227 

nicht, wenn es in geschützter Lage, allen Schädlichkeiten entzogen bleibt, 
während sonst auf den geringfügigsten äußeren Anlaß hin, scheinbar 
spontan die Hysterie manifest wird. Diese Labilität des Nervensystems 
ist nicht etwas, was man erst post hoc erschließt, die Zeichen der Dis- 
position zur Keuropsychose sind klinisch in den meisten Fällen erkennbar; 
sie bieten prognostisch einen Anhaltspunkt und gestatten prophylaktische 
Maßnahmen gegen den Ausbruch der Erkrankung. Es sind hauptsächlich 
Züge des hysterischen Charakters und alle jene körperlichen und psy- 
chischen Abnormitäten, die auf Seite 201 skizziert wurden. Die Disposition 
ist natürlich je nach Individuen quantitativ abgestuft. Bei mittlerer Ver- 
anlagung, wenn man so sagen darf, weichen die Träger dieser nur mäch- 
tigen Affekt stürmen, einer Summation vieler Reize. Gefestigte Organisa- 
tionen, die den hysterischen geradezu polar gegeoüberstehen, erliegen nie. 
Jedenfalls ist die Hysterie stets ein und dieselbe; ob toxisch, ob trau- 
matisch, ob unmittelbar psychisch veranlaßt, in Wahrheit doch immer die 
durch einen äußeren Anstoß in Erscheinung getretene krankhafte Veran- 
lagung des Zentralnervensystems. 



15* 



V. Betrachtungen über das Wesen der Hysterie. 

Von den verschiedensten Seiten aus versuchte man in die Hvsterie 
einzudringen, ein Verständnis zu gewinnen für das Gemeinsame, das so 
vielerlei und so verschiedenartige Symptome zusammenhält. Es würde zu 
weit führen, alle maßgebenden Autoren über ihre Ansichten auszuholen^ 
zumal sich das meiste ja im Gebiet der Hypothese bewegt; einigen Gel- 
tungswert haben nur Gesetze, die man aus den Erscheinungen heraus 
folgerte. Ausdrücklich soll festgestellt werden, daß hier sowie bei der 
ätiologischen Forschung die Hysterie als eine und einheitliche Erkrankung 
zugrunde gelegt ist. Teilungen bedeuten etwas Äußerliches, Künstliches; 
man kann nur aus didaktischen Gründen versuchen, eine Hysterie paroxy- 
stique von einer interparoxystique, eine somatische von einer psychischen 
Hysterie zu trennen. Alle Fälle, welche der Untersuchung zum Vorwurfe 
dienen, leiden an beiderlei Störungen; dieselben sind vollkommen gleich- 
wertig und unterliegen den gleichen Normen. 

Ein kleiner Teil der Forscher glaubt das Wesen der Erkrankung 
in grob materiellen Vorgängen zu sehen. Zusammen mit der Neurasthenie, 
den anderen Neurosen, sollte auch die Hysterie aus Anämie, Dyspepsie 
und den damit verbundenen Stoffwechselstörungen entspringen (Tissot, 
Bouchut). Später machte man aus ihr eine Teilerscheinung der arthri- 
tischen Diathese (Axenfeld und Huchard, Bouchard, Vigouroux, 
B. Jones, Haig u. a.). Biernacki hält die Hysterie ftft einen sekun- 
dären Symptomenkomplex als Folge der Einwirkung spezifischer Produkte 
einer fehlerhaften Oxydationstätigkeit der Zellen einzelner Organe oder 
des ganzen Körpers. Husemann und Köster weisen auf die Ähnlichkeit 
hysterischer Zustandsbilder mit solchen von Schwefelkohlenstoff Vergiftung 
hin; letzterer Autor behauptet direkt, Schwefelkohlenstoff und andere 
Gifte rufen Oxydationsstörungen und damit das klinische Bild der 
Hysterie hervor. 

Nun ist das psychische Trauma aus der Ätiologie der Hysterie nicht 
zu eliminieren. Um die toxische und die affektive Entstehung unter einen 
Hut zu bringen, nahm man an, daß durch den psychischen Shock toxische 
Produkte gebildet werden; man zog zur Stütze dieser Annahme eine 
Beobachtung heran, welche auf den ersten Blick tatsächlich etwas Über- 
zeugendes zu haben scheint: Unter dem Einflüsse von Gemütsbewegungen 
wird die Muttermilch giftig; allerdings wie ich mir hinzuzufügen erlaube,. 



229 

giftig nur für den Säugling. Man braucht darum gar keine Toxine, die 
noch niemand nachgewiesen hat; es genügt, wenn unter dem Einflüsse 
vasomotorischer Störungen, die zum Wesen des Aflfektes gehören, die 
Zusammensetzung der Muttermilch sich in geringfügiger Weise ändert; 
der Säugling reagiert schon darauf. Sonst aber steht der Beweis für eine 
Giftproduktion im Affekte auf schwachen Füßen; das Mißverhältnis zwischen 
auslösender Gemütsbewegung, Schwere und Dauer der Hysterie wider- 
streitet augenfällig den exakten quantitativen Verhältnissen, auf denen die 
Chemie sich aufbaut. 

Von dieser Seite aus kommt man also nicht weiter. Biernacki, 
der seine Hypothese am konsequentesten ausgebaut hat, macht es anders. 
Er setzt die spezifischen Gifte als vorhanden, ohne über deren Natur 
irgendwelche Aufschlüsse geben zu können; er erklärt dann, dieselben 
modifizieren die Suggestibilität und erzeugen so das Krankheitsbild der 
Hysterie mit ihren Remissionen. Daß bei Hysterischen, wenigstens in 
einem Teil der Fälle, Stoffwechselstörungen bestehen, ist ja eine ziemlich 
wahrscheinliche Annahme; allerdings dürften dieselben verschiedenartig, 
vielleicht auch nur Teilerscheinungen des grundlegenden Prozesses sein. 
Es ist zu berücksichtigen, daß bis nun noch alle Stoffwechselunter- 
suehungen bei der Hysterie ergebnislos verlaufen sind, indem die Ent- 
deckungen des einen Autors durch die Nachprüfung eines zweiten ent- 
wertet wurden. Auch die letzten derartigen Analysen von Mainzer in 
der psychiatrischen Klinik zu Jena ergaben weder charakteristische noch 
konstante Befunde. 

Man möge verzeihen, wenn im Hinblicke auf die enormen Schwierig- 
keiten einer exakten Untersuchung und den problematischen Wert des 
etwa zu erhaltenden Resultates von vornherein darauf verzichtet wurde. Wenn 
man bei der Arthritis urica, wo die Stoffwechselstörung mit Händen zu 
greifen ist, noch nicht entscheiden konnte, ob wirklich die Harnsäure- 
bildung vermehrt ist; wenn beim Diabetes die einen eine Herabsetzung 
<ier Oxydationsvorgänge behaupten, die anderen auf Grund ihrer Stoff- 
wechseluntersuchungen bestreiten, so muß zugegeben werden, daß es 
ganz aussichtslos erscheint, mit diesen Methoden der Hysterie an den 
Leib rücken zu wollen. Und in einem so normalen Bestandteile des 
Organismus, wie die Harnsäure ihn darstellt, das Wesen der Hysterie zu 
suchen, ist a priori um so unwahrscheinlicher, als die Erfahrung über einen 
Zusammenhang der klinisch ja wohlbekannten Harnsäurediathese und 
hysterischer Erscheinungen relativ wenig lehrt. Man sieht die schwersten 
Arthritiker und keine Andeutung hysterischer Symptome, andererseits 
keinerlei Anzeichen von Harnsäurediathese bei schwerster Hysterie. Nicht 
einmal das Nebeneinander der beiden Krankheitszustände erhebt sich 
über das Niveau eines zufälligen eventuell durch Heredität begünstigten 
Zusammentreffens. 



230 

Die weitere Erfahrung der Klinik, daß es sich bei Hysterie um eine 
durch erbliche Belastung bedingte, angeborene oder um eine in früher 
Jugend erworbene Minderwertigkeit, jedenfalls um eine dauernde Anlage 
handelt, zwingt auch auf eine vasomotorische Erklärung zu verzichten. 
Die Vasomotoren können gar nicht so viel Stückchen spielen, als voa 
ihnen gefordert wurden; sie sollten die Melancholie, die Manie, die Epi- 
lepsie am Gewissen haben, nun auch noch die vielgestaltige Hysterie I 
Man kennt die Hyperämie der Hirnrinde beim Delirium acutum; bei der 
Hysterie hat sie noch niemand gesehen. Wohl sind die peripheren. 
Vasomotoren lebhaft in Mitleidenschaft gezogen; man fragt aber wie 
nach jedem andern Symptome der Hysterie: Wie kommt deren wechsele 
volles Spiel zustande? 

Es wurde behauptet, daß molekulare Protoplasmaveränderungen ein 
Leitungshindernis setzen, wo (?) der Wille auf die motorische Sphäre über- 
greift. Indessen scheint das, von der psychologisch etwas kühnen Ausdrucks- 
weise abgesehen, nur eine Versinnlichung dessen, daß das Individuum 
eben nicht wollen kann, während im Affekt oder reflektorisch, eventuell 
als Mitbewegung die betreffenden Muskelgruppen in Tätigkeit versetzt 
werden. Ebensowenig ist gewonnen mit der Annahme, Veränderungen der 
Dendriten und Achsenzylinder verursachen die Hysterie. Hier drücken 
sich augenblickliche Anschauungen von der Funktion des Nerven- 
systems aus. Wenn die Neurontheorie fallen und an ihre Stelle die 
Fibrillenlehre treten sollte, kann man wieder eine andere Möglichkeit 
ersinnen. Diese Erklärungsversuche wollen übrigens nicht einmal der 
ganzen Hysterie gerecht werden, beziehen sich nur auf einzelne Symptome. 

Wenn man in dieser Weise das Wesen der Hysterie ergründen 
will, so scheint es, als ob man auch müßte erklären können, warum der 
eine Mensch Phlegmatiker, der andere Choleriker ist. Gewiß gibt es 
eine chemische oder anatomische Grundlage dafür, daß das Zentral- 
nervensystem auf die äußeren Reize in einer bestimmten Weise anspricht. 
Die mikroskopische Untersuchung aber läßt im Stiche, weil die Erkenntnis- 
solcher persönlicher Eigenart im Aufbau der nervösen Organe gewiß 
noch lange Zeit aller technischen Fortschritte der Präparierkunst spotten 
wird, ebenso wie die Analysen versagen. Nicht einmal über den Sitz 
der Krankheit sind mehr als begründete Vermutungen möglich. Unter 
dem Eindrucke, daß die Störung bei der Hysterie die höchsten psychischen 
Zentralapparate befällt, das bewußte Wollen, während alle unterbewußten, 
reflektorischen Handlungen prompt möglich sind, suchte man den Prozeß 
in der Großhirnrinde, während andere Forscher mit Rücksicht auf die 
allgemeine Verbreitung der Symptome das Nervensystem einschließlich 
des Sympathicus, eventuell den ganzen Körper erkrankt sein lassen. 

Die Hysterie reagiert auf psychische Einflüsse. Sie entsteht, die 
einzelne Äußerung wird geweckt von dem Seelenleben her und die 



231 

weitaus größere Mehrzahl aller Forscher hat ihr darum von der geistigen 
Seite aus näher zu rücken versucht. 

Die Franzosen mögen den Vortritt haben. Briquet nennt die 
Hysterie eine Maladie dynamique, Brodie etwas anderes als die 
organischen Affektionen; Charcot und seine Schüler erklären sie für eine 
psychische Erkrankung im vollsten Sinne des Wortes: alle Erscheinungen 
werden durch Vorstellungen vermittelt. Aus Anästhesien und Amnesien 
glaubte man schließen zu können, daß die Persönlichkeit gewissermaßen 
gespalten sei, in dem Sinne, daß einzelne, und zwar wechselnde Gebiete 
der Sinneserfahrung den Zusammenhang mit dem Gesamtbewußtsein ver- 
lieren oder, wie Sollier das ausdrückt, daß ein Anteil des Gehirnes schläft 
und daher für das hysterische Bewußtsein ausfällt. Der Vigilambulismus, 
in welchem die Hvsterischen sich dauernd befinden, entstehe durch Addition 
der partiellen Schlafzustände. 

Sollier, der teilweise eigenartige Ansichten verficht, hat durch den 
mit oder ohne Hypnose erteilten Befehl zu erwachen, Hysterische wie 
aus tiefem Schlafe aufkommen gesehen, ihre Gefühlsstörung war ver- 
schwunden. Wenn er normale Sensibilität suggerierte, trat auch normaler 
Wachzustand ein. Das kann sich nur auf einen kleinen Teil aller Patienten 
beziehen, obendrein auf Hysterische einer bestimmten Dressur. Man findet 
nicht überall Anästhesien, im Gegenteile oft Hyperästhesien, motorische 
Reizerscheinungen, Kontrakturen, Krämpfe. Die Bezeichnung Schlafzustand 
ist wohl ein schönes Bild, entspricht aber dem Negativismus selbst 
dämmerhafter Kranker nicht. Ebensowenig stimmt diese Theorie zu den 
Amnesien: die Individuen haben nicht irgendwelche Reihen von Vorstellungen 
vergessen, sondern ganz bestimmte; speziell wissen sie das nicht, was 
in Beziehung zu ihrem Leiden steht, was ihnen persönlich unangenehm 
ist; sie ziehen aber Konsequenzen aus dem, was sie nicht zu wissen 
scheinen. Hier liegt eine Gesetzmäßigkeit verborgen, ein zufälliger Schlaf- 
zustand irgendwelcher Himteile kann diese systemisierten Ausfälle nicht 
erklären. Jedenfalls wäre die Hysterie spielend zu heilen, man brauchte 
die Schlafenden nur zu erwecken. 

Für Janet ist die Hysterie eine Geisteskrankheit, eine Form 
geistigen Zerfalles, dessen körperliche Symptome unwesentlich sind; er 
führt dies psychologisch durch. Während beim Gesunden die Gedanken- 
assoziationen durch Kritik und Wille geregelt werden, entwickelt sich 
bei der Hysterie im Anschlüsse an eigene oder aufgenommene fremde 
Vorstellungen automatisch, ohne Anteilnahme des Willens und der Per- 
sönlichkeit, das ganze System von Gesichts-, Gehörsbildern, Afffekten, 
Handlungen, welche die Idee ausmachen. Im Vordergrund der Er- 
scheinungen steht die Abulie, welche sich in dem Mangel an Initiative 
sowie in dem Unvermögen äußert, aus diesem Zustande sich- zu befreien. 
Diese Abulie betrifft nur eine Kategorie von Akten; alle willkürlichen, 



232 

bewußten, im Augenblick geschaffenen, bei denen eine Kombination 
erfordert wird, fallen schwer oder sind ganz unmöglich, während 
die altgewohnten, früher organisierten, mehr oder weniger automatischen, 
die suggerierten Handlungen, die vom augenblicklichen Zustande der 
Persönlichkeit unabhängigen, ohne Schwierigkeit vollzogen werden können. 
Das Wesen der Hysterie sei demnach eine Abschwächung de la synth^se 
psychologique, eine Einschränkung des Bewußtseinsfeldes. Ein Teil der 
psychischen Vorgänge gelangt nicht dahin. Es entsteht dadurch die 
Neigung zur dauernden und vollständigen Spaltung, Verdopplung der 
Persönlichkeit, zur Bildung unabhängiger seelischer Komplexe. Außer dem 
wachen gibt es ein demselben unzugängliches Nebenbewußtsein; Be- 
wußtseinszustände, die einander folgen oder nebeneinander stehen. 

Diese geistvolle Deduktion folgt zur Gänze aus sinnfälliger Wahr- 
nehmung. Man beobachtet, daß die Hysterica eine Rolle spielt, durch einen 
schmerzhaften Reiz veranlaßt wird, ihre frühere Persönlichkeit wieder 
aufzunehmen. Während eines Delirs, ja während des Dauerzustandes 
erweckt es oft den Eindruck, als wären zwei Personen vorhanden, eine, 
welche die psychischen Gesetze der Funktionsstörung aufstellt, und die 
kranke. Dem Wesen der Hysterie rückt man dadurch etwas näher; oben- 
drein werden diese Erscheinungen begreiflicher, wenn sich zeigen läßt, 
daß eine solche Bewußtseinsspaltung angedeutet schon beim normalen 
Menschen vorkommt. Analoges gehört unter gewissen Bedingungen in die 
Breite des physiologischen Seelenlebens, die Hysterie steigert nur eine 
Eigentümlichkeit der Psyche. Auf die Beziehungen zwischen Hysterie und 
Norm soll später im Zusammenhange eingegangen werden. 

Eine andere wertvolle Analogie bietet der Vorgang der Hypnose. 
Wiederholt wurde schon darauf hingewiesen, daß Bilder, wie die Hysterie 
sie bietet, bis in die kleinsten Details genau, auch durch Hypnose 
geschaffen werden können. Diese hat mit Schlaf nichts zu tun, denn es 
ward die Aufmerksamkeit auf die Vorstellung des Schlafens konzentriert, 
während für den wirklichen Schlaf Mangel jeder Konzentration Bedingung 
ist. Man muß die Hypnose auffassen als einen durch psychische Ein- 
wirkung geschaffenen Bewußtseinszustand, der sich durch Einschränkung 
kritischer Assoziationen und eine erhöhte Empfänglichkeit für Suggestion 
auszeichnet. Ein fremder Einfluß, ein bewußtes Wollen wirkt auf die 
Auswahl und Fälschung der Apperzeption. Der Hypnotiseur veranlaßt sein 
Medium z. B. gewisse Sinneswahrnehmungen, einen gewissen Bewußtseins- 
inhalt zu eliminieren, anderes an die Stelle zu setzen. Das Medium wie 
der Kranke mit dem gleichen Zustandsbilde glauben nicht zu wissen, 
sie müssen aber eigentlich wissen — ein unbewußtes Wissen gibt es 
nicht — was sie alles nicht wahrnehmen und unter -welchen Umständen 
sie es nicht wahrnehmen; die Einschränkung des Bewußtseins kann nur 
scheinbar sein. Die negative Halluzination z. B. setzt doch die Wahr- 



233 

nehmung jener Person voraus, deren Abwesenheit über suggestiven Auf- 
trag bestätigt wird; wie wäre es sonst möglich, gerade nur dieses be- 
stimmte Netzhautbild zu unterdrücken, während im übrigen ein geschlossenes 
Weltbild aufgefaßt wird? Die Proben, denen man ein solches Medium 
unterwirft, zwingen dasselbe zu ebensoviel Denkoperationen, bei welchen 
das wegsuggerierte Objekt stets mit in Rechnung gezogen wird. Man 
versuche nur einmal aus einer Tischgesellschaft eine Persönlichkeit voll- 
kommen zu ignorieren; ohne Differenzierung dieser Person, die ganz 
genau aufgefaßt sein muß von allen anderen, ohne gesteigerte Auf- 
merksamkeit, sowie gerade diese Person sich bemerklich macht, ohne 
eine besondere Reaktion auf alle Wahrnehmungen, die speziell von dieser 
Person ausgehen, gelingt dies gar nicht. Mutatis mutandis gilt eine 
ähnliche Erwägung bezüglich aller Aufträge, die man Somnambulen erteilt. 

Jan et selbst stellt fest, daß der hysterische Geisteszustand mit 
dem habitueller Hypnotiker vollkommen übereinstimme; er führt dies in 
überzeugender Weise durch. Babinski betont den Wechsel hypnotischer 
und hysterischer Symptome an einem und demselben Individuum. Auch 
im vorliegenden Buche wurde davon gesprochen, an der Hand von 
Beobachtungen auseinandergesetzt, daß das Denken, Fühlen und Handeln 
Hysterischer dem der Medien völlig gleicht; diese Tatsache damit 
begründet, daß Hysterie und Hypnotismus in der Suggestibilität eine 
gemeinsame Wurzel haben. Die Einschränkung des Bewußtseins und die 
Spaltung der Persönlichkeit ist ein Mechanismus, der vielleicht aus 
jedem Seelenleben durch Suggestion herausgeholt werden kann, der bei 
Hysterischen abnorm leicht anspricht; doch aber bewegen sich die 
Hypnotisierten in den Gedankenkreisen des Hypnotiseurs, die Hysterischen 
vorwiegend in eigenen Suggestionen. Es darf darum die Krankheit 
Hysterie und ihre vielgestaltigen Äußerungen nicht identifiziert werden mit 
dem Kunstprodukt Hypnose, welche nur einen vorübergehenden Geistes- 
zustand darstellt. Daß jemand in der Lage ist, sich in Autosuggestionen 
einzuspinnen, das veranlagt ihn zur Hysterie. Parallel damit geht dann 
freilich eine pathologische Beeinflußbarkeit des gesamten Nervensystems 
durch Vorstellungen überhaupt. Alle Menschen sind suggestibel; die 
Hysterischen zeichnen sich vor den übrigen Menschen aus durch erhöhte 
Suggestibilität; dieselbe erschöpft das Wesen der Hysterie nicht, wenn 
sie auch deren Erscheinungsformen beeinflußt und beherrscht. 

Auch die neueste offizielle und allgemein anerkannte Definition der 
französischen Schule setzt hier noch ein. Babinski sagt: Die Hysterie 
ist ein Geisteszustand (un 6tat psychique, une affection psychique) der 
das befallene Subjekt fähig macht, Autosuggestionen zu unterliegen, 
suggeriert und geheilt zu werden unter dem ausschließlichen Einflüsse 
-der Überredung. 

Deutscherseits belegt man das Verhalten der Hysterie, die gesetz- 



234 

mäßige Abhängigkeit von Suggestionen durch die Bezeichnung Psychogenie^ 
Aber wenn auch alle Erscheinungen vom Bewußtseinsorgan beeinflußt 
werden, so sind sie doch nicht alle psychogen. 

Möbius drückt sich folgendermaßen aus: Die Hysterie ist ein krank- 
hafter Zustand, in welchem seelische Vorgänge teils beliebige, vom Inhalte 
der Vorstellungen abhängige, teils bestimmte, der Hysterie eigentümliche, 
bald körperliche, bald seelische Veränderungen bewirken. Der Autor 
greift zur Analogie, um einzelne Erscheinungen der Hysterie verständlich 
zu machen. Vorstellungen, Gefühle, namentlich Affekte erwecken beim 
normalen Menschen körperliche Vorgänge, die ihrer Form nach keines- 
wegs dem Inhalte der auslösenden Ursache entsprechen und gelegentlich 
Gebiete betreffen, welche dem Einfluß des bewußten Willens entzogen 
sind, vom Subjekt selbst gar nicht bemerkt werden. Die hysterische 
Reaktionsweise ist eine Weiterbildung, eine Steigerung, andererseits 
gewissermaßen eine Karrikatur (Oppenheim) der AflFektwirkung beim 
Gesunden. Auf diese Begriffsbestimmung wird noch ausführlich zurück- 
zukommen sein; vorläufig sei einer Einschränkung gedacht, die man den 
Vertretern der Psychogenie entgegenhalten kann. 

Nicht alle ideogen entstandenen Symptome sind hysterisch, denn 
auch bei der Hypochondrie und bei Simulanten werden solche ganz, 
regelmäßig auf diesem Wege erzeugt. Ein grundlegender Unterschied 
soll darin gegeben sein, daß die Hysterie ohne Dazwischenkunft von 
Bewußtsein oder Reflexion Krankheitserscheinungen schafft. Man betrachte 
z. B. eine Lähmung. Die Vorstellung des Nichtkönnens ist Ursache 
des Ausfalles; die Vorstellung taucht auf, findet in der angeborenen 
hysterischen Anlage, einer gewissen Leere des Bewußtseins keinen 
Widerstand und setzt sich direkt und unbewußt in wirkliches Nicht- 
können um. Mit der Hypochondrie ist es eine eigene Sache, worüber 
noch im Kapitel Differentialdiagnose ausführlich zu reden sein wird. Er- 
kennt man eine hypochondrische Lähmung an, so wäre auf die bewußte 
Vermittlung des Krankheitssymptomes das Hauptgewicht zu legen. Beim 
Simulanten ist es natürlich ein rein bewußter Vorgang, ein beabsichtigter, 
jederzeit mit voller Einsetzung der Willkür aufrechterhaltener Betrug. 

So gewiß nun aber der erstgenannte, der unbewußte Entstehungs- 
modus bei Hysterie herrschen dürfte, so sicher gibt es auch bewußte 
Übertreibung und Täuschung. Man mag noch so viel von der Ehrlichkeit 
der Hysterischen deklamieren, die Tatsache der hysterischen Simu- 
lation wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Eine Zwischenform 
gewissermaßen bilden die gar nicht seltenen Beobachtungen, wo dem 
Auftreten des hysterischen Symptoms die Vorstellung seines Auftretens 
vorangeht. Die Kranken denken an den Anfall, man spricht davon, 
sie wollen ihn bekommen und sie bekommen ihn. Hier hat sich eine 
Bahnung so weit entwickelt, daß jederzeit der Mechanismus zum 



235 

Ablaufe gebracht werden kann; die unterbewußte Erscheinungsreilie 
geht aus der bewußten hervor. Eine erschöpfende Erklärung der Hysterie 
hat nicht nur diesen Beobachtungen, sondern auch der Tatsache der 
wohlüberlegten und berechnenden, hartnäckig festgehaltenen, anscheinend 
zwecklosen Betrügerei Rechnung zu tragen. Man wird gezwungen, eine 
tiefere Störung im Bewußtseinsorgan anzunehmen, an die Herrschaft 
krankhafter Vorstellungen, speziell des Krankheitswillens zu glauben. 

Sokolowskij der diesen Krankheitswillen in den Vordergrund 
schiebt, leitet ihn logisch aus der Insuffizienz der Individuen ab, welche 
hysterisch werden. Dieselben sind irgendwelchen Schwierigkeiten nicht 
mehr gewachsen und flüchten sich in die Krankheit, die ihnen Rettung 
und Trost gewährt. Er definiert die Hysterie: Kranksein als Äquivalent 
des psychischen Gleichgewichtes bei subjektiv empfundener Unzulänglich- 
keit entarteter Individuen und unterscheidet viererlei Formen: 1. tat- 
sächlich vorhandene Störungen, Gelegenheitssymptome werden aufge- 
griffen, erhalten den Stempel der Kausalität; 2. unterbewußte Akte, 
die bei dem mangelhaft entwickelten Korrektiv einer labilen Psyche 
durch Suggestion respektive Autosuggestion hervorgerufen werden, zu 
denen der Kranke passiv Stellung nimmt; 3. Prozesse, die dem Patienten 
in ihrem Wesen, in ihrer Entstehung wohl bekannt sind, zu denen er 
aktiv sich stellt; hierzu rechnet der Autor: Mutazismus, hysterische 
Krämpfe, Schlafsucht, Irresein; 4. frei erfundene und vorgetäuschte 
Symptome, wenn alles andere fehlt; und die Hysterischen schwindeln 
schamlos. 

Sokolowski fährt in seiner geistreichen Analyse fort: die Krankheit 
wird zum Blitzableiter für die Verzweiflung über ein erlebtes oder dro- 
hendes Fiasko; die Hysterica darf sich vom Kampfe ums Dasein befreien, 
die eigene Insuffizienz andere entgelten lassen, sie spielt eine Rolle, 
welche sie befriedigt. Die ärztlichen Maßnahmen bedeuten eine Sanktio- 
nierung des Krankheitswillens, entsprechen den Intentionen des hysterischen 
Individuums; eine Heilung ist nur möglich, wenn man den Patienten ein 
Äquivalent bietet, eine neue Kurmethode, die sie begeistert aufnehmen^ 
philanthropische Schwärmerei. Gelegentlich verliert das Kranksein von 
selbst seinen Reiz, dann kommt Alkohol, Morphium, der Selbstmord, 
Bühne, Kloster, das Bordell an die Reihe. 

Was Sokolowski hier folgert, deckt sich mit der Erscheinungs- 
weise der Hysterie in einer großen Zahl von Fällen, deren Verlauf man 
mit parallelen Gedankenreihen begleiten kann. Insofern ist aber nur 
gerechtfertigt, daß in dem vorliegenden Buche die Krankheit eine logische 
genannt wurde. Die Symptomatologie wird dem Verständnisse näher ge- 
bracht, nicht aber das Wesen der Hysterie getroffen; denn nicht jeder 
Schwächling wird hysterisch. Und wenn ein solcher über einen Anlaß 
erkrankt, der Beobachter glaubt, es wäre jetzt Grund vorhanden, hysterisch 



236 

zu sein; wenn man tatsächlich den Eindruck empfängt, die Patientin sei 
jetzt ihrer Internierung überdrüssig, wolle es wieder mit der Freiheit 
versuchen: so sind schließlich das alles Argumentationen eines gesunden 
Bewußtseins, welche nur in die Kranke hineingedacht werden. Die 
Gesunden handeln nicht so und können nicht so handeln, insofern ihnen 
die hysterische Veranlagung fehlt, die derartigen Alternativen zugänglich 
ist. Man darf ohne weiteres zugestehen, daß das Milieu, die moderne Huma- 
nität die Neuropsychose ebenso züchtet, wie die Liberalität im Bemessen 
der Unfallsentschädigung, namentlich nach Eisenbahnkatastrophen, die trau- 
matischen Hysterien emporschießen läßt und verschlimmert. Aber Hysterie 
hat es schon früher gegeben und wird es immer geben, selbst wenn 
andere Grundsätze und Anschauungen geltend werden sollten. 

Die meisten Menschen kommen einmal in eine Situation, der sie 
nicht gewachsen sind; sie müssen also, wie auch Sokolowski selbst 
einräumt, entartet sein, um zu dem Rettungsanker der Hysterie zu greifen; 
weiters sind ohne die angeborene Anlage, gewisse Mechanismen (2 und 
3) nicht zu produzieren. Mit dieser angeborenen hysterischen Anlage 
wird die Her Vorkehrung der Simulation bedeutend entwertet; denn so gewiß 
es ist, daß viele Hysterische ein bestimmtes, materiell zu fassendes Inter- 
esse haben, gerade jetzt krank zu erscheinen, sich darüber zu freuen, daß 
sie vom Ringen um die Existenz befreit sind, weil sie ja als Patienten 
nichts leisten können: so sicher ist es auch, daß dieses Motiv andere- 
male fehlt. Wenn eine Person nach einem schweren Affekt in tobsüchtiger 
Erregung zum erstenmale an den Ort aller Schrecken, die Irrenanstalt 
gebracht und dort durch längere Zeit in der Tobabteilung gehalten 
werden muß, wo ihr das primitivste, was zum Leben notwendig ist, ab- 
geht, so kann man von Krankseinwollen aus materiellem Vorteil nicht 
sprechen; da handelt es sich um die abnorme Reaktion einer abnormen 
Persönlichkeit auf ein stattgefundenes Trauma. Die vielen Hysterischen, 
welche auf Scheiterhaufen endeten, haben auch an ihre Zustände 
geglaubt. Daß manche dieser Patienten späterhin lernen, aus ihrem 
Leiden Kapital zu schlagen, ist eine Folge ihrer erhaltenen Besonnenheit. 
Was die kindliche Hysterie betrifft, so dürfte wohl immer ein aktiver 
Antrieb die Erkrankung verständlicher machen. Kinder wollen ja nicht 
der Sorge ums Dasein enthoben werden, sondern sich für eine erlittene 
Züchtigung rächen, dem Lehrer etwas antun, oder auch sie werden bei 
entsprechender Veranlagung durch einen Aflfekteindruck überwältigt. 

In allen diesen Fällen wäre klarzulegen, wie äußere Einwirkungen, 
Wahrnehmungen, Gemütsbewegungen zur Krankheit führen, wüe auf deren 
Boden die Krankheitsvorstellungen entstehen und wie dieselben in Sym- 
ptome sich umsetzen. Einer herrschenden Strömung in der psychologischen 
Forschung folgend, hat man sich durch lange Zeit besonders ein- 
gehend mit dem Vorstellungsleben der Hysterischen beschäftigt, der 



237 

Wichtigkeit des emotiven Momentes vielleicht nicht gebührend Rechnung 
getragen. Die neueren Untersucher beeilen sich, dieses Versäumnis gutzu- 
machen; man spricht immer mehr von der Holle der Aifekte in der 
Hysterie. Leider sind gerade nur die intellektuellen Anteile der kompli- 
zierten Bewußtseinsvorgänge einer genaueren Erforschung zugänglich. 

Vogt hat durch Analyse zahlreicher hysterischer Symptome stets 
eine psychische Ätiologie, bei einer Gruppe derselben immer eine Gefühls- 
wirkung gefunden. Er folgert daraus, daß das intellektuelle Substrat des 
pathogenen Gefühles, daß dieses Gefühl selbst oder dessen sekundäre 
Innervationsveränderungen den Inhalt des hysterischen Phänomens bilden. 
Sein Auftreten ist damit natürlich nicht erklärt, auch Vogt muß als Grund- 
lage der Hysterie eine pathologische Gemütserregbarkeit annehmen. Diese 
scheint allein vorhanden in Fällen, wo es nicht einmal realer Erlebnisse 
bedarf, wo die pathogenen Geftthlstöne nur an Produkte der Phantasie 
anknüpfen, wo also offenkundig eine krankhafte Persönlichkeit aus sich 
heraus aUes schafft. 

Kanschburg und Hajos suchen deren Wesen in einer eingeschränkten 
Assoziationsfähigkeit als Degenerationserscheinung. 

Ziehen spricht von der großen Rolle der Assoziationsstörungen; er 
dringt viel tiefer ein und betont, daß diese Störungen besonders dann 
auftreten, wenn die Aufmerksamkeit der Kranken hingelenkt wird. Der 
primäre Ausfall einzelner Empfindungen und Vorstellungen als funktionell 
sei den Hemmungs- und Ermüdungserscheinungen verwandt; die Reiz- 
erscheinungen der Hysterie wären auf eine primäre Intensitätssteigerung 
zu beziehen. 

Bei dieser Feststellung des Tatbestandes geht man von .bewußten 
Vorgängen aus und führt die psychologische Analyse nach den Regeln 
der Kunst weiter. Wie jede Art Untersuchung stößt auch diese bei 
den Hysterischen auf ganz besondere Schwierigkeiten, die in der 
Natur des Krankheitsprozesses liegen. Wenn die Patienten etwas preis- 
geben, muß es nicht wahr sein, bei wiederholtem Examen bekommt man 
immer andere Antworten, immer andere Motive, schließlich erzählen sie, 
was dem Arzte paßt. Und erfährt man nichts Inhaltliches während 
oder im Rückblicke auf eine abgelaufene Zeit psychischer Störung, 
dann weiß man erst nichts über Innenvorgänge. Ausdrücklich sei 
betont, das übergroße Skepsis nur den Selbstbekenntnissen gegenüber 
am Platze ist. Man trifft eine bedeutende Zahl von Hysterischen, deren 
Gedächtnis für Äußerlichkeiten vollkommen treu ist, die sich mit über- 
raschender Genauigkeit ausdrücken, die aber dennoch ihr Inneres ver- 
hüllen, weil bei Berührung höchstpersönlicher Interessen Unlustaffekte zu 
überwinden sind. Begreiflich, auch ein Gesunder entschließt sich nicht 
leicht, sein „Ich"* ganz offen dem Fremden entgegenzutragen. Vielleicht 
sprechen die Kranken einmal ganz rückhaltlos und wahr; dann geht 



238 

€S den Ärzten wie den Partnern eines berühmten Diplomaten, der seine 
glänzendsten Coups dadurch ermöglichte, daß er sie vorher getreulich 
ankündigte. 

In der Regel muß man aus einem Gewebe von Unaufrichtigkeiten 
Gesetze herauszufinden suchen, dabei der Versuchung unterliegen, für 
die fehlenden Zwischenglieder im fremden Bewußtsein Denkvorgänge 
hineinzuinterpretieren, die man gegebenenfalls selbst entwickelt hätte; 
€S werden Voraussetzungen, subjektive Anschauungen, Gesetze in den 
Hystericus hineingetragen, hineinexaminiert, indem die außerordentlich 
«uggestiblen Patienten mit ihrem Arzte sich identifizieren. Die scharf- 
sinnigsten experimentalpsychologischen Arbeiten an Hysterischen enthüllen 
zu allermeist nur Suggestionsphänomene und gestatten keinen Schluß auf 
das Wesen des Krankheitsprozesses. Darum hat Nissl erst vor kurzem 
eine Philippika gegen die psychologische Forschung losgelassen. Trotz 
alledem wird es gerade bei der Hysterie nicht angehen, auf jene zu ver- 
zichten. Der Beobachter reflektiert über den eigenen Seelenzustand, macht 
die stillschweigende Voraussetzung, daß der psychische Mechanismus des 
Objektes identisch funktioniert: ganz richtig. Warum ist man aber davon 
abgekommen, z. B. die Paranoia psychologisch zu verstehen? Weil man 
sieht, daß das Denken der Paranoiker mit dem normalen Denken nicht 
parallel geht, daß man selbst bei Kenntnis aller Prämissen und Zwischen- 
glieder zu anderen Ergebnissen gelangt; an Stelle der Logik spricht hier 
eine Paralogik. Die Klinik der hysterischen Geisteskrankheiten lehrt hin- 
gegen, daß die Denkgesetze die gleichen sind wie bei gesunden Menschen, 
daß letztere unter Annahme bestimmter und näher zu begründender Vor- 
aussetzungen dieselben Schlüsse ziehen wie die Hysterischen, in das ver- 
ivickelte Getriebe Einblick nehmen und die höchste Probe auf die 
Eichtigkeit anstellen können in der Voraussage und in der Therapie. Hat 
man einem kriminellen Stupor klar gemacht, daß der Zustand nur eine 
Verlängerung seiner Haft herbeiführt, dann wird er gesund. 

Bezüglich der Prämissen, die man seinen psychologischen Betrach- 
tungen zugrunde legt, ist man nicht ausschließlich aufs Raten, d. h. auf 
seine Kombi nationsgabe angewiesen. Einmal steht das Verhalten Hyste- 
rischer dem kindlichen sehr nahe und Kinder lassen sich unter Um- 
ständen leichter studieren. Weiters ist nicht zu bezweifeln, daß viele 
Menschen eine Anlage zu Hysterie mit sich herumtragen, der hysterischen 
Denk- und Reaktionsweise sich nähern. Der Vergleich zahlreicher Selbst- 
bekenntnisse von psychologisch geschulten Übergangsfällen, deutlich 
hysterisch Veranlagter und Hysterien im Intervall gibt ein gewisses 
Recht zu Analogieschlüssen. Man weiß ferner, daß die Unwahrheit 
besonders dann sich vordrängt, wenn man examiniert; bei Ablenkung im 
alltäglichen, Verkehr lassen die Patienten sich viel aufrichtiger an; die 
wertvollsten Aufschlüsse erhält man darum aus dem persönlichen Um- 



239 

gange mit intelligenten Hysterischen, aus zufälligen, unabsichtlichen 
Bemerkungen. Übrigens wurden schon in den Krankengeschichten wieder- 
holt solch indirekte Beobachtungen herangezogen. Es wird kaum möglich 
sein, das Wesen der Hysterie psychologisch zu erklären, unanfechtbar 
hingegen ist es, wenn man aufzeigt, wie ihre Äußerungen auf Suggesti- 
bilität und Dissoziation beruhen. Man gewinnt damit, wie in der Diskussion 
nach Nissl schon Gaupp hervorgehoben hat, einen Fingerzeig mehr 
für das genetische der Störung als für das Verständnis; die psychologische 
Analyse ist unerläßlich für die Beseitigung der Krankheitserscheinungen. 
Psychogene Störungen müssen psychologisch aufgefaßt und behandelt 
werden; dadurch unterscheidet sich die Hysterie von anderen psycho- 
pathologischen Prozessen. 

Wenn man sieht, daß der Patient stumm, lebensüberdrüssig ist zur 
Zeit der Visite^ sich dann ganz prächtig mit seinen Schicksalsgenossen 
unterhält; wenn eine Frau, schwer leidend, ihren Mann zur Abreise auf 
den Bahnhof nicht begleiten kann, von rechts und links gestützt werden 
muß, da ihre Beine sie nicht tragen, wenn diese Frau aber, sowie der 
Train die Halle verläßt, auf eip Bicycle sich schwingt und 40 km in 
einem Zuge durchradelt; wenn ein Scheintoter durch Einwffkung des 
faradischen Pinsels unvermittelt zum Leben wieder erwacht: so ist an 
•der Herrschaft von Vorstellungen nicht zu zweifeln. Jeder hysterische 
.Symptomenkomplex hat sein veranlassendes Moment, dessen Beschaffenheit 
in hohem Grade die Ausgestaltung der Psychose beeinflußt. Wenn die 
Hysterica simuliert, ist natürlich die vorgetäuschte Störung keine Krankheit, 
wohl aber muß man es der Patientin als Krankheit anrechnen, daß sie 
betrögt. 

Wie kommt es nun zu dieser Herrschaft krankhafter Vorstellungen? 
Das psychologische Studium, vertieft durch Heranziehung von Analogien 
am Gesunden, gelangt nur bis zu einem gewissen Punkte, bricht dann 
•sb. Die weitere Analyse versagt, man kann sie ausdenken, aber beim 
Patienten nicht weiter verfolgen. So gesteht Laurent: Alle hysterischen 
Symptome sind Wirkungen, die, vom Bewußten ausgehend, sich im 
Unbewußten vollziehen, wo die Möglichkeit fehlt, der Entwicklung 
nachzugehen. 

Man tritt damit in das Eeich des Unbewußten. Eine Anzahl Autoren 
läßt sich dadurch nicht abschrecken; es wird als Größe x in die Betrachtung 
-einbezogen, man rechnet mit der Annahme unbewußter Vorgänge. So 
will Jelgersma in der Pathogenese der Hysterie eine große Rolle den 
„fixen Ideen" zuweisen. Dieselben entstammen einem tatsächlichen Vor- 
kommnis, welches auf die Hysterica einen großen Eindmck gemacht hat; 
mehr weniger unbewußt, ohne darum den Einfluß auf das bewußte 
<jeistesleben zu verlieren, werden sie hartnäckig festgehalten und geben 
Anlaß zu hysterischen Symptomen. 



240 

Zunächst ist wohl notwendig, sich darüber auseinanderzusetzen^ 
was man unterbewußte respektive unbewußte Vorstellungen nennt. In 
der kurzen Ausdrucksweise scheint das eine Contradictio in adjecto; 
von berufener Seite wird auch versichert, ihre Existenz sei etwa» 
durchaus Unbewiesenes. Sicher hingegen ist, daß in unserem Bewußtseins- 
organ Erinnerungsbilder von Vorstellungen, Gefühlstönen und Willens- 
akten schlummern, die geweckt, in das Spiel der bewußten Asso- 
ziationen gezogen werden können, wenn sie auch augenblicks nicht in 
der Helle des Bewußtseins liegen. Es ist, wie wenn die Sonne unserer 
Aufmerksamkeit jeweils nur eine kleine Gruppe psychischer Elemente 
hell beleuchtete, die dann gleich wieder in das Dunkel des Unbewußten 
getaucht erscheinen; wie ein elektrischer Scheinwerfer nachts auf hoher 
See nur einzelne Wellenkämme erglänzen läßt: ein Bild, das man sich 
keinesfalls räumlich, sinnlich vorstellen darf, das aber noch einen Weiter- 
bau gestattet. Zielbewußt sucht der Lichtkegel die Meeresoberfläche ab, 
wir wecken planmäßig eine Erinnerungsreihe, aber auch die benachbarten 
Wellen heben sich ins Licht — Association per contiguitatem; — endlich 
taucht hier und dort ein lebendes Wesen auf, einem Eigenwillen gehorchend 
— freisteigende, obsedierende Vorstellungen, die selbst das Dunkel des 
Unbewußten verlassen. 

Es will mir scheinen, als ob es viererlei Stufen halb- respektive 
unbewußter Erinnerungen gäbe. Zu allertiefst schlummern solche der 
frühesten Kindheit. Das Verhalten des Säuglings läßt keinen Zweifel, 
daß elementare psychische Vorgänge schon während der ersten Lebens- 
monate im Gedächtnis haften. Die ständige Umgebung, speziell Mutter 
und Amme, werden erkannt, freudig begrüßt, nach einigen Monaten 
deutlich unterschieden. Affektvolle Szenen spielen sich ab beim Absetzen 
des Kindes von der Brust; die Amme darf sich durch einige Tage 
nicht zeigen. Und doch werden diese Erinnerungsbilder später unzugänglich 
für immer. Absolut vergißt man auch die meisten Erlebnisse aus 
den ersten Kinderjahren; nur ganz vereinzelt und unvermittelt ragen 
Inseln aus dem Meere der Vergessenheit auf, einzelne Szenen oft ganz 
gleichgültiger Natur, die spontan erinnert werden, während dazwischen 
liegende Ereignisse, die das Kind lebhaft beschäftigt hatten, auch über 
Vorhalt nicht mehr zu erwecken sind. Nun kommt eine zweite Gruppe 
von Reminiszenzen, Dinge betreffend, die „längst nicht mehr wahr sind"; 
sie können nur mit großer Mühe, mit fremder Hilfe zum Leben gebracht, 
anerkannt werden, oft nur dadurch, daß man eine ganze Erinnerungs- 
reihe von dem zugänglichen Ende aus nach rückwärts aufrollt. Im tiefen 
Schlaf, in der Hypnose und bei Hysterischen tauchen gerade solche 
jahrelang vergessene Geschehnisse plastisch gelegentlich auf. Nur graduell 
davon verschieden sind Erinnerungsbilder, zu denen keine ausgeschliffenen 
Bahnen führen. Ein einfaches Beispiel: man weiß einen Eigennamen, 



241 

hat eine klare Vorstellung; vom Anlaute, von der Silhcnzahlj man Hueht 
ihn augenblicks vergebens; nach einigen Stunden liegt er spontan auf 
der Zunge. Endlich verfügen wir über die allezeit bereiten Bausteine 
unseres Wissens und Könnens, die wir alltäglich verwenden. In den drei 
letzten Fällen sind Erinnerungsspuren im Zentralnervensystem vorauszu- 
setzen. Aus der normalen Psychologie ist bekannt, daß diese Erinnerungs- 
spuren gewissen Veränderungen unterliegen; sie blassen ab, mischen sich 
mit ähnlichen, von denen sie nicht mehr präzise unterschieden werden 
kr>nnen. Vielleicht formt auch ein assoziatives Spiel sie um, was nur so 
wenig Bewußtsein erfordert, wie etwa im Traume verfügbar ist. Endlich 
ändern sich unsere Reminiszenzen je nach der Aifektlage, in welcher sie 
reproduziert werden; sie gewinnen oder verlieren durch den Kontrast 
mit der Gegenwart. 

Mit diesen Erinnerungsspuren, die sich bis zur Höhe klarer Vor- 
stellungen, Gefühls- und Handlungsbilder erheben, die aber augen- 
blicklich latent, in der Tiefe schlummern, ist das unbewußte geistige 
Leben nicht erschöpft. Es gibt psychische Elemente, die überhaupt nie, 
auch bei ihrem ersten Auftreten nicht, klar zum Be>yußtsein kommen. 
So empfängt man wegen ungenügender Apperzeptionszeit z. B. beim 
Durcheilen einer Landschaft vom Schnellzuge aus einzelne Eindrücke, die 
undifferenziert bleiben, trotzdem sie die Aufmerksamkeit auf sich zogen, 
begleitende Gefühlstöne und nachfolgende Gedankenreihen auslösten. Diese 
halbbewußten Wahrnehmungen können erinnert und später bei Wieder- 
holung des Sinneseindruckes unter günstigeren äußeren Umständen zu 
den entsprechenden Objekten in Beziehung gebracht werden. Übrigens 
apperzipieren wir alle Tage zahllose äußere Reize nicht, während 
wir die Aufmerksamkeit willkürlich konzentrieren; es bleiben doch 
Erinnerungsspuren jener Reize zurück, wie man gelegentlich fest- 
stellt. Am reichhaltigsten wird die Beute an Vergleichsobjekten in 
der dunkeln Gefühlswelt; unklare Gefühle und Stimmungen tauchen 
auf, werden durch andere abgelöst; bevor noch irgendein Urteil, eine 
Schlußkette fertig ist, fühlt man den Weg, nach welchem hin geforscht 
werden muß; uns selbst zum Rätsel unterliegen wir irgendeiner Vorein- 
genommenheit, fühlen eine Sympathie, die wir nicht begründen können, 
gegen unsere bessere Überzeugung. Wenn man unter dem Unbewußten 
nichts anderes versteht als psychische Zustände und Veränderungen 
analoger Art, so muß dieser Begriff aufrecht erhalten werden. Die 
Hysterischen haben ein unbewußtes Vorstellungsleben wie wir alle und 
entnehmen demselben Krankheitsmotive, vorwiegend solche psychischer 
Art, Erinnerungshalluzinationen oder dergleichen. 

Jedenfalls hört aber hier die psychologische Analyse auf, denn im 
Momente, wo man sich mit dem Unbewußten beschäftigen will, treten 
bewußte Vorgänge an seine Stelle und es ist sehr die Frage, ob man 

Kai mann, Die lijMterischen Geiste bstörungen. 16 



242 

die zwei Dinge identifizieren darf. Das gilt schon für die Selbstbeobach- 
tung psychologisch Geschulter. Bei Hysteriaehen erstehen, wiederum aus 
der Natur des Krankheitsprozesses unüberwindliche Schwierigkeiten, selbst 
wenn es sich um intelligente und ausdrucksfähige Patienten handelt Maa 
wird durch die Widersprüche der Erfahrung zur Annahme gezwungen, 
daß die Hysterischen zwischen bewuCt und unbewußt nicht unterscheiden; 
es ist nicht möglich, all das für unbewußte Vorgänge zu erklären, 
was die Kranken als solche bezeichnen, wofür sie Nichtwissen vorgeben; 
gewiß täuschen sie manche Erinnerungslücken vor, sie wollen sich ge- 
wissermaßen nicht erinnern und es ist bedenklich, die Hemmungen zu 
überwinden, eine Antwort zu erpressen, denn dann spielt die Phantasie. 

Unter den psychologisierenden Theorien nimmt wohl die von Breuer 
und Freud den ersten Kang ein. Die Gedanken, welche diese beiden 
Autoren über den Mechanismus hysterischer Phänomene entwickelten, die 
Entdeckungen über den Zusammenhang von Ätiologie und Symptomato- 
logie bei dieser Erkrankung haben sich für die Forschung als grund- 
legend erwiesen; sie sind mit kleinen Einschränkungen bereits All- 
gemeingut der Wissenschaft. Von einem ausführlichen Referate darf hier 
umso eher abgesehen werden, als erst jüngst Binswanger seine Stellung- 
nahme kritisch präzisiert hat. Nur einige Nachklänge seien gestattet, 
die sich namentlich gegen den weiteren Ausbau und die Verallgemeinerung 
der Theorie wenden. 

Freud versichert, daß auf das affizierende Ereignis nicht ent- 
sprechend reagiert wurde, wenn dasselbe hysterische Ketentionsphänomeue 
auslöse. Nun ist die Art, in welcher abreagiert wird, eine ganz indi- 
viduelle. Bei vielen Menschen, wohl der Mehrzahl aller gesunden 
Männer, genügt die normale Kritik der Assoziation, die Usur durch 
die Zeit; bei anderen, etwas nervös veranlagten ein Spaziergang, ein 
paar Zigaretten, etwas Klavierspiel, wenn es arg ist, ein paar mo- 
torische Entladungen; weibliche Naturen lieben die Aussprache. Es 
wäre ein besonderes Gewicht darauf zu legen, daß diese in allen 
normalen Fällen möglich, daß sexuelle Themen von derselben durchaus 
nicht ausgeschlossen sind. Das gesunde Kind hat nur ein sehr mangel- 
haftes Schamgefühl; es mag sogar zweifelhaft erscheinen, ob dasselbe 
nicht ausschließlich Erziehungsprodukt ist. Aber auch später gegen die 
Zeit der sexuellen Reife hin, wo die Neugier eine außerordentlich rege 
und die Hemmungen des Schamgefühls auch bei Mädchen noch nicht 
auf der Höhe sind, werden Beobachtungen gemacht und Erfahrungen 
ausgetauscht. Schließlich gestattet die Sitte nur mehr eine Aussprache 
unter vier Augen, gegenüber einer vertrauten Freundin, einem Hausarzte, 
dem Beichtvater. Von alten Ärzten (Guttceit etc.) weiß man, daß es 
überhaupt keine Geheimnisse gibt; die Beichtväter sind verschlossen, doch 
erfährt man von vertrauenswürdigen Frauen, was alles im Beichtstuhle 



243 

berührt wird. Wenn ein junges Mädchen ohne Möglichkeit einer Reaktion 
durch einen Eindruck, der früher oder später kommen mußte, so chokiert 
wird, daß der ganze psychische Organismus in Unordnung gerät, dann 
muß eine abnorme Veranlagung vorliegen; es sind die innerlichen Naturen, 
die an der Grenze des hysterischen Charakters stehen. Überdies \vurde 
ja schon im vorigen Kapitel der Beweis angetreten, daß es außer dem 
sexuellen Trauma noch andere Entstehungsbedingungen der Hysterie gebe; 
und hier ist das Mißverhältnis zwischen Reiz und Reaktion noch auffälliger. 
Wenn eine nicht übersensible, also krankhafte Persönlichkeit eine Miß- 
handlung erfährt, so wird sie sich irgendwie dagegen zur Wehre setzen; 
sie braucht keine hysterischen Antälle zu bekommen, um dann erst in 
<ler Hypnose und stundenlangen Sitzungen von jener Erinnerung sich 
loszusprechen. Indem ein unerträglicher Affekt für ein Individuum un- 
verträglich wird, charakterisiert das seine Veranlagung. Und daß es 
hysterisch erkrankt, ist weniger in einer gewaltsamen Unterdrückung 
•des Affektes, als vielmehr die Einklemmung des Affektes darin begründet 
daß es hysterisch ist. 

Übrigens erfordert es ja eine pathologische Grundlage, wenn der 
Betrag des nicht abreagierten Affektes in eine andere Erregungsform, das 
hysterische Symptom konvertiert werden soll. Und was sind das für un- 
geheuere Affekte, die unverträglich in Ewigkeit fortwirken? Man sehe 
einmal die Krankengeschichten der Unheilbaren durch; oder die genauesten 
psychologischen Analysen der Literatur. Eine Verlobung geht zurück — 
darüber muß sich manches junge Mädchen trösten; einer Dienstniagd 
wird gekündigt — geschieht alle Tage; ein Streit, eine Auseinander- 
setzung, schließlich ein Wort reichen dazu aus, eine Hysterie zu provo- 
zieren. Am Schlüsse des IV. Kapitel stehen einige belehrende Beispiele 
4afür, wie sehr die Persönlichkeit das Trauma überwiegt. Es wird von 
Breuer und Freud auch angenommen, daß unter dem Einflüsse einer 
angeborenen Disposition, durch schwächende Einflüsse ein hoher Grad intra- 
zerebraler Erregung, abnorme Erregbarkeit und eine abnorme Schwäche 
des Widerstandes in den Leitungsbahnen bestehe. Dann sitzt hier das 
Wesen der Hysterie; das auslösende Trauma gibt einem hysterischen 
Denkmechanismus nur Gelegenheit, in Form der Hysterie zu antworten. 

Im Gegensatz zu den Franzosen, welche aus der supponierten Ein- 
schränkung des Bewußtseinsfeldes eine Verdopplung der Persönlichkeit 
sich entwickeln lassen, glauben Breuer und Freud wie auch Möbius 
an eine primäre Verdopplung des „Ich". Ein Teil des Intelligenzvor- 
rates wird für das unbewußte Leben aufgebraucht, somit erübrigt nicht 
so viel für das Wachleben und die Aufmerksamkeit. Unter dem aus- 
drücklichen Vorbehalt, daß sie nur bildlich zu verstehen ist, kommt die 
Theorie der deutschen Autoren dem Wesen der Hysterie möglichst nahe. 
Man darf hier von zwei Persönlichkeiten sprechen, insofern das „Ich" 

16* 



244 

Anteile des Bewußtseins gewissermaßen ausschließt, indem Innenvorgänge, 
die nicht laut werden, einer äußeren Persönlichkeit gegenüberstehen. 
Nach Analogien aus dem normalen Seelenleben braucht man nicht 
lange zu suchen; eine gewisse Spaltung ist in jedem Individuum 
vorgebildet. Von dem inneren Menschen erfährt die Außenwelt eigentlich 
wenig; das ist eine Person nur für uns. Wir empfinden das Spiel 
der Motive und Gegenmotive als das des guten und des bösen Engels. 
Das tiefinnere Ich der egoistischen Triebe wird durch die anerzogenen, 
überlegten altruistischen Hemmungen unterdrückt ; trotzdem besteht 
es fort und findet Gelegenheit sich zu entwickeln und auszuleben^ 
wenn die äußeren Hemmungen wegfallen. Die Erziehung spielt da eine 
eigene Rolle; sie bemüht sich, aus der urwüchsigen Individualität 
eine andere, eine Durchschnittspersönlichkeit zu machen mit all den 
intellektuellen und moralischen Überzeugungen der eben herrschenden 
Mode. Es wird kaum Naturen geben, die passiv genug sind, sich von 
dieser staatsbürgerlichen Persönlichkeit ersetzen zu lassen; im übrigen 
kommt es nur zu einer ZurUckdrängung des ursprünglichen Ich, das im 
Hintergrunde schlummert, sich aber oft genug meldet. 

In besonders raffinierter Weise, mit von vornherein ungünstigen 
Chancen, wird eine solche zweite Persönlichkeit in der Mädchenerziehung 
sozial höherstehender Kreise geschaflfen, insofern hier der Kampf gegen 
das Triebleben dadurch geführt wird, daß man dasselbe vollkommen 
negiert. Vorgänge, welche auf den Sexualtrieb Bezug haben, werden im 
weiblichen Bewußtsein von Natur aus lebhaft gefühlsbetont, wecken Lust- 
afl^ekte; man stellt sie aber als sündhaft, moralisch schlecht, unter- 
drückenswert hin und versucht so Puppen zu drechseln, welche gegen ihre 
gesunden Instinkte nach den Normen des jeweiligen Sittengesetzes, der 
jeweiligen Konvention empfinden und handeln. So möchte manche junge 
Dame den Blick eines Mannes erwidern, statt dessen schlägt sie vorschrifts- 
mäßig die Augen nieder; sie muß gegenüber Freiheiten und Zumutungen die 
Entrüstete spielen, prüde sein, wo sie so gern gefällig wäre. Ja sie muß eine 
aufrichtige Herzensregung, eine stürmische Leidenschaft mit dem Aufgebot 
aller Kräfte zu verbergen trachten, sich im Gegenteil schroff^ und abweisend 
benehmen, in innerer Aufregung verzehren, mit schlaflosen Nächten und 
körperlicher Erschöpfung diesen Kampf der anerzogenen Persönlichkeit 
gegen die Geltendmachung des Ich und seines Naturrechtes bezahlen. 
Damit soll nicht gesagt sein, daß kein tiefer Sinn in dem Erziehungs- 
prinzip liegt; die sexuelle Zurückhaltung ist für unsere Gesellschafts- 
ordnung von Bedeutung, steigert Anreiz und Wert des Weibes im Liebes- 
kampfe, weshalb raffinierte Koketten in kühler Überlegung sich gleich- 
falls die Rolle der Tugend auferlegen. Bei passiv veranlagten Naturen 
begegnet dieselbe auch w'eiter keinen Schwierigkeiten, temperamentvolle, 
sinnliche Weiber kann man durch Erziehung aber nicht asexuell machen; 



245 

da wird die zweite, mau möchte sagen offizielle Persönlichkeit nur neben 
das wahre Ich hingepfropft. In den letzten Jahren häufen sich Herzens- 
ergießungen moderner Frauen und Mädchen, welche auf den Büchermarkt 
geworfen, schwarz auf weiß dartun, daß gerade der mächtige Sexualtrieb 
das Doppel-Ich vieler weiblicher Wesen in einen unheilvollen Zwiespalt 
bringt. 

Noch andere Schranken zieht unsere soziale Ordnung; auch Männer 
haben ihre inneren Konflikte und führen ihr Doppelleben. Schließlich ist 
jeder Mensch ein anderer zwischen seinen vier Wänden, ein anderer in 
Gesellschaft, ohne sich regelmäßig dieses Unterschiedes bewußt zu sein; 
dies erfordert eine genaue und wahrhafte Selbstbeobachtung. Man kann 
aber diesen Wechsel, der sich in Haltung und Physiognomie auch äußerlich 
80 schön ausdrückt, beim Auseinandergehen größerer Gesellschaften in 
allen Variationen bestätigt finden. Ähnlich hat die Hysterie ihr einheitliches 
Seelenleben, sowie sie allein ist mit ihrem „Ich". Unter dem Einflüsse 
äußerer Einwirkungen spaltet sich dann das „Ich" von der Persönlichkeit, 
welche nach außen entwickelt wird. 

Es gibt noch vielerlei Beispiele der Bildung unabhängiger seelischer 
Komplexe schon im Bereiche der Norm. Die Hysterie besitzt darin 
eine besondere Fertigkeit, wiederum eine nur quantitative Steigerung 
eines in allen Menschen schlummernden Vermögens. Diese Komplexe 
entstehen hier nach logischen Gesetzen, sie werden unter der Herrschaft 
von Vorstellungen gesetzmäßig festgehalten, denn die Patienten sind 
aus dem zweiten Zustande nicht leicht zu erwecken, sie bleiben 
Widerspruch gegenüber fest, und man muß, wie schon wiederholt, das 
Wort Autosuggestion zu Hilfe nehmen. Tatsächlich erblickt man auch 
die vollkommenste Analogie dieser hysterischen Geistesstörungen in 
Kunstprodukten der Hypnose, wenn der gebietende fremde Wille dem 
Medium eine andere Person aufzwingt. Was hier der Hypnotiseur, das 
veranlaßt bei der Hysterie das kranke eigene Ich; eine herrschende 
Vorstellungsreihe drängt das zweite Seelenwesen an die Oberfläche. 

Strittig kann die Frage sein, inwieweit die Hysterica der fremden 
Persönlichkeit sich bewußt ist, ob sie ihre Rolle gibt, wie eine Schauspielerin, 
ob sie sich in die Rolle hineinlebt, an die sie glaubt, oder ob sie gar 
sich selber spielt, während das Ich unterdeß im Unbewußten, wie man 
dann sagen müßte, schlummert. Es kommen wohl alle drei Möglichkeiten 
vor, und jedenfalls muß eine lebhafte assoziative Tätigkeit angenommen 
werden, welche viel psychischen Energievorrates für sich verbraucht, 
die scheinbare Einschränkung des Bewußtseinsinhaltes verständlich macht. 
Die Verdopplung der Persönlichkeit wurde oben ein bildlicher Ausdruck 
genannt; tatsächlich existiert nur ein Ich, welches das zweite aus sich 
heraus erschafft und bei konsequenter Durchführung kontrolliert. Nur selten 
ist dieses ein ganz fremdes: dann resultieren Fälle, die in Kapitel III 



246 

als Raritäten Erwähnung fanden; für gewöhnlich produzieren die 
Hysterischen sich selbst, die zwei Personen erscheinen nebeneinander 
oder sogar aufeinander gepfropft, nur als eine Steigerung .der normalen 
zwei Seelen in einer Brust. 

Bis nun ist wohl schon klar, daß man mit der Psychologie allein 
hysterische Erscheinungen, so weit sie direkt aus Bewußtem hervorgehen, 
verständlich machen, daß man das Auftreten der Hysterie, ihre Symptomen- 
entfaltung, ihr Verschwinden in gesetzmäßiger Weise definieren kann. 
Damit steht man aber sofort vor einer weiteren Frage: Die Hysterica 
denkt analog und doch anders wie der Gesunde; welche Veränderungen 
in der Organisation können die abnorme ßeaktionsweise des Individuums 
erklären? Die umfassenderen Begriffsbestimmungen ziehen die Physiologie 
heran und gehen gleichzeitig auf die körperlichen Grundlagen der Er- 
krankung ein. 

So ist es eine psychophysiologische Erklärung, wenn Schule das 
Wesen der Hysterie darauf zurückführt, daß die Reflextätigkeit die 
zerebralen Hemmungsfunktionen überwiegt, die Konvulsibilität erhöht, 
der zerebrale Leitungswiderstand abnorm vermindert ist. Allerdings sind 
auch das nur Schlußfolgerungen aus der Symptomatologie des hysterischen 
Charakters. 

Oppenheim nennt sie eine reizbare Schwäche, abnorme Reizbarkeit 
und Erschöpfbarkeit ihr Wesen. Diese Erklärung triflt aber auch für die 
Neurasthenie zu, wo jene Kardinalstörungen der Nervenfunktion un- 
mittelbar vor Augen treten. Für alle die merkwürdigen Reiz- und Ausfalls- 
erscheinungen, die ihre Gesetze haben, werden bei der Hysterie wohl 
noch nähere Bestimmungen gefordert. 

Sommer definiert dieselbe als Psychoneurose, welche funktionelle 
Reiz- und Lähmungserscheinungen in sensiblen und motorischen Gebieten 
aufweist und sich dabei in psychischer Richtung durch abnorm starke 
Beeinflußbarkeit sowie die Wirkungen, welche Vorstellungen beziehungs- 
weise zerebrale Reize auf objektive Vorgänge des gesamten Körpers 
ausüben, auszeichnet — eine treffende Charakteristik des hysterischen 
Wesens. 

F6r6 nimmt die Hysterie als chronische Ermüdung. In der Patho- 
genese spielen physikalische Momente die • Hauptrolle. Die Idee, die 
Einbildung, könne doch nur durch Emotion, also etwas Physikalisches, 
Leibliches wirken. Alles gehe auf die Erschöpfung der Gehirnganglien 
hinaus, und die so verschiedene Lokalisation lasse sich öfters durch Ano- 
malien oder Entwicklungsstörungetf, kongenitale Defekte erklären. Ebenso 
wirke eine vernünftige Therapie nur durch Beseitigung der Erschöpfungs- 
zustände der Hirnzellen. 

Am allgemeinsten drückt Tesdorpf sich aus, der das Wesen 
der Krankheit in Dissoziationsvorgängen sucht: einerseits quantitative 



247 

Störungen der zum normalen Ablaufe der körperlichen und psychischen 
Funktionen notwendigen nervösen Assoziationen zwischen den verschiedenen 
Organen und Systemen, andererseits eine qualitative Assoziationsstörung, 
nämlich Etablierung einer Selbständigkeit der verschiedenen Organe und 
Systeme in bezug auf ihre nervöse Beeinflussung des gesamten Körpers 
und der einzelnen Körperteile. 

Ähnlich sagt neuestens Binswanger: Alle hysterischen Krankheits- 
erscheinungen stehen in unlösbaren Beziehungen zu Hirnrindenfunktionen. 
Die hysterische Veränderung besteht darin, daß die gesetzmäßigen 
Wechselbeziehungen zwischen der psychischen und der materiellen Reihe 
gestört sind, und zwar in doppelter Richtung: auf der einen Seite fallen 
für bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen die psychischen Pa- 
rallelprozesse aus oder werden nur unvollständig durch jene geweckt; 
auf der anderen Seite entspricht einer materiellen Rindenerregung ein 
Übermaß psychischer Leistung, das die verschiedenartigste Rückwirkung 
auf die gesamten Innervationsvorgänge, die in der Rinde entstehen oder 
von ihr beherrscht werden, hervorruft. 

Ausdrücklich sei bemerkt, daß jene Autoren, welche die körperlichen 
Grundlagen der Hysterie erforschen und jene, welche sie von der 
psychischen Seite her angehen, nur in Auffassung und Methode sich unter- 
scheiden. Da für die unmittelbar als seelisch imponierenden Störungen 
physiologische Parallelvorgänge vorauszusetzen sind, müßte man die Hysterie 
ebenso gut physiologisch als psychologisch erklären können, wenn nur die 
Untersuchungsgelegenheiten beider Gebiete ausgebildet genug wären. Im 
vorliegenden Buche wird die Hysterie als eine psychogene Erkrankung 
betrachtet, ein psychisches Symptom, die Suggestibilität in den Vordergrund 
gestellt. Ein äußerer Eindruck, eine Vorstellung, ein Affekt wirken krankheits- 
auslösend — es ist sehr leicht die Brücke zur Physiologie zu finden — 
beeinflussen den Zustand des zentralen Nervensystems für längere Dauer. 
Der durch einen Shock eingeleitete psycho- physiologische Prozeß gewinnt 
auf Grund der vorhandenen, zum Teile erst geschaflFenen interassoziativen 
(Leitungs-) Störungen stets neue potentielle Energie und damit eine be- 
herrschende Gewalt über die anderen im zentralen Nervensystem ab- 
laufenden psycho -physiologischen Prozesse soweit, daß vorübergehend 
ganze Systeme außer Funktion treten, die Tätigkeit einzelner Gebiete 
mangelhaft, die anderer hingegen über das Normale hinaus gesteigert 
wird — das alles solange, bis neue, mächtigere Eindrücke von außen 
sich geltend machen. Ein gewisses individuell verschiedenes Maß von 
potentieller Energie oder Spannkraft ist im Zentralnervensystem verfüg- 
bar; während dasselbe beim gesunden Menschen dem bewußten Willen zu 
Gebote steht, leidet die Hysterica an Willensschwäche, an Unfähigkeit 
zur Selbstbestimmung, weil die vorhandene Spannkraft für die Äußerungen 
der Krankheit verbraucht wird, weil pathologische Reihen von der 



248 

herrschenden Vorstellungsgruppe, wie von äußeren Einflüssen angeregt, 
von innen und außen stets neue Kraft und neue Impulse erhaltend, die 
psychische Kontinuität unterbrechen. 

Alle diese funktionellen Störungen setzen aber etwas voraus: in der 
Organisation muß sich das Gehirn, welches hysterisch erkrankt, vom 
normalen unterscheiden. Form und Funktion sind überall in der Erfahrung 
zwei korrelative BcgriflTe; keine Änderung in der Funktion, ohne gleich- 
zeitige Änderung der Form. Man erwartet daher entsprechend der ab- 
normen Reaktionsweisc der Patienten, ein abnorm organisiertes Zentral- 
nervensystem. Der Annahme einer angeborenen oder in froher Jugend 
erworbenen, in Bau oder Chemismus bedingten Minderwertigkeit wider- 
spricht nicht, daß die hysterische Veranlagung in vielen Fällen erst 
mit der Pubertät oder gar erst in vorgeschrittenerem Alter manifest 
wird. Anzeichen von Hysterie können schon in der Kindheit dagewesen 
sein, ohne aufzufallen; überhaupt werden degenerative Züge, Ver- 
logenheit, ethische Defekte an Kindern erst bemerkt, wenn sie außer- 
gewöhnlich hochgradig sind. Weiters gibt es zahlreiche Analogien dafür, 
daß irgendeine auf dem Wege der Zeugung übertragene, also angeborene 
Veranlagung doch erst* mit einer bestimmten Altersstufe qnasi sich ent- 
wickelt. So beginnt auch bei gleichartiger Heredität das zirkuläre Irre- 
sein um die Zeit der Geschlechtsreife; es können bei familiärem Selbst- 
mord alle in Betracht kommenden Deszendenten erst in einem viel höheren 
Alter das Suizid begehen. Ähnlich hätte man sich vorzustellen, daß die 
Anlage zur Hysterie im Individuum schlummert, um erst später, gelegentlich 
eines adäquaten Anstoßes, oflfenkundig zu werden. Es ist aber nicht aus- 
zuschließen, daß Affcktslürme gewissermaßen die hysterische Reaktions- 
weise bahnen; man beobachtet ja, daß dieselbe Wirkung, welche bei 
schwerer hysterischer Disposition schon geringfügige Anlässe erreichen, 
liei geringer Veranlagung durch mächtige seelische IVaumen erzielt wird 
und braucht gar nicht mit Giannuli anzunehmen, daß die chemisch- 
l)iologische Wirkung, welche Gemütsbewegungen auf den Organismus 
ausüben, vorübergehende Veränderungen im Bau des Kineto- und Tropho- 
plasma der Zellen erzeuge, welchen hysteroide Symptomenkomplexe 
entsprechen, wie man sie sonst nur bei Krankheitsbildern der angeboren- 
degenerativen Hysterie findet. 

Die eigentümliche Veranlagung des zentralen Nervensystems führt 
-ebenso zum hysterischen Charakter wie zu monosymptomatischen Formen 
der Hysterie; körperliche und Seelenstörungen ersetzen einander, wechseln 
miteinander ab. Traumen und gefühlsstarke Vorstellungen können jeder- 
zeit krankhafte Veränderungen des Körpers und Irresein hervorrufen; sie 
lösen Mechanismen aus, welche in der Gehirn Veränderung vorgebildet 
schlummern. Es bestimmt das Inhaltliche einer Gruppe von Störungen, 
(laß diese in der verursachenden Vorstellung gewissermaßen vorgedacht 



249 

siud, daß das Symptom suggeriert wird durch den Bewußtseinsinhalt des 
Affektes. Wie schon einmal erwähnt, wird jede mögliche Innervation ver- 
wendet; insofern der Krankheitswilie, die herrschenden Vorstellungs- 
reihen, ebenso ihr Ausdruck im Körpfriichen oder Seelischen psycho- 
logisch in ihrem Zusammenhange aufgedeckt sind, bietet der Fall nichts 
Befremdliches mehr. Gewissen Schwierigkeiten begegnet man nur bei 
Jlechanismon, die neben den unmittelbar psychogenen Symptomen auf- 
treten, die wohl von der Psyche abhängen, aber in gesetzmäßiger Weise. 
ganz regelmäßig immer wiederkehren. 

Daß die hysterischen Menschen feststehende Krankheitsformeln 
in sich herumtragen, wird schon bewiesen durch die Einheit in der 
Vielzahl der äußeren Erscheinungsweise, welche die Hysterie zu allen 
Zeiten, bei allen Völkern, bei ganz ungebildeten Individuen einsamer 
Provinzstädte an sich trägt, wo man unmöglich durch Lektüre, Studium 
oder Beobachtung dahinter gekommen sein kann, daß es hysterogene 
Zonen gibt, wie ein klassischer Anfall aussieht, daß sich Ilemianästhesie 
mit affektvollen Delirien verbindet usw. An früherer Stelle wurde 
gelegentlich die Grundlage der Hysterie in Parallele gesetzt mit der 
konstitutionellen Grundlage der verschiedenen Temperamente; es wurde 
auf die nahen Beziehungen zwischen Hysterie und Frauenseele, auf 
die vielfachen Übereinstimmungen mit dem Verhalten der Kinder hin- 
gewiesen; es soll nun eingehender gezeigt werden, wie die Psycho- 
neurose eigentlich nur physiologische Eigentümlichkeiten, Charakterzüge 
nach einer bestimmten Richtung variiert; daß der Hystericus sich mehr 
quantitativ als qualitativ vom Durchschnittsindividuum unterscheidet; daß 
zwischen der Hysterie und den hysterischen Mechanismen einerseits, dem 
normalen Verhalten andererseits immer und überall weitgehende Analogien 
bestehen. 

Der hysterische Charakter und zahlreiche Äußerungen der Hysterie 
basieren auf der Suggestibilität. Die Hysterischen sind snggestibel; 
niemand wird bestreiten wollen, daß auch alle Menschen snggestibel sind, 
freilich in einem verschiedenen Grade; es sind das so bekannte Vorgänge 
des täglichen Lebens, daß von Beispielen füglich abgesehen werden kann. 
Auf der einen Seite nähert die Suggestion sich dem Glauben und bildet 
als solche die Grundlage jedes Unterrichtes, auf der andern Seite geht 
sie in die Nachahmung über, ein Mechanismus, der eigentlich die Er- 
ziehung ermöglicht; die erste Entwicklung jedes Menschen beruht geradezu 
auf dem Nachahmungstriebe. Die äußere Beeinflussung wird überwäl- 
tigend, wenn Affekte sich einmischen; diese selbst muß man direkt 
ansteckend nennen. Die Durchdringung von Gemütsbewegung und 
Körperinnervation ist hier so innig, daß der entsprechende Bewußtseins- 
inhalt die zugehörige Innervation und die entsprechende Innervation 
ganz unbewußt den Affekt hervorruft. Unabhängig von der Stellung, die 



250 

man der James-Langeschen Theorie gegenüber einnimmt ist die Tat- 
Fache anzuerkennen. 

Die Übertragung des AfTektansdruckes durch Nachahmung ver- 
mittelt die Übertragung des AflTektes selbst von einem Individuum auf 
das andere. Wir hören, sehen jemand» lachen und müssen mitlachen, 
geraten in heitere Stimmung, ohne noch zu wissen, worum es sich handelt; 
man ist traurig mit den Traurigen. Eine Mehrzahl von jVIenschen mit 
gleichen Affektausdrücken potenziert die Wirkung. Wie die Hysterischen 
erliegen auch die Gesunden, wenn irgendein religiöses oder politisches 
Schlagwort eine Gemeinde fanatisiert. J^s sei nur an die prachtvolle Rede 
des Antonius in Shakespeares Julius Cäsar erinnert, ein vom Künstler 
der Natur nach geschaffener Typus für die Art, wie ein geschickter 
Hypnotiseur in der kürzesten Frist eine Volksmenge um das zu bringen 
vermag, was sie für ihre Überzeugung hielt, wie dieselbe Volksmenge 
zu praktischer Betätigung einer gegenteiligen Überzeugung angeeifert 
wird. In der Massenwirkung reißen alle Aflekte den einzelnen mit fort, 
z. B. in der Panik bei Ausbruch eines Feuers; Begeisterung wie 
Verzweiflung teilen sich einem ganzen Truppenkörper mit; Langeweile 
kann über einer großen Gesellschaft brüten; das Gähnen, das sich da 
von einem zum andern fortpflanzt, ist ein geradezu bezwingendes Afl'ekt- 
symbol. 

Näher zur Pathologie kommt man mit einer schweren vasomotorischen 
Störung, die hier eingereiht werden kann, da auch sie nichts anderes 
bedeutet als einen exzessiven Affektausdruck: die Ohnmacht. Man wird 
ohnmächtig vor übergroßer Freude, im unerträglichen Schmerze, vor 
tödlichem Schreck; erforderlich ist nur eine gewisse Labilität der 
Gefäßnerven, wie man sie bei Bleichsucht. Erschöpfung und dgl. antriflt. 
Ganz merkwürdig sind nun die Serien von Ohnmächten, die gelegentlich 
eintreten, genau so wie die hysterischen Epidemien in den Mädchen- 
schulen. Wenn in einem dichtgefUUten Räume eine oder die andere Syn- 
kope erfolgt so stellen bei einer großen Anzahl von Personen zu- 
nehmende Unlustgefühle sich ein, die ganz zwangsmäßig zum Gefühle 
einer drohenden Ohnmacht sich umsetzen, einzelne Willensschwäche 
Naturen überwältigen. Hier schlägt gewissermaßen ein beherrschender und 
lebhaft affektbetonter Gedanke den ganzen übrigen Bewußtseinsinhalt; 
die Vorstellung oder Befürchtung der drohenden führt durch Beeinflussung 
vasomotorischer Bahnen wirklich zu Ohnmacht. Derartige Überleitungen 
sind den Gesunden nur für Affektausbrüche zugänglich; es ist ein relativer 
Unterschied, wenn sie bei Kindern leichter, bei Hysterischen am 
promptesten ansprechen und diese quantitative Differenz ist begreiflich. 
Da diese Kranken viel in Affekten sich bewegen, eigentlich in Affekten 
fühlen, müssen parallel zur Übererregbarkeit auch die zugehörigen 
Innervationsstörungen besonders gebahnt sein. Wenn die Hysterie in ihrer 



251 

Gilnze gewissermallen nur eine verzerrte Keaktionsvveise des Organismus 
auf einen Gemütseindruck darstellt, so muß es möglich sein, von den 
Äußerungen normaler AflFekte Lbergänge zu den hysterischen Mechanismen 
aufzufinden. 

Bei jedem Menschen setzen sich seelische Vorgänge in die verschieden- 
artigsten Körperinnervationen um; letztere werden wiederum als Affekte 
im Bewußtsein reflektiert. Es ist ein vollkommenes Analogon zu den 
hysterischen Mechanismen, wenn die Vorstellung, Erwartung einer schmack- 
haften Speise die Speichelsekretion anregt, wenn eine betrübliche Nach- 
richt zu einem Tränenergusse führt. Willkürlich können w^ir nicht speicheln, 
von einer gefühlsbetonten Vorstellung her werden die Drüsennerven erregt. 
Auch die Tränendrüsen sprechen nur an unter Vermittlung von Affekten. 
Das weibliche Geschlecht, welches über lebhaftere Ausdrucksmittel ver- 
fügt, vermag seine Affekte gewissermaßen künstlich zu steigern: es kann 
seine größere Anlage zum Weinen durch Übung so weit ausbilden, daß 
die Tränen schließlich nach Willkür fließen — ein Beweis für die Wirk- 
samkeit der Bahnung, welche auch für die Hysterie gilt. 

Die Auswahl der Innervationen, mittels deren wir unsere Affekte 
ausdrücken, ist nur zum kleinsten Teile verständlich. Geistreiche Hypo- 
thesen Darwins, Wundts u. a. versuchen eine Erklärung dieser Mecha- 
nismen; manche sind phylogenetisch ableitbar, waren einmal zweckmäßig, 
werden auch unter geänderten Bedingungen fortgezüchtet, während man die 
hysterischen Konversionen, ihre Typen als etwas Unnützes, Pathologisches 
aufzufassen hätte, die auch entwicklungsgeschichtlich nicht verfolgt werden 
können. Doch ist dieser Gegensatz kein durchgreifender. Wenn man nämlich 
Affektwirkungen studiert, so kommt man auch beim normalen Menschen 
in die Grenze der Krankheit hinein; die Teil- und Begleiterscheinungen 
heftiger Ausbrüche gehen weit über das hinaus, was noch physiologisch 
genannt werden darf Wenn der schwere Angstaffekt vorübergehenden 
Herzstillstand, Durchfall bewirkt und das Haar bleicht, so sind das un- 
gesunde und zwecklose Ausstrahlungen des Seelensturmes in periphere 
Nervengebiete; sie unterscheiden sich kaum mehr von der Hysterie, welche 
mit Ödemen und trophischen Störungen reagiert Jeder exzessive Affekt 
führt zu einer Trübung des Sensoriums, schließlich scheint das Bewußtsein 
völlig aufgehoben, während doch Reizvorgänge im psychischen Organismus 
sich abspielen. Dem entspricht es, wenn bei der Hysterie durch 
gesteigerte Erregbarkeit des Gemütes und krankhafte Ausbreitung der 
unwillkürlichen Begleiterscheinungen Geistesstörungen zu den Stigmen 
hinzutreten. 

Der hysterische Anfall, dieser Ausdruck aller Unlustaffekte kat 
exochen. diese Lösung jeder unmöglichen Situation, ist keineswegs so 
ganz eigenartig und krankhaft, wie man auf den ersten Blick vielleicht 
glauben möchte; auch hier lassen sich Übergänge zum Verhalten gesunder 



252 

Menschen konstatieren. Es ist bekannt, daß eine ganze Reihe Affekte 
von motorischen Entäußerungen begleitet wird, teils tonischen, teils klo- 
nischen Muskelbewegungen. Wir sind in „gespannter Erwartung, starr 
vor Schreck, wir springen vor Freude, zappeln vor Ungeduld, stampfen 
vor Zorn": tief eingewurzelte Mechanismen, welche Analogien sogar 
bei den höheren Tieren finden. Das Stadium der Attitudes passionelles 
setzt sich aus lauter solchen Affektausdrücken zusammen; ähnliche Be- 
wegungsformen sind auch über den ganzen hysterischen Anfall verteilt 
und der Paroxjsmus kann ja nur als vielgestaltiger Affektausdruek 
gedeutet werden. 

Eine gewisse Beziehung zum krampfhaften Anfalle zeigt die allen 
Menschen und höheren Tieren eigentümliche Art, Langeweile zu äuUern, 
das Gühnen; ein bis zu hohem Grade vom Willen abhängiger, das heißt 
unterdrückbarer, andererseits auf dem Wege der Nachahmung oder von 
inneren Unlustempfindungen her sich aufzwingender Krampf der Herab- 
zieher des Unterkiefers, häufig mit weiteren Muskelspannungen, Zurück- 
beugen des Kopfes verbunden. Noch mehr nähert man sich dem Äußerlichen 
der Hysterie beim Recken oder Räkeln, mit welchem man Spannungs- 
zustände zu beantworten pflegt. Wir strecken beide Arme in der 
Köiperebene horizontal von uns, alle Muskeln kontrahieren sich tonisch, 
l)esonders die Nacken- und Rückenmuskeln, das Haupt wird zurückge- 
worfen — ein ganz typischer Opisthotonus; — wenn wir uns. besonders 
erleichtern wollen und ganz allein sind, so folgen noch einige symme- 
trische Stöße mit den Armen: ein rudimentärer hysterischer Anfall, soweit 
die motorische Komponente in Frage kommt. Eine innere Spannung 
entlädt sich in diesem angeborenen Mechanismus. Zu diesem Räkeln 
drängt ein Bedürfnis; dasselbe läßt sich unterdrücken und wird unter 
Umständen unterdrückt; es setzt aber lebhafte Unlustempfindungen, wenn 
man sich nicht gehen lassen konnte. Ebenso erleichtert fühlt sich die 
Hvsterica nach ihrem Paroxvsmus. 

Von hier bis zum klassischen Anfall ist es nicht mehr so weit, als 
von dem Affekte der Unbefriedigung zu einem Seelensturm; auch die 
motorischen Zwischenstufen fehlen nicht. Die meisten hysterischen Anfälle, 
die man zu sehen Gelegenheit hat, sind mehr weniger ungeordnete 
Tonismen und Klonismen, ein Umherschleudem der Extremitäten, oft nur 
ganz rudimentär. So eine Spitalsschwester z. B. fühlt sich unbehaglich, 
unzufrieden und drückt das dadurch aus, daß sie sich zweimal im Bette 
von einer Seite auf die andere wirft — so äußert sich auch physiologisch 
der Unmut. Das Bewußtsein ist dabei voll erhalten. In schwereren Fällen 
wird der Außenwelt weniger Aufmerksamkeit zugewendet, der lebhafter 
werdende Affekt, vielleicht von einer Erinnerung in plastischer Reproduktion 
getragen, füllt das Bewußtsein und setzt sich nach außen in Krämpfe 
um. die ja der Ausdruck jedes exzessiven Affektes sind. Beim Lächeln 



233 

verziehen sich nnr die Mundwinkel, mau lacht schließlich mit dem ganzen 
Gesicht, das Zwerchfell, die Körpermuskulatur tritt immer allgemeiner in 
Hitaktion, schließlich schütteln wir uns vor Lachen, in Lachkrämpfen. 
Schon im Dauerzustande lieben die Hysterischen letztere Art zu lachen; 
sie weinen ebenso krampfhaft. Wird ein Schmerz überaus groß, so be- 
obachtet man bei jedem lebenden Wesen Zuckungen und Konvulsionen, 
man windet sich in Krämpfen. Das leicht erregbare Kind antwortet in 
dieser Weise auf jeden starken, insbesondere schmerzhaften Reiz, und 
diese elementare Konvulsibilität bleibt bei den Hysterischen erhalten. 
Entladung tritt ein, nachdem die Affektsumme eine gewisse Größe über- 
schritten hat; die innere Spannung setzt sich dann um in lebendige Kraft. 

Diese Anfälle können eine gewissermaßen organische Weiterbildung 
erfahren. Bekanntlich gibt es ein eigenes Krampfzentrum; verschiedene 
Keize, welche auf dieses Zentrum wirken, rufen allgemeine Konvulsionen 
hervor; es sei an die Krämpfe beim Tode durch Verblutung, nach Kohlen- 
oxydvergiftung, bei wiederbelebten Erhängten, an die weitausholenden 
Elrämpfe bei Urämie und Eklampsie erinnert: speziell die drei letzt- 
erwähnten Krampfformen haben schon zu Verwechslung mit hysterischen 
Paroxysmen Anlaß gegeben. Ein Mechanismus ist also vorgebildet, nur 
tritt er beim normalen Menschen im Zusammenhange mit psychischen 
Prozessen nie in Tätigkeit; wie andere subkortikale Zentren scheint aber 
das Krampfzentrum der Hysterie zur Verfügung zu stehen. Es ist gar 
nicht wunderbar, wenn schließlich eine Bahnung sich entwickelt, so daß 
die Kranken willkürlich über den ausgefahrenen Mechanismus verfügen: 
Hysterische, welche über Wunsch jederzeit ihren Anfall reproduzieren 
können, bestätigen, daß sie an denselben nur zu denken brauchen, und 
er setzt ein. In dieselbe Kategorie von Erscheinungen gehört es, wenn 
von indischen Fakiren erzählt wird, daß sie die Frequenz der Herzaktion 
willkürlich, bis zu vorübergehendem Herzstillstande beeinflussen, auch 
ein subkortikales Zentrum von der Großhirnrinde aus in seinem Innervations- 
zustande beherrschen gelernt haben. Jedenfalls aber muß die hysterische 
Veranlagung dieser ßahnung entgegenkommen. 

Es läßt sich beweisen, daß ein Teil der hysterischen Anfälle, trotz 
seiner psychogenen Auslösung die eben angeführte Grundlage hat. Man 
beobachtete hin und wieder Pupillenstarre (Karplus, Westphal), die 
den hysterischen Paroxysmus dem epileptischen annähert und willkllrlieh 
gewiß nicht hervorgebracht werden kann, insofern es sich dabei um 
einen Krampf der Binnenmuskeln des Auges handelt. Allerdings denkt 
man an die interessanten Versuche von Piltz-Zürich über den Einfluß 
von Vorstellungen auf die Pupillenweite: es ist im Rahmen der Norm 
möglich, vom Bewußtsein her Innervationen, die sonst der Willkür 
entzogen sind, wenigstens zu modifizieren. Und die hysterischen Anfälle 
gehorchen immer Vorstellungsgesetzen; nie hat noch die Hysterie einen 



254 

Jackson-Typus, den Typus der organischen Rinde nerkrankung aus sich 
selbst heraus geschaffen. 

Eine dritte Art von Anfällen entsteht unzweifelhaft auf suggestivem 
und autosuggestivem Wege; die ganz ungeordneten, polymorphen, die 
tibermäßig wilden Krämpfe, namentlich bei Patientinnen^ die keinen 
Überschuß an lebendiger Kraft haben, keinen Affektstürmen ausgesetzt 
sind, wo die Krankheit geradezu in Anfällen sich erschöpft, die an nichtige 
Ursachen anknüpfen — überall da wäre eine unmittelbare Psychogenie 
vorauszusetzen. Die Quelle, aus welcher geschöpft wird, ist allgemein 
zugänglich. Die meisten Menschen haben einmal in ihrem Leben Kon- 
vulsionen irgendwelcher Art gesehen, alle haben eine Vorstellung, wenn 
von Krampfanfällen gesprochen wird, kennen deren Bedeutung für schwere 
Nervenkrankheiten. Es ist ganz gut denkbar, daß die subjektive Krank- 
heitsüberzeugung den Patienten Anfälle suggeriert, ja daß solche ganz 
bewußt vorgeführt werden, nach Analogie anderer hysterischer Schwin- 
deleien, um das eigene Krankheitsgefühl der Umgebung aufzuzwingen. 
Unmittelbar psychogen sind wohl auch alle imitierten Paroxysmen, 
welche eine Hysterica der andern nachmacht. Jenes junge Mädchen 
(Beobachtung XXVIII), deren rudimentäre Anfälle nur die autosuggestive 
Wiederholung einer Ohnmacht darstellen, welche die hysterisch ver- 
anlagte Person einmal impressioniert hat, bekommt unvermutet eine 
delirante Schlafattaque auf die bloße Beschreibung einer solchen hin. die 
auf der Nachbarabteilung sich ereignete. Dort wo im Anfalle zusammen- 
hängend gesprochen wird, ebenso dort, wo man durch Suggestion während 
des Paroxysmus den Charakter der Bewegungen beeinflussen kann, ist 
natürlich die unmittelbare Psychogenie, das heißt der direkte Abfluß der 
Bewegungsimpulse aus den höchsten Bewußtseinszentren außer Diskussion. 

Was die sonstigen körperlichen Stigmen betrifft, so seien nur noch 
den Sensibilitätsstörungen der Hysterischen wenige Worte gewidmet. 
Französische Forscher — namentlich Janet, auf dessen Arbeiten ver- 
wiesen werden muß — haben sich um das Studium der hier herrschenden 
Gesetze große Verdienste erworben. Es ließ sich nachweisen, daß Vor- 
stellungen und Bewegungen ausgelöst werden von Teilen, welche die 
Kranken als empfindungslos erklären. Die Anästhesien unterliegen in ihrer 
Lokalisation, Ausdehnung und Gestaltung nicht den anatomischen Gesetzen 
des Nervensystems, sondern der Herrschaft von Vorstellungen, indem sie 
suggestiv entstehen, sich ändern und wieder vergehen, so daß das 
Verhalten der Patienten den Anschein der Willkür erweckt. Die 
Funktionsausfäile entsprechen nicht der Nervenverteilung, Segmenten, 
sondern den Begriffen, welche die Menschen von der Gliederung ihres 
Körpers haben, sie grenzen z. B. an den Gelenkslinien quer ab; sie 
akkommodieren sich der gewohnheitsmäßigen Verknüpfung der Empfin- 
dungen oder gar persönlichen Gedankenkreisen. Es ist daher nicht 



255 

wunderbar, daß die Symmetrie gestört wird; für das Bewußtsein sind die 
beiden Korperhälften nicht gleichwertig. In der Regel steht die rechte Seite 
mehr im Lichte der Aufmerksamkeit; ebensogut kann aber auch durch 
ein akzidentelles Moment z. B. ein Trauma, die linke Seite in den Vorder- 
grund rücken und dann hier sich die sensiblen Störungen lokalisieren. 
Unverkennbar ist die Psychogenie, wenn eine gravide Patientin gerade 
über dem Beckengürtel Empfindungslosigkeit angibt: die fleckige Anästhesie 
symbolisiert dann gewissermaßen den zerfahrenen hysterischen Seelen- 
zustand in seiner Gänze. 

Die Einschränkung des Bewußtseins ist ein Schluß, den man zieht, 
der partielle Schlafzustand ein bildlicher Ausdruck; beides stimmt nicht 
ganz, denn die Hysterischen bleiben auch äußeren Einwirkungen zu 
Trotz dabei, daß sie nicht wahrnehmen. Aufklärend wirken da die 
systemisierten Ausfallserscheinungen, die viel charakteristischer für Hysterie 
sind, als weit verbreitete Analgesien, welche man auch bei anderen Formen 
von Geistesstörung findet. Gerade die scheinbar komplizierteren Fälle sind 
am einfachsten zu erfassen. So gibt es hysterische Patientinnen, welche 
trotz vollkommener Anästhesie der Hand einzelne Gebrauchs- respektive 
Toilettegegenstände tastend erkennen, z. B. existiert die Anästhesie nicht 
für Ohrringe, eine Frisur; die Ageusie nicht für Zwiebelsuppe. Noch 
überraschender sind die Resultate, wenn man sich von den Angaben 
der Patienten etwas emanzipiert, indem man, wie bei den höheren Sinnes- 
organen möglich, Vexierversuche einfügt. 

Bei einseitiger hysterischer Blindheit ergeben Prismenexperimente 
das Vorhandensein eines Netzhautbildes, das auch wahrgenommen wird. 
Nachdem dasselbe aber nicht apperzipiert wird, wenn der Kranke weiß, 
daß dieses Bild von dem amaurotischen Auge stammt, so muß es 
unter dieser Bedingung und aktiv unterdrückt werden. Blinde Hysterische 
verhalten sich wie Lügner und Schwindler, die durch Simulanten- 
proben entlarvt werden können, die nicht einmal ihre Reflexe beherrschen, 
indem herabfallende Gegenstände fixiert werden; es ist gelegentlich auch 
zu beobachten, daß solche Kranke für sich allein ganz prächtig umher- 
gehen, ohne irgendwo anzustoßen. Die Patienten kontrolieren also ihre 
Defekte gleich Hypnotisierten. Krankhafte Vorstellungsreihen, welche das 
Bewußtsein beherrschen, bedingen den Ausfall, der erst durch die Unter- 
suchung bei Hinlenkung der Aufmerksamkeit olSTenkundig und dann auf 
dem Wege der Autosuggestion fixiert wird. Es muß aber daran festgehalten 
werden, daß die Neigung zu Anästhesien an und für sich Ausdruck eines 
der Hysterie eigenen Mechanismus ist, den die Prüfung nur auslöst, wie etwa 
einen Druckpunkt. Sensibilitätsstörungen sind bei Hysterischen so regel- 
mäßig, daß man nicht glauben kann, der Arzt schafib dieselben erst. Übrigens 
fehlt bei manchen dieser Kranken das Symptom, trotzdem sie Gelegenheit 
hatten, es zu beobachten; bei anderen ist es vorhanden, obwohl gerade 



256 

sie aller menschliehen Voranssicht nach nie dazu gekommen sind, über 
die Bedentang solcher Stigmen sich belehren zn lassen. In der hysterischen 
Anlage schlummert der Mechanismus; psychische Vorgänge und Bindungen 
treten zu seiner Geltendmachung in Tätigkeit. 

Ganz Analoges läßt sich für die Amnesien durchführen. Man er- 
schließt aus ihnen eine Einschränkung des Bewußtseins, den amnesiogenen 
Geisteszustand. Auch das ist nur ein bildlicher Ausdruck« Wenn man 
das Verhalten der Hysterica dem Examen gegenüber mit dem eines 
Gesunden vergleicheo, wenn man ein Ausfallssymptom den jetzt herrschen- 
den himphysiologischen Anschauungen entsprechend umdeuten will, dann 
dürfte von einer partiellen Ausschaltung der Hirnrindenfunktion gesprochen 
werden; es ist nachzuweisen, daß die Erinnerungsbilder da sind, in Schlaf 
und Hypnose glatt reproduziert werden; das Zentralorgan scheint nur 
unfähig, sie durch bewußtes Wollen zu wecken. 

Die einfachste Form stellt wohl die sogenannte abulische Amnesie 
vor. Die Hysterica ist müde, sie will sich nicht anstrengen, nicht nach- 
sinnen. Das typische prompte „Ich weiß nicht" wird aber durch eine 
richtige Antwort ersetzt bei energischem Vorgehen, bei Drohung mit 
einem Pressionsmittel. Hier besteht also nur ein gewisser Widerstand 
gegen die Assoziation, der willkürlich überwunden werden kann. Bei 
einer andern Form ist dieser Widerstand nicht so leicht zu beseitigen; 
die Kranke will an etwas nicht denken, es sind dies, wie man sie nennen 
möchte, oppositionelle Amnesien; Dinge, die unmittelbar zurückliegen, 
werden von den Patienten durchaus nicht erinnert, trotz aller Vorhalte 
und Assoziationsverknüpfungen abgelehnt, während gleichzeitig damit in 
Zusammenhang stehende Ereignisse sich ohne weiteres reproduzieren. 
Diese Amnesien machen auf den unbefangenen Untersucher noch mehr 
den Eindruck des Willkürlichen. Der Kranke beherrscht gewissermaßen 
jeden Augenblick seine Amnesie: Er weiß genau, was er nicht wissen 
will. Sie betrifft Dinge, die ihm unangenehm sind. Wenn man das Wort 
„Lügen" hier scheut, bleibt nur übrig auf Autosuggestionen zurückzu- 
greifen. 

Diese Autosuggestionen beeinflussen das Spiel der Assoziationen, 
unterdrücken im Sinne der Krankheit bestimmte auftauchende Erinnerungen, 
schieben andere an deren Stelle. Es ist seelische Aktivität vorhanden, wie 
bei den Anästhesien, kein Ausfall psychischer Tätigkeit. Ganz bezeichnend 
ist wiederum das analoge Verhalten Hypnotisierter. 

Es sei auf ein typisches Experiment Bernheims verwiesen, das 
ich nach einer persönlichen Mitteilung Freuds zitiere. Eine Person wird 
hypnotisiert; Bernheim suggeriert derselben, er gehe hinaus, sei nicht an- 
wesend. Die Person wird erweckt. Nun vergebliche Versuche des Experimen- 
tators, ihr seine Gegenwart bemerklich zu machen; er beschimpft, bedroht 
sie, zwickt sie, zaust sie an den Haaren, hebt ihr die Röcke auf: alles ohne 



257 

eine persönliche Reaktion. Nach Beendigung des Versuches weiß die Kranke 
von all diesen Vorkommnissen nichts^ bleibt auch den überraschendsten Kreuz- 
und Querfragen zum Trotz bei ihrer Amnesie. Es bedarf nur eines kleinen 
Kunstgriffes, beileibe keiner Hypnose. — Bernheim drückt an ihre Stirn 
und sagt: „Du wirst Dich gleich erinnern, also was hat es gegeben P'^ 
Prompte Antwort: Ja wohl, Sie haben mich geschimpft, mit diesem und jenem 
Namen etc. Also ein äußerliches Symbol genügte, um den Widerstand der 
Person gegen die bereitliegende Erinnerung aufzuheben. Das Geschichtchen 
ist zugleich ein Beitrag zur Parallele der Ausfallserscheinungen im Gebiete 
der Wahrnehmung, wovon schon früher gesprochen wurde, und auf dem 
Gebiete der Reminiszenzen. 

Der Kranke, welcher falsch antwortet, paralogiert oder gar Kontrast- 
antworten gibt, erwidert wie ein Simulant, welcher die Frage versteht, 
den durch die Frage angeregten Vorstellungskreis nicht so schnell los 
werden kann, aber doch unpassend, ausweichend, möglichst entgegen- 
gesetzt oder unsinnig erwidern will. Mit der Annahme, daß sich andere, 
speziell Gegenvorstellungen mechanisch dazwischen schieben oder, daß 
gewisse Begriffe infolge der Unaufmerksamkeit und Ermüdbarkeit haften 
bleiben, reicht man in typischen Fällen nicht aus. Gerade bei Anspannung 
der Aufmerksamkeit geht es am schlechtesten, sind die Amnesien am 
auffallendsten. Wenn der Patient abgelenkt, zerstreut ist, versteht und 
weiß er alles am besten, im Gegensatz zu dem initialen Paralytiker, wo 
die Anregung durch das Examen ausreicht, um die sonst schon auffälligen 
Störungen der Merkfähigkeit, der Auffassung verschwinden zu machen. 

Vielleicht gibt es Amnesien, deren Genese anders gedacht werden 
kann. Man beobachtet das Fälschen, das Vergessen von Daten bis 
zu einem gewissen Grade auch beim Gesunden unter Bedingungen, 
die bei der Hysterie häufig zutreffen. Die Stimmung der Kranken ist 
durch psychische Traumen beeinflußt; der Affekt weckt ihm konvenierende, 
anderweitige Erinnerungsbilder, welche so plastisch reproduziert werden 
können, daß man meinte, die ursprüngliche Vorstellung werde darüber in 
den Hintergrund gedrängt, vergessen. Überhaupt bewirken lebhafte Gemüts- 
bewegungen, wie sie der Hysterie ja zukommen, eine Assoziationsstörung 
und es ist leicht, diesen Spezialfall durch Analogien aus dem Alltagsleben zu 
illustrieren. Man braucht nur an das Steckenbleiben, das Vergessen des 
ungeübten Bedners zu denken, wo durch den Affekt der Befangenheit 
der geordnete Ablauf der geläufigsten Gedankenketten durcheinander 
geworfen wird. 

Eine andere Möglichkeit: Der Kranke ist nur mit seinen egoistischen 
Ideenkreisen beschäftigt, nimmt gar keine Notiz von Dingen, die zu 
diesem engen Vorstellungskreis nicht in Beziehung stehen; er fügt daher 
solche Eindrücke ziemlich unbewußt respektive unterbewußt in seinen 
Erinnerungsschatz ein, und kann nur durch besondere Mittel zur 
Erweckung dieser blassen Spuren gebracht werden. Auch dafür gibt es 

Raimann, Die hystorischeu ßeistosstöningeii. 1< 



258 

Analogien im Physiologischen. Wenn jemand in der Zerstreutheit, richtiger 
in der intensiven Beschäftigung mit anderen Gedankenkreisen, einen 
Gegenstand verlegt, sich dann unmöglich darauf zu besinnen vermag, bis 
plötzlich, vielleicht im Traum, die Erinnerung an jene halb bewußte 
Handlung wieder auftaucht. 

Im Gegensatz zu den gelegentlichen Gredächtnisstörungen der Gesunden 
findet man solche bei Degenerierten regelmäßig, ebenso regelmäßig wie 
die Pseudologia phantastica. Wenn man erklärt, das Wahre ist vorhanden, 
wird nur ins Unbewußte hinabgedrückt, so ist es dasselbe, wie wenn 
man auf gut Deutsch sagen würde, es wird verschwiegen, aus Willens- 
schwäche oder mit einer speziellen Willensanstrengung, abulisch oder 
aktiv. Bei hysterischen Degenerierten hat man im letzteren Falle als 
treibendes Motiv den Erankheitswillen anzusehen, krankhafte Vorstellungen, 
die das Bewußtsein in ihrem Sinne beeinflussen. Der Patient verrät sein 
Wissen bei Ablenkung; fixiert man seine Aufmerksamkeit, beobachtet mau 
ihn, dann erinnert er sich gewissermaßen, daß er krank ist, die Frage 
suggeriert ihm das Nichtwissen. Die Tatsache, daß Amnesien zu den 
regelmäßigen Vorkommnissen gehören, beweist, daß auch ihre Entwicklung 
im Mechanismus der Hysterie vorgebildet ist. 

Die Amnesien sind eine einfache, weil unproduktive Form geistiger 
Störung; sie erfordern keine Initiative, keine schöpferische Tätigkeit An 
die Stelle der fehlenden Erinnerungen schieben sich andere, ganz von 
selbst ergeben sich Erinnerungsfälschungen, die Vermischung von Traum 
und Wirklichkeit. Etwas aktiver werden die Hysterischen, wenn sie 
halluzinieren. Die eine Form, die affektlosen Sinnestäuschungen im hysteri- 
schen Dauerzustande erwecken den Eindruck der UnauMchtigkeit, werden 
von vielen Beobachtern nicht ernst genommen. Sie wären zum Teil zu 
den vorgetäuschten Symptomen zu rechnen, führen anderenteils auf Träume 
zurück, welche die Kranken als Sinnestäuschungen ausgeben. Übrigens 
empfiehlt es sich auch bei dieser Gelegenheit, auf das Moment der Auto- 
suggestion zurückzugreifen. Die Tatsache, daß Geisteskranke haUuzinieren, 
ist allgemein bekannt; der Laie erblickt das Wesen der Psychose in 
dieser elementaren Störung. Die Überzeugung, krank respektive geistes- 
krank zu sein, kann daher Sinnestäuschungen suggerieren, die dann des- 
selben Charakters^ genau so vernünftig oder unsinnig sind wie die 
„Halluzinationen^ der Simulanten, meist Gesichtsbilder: Schatten an der 
Zimmerdecke, phantastische Tiere, verstorbene Personen, Märchenerinne- 
rungen u. dgl. 

Etwas anders steht es um die Affekthalluzinationen, welche sich 
fließend zum Delir hinüberspinnen. Die Lebhaftigkeit der Erinnerungs- 
bilder ist bei den einzelnen Menschen individuell verschieden. Entsprechend 
der großen Reizsamkeit und dem Phantasiereichtum der Hysterischen 
wäre bei ihnen wie bei Menschen mit künstlerischer Veranlagung ein 



259 

plastisches VorstelleQ yorauszusetzen. Das geweckte Erinnerungsbild trägt 
fast sinnliche Qualitäten; die Eritikschwäche, ein bloßes Schweigen der 
Kritik genügt, um die Sinnestäuschung vollkommen zu machen. Die 
Geschichte erzählt von Halluzinationen geistesgesunder Menschen: Sokrates, 
Konstantin der Große, Mohammed, Jeanne d'Arc, Luther, Benvenuto 
Cellini, Pascal, Goethe, um nur einige Namen zu nennen, haben 
halluziniert. Diese Tatsache an und für sich beweist noch keine 
Geisteskrankheit; um so weniger, wenn derartige Täuschungen im Affekte 
auftreten. Fast jedermann hat bei solchen Gelegenheiten wenigstens einmal 
illusioniert: der Furchtsame sieht Gespenster. Die Lebhaftigkeit der Vor- 
stellungen sowie die Aufhebung der kritischen Assoziationen werden in 
gleicher Weise durch die Gemütsstürme der Hysterie begünstigt: es ist 
daher nicht wunderbar, wenn die Kranken im Affekte halluzinieren. 

Am klarsten sieht man diese Genese bei hysterischen Delirien, 
welche fast immer außerordentlich leidenschaftlich sind, indem das Indi- 
viduum seine ganze Energie auf die Reproduktion einer persönlichen 
Erinnerung verschwendet. Besonders lehrreich ist die große Reihe von 
Fällen — einzelne befinden sich auch unter den schon mitgeteilten — 
wo man einem Zustandsbilde gegenüber eigentlich nicht weiß, soll man 
von Affekt oder von Delir sprechen. Die Kranken sind in hochgradiger 
Erregung und äußern dieselbe laut, so wie der gesunde Affekt laut wird, 
wenn er eine gewisse Höhe erreicht; sie leben sich in ihren Affekt hinein, 
was ohne Vertiefung in das zugehörige intellektuelle Substrat gar nicht 
möglich wäre. Sie spielen sich und den Zuschauem eine Szene dabei vor, 
d. h. sie delirieren dieselbe. 

Wie die Halluzinationen fußen auch die Erinnerungsdelirien der 
Hysterischen auf Vorgängen, die man noch im Rahmen des physiologischen 
Seelenlebens antrifft, scheinen nur die Steigerung eines V^erhaltens, das 
bei etwas „innerlichen^, mit lebhafter Phantasie begabten Menschen 
gelegentlich beobachtet wird ; man dürfte vielleicht von Reproduktions- 
monologen sprechen. Es gibt Leute, die ein Ereignis, welches sie nahe 
berührte, halblaut mit sich selbst durchsprechen, oft in Rede und Wechsel- 
rede. Manchmal geht die Konzentration so weit, daß auf der Straße 
so ein Individuum unter Gestikulationen sich Vorwürfe macht, eine ganze 
Szene im Hin und Wider durchlebt; die innere Spannung und Gebundenheit 
läßt solche Menschen an die wirkliche Umgebung ganz vergessen, sie sind 
nur mit ihrem Ich beschäftigt. Beweis für die Allgemeinverständlichkeit 
dieses Mechanismus ist wohl, daß Dramatiker desselben ganz gewöhnlich 
sich bedienen: Szenen, die sie nicht bringen wollen, mögen dieselben der 
Vergangenheit oder der Zukunft angehören, lassen sie, eventuell mit 
verteilten Rollen monologisierend durch einen Schauspieler vortragen. Die 
Zuschauer empfinden das nicht unnatürlich. Über derartige Eigenheiten 
habe ich öfters berichten hören, teilweise sie selber beobachtet, ohne daß 

17» 



260 

man von Hysterie sprechen konnte. Zu dieser gelangt man aber in 
fließender Weiterentwicklung. 

Die Hysterischen werden mit einem Ereignis nicht fertig; sie leben 
dasselbe immer und immer wieder durch, lassen die ganze Mitwelt daran 
teilnehmen. Bis zu einem gewissen Grade ist auch verständlich, wieso 
sich diese Erinnerungsdelirien an den großen klassischen Anfall schließen. 
Derselbe ist ein AfTektausbruch: die Entladung der angehäuften inneren 
Spannung, die explosionsartig mit konvulsiven Bewegungen beginnt und 
sich in die Attitudes passionnelles fortsetzt; auch diese sind ein hysterischer 
Affekt, aber schon im. Abklingen. I^och später kommt die dem Normalen an- 
gemessenere Ausdrucksweise, die Worte. Krämpfe wie Worte haben die- 
selbe Bedeutung; es wird eine das Bewußtsein beherrschende Erinnerung 
reproduziert, ein Affekt abreagiert. Die Konvulsionen markieren den ersten 
und schwersten Ausbruch; in allmählicher Abnahme der Erregung geht 
es durch die Plastik, dann durch die Aussprache schließlich bis zur Er- 
schöpfung. Schon im vorigen Kapitel wurde darauf hingewiesen und hier 
sei es wiederholt, daß der Affektinhalt, der im Anfalle abgearbeitet wird, 
durchaus nicht einem persönlichen Erlebnisse entsprechen muß. Hysterische, 
die keinen geeigneten Erfahrungsinhalt für ihre Affektspannung haben, 
erfinden sich ein Ereignis, sie nehmen dasselbe aus dem Gelesenen, 
Geträumten; sie können sich aber auch mit Zukunftsbildern beschäftigen, 
ein Wunschdelir herunterspielen. 

Die Dämmerzustände zeigen nahe Beziehungen zu den Amnesien, 
zur Verdopplung der Persönlichkeit; sie wachsen zum Teil aus den Träu- 
mereien der Hysterischen heraus, die ihrerseits in physiologischen Vor- 
gängen ihr Analogen haben. Wie bei der Zerstreutheit gesunder Menschen 
ist das Bewußtsein durch Reminiszenzen oder Gedanken in rascher Auf- 
einanderfolge erfüllt; phantasiebegabte Kinder hängen Zukunfts-, Größen- 
oder Märchenträumen nach; erotische Träumereien, oft von ziemlich leb- 
hafter Färbung, charakterisieren die Zeit der Pubertät. Indem die Bilder 
plastisch vorgestellt werden, sind es Halluzinationen, schließlich handelt 
die Hysterica im deliranten Dämmerzustande. Die Konzentration auf 
Innenvorgänge bedingt nach außen hin Einschränkung des dem Arzte 
zugänglichen Bewußtseins; bezüglich der Gesetzmäßigkeiten und Will- 
kürlichkeiten dieser Form von Geistesstörung müßte das schon Gesagte 
wiederholt werden. 

Eine große Anzahl hysterischer Psychosen geht unmittelbar aus den 
Einseitigkeiten des Charakters hervor, als pathologische Reaktion auf 
einen äußeren Reiz. Die Vielheit dessen, was die Hysterischen im- 
pressioniert, die überaus wechselnde individuelle Eigenart führen zu 
Geistesstörungen von ungeheuerer Mannigfaltigkeit. Manches von dem, was 
man zu sehen bekommt, entsteht durch die Autosuggestion geisteskrank 
zu sein, anderes wird aus der Umgebung aufgenommen. Unerwartete 



261 

Assoziationen, scheinbar unmotivierte Stimmungen überraschen nur den, 
welcher den Gang der Ideenverknüpfung nicht kennt. Auch Gesunde 
befremden manchmal den Fernerstehenden durch eine unpassende Be- 
merkung, durch eine Htimmungsänderung auf Grund einer unausge- 
sprochenen Reminiszenz. Auch beim Gesunden wird irgendeine Affekt- 
summe nur langsam verarbeitet und färbt während dieser Zeit auf jeden, 
auch den indifferentesten Bewußtseinsinhalt ab. Es kann das auslösende 
Ereignis inhaltlich bereits soweit abgeblaßt sein, daß es spontan gar nicht 
mehr auftaucht, daß nur eine genaue und kritische Selbstbeobachtung 
hinterher den Zusammenhang herstellt. Bei den Hysterischen ist das ins 
Krankhafte gesteigert. Weniger assoziative Tätigkeit als derartige Affekt- 
reste verzerren die Sinneswahrnehmungen, die persönlichen Erinnerungen 
und beeinflussen das Umlügen der Bewußtseinsinhalte. 

Registriert muß werden, daß die hysterischen Psychosen vielfach 
den Eindruck erwecken, als ob sie willkürlich produziert würden, indem 
sie sich nach logischen Gesetzen gruppieren, auf Grund äußerer oder 
zu erschließender innerer Reize jeden Augenblick motiviert und zweck- 
mäßig gestaltet werden, genau so wie willkürliche Äußerungen und Hand- 
lungen. Hierin liegt das Wesen der Erscheinung, nicht in der einfachen 
Annahme einer Simulation, die ja kaum je auszuschließen ist, da, von 
gewissen Einzelzuständen abgesehen, alle hysterischen Geistesstörungen 
sich willkürlich nachahmen lassen. Die Differentialdiagnose gegen Simu- 
lation ist auch von ungeheurer Schwierigkeit, vielleicht unlösbar; es ist 
allerdings vollkommen ausreichend, wenn man die zugrundeliegende 
Hysterie diagnostiziert, und dann sind gerade die Geistesstörungen die 
unmittelbarste Art, in der ein hysterisches Individuum sich ausdrückt. 

Wenn ein Gemütseindruck Krampfanlalle auslöst, so müssen 
psychische Akte in körperliche Störungen konvertiert werden; wenn 
aber aus einem Schicksalsschlage eine melancholische Verstimmung 
herauswächst, dann scheint dies das allerselbstverständlichste; man muß 
auf das Unverhältnismäßige, das Inadäquate hinweisen, um die Psychose 
begründen, es müssen die Gharakterzüge, die Stigmen herhalten, um die 
Diagnose Hysterie stellen zu können. Aus den Grundeigenschaften 
eben dieses Charakters folgt, daß ein Ereignis, welches vom gesunden 
Seelenleben mit einfacher Verstimmung beantwortet wird, bei der Hysterie 
zu einer mehrmonatlichen Depression führt. Dasselbe kann aber auch im 
Delirium reproduziert werden, in erkennbarer oder ganz unkenntlicher 
Verkleidung, es kann sich der Affekteindruck in einer entgegengesetzten 
Stimmung äußern, dadurch ganz fremdartige Bewußtseinsinhalte asso- 
ziieren. Auch hier begegnet man noch einer Analogie mit dem gesunden 
Seelenleben. Eine Methode, über etwas recht Unangenehmes sich hinweg- 
zusetzen, besteht darin, daß man sich lustig darüber macht. Eine krampf- 
hafte Heiterkeit, ein paar schlechte Witze sollen das eigene Ich sowie 



262 

die Umgebung über einen AflFektshock hinwegtäuschen — auch eine Art 
des Abreagierens. Endlich gibt es Hysterische, bei welchen das psychische 
Trauma anfallsweise Störungen auslöst, die den größten Teil des Lebens 
stets sich wiederholen, und erst hier scheint das Wort Konversion wieder 
zu passen. Von der unmittelbaren Psychogenie bis zur Umsetzung einer 
Verstimmung in periodisch auftretende Krämpfe oder lange dauernde 
Lähmungen läuft eine fließende Reihe von Zwischenformen, welche die 
Zusammengehörigkeit aller dieser Reaktionen beweist, insofern auf eine 
bestimmte Organisation hingezeigt wird. Die Hysterie ist gewissermaßen 
ein Temperament von außerordentlicher Vielseitigkeit. 

Auf eine Eigentümlichkeit dieser Organisation wurde bereits einge- 
gangen; es ist die überwiegende Rolle des inneren Menschen gegen den 
äußeren. Die Hysterie lebt sich als Innenwesen rückhaltlos aus. Da das 
Niederhalten desselben durch die anerzogenen höheren, altruistischen und 
sozialen Gefühle eine gewisse Willensstärke und ein bedeutendes kritisches 
Vermögen erfordert, sieht man, daß mit besonderer Vorliebe geistes- 
scliwaehe, moralisch defekte, egoistisch veranlagte Individuen erkranken; 
Gehirne, die mit mangelhaften synthetischen Fähigkeiten ausgestattet 
sind; Menschen, welche Vernunftgründen schon in gesunden Tagen 
schwerer zugänglich waren, die mehr nach ihren Instinkten handeln. 
Hier sind die Eigensuggestionen um so mächtiger und finden keinen 
Widerstand; die Krankheitsüberzeugung schlägt alles andere aus dem 
Felde. Besonders bei Kindern und Frauen, wo das Gefühls- und Instinkt- 
leben dominiert und affektbetonte Vorstellungen schon in gesunden Tagen 
die Herrschaft über den denkenden Teil der Persönlichkeit tragen, ist 
daher die Häufigkeit der Hysterie leicht verständlich. 

Noch einige Bemerkungen über das äußere Gepräge der Erkrankung. 
Dieselbe spiegelt die individuellsten Eigentümlichkeiten wieder; ihr Bild 
wechselt nach Individuengruppen. Die Hysterie des Nordländers muß 
anders aussehen als die des Südländers, die der oberen Zehntausend 
anders als die des Proletariers. Die Hysterie der Kinder ist charakterisiert 
durch eine Überfülle motorischer Reizerscheinungen, die der Frauen durch 
stürmische Affekte, große Beweglichkeit; bei Männern trifft man meist 
nur Erschwerung der psychischen Prozesse, eine traurige finstere Miene, 
während Delirien außerordentlich selten sind und rudimentäre Wahnideen 
der Stimmungsgrundlage entsprechen. All das wurde schon an früherer 
Stelle als die persönliche Note der Hysterie bezeichnet. Auch das normale 
Kind fällt durch seinen Bewegungsreichtum auf. Der Gegensatz zwischen 
Weib und Mann, der namentlich im Affektleben so ausgesprochen ist, 
läßt sich am schönsten erkennen bei einem Gange durch die Irrenanstalt 
Auf der Weiberseite helles, lautes Lachen, Tränenströme, übertäubt durch 
den Lärm, den die Nachbarin verursacht; zornige Gereiztheit, welche 
die Fensterscheiben nicht verschont; durch alles Streiten und Schreien 



263 

immer wieder durchbrechend und stürmisch geäußert, Lustaflfekte. Dem- 
gegenüber hört man auf der Männerseite höchst vereinzelt ein Lachen; 
die still depressiven Verstimmungen steigern sich nur zu einem mono- 
tonen Stöhnen oder Klagen der Angst; Zorn- und Wutausbrüche verpuffen 
rasch. Zumeist erblickt man apathische, sogar blöde Gesichter. Anlage, 
Erziehung, Lebensverhältnisse bringen es mit sich, daß der Mann seine 
Affektausdrücke weit weniger bahnt und entwickelt, speziell Lustaffekte 
nie so laut ausbrechen läßt. Der Mann ist immer schwerfälliger, das 
Weib beweglicher und die affektive Veranlagung steht der Hysterie so 
nahe, daß die Seltenheit der männlichen Hysteriker auch daraus be- 
greiflich wird. 

Es sei gestattet, dieses Kapitel abzuschließen mit der kurzen Wieder- 
gabe dreier Fälle, welche in regelmäßiger Steigerung die Umsetzung 
eines gemütlichen Shoks in Psychose demonstrieren. Im ersten Kasus 
ist der Affekt noch vollkommen bewußt, die Verstimmung eine so physio- 
logische, daß man sich sträubt, von Geistesstörung zu sprechen; nur der 
Anfall als hysterischer Mechanismus ist schon da. 

Beobachtung XLUI. 

Josefine K., 30 Jahre, katholisch; Maarersgattin. 

Vater der Patientin Potator. Matrimonium seit 7 Jahren, kinderlos. Die 
Frau wird als reizbar und ungemein zanksüchtig geschildert; sie verschlenderte 
das Geld, ohne recht zu wissen wofür, war im Hauswesen nur notdürftig 
brauchbar. Seit dem Brautstände Anfälle von „Herzkrampf" in unregelmäßigen 
Pausen, oft mehrmals täglich, besonders zur Zeit der Menses: Beginn mit 
tonischer Starre, dann Hinstürzen, klonische Zucknngen im Gesichte und den 
oberen Extremitäten, weißlicher Schaum vor dem Munde; Dauer 3 — 4 Minuten; 
nie Zungenbiß, nie Harn- und Eotabgang, keine Verletzung beim Hinstürzen. 
Vor IY2 Jahren hörten die Anfälle ohne Therapie auf. — Wiederholt Suizid- 
versuche (vor 3 Jahren Phosphor, vor 1 Jahr Selbstbeschädigung mit Messer). 
Drohte dem Manne, sie werde ihn umbringen. Seit 3 Monaten noch ver- 
geßlicher, „ganz verloren", zunehmend streitsüchtig auch gegen Fremde. 

Der Amtsarzt findet die Kranke in hochgiadiger Erregung; sie wolle 
sich vom Dachboden herabstürzen, Gift nehmen; sie versucht, sich Schnitte 
beizubringen, stößt mit dem Kopfe gegen die Wand, rauft die Haare. 

10. März 1903. Patientin geht ruhig zu Bett; nachts schlaflos. 

11. März. Verhält sich beim Examen passend und geordnet, ist voll- 
kommen luzid, örtlich und zeitlich orientiert, zeigt nur leicht depressive Ver- 
stimmung; bemüht sich, alles Vorgefallene möglichst harmlos darzustellen: sie 
sei aufgeregt gewesen infolge von Difierenzen mit ihrem Manne, mit dem 
Selbstmord meinte sie es nicht recht ernst, sie habe das Messer auch 
^nur so^ in die Hand genommen. Ihr Mann quäle sie, daß sie kinderlos 
sei, äußere seine Unzufriedenheit stets in roher Weise; er gebe ihr auch 
Grund zur Eifersucht, trinke stark, habe sie öfters geschlagen, lasse sie ohne 
genügende Geldmittel. Von ihren Anfällen will sie nicht reden. Bei der 
bestimmten Frage nach venerischer Infektion bricht Patientin in Tränen aus, 
gesteht schluchzend, daß sie vor der Ehe Syphilis akquiriert habe, in den 
Jahren 1894 und 1895 mit Papeln behandelt worden sei, noch 1902 an 



264 

einer gummösen Ohrena£fektion erkrankte. Sie bezieht alle ihre psychischen 
Zastände auf die Lues. — Schulkenntnisae, Auffassung und Merkßlhigkeit gpit. 

13. März. Patientin gibt an^ schwer darunter zu leiden, daß sie keine 
Kinder habe infolge ihrer Lues, von welcher der Mann nichts wisse. 
Die Leute im Hause höhnen ihn, weil er ^nichts zusammenbringe^, seine 
ganze Verwandtschaft sei ihr darum feindlich gesinnt. — Stundenweise Seheitel- 
kopfschmerz. 

15. März. Sehr wortreiche Darstellung ihres häuslichen Unglflckes. 
Berichtet über lebhafte Träume, nächtliche Phantasien: Sie hörte läuten, stand 
auf, es war aber niemand vor der Ttlre. Ihre Anfälle bestanden nur darin, daß 
sie sich ihr Elend so sehr zu Herzen nahm, Stechen im Herz verspürte und 
zitterte. Dauernder Lebensüberdruß. Die Kranke sieht selbst ein, daß sie zum 
Manne nicht mehr werde zurUck können; sie gerät beim Sprechen immer 
mehr in Affekt. Ihr Mann hatte nicht einmal eine Hose als sie heirateten; 
nun hetze er die Leute auf, überall verspotte man sie als die ^Böhmin^. 
(Patientin ist unverkennbar tschechischer Nationalität.) Sie verwahrt sich ent- 
schieden, daß sie so ein ^ Mädel ^ sei, hatte keine Ahnung, kam ganz un- 
schuldig zu der schrecklichen Krankheit. Infolge von Tränenströmen muß 
das Examen abgebrochen werden. 

24. März. Stets depressiv verstimmt; kein Freiheitsdrang, beklagt sich 
über ihren Gatten. 

1. April. Äußert Angst, daß der Mann durch andere Leute von ihrer 
Krankheit erfahren haben könnte. Sie will eine diesbezügliche Anspielung von 
ihm gehört haben, traut sich aber nicht, ihm die Wahrheit zu gestehen. Sie 
fühlt, daß sie draußen nicht möglich ist. Am 

2. April 1903 in eine Irrenanstalt übersetzt. 

Es muß an erster Stelle bemerkt werden, daß man eine von Haus aus 
abnorm veranlagte Person vor sich hat; erst dadurch wird das folgende ganz 
verständlich, nur aus der abnormen Anlage ergibt sich die pathologische 
Reaktion auf eine Jugendsünde. Eine andere Frau hätte resolut die Konsequenz 
gezogen, sie wäre entweder mit der unangenehmen Erinnerung fertig ge- 
worden, hätte die Sache vergessen oder sie hätte — ein beliebter Vorwurf 
für französische Dramatiker — den Mut aufgebracht, wenn schon nicht dem 
Bräutigam, so doch dem Gatten ihren Fehltritt zu bekennen. Die Patientin 
ist zu keinem von beiden fähig. Sie leidet unter der Erinnerung, die sie 
allein trägt, deren Entdeckung sie fürchtet. Allerdings kommt im vorliegenden 
Falle noch eine unheilvolle Tatsache hinzu, die luetische Infektion, die in 
ihren Folgen fortwirkt. Die Kranke kann ein sehnsüchtiges Verlangen nach 
Nachkommenschaft und Mutterglück nicht unterdrücken, obendrein gibt sie 
ihren Mknu dem Spotte der Nachbarschaft preis, was wiederum sie entgelten 
muß. Sie ist der Situation nicht mehr gewachsen, die Depression führt ganz 
konsequent zum Lebensüberdruß. Daß die Gemütsverstimmung zur Zeit der 
Menses ausgesprochener wird, ist begreiflich, weil gerade diese sie an ihr 
Schicksal erinnern und weil Verstimmungen überhaupt menstruell exazerbieren. 

Außer dieser physiologischen Geistesstörung, wenn man so sagen dürfte, 
bestehen hier noch Anfälle, die von der Patientin in unmittelbaren Zusammen- 
hang mit ihrer Verstimmung gebracht werden. Sie nimmt ihr Unglück sich 
zu Herzen, eine Affektsumme häuft sich an und wird hysterisch, als Krampf 
abreagiert; während eine gesunde Frau Tränen vergießt oder laut weint, 
so oft sie etwas an ein großes Unglück erinnert, bekommt die Patientin einen 



265 

Anfall. Es ist übrigeos nicht die ewige Fortwirkung eines Traumas ans der Ver- 
gangenheit; sondern die Depression findet stets neue Nahrung, indem die Leute 
Bemerkungen über ihre Kinderlosigkeit machen^ der Mann sie deshalb prügelt, 
sie stets Frauen mit Kindern, glückliche Mütter erblickt. Von anderweitigen 
Krankheitserscheinungen, die in den Formeln der Hysterie sich bewegen, sind 
hier nur noch anfallsweise auftretende Scheitelkopfschmerzen zu verzeichnen. 
Der Fall steht, wie gesagt, an der Grenze der Norm, die Hysterie ist recht 
unentwickelt. 

In anderer Weise reagiert auf einen Affektshock, der ihre ganze 
Existenz untergräbt, 

Beobachtung XLIV. 

Hermine Z., 59 Jahre, katholisch, Arztenswitwe. 

Patientin leidet seit 1897 an Oedächtnisabnahme, äußert Furcht, sich 
oder jemand anderem durch spitze Gegenstände Schaden zuHigen zu können, 
einen Selbstmord begehen zu müssen. 

24. Jänner 1899. Als Patientin dem Arzte vorgeführt wird, kommt sie 
in hochgradige ängstliche Erregung, zittert am ganzen Körper, vermag kaum 
zu sprechen, beruhigt sich aber sehr schnell. Sie berichtet über Anfalle, Absenzen 
und Furcht vor sich selbst. Da sie sich vor ihren Kindern beherrschen wollte, 
stellten sich Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit ein. Ursache ihrer Erkrankung 
seien Gemütserschütterungen, die sich an den Tod des Vaters und Gemahls 
anschlössen sowie an Prozesse, die sie damals zu führen hatte. 

26. Jänner. Vollkommen orientiert, ohne intellektuelle Ausfallserschei- 
nungen. Eine gewisse innere Unruhe steigert sich zeitweilig zu lebhaften Angst- 
ausbrüchen: Patientin jammert, ringt die Hände, klappert mit den Zähnen, 
zittert am ganzen Körper. 

1. Februar. Zu Bette, ist entsetzt; wenn jemand strickt, kann keine 
Haarnadel, keinen Zahnstocher sehen. 

1. April. Die Zwangsvorstellungen sind etwas zurückgetreten. Die Kranke 
geht im Zimmer umher, beschäftigt sich mit Handarbeiten. 

23. Mai. Klagen über neurasthenische Zustände, Kopfdruck dauern an. 
Verlangt stets Medikamente. 

15. Juli. Patientin verträglicher, behelligt die Umgebung weniger. 

12. August. Klagt nur mehr über Kopfschmerz; wenn sie diesen fühle, 
quäle sie die Erinnerung an ihr Leiden; sie wünsche darum hier zu bleiben, 
bis ihr Kopfschmerz gut geworden sei. 

28. Oktober. Plötzlich erregt, fällt auf die Knie, man möge sie nicht 
wegschicken. Sie kommt in Streit mit anderen Kranken, verlangt Gift, sie 
halte es nicht mehr aus. 

29. Oktober. Wieder ruhig. 

22. Februar 1900. Unzufrieden mit der Umgebung, klagt über allerlei 
Schmerzen, beschäftigt Ärzte und Wartepersonal übermäßig. 

20. Mai. Patientin liegt über eigenen Wunsch im Gitterbett, da sie sich 
nur hier sicher fühle. Sie steht durch Wochen nicht auf; jammert, man schenke 
ihr zu wenig Aufmerksamkeit. 

25. Juli. Durch zwei Tage ganz verworren, kramte im Bettzeug umher, 
sprach unverständlich, schien ihre gegenwärtige Lage nicht zu erfassen. Heute 
wieder klar, nimmt sogar die Mahlzeit außer Bett. 

25. August. Beträchtlich gebessert; die Stimmung viel heiterer. Die 
Kranke schläft ohne Schlafmittel, klagt nur selten mehr über Schmerzen. Sie 



266 

geht wiederholt in Begleitung oder allein aus, kehrt geordnet zurück. 
Wird am 

14. September geheilt entlassen. 

Bald stellen sich jedoch neurasthenische Sensationen ein, Zwangsgedanken 
und Phobien treten wieder auf. Gemütlieh wird Patientin unausstehlich, reizbar, 
heftig und rücksichtslos. Dann kommt es zu Selbstmordäufierungen, Furcht 
vor der Möglichkeit eines Selbstmordes und schliefilich zu raptusartigen 
Erregungszuständen und Angstaffekten, wobei die Kranke sich die Haare 
raufte und die Hausbewohner zu Hilfe rief. Auch Verfolgungswahnideen 
äußerte sie: ihre Töchter wollen sie absichtlich geisteskrank machen, um sich 
von ihr zu befreien. 

30. Jänner 1901. Bei der Aufnahme ein ganz ähnlicher Zustand wie 
das erste Mal. Verlangt ins Gitterbett, äußert Angst vor den Mitpatientinnen. 

In den ersten Tagen ihres Anstaltsaufenthaltes bessern sich die meisten 
Symptome sehr rasch. Die Kranke spricht von dem Prozesse, der sie um ihr ganzes 
Vermögen brachte und setzt ihre Hofiuung auf eine Wiederaufnahme des Ver- 
fahrens, denn sie wolle ihren Töchtern nicht zur Last fallen. Sie muß allerdings 
zugeben, daß sie in ihren gesunden Tagen selbst der Meinung war, es könne 
nichts mehr herauskommen; jetzt sei sie hingegen optimistisch. Als der Arzt 
ihr abrät, mit den alten Sachen wieder zu beginnen, gerät sie in große 
Erregung, weint, behauptet, man wolle sie absichtlich im Irrenhause festhalten. 

30. März. Bittet um Blutentziehung. Es werden ihr Blutegel am 
Nacken gesetzt, darauf fühlt sie sich durch eine Woche wohl. 

30. April. Weniger Angst, keine Zwangsvorstellungen, Klagen über 
herumziehende vage Gefühle, ^ Blutschießen" etc. 

5. Juli. Bei der Visite stets jammernd. Auf Suggestion verschwinden 
für einige Zeit die meisten ihrer Beschwerden. 

30. Dezember. Patientin ist überzeugt, die schwerste Krankheit von 
allen zu haben, will in ihrem Zustande bedauert sein. Sonst ruhig, beschäftigt 
sich mit Handarbeit oder Lesen. Schlaf ist durch Suggestivmittel (Zucker) zu 
erzielen. 

19. Jänner 1902. Die Kranke war bisher am Zahlstock untergebracht. 
Da sie nicht entlassungsfähig wird, erfolgt ihre Übersetzung in die dritte Ver- 
pflegsklasse (Klinik). Sie kommt in hochgradiger Erregung an, verlangt sofort 
ins Gitterbett; weint und schreit, als ihr dasselbe nicht zur Verfägung 
gestellt wird. 

20. Jänner. Kuhig, sehr umständlich. Der Arzt des Zahlstockes sei ihr 
übel gesinnt, habe sie seinerzeit in schroffer Weise beleidigt. 

21. Jänner. Ein Heer von subjektiven Klagen. 

22. Jänner. Spricht die Visite feierlich an: Man solle ihr entweder den 
Kopf abreißen oder ihr recht geben. In das Meritorische der Sache eingehend 
erzählt sie, daß sie des Nachts fUnfmal auf den Leibstuhl gehen mußte; 
Wärterinnen und Ärzte ließen das zu. Es folgen weitere Beschwerden, mit 
deren Abhilfe sie durchaus noch nicht zufriedengestellt ist; sie läuft der 
Visite nach. 

24. Jänner. Klagt über die Arzte, welche ihrem Leiden nicht genügend 
Beachtung schenken. Sie habe seit sechs Tagen keinen Stuhl gehabt (^tat- 
sächlich gestern Nachmittag zwei Stähle). 

28. Jänner. Jammert über „schreckliche Kongestionen^ — es komme ihr 
wie Feuer aus den Augen — und Angstgefdhle, besonders bei Nacht, die 
heftigsten Schmerzen im Kreuz. 



267 

6. Februar. Lebhafter Tremor des Unterkiefers, der wie gemacht aus- 
sieht, ebenso eine stotternde Sprache. Behauptet nicht geschlafen zu haben 
(non verum). 

16. Februar. Ihren Töchtern gegenüber sehr erregt, schlägt nach 
denselben. 

28. Februar. Ging des Nachts herum, geriet mit einer Patientin in 
Konflikt, erhielt eine Ohrfeige. Theatralischer Aufregungszustand, der ihre 
Übersetzung auf die Tobabteilung erforderlich macht. 

2. März. Ruhig; behauptet, drüben war ein Komplott, man habe sie 
geschimpft, bei den Haaren gezogen, ihr Gift gegeben; man mißachte die 
Anordnungen des Arztes. Motiviert ihr Schreien damit, dafi sie nur andere 
Eltern warnen wollte, ihre Kinder hereinzugeben. 

In endlosen Klagen und Beschwerden schleppt sich der Zustand fort; 
Patientin wird immer untraitabler, beschimpft den Arzt, verlangt stets neue 
Medikamente, bekommt auf dieselben aber immer ärgere Erscheinungen, erklärt, 
dafi die Ärzte ihren Zustand nicht verstehen, sich selbst für unheilbar krank. 
Sie quält die Wärterinnen, entwickelt dabei eine unheilvolle Ausdauer, indem 
sie mit rabulistischer Logik aus den Worten des Arztes alle möglichen 
Anordnungen herausdeutet. Dabei zeigt sich eine aufierordentliche Abhängigkeit 
der Stimmung von äußeren Momenten; sie ist sehr leicht zu kränken, verlangt 
stets eine besondere Aufmerksamkeit, spielt Personen gegeneinander aus. Nach- 
dem alle versuchten Medikationen nur für eine begrenzte Zeit wirkten, wurde 
ihr Suggestionstherapie in Aussicht gestellt. Am 

1. Mai. Versuch einer Hypnose. Verbalsuggestion. Die Kranke erklärt 
von Anfang an, das könne und werde nichts nützen. Nun lebhafter Wider- 
spruch: „Ich kann nicht einschlafen, Sie werden ja sehen.^ Patientin wider- 
spricht jeder einzelnen Suggestivbemerkung, reißt die Augen weit auf, als es 
heißt: sie fallen Ihnen zu. Als ihr die Augen zugehalten werden, steigert 
sich die Aufregung so weit, daß die Kranke nicht mehr zu behen*schen ist, 
sie schreit laut um Hilfe, beginnt dann mit Respirationskrämpfen, endlich 
allgemeinen Konvulsionen, wirft sich im Lehnsessel hin und her. Die Sug- 
gestion wird nichtsdestoweniger fortgesetzt. Es gelingt fOr Bruchteile einer 
Minute Augenschluß zu erzwingen; dann treten immer wieder Reizerscheinungen 
dazwischen, Konverg^nzkrampf der Bulbi, monotones Wiederholen einer sinn- 
losen Silbe etc. Schließlich eine vorsichtig redigierte Beruhignngs- und Schlaf- 
suggestion. 

2. Mai. Patientin scheint ganz zufrieden, folgt am 

3. Mai willig zur Hypnose. Sie bietet diesmal keine Reizerscheinungen, 
Schlaf wird allerdings auch nicht erzielt. Sie glaubt, sie werde im Bette 
schlafen können; schläft auch tatsächlich ein. 

5. Mai. Verlangt dringend nach Hypnose, legt sich mit geschlossenen 
Augen hin. Verbalsaggestion; hinterher wieder Schlaf. 

6. Mai. Ganz ruhig, auch wenn sie bei der Visite fast übergangen wird; 
will täglich hypnotisiert werden. 

7. Mai. Heute löst die Hypnose Erregungszustände aus. Patientin, welche 
anfangs die Augen schloß, reißt dieselben weit auf, behauptet, sie könne sie 
nicht schließen, richtet sich auf, atmet krampfhaft: ^Ich muß ersticken, um 
Himmelswillen, was geschieht denn mit mir?^ Auf Zuspruch schlummert sie 
dann doch ein. 

9. Mai. Auch heute wieder Reizerscheinungen, krampfhaftes Auf- und 
Zuklappen des Unterkiefers, Grimassiercn. Patientin versucht auf alle Weise, 



268 

Eindruck zu machen. Fixation eines vorgehaltenen Gegenstandes bewirkt rasch 
Zufallen der Augen, doch nur auf kurze Zeit. 

Bei näherem Studium stößt man auf den alten Prozeß, welchen die Kranke 
während des ganzen Aufenthaltes an der Klinik mit keiner Silbe gestreift hat. 
Aufgefordert, davon zu erzählen, wird sie eine ganz andere Persönlichkeit; sie 
überhäuft den Arzt mit Freundschaftsbeweisen und geht ganz in dem Gedanken 
auf, daß nunmehr eine Wendung ihres Schicksals bevorstehe. — In aus- 
führlicher Darstellung, die sich bis in die kleinsten Details verliert, berichtet 
sie, daß ihr Mann zu industriellen Zwecken von der Gemeinde Grund erhielt, 
dessen Eigentümerin aber die Gemeinde blieb (die tendenziöse Wiedergabe 
läßt in den Rechtsfall leider nicht ganz klar Einblick nehmen). Das Unter- 
nehmen florierte, sie gelangten zu Vermögen, da starb ihr Mann, die Gemeinde 
machte Schwierigkeiten, es kam zum Prozesse. Patientin läßt sich auf die Haupt- 
fragen gar nicht ein; sie muß sich damals wie eine Querulantin verhalten 
haben, denn aus dem einen Rechtsstreit wurden deren mehrere, Patientin ge- 
wann sie zum Teil, aber sie lief immer von neuem zu Gericht, aus rein for- 
malen Gründen, handelte gegen ihr eigenes Interesse solange, bis das ganze 
Vermögen bis auf den letzten Heller ver prozessiert war. Die Kranke war bis 
zum Kaiser gegangen und erklärt ihr Mißgeschick ganz nach Art von 
Querulanten: der oder jener Richter oder Referent hätte ein persönliches 
Interesse daran gehabt, die Sache nicht mehr gut zu machen. Patientin klam- 
mert sich mit beiden Händen an den Arzt und erschöpft sich in Versicherungen 
ihrer ewigen Dankbarkeit. Sie hat zu Hause einen wohl verschlossenen, zirka 
20 hj schweren Korb, in welchem alle auf ihren Rechtsstreit bezüglichen Akten 
und Dokumente verwahrt sind und übergibt selben. 

In den nächsten Tagen ist die Kranke nicht wiederzuerkennen. Sie liegt 
ruhig zu Bette oder beschäftigt sich; kein Wort der Klage oder Beschwerde 
kommt über ihre Lippen. Erst gegen Ende der bedungenen Cberlegungsfrist 
beginnt sie zuerst mit Blicken, dann auch mit Worten zu fragen, welchen 
Eindruck der Arzt gewonnen habe. Patientin protestiert nicht einmal dagegen, 
wenn man sie bei der Visite ganz übergeht. 

Bei der zweiten ausführlichen Besprechung erweist sich die Kranke als 
durchaus einsichtslos dafür, daß sie der Rechtslage nach heute nichts mehr 
erreichen kann. Meritorisch mag sie wohl Recht gehabt haben, aber das Geld, 
welches für Advokaten und Prozeßkosten aufging, ersetzt ihr niemand mehr; 
daß sie ganz unsinnigerweise prozessierte, will sie auch heute nicht zugeben. 
Man sieht, sie empfindet den Sturz aus besseren Verhältnissen so schmerzlich, 
daß kein Zuspruch wirkt. Sie drückt ihre Enttäuschung aus, beschuldigt den 
Arzt der bösen Absicht und beginnt gleichzeitig wieder mit ihren hypo- 
chondrischen Beschwerden. 

1. Juni. Klagt, daß sie niemals gesund werden kann, da man ihr kein 
Blut nehme. 

15. Juni. Durch Änderung der Therapie nur für kurze Zeit zu beruhigen, 
dann gesteigerte Lamentationen. Es wird eine Ovarialtablette verordnet. 
Patientin findet das Medikament viel zu stark. Sie macht ihrer Tochter eine 
Szene, verliert für einige Zeit die Sprache; bei der Visite furchtbar erregt, 
sie nehme das Mittel nicht, sie sterbe. 

17. Juni. Absolute Verweigerung der Tablette; sich selbst überlassen 
ganz ruhig; schläft gut. 

25. Juni. Aus pädagogischen Gründen ohne jede Medikation. 

2. Juli. Patientin anfangs scheinbar zufrieden, zunehmend lauter. Äußert 



269 

WuhnideeO; die immer ungeheuerlicher werden. Sie sei ausgeronnen, ganz leer, 
gel&hmt, man solle sein Werk bewundern. Als die Visite aber nicht genügend 
lange bei ihr verweilt, springt die Kranke auf, droht mit geballten Fäusten, 
flucht; es folgen krampfhafte Bewegungen: Patientin streckt die Füße in die 
Höhe, wälzt sich über den Bettrand, hält sich selbst fest, so daß sie nicht zu 
Boden fallen kann. Verlangt trotzdem ein Gitterbett, was ihr nicht bewilligt wird. 

16. August. Ähnliche Clownismen, öfter wiederholt; die Kranke ver- 
dreht die Augen, schlägt mit Händen und Füßen um sich oder erklärt 
sich für gelähmt, knickt zusammen, wenn man sie auf die Beine stellt. Ihren 
Besuchern gegenüber wird sie so gewalttätig, daß dieselben sich nicht mehr 
in die Nähe trauen. Nur durch zweckbewußte Ignonerung gelingt es dem 
Arzte, mit ihr auszukommen. Patientin scheint endlich resigniert darüber, daß 
sie hier nicht mehr gesund werde, wünscht sich anderswohin. 

Sie wird am 

17. August in die Irrenanstalt M. übei*setzt. 

Ein Fall, der auch klinisch bemerkenswert erscheint, auf den noch 
zurückzugreifen sein wird, da er differential-diagnostisch gegen Hypochondrie 
abgegrenzt werden muß. Im Vordergrunde stehen Zwangsvorstellungen und 
hypochondrische Klagen respektive Befürchtungen; aber wie kommt Patientin 
zu diesen? Im unmittelbaren Anschluß an den Verlust ihres ganzen Vermögens 
gerät sie in hochgradige Depression; all ihr Bemühen war umsonst, sie hat 
den Kürzeren gezogen, ihre Existenz ist vernichtet; sie kann sich nie mehr 
erheben. Die psychische Katastrophe wird in eine körperliche umgefälscht: 
Sie ist unheilbar krank und kann nie wieder genesen. 

Natürlich handelt es sich um eine degenerative, und zwar hysterisch 
veranlagte Person; die Neigung zu Zwangsvorstellungen und hypochondrischen 
Ideen liegt in ihrer degenerativen Anlage. Doch haben diese Störungen hier 
nur symptomatologische Bedeutung. Der ganze Verlauf des Falles berechtigt 
wohl zu der Diagnose Hysterie. Immer leuchtet die Suggestibilität hervor. 
Das Verhalten der Patientin hängt jeweils von der Umgebung respektive von 
den Aussichten ab, die sie sich über eine liestitntion des Prozesses macht. 
Derselbe beherrscht die ganze Zeit über ihr Bewußtsein, wenn sie auch spontan 
nicht davon spricht, sondern nur über körperliche Sensationen klagt. Hierin 
liegt die hysterische Konversion. Der Gemütsaffekt geht ihr augenscheinlich 
so nahe, daß sie nicht an ihn denken will. Die äußerlich sorgenfreie Existenz, 
während Patientin am Zahlstock verpflegt wird, gestattet eine gewisse Besserung, 
die aber kein Ende absehen läßt; mit der Übersetzung auf die III. Verpflegs- 
klasse bricht rasch eine Verschlimmerung herein. Die Kranke ist auffallend 
ruhig, eigentlich vollkommen gesund in den Wochen, wo eine Beschäftigung 
mit ihrem Aktenkoffer ihr neue Hoffnung gibt; sie erkrankt schließlich un- 
heilbar, als sie ihre materielle Existenz dauernd vernichtet sieht. Diesmal 
trifft man ausgesprochen hysterische Mechanismen zum Teil durch die Hypnose 
ausgelöst, zum Teil als Reaktion im Affekt: Konvulsionen, Aphasie etc. Eine 
hysterische Umkehrung ist wohl auch die Wahnidee: ihre Töchter wollen sie 
geisteskrank machen, um sich von ihr zu befreien. Patientin hat ein ganz 
richtiges Gefühl für ihre Lage; so lange sie geisteskrank ist, sind die Kinder 
der Existenzsorgen überhoben; für sich allein schlagen sie sich schon durch, 
aber die Ansprüche der Mutter in gemeinschaftlichem Haushalte können sie 
nicht bestreiten. Die Furcht ist also vielmehr ein Wunsch, krank zu sein, 
eine Grundlage der Hysterie. 



270 

Was diese Diagnose zu erschweren scheint, ist der hohe Grad von 
Bewußtsein, welcher die einzelnen Krankheitserscheinungen begleitet; und es 
ist unzweifelhaft; daß hier von anderer Seite die Diagnose auf Hypochondrie 
oder wenigstens Hysterie-Hypochondrie -gestellt werden dtlrfte. Im Kapitel 
;,Diiferentialdiagnose^ soll ausgeführt werden, daß Hysterie und Hypochondrie 
als degenerative Psychosen, vielleicht nebeneinander vorkommen, daß aber 
klinisch eine Unterscheidung getroffen werden kann je nach dem Verhalten 
des Ich zur Erkrankung. Hier wäre die Pseudohypochondrie durch Wieder- 
einsetzung in den früheren VermÖgensstand zu heilen. 

Der Fall bildet einen Übergang zu 

Beobachtung XLV, 

wo der tatsächlich zugrunde liegende Affekt noch mehr verschwiegen 
wird und als Geistesstörung in fast unkenntlicher Verkleidung auftritt 

Hermine P., 25 Jahre alt, katholisch, . . . gattin. 

Vater der Patientin starb an Tuberkulose; keine Geschwister. Die Kranke 
seit jeher nervenschwach, anämisch, litt an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, war 
aber in ihrem psychischen Verhalten normal, bis auf etwas Ängstlichkeit und 
Hypochondrie. Zwei Partus; der erste 1898 verlief normal; der zweite, eine 
schwere Geburt, hatte statt im August 1900. Patientin stillte das Kind bis 
zum 20. März 1901. Am 4. Juni desselben Jahres nahm die Frau Landaufenthalt; bis 
dahin war keine Veränderung in ihrem Wesen zu bemerken. Am 10. Juni 
plötzlich Depression; die Kranke begann um Verzeihung zu bitten, falls sie 
jemand beleidigt hätte, sie sehe jetzt erst ein, daß sie ihren Verwandten Un- 
recht tat. Sie sei leichtsinnig, habe zu viel Geld in ihrer Wirtschaft ver- 
braucht; sie glaubte, ihre Kinder seien schwer krank. Am 11. Juni nachts 
wurde Patientin bewußtlos, hatte Schüttelkrämpfe, während welcher 
sie schrie. Den folgenden Tag weinte sie viel, erklärte, sie müsse sparen, 
wollte darum nach Wien keine Fahrgelegenheit benutzen. Sie klagte sich an, 
daß sie die Kinder umgebracht hätte, verlangte vom Manne, er solle sie töten 
und dadurch erlösen; sie wollte aus dem Coup^fenster springen, betete und 
flehte zu Gott, er möge ihr helfen. Die Nahrung wird nur zwangsweise ge- 
nommen. Bei Ankunfk in der Irrenanstalt am 

15. Juni ist Patientin unruhig, drängt aus dem Bette. Sie zeigt ratlose 
Miene, bleibt kurze Zeit wie nachdenklich in einer Stellung, macht dann 
wieder hastige Bewegungen und abgerissene Bemerkungen in weinerlichem 
Tone: „Was fehlt mir denn eigentlich? Bin ich denn gesund? So erlösen Sie 
mich doch! Ich bitte . . . wenn . . . das . . . eines werde ich bitten . . . wenn . . . 
wenn . . . aber . . . bitte ... bitte .. . jetzt ... ich bitte vielmals, wenn irgend 
jemand ..." Patientin verfolgt die Vorgänge der Umgebung mit ängstlichem 
Blicke, seufzt wiederholt auf, faltet die Hände. Durch Anrede ist sie nicht 
zu fixieren, gibt nur gelegentlich eine flüchtig hingeworfene kurze Antwort 
über ihre Generalien. Auf die Frage, ob sie etwas angestellt habe, antwortet 
sie: „Angestellt habe ich nichts, nur das eine bitte ich . . .^ 

17. Juni. Schlaf ungleichmäßig. Patientin bleibt reaktionslos bei Besuch 
des Mannes. 

20. Juni. Etwas erregt, fragt weinend, ob sie sterben müsse, warum sie 
allein sei, ob ihr Mann nicht mehr komme, warum sie nicht nach Hause dürfe. 
Auf die Bemerkungen des Arztes geht die Kranke nicht ein. 



271 

21. Jnni. Besorgt. Sie müsse eine gefährliche Krankheit haben, da man 
die Kinder nicht zu ihr lasse. Drängt ängstlich fort. 

23. Juni. Tiefe Remission. Patientin, die tagsüber noch vollkommen rahig 
war, zeigt gegen Abend Angst, will* durchaus das Bett verlassen. 

24. Juni. In weinerlicher Stimmung, fragt in endloser Wiederholung, 
wie lange sie hier bleiben müsse, warum sie nicht entlassen werde, was mit 
ihr geschehe usw. 

27. Juni. Über Ausbleiben des Gatten beunruhigt, will wissen, ob derselbe 
eingesperrt oder gestorben sei. 

3. Juli. Klar; die Verstimmung tritt zurück. Schlaf- und Nahrungs- 
aufnahme gut; gelegentlich schreckhafte Träume. 

4. Juli. Abends vorübergehend ängstlich: Sie müsse die Kinder retten, 
da sie verbrennen. 

5. Juli. Schmerzlich: Sie werde verbrannt. 
11. Juli. Ziemlich geordnet, ruhig. 

20. Juli. Patientin ganz einsichtslos für ihre Lage, will blind fort, schläft 
wenig. 

26. Juli. Schwer zu fixieren; in ihre Antwort drängen sich flehentliche 
Worte, die einförmig im selben Tonfall wiederholt werden: „Ich bitte Herr 
Doktor! Zu den Kindern! Ich möchte zu meinem Mann!^ Häufig beachtet sie 
Ansprache überhaupt nicht, be^nnt 30 mal den Satz: „Ich möchte ersuchen, 
Herr Doktor . . .^ Später bezeichnet sie sich als traurig und krank. Sie habe 
gesündigt, verdiene eine Strafe. Mitten in der Stirne an der Haargrenze ein 
Hautinfiltrat, das durch Kratzen entstanden ist. 

16. August. Patientin, die letzter Zeit ruhiger gewesen ist, sich auch 
nicht mehr gekratzt hat, zeigt heute wieder stärkere ängstliche Erregung, 
steigt auf die Tische, um zum Fenster hinauszusehen, drängt fort. 

4. September. Sehr unruhig, will nach Hause, wird gegen die Wärterin 
aggressiv, kratzt sich, bis sie blutet; muß beschränkt werden. 

8. September. Gegen Revers dem Manne übergeben; zeigte bei Ankunft 
in ihrem Heim grofie Freude, lachte viel, war über das gute Aussehen ihrer 
Kinder sehr erfreut; doch mußte sie öfters nachdenken, um beim Sprechen 
das Richtige zu finden; sie erkannte manche ihrer guten Bekannten erst nach 
einiger Zeit. Die Nacht verlief ohne Schlaf, die Kranke blieb aber im Bette. 
Des Morgens ruhelos; sie konnte trotz besten Willens nichts arbeiten. Die 
Unruhe wurde immer größer, nach den verschiedensten Personen und Gegen- 
ständen wurde ein ungestümes Verlangen geäußert, schließlich lief Patientin 
aus der Wohnung, um die Kinder zu sehen, die bei einer befreundeten 
Familie anwesend waren. Das Interesse an dem verlangten Gegenstände ver- 
schwand aber immer momentan. Gegen Abend wurde sie so verwirrt, daß sie 
zeitweise ihren Mann verkannte. Nahrungsaufnahme erfolgte nur auf vieles 
Zureden. Während der Nacht stand sie mehrmals auf wollte weggehen, das 
Fenster öffnen, um sich hinabzustürzen, in der Früh (10.) mußte sie in die 
Anstalt zurückgebracht werden. 

16. September. Vegetative Funktionen in Ordnung. Patientin schläft aus- 
giebig. Psychisch ist der Znstand stationär. Vorstellungskreis außerordentlich 
eingeengt, schwächliches Heim verlangen. Masturbation seit einigen Tagen. Man 
erfährt, daß ihrem Manne Diäten gestrichen wurden, was die Patientin an- 
geblich sehr gekränkt habe. 

24. September. Ängstlich, weint, zeigt dabei erotisches Gebaren. Bei 
eindringlichem Fragen gibt sie Tag und Monat richtig an. Sie weiß sich in 



272 

der Irrenanstalt, sei aber ungerecht hereingekommen; sie tat ja niemand etwas 
zuleide, hatte nie etwas im Kopfe. Ohne gefragt zu werden, versichert sie, 
sie sei christkatholisch, habe zwei Kinder nnd einen Mann, mit dem sie 
gut lebe. Retrospektiv gute Erinnerung; erklärt sich nochmals nachdrücklich 
für gesund; sie wolle sich das Leben nicht nehmen, als Mutter müsse sie zu 
den Kindern. Gravidität im siebenten Monate. 

26. September. Jammert stets, wolle nach Hause. 

28. September. Heute von einer toten Frucht entbunden. 

28. Oktober. Unverändert gegen Revers entlassen. 

Zu Hause verhielt sie sich bis zum 23. Dezember vollkommen normal. 
Von diesem Zeitpunkte an wurde sie verstimmt, erkannte Gatten und Eander 
nicht, irrte wie verloren in der Wohnung herum, weinte viel, war schlaflos, 
verweigerte die Nahrungsaufnahme. 

31. Dezember. Bei der neuerlichen Internierung weinerlich, schwer 
fixierbar; sie reagiert auf Fragen zunächst sehr wenig oder wiederholt die- 
selben. Doch ist sie örtlich und zeitlich orientiert. 

2. Jänner 1902. Als Ursache ihrer Einbringung gibt die Kranke an, 
daß sie ^hereingeführt worden sei''. Während sie die Generalien prompt und 
richtig herunterzählt, Gedächtnisfragen nicht schlecht beantwortet, ist es doch 
schwer, das Examen fortzuführen, da Patientin den Fragenden und auch sich 
selbst stets unterbricht, indem sie weinend zu Mann und Kindern verlangt. 
Hier könne sie nicht bleiben, sie sei ja christkatholisch. In welchem 
Gegensatze die psychiatrische Klinik zum christkatholischen Glaaben steht, 
ist nicht zu ergründen. 

3. Jänner. Patientin verlangt stets und von jedermann, er solle sie gleich 
mit fortnehmen. Behauptet heute, ihren Mann sprechen zu hören. 

6. Jänner. Sehr ängstlich, die stereotype Bitte wird mit gefalteten 
Händen wiederholt. 

12. Jänner. Onaniert viel. Antwortet auf jede Frage: „Was?" erklärt 
dann, sie sei christkatholisch und gehöre deshalb nicht hierher; kniet vor dem 
Arzte nieder. 

16. Jänner. Arbeitet sich auf verschiedene Weise aus dem Gitterbett 
heraus, scheint die Umgebung nicht zu erkennen. 

24. Jänner. Gesichtsausdruck weniger ängstlich. Patientin örtlich und 
zeitlich nicht orientiert, verweigert die körperliche Untersuchung. Läuft bittend 
der Visite nach. 

28. Jänner. Weiß, daß sie sich in der Irrenanstalt befindet, um gesund 
zu werden. Sie gibt jedoch nicht zu, daß sie krank sei. Beschäftigt sich mit 
Handarbeit. 

6. Februar. Kennt alle Personen ihrer Umgebung mit Namen; drängt 
die ganze Zeit über hinaus. 

16. Februar. Stark depressiver Affekt, masturbiert, läßt sich ausspeisen. 

20. März. Seit einigen Tagen wesentlich besser, verläßt das Bett, kleidet 
sich an, verlangt nach einer Arbeit. Greift Worte aus der Umgebung auf. 

24. März. Auffallend klar, ist zu einem Gespräche zu bringen. 

26. März. In Affektmittellage, strickt; unterbricht aber jedes Examen 
mit der stereotypen Bitte um Entlassung. 

28. März. Das letzter Zeit im großen und ganzen geordnete Verhalten 
der Patientin wird heute jäh durchbrochen, indem sie gegen eine Mitkranke 
aggressiv wird. Zur Rede gestellt, hält sie auch Widerspruch gegenüber daran 
fest, daß sie beschimpft und bedroht worden sei. 



273 

29. März. Ruhig. 

30. März. Morgens wie verwirrt^ beklagt sich, daß man sie bedrohe; 
muß ins Gitterbett gebracht werden. Beim Examen wiederholt sie die Fragen^ 
beantwortet dieselben nicht; sie kenne sich nicht aus. 

ol. März. Von läppischer Heiterkeit. 

1. April. Ängstlich; muß zum Essen genötigt werden^ unrein mit Kot, 
schlaflos. 

10. April. Allmähliche Beruhigung. 

16. April. Sehr gesprächig, zeigt einen merkwürdigen Sigmatismus, 
behauptet, sie könne wegen der verordneten Eisenpillen nicht sprechen, da 
diese ihr den Mund zusammengezogen haben. 

21. April. Patientin wieder außer Bett, beschäftigt sich, stößt beim 
Sprechen immer noch mit der Zunge an. 

23. April. Ganz geordnet, besucht den Vorgarten; angelegentliche Ge- 
spräche mit ihren Angehörigen. 

25. April. Abends durch längere Zeit Monologe; schläft wenig. 

Durch eine Verwandte auf einen bis nun unbekannten Umstand auf- 
merksam gemacht, hielt ich am 

27. April eine ausftlhrliohe Besprechung ab. Patientin erzählt, daß sie 
im Jahre 1897 den evangelischen Mann heiratete, schon damals wegen der 
GlaubensdifTerenz schwere Seelenkämpfe bestand und viel geweint habe. Be- 
züglich der Konfession der Kinder wurde kein Revers ausgestellt. Das erste, ein 
Mädchen, wurde katholisch, das zweite, ein Knabe, auf ihr dringendes Bitten 
ebenfalls katholisch getauft, trotzdem er der Eonfession des Vaters hätte folgen 
sollen. Die Kranke ging fleißig beichten. Es wurde verlangt, daß sie ihren Mann 
zum Übertritte bewege und daß sie sich nochmals katholisch trauen lassen 
sollte. Sie itlrchtete, wenn sie sterbe, kein kirchliches Begräbnis zu erhalten; 
man sagte, ihre Ziviltrauung sei weder im Himmel noch auch staatlich gültig; 
ihre Stellung und Pension stand auf dem Spiele; dies alles um so mehr, da 
der Beichtvater allmächtiger Gebieter im Hause war und die Brotgeber ihres 
Mannes vollkommen unter seinem Einflüsse standen. Ihre Gemütsbewegungen 
wurden durch das lebhafte Andringen des Geistlichen ungemessen gesteigert; 
unmittelbar anschließend an eine Zurechtweisung im Beichtstuhle, daß sie im 
Konkubinate lebe, die ewige Seligkeit aufs Spiel setze, brach ihre Krankheit 
aus. All das wird in lebhafter zusammenhängender Diktion und sehr affektvoll 
vorgebracht. Es hat die Patientin ihrem Geständnisse nach auch die ganze Zeit 
über beschäftigt. 

1. Mai. Durchaus geordnet im Verhalten, guter Laune. Über die ein- 
zelnen Symptome der abgelaufenen Erkrankung ist nichts Rechtes zu erfahren; 
Patientin weiß nur, daß sie traurig war, im Gitterbette lag, ohne ihr Verhalten 
motivieren zu können. Vom 

5. Mai an beurlaubt. 

21. Mai. Bestätigt alle Angaben vom 27. April. Seit jener Beichte hatte 
sie nirgends Ruhe, bezog alles auf sich. Keine Sinnestäuschungen. Jetzt fühlt 
sie sich vollkommen gesund. Entlassung. 

Ausdrücklich sei bemerkt, daß hier die Diagnose auf Hysterie anfangs 
gar nicht gestellt werden konnte, weil das Aller wichtigste, der Ausgangs- 
punkt von der Patientin unterdrückt, von den Angehörigen aus gewissen 
Motiven nicht berührt wurde. Bei genauerer Durchsicht der Krankengeschichte 
läßt sich indessen eine Reihe von Details herausfinden, welche in Beziehung 

Raimann, Die hysterischen Geistesstörungen. lo 



274 

stehen zu den herrschenden^ unausgesprochenen Vorstellungsgruppen. Vielleicht 
hätte man die Patientin schon früher dazu gebracht^ sich zu offenbaren; 
markante Stellen in der Krankengeschichte wurden durch gesperrten Druck 
hervorgehoben; an vielen anderen Orten noch kann man Anklänge konstruieren. 
Wie die Ärzte erst am Schlüsse erfahren^ erkrankt die Frau unmittelbar, 
nachdem ihrem (rewissen hart zugesetzt worden war; sie rezidiviert nattlrlich 
im Anschlüsse an eine Gravidität, welche eine ftir ihr schwaches Gemüt un- 
lösbare Komplikation darstellt. Ihre Seele ist in Gefahr; um die jedes neu- 
geborenen Kindes muß sie erst kämpfen. Ihre Kinder sind unehelich, Produkte 
der Sünde^ so sagte ja ihre geistliche Autorität. Daß phantasiereiche Individuen 
nach einer Predigt über die ewige Verdammnis in ihrem seelischen Gleich- 
gewicht gestört werden können, dafür liegen Beobachtungen vor; die hysterische 
Persönlichkeit reagiert mit einer Hysterie, die Gewissensangst wird scheinbar 
zu einer Melancholie mit Selbstanklagen, allerlei grundlosen Befürchtungen, 
geht aber der wahren Ursache ihrer Verstimmung aus dem Wege. Hier liegt 
die Konversion. Der psychogene Krankheitsprozeß wird durch einen Krampf- 
anfall eingeleitet, durch allerlei kleine Details, Dämmerzustände, Stottern, näher 
illustriert. Die Entlassungsversuche schlagen fehl, da die alte Umgebung und 
die Ungeklärtheit der Situation ein neuerliches Aufflammen der Verstimmung 
bewirken. Endlich sprechen die Besuche mit der Patientin vernünftig. Die 
Überzeugung des Mannes ist nach vergeblichem Kampfe ins Wanken ge- 
kommen; er gibt offiziell nach und ist bereit, seinen Glauben zu wechseln. 
Patientin wird freier und nachdem es sicher ist, daß er nicht ums Brot 
kommt und sie nicht um die ewige Seeligkeit, wird sie unvermittelt voll- 
kommen gesund. Man sieht also einen Affekt verdrängt durch seine Zerrbilder, 
melancholische Zustände mit Wahnideen und körperlichen Störungen, eine voll- 
ausgesprochene hysterische Psychose. 



VI. Differentialdiagnose. 

Das Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit der Abgrenzung der 
hysterischen von den anderen Psychosen des Systems. Auf die Differen- 
zierung der als Neurose y erkleideten Hysterie gegen organische Erkran- 
kungen kann nicht eingegangen werden. 

Es besteht eine Meinungsdifferenz, inwieweit die bei Hysterischen 
beobachteten Störungen der Psyche von der Hysterie abzuleiten seien, 
inwieweit sie der gleichzeitigen Degeneration entstammen. Mit Joffroy 
wird im vorliegenden die Ansicht vertreten, Hysterie ist eine der Formen 
der Degeneration. Grundlage derselben ist der hysterische Charakter, ihre 
elementarste Äußerung der klassische Anfall. Die Bezeichnung hysterisch 
wird für alle Symptome beizubehalten sein, welche direkt oder indirekt 
mit dem in Beziehung stehen, was man allgemein als Hysterie anerkennt. 
Die Diagnose der hysterischen Geistesstörung entscheidet sich somit aus- 
schließlich dadurch, daß der veränderte Seelenzustand aus den Grund- 
elementen des hysterischen Charakters oder des deliranten Anfalles sich 
ableiten läßt. Leicht ist die Sache, soweit die Psychosen im Paroxysmus 
selbst auftreten, eingerahmt von Anfällen, mit hysterischen Konvulsionen 
durchsetzt. Schwieriger, wenn ihre Wesensgleichheit zu prüfen, zu fordern 
ist, daß sie dieselben Gesetze erkennen lassen wie die anfallsweisen 
Störungen oder die Steigerungen des hysterischen Charakters. Die 
Psychogenie verrät sich dadurch, daß immer ein beherrschendes Geftthls- 
moment, zum mindesten das der eigenen Unzulänglichkeit, in Krankheits- 
erscheinungen sich umsetzt. 

Die Psychosen der Hysterie sind ungemein vielgestaltig, in ihrer 
Symptomatologie noch weniger übersichtlich dadurch, daß sie nach der 
Persönlichkeit wechseln; die der Kinder, die der Frauen gleichen nicht 
denen der Männer. Man findet bedeutende Unterschiede nach Ort und 
Zeit, nach Milieu und Rasse. Insofern wird stets der subjektiven 
Beurteilung eines Falles ein weiter Spielraum bleiben: ein Moment, 
welches die großen Differenzen erklären kann, die bezüglich der Häufig- 
keit des Vorkommens hysterischer Geistesstörungen in der Literatur gehen. 
Das andere Moment liegt auf Seite der Kliniker, in der verschiedenen 
Definition und Umgrenzung des Begriffes, worüber im ersten Kapitel 
schon gesprochen wurde. Während Fürstner z. B. am Heidelberger 
Material 18'8 Prozent hysterischer Psychosen sah, konstatierte sein Nach- 

18* 



276 

folger Kraepeliuam gleichen Materiale deren nur mehr 1*5 Prozent. Diese 
beiden Zahlen zeigen, daß augenblicklich jede umfassendere Statistik tlber 
hysterische Geistesstörungen aussichtslos ist. Im vorstehenden dürfte der 
Begriff ziemlich enge umschrieben sein, es wurde vieles nicht mehr zur 
Hysterie gerechnet, was Schule, W ernicke, Ziehen u.a. Hysterie nennen; 
trotzdem konnte an der Wiener psychiatrischen Klinik in relativ kurzer 
Zeit eine erkleckliche Anzahl von Krankheitsfällen dieser Art beobachtet 
werden: Während der letzten 3 Semester (1. Oktober 1902 bis 31. März 
1904) unter 1135 weiblichen Abgängen (die Statistik ist nach dem Ab- 
gangsprotokolle gemacht) 126 Fälle = IM Prozent; unter 1723 männ- 
lichen Abgängen 38 Fälle = 2*2 Prozent; zusammen unter 2858 Patienten 
164 = 5*7 Prozent Hysterische. Die Diagnose ist somit nicht nur eine wich- 
tige sondern auch, wenigstens an Beobachtungsstationen, unter den weib- 
lichen Aufnahmen eine ziemlich häufige; zumal berücksichtigt werden muß, 
daß auch offenkundig geisteskranke Hysterische, solange sie nicht über- 
mäßig laut oder gar gemeingefährlich werden, in häuslichen Verhältnissen 
oder auf internen Abteilungen verpflegt werden. 

Bevor all das übersichtlich zusammengestellt werden kann, was als 
Behelf für die Diagnose gilt, muß der Begriff der hysterischen Seelenstörung 
in seiner ganzen Reinheit erfaßt und darum zunächst die prinzipielle 
Frage erörtet werden, wie es sich denn eigentlich mit der Kombination 
von Hysterie und anderen Psychosen verhält. Eine solche Kombination 
wurde von den verschiedensten Seiten behauptet und als selbst- 
verständlich betrachtet Ja man wußte bei komplizierten Krankheits- 
fällen ganz genau zu sondern; man rechnete die vorübergehenden^ 
veränderlichen Symptome zur Hysterie, die anderen zur grundlegenden 
Psychose und komplizierte die Statistik durch eine Hysteromelancholie, 
-manie, -paranoia, -epilepsie, -hypochondrie, -neurasthenie usw. Aber nicht 
genug damit, es ging noch weiter. Man unterschied zwischen einer 
Hysteromelancholie und einer Melancholie mit hysterischen Zügen, zwischen 
mehreren Formen der hysterischen Paranoia. 

Gerade in jüngster Zeit nehmen Kraepelin und Nissl in ent- 
schiedenster Weise dagegen Stellung, daß man Symptomenkomplexe, in 
welchen ausgeprägte Zeichen zweier verschiedener Krankheitsbilder 
gleichzeitig zutage treten, ohne weiteres durch die Annahme zweier ver- 
schiedener, gleichzeitig einhergehender Prozesse erklären wolle; nie seien 
einzelne Krankheitszeichen maßgebend und wären sie noch so deutlich 
ausgeprägt, sondern immer nur der Verlauf. Über den Standpunkt des 
Praktikers setzt man sich damit wohl etwas hinaus: denn woraus soll die 
Hysterie diagnostiziert werden, wenn nicht aus ihren Symptomen? Für 
die wissenschaftliche Forschung ist jener Weg aber unzweifelhaft der 
einzig richtige. Man nimmt ganze Biographien vor und wertet an der 
Hand des Verlaufes die einzelnen Krankheitsäußerungen. Wenn so ge- 



277 

zeigt werden kann, daß kein einziges Symptom für die Diagnose 
y,Hy8terie" einen absoluten Wert hat, so ist eine Erfahrung, die man in 
allen Disziplinen der Medizin anzuerkennen gezwungen ist, nun auch auf 
die Psychiatrie ausgedehnt. 

Tatsächlich sind gar nicht selten Bilder anzutreffen — auch die 
Wiener Klinik verfUgt über eine größere Anzahl einschlägiger Fälle — 
wo das Verhalten ganz hysterisch erscheint, wo sogar Krämpfe auftreten, 
welche psychogen aussehen, und doch ergibt die genaue Durchforschung 
der Anamnese keinen Anhaltspunkt für Hysterie; der weitere Verlauf 
bringt die Sicherheit, daß es z. B. um Hebephrenie oder gar um 
ein Fieberdelirium bei einem an Pneumonie erkrankten Säufer sich 
handelt. Einzelne Autoren, die symptomatologisch betrachten, sprechen in 
dem erstangeführten Beispiele davon, daß aus einer Hysterie eine Hebe- 
phrenie geworden sei, oder sie unterscheiden ein hysterisches Vorstadium 
der Hebephrenie, wenn sie nicht gar eine Kombination der beiden 
Krankheiten diagnostizieren, wozu aber wohl kein ausreichender Grund 
vorliegt. Unverbindlich ausgedrückt müßte man sagen, daß hysterifonne 
Symptome, die natürlich im Verlaufe der Hysterie beobachtet werden, auch 
bei anderen Psychosen vorkommen. Dieselben erscheinen sogar in einer 
ziemlichen Häufigkeit bei bestimmten Typen geistiger Erkrankung. Weder 
ein Druckpunkt, noch Unempfindlichkeit, seelischer Rapport mit der 
Umgebung, eine gewisse Beeinflußbarkeit durch äußere Eindrücke, 
pathologisches Lügen und ähnliches machen das Wesen der Hysterie ans, 
die sich ja in den verschiedensten Richtungen mehr quantitativ heraus- 
differenziert. Gemütliche Traumen sind in vielen Fällen bald erhoben, 
namentlich bei jungen Mädchen: die logische Entwicklung aber aus dem 
äußeren Anlasse, der hysterische Charakter fehlt, und der weitere Verlauf 
muß es rechtfertigen, daß man gegebenenfalls die Diagnose Hysterie am 
besten ganz beiseite läßt; statt aus dem vorübergehenden Vorkommen 
mehrdeutiger Symptome eine Kombination zweier ganz verschiedener 
Psvchosen anzunehmen, deren eine die sonst so wohlcharakterisierte 
Hysterie ist. 

Es schien nicht nur von methodologischer, sondern auch von sach- 
licher Wichtigkeit, in jedem zu beurteilenden Falle geistiger Erkrankung 
eine Diagnose nach dem System zu stellen statt die Symptome zu 
umschreiben. Bei klaren Abgrenzungen ist dies wohl auch allgemein 
anerkannt. Wenn man eine tieftraurig verstimmte Patientin vor sich sieht, 
die nur sehr gehemmt, widerwillig antwortet, einen Verfolgungswahn er- 
raten läßt, so wird oft durch Wochen die Diagnose zwischen Melancholie 
und beginnender Paranoia schwanken. Man wird sich schließlich nach 
dem Verlaufe aber bestimmt für das eine oder das andere entscheiden 
können, sich nicht veranlaßt fühlen, aus dem Zusammenvorkommen von 
Depression und Verfolgungsideen eine kombinierte Psychose zu behaupten. 



278 

Und sowie Depression einerseits, Verfolgungswahn andererseits eigentlich 
bei allen Formen psychischer Erkrankung angetroffen werden können, 
so finden sich auch Widersprüche gelegentlich bei verschiedenen Psychosen 
nicht nur bei Hysterie. All das sind nur Symptome; das Bestreben des 
Arztes muß vielmehr darauf gerichtet sein, den Fall in seiner Gänze 
dem klinischen Schema einzuordnen und wenn das nicht gelingt, das 
Schema zu verbessern; denn durch Zwischen- und Mischformen wird es 
kompliziert, zugleich entwertet, beinahe ad absurdum geftlhrt. Nur ersteres 
Vorgehen inauguriert einen Fortschritt in der psychiatrischen Wissenschaft. 

Indem nun die einzelnen Diagnosen, welche zu Verwechslung mit 
hysterischer Geistesstörung ftthren können, Revue passieren, sollen nicht 
nur die differential-diagnostischen Behelfe, sondern auch die Frage der 
Kombination mit Hysterie besprochen werden. Die Divergenz der Ansichten 
zwingt dazu, die theoretischen Erörterungen etwas reichlicher durch 
Krankengeschichten zu illustrieren; die Diagnose Hysterie ist übrigens 
nur am einzelnen Falle zu begründen. 

Was die akuten Psychosen betrifft, so wurde kein einziger Kasus 
angetroffen, in welchem nicht die Alternative zu entscheiden gewesen 
wäre, Hysterie oder akute Psychose. 

Relativ selten geht die Melancholie als traurige Verstimmung un- 
mittelbar aus einem psychischen Trauma hervor; es herrscht psychische 
und psychomotorische Hemmung. Im Gegensatze zu diesen eintönigen, man 
möchte sagen, langweiligen Kranken sind die klinischen Bilder der 
hysterischen Depressionszustände wechselvoller, die Patientinnen vor allem 
viel wortreicher. Ohne daß Angst vorhanden wäre, äußern sie laut und auf- 
dringlich ihre Selbstanklagen; sie sind an der eigenen Schuld gewissermaßen 
gesättigt; vorübergehend outrieren sie auch einen stummen Schmerz durch 
Händeringen und Haarausraufen Nie fehlt die hypochondrische Komponente. 
Hin und wieder blickt ein erhöhtes Selbstgefühl durch; sie beklagen sich, 
äußern Wünsche, Beschwerden, sind reizbar, reagieren mit pathologischen 
Affekten, Selbstmorddrohungen und -versuchen in Gegenwart des Arztes. 
Oder sie bekommen einen hysterischen Krampfanfall, diesen Ausdruck 
par excellence aller hysterischen Unlustgefühle überhaupt; sie sind in 
hohem Grade abhängig von äußeren Einflüssen^ den Personen ihrer Um- 
gebung; ganz plötzlich wechselt das Zustandsbild : es sind Hysterische. 

In der Epikrise wird die Diagnose wohl immer leicht, da man den 
Aufbau der Krankheit überblickt; einem kurzen Abschnitte derselben 
gegenüber kann sie unmöglich sein. Schon bei den in Kapitel UI wieder- 
gegebenen Krankengeschichten wurde betont, daß die Hysterischen nament- 
lich dem Arzte gegenüber das Bild der Melancholie überraschend getreu 
kopieren können — es "heißt also, Beobachtungen aus der Ferne anstellen. 
Die Suggestibilität durch Ort und Zeit führt manchmal dazu, daß diese 
Patienten während des Aufenthaltes an einer bestimmten Klinik überhaupt 



279 

keine hysterischen Stigmen erkennen lassen, während sie unmittelbar 
vorher und nachher typisch hysterische Zustände darbieten: eine Eigen- 
heit, die ebenso merkwürdig ist, als sie die Diagnose noch weiter er- 
schwert. Insofern diese möglichst bald, eventuell einem Äugenblicks- 
bilde gegenüber gestellt werden soll, bleibt nichts übrig, als jene 
allgemeinen Leitsymptome zu suchen, welche die hysterischen Geistes- 
störungen begleiten. Alles, was sich über die sogenannten Stigmen aus 
Erfahrung sagen läßt, sei an späterer Stelle zusammengefaßt; jetzt möge 
nur an der Hand einer weiteren Beobachtung die psychologische Analyse 
auf ihre Entscheidungskraft hin angesehen werden. Ein Kasus, welcher 
den Ärzten der Irrenanstalt tatsächlich ziemliche diiTerentialdiagnostische 
Schwierigkeiten bereitete; nur das widerspruchsvolle Verhalten konnte 
för die Diagnose Hysterie verwendet werden; der Zusammenhalt der 
verschiedenen Krankengeschichten rechtfertigt die Augenblicksdiagnose. 

Beobachtung XLVl. 

Marie A., geboren 1853; verheiratet-getrennt, katholisch, Magd^ wird 
als unbekannte Frauensperson N. N. wegen Phosphor Vergiftung^ „periodischer 
Amnesie und Verkennuug der Umgebung^ am 13. November 18Ü4 auf die 
Beobachtungsstation gebracht. Hier ist die Patientin verstimmt, wenig zu- 
gänglich, klagt über allerlei Mißempfindungen, schläft mangelhaft. 

18. November. Die Kranke wird freier, fühlt sich wohler, gibt zur 
Anamnese an: Stets guter Stimmung, eine kräftige, gesunde Person. 1885 
Matrimonium. Sie wurde vom Manne hintergangen und in roher Weise miß- 
handelt, will keine glückliche Stunde mehr gehabt haben. Sie mußte selbst 
(leid verdienen, um ihr Leben zu fristen, kam körperlich herunter. Als 
sie die schwere Arbeit nicht mehr leisten konnte, verließ sie der Mann, 
nahm das 6jährige Kind mit (1891), lebe seither mit Konkubine. Patientin 
ging in Dienst; war sehr deprimiert^ besonders weil sie ihr Kind nicht 
besuchen durfte, litt an häufigen Kopfschmerzen, Erregungszuständen während 
der Menses, Gefühl von Schwäche und Abgeschlagenheit, schlechtem Schlafe, 
schreckhaften Träumen, innerer Unruhe. Im Sommer 1892 bestand ein amne- 
stischer Zustand von Stägiger Dauer. Die Kranke befand sich in 0., wußte 
nicht, wie sie dorthin geraten. Im Herbst 1893 ging sie mit Taedium vitae, 
dem Wunsch zu sterben vom Hause fort, irrte durch 3 Tage ohne Nahrung 
im Walde herum; gleichfalls Amnesie. Anfang Oktober 1894 wurde sie auf 
der Straße bewußtlos, gab dann im Spitale einen falschen Namen an. Am 
Tage der Entlassung ennnert sich die Kranke nach einer Auseinandersetzung 
mit einer Bekannten im Wirtshans (Kaffee) gew^esen zu sein; sie verließ das- 
selbe spät abends erregt, wollte in ihre frühere Wohnung. Sie weiß nicht 
was vorfiel, fand sich nach 2 Tagen neuerdings im Spital, wo sie erfuhr, 
daß sie einen Suicidversuch mit Phosphorzündhölzchen gemacht haben sollte. 

Tremor der Finger; lebhafte Patellarsehnenreflexe. Starke Druckempfind- 
lichkeit am Scheitel und an der ganzen Wirbelsäule sowie im Epigastrium. 

28. November. Magenbeschwerden zurückgetreten. Patientin erholt sich 
zusehends ; in Einklang mit dem somatischen Wohlbefinden steht das psychische 
Verhalten. 

1. Dezember. Seit 3 Tagen ohne speziellen Anlaß wieder verstimmt. 
Schlaflos; Kopfschmerzen. 



280 

7. Dezember. Sehr deprimiert, unmutig, behauptet^ sie sei ganz gesund. 
Klagt darüber, daß sie oft aufwache; dabei komme ihr vor, als ob jemand 
vor dem Bett stünde. 

15. Dezember. Wegen beständiger Schmerzen im ganzen Leib verlangt 
die Kranke Gift; um sterben zu können. 

21. Dezember. Plötzlich subjektives Wohlbefinden. Am 

27. Dezember, 11. Jänner 1895 und 1. Februar für je einige Tage ver- 
stimmt, schlaflos, klagt über Angstgefühle. Nachts glaube sie wilde Leute 
zu sehen. 

3. Februar. Über das Schreien einer andern im selben Zimmer befind- 
lichen Kranken sehr aufgeregt; Kopfschmerz. 

9. Februar. Andauernd verstimmt. Heute Mittag gerät sie mit einer 
sehr streitsüchtigen Genossin in einen Wortwechsel. Als bei der Abendvisite 
ihre Gegnerin sich beim Arzte über sie beklagte, kommt Patientin in mafi- 
losen Zorn, ergreift einen Sessel und schleudert ihn auf den Boden, so dafi 
er zerbricht. Am 

1. März 1895 in die zuständige Irrenanstalt übersetzt. Am 

29. Mai 1897 kommt sie als Marie Ansiber (ein falscher Name) zur Auf- 
nahme mit folgenden Angaben: Seit 8 Tagen wiederholt Weinen ohne 
sichtlichen Anlaß; am 28. Mai bat sie um Verzeihung, versicherte, sie habe ja 
nichts angestellt, sprach vom schwarzen Teufel. Sie war weder über Zeit noch 
Ort orientiert, wußte nicht, wie alt ihr Kind sei, noch wo es sich befinde, 
erzählte hingegen, daß sie vor einem Jahre wegen eines Nervenleidens in 
Behandlung stand. 

An der psychiatrischen Klinik ist Patientin klar, depressiver Stimmung, 
berichtet, sie sei Juni 1896 aus der Irrenanstalt L. entlassen worden, war 
seither im Dienst, leide periodisch an Zuständen von Verstimmung, Ver- 
zweiflung, Todesangst, heftigem Kopfschmerz, schwerem Müdigkeitsgeftlhl. 
Dauer immer nur einige Tage. — Foetor alcoholicus ex ore. 

Sie gibt Genuß von Rum zu, trinke aber nur innerhalb der Depressions- 
zustände. — Druck auf die Scheitelhöhe, auf die Trigeminusstellen und die 
Wirbelsäule wird mit lebhafter, etwas affektierter Schmerzreaktion beantwortet. 
Keine Selbstanklagen. 

30. Mai. Nachts guter Schlaf; der depressive Affekt ist völlig geschwunden; 
Patientin hat fllr die Überbringung Amnesie. 

3. Juni. Andauerndes Wohlbefinden. Die Kranke macht heute abweichende 
Angaben über ihre Kopfschmerzen, dahingehend, daß dieselben ungef^r ali- 
monatlich einmal auftreten, 2 — 3 Tage dauern, öfters dabei Erbrechen; Ende 
mit Schlaf. So war es auch diesmal vor der Einbringung, für welche die 
Amnesie festgehalten wird. Geheilt entlassen. Am 

20. Mai 1899, Vg^ ^^^ nachts, wird sie als unbekannte Frau bei einer 
nächtlichen Streifung arretiert; sie gerät in Erregung, beschimpft die Wach- 
leute und verfällt schießlich in einen ohnmachtsähnlichen Zustand. Bei der Unter- 
suchung am Kommissariate ist sie blaß, der Puls jedoch kräftig, die Koi*nealreflexe 
vorhanden. Die Kranke reagiert auf äußere Reize mit leichten Abwehrbewe- 
gungen, blinzelt öfter mit den Augen. Sich selbst überlassen, kauert sie 
bewegungslos in einer Ecke, gibt keine Auskunft. An der Klinik entkleidet 
sie sich selbst, schläft bis früh. 

Morgens klar, traurig, dem Weinen nahe. Klagt über ihr Schicksal: die 
anderen Menschen seien so glücklich, über sie aber komme alle paar Wochen 
eine solche Angst, sie hätte nirgends Ruhe, müsse rennen und rennen. So 



281 

auch diesmal. Seit 14 Ta^en habe sie nichts Rechtes mehr essea können^ 
sich schwach gefühlt, von ihrer Dienstfrau nicht unbegründete Vorwürfe 
empfangen und sei entlassen worden. Am 19. Mai zirka 10 Uhr vormittags 
habe ihre Schwäche und Unruhe so überhand genommen, daß sie in die 
Apotheke ging, um etwas „Starkes^. Sei heute hier erwacht; was mit ihr 
geschehen, wieviel Zeit dazwischen liege, davon habe sie keine Ahnung. Auf 
den Fuselgeruch ihres Atems aufmerksam gemacht, gibt sie die Möglichkeit zu, 
in ihrem elenden Zustande auch diesmal Schnaps getrunken zu haben, „nur 
damit sie von ihren Beschwerden befreit sei. Sie hätte sich lieber in die 
Donau werfen sollen." Patientin beteuert, daß sie keine Trinkerin sei. — 
Scheitel und Wirbelsäule sehr druckempfindlich; der Untersuchung wird 
Widerstand entgegengesetzt. 

23. Mai. Die Kranke in mittlerer Stimmungslage, bezeichnet als aus- 
lösendes Moment des letzten Anfalles Streit mit ihrer Kollegin, von der sie 
eine Ohrfeige erhielt. Geheilt entlassen. Am 

26. Mai wird sie von einem Sicherheitswachmanne aufs Kommissariat 
gebracht, weil sie am Donaukanalufer sitzend, ihre Schuhe ins Wasser warf 
und laut jammerte, daß sie auch hineinspringen müsse, weil ihr der Teufel 
stets im Genick sitze. Vor dem Amtsarzt ächzt und weint sie beständig, gibt 
jedoch präzise Antworten. Sie erzählt, daß sie bis vorgestern in der Beob- 
achtungsstation war und dort durch ruhiges Verhalten ihre Entlassung zu er- 
reichen suchte, um einen Selbstmord begehen zu können. Wegen ihres Kopf- 
leidens behalte man sie nicht im Dienste; deshalb und weil sie nirgends 
Ruhe finde und oft nicht wisse, was sie tue, wolle sie sich umbringen. 
Sie habe nachmittags die Lösung einiger Päckchen Phosphorzündhölzchen 
getrunken, spürte jedoch keine Wirkung davon und versuchte daher ins 
Wasser zu springen. Man solle mit ihr machen, was man wolle, sie werde 
sich schon umzubringen wissen. Patientin erweckt durch ihr ganzes Benehmen 
den Eindruck einer Simulantin. Es wird noch eruiert, daß sie am 24. d. M. 
vormittags einem Dienstmann ihre Effekten übergab und diesem ihre Selbst- 
mordabsichten mitteilte. 

An der Beobachtungsstation aufgeregt aber klar. Sie sei ziellos umher- 
geirrt, ohne zu essen, trank nur etwas Branntwein. Summarische Erinnerung 
an den Selbstmordvei*such : Männer standen um sie und sagten, „eine 
Besoffene". Es sei Tag gewesen, als man sie ins Spital brachte (de facto 
V2I Uhr nachts). 

28. Mai. Andauernd verzweifelt; sie könne nicht leben. Kein Ikterus, 
Leber nicht druckempfindlich. Am 

80. Mai kommt Patientin an die Klinik in der Irrenanstalt ruhig, deprimiert. 

1. Juni. Mit Tränen in den Augen gibt sie etwas zurückhaltend, aber 
geordnet Auskunft. Seit einer Influenza vor 8 Jahren laboriere sie an einem 
Leiden, das in periodisch auftretenden, zirka Swöchentlichen Hemmungs- 
zuständen mit ängstlicher Aufregung sich äußere, so daß sie zu keiner Arbeit 
fähig sei. Sie stehe dann ratlos da, wisse nichts anzufassen. Diese Zustände 
wechseln mit mehrwöchentlichen Perioden ab, in denen sie sich mit großem 
Fleiß und großer Ausdauer bei der Arbeit betätige. Immerhin habe sie 
keinen längeren Posten behaupten können, es wurde ihr überall gekündigt, 
so daß sie sich entschlossen habe, aus dem Leben zu scheiden. Zu den Zeiten, 
da sie krank war, habe sie, um auf ihren Zustand zu vergessen, getrunken. 
Patientin klagt über Kopfschmerz. — Große Klopfempfindlichkeit des Schädels, 
massenhaft Druckpunkte, Ovurie und allgemeine Hyperästhesie. 



282 

Iß. Juni. Patientin gedrückt, hält sich abseits, spricht in klagendem 
Tone, beschäftigt sich nicht. 

15. Juni. Sehr ängstlich, erklärt, sie könne hier nicht bleiben, das Summen 
nicht anhören; die Kranken seien lauter Teufel; will zum Fenster hinaus- 
springen. 

20. Juni. Ruhiger, beschäftigt sich etwas. Ihre Depression, namentlich zur 
Zeit der Visite, macht den Eindruck der Übertreibung. Zahlreiche Druckpunkte. 

4. Juli. Die Verstimmung trägt immer deutlicher die Züge des Gemachten. 
Je länger man sich mit der Kranken beschäftigt, um so reichlicher fließen 
die Tränen, während sie sonst durchaus nicht wie eine Melancholie sich verhält. 

19. Juli. Patientin wiederholt durch längere Zeit in monotoner Weise 
die Angabe, sie sehe in der Nacht Teufel, ohne darauf irgendwie zu reagieren; 
zu einer gröberen Arbeit ist sie nicht zu bringen. 

20. Juli. Bei der neuerlichen genchtsärztlichen Untersuchung benimmt 
sich die Kranke sehr auffällig. Da Zweifel über ihre Halluzinationen geäußert 
werden, spielt sie die Beleidigte, wird empört. Als geheilt am 21. Juli 1899 
aus der Klinik entlassen. 

Erst nach zwei Jahren (!) am 15. Juni 1901 wird sie neuerlich ein- 
gebracht. Sie äußerte die Absicht sich zu töten, soll Phosphor eingenommen 
haben, weshalb man ihr im Spital den Magen auspumpte. Da sie nicht 
bleiben wollte und irre sprach, übergab man sie dem Polizeikommissariat. 
Dort weint sie, klagt, daß sie unheilbar krank sei, ein Kopf- und Herzleiden 
habe, daß ihr überhaupt niemand helfen könne. An die Klinik kommt Patientin 
mit einem traurigen verzweifelten Gesichte; ist sehr zurückhaltend in ihren 
Antworten; sie kenne sich nicht aus, erinnere sich nicht, was sie tat und was 
mit ihr geschah. Weiß zuerst nicht einmal die Tageszeit, nennt sie dann, als 
man ihr sagt, daß sie sie wissen müsse. — Kein Phosphorgeruch; keine 
Anzeichen von Vergiftung. 

18. Juni. Während des Examens schwimmen die Augen wiederum in 
Tränen. Potus stellt sie zuerst in Abrede, gibt ihn dann für die letzte Zeit 
zu. — Linksseitige Hyperästhesie, Druckpunkte an der Wirbelsäule und 
interkostal, Ovarie. 

2. Juli. Die Kranke bietet genau dasselbe Verhalten wie das erstemal; 
über Beschluß der gerichtsärztlichen Kommission entlassen. Am 

14. November nachts wird sie herumirrend, weinend angetroffen, scheint 
wenig orientiert, erzählt aber, daß sie vor Jahren in der psychiatrischen 
Klinik interniert war. Sie habe ihren Dienstplatz verlassen, da eine furchtbare 
Angst und Aufregung sie überkommen habe. Die letzten Tage und Nächte 
brachte sie am flachen Lande zu, in der Absicht, durch Erfrieren ihr Leben 
zu enden. 

16. November. Patientin seit der Überbringung sehr gedrückter Stim- 
mung, gibt auf Fragen geordnet Auskunft, klagt über unerträgliche innere 
Unruhe, wie wenn sie gejagt würde; sei außerstande ihren Zustand zu über- 
winden, habe die Empfindung, als ob ihr Kopf zerspringen müßte, schlafe 
unerquicklich und erschrecke fort.* Sie sei vergeßlich, nicht mehr ordentlich 
arbeitsfUhig, anerkennt bereitwillig ihren Zustand als «Krankheit. Die Klagen 
sind übrigens noch nicht zu Ende. Sie sei ohne Appetit, es schmecke ihr alles 
wie Stroh, sie finde an nichts Freude, sei leb;&nsüberdrüssig. Menses zessieren 
seit einem Jahre. Summarische Erinnerung ihrer Irrfahrt; habe gar nicht auf 
die Gegend geblickt und nur gesucht, den Menschen auszuweichen. Aversion 
gegen Alkoholica wird behauptet! 



283 

18. November. Erklärt^ daß Verstimmnng und Angdt fast vollständig 
geschwunden seien; ergänzt die Anamnese dahin, daß sie schon vor 1885 
durch mehrere Jahre an OhnmachtsanfUlIen gelitten habe^ die etwa alle 
8 — 14 Tage auftraten, mit einem Schreck in Zusammenhang gebracht werden. 
Beginn dieser Anfälle mit Schwindel, dann Bewußtseinsverlust durch einige 
Minuten, während dessen saß sie ruhig am Sessel. Am 

22. November geheilt entlassen. Am 

24. April 1902 wird sie um die Mittagsstunde in anscheinend bewußt- 
losem Zustande auf einer Wiese liegend aufgefunden und da sie nach dem 
Erwecken Selbstmordabsichten äußert, aufs Amt gebracht. Hier verweigert sie 
anfänglich jede Auskunft; später behauptet sie, an Aufregungszuständen zu 
leiden, weil ihr Mann mit anderen lebe; sei wiederholt in der Irrenanstalt 
interniert gewesen. Patientin verwahrt sich dagegen, eine Trinkerin zu sein, 
verbreitet aber einen starken Alkoholgeruch. Niich Aufnahme an der Klinik 
ruhig, schläft des Nachts. 

25. April. Beim Examen weinerlich, versinkt in trübes Vorsichhinbrüten, 
muß zu jeder Mitteilung stimuliert werden. Die Kranke erkennt die Ört- 
lichkeit, nennt als Jahreszahl 1891, lehnt es wegen ^Kopfschmerz^ ab, über 
die Frage nachzudenken. Sie sei wegen Vergeßlichkeit aus dem letzten Dienst- 
platz enlassen worden, wanderte mit Kopfschmerz und tief verstimmt tagelang 
in 4cn Straßen herum, habe mangelhafte Erinnerung. Hyperalgesie gegen Druck 
fast am ganzen Körper. Am 

6. Mai geheilt entlassen. 

Hysterische Zustände, Bewußtseinslücken, AnfUile gehen durch Jahre voran. 
Schon bei der ersten Depression stimmt einiges nicht zur Diagnose Melan- 
cholie, so z. B. der maßlose Zornaffekt als Antwort auf die gerechtfertigte 
Beschwerde einer Mitkranken. Daß eine MelanchoHca einen Sessel zu Boden 
schlendert, könnte man sich nur als Verzweiflungsausbruch bei getrübtem 
Bewußtsein vorstellen. Wie Patientin das erstemal namenlos, kommt sie 
das zweitemal mit einem falschen Namen zur Aufnahme. Diesmal ist an dem 
hysterischen Dämmerzustande nicht zu zweifeln. Die Kranke weiß nur, daß 
sie ner venleidend und in Spitalsbehandlung gestanden sei. Als sie das dritte- 
mal alkoholisiert eingeliefert wird, kennt man sie schon und entläßt sie nach 
drei Tagen, worauf sie mit der Komödie am Donaukann lufer antwortet, die ihre 
Entlassung, auch nach Ablauf der geistigen Störungen, für die Zukunft erschweren 
soll. Indes die Unehrlichkeit dieses Suicids steht außer Zweifel. Jemand, 
der sich umbringen will, setzt sich doch nicht am hellichten Tage auf eine 
belebte Uferpromenade, zieht gemächlich seine Schuhe aus und wirft sie unter 
lautem Jammern ins Wasser. Sie hatte übrigens schon vorher allen möglichen 
Leuten angekündigt, daß sie sich töten wolle — ohne den gewünschten Erfolg. 
Erst jetzt bringt man sie in die Irrenanstalt. 

Hier erfilhrt man nichts von hysterischen Antezedentien, hört von einer 
früher fleißigen Person, die im Anschlüsse an eine Influenza periodische De- 
pressionen, Lebensüberdruß und Hemmung darbietet; nun scheint ein Dauer- 
zustand da zu sein. Welcher Gedanke wäre näherliegend als Melancholie? Die 
Diagnose ist praktisch wichtig, insofern man bei diesen Leuten nichts 
riskiert. Die Patientin läßt die gk^nzendsten Gelegenheiten sich umzubringen 
verstreichen; selbstmordsüchtig wird sie erst in sicherem Gewahrsam. Sie 
droht wohl auch nur, denn man fand nie ein objektives Symptom von Phosphor- 
vergiftung an ihr. Die Magenausspülungen im Spitale scheinen der Kranken 



284 

so anangenehm, daß sie sich sofort iu die Irrenanstalt verlangt, wo 
man sie mit derartigen Eingriffen verschont. Hier hat Entlassung noch den 
bestmöglichen Erfolg. Patientin Ifigt eine solche Zwangsentlassung in Ge- 
nesung um, sie versucht es mit körperlichen Störungen und als sie auch 
damit nicht reüssiert, ebensowenig in der Versorgung zurückbehalten wird, 
betrachtet sie sich als gesund und geht wieder in Dienst. 

Die Differentialdiagnose gegen menstruelles Irresein, das anfangs denkbar 
wäre, ist dadurch entschieden, daß der Rhythmus nicht eingehalten wird, die 
Psychose das Klimakterium tiberdauert. Auch Alkoholmißbrauch spielt eine 
Rolle. Ein Teil der übergroßen Ruhrseligkeit ist gewiß auf Rechnung dieses 
Giftes zu setzen. Selbst an Dipsomanie wird man erinnert; doch ist hervor- 
zuheben, daß die Krankheitsschilderungen der Patientin weder untereinander, 
noch mit den tatsächlich beobachteten übereinstimmen — der Kopfschmerz wird 
bald als Migräne, bald dauernd beschrieben — daß die vielen Widersprüche 
im Benehmen bei jedem Unbefangenen den Eindruck von Simulation erweckten, 
daß von der geklagten Angst und Unruhe gar nichts zu bemerken war. Der 
Kranken unbewußte Stigmen, dazu Krankheitseinsicht fUr nicht vorhandene 
Störungen: das beweist die Hysterie. 

Ebenso kommen bei Hysterie manisch gefärbte Zustandsbilder vor, 
welche sich von der sehr seltenen Manie (Tobsucht), wie von den Anfällen 
der periodischen Manie durch das Fehlen von Ideenflucht und Besehäf 
tigungsdrang unterscheiden, immer etwas Gemachtes an sich tragen, da 
die Hysterischen vorwiegend in Reminiszenzen arbeiten, Gefühlsausbrttche 
übertreiben, schimpfen, zerstören, aber eigentlich nicht produktiv sind. 
Die Hysterie knüpft an einen äußeren Anlaß, bietet nicht den regelmäßigen, 
immer in gleicher Weise sich wiederholenden Verlauf, den man bei perio- 
discher Manie beobachtet. Wird hinterher Amnesie behauptet, so bestätigt 
das die Diagnose Hysterie, weil die Manischen sich ausgezeichnet an all 
ihr krankhaftes Tun erinnern, ausgenommen ganz kurzdauernde Bewnüt- 
Seinstrübungen bei Periodikern, die gleichzeitig an Migräne leiden, Fälle 
also, welche znr Epilepsie hinüberleiten. Von der Manie als Teilerscheinung 
des manisch depressiven Irreseins wird noch ausführlich zu sprechen sein. 

Was die DiflFerentialdiagnose zwischen Hysterie und akuten Ver- 
wirrtheitszuständen betrifft, so dürfte sich folgendes feststellen lassen. 
Man findet bei der Hysterie Assoziationshemmung, im Dämmerzustande 
bis zur akuten Demenz, man findet Halluzinationen, Delirien. Trotzdem 
unterscheidet sich die Hysterie von allen Antezedentien, den indivi- 
duellen Kriterien, Widersprüchen im Krankheitsbilde und Stigmen 
abgesehen, recht auffallend von der akuten halluzinatorischen Ver- 
wirrtheit, der Amentia. Man vermilit nämlich bei Hysterischen die 
gewissermaßen organischen Symptome der Assoziationsschädigung, die 
zunehmende Ermüdbarkeit, den Ideengang in Reihen, der bis zu ideen- 
flüchtiger Verworrenheit sich steigert, den zerfahrenen Gedankengang, 
die Sprachverwirrtheit mit Logorrhöe von oft tage- und wochenlanger 
Dauer. 



285 

Zahlreiche Charakteristica wurden schon im klinischen Kapitel ein- 
gehend gewürdigt. Kranke, welche Urteilsfragen verstehen, Details aus 
der Umgebung auffassen, sind nie so tief gestört, daß sie ihren Namen 
nicht wüßten wie manche Hysterische. Wenn diese delirieren, dann tun 
sie es überaus afiektvoU; gerade in der akuten Qeistesstörung ist der 
Zusammenhang zwischen A£fekt und Bewußtseinsinhalt weniger gestört 
als im hysterischen Dauerzustande; freilich wird auch hier der Parallelismus 
manchmal geradezu ins Gegenteil verkehrt, Pose, Mimik und Worte 
harmonieren oder widersprechen direkt. Während die Hysterischen 
bestimmte Szenen reproduzieren, sind die Delirien der Amentia indifferenter, 
von der Persönlichkeit unabhängiger und doch vielseitiger, indem Ver- 
giftungsideen, Himmel und Hölle, Theaterstücke etc. bei allen möglichen 
Affektlagen durcheinander gehen. Die Miene staunender Überraschung 
ist recht charakteristisch für Amentia. Die Hysterischen sind nie eigentlich 
verwirrt und wenn sie die unsinnigsten Antworten geben; der innere 
Zusammenhang ihrer Gedankengänge ist wenigstens zu erraten. Schließlich 
muß der Verlauf die Sachlage klären. Die Hysterie ist suggestibel, klingt 
fast immer schnell ab, wechselt in ein anderes Symptomenbild, während 
die Amentia mit Schwankungen oder Intermissionen durch Monate anzu- 
dauern pflegt. 

Doch gibt es Verworrenheitszustände bei hereditär schwer belasteten, 
degenerativen Individuen, wo auch Widersprüche zwischen plötzlicher 
Klarheit und schwerer Bewußtseinstrübung, eine gewisse Beeinflußbarkeit 
überraschen. Meist handelt es sich um periodische Amentia; das anfalls- 
weise Auftreten von Geistesstörungen, die einander vollkommen gleichen, 
unabhängig von äußeren Einflüssen in bestimmtem Intervalle und ohne 
sonstige Anzeichen von Hysterie verhilft zur Diagnose. Die Verwirrtheit 
trägt gern manische Züge, wird in gesetzmäßiger Weise durch eine 
Verstimmung eingeleitet, gerne durch eine Manie abgeschlossen, hinterläßt 
oft nur summarische Erinnerung. Die Fälle sind selten; ein Teil scheint 
zur folgenden Gruppe zu gehören; ein anderer muß vorläufig als 
degeneratives Irresein diagnostiziert werden. 

Ganz ungeheure Schwierigkeiten erwachsen bei der Unterscheidung 
zwischen Hysterie und Dementia praecox, speziell katatonen ZuStands- 
bildern. Eine ganze Reihe sicherer Fälle von Jugendirresein beginnt 
akut, scheinbar sogar nach einer Gemütsbewegung. Man findet auch bei 
der Katatonie Ausdrncksbewegungen, Krampfanfälle, Dämmerzustände, 
eine Beeinflußbarkeit durch äußere Einwirkungen. Endlich zeigen auch 
Katatoniker Amnesie für einen großen Teil der akuten Krankheits- 
erscheinungen. Noch größer wird die Ähnlichkeit dem einzelnen Zustands- 
bilde gegenüber. Wenn man an einem Kasus Opisthotonus, Respi- 
rationskrämpfe, ein wildes Herumschlagen mit den Extremitäten beobachtet, 
80 ftlhlt man sich leicht veranlaßt, die Diagnose Hysterie zu stellen, 



286 

während die weitere Beobachtung anzweifelhaft Dementia praecox ergibt. 
In einzelnen Fällen ließ sich die Verblödung während des Aufenthdtes 
an der Klinik verfolgen und immer war das Krankheitsbild ein so 
einheitliches, daß der Gedanke einer Kombination von Hysterie and 
Katatonie gar nicht auftauchte. 

Kaiser, der sich sehr eingehend mit der Frage beschäftigt, resümiert 
schließlich: „Es gibt bei der Hysterie katatone Erscheinungen und bei der 
Katatonie psychogene Symptome. Entscheidend ist der allgemeine Charakter 
des gesamten Krankheitsverlaufes, das psychische Wesen.^ Der Autor 
bringt Fälle, welche zwischen Hysterie und Katatonie zu stehen seheinen 
und begründet durch genaue Analyse, warum in dem einen Falle trotz 
äußerlicher Ähnlichkeit mit hysterischen Zuständen der Gesamtcharakter 
der Hysterie fehlt, während man in einem andern Kasus langdauernden 
Stupors doch die Grundelemente des hysterischeu Wesens herauszulesen 
vermag. Selbst wenn man abgeschlossene Krankheitsbilder rttckschreitend 
zergliedert, resultiere daraus kein Anhaltspunkt für die Wertung des 
einzelnen Symptoms. Schließlich glaube ich Kaiser dahin zu verstehen, 
daß auch er zwischen Hysterie und Katatonie unterscheidet, daß er sich 
zur Annahme einer Kombination nicht veranlaßt ftlhlt. 

Diese differentialdiagnostischen Schwierigkeiten sind um so begreif- 
licher, als beide Psychosen jugendliche Individuen auffallend bevor- 
zugen und als die vielgestaltigen Bilder aus widersprechenden Elementen 
zusammengesetzt sind. Doch lassen sich vielleicht einige bedingte 
Unterschiede namhaft machen. Die hysterischen Krankheitsäußerungen 
pflegen affektvoller zu sein, die Aufregungszustände der Katatoniker 
erwecken den Eindruck des Leeren, der Demenz. Die Hysterie ist 
übertrieben, wie überlegt falsch in ihren Affekten wie in ihren Antworten: 
der Katatoniker redet häufig daneben, er weicht aus. Ob in der 
verschiedenen Promptheit der Paralogie ein sicheres Kriterium zu er- 
blicken sei, wie Westphal meint, soll noch dahingestellt bleiben; die 
Regel wäre wohl nur auf Seite der Katatonie zu suchen, da bei der 
Hysterie alles funktionell Mögliche vorkommt: es ist auch Erfabrangs- 
tatsache, daß die Hysterischen sowohl zögernd wie blitzartig sehneil 
antworten. Ausgeprägte Stereotypien, rein mechanische, sinnlose, primitive 
Bewegungsformen dürften bei Hysterie nur selten beobachtet werden, 
müßten sich dann begründen lassen; ebenso hat man noch von 
keiner Hysterica eine echte Sprachverwirrtheit gehört, das stete 
Zurückgreifen auf bestimmte Phrasen, das, was so treffend als Wort- 
salat bezeichnet wird. Endlich dürfte man die Hypnose als Hilfs- 
mittel heranziehen. Irgendwie erregte oder verwirrte Katatoniker sa 
hypnotisieren, gelingt wohl kaum — ich blicke nur auf zwei nicht ganz 
klare Einzelbeobachtungen zurück, während die Hysterischen zum mindesten 
eine psychologisch verständliche Reaktion auf die Hypnose zeigen. 



287 

Die psychogene Entgtehang, der psychologisch von einem Tage zum 
anderen zu yerfolgende Verlauf teilen ein gegebenes Krankheitsbild der 
Hysterie zu. Ein ELasus, der zu solchen differentialdiagnostischen Er- 
wägungen anregt, ist 

Beobachtung XLVII. 

Josefa G., 1875 geboren, katholisch, ledig, Dienstmädchen. 

Von zehn Geschwistern starben drei in früher Kindheit. Patientin leidet 
seit ihrem 1. Lebensjahre an Schief hals. Menses mit 18 Jahren, regelmäßig, aber 
von Kopf- und Kreuzschmerzen begleitet. Die Kranke soll immer etwas nervös, 
lebhaftem Stimmungswechsel unterworfen, männerfeindlich gewesen sein. Seit 
ihrem 15. Lebensjahre treten zeitweilig Ohnmachtsanfälle auf, ohne konvulsive 
Elemente. Sie ging in Dienst, da sie zu Hause nicht arbeiten wollte, wie ihre 
Schwestern; kann die besten Zeugnisse vorweisen. 1897 trat sie einem katho- 
lischen Jungfrauenvereine bei, betete sehr viel. Vor zwei Monaten erzählte sie 
einmal dem Vater, sie sei eine ewige Jungfrau, werde Himmelsbraut. Vor 
secliä Wochen behauptete sie, daß ihr die heil. Jungfrau erschienen sei; sie 
schwärmte vom heil. Josef und ihrem „Keuschheitsgflrtel^, den sie um den 
Preis von 7 kr. von einem bekannten Wiener Pfarrer kaufte (Verum!). Ihre 
Arbeit verrichtete sie gut, wurde gelegentlich dabei betroffen, wie sie allerlei 
Gebärden machte. Am 5. Mai 1899 brachte sie Nahrungsmittel vom Markte, 
kochte aber nicht, kniete sich vor der Dienstgeberin nieder, betete sie als 
heil. Josef, deren Kleine als das Jesukindlein an, das vom Himmel nieder- 
gestiegen sei; darauf erfolgte ihre Internierung an die psychfatrische Klinik. 

6. Mai. Sehr gesprächig; heute nachts sei das Erlösung^werk vor 
sich gegangen. Als sie um Y^l Uhr aufwachte und betete, habe sie auf 
der Wand den Leidenskelch, in »einer Mitte die Hostie, die Krone, das Blut 
Christi gesehen, hierauf drei Hammerschläge vernommen; draußen zwischen 
den Bäumen seien lauter Engel gewesen. Das habe sich bis 4 Uhr dreimal 
wiederholt. Dabei ging ein heftiger Wind und ein Vogel sang. Christus sagte, 
er werde kommen. Etwas unzusammenhängend erfährt man dann von einem 
Rechtsstreit, in dem sie verpflichtet wurde, einer früheren Dienstgeberin den 
Betrag von 65 ß. zu zahlen. Unvermittelt kommt die Kranke darauf, daß ihre 
Dienstgeberin zu einer Kartenaufschlägerin gegangen, aber Gott sei der beste 
Kartenaufschläger. Von einer Wunderdoktorin in W^ien habe sie ein Sym- 
pathiemittel. 1898 im Mai sei sie ungerechtfertigterweise eines Diebstahls 
beschuldigt worden. Patientin bringt dies alles mit verzücktem Gesichts- 
ausdruck vor; ist dabei zeitlich und örtlich vollkommen orientiert, berichtet 
auch zutreffend Daten aus der Vergangenheit. Bei der Erinnerung an ihre Eltern 
bricht die Kranke in Tränen aus: ^Meine Eltern haben mich gesegnet und 
Gott hat sie gesegnet.'^ Mit der älteren Schwester habe sie sich nicht ver- 
tragen. Kein Potus, „sie habe gefastet, nie getrunken^. 

9. Mai. Patientin weint, schreit, arbeitet an Kleidern und Haaren herum. 

10. Mai. Menses. Örtlich und zeitlich nicht orientiert. Gedächtnis ftSr 
die Letztvergangenheit sehr gestört, abspringender Gedankengang. 

15. Mai. Zunehmende Bewußtseinsstörung; man habe sie „überall^ hin- 
gegeben. 

18. Mai. Pathetisch-theatralisches Benehmen; sehr laut. 

26. Mai. Nach dem Besuch ihrer Angehörigen noch erregter, tanzt; 
motiviert dies damit, daß um sie herum alles rebellisch sei. In der Zelle bald 



288 

beruhigt; behauptet^ in der Nacht die Mattergottes gesehen zu haben. Ortlich 
wieder orientier t^ zeitlich nicht. 

2. Juni. Abschweifende inhaltslose Antworten. 

5. Juni. Eigentümlich rhythmische; gleichförmig sich wiederholende 
Bewegungen mit den Händen. Der Kopf hängt zur rechten Seite über, dann 
sinkt Patientin selbst langsam nach derselben Seite um, stöhnt leicht; Puls 
dabei gut. Als man sie erhebt, bleibt sie aufrecht. 

11. Juni. Zeitweise etwas ruhiger; sitzt viel am Fußboden, zitiert biblische 
Sprüche. 

15. Juni. Springt mit aufgelöstem Haar, einen Strumpf in der Hand; in 
rasendem Galopp im Saal herum, schreit und singt dabei; läßt sich nicht fixieren. 

22. Juni. Zeitweise lustig, dann wieder deprimiert. 

27. Juni. Nach dem Besuche sehr aufgeregt, wirft Bänke um. 

2. Juli. Patientin ist kaum zu fixieren; gibt nur kurze unzusammen- 
hängende Auskünfte. 

15. Juli. Ruhiger; liegt zeitweise; örtlich wohl; zeitlich mangelhaft 
orientiert, trägt einen leidenden Gesichtsausdruck. Sie spricht mit leiser 
Stimme und pathetischem Ausdruck von dem vielen; was sie hat dulden müssen. 
Jetzt gehe es ihr schon besser. 

20. Juli. Spontan äußeimngsloS; läßt sich ausspeisen. Nachts guter Schlaf. 

26. Juli. Apathisch; zeitweilig deprimiert; blickt wie verloren vor sich 
hin; Fragen faßt sie auf; antwortet sinngemäß; aber einsilbig; sich über- 
lassen; monologisiert sie laut; beschäftigt sich mit dem heil. Josef; die 
früheren Verzweifiungsausbrüche mit Jammern und Weinen sind zurückgetreten. 
Appetit genügend. 

9. August. Sitzt stundenlang schlaff und energielos auf einem Fleck; 
ist sehr einsilbig; gibt über Innenvorgänge nichts preis. Ziemlich gute Erinnerung 
für die Vorgänge in der Umgebung. 

27. August. Zeitweise rhythmische Bewegungen; Atemkrämpfe. Nicht 
zu beschäftigen; meist deprimiert. 

29. September. Erklärt einen Anstreicher für ihren Bruder und beginnt 
heftig zu weineu; als dieser sie kurz zurückweist. Bezüglich Sinnestäuschungen 
sehr zurückhaltend; sie habe ohnedies schon so oft davon erzählen müssen; 
nur im Traume sehe sie die Muttergottes. 

1. November. Patientin behauptet; ein Kind zu habeu; schreit nach dem- 
selben; man habe es ihr gestohlen; schlägt auf die Genossinnen loS; ist nicht 
zu beruhigen. 

10. November. Ziemlich frei; kennt alle Personen mit Nameu; berichtet; 
daß sie heute nachts Segelschiffe sah und zu fahren glaubte. 

25. November. Seit einigen Tagen bettlägerig; klagt über rasende Kopf- 
schmerzen; antwortet nur mit leiser Stimme; objektiv nichts nachzuweisen. 

18. Dezember. In lebhafter Erregung; singt; läuft dem Arzte davon. 
Endlich in einer Ecke fixiert; spricht sie unter lautem Lachen etwas unzu- 
sammenhängend; aber orientiert. 

19. Dezember. Die Kranke tanzt herum, ein weißes Band in der Hand 
schwingend; ganz echauffiert gibt sie aU; daß sie das tue; „weil sie herin sei^. 

15. Jänner 1900. Jammert um ihr Kind. Behauptet; man habe es ihr 
heute nachts genommen. ;,Sie lügen mich aU; geben sie es mir wieder.^ 

25. Jänner. Sitzt in einer Ecke und fährt in regelmäßigen Intervallen 
abwechselnd mit der eineU; dann mit der andern Hand durch ihre Haare; 
dabei eigentümlich starrer Gesichtsausdruck. 



289 

28. Jänner. Wiederholt konvulsive Anfälle; hinterher ist Patientin cya- 
notisch, gibt keine Auskunft. 

30. Jänner. Plastische Attitüden, eigentümliche Spannungszustände, Kopf 
nach hinten gezogen; Verbigeration. Fragen werden zusammenhängend beant- 
wortet: Sie sei der heil. Josef und habe das Jesukind; dieses habe Dr. £. 
genommen und nach Berlin geschafft; leicht heiterer Affekt. Gleich darauf 
neuerlich Verbigeration. 

15. Februar. Bei Druck auf die Wirbel sowie auf die Ovarialgegend 
läßt sich Singultus auslösen. Rechtsseitig flüchtige Hyperästhesie. Patientin 
spricht mit leiser Stimme, unter rhythmischem Wiegen des Kopfes. Hypnose. 
Schläft bei Fixieren einer Uhr rasch ein. 

18. Februar. Heute erfordert die Hypnose etwas mehr Zeit. Es wird 
versucht, der Kranken die Wahnideen wegzusuggerieren, was im Wachzustande 
nicht gelungen war. Sie erwacht prompt. Wohlbefinden. 

15. März. Von wechselndem Verhalten. Gern liegt die Patientin mit 
über den Kopf geschlagenen Röcken am Fußboden; oft heiter, zu läppischen 
Scherzen aufgelegt. Die Wahnideen sind tatsächlich etwas zurückgetreten. 

8. April. Seit einiger Zeit sehr gesprächig, erklärt mit bedeutungsvoller 
Miene, sie sei die heil. Maria. 

9. Mai. Beklagt sich, daß sie so lange nicht hypnotisiert worden sei. 
Neuerlich Hypnose. 

11. Mai. Relativ geordnet. 

20. Juni. Liegt zeitweise am Boden, beschäftigt sich dann wieder im 
Häuslichen; heiterer Stimmung^ doch leicht gereizt. 

10. August. Mitunter hysteriforme Zustände. Patientin wirft sich nieder, 
schreit, arbeitet auf den Dielen herum, spricht mit sich selbst. 

13. August. Schwerer hysterischer Anfall: Patientin wird in die Höhe 
geschleudert, Are de cercle, dann wirft sie sich nach den Seiten, reißt sich 
Haare aus, ist hinterher ziemlich orientiert, weiß von ihrem Anfall, erkennt 
den Arzt. 

11. September. Hochgradiger Erregungszustand. Verbigeration. 

15. September. Behauptet eine andere zu sein, fragt nach der Adresse 
des Fragenden. 

10. Dezember. Seit 14 Tagen ziemlich geordnet, beschäftigt sich auf 
der Abteilung. Die anfänglich geäußerten Wahnideen korrigiert sie noch 
nicht, bringt sie aber zweifelnd vor; leicht heiter. 

11. Jänner 1901. Patientin geordnet, kann nicht angeben, wie sie zu 
ihren Wahnideen kam. Sie höre eine innere Stimme so laut wie die 
wirklichen Stimmen. 

23. Februar. Arbeitet fleißig, ist dabei läppisch. 

1. März. Beklagt sich über Halsschmerzen, beginnt zu fiebern, macht 
eine leichte Scarlatina durch. 

1. Juni. Die Kranke ist ruhig, vollkommen geordnet, beschäftigt sich 
regelmäßig. 

19. Oktober. Bei der heutigen ausführlichen Besprechung erinnert sich 
Patientin recht genau an den Beginn ihrer Erkrankung. Sie war vier Jahre 
im Hause ihrer Dienstgeberin, mit einer Unterbrechung; immer fromm, ist 
sich der Steigerung ihrer Frömmigkeit in den letzten zwei Jahren bewußt, 
ohne sie motivieren zu können. 1898 wurde sie eines Diebstahls beschuldigt, 
schlief dann schlecht und betete viel. Ein unmittelbares psychisches Trauma 
vermag sie nicht anzugeben. Am Tage ihrer Erkrankung hörte sie laut und 

Raimann. Die Iiysttrischen Geistesetörangen. 19 



290 

deutlich eine Stimme aus der Ecke, die ihr sagte, sie sei der heilige Josef. 
Über die Herkunft dieser Stimme ist Patientin heute noch nicht im Klaren; 
damals war sie überzeugt, die Wahrheit über sich vernommen zu haben. An 
der Klinik kam ihr alles so eigen vor; in der ersten Nacht hatte sie einen 
Traum, doch bleibt die Kranke noch jetzt dabei, daß Christus selbst ihr 
erschienen sei. Für die Aufregungszustände, für alle hysteriformen Symptome 
fehlt jede Erinnerung. Drnckempfindlichkeit im vierten bis sechsten Inter- 
kostalraum links. 

6. Dezember. Wiederholt Urticaria: PlateaufÖrmige ausgebreitete Er- 
hebungen an beiden Oberarmen, namentlich links. 

3. April 1902. Die ganze Zeit über guter Laune, arbeitet fleißig. 

18. April. Wegen Rheumatismus zu Bett. Ihre Nachbarin ist eine 
Hysterica mit Anfällen. 

21. April. Nachts ^1^2 Uhr schreit Patientin und schlägt mit den Armen 
herum. Früh gefragt, erinnert sie sich dunkel, daß es sie riß; man erzählte ihr 
dann, daß sie gesprochen und sich geschlagen habe; die Kranke führt den 
Anfall auf ein Stechen in der Brust zurück. 

22. April. Neuerlich hysterischer Anfall. 

23. April. Abends 72^^ ^^^' wieder ein Anfall. Typisches weißes Ödem 
(Oharcot) der rechten Hand. 

24. April. Dasselbe heute an beiden Handrücken und noch viel stärker 
als gestern. 

27. AprU. über Suggestivbehandlung ist das Odem vollkommen abgefallen. 

Patientin arbeitet fleißig, unterstützt die Bedienerinnen der Arzte, hat 
freie Sperre, öfters freie Ausgänge. 

1903 Patientin fühlt sich in der Anstalt wohl und heimisch; ist mit 
ihrem Wirkungskreise zufrieden. 

Die genau erhobene Anamnese ergibt gewisse charakterologische Ab- 
normitäten in der Vorgeschichte, welche durch eine Reihe von Ohnmachts- 
anfällen schon an Hysterie gemahnt. Die Kranke wird 22 Jahre alt, als ihr« 
Frömmigkeit sich in auffallender Weise steigert: die Begründung scheint 
auf der Hand zu liegen, wiewohl sie kaum zugestanden worden wäre. 
Die unschöne, durch einen angeborenen Schiefhals verunstaltete Person 
spielt die unnahbare Jungfrau, muß im tiefsten Innern gewiß verbittert, 
mit heimlichem Neide auf ihre glücklicheren Kolleginnen blicken. In ganz 
logischer Weise, an Beobachtung VI erinnernd, verwandelt sie sich später in 
die Himmelsbraut. Sie hat im Delir sogar ein Kind geboren, der Wunsch 
als Vater des Gedankens. Aus ihren religiösen Ideen wächst die Psychose, 
ein deliranter Zustand unmittelbar hervor. Der heilige Josef ist der spezifische 
Schutzpatron ihres Vereines. Ihm hatte sie sich in Keuschheit geweiht. Das 
Befremdliche an dem Falle war nur die lange Andauer dieser Geistesstörung, 
verbunden mit ganz typisch katatonen Bewegungsformen: Schlagen mit den 
Händen, im Kreise herumlaufen, Verbigerieren etc. Erst nach zirka drei Monaten 
wird die Patientin ruhiger, die heitere Verstimmung schlägt in Depression, die 
Bewegungsunruhe in Hemmung um. Dabei dauern die merkwürdigen hysteri- 
formen oder katatonen Bewegungen an; endlich zeigen die Zustandsbilder einen 
rascheren, häufig unvermittelten W^echsel. Die Diagnose entscheidet sich für 
Hysterie, als am 15. Februar 1900 eine Reihe von Stigmen zur Beobachtung 
kommt und die Kranke sich als außerordentlich leicht hypnotisierbar erweist, 
als es sogar gelingt, ihre Wahnideen suggestiv zu beeinflussen. Die Psychose 



201 

• 

ist noch immer nicht abgeklungen; sie nimmt andere Formen an^ läßt ihre 
Abhängigkeit von der Umgebung deutlicher erkennen als früher. Am 13. August 
tritt ein Anfall auf; den man wohl als klassisch hysterisch bezeichnen darf, 
während Bewegungsformen vorausgegangen, die man eher bei sekundären 
Zuständen eventuell bei Katatonie erwartet hätte. 

Erst um 1901 erfolgt ihre Genesung. Patientin hat einen Wirkungskreis 
gefunden, der ihrer Eigenart zusagt: sie ist als Stubenmädchen in der Anstalt 
unentbehrlich geworden, hat freien Ausgang, entbehrt also der Freiheit in 
ihrem Sinne nicht, wird besser behandelt als in irgendeinem Dienstplatz und 
führt eine sorgenfreie Existenz. Wie alle Hysterischen empfindet sie keinen 
Drang, die Anstalt zu verlassen, trotzdem sonst, was ausdrücklich betont 
werden soll, keinerlei psychische Abschwächung im Verlauf der Psychose zu 
erkennen war. Hingegen ist sie auch jetzt noch infektionsempfUnglich für 
hysterische Anfälle. Im Rückblick auf das alles dürfte die ganze abgelaufene 
Psychose als ein sehr protrahiertes hysterisches Delir aufzufassen sein. 

Eine besondere Schwierigkeit erwächst auch aus der Differential- 
diagnose länger dauernder kataleptischer und Schlafzustände. Wenn man 
Antezedentien kennt, so erfährt man, daß dem katatonen Stupor 
allerlei Wahnideen, Symptome von Verwirrtheit vorausgehen, der 
Hysterie ihr Charakter. Beweisend für letztere ist das Vorkommen 
hysterogener Zonen, obzwar auch Katatoniker durch Druck auf die 
Bnlbi z. B. zu einer Reaktion gebracht werden können. Eatatone Zu- 
stände dauern länger; der längste sicher hysterische Fall dürfte fVinf 
bis sechs Wochen stuporös dagelegen sein. ISa spricht für Hysterie neuro- 
pathische Facies, reichlieh Ausdrucksbewegungen, Ausdrnckshaltungen, 
ein rudimentäres Delirium, während bei Eatatonikern mit ihrem stupiden 
oder verkrampften Gesichte nur plötzliche, meist sinnlose Raptus be- 
obachtet werden; hier folgt Verblödung eventuell der Tod. Bei Hysterie 
wäre die Prognose unbedingt günstig zu stellen und letale Fälle 
( Jaceoud) anzuzweifeln. Insofern ist die Differentialdiagnose wesentlich 
und wichtig; das Zustandsbild kann im gegebenen Moment aber ganz 
gleich sein. 

Zur Frage der hysterischen Paranoia wurde teilweise bereits 
Stellung genommen. Sicher zur Hysterie und nicht zur Paranoia gehören 
leicht gekränkte, immer beleidigte, außerordentlich empfindsame, lügnerische 
und suggestible Patientinnen, welche bitter darüber klagen, daß man sie 
vernachlässige, absichtlich mit Geringschätzung übergehe, statt sie genügend 
zu behandeln, wie das ihrem Krankheitszustande entsprechen würde; dabei 
setzen sie ihre Vorzüge, auch die pathologischen in das hellste Licht, 
prahlen mit ihren Beziehungen und suchen auf alle Weise in den 
Vordergrund zu treten. Erotismus leuchtet durch, indem sie für Unbilden 
vornehmlich Nebenbuhlerinnen verantwortlich machen, sich in phantastischer 
Weise Genugtuung verschaffen. Es geht aber nicht an, aus dem an- 
geblichen Vorkommen von Gesichtstäuschungen, aus dem Inhalte der 
Wahnideen, losgelöst von der Persönlichkeit der Kranken die Diagnose 

19* 



292 

Hysterie zu stellen; keineswegs genügt die Tatsache, daß hypochondrische, 
insbesondere auf das Geschlechtsleben, die vegetativen Organe und das 
allgemeine Befinden gerichtete Wahnideen geäußert werden. Ebenso 
wenig reichen z. B. Geruchshalluzinationen, religiöser oder erotischer 
Bewußtseinsinhalt, Angaben über allnächtlich zu erleidende sexuelle 
Schädigungen und Attentate, über Beeinflussung aus der Ferne, Geister- 
stimmen, Situationshalluzinationen, gleichzeitige Zwangsvorstellungen ans 
für die Diagnose hysterische Paranoia. All das findet sich bei Fällen 
phantastischer Verrücktheit jugendlicher weiblicher Individuen ziemlich 
regelmäßig, ohne daß eine Spur der Neurose Hysterie vorhanden wäre. 
Auch bei anderen Psychosen begegnet man Verfolgungswahnideen, ohne 
daß darum P<aranoia oder eine Kombination mit Paranoia diagnostiziert 
würde. Gewissermaßen als Gegenstück zu dem auf pag. 164 mitgeteilten 
Falle einer Hysterie in paranoider Verkleidung folge hier ein Kasus, welcher 
der hysterischen Paranoia der Autoren möglichst zu entsprechen schien. 

Es war eine alte Jungfer mit ein paar Stigmen^ die in ihren Beein- 
trächtigungsideen an die nächsten Angehörigen anknüpfte und tatsächlich lange 
Zeit nur dabei blieb: Ihre Mutter habe sie nicht lieb, wie eine andere Schwester; 
man verstehe sie zu Hause nicht; beurteile sie falsch, wolle sie unterdrücken. 
Es kam zu affektvollen Aufregungszuständen, SchimpfszeneU; die ausschließlich 
gegen die Familie gerichtet waren. Die Patientin wollte durchaus fort, aus 
dem Hause. Änderung der Umgebung zeigte, daß es sich um Paranoia und 
nur um diese handle^ denn die Kranke begann auch anderwärts anzuknüpfen: 
überall wurden Anspielungen laut; man tat ihr alles znfleiß. Sie war mehrere 
Male in geschlossenen Anstalten; sie wird auch hier verfolgt; was sie neben- 
bei hartnäckig dissimuliert. Das allein mit dem stürmischen Freiheitsdrange 
zusammengenommen; läßt an der Diagnose Paranoia nicht mehr zweifeln, die 
durch das Beiwort ^hysterisch" nichts gewinnt. Was durchaus fehlt, ist der 
hysterische Charakter, die hysterische Reaktion. Ein ganz motivierter 
depressiver Affekt wurde dauernd festgehalten. Es bestand keine Suggestibilität ; 
auch Saggestionsversnche hatten fehlgeschlagen, weil die Patientin der Sache 
mit Mißtranen entgegentrat. 

Im Verlauf liegt der Kardinalunterschied zwischen Hysterie und 
Paranoia. Erstere zeigt keine Progression, die Kranken werden ver- 
folgt, beruhigen sich wieder, treten beim nächsten Anlaß mit denselben 
Klagen hervor, die höchstens retrospektiv erweitert und ausgeschmückt 
werden; die Paranoia schwenkt nach einem affektvollen Stadium des 
Verfolgungswahnes in das ruhigere des Größenwahnes ein, wenn dieser 
nicht, wie bei jugendlichen Individuen häufig, von vornherein anwesend ist. 
Während die Paranoia fortschreitet, beobachtet man bei der Hysterie 
einen steten Wechsel im Symptomenbilde. Trotz der Egozentrizität fehlt 
den Hysterischen der charakteristische Mechanismus des Weiterbaues 
durch Beziehungswahn. Daß eine gewisse Labilität der Affekte, Impulsiv- 
handlungen bei Paranoia vorkommen, sei noch nachgetragen; dieselben 
können dem Beobachter unmotiviert erscheinen, wenn sie auch wahnhaft 



293 

begründet sind; es mag darum der eine oder andere Fall einen 
hysterischen Eindruck gemacht haben; aus den Krankengeschichten, 
welche als hysterische Paranoia mitgeteilt wurden, ist das kaum zu ent- 
nehmen. Insofern man in Paranoia und Hysterie zwei nach Genese, 
Verlauf und Ausgang verschiedene Krankheitsprozesse unterscheidet, ist 
es demnach aus wissenschaftlichen wie aus praktischen Gründen geboten, 
die Bezeichnung hysterische Paranoia zu meiden. 

Bezüglich der Hysteroepilepsie wäre folgendes zu bemerken. Nur 
um auszudrücken, daß eine Hysterica konvulsive Anfälle hat, ist diese 
Bezeichnung geradezu irreführend und entschiedenst abzulehnen; meist 
denkt man vielmehr an eine wirkliche Kombination der zwei Krankheits- 
bilder, eventuell an Mischformen. Hier soll die Auffassung vertreten werden, 
daß Epilepsie und Hysterie zwar beide auf dem Boden der Degeneration 
stehen, daß sie aber nur in den Krampfanfällen, eventuell in einzelnen 
Äquivalentpsychosen äußerliche Ähnlichkeit besitzen. So wenig der Krampf 
das Wesen der Epilepsie ausmacht, so wenig erschöpft das anfallsweise Auf- 
treten von Störungen die Hysterie. Es besteht sogar ein Gegensatz zwischen 
dem im Wesen progressiven, zu einer ganz bezeichnenden Demenz führenden 
Morbus sacer und der stationären, stets nur im einzelnen wechselnden 
Hysterie. Bei Epilepsie begegnet man oft schon in früher Jugend ein- 
setzenden Schwindelanfällen, dann kommen Krämpfe, dieselben werden 
immer schwerer, führen zu vorübergehenden Herderscheinungen, zu Geistes- 
störungen, endlich zu Blödsinn, während die Hysterie im Gegenteil aus 
dem akuten Stadium in ein mehr lenteszierendes übergeht. 

Differentialdiagnostisch am schwersten zu beurteilen sind die rein 
psychischen Fälle, wo man auf der einen Seite vielleicht eine Beeinfluß- 
barkeit durch Brom verwerten muß, auf der andern Seite hysterische 
Antezedenzien, Stigmen, den Erfolg einer indifferenten Therapie eventuell 
der Suggestion. Bei den Fugues, überhaupt bei den Dämmerzuständen 
wäre darauf hinzuweisen, daß jedes Prodromalstadium fehlt, wenn es sich 
um Epileptiker handelt. Diese Kranken bereiten sich auf ihre Reise nicht 
vor, sind tiefer in ihrem Bewußtsein gestört, dementsprechend rücksichts- 
loser, gewalttätiger, im ganzen unempfindlicher. 

Viel leichter kommt man zur Entscheidung, ob eine Geistes- 
störung der Hysterie oder der Epilepsie zuzurechnen sei, wenn gleich- 
zeitig konvulsive Anfälle vorhanden sind. Es ist ganz unbegründet, eine 
Psychose, welche zwischen hysterischen Paroxysmen auftritt, wenn sie 
ihrer Symptomatologie nach hysterisch sein kann, als epileptisch oder 
gar nur unverbindlich als transitorisch zu bezeichnen. Im Falle als die 
Krämpfe mehrdeutig sind, entscheidet die richtige Wertung derselben 
auch über die Diagnose der anknüpfenden Geistesstörung. Der Unter- 
schied zwischen epileptischen und hysterischen Anfällen ist schon so oft 
und in so ausgezeichneter Weise auseinander gesetzt worden, daß es Eulen 



294 

nach Athen tragen hieße, noch einmal ausführlich darüber zn schreiben. 
Ganz atypisch werden die Krampfanfälle nur bei alten Epileptikern, wo 
übrigens an der Diagnose kein Zweifel mehr entsteht. Unbedingt be- 
weisend für Hysterie ist es, wenn man durch Suggestion eventuell durch 
starke Reize, Druck auf hysterogene Zonen den Anfall beeinflussen 
respektive coupieren kann. 

Ist der epileptische oder hysterische Charakter ausgebildet, dann 
wird auch die Diagnose klar. Die schwerfälligen, dementen, meist gleich- 
gültigen oder leicht trübsinnigen Epileptiker unterscheiden sich so 
wesentlich von den beweglichen, aufmerksamen, affektvollen, trotz alles 
Janimerns und Klagens doch immer wieder heiteren und genußsüchtigen 
Hysterischen. Dieser Charakter zieht sich auch durch alle Psychosen 
der Hysterischen hindurch. Die Vorstellungen sind hier durchweg mehr 
gefühlsbetont, die Äußerungen der Kranken gehobener, pathetischer, 
theatralischer im Gegensatze zur explosiven Wut der epileptischen 
Geistesstörungen, der Zerfahrenheit und tiefen Bewußtseinstrübung bei 
epileptischen Delirien. 

Trotz aller differentialdiagnostischen Behelfe gibt es aber doch Fälle, 
die sich nicht ganz widerspruchslos einreihen lassen. Man beobachtet 
bei epileptischen jungen Mädchen mit unzweifelhaft epileptischen Krämpfen 
vereinzelt Stigmen, eine gewisse Labilität des Charakters, Krankheits- 
gefühl, ja selbst an Hysterie erinnernde Delirien. Andere Male tritt bei 
einer anscheinend sicheren Hysterica plötzlich einmal ein Anfall auf mit 
Zungenbiß, Urinabgang, Cyanose und folgender typisch epileptischer Be- 
nommenheit. Theoretisch und prinzipiell hat man keinen Grund, die 
Möglichkeit einer Kombination von Hysterie und Epilepsie unbedingt 
abzulehnen. Gehirne, welche die epileptische Veränderung in sich tragen, 
sind minderwertig, entweder schon von den Erzeugern her oder durch 
eine infantile Hirnerkrankung geschädigt. Dieser zerebralen Minder- 
wertigkeit könnte auch eine hysterische Reaktionsweise des Individuums 
entsprechen. Der konvulsive epileptische Anfall ist ein Mechanismus, der 
auf verschiedenerlei, z. B. toxische Reize hin anspricht; es wäre nur zu 
verlangen, daß dieser Mechanismus auch von affektl)etonten Vorstellungen 
lier in Tätigkeit treten kann, um denselben Anfall hysterisch nennen zu 
müssen; ja es ist sogar möglich, daß die im Individuum schlummernde 
Hysterie durch einen epileptischen Anfall impressioniert wird, so daß 
derselbe zur Grundlage, zur auslösenden Ursache einer Hysterie wird. 
Jedenfalls scheint trotz der zum Teil gemeinsamen Grundlage die 
Hysteroepilepsie in diesem Sinne relativ selten; charakteristisch ist, daß 
in allen Fällen Hysterie zu der vorausgehenden Epilepsie hinzutritt, nie 
umgekehrt. Prognostisch ist auch nur die Diagnose Epilepsie ausschlag- 
gebend. 

Schon im Kapitel IV wurde bemerkt, welch große Rolle der chro- 



295 

nische Alkoholismns als prädisponierendes, der akute als auslösendes 
Moment bei hysterischen Geistesstörungen spielt. In einer ziemliehen 
Anzahl der yorgeftlhrten Fälle ließ sich auch schwerer Potus anamnestisch 
erheben. Insofern bei Hysterie delirante Zustände mit multiplen Gesichts- 
täuschungen ganz gewöhnlich sind, wären differentialdiagnostische Er- 
wägungen dem Alkoholdelirium gegenüber anzustellen; weiters hat man 
die mehr chronischen Formen des Alkoholwahnsinnes, der Alkoholparanoia, 
des Eifersuchtswahnes von hysterischen Zustandsbildern zu trennen, die 
Rührseligkeit, Gehörstäuschungen, Verfolgungs- und Eifersuchtsideen in 
den Vordergrund zu schieben. Im allgemeinen läßt sich die Unterscheidung 
treffen nach der Stellung, welche die Person zur Krankheit einnimmt. 
Soweit es sich um eine Alkoholpsychose handelt, ist das Individuum 
einsichtslos für seine Krankheit, so lange es krank ist, es hält sich für 
gesund und protestiert gegen die Internierung; die Hysterie erklärt sich 
für krank und wehrt sich gegen die Entlassung. Sollte dieser kardinale 
Gegensatz durch die hysterische Unaufrichtigkeit verwischt sein — 
manchmal drängen die Hysterischen scheinbar auf Entlassung, um desto 
sicherer interniert zu bleiben — dann müssen die anderen Kennzeichen 
hysterischer und alkoholischer Psychosen herhalten. 

Zuerst ein akuter Fall, der ätiologisch vollkommen durchsichtig ist: 

Beobachtung XLVIII. 

Amaiie R., geboren 1851, katholisch, Witwe, Bedienerin, kommt am 
18. Oktober 1901 an die Klinik. 

Mutter und ein Onkel der Patientin waren Trinker. Sie selbst ist ein 
Siebenmonatkind, bewältigte mit Mühe in 8 Jahren die vierklassige Volks- 
schule, war reizbar, boshaft, störrisch, verlogen, egoistisch, beeinträchtigte ihre 
Geschwister; wollte stets über ihre Verhältnisse leben. Schon als Mädchen soll 
sie begonnen haben zu trinken. Menses traten im 15. Lebensjahre ein, waren 
stets regelmäßig; doch gingen sie häufig mit Ohnmachtsanfällen, bisweilen 
auch mit konvulsiven Erscheinungen einher. Matrimoninm mit 25 Jahren; von 
6 Kindern sind nur mehr 3 am Leben. Die Kranke quälte ihren Mann mit 
Eifersucht, bis dieser vor 7 Jahren starb, sie in geordneten Verhältnissen 
hinterlassend. Sehr bald knüpfte Patientin mit ganz jungen Burschen Liaisons 
an, verschwendete ihr Erbteil, vernachlässigte ihr Geschäft, ließ von diesem 
Lebenswandel nicht ab trotz der Ermahnungen ihrer Geschwister. Als diese 
den Verkehr mit ihr einstellten, erzählte die Kranke, daß die Geschwister ihr 
von jeher aufsässig waren, daß man sie immer als Aschenbrödel behandelt 
habe etc. Sie ergab sich nun maßioß dem Trünke (Wein und Schnaps), war 
wiederholt schwer berauscht, ging finanziell vollkommen zugrunde. Am 
13. Juli 1901 wurde sie von einem Hunde in das Kinn gebissen, erschrak 
darüber heftig. Seither ist sie schlaflos, sieht nachts Hunde und Mensehen auf 
sich eindringen, wird zunehmend unruhig, so daß endlich ihre Internierung erfolgt. 

An der Klinik ist Patientin ruhig, geordnet, vollkommen orientiert; doch 
erscheint ihre Stimmung äußerst labil; die Kranke bricht bei Aufzählung ihrer 
Lebensschicksale wiederholt in Tränen aus, beruhigt sich aber immer sehr 
schnell. An Potus gibt sie zu P/^ Liter Wein, 20 Heller Rum, auch etwas 



296 

Bier pro Tag. Sie motiviert das mit allerlei Ausflüchten; widerspricht sich 
more potatorum, indem sie sagt, sie habe getrunken, weil es ihr gut ging, dann 
wieder, sie habe trinken müssen aus Verzweiflung, daß ihr Geschäft zugrunde 
gegangen und sie an den Bettelstab gekommen sei. Die Zumutung, daß das 
Potatorium an ihrem finanziellen Ruin schuld trage, weist sie mit Entrüstung 
zurück. Patientin erklärt sich für nervenleidend, sie zittere, könne nichts mehr 
arbeiten; an der Realität ihrer Visionen hält sie mit Entschiedenheit fest. Jede 
zweite Nacht seit dem 13. Juli d. J. dringen massenhaft Hunde und Menschen auf 
sie ein ; sie muß aufstehen, dieselben fortjagen, doch kehren die Gestalten gleich 
wieder zurück; erst des Morgens habe sie Ruhe. So ereignete es sich auch 
die letzte Nacht vor ihrer Einbringung. Ins Irrenhaus hätten die Geschwister 
sie nur gesteckt, um sie los zu werden. — Habitus einer Trinkerin. Über dem 
rechten Unterkiefer eine Narbe. Zeitweise ticartige Zuckungen in der rechten 
Gesichtshälfte. 

1. November. Schläft hier gut, hat in den zwei Wochen kein einzigesmal 
halluziniert oder auch nur lebhafter geträumt, korrigiert aber nicht. Die 
rührselige Stimmung dauernd, sonst beschäftigt die Kranke sich mit einer 
Handarbeit. 

4. November. Patientin wird hypnotisiert, was außerordentlich leicht gelingt. 

5. November. Es wird der Kranken im Wachzustande die Unsinnigkeit 
ihrer Delirien lebhaft vor Augen geführt; sie selbst muß zugestehen, daß sie 
es sich nicht erklären kann, wie lebende Wesen durch die verschlossene Türe 
ihres Zimmers eingedioingen seien; sie bleibt aber dabei, daß sie dieselben 
gesehen habe, sie waren wirklich da. Hunde der ganz gemeinen Art; weiße, 
braune, graue sprangen an ihr in die Höhe, ohne zu bellen oder zu beißen; 
sie waren dann plötzlich verschwunden. 

2. Hypnose. Befehlsantomatie. Patientin wird examiniert and erzählt: 
Als sie die Hunde zum ersten Male sah, dachte sie gerade viel nach über das 
unglückliche Ende ihres Geschäftes und ihr gegenwärtiges Elend. Als jungem 
Mädchen hätte sie einen Herzenskummer gehabt, (?) indem ein bessergestellter 
Liebhaber, mit dem sie II Jahre zusammen gelebt hatte, sie verließ. Es wird 
Krankheitseinsicht suggeriert. 

6. November. 3. Hypnose. Patientin kommt auch im hypnotischen Schlafe 
in eine tiefe Depression, so wie ihr geschäftliches Unglück berührt wird. Sie 
beginnt zu weinen, greift nach ihrem Taschentuche. 

7. November 4. Hypnose. Therapeutische Suggestion. 

8. November. Die Kranke heiter, guter Stimmung; gibt auf ausdrück- 
lichen Vorhalt zu, daß der Inhalt ihrer Psychose möglicherweise nicht 
real war; sie ist einsichtig für die physikalische Unmöglichkeit. 

1. Dezember. Die Krankheitseinsicht wird wieder geringer. 

15. Dezember. Über Vorhalt ihres Alkoholismus schluchzt Patientin heftig, 
ebenso wenn man ihr belastende Angaben der Angehörigen vorhält, die ver- 
sichern, daß die Frau tatsächlich obdachlos sei, da die eigenen Kinder sich 
vor ihr fürchten, sich weigern, sie zu sich zu nehmen — so arg habe sie es 
getrieben. Die Kranke selbst will niemand zur Last fallen, bittet um Ver- 
sorgung. Die Visionen können nicht wirklich gewesen sein, als Täuschungen 
will sie dieselben aber noch immer nicht gelten lassen. 

Februar 1902. Vollkommen unverändert, geht in die Versorgung. 

Ein sehr rudimentäres Krankheitsbild, nächtliche Visionen von Hunden 
und Menschen, die keine Deutung und keine Verarbeitung finden. Da hier 



297 

aber schwerer Alkoholismus chronicus vorausging, ist die Berechtigung der 
Diagnose Hysterie darzutun, um so mehr als körperliche Stigmen völlig 
fehlen. Fürs erste wäre darauf zu verweisen, daß die psychische Erkrankung 
ausbricht im unmittelbaren Anschlüsse an ein Trauma. Das durch Kummer, 
Sorgen, Not und Elend erschütterte seelische Gleichgewicht wird nun noch 
einem Schreckaffekte ausgesetzt. Die Halluzinationen geben jene Vorstellung 
wieder, die damals das Bewußtsein erfüllte. Überraschend ist, daß die durch 
Monate andauernden Delirien ebenso plötzlich und für immer aufhören als die 
Patientin in die Anstalt kommt. Sowie aber ein Delirant klar wird, korrigiert 
er in der kürzesten Zeit seine ganze vielgestaltige Psychose. Wie armselig, 
monoton waren die Visionen dieser Patientin und dennoch vermißt man nach 
Monaten noch die Krankheitseinsicht. Es ist geradezu unbegreiflich, daß die 
besonnene Frau nicht imstande sein sollte, eine derartig isolierte Sinnes- 
täuschung zu korrigieren. Ja noch mehr. Als man ihr die physikalische Un- 
möglichkeit, die Unsinnigkeit dieser Visionen vorhielt, mußte sie auf Grund 
ihres geordneten Denkens, ihrer Kritik das zugestehen, trotzdem blieb sie bei 
der Behauptung von der Realität ihrer Delirien. Selbst der hypnotischen 
Suggestion leistet sie einen hartnäckigen Widerstand, was um so eher auffiel, 
als sie überaus leicht zu hypnotisieren war. Man könnte fast von Negativismus 
sprechen, indem die Patientin gegen ihr besseres Wissen opponiert; sie weiß, 
daß es sich um den letzten Rest ihrer Krankheit handelt; sie will nicht 
gesund sein. 

Wie gerne möchte ein anderer Patient, der so klar ist wie diese Frau, 
eine isolierte Wahnidee dissimulieren, nur um in die Freiheit zu gelangen; 
diese Person will nicht in die Freiheit; und hier liegt der springende Punkt. 
Mehr weniger ist ihr bewußt, daß sie in die Freiheit nicht kann; ohne Rück- 
halt an der Familie, ohne einen Kreuzer Geld, ohne die physische Eignung 
zu gemeiner Arbeit, vermag sie, die einst bessere Tage gesehen, draußen nicht 
mehr zu leben. Das Wort „obdachlos" schwebt über ihr und erklärt die Fort- 
dauer der Krankheitserscheinungen. Von Simulation ist natürlich keine Rede. 
Patientin kam sehr wider ihren Willen in eine Irrenanstalt; die Delirien 
waren so real, als es Visionen nur sein können; die Genesung ist aber ge- 
hindert durch das Gefühl, daß es eine Freiheit für sie nicht mehr gibt. 

Die Gefahr, ein typisches Alkoboldelirium mit einem hysterischen 
zu verwechseln, dürfte nicht groß sein. Man sieht den Alkoholiker in 
Schv^reiß gebadet, Tag und Nacht seiner Beschäftigung nach delirieren; 
diese trivialen Hantierungen, mehr noch die primitiven Bewegungs- 
formen des Wischens, Greifens, des Fadenziehens u. dergl., von den 
charakteristischen körperlichen Störungen ganz abgesehen, vermißt man 
bei Hysterie. Nur ausnahmsweise beginnt ein Alkoholdelirium — kürzlich 
kam 80 ein Mann an der Klinik zur Beobachtung — mit katatonen 
Symptomen: Stupor respektive Katalepsie, dabei Unempfindlichkeit gegen 
Nadelstiche, eigentümliche Respirationskrämpfe, Wirbelbewegungen der 
Arme, Strampeln der Beine, Herumwälzen um die Körperax« etc. Die 
Ähnlichkeit solcher Symptome mit hysterifornien kann begreiflicherweise 
differentialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten. In dem eben angezogenen 
Falle schwankte die Diagnose tatsächlich auch zwischen Hysterie und 
Katatonie, aber nur die ersten Stunden; dann setzte ein typisches Delirium 



298 

alkoholicum fort und so geht es wohl immer. Schlimmstenfalls müßte 
man etwas abwarten: in wenig Tagen klingt das Alkoholdelir durch 
einen kritischen Schlaf ab und damit ist der Kasus geklärt. 

Schwieriger steht es um die Auffassung akutester Geistesstörungen, 
welche an einen Alkoholexzeß unmittelbar anknüpfen. Wenn man 
die Bezeichnung transitorische Psychose vermeiden respektive die 
Zustandsbilder klinisch aufteilen will, so kämen vor allem der patho- 
logische Rausch, epileptische und hysterische Ausnahmszustände in 
Betracht. Gemeinsam ist allen diesen die hochgradige Bewußtseinsstörung, 
das lebhaft affektvolle Verhalten, endlich die nachfolgende Amnesie. 

Bonhoeffer konstatiert, daß das durch den chronischen Alko- 
holismus geschädigte Gehirn, wie bei den psychischen Defekt- 
zuständen, die Neigung hat, assoziative Beziehungen zur eigenen 
Person zu wählen, eine Eigentümlichkeit, die im Rausche noch gesteigert 
erscheint. Mit dem Angstgefühl und der beginnenden Desorientiertheit 
werden die körperlichen Triebregungen besonders lebhaft empfunden, 
der Ideenkreis, der sprachlich zum Ausdrucke kommt, ist überaus be- 
schränkt, Erinnerungen treten in deliranten Halluzinationen auf; dazu 
erfolgt eine lebhafte motorische Reaktion: alles Symptome, die man auch 
im hysterischen Delir findet. Die epileptoide Rauschform mit vorwiegend 
motorischer Agitation und schweren Zornaifekten wird häufig eingeleitet 
oder abgeschlossen durch Krämpfe, die mit ihrem wilden Umherschlagen, 
das durch Hilfeleistung vermehrt wird, weniger an epileptische als an 
hysterische erinnern. „Man gewinnt den Eindruck, daß es sich oft lediglich 
um eine dem Bewußtsein nicht ganz entzogene, exzessive Entladung eines 
elementaren motorischen Dranges handelt, der die Kranken in diesen 
Zuständen beherrscht und der gewissermaßen das höchste Stadium der 
psychomotorischen Überregbarkeit der einfachen Alkoholwirkung darstellt." 
Der Gedankeninhalt i«t in diesen Agitationszuständen monoton, es herrschen 
Gedankenreihen, die mit dem Anlaß der zornigen Erregung in Beziehung 
stehen. Stets folgt Amnesie. Es gibt pathologische Rauschhandlungen, die 
nur als Folge einer langgehegten Absicht erscheinen. Alles das berührt 
sich so nahe mit Eigentümlichkeiten der Hysterie, daß es sehr fraglich 
ist, ob man im einzelnen Falle überhaupt wird entscheiden können, so 
lange nur das Zustandsbild vorliegt; keinesfalls lassen sich allgemeine 
dififerentialdiagnostische Kriterien aufzählen. 

Unter den mitgeteilten Krankengeschichten befinden sieh auch solche 
akuter hysterischer Geistesstörungen, die unmittelbar an einen Alkohol- 
exzeß anschließen. Es wurde jedesmal die Psychose aus der Persön- 
lichkeit heraus abgeleitet, gleichzeitige hysterische Anfälle betont. Den 
Einwand, als ob es sich um hysterische Räusche, um pathologische 
Räusche Hysterischer gehandelt habe, mußte man im einzelnen z. B. in der 
sehr instruktiven Beobachtung V dadurch widerlegen, daß eine Geistes- 



299 

Störung genau der gleichen Form einmal durch einen exzessiven Alkohol- 
genuß, das zweitemal durch ein psychisches Trauma, eine Polizeistrafe 
ausgelöst wurde. Und wie man von Alkoholepilepsie spricht, unter dem 
Eindrucke, daß jenes Gift auf Epileptiker verderblich einwirkt, ihre Anfälle 
verschlimmert, in den Formen sensu strictiori Konvulsionen und Seelen- 
störungen veranlaßt, die in der Abstinenz niemals auftreten: so darf man 
wohl auch von Alkoholhysterie sprechen, einer latenten Hysterie, die erst 
durch den Alkohol geweckt wird. Inwiefern es eine toxische Genese der 
Hysterie geben kann, ist nach Kapitel IV verständlich; die alkoholisierte 
degenerierte Persönlichkeit nähert sich einer hysterisch veranlagten. Ist 
die hysterische Veranlagung schon a priori vorhanden, dann löst Alkohol 
eine Manifestation derselben aus, und auch das emotionelle Moment fehlt 
nicht: Die gesteigerte Reizbarkeit knüpft an einen Streit, eine Ohrfeige, 
einen Hinauswurf oder an das Erscheinen der Sicherheitswache an. 

Insofern all die psychischen Störungen bei Degenerierten vor- 
kommen, mögen sie teilweise durcheinander gehen und eine gegen 
Alkohol intolerante Hysteriea auch einmal einen pathologischen Rausch 
sich antrinken; dann diese Geistesstörung in hysterischer Weise weiter- 
verarbeiten; andere Male wird eine Diiferenzierung möglich sein. Die 
Alkoholepileptiker sind gewalttätiger, im Bewußtsein tiefer gestört als die 
Hysterischen; die Anwesenheit schwerer Schädelnarben, die Residuen von 
Zungenbissen dirimieren für die Zugehörigkeit einer durch Alkohol aus- 
gelösten Geistesstörung zur Epilepsie, während die pathologischen Räusche 
durch kurze Dauer charakterisiert sind und nach wenigen Stunden in 
Schlaf und einen nachfolgenden Katzenjammer abklingen. Bei Anwesen- 
heit von Stigmen aber, in Kenntnis hysterischer Antezedentien, scheint 
es gerechtfertigt, von hysterischer Geistestörung zu sprechen, zumal man 
sieht, wie empfindlich diese Kranken auf Alkohol reagieren. Es mag 
die Diagnose im konkreten Einzelfalle, namentlich solange man über 
die Persönlichkeit der Patienten noch nichts weiß, außerordentlich schwer 
sein; irgendein praktisches Interesse wird durch etwas Zurückhaltung nicht 
verletzt, die Stellungnahme dem Individuum gegenüber nicht alteriert. 

Bei chronischen Zuständen ist die Entscheidung im Rückblick auf 
einen längeren Zeitraum wohl fast immer zu treffen, und wenn man auch 
über die Bedeutung eines Einzelbildes diskutieren kann, aus dem Ganzen 
muß die Hysterie deutlich hervorleuchten, wenn es sich überhaupt um 
Hysterie handelt. So ein Fall ist 

Beobachtung IL. 

Sophie G.; 1863 geborea, angeblich 22 Jalire alt^ verheiratet, katholisch, 
Dienst magd. 

Drei Geschwister der Patientin endeten durch Selbstmord; andere Ver- 
wandte sind charakterologisch abnoim; sie selbst ist eine Säuferin. Vor 
3 Wochen aus der Irrenanstalt G. entlassen, fiel sie durch eigentümliches 



300 

Benehmen auf. Am 17. Dezember 1893 abends wurde sie von einem Wach- 
mann auf der Struße angehalten^ da sie planlos und lärmend umherirrte. Auf 
dem Amte bat sie mit aufgehobenen Händen, man möge sie umbringen, um 
sie von ihren Qualen zu befreien, man möge ihr wenigstens gestatten, daß 
sie sich selbst das Leben nehme; sie weint und jammert unausgesetzt. 

Patientin kommt klar, zeitlich und Örtlich vollkommen orientiert an die 
Klinik. Sie sei nervös, leide an Kopfschmerzen, sei vor 2 Jahren bei der 
.Operation eines ihrer Kinder, das an Diphtheritis litt, heftig erschrocken, in 
Ohmacht gefallen und wegen einer nachfolgenden Geistesstörung in die Irren- 
anstalt gebracht worden. Die Mengen Alkohol, die sie konsumiere, werden 
recht groß angegeben: neben Tee mit Rum habe sie am 17. Dezember noch 
Y2 Liter Wein getrunken; dann sei ihr plötzlich schlecht geworden, sie 
habe nichts mehr von sich gewußt. Die Kranke verlangt ihre Entlassung. 
Da der Aufenthalt im Spital 'durch die lleimatsgemeinde bezahlt werde, wolle 
sie sich diese Schande nicht antun; sie sei von guter Familie, kräftig, gesund 
und werde arbeiten. Dabei gerät sie ins Weinen, das sie mit Familien- 
zerwürfnissen motiviert. 

Zunge und Hände zittern lebhaft, Kniesehnenreflexe gesteigert, ein 
Druckpunkt am Scheitel, Nadelstiche im Gesicht werden nicht empfunden. 

26. Dezember. Klagt über Kopfschmerz, wie wenn „Wasser im Kopf^ 
wäre, sie werde sterben und sei froh darüber, „jetzt werden sie mich 
in die Totengrube fortführen^. Sie erklärt, die ganze Nacht hindurch 
gewacht zu haben, da sie fürchtete, es werde jemand umgebracht. Plötzlich 
macht Patientin eine eigentümliche Bewegung, erläuterte dieselbe, sie ziehe 
aus ihrem Munde Schlangen heraus; sie sehe überhaupt viele Tiere, Käfer, 
Wanzen, auch eine Maus; die Speisen seien voll von Würmern; dazu 
läuten fortwährend die Glocken. Dr. N. müsse ihr um 10 kr. ein Hacke 
bringen, damit sie sich den Hals abschlagen könne, sie tauge picht für die 
Welt; gestern nachts sagte ein junger Mann, er wolle sie heiraten und forderte 
sie auf, mit ihm in die Zelle zu kommen. 

27. Dezember. Die Kranke verlangt hinaus, sei ganz gesund; sie bleibt 
bei ihren gestrigen Angaben. Die Behauptung, nachts nicht geschlafen zu 
haben, wird von der Wärterin widerlegt. 

29. Dezember. Klagt über Kopfschmerzen und Schmerzen beim Schlucken. 

8. Jänner 1894. Patientin taumelt beim G^hen wie eine Betrunkene, 
verkennt die Personen der Umgebung, dabei klar. 

13. Jänner. Sieht andauernd Schlangen, Käfer in den Speisen; die Glocken 
läuten in einemfort; hört ihre Mutter sprechen, sie solle umgebracht werden, 
weil sie ihr Kind beim Mann gelassen hab6; spürt „Eisengeruch". 

16. Jänner. Die Kranke erklärt einen Arzt für ihren Mann, ein anderer 
habe eine Mitpatientin umgebracht, taumelnder Gang. 

26. Jänner. Sah gestern einen Blutegel. 

31. Jänner. Halluziniert beim Fenster ihren Gatten, bedroht denselben. 

5. Februar. Mimisch freier, stellt Sinnestäuschungen in Abrede. Allmähliches 
Abklingen des Zustandes, so daß sie am 18. Februar 1894 geheilt entlassen 
werden kann. Am 

24. November 1894 kommt Patientin neuerlich zur Aufnahme. Es heißt, 
daß sie seit einigen Tagen an heftigen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit 
leide; gestern nachts überfiel sie plötzlich eine furchtbare Angst, sie sah alles 
im Feuer stehen, eine Menge von grotesken Gestalten, Affen umtanzten sie; dem 
Amtsarzte gegenüber kann sie sich an das alles nur summarisch erinnern. 



301 

Klar, berichtet; daß sie nach der Entlassung ihren Dienntplatz häufig 
gewechselt; wiederholt des Nachts phantasiert habe, ohne davon zu wissen. 
Gegenwärtig klagt sie über unangenehme Empfindungen in ihrem Kopfe^ es 
fließe Wasser in demselben herum; das mache ihr Schmerzen; Schwindel. — 
Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule. 

Patientin ist trüber Stirn mang, apathisch, beteuert; seit Monaten gar 
keinen Alkohol mehr genossen zu haben. 

6. Dezember. Von mürrischem Wesen, klagt über häufige Kopfschmerzen; 
mangelhaften Schlaf; Angst. 

31. Jänner 1895. Zeitweiliger Affektzustand über geringfügige Veran- 
lassung. In letzteren Tagen ruhig, geordnet; hat volle Einsicht in ihrem Zu- 
stand; erklärt; sie könne sich nicht beherrschen. — Oeheilt entlassen. 

Vom Juli 1895 bis August 1898 befindet sie sich in der Irrenanstalt T.; 
seither in Dienst. Am 31. Oktober 1899 erschien sie auffallend heiter, ver- 
langte ein Messer und eine Hacke, um damit herumschlagen zu können; bekam 
eine Art Tobsucht; als man sie abwies. Am Kommissariate spricht die Kranke 
sehr laut; singt, zeigt Bewegungsdrang. Sie will sich letzter Zeit über ihren 
im Auslande weilenden Mann sehr gekränkt haben. Menses. An der Klinik 
weint und jammert Patientin; schläft nachts gut. Am 

1. November früh liegt sie ruhig; mit apathischem, verständnislosem 
Blick dahin. Auf Fragen gibt sie nur zögernd Antwort, scheint zeitlich und 
örtlich nicht orientiert. Es läßt sich herausexaminieren, daß die Kranke seit 
drei Jahren ununterbrochen Stimmen höre; dieselben werden von ganzen 
Familien gesprochen, ihr Inhalt ist ein unangenehmer. Über Aufforderung 
denselben anzugeben, sieht man, daß Patientin vergebliche Anstrengungen 
macht, sich zu sammeln. — Allgemeine Hypalgesie; auf Nadelstiche erfolgt 
keine Abwehr. 

3. November. Heute noch abweisender. Während des Examens äußert 
die Kranke lebhafte Ungeduld, man solle sie nicht 8usfi*agen, sie wolle sich 
auf gar nichts erinnern. Nach durchgeführter Faradisation der Haut kehrt in 
umgrenzten Hautbezirkeu das Schmerzgefühl wieder. 

4. November. Auffallende Gedächtnisschwäche für die Vorkommnisse des 
Tages. Patientin erinnert sich nachmittags an das früh mit dem Arzte geführte 
Gespräch nicht mehr; trotz eindringlichen Befragens weiß sie kein einziges 
Abteilungsereignis. Sie spricht die Wärterinnen konsequent als Schwestern an 
(in der Anstalt zu T. wirken geistliche Schwestern). Dauernd moroses oder 
kindisch geziertes Verhalten. 

14. November. Nach wiederholtem Faradisieren stellte sich die Sen- 
sibilität ganz her; die Kranke ist allmählich freundlich und zuvorkommend 
geworden, hat sich in ihre Lage hineingefunden. Sie ist örtlich und 
zeitlich vollkommen orientiert, faßt die Vorgänge in der Umgebung richtig 
auf; ist imstande, zusammenhängende anamnestische Daten zu geben, nur 
wechselt die zeitliche Lokalisation einzelner Erlebnisse. Aus Kränkung 
über ihre unglückliche Ehe habe sie sich dem Trünke ergeben; Mann und 
Sohn verließen sie vor drei Jahren und gingen nach Südamerika. 

21. November. Geordnet; Patientin verändert die früheren Erzählungen 
dahin, daß sie seit vier Jahren, angeblich zusammenfallend mit den Menses 
psychisch zu erkranken pflege, dabei vergeßlich sei, halluziniere. Intervallär 
sei sie ganz wohl, frei von Sinnestäuschungen. Mit einer Unterstützung am 
heutigen Tage entlassen. Am 

24. September 19(U wurde die Person plötzlich tobsüchtig; sie riß sich 



302 

zahlreiche Kopfhaare aas^ lärmte im Keller ihres Dienstortes^ mußte gegartet 
werden. Während der ärztlichen Untersnchnng im Amte spricht sie unzu- 
sammenhängend. 

Sie kommt ruhig zur Aufnahme und schläft des Nachts. 

25. September. Während der Visite verzweifeltes Benehmen, weigert sich, 
in Gegenwart so vieler Leute eine Auskunft zu geben, auch später ist sie 
dem ordinierenden Arzte gegenüber noch unzugänglich, fordert in energischer 
Weise, man möge sie nicht belästigen. Auf fortgesetzte Fragen erwiedert sie 
anfangs ganz unsinnig, sie sei 100 Jahre alt, auf freundliches Zureden 
antwortet sie jedoch richtig, erweist sich Örtlich und zeitlich vollkommen 
orientiert. Körperliche Untersuchung wird verweigert, da „sie gesund^ sei. 
Amnesie für die Einbringung. Plötzlich wieder ablehnendes Verhalten, so daß 
das Examen abgeschlossen werden muß. 

26. September. Verstimmung geschwunden. Am 

5. Oktober 1901 geheilt entlassen. Am 

13. Jänner 1902 wird sie aufs Kommissariat geführt, weil sie in einem 
fremden Hause auf der Kellerstiege lag und trotz Aufforderung der Haus- 
besorgerin sich nicht entfernen wollte. Anfangs folgte sie dem Wachmann 
willig, dann aber wurde sie renitent und bescliimpfte ihn. Am Kommissariate 
fing sie an zu schreien und zu toben, kniet nieder, bittet, man solle sie 
erschießen. Sie halluziniert eine Menge Leute, die sie begrüßt und vor denen 
sie sich verneigt, ein ganzes vorbeimarschierendes Regiment Soldaten. Dann 
steht sie auf, wischt ringsum die Wände mit der Hand ab, spricht von Professor 
KrafPt-Ebing, von der Irrenanstalt, in der sie durch Jahre gewesen und wünscht 
wieder hinzukommen. 

Am Beobachtungszimmer riecht Patientin noch stark nach Alkohol, 
lärmt und schimpft, schläft des Nachts wenig, klagt über Kopfschmerz. 

14. Jänner. Beim Examen stumm, blickt stan* vor sich hin. Über die 
ersten allgemeinen Fragen wird sie ängstlich, springt auf, läuft zur Türe, 
über Zuspruch gibt sie nur unwillig Auskunft, ist moros, wenig aufmerksam, 
leidlich orientiert; für die Überbringung amnestisch. 

15. Jänner. Verschlossen, lehnt jede Auskunft ab, spricht aber mit sich 
selbst und schlägt sich auf den Kopf. 

16. Jänner. Andauernd verstimmt, behauptet, sie werde von der ganzen 
Welt verfolgt, gibt keine genauere Auskunft, da man sie nur für verrückt 
erkläre, wenn sie etwas sage. 

30. Jänner. Geordnet, spricht aber vor sich hin; begründet die Monologe 
damit, daß sie doch antworten müsse, wenn sie Stimmen von Bekannten höre. 
Sie hält dieselben für real, macht keine Erklärungsversuche. 

2. Februar. Erzählt heute, daß sie die Leute nicht kenne, welche sie be- 
schimpfen. 

8. Februar. Beschwert sich, daß man ihr keine Ruhe lasse; verlangt 
vom Arzte, er möge einmal Ordnung schaffen. Stellt die Möglichkeit von 
Sinnestäuschungen in Abrede. Wird bei der Diskussion darüber erregt. Draußen 
könne sie nicht leben, sie werde sich aufhängen. 

18. Februar. In die Irrenanstalt kommt Patientin traurig verstimmt. Sie 
weint laut beim Nahen der Visite, ruft, man möge sie nicht umbringen; es 
gebe so viele Mörder auf der Welt. Allmählich beruhigt sie sich und erzählt, 
daß sie draußen viel gearbeitet hätte, allein die Leute gaben ihr nichts dafür, 
weil sie ihr das Leben nicht gönnten; auch wurde sie immer beschimpft und 
verfolgt. Wenn sie getrunken habe, höre sie mehr Stimmen. Als sie das letzte- 



303 

mal an der Klinik war, habe sie fälschlich angegeben, daß sie keine Stimmen 
mehr hOre, nur um entlassen zu werden. Schließlich weint die Kranke wieder 
laut und bittet, man möge sie nach T. schicken. 

Gravidität im vierten Monate. Allgemeine Analgesie. Ein Druckpunkt in 
der Herzgegend. 

Nachmittags: Erst sehr rührselig, später gereizt; sie fürchte sich vor 
den vielen Patientinnen hier, höre auf beiden Ohren Läuten. Widerwillig gibt 
sie einige Daten zur Anamnese, deklamiert über ihr Unglück, gefällt sich in 
der Erzählung ihres Menschenhasses. Zeitweise wendet sie sich gegen das 
Fenster, spricht aber fort. Sie habe keinen andern Wunsch als Ruhe und 
nach T. zu kommen. 

20. Februar. Die Kranke hat sich einige Benefizien durchgesetzt; meist 
verdrossenen Gesichtes. 

15. März. Sehr reizbar, schreit und weint, schlägt sich mit den Schuhen 
auf ihren Kopf; sie sei kein Mensch, wolle nicht mehr leben. 

21. März. Sitzt ruhig, arbeitend auf der Bank, murmelt, während der 
Arzt vorübergeht, unverständliche Worte vor sich hin. Zur Rede gestellt er- 
regt, meint, sie werde doch noch reden dürfen. 

1. April. Macht ein sehr unglückliches Gesicht. 

5. April. Streitet mit einer Genossin, will mit dem Sessel losschlagen. 

10. April. Ausführliche Besprechung. Patientin antwortet in sehr kläg- 
lichem Tone; kann sich absolut nicht erinnern, im Jahre 1901 auf der 
Beobachtungsstation gewesen zu sein; es war gewiß kein Rausch; endlich 
gibt sie die Tatsache resigniert zu; außer Existenzsorgen keine Gemüts- 
bewegungen. Seit zwei bis drei Jahren unterhielt sie ein Verhältnis, vertrug 
sich mit ihrem Liebhaber gut. Die letzte Woche vor ihrer Einbringung habe 
sie keinen Verdienst gehabt, mangelhaft gegessen, nur Tee mit Rum getrunken; 
Kleider kamen ihr abhanden, ohne daß sie anzugeben wisse wie. Patientin 
bemerkt spontan, es sei ein Unglück, wenn der Mensch nicht wisse was er 
getan habe. Sie wartete schon lange auf die Anstalt; sie gehöre nicht ^für 
draußen^, sie hätte sich ja doch umbringen müssen. Wegen ihrer Stimmen 
zur Rede gestellt, behauptet sie, das seien keine „Stimmen" ; das komme nicht 
aus dem Kopfe, sondern stamme von der Außenwelt. Wenn sie über der 
Arbeit sitze, spreche die Mutter laut und deutlich, mache ihr Vorwürfe, daß 
sie ihr Glück zerstört habe. Wieso sie diese Stimmen höre, kann Patientin nicht 
erklären ; das sei eine Krankheit. Sie sehe Menschen vor sich, welche schimpfen, 
und zwar bei Tage mit offenen Augen, erklärt das für eine reale Wahr- 
nehmung. Schlaf schlecht, durch böse Träume noch unerquicklicher; sie glaube 
zu fliegen oder zu fallen, sehe auch Sterne vor den Augen. Das Essen schmecke 
nach Eisen; trotzdem esse sie, weil sie Hunger habe. Auch Verfolgungswahn- 
ideen lassen sich herausexaminieren: die Leute vergönnen ihr das Leben nicht, 
man verachte sie, könne sie nicht leiden; sie höre und sehe das. Auch sie 
selbst hasse die Menschen und das Gewühl der Großstadt, wiederholt den 
dringenden Wunsch nach T., angeblich, weil sie dort entsprechend beschäftigt 
werde. Patientin kommt auf ihre Kopfschmerzen zu sprechen, bringt alles 
mit Leichenbittermiene vor; sieht zu Boden, beachtet aber doch sehr auf- 
merksam die Vorgänge der Umgebung; bewegt für sich lautlos die Lippen. 
Anästhesie und Analgesie der oberen Gesichtspartien und der Hände. 

20. April. Arbeitet, drängt auf Übersetzung nach T. 

1. Mai. Wendet, als der Arzt vorübergeht, das Gesicht gegen die Scheiben 
und spricht einige halblaute Worte. 

20. Mai. Nach T. transferiert. 



304 

Eine Frauensperson, die seit mehr als zehn Jahren mit kurzen Unter- 
brechungen in Irrenanstalten sich befindet, kaum entlassen, immer wieder zu 
trinken beginnt. Es soll nun gezeigt werden, daß die einzelnen Geistesstörungen 
sich durchaus nicht wie alkoholische verhalten, dafi sie hysterische ZQge 
tragen, als Hysterie zu diagnostizieren sind, daß sie in genau denselben 
Formen auftreten, wie bei anderen Hysterischen, die dem Abusus spirituosomm 
nicht ergeben sind. 

Patientin bittet bei der ersten Aufnahme um die Erlaubnis, sich das 
Leben nehmen zu dürfen, aber erst am Kommissariate. Für diese aknte 
Störung ist sie amnestisch. Sie setzt nach ihrer Internierung mit anderen 
Erscheinungen fort, die nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit einem Delir 
haben. Die Kranke ist vollkommen klar, demonstriert die Tiere, die sie 
halluziniert, unaufgefordert bei der Visite, ist dabei ausgezeichnet über die 
wirkliche Umgebung orientiert, kennt den Arzt und feiert eine romantische 
Hochzeit mit ihm in der Zelle: nichts anderes als Pseudologie. Während die 
Nächte ganz gut ablaufen, dauern die Sinnestäuschungen untertags über 
vier Wochen an. Patientin siebt einmal einen Blutegel, was schon gar nicht 
mehr typisch ist. 

In einem lebhafteren, geradezu stürmischen Delir kommt sie wenige 
Monate nach der Entlassung schon wieder. So rasche Rezidiven des Alkohol- 
delirs werden wohl nicht beobachtet. Es fehlt der Kranken weiters der 
Witz; sie ist mürrisch, abweisend, affektiv sehr erregbar. 

Mit einem andersartigen manischen Zustandsbilde tritt sie 1899 neuerlich 
in Wien auf, nachdem sie sich Über drei Jahre in einer andern Irrenanstalt 
verpflegt, dann aber auch über 14 Monate in dienender Stellung, also ohne 
psychische Störungen gehalten hatte; diese Regellosigkeit sei hervorgehoben. 
Jetzt sind durch Faradisation Amnesien und Stigmen leicht zu beseitigen; 
damit ändert sich auch das Benehmen der Kranken, die freundlich und zuvor- 
kommend wird. 

Ihre Genesung währt nicht lange. Am 24. September 1901 wie 
am 13. Jänner 1902 läßt sie sich wieder aufnehmen. Neben den so ge- 
wöhnlichen indifferenten Gesichtstäuschungen der Psychoneurose ist bemerkens- 
wert, daß Patientin den Polizeiarzt durch angelegentliche Erwähnung der 
Psychiatrie gleich auf die richtige Fährte bringt. Der Annahme, als ob wenigstens 
die durch Jahre zurückdatierten Gehörstäuschungen auf den chronischen Alko- 
holismus zu beziehen wären, widerspricht das Verhalten der Kranken. Sie 
weiß ganz gut, daß es Halluzinationen sind, sie erzählt spontan, daß sie krank 
sei, dissimuliert habe, um hinauszukommen; sie erschwert dadurch für später 
die Entlassung. Am charakteristischesten aber ist es, daß sie ihre Sinnes- 
täuschungen gerade nur vor den Augen der Ärzte zeigt; diesen gegenüber murmelt 
sie vor sich hin. Eine große Anzahl von Beobachtungen aus der Ferne sowie 
unbedingt zuverlässige Wärterberichte stimmen darin überein, daß Patientin 
für sich allein nicht halluzinierte. Der Welt- und Menschenhaß, den sie im 
Munde führt, hindert sie nicht, ein oder mehrere Verhältnisse zu unterhalten, 
und ihr sehnlichster Wunsch ist es, in die modern eingerichtete Anstalt nach 
T. zu kommen, was Alkoholhalluzinanten oder Alkoholparanoiker gemeinhin 
nicht so lebhaft wünschen. Im Zusammenhalt der vollständigen Biographie 
sind die Widersprüche im Krankheitsbilde deutlich genug. Unter dem un- 
mittelbaren Eindruck eines Examens, das Gehörstäuschungen und Verfolgungs- 
ideen ergibt, scheint es aber begreiflich, daß die Patientin unter den ver- 
schiedensten Diagnosen, so auch als Paranoia geftlhrt wurde. Insofern sich 



305 

aber der Verlauf an j?ar keinen Typus des Systems hält, keineswegs als ein 
fortschreitender bezeichnet werden darf, sieht man eine Geistesstörung will- 
kürlichen Gepräges vor sich und das ist nur die Hysterie als Ausdruck des 
Krankheitswillens. 

Die Differentialdiagnose zwischen Paralyse und Hysterie kann zu 
Erwägungen Anlaß geben, insofern bei Paralyse manchmal Anfälle vor- 
kommen, die hysterischen nicht ganz unähnlich sind, indem man Erröten 
im Affekt, beeinflußbare Gangstörungen zu beobachten Gelegenheit hat. 
Möbius sah einen Fall von ganz initialer progressiver Paralyse, der 
von einem heftigen Tremor der Beine beim Gehversuch geheilt wurde. 
Babinski erzählt von einem vorgeschrittenen Paralytiker mit hochgradiger 
Sprachstörung, Pupillendifferenz, intellektuellen Ausfällen, Lippentremor, 
der Astasie und Abasie darbot, die Beine im Bette aber ganz gut bewegen 
konnte. Auf Faradisation und Suggestion ging er einige Meter weit. Es 
scheint, als ob hier im Zusammenhange mit der Kritikschwäche bei 
beginnender Paralyse psychogene Störungen auftreten, die sich durch 
Wahnideen erklären lassen. Die Vorstellung z. B., nicht gehen zu können, 
ist eine bei hypochondrischer Paralyse gar nicht seltene; die Kranken 
knicken demgemäß zusammen, wenn man sie auf die Beine bringt. Daß 
die ärztliche Autorität diese und andere Wahnideen wegsuggerieren 
kann, ist bei der leichten Cberredbarkeit dieser Patienten nicht zu 
wundern. Indem das Symptom durch bewußte Vorgänge, Ideen vermittelt 
wird, dürfte man nach der herrschenden Ansicht nur von Hypochondrie 
sprechen. 

Bei Paralyse wie bei Himerkrankungen einerseits, bei Hysterischen 
andererseits setzen Dämmerzustände schleichend ein. Die Kranken 
vernachlässigen die Arbeit, verirren sich, werden aufgegriffen und 
bieten nun einen Blödsinnszustand dar. Sie sind mangelhaft orientiert, 
in ihrer Merkfähigkeit schwer gestört, reden vorbei, geben wohl auch 
ganz unsinnige Antworten. Die Suggestibilität der Hysterischen erinnert 
an das bereitwillige Ja der Paralytiker; Euphorie kann man bei beiden 
Zuständen antreffen. Es entscheiden wohl nur die körperlichen Symptome 
und der Verlauf bei längerer Beobachtung. Hysterie bietet höchstens 
Steigerung der Patellarsehnenreflexe, Pupillendifferenz, wenn keine Lues 
vorausgegangen ist, über die man bei weiblichen Individuen allerdings 
nicht immer Auskunft erhält. Ebenso wichtig wäre das Fehlen von 
paralytischer Sprachstörung, die bei Hysterie tatsächlich erst in einem 
einzigen Fall (Bödeker) registriert worden ist. 

Wenn also auch bei einzelnen Patienten die Diagnose Schwierigkeiten 
bereitet, für eine begrenzte Beobachtungsdauer sogar unmöglich sein 
kann, so darf das nicht abhalten, den prinzipiellen Gegensatz zwischen 
Hysterie und Paralyse zu betonen. Es ist aber nicht auszuschließen, daß 
ein hysterisch veranlagtes Individuum Lues und dann Paralyse, sowie eine 

IIa i mann. Die hysterischen Geistesstörunffen. ^^J 



306 

Tabes akquiriert. Das Auftreten einer akuten hysterischen Geistesstörung 
bei Tabes ist durch mehrfache, auch eigene Beobachtungen sichergestellt; 
somit wäre möglich, daß die Hysterie noch in eine beginnende Paralyse 
hinein sich manifestiert. Die Prognose wird dann aber nur von der 
Paralyse beherrscht und in späteren Stadien gentigt es wohl, diese allein 
zu diagnostizieren. 

Recht lehrreich bezüglich der Wertung von einzelnen Symptomen 
ist die Kontroverse über die Störungen nach Wiederbelebung Erhängter: 
im wesentlichen Krämpfe und Amnesie. Aber wenn man beide diese 
Symptome bei Hysterie findet, so trifft man sie auch bei verschiedenen 
anderen Krankheitsformen. Es widerspricht der Auffassung des Begriffes 
Hysterie anzunehmen, daß jedes nicht hysterische Individuum in Anschluß 
an eine organische Schädigung des Gehirnes hysterisch werde, aber nur, 
weil es vorübergehend zwei hysteriforme Erscheinungen darbietet. Hier 
ist es doch wohl folgerichtiger, sich an 'das Greifbare zu halten und die 
Symptome direkt auf die Läsion zu beziehen. Natürlich kann eine Hysterica 
sich aufhängen und dann einen hysterischen Anfall erleiden, wenn man 
sie abschneidet; charakteristischer ist es unzweifelhaft, wenn sie den 
Anfall produziert, bevor es zum Aufhängen kommt. 

Lührmann teilt zwei Fälle mit, welche das Auftreten echter Hysterie 
bei Strangulierten beweisen sollen. In dem zweiten Kasus sieht der Krampf- 
anfall so aus, wie wenn der Patient sich verstellen würde. Er ist klar, 
läßt nach einem Verweis sich zu Boden fallen, kugelt herum, grunzt, 
schlägt um sich, gibt dann wieder prompt Auskunft, bietet Amnesie. 
Dazu beobachtete Lührmann Sensibilitätsstörungen, Fehlen des Rachen- 
reflexes, vollkommene Analgesie der Zunge und der Glans penis. Es ist 
natürlich nicht auszuschließen, daß wirklich einmal eine Hysterie an das 
Suicid anknüpft, durch die Strangulation geweckt wird; doch ist bei der 
Diagnose Hysterie Vorsicht geboten, indem man bei den verschiedensten 
organischen Läsionen Anfälle beobachtet, die hysterischen aufs Täuschendste 
ähnlich sehen, sogar hysteriforme Symptomenkomplexe; und jedem Unter- 
sucher sind schon diagnostische Fehlgriffe passiert, indem man Hysterie 
annahm, während der Patient starb und die Obduktion ein positives 
Ergebnis, z. B. einen Cysticercus im IV. Ventrikel aufdeckte. 

Speziell bei Hirntumoren sind solche hysteriforme Erscheinungen 
von den verschiedensten Seiten beschrieben worden (Lührmann, Schön- 
thal, Infeld, Kaplan). Man hat sich gelegentlich damit geholfen, daß 
man eine Kombination mit Hysterie annahm, wie sie für gewisse Nerven- 
erkrankungen ganz offiziell und regelmäßig anerkannt wird, doch wurde 
auch zugegeben daß der Krankheitsprozeß selbst die Erscheinungen 
machen könne. Kaplan meint, die Symptome eines Tumors kommen 
zustande durch Einwirkung der Neubildung auf das betreffende Zentral- 
nervensvstem. Bei einem von Haus aus abnormen Gehirn treten auch 



307 

Störungen auf, die in der Eigenart des befallenen Gehirnes ihren Grund 
haben. So könnten Anfälle psychogener Natur durch Autosuggestion von 
den durch den Tumor bedingten epileptoiden Anfällen her das repro- 
duzieren, was dem Kranken am meisten imponiert hat. Schönthal erklärt 
die hysteriformen Erscheinungen seines Falles dadurch, daß er sagt, die 
Femwirkung des Tumors habe bei dem zu Hysterie disponierten Indi- 
viduum spezifische Symptome hervorgebracht. 

Es scheint indes, als ob die Notwendigkeit einer Kombination von 
Hirntumor mit Hysterie in diesen Fällen noch nicht tiberzeugend dar- 
getan sei; möglich ist sie natürlich, warum soll aber nicht ein Hirntumor 
selbst Störungen verursachen können, die ausseben wie die psychogen 
entstandenen der Hysterie? Mechanismen wecken, die in jedem Gehirne vor- 
gebildet schlummern? Es würde hier der organische Reiz wirken, wie 
bei der Hysterie die Erregung vom Affektbewußtsein her. Die Genese 
wäre verschieden und differentialdiagnostisch entscheidend. Kennt man 
doch kein einziges Symptom, das ftir sich allein Hysterie absolut 
beweisen würde. Mit Recht meint Infeld, es wäre gekünstelt, eine 
Krankheitserscheinung, die in deutlich klinischem Zusammenhang mit 
der organischen Erkrankung auftritt, nur wegen äußerlicher Ähnlichkeit 
auf Hysterie zu schieben, weil man das Symptom in diesem Zusammen- 
hange zu «sehen gewohnt ist. 

Deutlicher ist das vielleicht noch bei den psychischen Störungen, 
welche Hirntumoren begleiten. Man findet hier Delirien, Gesichts- 
täuschungen, eine eigentümliche Benommenheit, dasselbe „Ich weiß nicht^, 
das bei Stimulieren durch eine widerwillige Antwort ersetzt werden 
kann, genau wie bei Hysterie. Es sind aber alle diese Erscheinungen 
aus dem Hirndruck, der unmittelbaren Tumorwirkung so verständlich, 
daß man die Hysterie nicht erst heranzieht, wiewohl die äußerliche 
Ähnlichkeit eine überraschend große sein mag. Aus mehrerlei Rücksichten 
empfiehlt sich eine Vereinfachung der Diagnostik. Wenn eine organische 
Affektion, ein Hirntumor vorliegt, so verschwindet dagegen die Hysterie. 
Sie hat für das Individuum weder prognostisch noch therapeutisch eine 
Bedeutung. Es ist geradeso, wie wenn man konstatiert, daß ein Krebs 
durch eine Magenneurose kompliziert wird. Es ist wesentlich ein Streit 
um die Auffassung der einzelnen Symptome respektive um die Frage 
ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Entstehung, und die Diagnose Hysterie 
bedeutet nicht einmal eine Erleichterung für die Auffassung. Von theore- 
tischen Erwägungen abgesehen, sprechen aber auch sachliche Gründe 
dafür, die Kombination von Hirntumor und Hysterie möglichst selten an- 
zunehmen. 

Akut einsetzende Schlafanfälle wären gegen eine* organische Apo- 
plexie als sogenannte hysterische Apoplexie abzugrenzen. Von Wichtig- 
keit ist, daß bei Hysterie Atmung, Puls, Temperatur normal sich 

20* 



308 

verhalten oder in wechselvoller Weise variieren, während gesetzmäßige 
klinische Symptome die organische AflFektion begleiten. Man vermißt bei 
der Hysterie die halbseitige Reflexsteigerung, nur selten entwickelt sich 
Hemikontraktur in der Halbseite nlähmung; dazu kommen hysterische 
Stigmen. 

Die Hysterie kann sich in das Gewand der Hypochondrie kleiden, 
mit welcher sie die gesteigerte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper, 
die eingebildeten Leiden gemeinsam hat; außerdem sind bei Hypochondrie 
hvsteriforme Anfälle beschrieben worden, die der Willkür unterworfen 
scheinen: schüttelnde Bewegungen der Extremitäten, Kontraktionen in den 
Bauchmuskeln, Atemkrämpfe, Anfälle von trockenem Husten, von Weinen 
und Schreien. Diese Symptome sollen den Hypochondern selbst als etwaa 
Fremdartiges imponieren und dadurch zustande kommen, daß die Patienten^ 
wenigstens momentan, von ihrer schmerzhaften Stimmung übermannt 
werden und die Willenskraft nicht haben, diese Bewegungen zu unter- 
drücken. Damit nähert man sich aber schon bedenklich der Hvsterie, 
Wenn Mechanismen, wie sie dieser eigen sind, als Affektsausdruck ver- 
wendet werden, dürfte es schwer halten, das Vorhandensein einer hyste- 
rischen Veranlagung auszuschließen. 

Die hypochondrischen Krankheitsäußerungen sollen bewußt, die 
hysterischen unterbewußt aus Vorstellungen herauswachsen, d. h. die 
hysterische Lähmung sei eine Komplikation der Psychose, trete ein 
von dem ausgesprochenen Gedankengang der Patienten unvorbereitet, 
während sie beim Hypochonder auf Urteilsassoziationen zurückgehe: der 
Neurastheniker wie der Hypochonder verkennen die primäre Rolle be- 
wußter Vorgänge nicht. Wie schon ausgeführt, trifft diese feine Unter- 
scheidung insofern nicht zu, als die Hysterischen auch ganz bewußt 
Krankheitserscheinungen vortäuschen, dieselben vorher ankündigen. Die 
Schwierigkeit liegt aber nicht bei der Diagnose Hysterie, für welche 
vielerlei Anhaltspunkte vorliegen, sondern auf Seite der Hypochondrie. 
Diese verfügt über keine eigenen Mechanismen; hypochondrische Wahn- 
ideen finden sich bei den verschiedensten Formen des Irreseins: man 
müßte daher die Diagnose Hypochondrie gegen allerlei Einwendungen 
festigen, die sich auch bei Durchsicht mancher Krankengeschichten 
sogenannt hypochondrischer Psychosen geradezu aufdrängen. Am be- 
quemsten ist es natürlich wieder, in den unausgesprochenen Zustands- 
bildern mit der Annahme einer Kombination sich zu helfen; man hat, 
insofern wirkliche kleine Leiden lebhaft übertrieben dargestellt werden 
und den Patienten zu schweren VerstimmuDgen bringen, von hysterischer 
Hypochondrie gesprochen. Indeß dürften auch diese Fälle entweder ala 
Hysterie oder rein symptomatisch als Hypochondrie zu diagnostizieren 
sein, indem die beiden Psychosen durch einen prinzipiellen Gesichtspunkt 
sich unterscheiden, wenn auch die Hysterischen als Hypochonder auf- 



300 

treten, wie zahlreiche sonst norm<ile Menschen eine gewisse Neigung zu 
Krankheitsbeflirchtungen mit sich herumtragen, und Hysterie wie Hypo- 
chondrie auf verwandt degenerativer Grundlage stehen. Die Differential- 
diagnose scheint in prognostischer und therapeutischer Rücksicht von 
Bedeutung. 

Die typische Hysterie befremdet dadurch, daß sie bei Krankheits- 
erscheinungen, die schon durch ihre Schwere auf den Beschauer über- 
wältigend wirken, gar keine depressiven Affekte hinzutut. Man sieht 
Hysterische, welche an allen vier Gliedmaßen gelähmt sind, die Sprache 
verloren haben, dabei aber den Arzt mit dem freundlichsten Nicken be- 
grüßen, trotzdem er ihnen ja nicht helfen könne. Ein solches Unverständnis 
<lem schweren Leiden gegenüber findet sich wohl nur bei vorgeschrittenen 
Blödsinnszuständen. Die Hysterica nimmt die Funktionsstörungen indessen 
wahr, sie verhält sich dazu aber wie ein unbeteiligter Dritter; die Krank- 
heit erschöpft sich gewissermaßen in dem umschriebenen Symptom, das 
keiner weiteren Unterstreichung bedarf Andererseits gibt es Fälle von 
Hysterie, wo die subjektiven Klagen für die Umgebung ganz unleidlich 
werden; das sind jene, bei welchen schwere Lokalisationen fehlen, wo 
die Erfindungsgabe versagt oder wo wirklich ein quälender körperlicher 
Zustand die Hysterie kompliziert. Hysterie und Hypochondrie bedürfen 
"der Aussprache, verlangen nach Ärzten und Wundermitteln, beide wider- 
streben der Heilung; wie der Hypochonder sagt die Hysterica: Mir ist 
nicht zu helfen; aber ersterer als Stoßseufzer der Verzweiflung, aus Furcht; 
letztere mit tief innerlicher Befriedigung, aus Wunsch. Die Hysterica 
bleibt zeitlebens ein Gegenstand des Bedauerns und der tätigen Rück- 
sichtnahme von Seiten ihrer Umgebung; sie darf sich von unangenehmen 
Verpflichtungen nach Belieben losmachen und ist doch nicht gehindert, 
ihre Persönlichkeit nach anderen Richtungen auszuleben. Bezieht sich die 
Hypochondrie wie so häufig auf psychische Zustände, Angst vor Gehirn- 
erweichung, dann ist die Irrenanstalt für den Hypochonder ein Gegen- 
stand des Schreckens, gegen den er sich verzweifelt wehrt; er wird 
seine Geisteskrankheit nie anerkennen. Dafür sieht die Hysterie im 
Tollhause ein Mittel der Drohung, mit dem sie ihre Umgebung dirigiert. 
Sie erwartet aber das Furchtbare, das sie über die unverständigen 
Leute hinausheben, das der teilnehmenden Mitwelt klar machen soll, wie 
schlecht man sie behandelt. Die Hysterie fühlt sich hinter den Gittern 
sehr bald wohl und heimisch, sie ist den Freuden des Lebens nicht ab- 
geneigt, sehr leicht zu zerstreuen, zu unterhalten, während der Hypo- 
chonder jeder Ansprache unzugänglich, in der endlosen Wiederholung 
seiner Befürchtungen, in der Verzweiflung über seine Krankheit vergebens 
Trost suchj, die Internierung in der Irrenanstalt als Hohn und Strafe 
empfindet. Ein Fall, auf den diese difi^erentialdiagnostischen Erwägungen 
Anwendung gefunden haben, ist Beobachtung XLIV; Suggestibilität 



310 

und andere Stigmen halfen bei der richtigen Wertung des Krank- 
heitsbildes. 

Nicht ganz leicht ist die Unterscheidung der Hysterie von der 
konstitutionellen Neurasthenie. Auch bei der Nervosität, die einen 
Dauerzustand darstellt, findet man Charaktereigeuttimlichkeiten, eine 
größere Bestimmbarkeit; Vorstellungen setzen sich aber höchstens in sub- 
jektive Krankheitsempfindungen um, die hysterischen Mechanismen fehlen. 
Eine neurasthenische Lähmung gibt es nicht; bei der Unmöglichkeit über 
einen freien Platz zu gehen, ist das Auftreten eines lebhaften Angstafiektes 
das primäre. Der hemmende Einfluß von Affekten ist schon im normalen 
Seelenleben zu beobachten und ganz verständlich; der Neurastheniker 
läßt über diese, ihm bewußte Genese seiner Ausfallserscheinungen nicht 
im Unklaren. Wesentlich kommt es bei der Differentialdiagnose darauf 
an, wie weit man die konstitutionelle Neurasthenie faßt. Es dürfte ge- 
raten sein, dieselbe keineswegs zu einem Sammelbegriffe auswachsen 
zu lassen oder sie mit den d6g6ner^s überhaupt zu identifizieren. Die 
einfache nervöse Erschöpfung, die Neurasthenie mit ihren Lokali- 
sationen, z. B. die so häufige sexuelle Neurasthenie, sind ganz klare und 
umschriebene Krankheitsbilder, mit Hysterie nicht zu verwechseln. All- 
gemein kann man sagen: Die der Nervosität zugrunde liegende Vor- 
stellung ist subjektiv unwahr, der Kranke dieser Vorstellung sich bewußt, 
obzwar sie sein Denken beherrscht. Die Hysterischen sind sich ihrer 
Krankheitsvorstellung größtenteils, in schweren Fällen immer unbewußt, 
obzwar jene eine reale Basis hat. Der Neurastheniker fürchtet sich vor 
der Cholera, die er gar nicht kennt, von der er nichts zu besorgen hat. 
Die Hysterie ist nach einem Hundebiß erkrankt, das Trauma veranlaßt 
Symptome, während der Kranke sich anscheinend gar nicht mehr darauf 
erinnert. 

Eigenartig ist, wie schon im Kapitel IHc angedeutet, das Ver- 
hältnis zwischen Hysterie und manisch-depressivem Irresein. An der 
Klinik wurde eine Eeihe von Zirkulären beobachtet, bei welchen man 
über die mehr minder große Rolle, die der Hysterie im Krankheitsbild 
zuzuweisen wäre, verschiedener Meinung sein konnte, vielleicht annehmen 
durfte, daß ein hysterisch veranlagtes Gehirn an zirkulärem Irresein er- 
krankt. Es scheint dies um so leichter möglich, als auch das letztere 
eine degenerative Psychose darstellt. 

Mein persönlicher Standpunkt ist folgender: Die Periodizität allein 
erschöpft das Wesen einer Geistesstörung nicht soweit, daß man daraus 
eine Krankheit sui generis machen kann. Eine große Anzahl von Menschen, 
das weibliche Geschlecht als solches, ist periodisch veranlagt; die Periodi- 
zität ist ein Symptom, das Neurosen und Psychosen zukommt. Hier be- 
weist sie, daß es sich um eine degenerative Erkrankung handelt. Es 
gibt somit auch periodische Störungen bei Hysterie, um so mehr als der 



311 

chronische Hysterismus sich aus kurz dauernden Anfällen von Geistes- 
störung aufbaut. Das ist aber Hysterie, kein zirkuläres Irresein, keine 
kombinierte Psychose. 

Nissl hat wohl recht, wenn er die Kombination von Hysterie 
und zirkulärem Irresein als Karität hinstellt respektive behauptet, daß er 
noch keine solche gesehen habe. Es wird auch hier eine Alternativ- 
entscheidung wenigstens anzustreben sein: Hysterie oder zirkuläres Irre- 
sein; namentlich für wissenschaftliche Zwecke dürfte es nicht genügen, 
daß man bei einer erregten und erregbaren Hysterica zwei ruhigere 
Phasen beobachtet und daraufhin den Kasus als zirkuläre Psychose 
diagnostiziert. Stets wäre eine genauere Analyse zu verlangen, und nur wenn 
sich nachweisen läßt, daß wirklich unabhängig von äußeren Einflüssen 
respektive von erschließbaren, durch äußere Einflüsse unmittelbar be- 
stimmten Innenvorgängen, endogen, heitere und traurige Verstimmung 
miteinander abwechseln: dann würde der Fall dem zirkulären Irresein 
einzuordnen sein. 

Die Entscheidung wird in praxi erschwert durch das Auftreten 
eigentümlicher Bilder im Rahmen des zirkulären Irreseins. Nament- 
lich in der manischen Phase findet man Zustände, welche den Ein- 
druck hysterischer machen: Ohnmachtsanfälle, vorübergehende Bewußt- 
seinstrübung, eine Mischung der verschiedensten Affekte, im ganzen unge- 
wöhnliche Beeinflußbarkeit, Abhängigkeit von der Umgebung, Labilität 
der Stimmung; dazu kommen noch als Äußerungen der degenerativen 
Grundlage, pathologische Lügen eventuell Schwindeleien. Da man diese 
Symptome bei zirkulärem Irresein außerordentlich häufig antrifft, Rudi- 
mente derselben fast regelmäßig, ohne daß sonst für Hysterie An- 
haltspunkte vorliegen und ohne daß diese Symptome die Hysterie er- 
schöpfen, scheint es gerechtfertigt, dieselben als Teilerscheinung des 
zirkulären Irreseins selbst zu nehmen. Allgemein wird ja die Berechtigung 
der Forderung anerkannt und ist zu erweisen, daß man nie aus einzelnen 
psychischen Symptomen und schienen dieselben noch so prägnant, mit 
Sicherheit ein klinisches Krankheitsbild diagnostizieren könne. 

Ein als Hysterie aufgefaßter, scheinbar zirkulärer Fall ist schon im 
klinischen Kapitel mitgeteilt worden; an denselben schließt ein zweiter, 
der diflferentialdiagnostisch tatsächlich größere Schwierigkeiten bereitet. 
Ein Abschnitt aus der Krankengeschichte ist bereits als Kombination 
von zirkulärem Irresein und Hysterie publiziert. (Pilcz.) Ich möchte im 
Rückblicke auf das nunmehr vorliegende Material den Kasus zur Gänze 
der Hysterie zurechnen. 

Beobachtung L. 

Valerie E., 17 Jahre alt, ledig, katholisch, ohne Beschäftigung, kommt 
am 27. August 1898 an die Klinik. 

Patientin wird während eines Spazierganges auf der Straße von Krämpfen 



312 

befallen, auf eine Tragbahre gefesselt und zum Amte gebracht. Sie gibt hier 
ihr Nationale richtig an; ein weiteres Examen ist jedoch nicht möglich, da 
sie unartikulierte Laute ausstößt, laut zu lachen beginnt. Nach der Aufnahme 
ruhig, schläft ein. 

28. August. Zeitlich und örtlich orientiert; gestern 4 Uhr nachmittags 
sei ihr unwohl geworden; seither wisse sie gar nichts, bis sie in der Zeile 
wieder zu sich kam. Klagen über Milde und Abgespanntheit. Vor 4 Jahren 
Sturz von einer Leiter; dabei habe sie sich Arme und Beine gebrochen, 
durch 1 Jahr auf Krücken gehen mtlssen, hinke noch jetzt am linken Fuße, 
sie könne den Harn nur wenige Minuten halten, ließ sich wegen ihrer In- 
kontinenz operieren. Die Kranke hat bis nun nicht menstruiert, gibt spontan 
an, sie habe seit einem Jahre Ohnmachtsanfälle ohne Zungenbiß, regelmäßig 
„wenn sie die Periode bekommen sollte". 

Motorische Kraft der linken unteren Extremität etwas geringer als 
rechts. Analgesie der rechten Gesichtshälfte, des rechten Armes, Hypalgesie am 
Thorax. 

29. August. Ausgelassen heiter, bewegt sich im Zimmer ohne Gangstörung. 

15. September. Die Ankündigung ihrer bevorstehenden Transferierung 
in die Versorgung ruft einen pathologischen Affektausbruch hervor, indem 
Patientin sich zur Erde wirft, die Haare rauft, um sich schlägt: sie nehme 
sich das Leben, bevor sie in die Versorgung gehe. 

30. September. Beschimpft in der gemeinsten Weise Genossinnen, Wär- 
terinnen, Arzte. Häufig aggressiv, haut in sinnloser Wut um sich, produziert 
fortwährend Wünsche, droht bei Nichterfüllung mit neuen Wutausbrüchen. 

8. Oktober. Bei Ankunft in der Irrenanstalt ruhig, etwas kindisch; 
schläft gut. 

Patientin gibt an, als Kind an Typhus und Diphtheritis gelitten, in der 
Schule gut gelernt zu haben. Die Schilderung ihrer Anfälle widerspricht sich 
unaufhörlich. Vorher schlafe sie schlecht, habe lebhafte Träume und phantasiere 
bei Nacht. Sie werde aufgeregt, soll dann tobsüchtig sein und schreien, ver- 
unreinige sich mit Urin (Inkontinenz). Außerdem erzählt die Kranke, daß sie 
von Kindheit an Schwindelanfälle habe, plötzlich umfalle und bewußtlos werde. 
Diese Anfälle seien in der letzten Zeit sehr häufig geworden, verlaufen ohne 
Verletzung und Krämpfe. — Sie lebe ganz für sich, habe keine Freundin, 
kein Verhältnis; kenne als Findelkind keine Angehörigen. 

13. Oktober. Lacht gern unmotiviert. 

18. Oktober. Wechselndes Verhalten. Patientin ist äußerst anspruchsvoll, 
eigensinnig, sofort gereizt, wenn ein Wunsch nicht erfüllt wird, droht mit 
Schlagen, Demolieren, Selbstmord. Sie rühmt sich, daß sie dem Personal viel 
Arbeit und Ungelegenheiten zu bereiten verstehe, verweigert einmal die Nahrung; 
sie wolle auch genährt werden. Zeitweise ruhig und mit Handarbeit be- 
schäftigt. Am 

11. November in die Irrenanstalt K. übersetzt, nimmt Patientin von den 
Wiener Wärterinnen außerordentlich tragisch Abschied, sucht sich durch lautes 
Schluchzen und jammernde Ausrufe bemerkbar zu machen. Mit erotischen, 
zugleich aber groben Äußerungen tritt sie an die neuen Personen heran, 
leitet das Gespräch sofort auf ihr Unterleibsleiden, droht dem Arzte mit Ohr- 
feigen, wenn er ihre Genitalien nicht untersuchen wolle. Sie spricht auch von 
Tobsuchtsanföllen, die sie infolge ihrer Geschlechtserkrankung bekommen habe, 
verlangt absolut, man solle ihr die Gebärmutter herausnehmen, weil sie sonst 
nicht gesund werden könne. 



j 



313 

18. November. Hängt sich immer an die Visite mit allen möglichen 
Wünschen, schimpft bei Verweigerung, verlangt stürmisch nach Arbeit. 

31. Jänner 1899. Gefügiger und lenksamer. 

22. März. Läppisch, etwas vorlaut; dabei aber harmlos, arbeitslustig. 

5. Mai. In die Versorgung abgegeben. Am 

31. Oktober wird sie an eine Bahre gegurtet, dem Beobachtungszimmer 
Überstellt. In zornig-trotzigem Affekte weint Patientin, wälzt sich hin und her, 
schlägt um sich, zerreiß I; was ihr in die Hände gerät, reagiert nicht auf 
Anrede, sucht sich jeder Fixierung gewaltsam und durch Beißen zu entwinden. 
Sie beruhigt sich aber bald, schläft ein, kommt am 

1. November um 6 Uhr früh auf, orientiert sich durch Fragen. Sie hat 
eine amnestische Lücke von gestern 7 Uhr abends, wo sie sich in einer Gasse 
des Vn. Bezirkes befand, bis heute früh. — Druckempfindlichkeit in der Tiefe 
des Hypochondriums, r. >> 1.; Gaumen- und Rachenreflexe stark herabgesetzt; 
Patellarsehnenreflexe gesteigert. — Am 18. August d. J. wurde Patientin von 
Professor W. wegen Adnextumor (Gonorrhöe) vaginal totalexstirpiert. Bis dahin 
niemals Menses. Seit der Operation in Intervallen von ungefähr 3 Wochen 
Angstgefühle; außerdem sei sie schlaflos, fühle Wallungen im Kopfe, Stechen 
in den Schläfen und in den Hypochondrien. Ihre AnfUlle, Zuckungen in den 
Händen mit Amnesie, in der Dauer von 1 bis ly^ Stunden erfolgen jetzt in 
unregelmäßigen Intervallen. Vor der Einbringung der erste größere Insult. 

10. November. Die leicht erregbare Kranke wünscht sich in eine bestimmte 
Irrenanstalt; für die Arbeit tauge sie nicht, sie gerate immer in Zorn, wenn 
ihr die Dienstgeberin einen Auftrag erteile; sie habe ihrer letzten Herrin das 
ganze Geschirr zerschlagen. Bittet um Änderung der Kost. Am 

20. November in die Irrenanstalt übersetzt. 

25. November. Korrekte Auskünfte in jeder Beziehung. Unmittelbare 
Ursache der Internierung sei ein tätliches Rencontre mit der Dienstgeberin 
gewesen. Stimmung labil; während der Untersuchung beginnt Patientin plötzlicli 
zu weinen. 

1. Jänner 1900. Meist kindisch eigensinnig, trotzig, dann wieder läppisch 
zutraulich; gelegentlich der Visite Erregungszustände. 

7. März. Beiderseits Ovarie; allgemeine Hypalgesie. Die Kranke gibt an, 
früher zeitweise traurig gewesen zu sein, über manische Verstimmungszuständc 
ist nichts zu erfahren. Seit 3 Tagen täglich Anfälle mit blindem Herumschlagen, 
Kratzen. Patientin fllhlt den Anfall nahen, dann kommt Schwindel, alles im 
Zimmer dreht sich, tanzt und sie verliert das Bewußtsein. 

7. April. Die letzten Wochen lebhaft, erotisch in Reden und Gebaren, 
außerordentlich w^echselnder Stimmung; urplötzlich heftige Zomaffekte mit un- 
flätigem S?>himpfen. — Häufig konvulsive Anfälle mit nachfolgender Verworren- 
heit und Amnesie. Während eines Anfalles konstatiert: lichtstarre Pupillen, 
Analgesie. 

9. Mai. In der Vorlesung erscheint die Patientin mit Blumen geschmückt 
und verteilt dieselben ; ihr übermütiges, oft beleidigendes Benehmen entschuldigt 
sie durch die Unmöglichkeit der Selbstbeherrschung. 

15. Juli. Andauernd labiler Stimmung, vorwiegend ausgelassen, oder in 
nicht versiegen wollenden Tränensti'ömen. Seit langer Zeit kein Anfall mehr. 

20. Juli. Ruhig, bescheiden, beschäftigt sich mit Handarbeit. 

So bleibt Patientin die Ferien über bis Anfang Oktober. Sie ist fügsam, 
nicht aufdringlich, spricht über ihr früiieres Verhalten mit Einsicht und wünscht 
Entlassung unter Hinweis auf die Besserung ihres Zustandes. 



314 

16. Oktober. Wegen einer harmlosen Äußerung heute sehr gereizt, ver- 
langt auf die Isolierabteilung, macht dem Arzte Vorwürfe, er wolle sie vergiften. 

18. Oktober. Wieder beruhigt, erzählt lächelnd, sie könne nichts dafür, 
wenn sie zeitweilig den „Verfolgungswahn" habe. 

22. Oktober. Zunehmend heiter, ungeniert, in Benehmen und Äußerungen 
herausfordernd erotisch, führt mit einer Maniaca unzüchtige Reden. 

1. November. Läuft laut schreiend und lachend stets nach einer Richtung 
im Kreise herum, ganz unzugänglich gegen Anreden; sie hat aus zerrissenem 
Papier eine Art Draperie erzeugt. Nähert man sich der Kranken, so stößt 
sie Drohungen aus. Bei der Nachmittagsvisite Status idem. Nachts 12 Uhr ist 
Patientin klar, amnestisch. 

2. November. Zeitlich desorientiert, erinnert sich nur an den vor- 
gestrigen Tag. Weiß, daß sie aufgeregt war, daß ihr schwarz vor den Augen 
wurde; sie behauptet, gestern keine Visite gehabt zu haben. Schlaf unter- 
brochen. 

12. November. Die Tage her manisches Verhalten; heute wieder Dämmer- 
zustand von gleichem Aussehen wie der am 1. November beschriebene. 

13. November. Abends äußerungslos, in der Zelle, duldet keinen Stroh- 
sack, kauert sich in einem Winkel nieder, reagiert nicht auf Fragen; die 
Nacht bringt sie schlaflos zu. 

14. Navember. Heute von unbändiger Heiterkeit, ohne sonderliche 
motorische Unruhe. Trotz eindringlichen Einredens ist keine Antwort zu er- 
zielen; die Kranke blickt wie verständnislos um sich, scheint die Arzte nicht 
zu erkennen; schreibt in diesem Zustand einen korrekten Brief. 

15. November. Vollständig klar, erinnert sich an kein Detail von gestern. 

16. November. Sinnloses Lachen, erkennt aber die Personen der Um- 
gebung. Vorlesung: Kommt in den Höi*saal mit aufgelöstem Haar, barfuß, 
einen Blumenstrauß in der Hand. Auf Fragen, die an sie gestellt werden, ant- 
wortet sie manchmal sofort, sonst lacht sie statt zu antworten in krampf- 
hafter Weise. Sie gibt an, schon drei Monate in der Zelle zu sein; bald 
darauf erzählt sie wieder, sie sei seit einem Monat in der Anstalt. Sie kann 
nicht den gegenwärtigen Monat angeben, bricht immer wieder in lautes Lachen aus. 

17. November. Übermütig, Erinnerung für die Vorlesung. 

18. November. Heute einige konvulsive Anfälle; bei der Nachmittags- 
visite sehr deprimiert, weint viel, ist amnestisch für die Anfalle. 

19. November. Heiter. 

20. November. Nachmittag wieder Ansnahmszustand, rennt ununter- 
brochen stets in einer Richtung im Kreise herum, lacht gellend, nimmt absolut 
keinen Anteil an ihrer Umgebung; nähert man sich der Kranken, so weicht 
sie ängstlich zurück. 

25. November. Vollständig klar, amnestisch sowohl für die Vorgänge des 
20. November, ebenso für die Vorlesung am 16. d. M. 

27. November. Seit drei Tagen auffallend still, spricht spontan nichts, 
in ihrer Kleidung geordnet, beschäftigt sich mit Handarbeiten. 

28. November. Unruhig. 

8. Dezember. Sehr aufgeregt, muß isoliert werden; verschlang einen 
Fingerhut. Nachmittags verwirrt, ganz unzugänglich, bringt nur in mussitierender 
Weise „hm hm'' vor, die Miene ist dabei lächelnd. Auf Nadelstiche reagiert 
Patientin nicht. Pupillen auffallend weit, Kornealreflex bedeutend herabgesetzt. 

9. Dezember. Bei der Vormittagsvisite Status idem. Nachmittags heiter, 
klar, amnestisch für die letzten acht Tage. 



315^ 

10. Dezember. Wieder Ausnahmszustand, Patientin lacht, stößt nur 
„hm hm" hervor. Einer Wärterin gegenüber äußert sie, daß sie zwei Wärterinnen 
umbringen wolle. Nachmittag klar, erinnerungslos. 

18. Dezember. Jetzt andauernd klar, von manischem Wesen, schlägt auf 
die Umgebung los. 

25. Dezember. Seit etwa einer Woche totale Aphonie (ohne laryngol. 
Befund), erklärt heute, sie fürchte, daß sich wieder ein Anfall einstellen werde, 
sie ahne desgleichen immer voraus an einer eigentümlichen inneren Unruhe; 
verlangt spontan auf die Isolierabteilung. 

26. Dezember. Der Anfall bleibt aus. 

17. Jänner 1901. Lärmt, läuft nackt herum. 

18. Jänner. Poltert an der Zellentüre, schreit, singt in polemisierender 
Weise, rennt in der Zelle im Kreise herum; nähert man sich ihr, dann lacht 
sie, gibt keine Antwort. Nachmittag klar, amnestisch, mit einer Erinnerung^- 
insel. Patientin weiß nichts von gestern 1 Uhr mittags ab, sie weiß aber, daß 
um 12 Uhr nachts Dr. R. die Inspektionsronde abhielt. 

19. Februar. Seit einigen Tagen ruhig, fleißig. 

7. April. Nachdem Patientin wochenlang auffallend still war, beginnt 
sie wieder zu reden, tollt mit anderen Kranken auf dem Gange umher. 

6. Mai. Vorlesung: Kommt in den Hörsaal mit aufgelöstem Ilaar und 
phantastischem Kopfschmuck, ganz ungeniert, bewegt sich nur in kräftigen 
Ausdrücken, lacht laut auf ohne Ursache. Im folgenden wechselndes Verhalten. 

19. Juni. Nach Erregung über ein vermeintlich ihr zugefügtes Unrecht 
wieder Ausnahmszustand. Patientin entkleidet sich, läuft unartikuliert schreiend,, 
lachend in der Zelle umher. 

20. Juni. Heute klar, gleichmäßiger Stimmung, Amnesie. 

21. Juni. Nachmittag wieder Ausnahmszustand; Patientin lacht, spuckt 
im nächsten Augenblick auf die Umgebung, wiederholt: ^Ich lasse mich nicht 
von der Wärterin beschimpfen." Analgesie. 

26. Juni. Hochgradiger Erregungszustand; die Kranke steht mit kon- 
gcstioniertem Gesicht im Gitterbett, rüttelt am Netz, spuckt auf die Umgebung^ 
schlägt los, schreit fortwährend „Schwindlerin, Schwindlerin, eine solche 
Schwindlerin, umbringen, auf den Galgen gehören sie, sie Schlampen sie, 
hinaus! Ich lasse mich nicht umbnngen", läßt andauernd nicht mit sich reden. 
Angriffe wehrt sie dabei ab, allein gelassen, wendet sie sich wie fixierend 
nach der einen Seite und schimpft dahin. Als sich der Arzt in die Blick- 
richtung stellt, schreit sie nach der andern Seite in gleicher Weise fort. 
Dies Spiel läßt sich wiederholen. Analgesie. Patientin erhält eine Apo- 
morphininjektion. Allmählich dämpft sich die Erregung, die Stimme wird 
leiser, SVg Minuten später tritt Erbrechen ein; die Kranke läßt alle Glieder 
schlaff auf die Unterlage sinken, antwortet auf Fragen nicht, gibt kein Zeichen 
des Verständnisses, schläft dann eine Stunde. Mittags Erbrechen, ohne Nahrungs- 
aufnahme. Nachmittag ein gleich deiiranter Zustand wie Vormittag. 

27. Juni. Klar, behauptet, sie erinnere sich an nichts, weder an ihre 
Aufregung, noch das Erbrechen; sie habe sich den ganzen Tag wohl gefühlt. 
Wie zufUllig kommt sie auf die Schwindlerin, die Wäi'terin F. zu sprechen; 
dieselbe stehe ihr nicht zu Gesicht, sie könne sie nicht leiden und sehe sie 
öfters vor sich. (Halluzination?) Bedankt sich fUr die Injektion, von der sie 
durch eine Wärterin erfahren habe; glaubt es sei Morphium gewesen. Tags- 
über ausgelassen heiter, zugleich reizbar. 

15. Juli. Die hysterische Charakterveränderung wird bei der Patientin 



316 

immer ausgesprochener. Sie bat Idiosynkrasie gegen bestimmte Personen; sie 
fiucht aber nach Motiven für dieselbe; so knüpft an oft mißverstandene Worte 
und Beobachtungen gegen einen der Ärzte ein Haß an, der zu den heftigsten 
Ausschreitungen nur gegen diesen Arzt ftlhrt, worauf nach Verlauf einiger 
Zeit eine rührende Versöhnung erfolgt. Diese sprunghaft wechselnde Zu- und 
Abneigung ist von der psychomotorischen Erregung ganz unabhängig. Hin- 
gegen gelingt e^ letztere zu beeinflussen, sowie man sich der Kranken etwas 
eingehender widmet. Dies geschah nun aus diagnostischen Gründon. In wieder- 
holten Sitzungen habe ich die Patientin über ihre Vorgeschichte ausgefragt und 
daranschließend ihr ein therapeutisches Verfahren in Aussicht gestellt. 

Die anamnestischen Angaben^ die man so erhält, sind nicht ganz frei 
von Widersprüchen; namentlich stößt die zeitliche Lokalisation auf schier 
unüberwindliche Schwierigkeiten. Inhaltlich wird aber noch manches bisher Un- 
bekannte produziert. Von ihrem 7. bis 11. Lebensjahre war Patientin im 
Kloster der Jesu-Schwestern in J. Sie stand wegen Schwäche in ärztlicher 
Behandlung, eine Schwester sollte öfters mit ihr in den Wald gehen. Ge- 
legentlich so eines Abendspazierganges hätten sie ein oder mehrere Männer von 
rückwärts überfallen, sie wurde nach hinten umgerissen, verlor das Bewußtsein, 
erwachte erst nach einer Weile wieder. Die Schwester verbot ihr, irgend 
jemand davon etwas zu sagen. Zu Hause fühlte sie Schmerzen im Genitale, 
sah Blut; verstand aber erst später, daß sie genotzüchtigt worden sei. Darauf 
folgten Weinanfälle; einige Monate nachher zerbrach sie im Garten sämtliche 
Rosenstöcke, ohne jede Veranlassung und kam darum zum ersten Male in 
psychiatrische Behandlung. 

Im Alter von zwölf Jahren sprang sie in einem Anfall von einem 
Fenster des ersten Stockes herunter, nachdem sie geschrien hatte, sie wolle 
sich das Leben nehmen. (Es ist das jener Fall von der Leiter, den die 
Krankengeschichte erzählt.) Auch mit 13 Jahren eine ausgesprochene Psychose. 
Sie war damals unglücklich verliebt, hatte einen jungen Mann sehr gern. Sie 
hörte auf zu essen, sich zu waschen, zu kämmen; eines Tages begann sie zu 
streiten, lief herum, betete viel, sprach dann wieder, daß sie sich das Leben 
nehmen, verhungern wolle; sie bildete sich ein, sie dürfe nichts mehr essen, 
weil das Essen vergiftet sei; die Leute behandelten sie schlecht. Patientin 
schlug das ganze Geschirr des Hauses zusammen, ohne etwas davon zu wissen, 
legte sich ins Getreide, wurde erst nach Stünden gefunden und wieder nach 
Hause gebracht. 

Bei jenem Stuprum wurde sie mit Gonorrhöe infiziert; sonst will sie es 
nie mit einem Manne zu tun gehabt haben; sie sei gegen Männer unempfindlich. 
Wenn sie einer ansprach, wurde sie höchstens grob. Zur gynäkologischen 
Operation ging sie lachend, sie wollte damals sterben. Schon am nächsten 
Tage phantasierte sie, schrie und schlug um sich. Ihre Krankheitserscheinungen 
führt sie auf äußere Anlässe zurück; vermag tatsächlich eine Reihe von Auf- 
regungszuständen zu motivieren. Am 

29. Juli wird Patientin das erstemal hypnotisiert. Sie setzt sich in einen 
Lehnstuhl; aufgefordert, die Uhr anzublicken, schläft sie in der kürzesten 
Frist ein. Sie erhält den Befehl, in einer Viertelstunde aufzuwachen; tut das 
aber nichts sondern muß durch Schütteln und Verbalsuggestion erweckt werden. 
Hinterher ganz still, verstimmt; befolgt nur zögernd einen Auftrag, der ihr 
während der Hypnose gegeben wurde; klagt über Kopfschmerzen. Abends 
ganz munter. 

2. August. Zweite Hypnose. Verlangt abseits geführt zu werden, damit 



317 

nicht alle Kranken zusehen. Dieser Wunsch wird nicht erfüllt. Als der 
Arzt sich ihr gegenüber setzt nnd sie anblickt; beginnt sie immer wieder zu 
lachen nnd hebt die Hand vor die Augen. Man sieht, wie sie krampfhafte 
Versuche macht, ernst zu bleiben, was ihr erst nach einer Weile gelingt. 
Sie hält dann den Blick des Arztes ruhig aus, bis sie einschläft. Katalepsie. 
Ein Wechselgespräch ist unmöglich. Patientin bewegt wohl die Lippen, bringt 
aber keinen Laut heraus. 

4. August. Wiederum Hypnose; diesmal murmelt die Kranke schon. 
Therapeutische Suggestion. 

6. August. Patientin ist dem Arzte sehr anhänglich. 

7. August und 9. August. Die zwei letzten Hypnosen. Die Kranke hat 
beim Einschlafen gelegentlich noch mit dem Lachen zu kämpfen. Es wird die 
Suggestion erteilt, im Wachexamen sich an alles zu erinnern und alles mitzu- 
teilen. Patientin kann aber keinerlei weitere Aufschlüsse geben. Sie wiederholt 
die obigen Daten in gleicher Weise, so daß bis auf geringfügige zeitliche Dif- 
ferenzen alles stimmt. 

23. August. Sitzt abseits von den Übrigen, spricht wenig, kommt 
gelegentlich, sich über irgendeinen ganz bedeutungslosen Vorgang zu ent- 
schuldigen. 

30. Dezember. Die Kranke, welche die ganze Zeit still über ihrer Arbeit 
safi, beginnt verschiedenerlei Wünsche zu äußern: Die Stimmung leicht heiter, 
dabei Neigung zum Querulieren. 

1. Jänner 1902. Da der Patientin die freien Ausgänge abgeschlagen 
werden^ droht sie, sie werde sich auf eine andere Abteilung transferieren 
lassen. Als dies keinen Eindruck macht, läßt sie durch eine Kollegin eine 
Beschwerde verfassen, daß sie hier widerrechtlich ihrer Freiheit beraubt werde. 

4. Jänner. Etwas quenilierend. Ausgang mit Pflegerin, wobei sie sehr 
schüchtern auftritt. 

5. Jänner. Leicht deprimiert, fühlt sich unwohl, verlangt ins Bett. 

6. Jänner. Ruhig über ihrer Arbeit. 

15. Jänner. Ernste Miene; Patientin angesprochen reizbar, beschwert 
sich über die Behandlung. 

29. Jänner. Arbeitet, ruhig. 

5. Februar. Sehr laut, verlangt unter Drohungen auf eine andere 
Abteilung. 

6. Februar. Wieder ruhig, bittet den Arzt um Entschuldigung wegen 
ihres gestrigen Benehmens. 

22. Februar. Will einen Ausgang, um sich eine Stelle zu suchen, oder 
wenigstens auf die andere Abteilung. 

Da dieser Wunsch erfüllt wird, verliere ich die Patientin für einige 
Zeit aus den Augen. Seit der psychischen Behandlung ist das Wesen der 
Kranken auffallend geändert. Früher das Kreuz der Abteilung oder vielmehr 
sämtlicher Abteilungen, war sie jetzt stets leicht traitabel. Es sei hier schon 
konstatiert, daß ihr Benehmen früher (von einigen ruhigeren Monaten ab- 
gesehen) am besten als ungezogen charakterisiert werden kann. In buntem 
Stimmungswechsel ging sie, wie sie auch einmal selbst gestand, nur darauf 
aus, Ärzten und Wärterinnen das Leben möglichst sauer zu machen. Dabei 
unterschied sie die einzelnen Personen sehr genau und war von äußeren Um- 
ständen stets abhängig. Als besonders auffällig wurde es sogar vom Personal 
vermerkt, daß die ausgelassenste Manie sofort verschwand, wenn Patientin die 
Anstalt verließ. Wenn sie gelegentlich einen scheinbar unmöglichen Ausgang 



S18 

bewilligt erhielt^ so war sie dann auf der Straße ganz still und scheu, fast 
verstimmt. Von sympathischen Persönlichkeiten lieO sie sich übrigens Be- 
schränkungen gefallen. 

15. März. Lenksam, manchmal übermütig; neckt ihre Genossinnen in 
kindischer Weise. 

25. April. Arbeitet fleißig, halbwegs verträgliph, äußert mancherlei 
Wünsche, läßt sich aber leicht davon abbringen. Sie sieht das Ungehörige 
ihres früheren Benehmens ein und bezeichnet dasselbe als krankhaft. 

16. Mai. Setzt hie und da einen oder zwei Tage von der Arbeit aus, 
wenn sie sich durch irgendeine Kleinigkeit beleidigt fühlt. 

4. Juli. Bittet wiederholt um ihre Entlassung, sie wolle sich einen 
Posten als Dienstmädchen suchen. 

Stimmujig ziemlich gleichmäßig, ruhig. 

Die Kranke wird am 

9. Juli 1902 als geheilt (mit Defekt) entlassen. 

Wie sich nachträglich herausstellt, hatte die Patientin einigen Degenerierten 
gegenüber Konfidenzen gemacht, das Eingesperrtsein sei ihr schon fad; sie 
wolle sich ein Buch nehmen und als Prostituierte ihr Glück versuchen. Es 
ist nachgewiesen, daß sie auf den Strich ging, doch scheint der erwartete 
materielle Erfolg ausgeblieben zu sein; denn bald erschien Patientin wieder 
in der Irrenanstalt, zunächst bei den befreundeten Wärterinnen und Kranken 
-als Besuch, dann sprach sie bei mir vor. Sie betrat in außerordentlicher 
Schüchternheit das Zimmer, blieb wie gehemmt in der Nähe des Einganges 
stehen, erzählte, daß es ihr schlecht ginge. Sie sei so aufgeregt und bitte 
um ärztliche Hilfe. Bei einem zweiten Besuche war sie gar nicht aus dem 
Raum zu bringen; sie sprach fast nichts, starrte nur immer vor sich hin. 
^ie wandte sich dann auch an den Direktor um Wiederaufnahme, wurde ans 
Polizeikommissariat gewiesen. Am 

21. August erschien sie daselbst in Begleitung ihrer „Cousine^ und gab 
an, daß sie seit einer Woche fast täglich OhnmachtsanfUlle habe. Im Anschlüsse 
4aran raufe sie sich die Haare aus. Sie sei zeitweilig traurig, dann wieder 
lustig, empfinde Angst, ohne sagen zu können warum; gelegentlich habe sie 
die Empfindung, man wolle sie umbringen und traue sich nicht allein zu bleiben. 
Sie habe keine Freude am Leben; es hätten sich ihr schon Selbstmordideen auf- 
gedrängt. Am 

22. August bei der Visite geht Patientin in Konversation ein, lacht 
viel, macht hie und da gezierte Gebärden und Bemerkungen. Sie bezeichnet 
ihre Krankheit als Hysterie, erzählt von der Totalexstirpation, die Prof. W. 
an ihr gemacht habe. Seither habe sie sich geistig gesund gefühlt bis vor 
kurzer Zeit, als sie in einem Park auf der Bank sitzend einen Ohnmachts- 
anfall bekommen habe; Analoge Anfälle wiederholten sich siebenmal. Sie ging 
dann an die Ambulanz, um sich aufnehmen zu lassen; auf der Polizei, wohin 
sie geschickt wurde, sei sie ebenfalls ohnmächtig geworden und habe erst im 
Spital wieder von sich gewußt. Sie zeigt Krankheitseinsicht, äußert, sie glaube 
hier geheilt zu werden; wenn sie acht Tage hier wäre, würden sich ihre Nerven 
beruhigen. — Druckpunkte am Hinterhaupt; Rachenreflex beiderseits fehlend. 

Am selben Tage schreibt Patientin folgenden Brief: 

„Hochgeehrter Herr Assistent! 

Über ihr ürtheil bin ich ganz erstaunt aber es kann sich doch vielleicht 
ändern, das ich krank bin und das einsehen habe das ist doch kein schlechtes 
Zeichen, denn ein jeder sehr stark Geistes Kranker hatt nie einsehen, den 



319 

das war bei mir derselbe Fall vor 3 und 4 Jahren wo ich imer auch gedacht 
das mir unrecht geschieht. Heute glaube ich es natürlich nicht mehr. Was 
wird mit mir eigentlich geschehn in keine N. Ö. Landes Irren Anstalt brauche 
ich nicht Interniert werden den so gefährlich ist es diesmal nichts den ich 
glaube in 8 Tagen wird sich wieder meine ganzen Nervosität ändern^ den 
wen ich zu hause mich pflegen hätte könen so wäre es nicht nöthig gewesen 
Spitalpflegung bedilrftigt zu sein. Ich hätte vielmals die bitte an Sie mich 
nicht in die N. Ö. Landes Irren Anstalt Internieren, dürfte ich bitten um 
etwas anderes zu Essen wenn es Ihnen möglich ist wenn es nicht sein kann 
gebe ich mich mit dem zufrieden was mir vorgeschrieben ist. Ich bitte mir 
wenigsten einen Wunsch von diese zu erfüllen um mich nicht in die N. Ö. 
Landes Irren Anstalt Internieren. Endtschuldigen die belästigen meines schreiben. 
Mit besonderer Hochachtung 

Ihre dankbare Patientin ,, , . „ ^ 

Valerie E. 

Am 27. August wird sie in die Irrenanstalt übersetzt. Sie kommt in 
heiterer Stimmung an, ist kla% orientiert. Sie spricht viel, lacht, macht Witze. 

10. September. Patientin ist andauernd heiter, krankheitseinsichtig, leicht 
reizbar; über Tag beschäftigt sie sich mit Handarbeiten."^) 

Im Laufe des Oktober auffallend ruhig, vielleicht eher ein wenig 
deprimiert, erst in den letzten Tagen des Monats neuerliches Aufflackern der 
Erregung, und zwar mehr von Charakter der zornmütigen Verstimmung. 

5. November. Gestern Abend so erregt, daß sie ins Gitterbett gelegt 
werden mußte. 

6. November. Sehr deprimiert, sie habe zwei Schornsteinfeger gesehen, 
einer davon sei der Dr. S. Sie sei sehr ängstlich, weil dieser in ver- 
schiedenen Verkleidungen erscheine, in Uniform u. dgl. 

Nachmittag konvulsive Heiterkeit, Patientin geht fortwährend im Kreise 
in der Zelle herum, unfixierbar, erzählt, Dr. S. werde ins Kriminal kommen. 

7. November. Status idem; analgetisch. 

8. November. Rennt ratlos auf und ab, reagiert nicht, sagt immer nur: 
^Mein Gott, ich habe ja nichts zu essen." 

9. November. Heute klar, total amnestisch, leicht gereizter Stimmung; 
es besteht noch allgemeine Hypalgesie. 

Nachmittag. Vollständig klar, Sensibilität intakt. Amnesie bis zum 4. 
(also retrograd um zwei Tage). 

13. November. Heute wieder Ausnahmszustand, kichert vor sich hin, 
spricht kein Wort, total analgetisch. 

14. November. Früh am Korridor, zerzupft eine Zeitung. — Sie ist 
^nirgends", weiß nicht wo. Kennt weder den Arzt („wie der mich nur an- 
schaut !^, weint plötzlich) noch die Traktwärterin (küßt ihr die Hand), noch 
den Oberwärter, rennt mit verzweifelter Gebärde davon. 

16. November. Klar, etwas erregt, vollkommen amnestisch; sie wisse 
nicht, was man von ihr wolle, sie sei ja gar nie verwirrt gewesen, ist über 
das Datum vollkommen orientiert. 

28. November. Seit gestern Depression. Ruhig, verstimmt, bisweilen 
abweisend, meistens aber sehr bescheiden, zurückhaltend, wortkarg, brütet 
dahin, ist sogar durch eine unangenehme Mitpatientin nicht geniert. 

Wird in eine andere Irrenanstalt übersetzt. 



♦) Das folgende nach einer Krankengeschichte der psych. Klinik in der nieder- 
österreichischen Landesirrenanstalt. 



320 

Eine in Form von rudimentären Anfällen bis in die Kindheit zurück- 
reichende Hysterie. Wenn man der Patientin glauben dürfte, so wäre diese 
nach einem Notzuchtsattentate als Geistesstörung manifest geworden. Dieses 
Erlebnis spielt aber in den Äußerungen ihrer Krankheit, auch in Delirien und 
Dämmerzuständen gar keine Rolle; ich halle dasselbe für eine Erfindung, nur 
die Gonorrhöe ist real. 

Bei ihrer ersten Aufnahme in Wien kann man nichts anderes diagnostizieren 
als Hysterie. Man sieht einen schweren affektiven Anfall vor sich mit Amnesie, 
Lügen, Lähmungen und Anästhesien.. Strittig könnte nur die Frage sein, ob 
man neben der Hysterie auch noch Manie diagnostizieren muß. Es ist ein 
launisches, widerspruchsvolles, im höchsten Grade ungezogenes Benehmen, das 
allerdings durch einen gewissen Bewegungsdrang beherrscht wird. Ganz die- 
selben Zustandsbilder kann man, wenn auch kürzer dauernd, bei Hysterischen 
leicht beobachten. Zumal es sich da um ein überaus jugendliches Individuum 
handelt, scheint mit der zweiten Diagnose nicht viel gewonnen. Die Patientin 
ist unproduktiv und der schwere Affektausbruch, der psychisch durch die be- 
vorstehende Abgabe in die Versorgung geweekt%wird, geht weit über Manie 
hinaus. 

Die Kranke scheint ruhiger. Daß sie sich in dieser Zeit wegen ihrer 
Gonorrhöe operieren läßt, deutet auf Initiative und nicht auf Depression. 
Patientin selbst erklärt in bestimmtester Weise, daß sie von der Genital- 
erkrankung her ihre Anfälle habe, verlangt die Operation. Dieselbe w^ird voll- 
zogen und mit welchem Erfolge! Gerade^su unmittelbar an die Totalexstirpation 
anschließend flammt die Hysterie neuerlich auf und wie lange vor der Pubertät 
rein periodische Anfälle vorlagen, kehren dieselben jetzt ebenso genau in 
vierwöchentlichem Typus wieder, obzwar die ganzen inneren Genitalien fehlen. 
Ich habe den Kasus darum in meiner Arbeit ,,Zur Frage der kausalen Be- 
ziehungen zwischen Frauenleiden und Geisteskrankheiten^^ als sehr belehrend 
herangezogen. 

In einem klassisch deliranten Anfall mit pachfolgender Amnesie kommt 
Patientin neuerlich zur Aufnahme. Kleine hysterische Anfalle begleiten die 
psychische Labilität, nur während der Ferialmonate wird Patientin geordneter, 
ruhiger, krankheitseinsichtig. Sie wünscht ihre Entlassung unter ausdrücklichem 
Hinweis auf die Besserung ihres Zustandes, mit einer ganz auffallenden Kritik 
ihrer Manie gegenüber, wie man sie sonst bei Manischen nicht zu finden 
gewohnt ist; diese drängen während der Manie hinaus, fügen sich aber dann, 
wenn sie ruhig geworden sind. 

Mitte Oktober 1900 wird die Kranke wieder lebhaft. Das Bild ist 
diesmal durch hysterische Dämmerzustände von langer Dauer mit nachfolgender 
Amnesie kompliziert, die außerordentlich schwer vom Intervall abzugrenzen 
sind. Patientin verhält sich im wesentlichen gleich lebhaft. Es unterscheidet 
sie nur die unterbrochene Kontinuität des Bewußtseins. Die unaufhörlichen 
Stimmungsschwankungen machen im Februar 1901 für zirka sechs Wochen einer 
gewissen Beruhigung Platz. Die hysterischen Einzelpsychosen werden immer 
deutlicher, am 26. Juni 1901 ist ein schweres Delirium verzeichnet wie bei 
Beobachtung IX. Eine psychische Behandlung beeinflußt die Ungezogenheit 
der Patientin ganz auffallend. Ob post hoc oder propter hoc bleibe in suspenso, 
da die Kranke ja schon zwei ruhigere Perioden hatte, und da mit dem Jahre 
1902 neuerlich eine gesteigerte psychische Labilität anhebt. 

In der regellosen Mischung der entgegengesetztesten Affekte leuchtet 
nicht immer eine erhöhte Beweglichkeit hervor. Sicher ist, daß die jetzige 



321 

Manie, wenn man sie so nennen will, sich in bescheidenen Grenzen hält; mit 
den früheren Aufre^ngsznständen gar nicht zu vergleichen war. Wie geordnet 
die Patientin sich auf ihren Ausgängen benahm, ist schon in der Kranken- 
geschichte hervorgehoben. Jetzt und früher Heß sich wiederholt beobachten, 
daß die in lautem Hallo begriffene Patientin, des Arztes ansichtig, plötzlich 
verstummt, ganz still und scheu zur Seite blickt, um erst nach seiner Entfernung 
wieder loszugehen. 

Nun geschieht aber etwas ganz Bezeichnendes: eine merkwürdig lange, 
überhaupt die lüngste Beruhigung. Man könnte an die Depression des zirku- 
lären Irreseins denken. Tatsächlich wird diese Ruhe aber nach ganz über- 
einstimmenden Zeugenaussagen dadurch festgehalten, daß die Patientin unter 
dem Einfluß einer Vorstellung, nennen wir es einer Suggestion, steht. Sie hat 
einige Prostituierte kennen gelernt, welche von ihrem schönen Leben in der 
Freiheit erzählten; es sind auch Bemerkungen über Seidenhemden etc. gefallen. 
Patientin bekommt Lust, es mit dieser Tätigkeit zu versuchen, sie benimmt 
sich durch Monate so tadellos, daß man ihr den Wunsch nach Entlassung 
nicht mehr abschlägt. Eine Frauensperson, welche sich für den Beruf einer 
Dirne vorbereitet, kann wohl nicht gut als Melancholie aufgefaßt werden. 

Ihre Hoffnungen werden enttäuscht. In welcher Weise sie sich ganz be- 
wußt, mit merkwürdigem Raffinement in die Irrenanstalt wieder hineinarbeitet, 
das ist geradezu schreiend für Hysterie. Konvulsive Anfälle, die seit sehr 
langer Zeit sistiert, die an der Klinik v. Wagner überhaupt nie beobachtet 
werden konnten, beginnen wieder und häufen sich. Patientin sucht die Am- 
bulanz im Krankenhause auf, wird aber weggeschickt. Sie besucht ihre Be- 
kannten in der Irrenanstalt, erscheint schwer gehemmt, bittet den Direktor 
um Aufnahme. Auch dieser weist sie ab. Nun muß sie mit einem stärkeren 
Pressionsmittel kommen. Sie läßt sich aufs Kommissariat fuhren und äußert 
Lebensüberdruß. 

Geradezu komisch ist es, wenn sie dringend bittet, man möge sie 
vom Beobachtungszimmer aus nicht in die Irrenanstalt schicken, während das 
doch ihr sehnlichster Wunsch ist. Am Ziele angelangt, weicht ihre Depression 
sofort der altgewohnten Heiterkeit ihres Wesens. Sie lügt allerlei zusammen, 
verschweigt wohlüberlegt alles, was sie kompromittieren könnte. Die rasch 
wechselnden Zustandsbilder lassen wieder nur Hysterie erkennen. Es dürfte 
für die Diagnose „zirkuläres Irresein*^ tatsäciilich wenig erübrigen. 

Man unterscheidet also einerseits Fälle von Hysterie, andererseits 
Fälle von zirkulärem Irresein, die mit Hysterie gar nichts zu tun haben, 
trotz äußerlicher Ähnlichkeiten, vereinzelter, anscheinend gleicher Sym- 
ptome. Es wurde schon erwähnt, daß das Vorkommen einer Kombination 
nicht in Abrede gestellt werden soll, wenngleich ich mich keines be- 
weisenden Kasus entsinne. Vielleicht wird sich tatsächlich immer, wenn 
auch erst nach jahrelanger Beobachtung, die Entscheidung treffen lassen, 
ob es sich nur um hysteriforme Erscheinungen bei zirknlärem Irresein 
oder um eine Hysterie handelt, deren Stimmungsschwankungen eine 
gewisse Kegelmäßigkeit vortäuschen. 

Klarer liegt die Sache bei den vielerlei Formen des degenerativen 
Irreseins. Die Entarteten, die D^sequilibr^s bieten zum Teile schwer faß- 
bare, eigenartige Psychosen, anderenteils aber Krankheitstypen, die man 

Kai mann, Die hjsterisehen Geistesstömnsen. 21 



322 

genau keimt, abgrenzt und systemisiert. Die Hysterie ist so eine Form 
degenerativen Irreseins, und es scheint gerechtfertigt, alle psychischen 
Störungen, welche den Gesetzen der Hysterie folgen, die Grundelemente, 
welche man aus klassischen Fällen von Hysterie zu abstrahieren imstande 
ist, erkennen lassen — alle diese Störungen unter den BegriflF Hysterie 
selbst einzureihen. Mit den anderen Formen degenerativen Irreseins sind 
es Schwestern, die dem Mutterboden einer und derselben Veranlagung 
entspringen. Diese Zustände gehen durch pathologische Steigerung aus 
Vorgängen hervor, welche rudimentär schon im normalen Seelenleben 
schlummern; soweit es einfache Defekte sind, repräsentieren sie einen 
partiellen Stillstand auf früherer Entwicklungsstufe. 

Jeder Mensch z. B. hat im Laufe seines Lebens einmal eine Zwangs- 
vorstellung, die seine Kritik natürlich sofort unterdrückt. Eine Zwangs- 
vorstellung ist übrigens noch kein Irresein in Zwangsvorstellungen; es 
dürfte ein vergebliches Beginnen sein, mit dem Hinweis auf das normale 
Vorkommen der Einzelerscheinung die degenerative Grundlage der Psy- 
chose in Zwangsvorstellungen bestreiten zu wollen. Hauptsächlich ist es 
die mangelhafte Korrektur, die Kritikschwäche, welche bei Degenerierten 
Gedanken und Impulse so mächtig werden läßt. Die Hysterischen müssen 
ihrer Anlage zufolge derartigen Elementarstörungen ebenfalls unterliegen. 
Man findet tatsächlich Zwangsvorstellungen bei Hysterischen sehr häufig, 
gelegentlich sogar im Vordergrunde; man trifft sexuelle Perversitäten in 
zahlreichen Fällen an; ebenso kommen auch die verschiedensten krank- 
haften Triebe zur Beobachtung. Insofern es sich hier nur um vorüber- 
gehende Bereicherungen des hysterischen Grundcharakters handelt, genügt 
es, Hysterie zu diagnostizieren und die Einzelsymptome degenerativen 
Irreseins als symptomatologische Beigabe zu betrachten, so wie es auch 
möglich ist, daß nur Rudimente von Hysterie ein Entartungsirresein be- 
leben. Im einzelnen gibt es natürlich eine Menge differential-diagnostischer 
Probleme. 

Kraepelin trennt in der neuesten Auflage seines Lehrbuches vom 
hysterischen Irresein die Schreck- und Erwartungsneurose ab. Erstere als 
traumatische Neurose oder traumatische Hysterie bekannt, ist wohl 
nur eine Spielart der Hysterie, durch ihr Attribut charakterisiert, aber 
sonst nicht weiter zu unterscheiden. Sie entsteht nämlich psychogen, nicht 
bei allen Menschen sondern nur bei Veranlagten, sie umfaßt psychische 
und körperliche Symptome; man findet neben Übertreibung und Simulation 
Stigmen, vasomotorische Störungen, Gesichtsfeldeinschränkung, Herab- 
setzung der Leistungsfähigkeit etc. Die geringfügigen Differenzen in der 
Symptomatologie, die Monotonie des Verlaufes, die Hartnäckigkeit der 
Krankheitsvorstellungen erklärt sich leicht durch die besondere Ätiologie. 
Die traumatische Hysterie betrifft vielfach Männer, sie knüpft zu aller- 
meist an ein physisches Trauma, das den Eigensuggestionen eine ganz 



323 

bestimmte, einseitige Richtung gibt; fixiert werden dieselben durch den 
erbitterten Kampf, welchen der Kranke um sein materielles Wohl ftlhrt. 
Wohl jedem sind Fälle bekannt, die lehren, wie r&sch die Störungen 
auch nach schweren Traumen verschwinden, wie unheilbar aber eine 
Hysterie ist, die bei demselben Individuum nach geringfügigem Anlasse 
ausgebrochen ist, wenn sie nur zu Ersatzansprüchen berechtigt. 

Ebensowenig dürften wesentliche Unterschiede zwischen Hysterie 
und Erwartungsneurose aufzufinden sein. Die mono-symptomatische Um- 
grenzung, die Monotonie des Krankheitsverlaufes, die rasche Heilbarkeit 
durch Hypnose, das Ausbleiben von Bückfällen scheint nur zu beweisen, 
daß es sich um sehr leichte Fälle von Hysterie respektive psychogener 
Störungen handle; anderenteils wären neurasthenische Phobien, hypo- 
chondrische Zustände von der vorliegenden neu aufgestellten Krankheits- 
gruppe zu differenzieren. 

Bei Hysterischen wie bei Degenerierten werden impulsive Handlungen 
beobachtet. Es kann gefragt werden, ob eine solche, z. B. eine wiederholte 
Brandstiftung im hysterischen Dämmerzustande ausgeführt wnrde oder 
als Triebhandlung der Pyromanie zuzuweisen ist Als unterscheidend 
würde hervorzuheben sein, daß krankhafte Antriebe andauernd und in 
gleicher Weise bei einem und demselben Individuum sich äußern, bei 
Frauen zur Zeit der Menses gesteigert sind, aber immer spezifiziert 
bleiben; während die hysterischen Unternehmungen wechseln, dem 
jeweiligen Yorstellungsinhalte folgen, sich motivieren und abändern 
lassen. Die Hysterica steckt ein Haus und ein zweites Haus in Brand 
aus Bache; sie stiehlt aus Gelegenheit; Zeit, Ort und Umgebung beein- 
flussen sie ganz auffällig. 

Wenn bei einer Degenerierten menstruell ein manisches Zustands- 
bild auftaucht, das zwar lebhaften Bapport mit der Umgebung verrät, 
das sich aber mit photographischer Treue während der Intemierung ohne 
jede äußere Ursache wiederholt, so muß es als eine endogene respektive 
periodische Störung betrachtet werden. Jugendliche D6sequilibr^s gehen 
nächtlicherweile spazieren, sind hinterher amnestisch; man kann hyste- 
rischen Somnambulismus ausschließen, wenn bei Tage jedes Anzeichen 
von Hysterie fehlt, die Individuen außer ihren Defekten sonst nichts 
Krankhaftes erkennen lassen. Ebenso gibt es Entartete, welche ausreißen 
wie die poriomanen Hysterischen. Da liegt ein Unterschied im Bewußtseins- 
zustand. Die Degenerierten können ihre Beisen, ihre Handlungen zwar 
auch nicht motivieren außer mit einem unwiderstehlichen Zwange, aber 
sie wissen von allen einzelnen Stationen, haben sich auch ilir die Reise 
ordentlich vorbereitet, eventuell durch Diebstahl. 

Bei einer kleinen Gruppe Entarteter treten transitorische Psychosen 
auf vom Charakter der Dämmerzustände mit logischer Wahnbildung. Auf 
traumhafter Bewußtseinsstufe ändert sich das Persönlichkeitsgefühl, Größen- 

21* 



324 

ideen werden in Rapport gebracht mit der Umgebung, hartnäckig verteidigt; 
hinterher Amnesie. Derartige sowie ekstatisch-visionäre Zustände wechseln 
miteinander ab, durchbrechen eventuell eine chronische Wahnbildung. 
Trifft man gleichzeitig hysterische Stigmata, dann liegt es außerordentlich 
nahe, an Hysterie zu denken; ja es scheint fast unmöglich, diese auszu- 
schließen, solange man nicht über eine längere Beobachtung verfügt und 
aus einem progredienten Verlaufe, eventuell nach Erreichung eines Dauer- 
zustandes, die Entscheidung fällt. Möglicherweise sind einige Angaben 
von Übergang einer Hysterie in Paranoia auf derartige Erfahrungen 
zurückzuführen und tatsächlich besteht eine hysterische Färbung der 
degenerativen Psychose. 

Genauer bekannt sind kurzdauernde delirante Aufregungszustände, 
gleichfalls mit nachfolgender Amnesie, der sogenannte Zuchthausknall. 
Derselbe hat mit Hysterie nichts zu tun, wenn er bei einer nicht hyste- 
rischen Persönlichkeit auftritt. Symptomatologisch völlig gleiche Zustands- 
bilder bietet aber auch Beobachtung XXVH als akute hysterische Geistes- 
störung; hier muß individualisierend entschieden werden. 

Gelegentlich findet man Züge von Hysterie und verschiedenen 
anderen Formen degenerativen Irreseins durcheinander und es bleibt 
dem subjektiven Ermessen überlassen, welche Diagnose man hervor- 
heben will. Hier kommen nicht zwei fremdartige klinische Erankheits- 
bilder übereinander, wie man das unter dem Worte Kombination sucht, 
sondern die Degeneration äußert sich in vielfacher Gestalt. 

Noch weniger kann man von Kombination sprechen, wenn die 
Hysterie auf dem Boden des Schwachsinnes steht; man müßte sonst 
alle Psychosen, wenn sie bei Imbezillen auftreten, als mit Schwach- 
sinn kombiniert hinstellen. Die individuelle Leistungsfähigkeit des 
Zentralnervensystems ist die Grundlage der Persönlichkeit Auf dieser 
Grundlage vermag erst irgendeine Psychose zu erwachsen, die beim Kind, 
bei der Frau, beim Schwachsinnigen natürlich anders aussieht als beim 
voll entwickelten Manne; es sei nur an die charakteristischen Züge der 
schwachsinnigen Melancholie, der schwachsinnigen Paranoia erinnert. 
In gleicher Weise gibt es eine schwachsinnige Hysterie. Viel häufiger 
und praktisch vrichtiger ist der Schwachsinn in Form ethischer Defekte. 
Die psychischen Störungen desselben sind recht einförmig, gewinnen erst 
Witz und Initiative, wenn Hysterie, dieser empirisch-klinische Begriff 
hinzutritt und das Zustandsbild belebt. Hysterie und moralischer Schwach- 
sinn sind aufeinander angewiesen, stützen sich gegenseitig; die Hysterie 
gewinnt wieder einen Zweck, indem sie Schutz bietet davor, daß die 
Individuen ihre antisozialen Handlungen zu verantworten brauchten; 
sie können ihren Egoismus frei ausleben lassen, als Kranke sind sie vor 
Bepressalien geschützt, haben Anspruch auf Bedauern und Nachgiebigkeit. 
Ist endlich die Höhe des Lebens überschritten, sucht das Individuum 



325 

eine bequeme Versorgung, dann öffnen hysterische Erscheinungen die 
Pforten einer Wohlfahrtsanstalt. 

Insofern alle Degenerierten und Schwachsinnigen gar nicht selten, 
als Ausdruck ihrer krankhaften Hirnorganisation epileptoide Züge, petit mal 
Anfälle haben, pathologische Bäusche sich antrinken, ergibt sich eine 
schwierig zu analysierende Mischung im Gesamtbilde, wo man sagen 
muß: a potiori tit denominatio. Man wird auch ohne weitergehende Diffe- 
renzierung das Zustandsbild in seiner Gänze richtig werten; nur das 
wissenschaftliche Interesse kann zwischen den einzelnen Komponenten 
möglichst genau unterscheiden wollen. Mit der Wiedergabe so eines kom- 
plizierten Falles, in welchem moralischer Schwachsinn und Hysterie sich 
paaren, möge diese Auseinandersetzung abgeschlossen werden. Die Ent- 
scheidung über die einzelnen Zustandsbilder, ob Epilepsie, ob Hysterie, 
ob Simulation, ob pathologischer Rausch, dürfte wohl kontrovers sein; 
persönlich neige ich der Anschauung zu^ daß sowohl die konvulsiven 
Anfälle wie die akuten Geistesstörungen das Prädikat hysterisch verdienen. 

Beobachtung LI. 

Marie H., geboren 1856, katholisch, Tischlerswitwe, kommt am 

5. August 1897 in Wien an, spricht unsinniges Zeug: sie müsse den 
Kaiser, der 120 Jahre alt sei, mit dem sie sich verlobte, heiraten. Sie sei 
17 Jahre alt, hätte bereits 6 Zimmer, morgen hätte sie schon 17 Zimmer im 
Besitze; ihr Sekretär habe 16.000 fl. Gehalt, ihr Stiefelputzer bekomme 3 kr. 
monatlich etc. 

An die Klinik gebracht, ist die Kranke ganz ruhig, durchschläft die 
Nacht. Am nächsten Morgen örtlich und zeitlich orientiert, erzählt sie in 
zusammenhängender Darstellung, daß sie vor ihrer Abfahrt nach Wien etwa 
IY2 Liter Wein, 1 Liter Bier, außerdem Tee mit Rum trank und ziemlich 
berauscht war. An die Fahrt erinnere sie sich noch duDkel, an die 
folgenden Ereignisse nicht mehr. Erst des Nachts kam sie zu sich. — Patientin 
leugnet jemals ähnliche Zustände geistiger Störung durchgemacht zu haben, 
stellt epileptische Anfälle in Abrede. 

15. August. Die Kranke, die sich bisher korrekt benommen und fleißig 
gearbeitet hatte, klagt heute über Kopfschmerzen in der Stirne. Die Nerven- 
stämme im Bereiche des Gesichtes sind etwas druckempfindlich. 

Abends erscheint Patientin verwirrt; sie verlangt vom Arzte 1 Kreuzer, 
um ihrem Stiefelputzer die versprochenen 3 Kreuzer zu zahlen. Sie hätte sich 
für den Fall ihrer Hochzeit einen Stiefelputzer aufgenommen und demselben 
nebst Kost und Kleidung 3 Kreuzer monatlich versprochen. Darauf kommt 
die Kranke immer wieder zurück. Heute habe man ihr in die Mehlspeise 
lauter Stecknadeln gegeben; sie spüre ein immerwährendes Stechen im Kopfe, 
dasselbe könne nur daher rühren. Zeitlich desorientiert. 

16. August. Geordnet, ruhig, vermag sich an die VorfUle des gestrigen 
Abends in keiner Weise zu erinnern; sie weiß nur, daß sie heftige Kopf- 
schmerzen hatte, von denen sie heute frei ist. 

17. August. Menses. 

24. August. Klagt früh über heftige Kopfschmerzen, nimmt keine Mahl- 
zeit zu sich. Gegen abend spricht Patientin plötzlich zusammenhangslos. Es sei ihr 



326 

voll den Ärzten aufgetragen worden zu arbeiten^ sie bekomme dafür 5 Kreuzer; 
sie müsse die Katzen heute noch reinigen; es erschien ihr ein toter Mann; 
sie selbst sei von einer Wärterin erschlagen worden etc. Beruhigt sich bald 
wieder, schläft die ganze Nacht. 

25. Augnst. Vollständig geordnet und amnestisch für das Vorgefallene; 
ord. 4 Gramm Bromkalium. 

20. September. Verwirrt, spricht von Katzen, die sie reinigen soll, von 
einer Wärterin, die sie geschlagen hat. Schlaf. Am 

21. September Amnesie. 

5. Oktober. Erzählt heute, daß sie als Kind einmal auf den Kopf ge- 
stürzt sei, ohne daß sie bewußtlos wurde. In der letzten Zeit hätte sie seltene 
Ohnmachtsanfälle gehabt. 

24. Oktober. Klagt über Kopfschmerzen sowie über ein eigentümliches 
Gefühl, als ob sie verrückt würde. Nervi supraorbitales beiderseits druck- 
empfindlich. 

31. Oktober. Früh sehr kongestioniert, klagt, daß ihr von der Trakt- 
wärterin das Testament und Strümpfe weggenommen wurden. Sie weist eine 
Genossin zurecht, daß diese der Katze die Gedärme herausgerissen habe, daß 
Patientin sich darüber beschweren werde. — Bei der Nachmittags visite kann 
sie sich an die vormittägigen Äußerungen nicht mehr erinnern. Der Defekt 
erstreckt sich auf die Zeit vom Frühstück bis V4I2 Uhr. In der vergangenen 
Nacht, ebenso gegenwärtig Kopfschmerzen; sonst geordnet. 

23. November. Beginnt um 72^ ^^^ abends zu räsonieren, daß ihr in 
der Nacht die Katzen keine Ruhe geben, schimpft über eine Mitkranke. 

24. November. Kommt ganz kongestioniert auf den Arzt zu, verlangt 1 kr.^ 
läßt sich nicht abweisen. Nach 12 Stunden klar, amnestisch. Seit 5 Tagen 
Menses, dabei Kopfschmerzen. 

29. November. Ängstliche Unruhe, erregt, läuft vor dem Arzte davon. 
3. Dezember. Patientin meint, sie spüre, daß sie immer mehr ver- 
rückt werde. 

6. Dezember. Vormittags Verwirrtheitszustand; nachmittags klar, amnestisch. 
12. Dezember. Früh in der Kirche wird die Kranke bewußtlos, fällt von 

der Bank, bleibt längere Zeit liegen; keine Krämpfe. Vorher Schwindel, abends 
Erbrechen. 

21. Jänner 1898. Nach einer Aufregung wieder ein Anfall. Während 
des Gehens stürzt Patientin bewußtlos zusammen, hat keine Zuckungen. Sie 
bleibt kurze Zeit liegen, wischt dann mit der linken Hand am Körper herum, 
antwortet nicht. 

23. Februar. Während des Kirchganges wird die Kranke bewußtlos; 
keine Zuckungen; sie erholt sich bald wieder und bleibt im folgenden frei 
von jeder Art Anfällen. Einen 4tägigen Urlaub vom 

18. bis 21. März verbringt Patientin nicht, wie sie versprochen hatte, 
bei ihrer Schwägerin, sondern fuhr nach H., trieb sich in Gasthäusern herum, 
trank beträchtlich, knüpfte Herrenbekanntschaften an. Zur Rede gestellt, ver- 
weigert sie jede Auskunft. Da bis zum 

31. Juli kein Anfall mehr auftritt, wird sie an diesem Tage geheilt 
entlassen. Sie ist streitsüchtig, anspruchsvoll, boshaft; blieb jedoch frei von 
psychischen Störungen. 

Der erste Gedanke, welcher sich den Anfällen der Patientin gegenüber 
aufdrängt, war Epilepsie. Eine Säuferin mittleren Alters, die an kurz 



327 

(lauemden Verwirrtheitszuständen leidet, für welche Amnesie besteht, imponiert 
zunächst als Epileptica. Der weitere Verlauf mußte an dieser Diagnose aber 
zweifeln lassen. Die Anfälle wechselten langsam ihren Charakter, die Ver- 
wirrtheitszustände zunächst ihren Inhalt, später zeigten sich Absenzen. Alle 
diese Störungen reagierten nicht auf Brom, sie kamen eher öfter; sie wurden 
durch die Alkoholabstinenz nicht gebessert, durch die Exzesse in Baccho nicht 
provoziert; die letzten 5 Monate des Anstaltsaufenthaltes wurde kein einziger 
Anfall mehr beobachtet. Eher schienen sie psychisch bedingt; einer trat 
auf nach einem Streite, zweimal war es der Kirchgang, der dadurch gestört 
wurde. Wenn man hier Stigmen gefunden, hätte man wohl gleich Hysterie 
diagnostiziert. Nun folgt eine schier endlose Reihe von Aufnahmen. 

Am 9. September 1898 kam die Kranke ins Beobachtungszimmer mit 
folgenden Angaben: Sie sei des Morgens noch ganz wohl vom Hause fort- 
gegangen, wurde in der Halle des Südbahnhofes arretiei*t, da sie nach dem 
Dr. Lueger schrie, den sie heiraten müsse. Auch auf der Wachstube benahm 
sie sich sehr aufgeregt, wiederholte obiges. Angesprochen gab sie keine oder 
nur konfuse Antwort; später traten epileptiforme Krämpfe auf. Bei sich trug 
die Person das Entlassungszertifikat der Landesirrenanstalt. 

Die Kranke wird bald ruhig, erscheint in sich gekehrt, ist am nächsten 
Tage geordnet, amnestisch. Am 

13. Oktober geheilt entlassen. Am 

12. Mai 1899 wurde sie von Passanten als unbekannte, geistesgestörte 
Frau aufs Kommissariat geführt; sie trug aber einen Zettel mit ihrem Namen 
bei sich, zeigte große Angst, starrte vor sich hin, gab keine Antwort. Plötzlich 
Zuckungen in der gesamten Stammesmuskulatur, welche einige Minuten dauerten 
dann schreit Patientin: „Ich bin angesteckt, venerisch, ich bin gestochen'^ etc# 

In der Aufnahmskanzlei der Irrenanstalt blickt sie noch starr vor sich 
hin, schreit manchmal laut auf. In der Abteilung sofort klar, begrüßt ihre 
Bekannten. 

13. Mai. Zusammenhängende, allerdings unwahre Angaben; sie will die 
ganze Zeit in Dienst gestanden sein und nicht viel getrunken haben. Amnesie 
für gestern; erst in der Anstalt sei sie langsam zum Bewußtsein gekommen. 
— Linksseitige Hypästbesie und Hypalgesie. 

14. Mai. Abends, als die Kranke eben zu Bett gegangen, ein Anfall: 
Sie fährt mit dem Kopfe voraus aus dem Bett, bleibt einige Augenblicke 
liegen, blinzelt mit den Augeu, wirft dann die Decke ins Bett zurück, brummt 
etwas vor sich hin, legt sich ruhig nieder und schläft ein. Keine Verletzung. 

31. Mai. Patientin verlangt immer drängender Brom und erhält es 
schließlich. Die Anfälle, die verschieden ausseben sollen, dauern nichtsdesto- 
weniger an; keiner derselben wurde ärztlich beobachtet. Da keine psychischen 
Störungen nachzuweisen sind, wird sie am 9. Juni 1899 geheilt entlassen. 

Am 27. Juni kommt sie wieder. „Eine unbekannte Frau^ spuckte auf 
einer Straßenkreuzung die Passanten an, schlug Fensterscheiben ein. 

Am Journalzimmer ist Patientin noch äußerungslos, nimmt keine Notiz 
von den Vorgängen um sich herum, spuckt wiederholt aus. 

Auf der Abteilung vollständig klar, örtlich und zeitlich orientiert, gibt 
prompt Auskünfte, erinnert sich an die Ursache ihr^ Einbringung gar nicht, 
verlangt sofort auf die ruhige Abteilung, setzt Kostaufbesserung durch. Im 
folgenden einzelne nicht beobachtete Anfälle ohne psychische Störungen. Am 

21. August wird sie über eigenen Wunsch entlassen, am 



328 

22. August um 1 Uhr nachts wegen nächtlicher Ruhestörung arretiert. 
Sie war angeblich kurz vorher von einem Kellner in einem Ka£feehau8e 
geohrfeigt worden. Auf dem Wachzimmer schrie und lärmte sie^ kommandierte 
die Wachleute wie Untergebene, hob die Röcke in die Höhe und sagte, 
man solle sich davon überzeugen, daß ihr Professor v. Wagner die Periode 
herausgezogen habe; er sei ihr Geliebter. Bei der Untersuchung durch den 
Amtsarzt ist Patientin sehr unruhig, verlangt in die Irrenanstalt gebracht zu 
werden; die Anstalt gehöre ihr, alle Polizeiärzte müssen ihr gehorchen. Sie 
spuckt nach allen Richtungen, stampft mit den Füßen, will sich losreißen. 
Unmittelbar hernach bleibt sie regungslos auf dem Stuhle sitzen, starrt auf 
einen Punkt des Plafonds; reagiert weder auf Anruf noch auf Berührung. 
Nach einigen Minuten erwacht sie aus diesem Zustande und erweist sich von 
diesem Augenblicke an vollkommen luzid, örtlich und zeitlich genau orientiert. 
Sie besinnt sich gut an alle Vorgänge bis zu ihrer Beanstandung: Trank 
1 Liter Bier, sei in einem Kaffeehaus grundlos geohrfeigt worden. Letzterer 
Umstand und eine von ihrer Schwester erhaltene Moralpredigt habe den 
jetzigen Anfall hervorgerufen. Sie bittet um Entlassung. 

Am Beobachtungszimmer erzählt die Patientin genau dasselbe; nur soll 
der Kaffeehausexzeß bereits in den amnestischen Zustand fallen. Während des 
Examens beginnt die Kranke plötzlich ins Weite zu starren, zeigt ein Wogen 
der mimischen Gesichtsmuskeln, besonders um den Mund herum; sie scheint 
die Fragen nicht mehr zu verstehen, spricht von einer Maschine mit einem 
großen Rade, das immer gedreht werden müsse. Diese Maschine werde in der 
Irrenanstalt dazu verwendet, Menschen zu verkleinem, welche auf diese Weise 
zum Verspeistwerden vorbereitet werden. Sie wolle weder essen, noch weiter 
an dieser Maschine arbeiten. Es folgen abgerissene Worte: jt ' - ' ™^" 
jhn gefressen ... die Finger hat man ihm abgeschnitten . . . ich fresse nicht 
dieses Fleisch . . . Schnitzel machen sie davon, Nudel von die Finger 
Schneidens . . .^ Während dieser Äußerungen schüttelnde Abwehrbewegungen 
mit den Händen; Patientin trinkt hastig zwei vorgehaltene Becher Wasser, 
das sie verlangt hat. Auf Fragen reagiert sie gar nicht, auf Nadelstiche 
wenig. Reßexe erhalten. Nach kurzer Zeit wieder luzid, Amnesie für den 
Anfall; am 

28. August entlassen. Am 

17. Oktober geht sie aufs Kommissariat mit der Bitte um Aufnahme 
in die Irrenanstalt, da sie seit drei Tagen an Angstgefühlen leide. Es komme 
ihr vor, daß ihr jemand mit einem Messer nachlaufe; auch habe sie jetzt 
häufiger ihre Anfälle. 

Am Beobachtungszimmer ist Patientin luzid, orientiert, ängstlich. 

19. Oktober. Nachts halluziniert sie trotz Sg Brom mehrfach den Mann 
mit dem Dolche. Ord. bg Brom. 

22. Oktober. Heftiger konvulsiver Anfall durch 5 Minuten; dann liegt 
die Kranke 20 Minuten starr, bewegungslos, die Augen gegen die Decke 
gewendet. 

27. Oktober, Wiederum ein Anfall; die Hände werden über dem Kopfe 
zusammengeballt. 

30. Oktober. Krampf mit nachfolgender Verwirrtheit. Menses. 

31. Oktober. Anfall. Am 

10. November entlassen. Am 

28. Februar 1900 geht sie aufs Kommissariat, klagt über häufige An- 
iUlle und Angstgefühle, weist auf ihre wiederholten Internierungen hin. Bei 



329 

Aufnahme in der Irrenanstalt lärmend^ schimpft über Ärzte und Wartepersonale. 
Nachmittags konTulsiver Anfall (10 Minuten). 

1. März. Klar, vollkommen orientiert; hebt hervor, daß sie im Alter 
von acht Jahren einen Sturz auf den Kopf erlitt mit folgender Bewußtlosigkeit. 
Seit dem 12. Lebensjahre häufige ^epileptische^ An Alle, von denen sie kein 
Arzt befreien könne. Patientin wehrt sich heftig gegen die Anschuldigung 
getrunken zu haben, ist reizbar, anspruchsvoll. Die anfange häufigeren Anfalle 
werden seltener, ohne psychische Störungen. Entlassung am 

17. April. Am 

16. Oktober wegen auffälligen Benehmens auf der Straße arretiert, tobt 
und schreit sie am Amte, kommt auch erregt zur Aufnahme, schläft des Nachts. 

17. Oktober. Früh geordnet, Amnesie für gestern. Während der Unter- 
suchung ein Anfall mit initialen tonischen Krämpfen, Bewußtseinsverlust 
(4 Minuten). Am 

20. Oktober entlassen. Am 

7. Jänner 1901 steigt sie in Lundenburg ein, um gegen W^ien zu fahren^ 
Anfangs unauffällig, beginnt sie, in der Nähe der Ziclstation sich durch wirres 
Reden und lautes Schreien bemerkbar zu machen, so daß sie der Bahnhofs- 
inspektion übergeben wird. Man findet bei ihr den letzten Entlassungsschein 
aus der Irrenanstalt. Außerdem erzählt sie folgendes: Sie sei die Frau Lneger, 
werde morgen mit ihm in der Burg getraut. Sie sei 17, Lueger 13 Jahre 
alt; sie haben einen 91jährigen Sohn. Sie sei in der Burg als Kaiserin ge- 
boren, bereits einmal gestorben gewesen. Die Sozialisten könne sie nicht leiden, 
weil sie sie immer mit Spenadeln stechen. Sie habe mit dem Papste ge- 
schlafen etc. 

In die Anstalt kommt die Kranke vollkommen klar, verwahrt sich 
wiederholt, daß sie nicht beabsichtigte hereinzukommen; sie möchte sofort 
wieder entlassen werden, aber sie habe keinen Kreuzer Geld und brauche 
eine GeldunterstUtzung. Potns leugnet sie absolut, hingegen berichtet sie sehr 
ausfuhr lieh über ihre Anfälle, beteuert wiederholt unter Schluchzen, daß 
dieselben nicht fingiert seien. Entlassung. 

Betrachtet man dieses Zustandsbild aus dem Zusammenhange gelöst, 
dann findet man die Verwahrung begreiflich, so unbegreiflich es auch ist, daß 
-eine Geisteskranke die Echtheit ihrer Krankheit verteidigt; selbst der 
Hypochonder verteidigt nur die Realität seines Wahnes. Patientin fUhrt eigens 
nach dem Orte, wo sie ihre Geistesstörung in freie Verpflegung und weiteres 
umsetzen kann. Erst in der Nähe Wiens beginnt sie die unsinnigsten 
AVahnideen zu äußern. Sie trägt als Legitimation das 2iertifikat der Irren- 
anstalt bei sich. Der Verdacht einer Absichtlichkeit wird noch dadurch gestützt, 
daß zwar die Symptome wechseln, daß aber Aufbesserung des Speisezettels 
stets ihr erstes Bestreben war, so wie sie bei jeder Entlassung immer eine 
•GeldunterstUtzung durchzusetzen wußte. Weiters ist auffallend, das H. bei den 
späteren Internierungen von einem Schädeltrauma, von epileptischen Anfällen 
zu erzählen beginnt, die bis ins achte Lebensjahr zurückreichen sollten, 
während sie das erstemal trotz ausdrücklichen Befragens nichts derlei anzu- 
geben wußte. Es scheint also, als ob die steten Fragen der Ärzte und eigene 
psychiatrische Erfahrungen ihr diese Antezedentien erst suggeriert hätten. 
Doch ist an der pathologischen Grundlage der nervösen wie der psychischen 
«Störungen nicht zu zweifeln, wie schließlich im Zusammenhange auseinander- 
gesetzt werden soll. 



330 

Am 24. März wird sie Deuerlich auf der Straße wegen auffälligen Be- 
nehmens angehalten. Am Kommissariat sagt sie, Lueger sei ihr Geliebter, hebt 
die Röcke auf, beißt einen Wachmann in den Arm, macht den Versuch, sich 
mit einem Schürzenbande zu erdrosseln. 

Am Beobachtungszimmer geordnet, orientiert; berichtet, daß sie zwei 
Glas Bier getrunken und hierauf einen Anfall gehabt habe. Über die Zu- 
mutung zu trinken, wird sie aber sehr gereizt. Plötzlich stürzt sie mit 
Vehemenz zu Boden, liegt eine halbe Minute starr mit an den Kopf gepreßten 
Händen da, stöhnt, bleibt wieder regungslos mit geöffneten Augen, schreit, 
reagiert nicht auf Anruf. Dann erhebt sie sich, macht sich am Untersuchungs- 
bette zu schaffen, blickt herum, spuckt gegen die Wand. Am 

26. März entlassen. 

Am 16. Oktober wird sie zum Amte gestellt, weil sie in einem 
Tram way Waggon schrie, sie müsse für Dr. Lueger betteln gehen, damit 
dieser sie dann heirate; außerdem beschimpfte sie Passanten. Auf die Frage 
nach ihren Generalien spuckte sie dem Polizeiarzte ins Gesicht, schlug um 
sich, war zu keiner Antwort zu bewegen. Sie wollte mit Gewalt die sie 
festhaltenden Wachleute abschütteln. Nach einer Weile begann sie zu weinen, 
bat, man möge sie nicht in die Irrenanstalt sperren. 

17. Oktober. Patientin luzid, erzählt, daß sie schon seit 14 Tagen 
gespürt habe, daß ein großer Anfall kommen würde. Sie hatte die ganze Zeit 
hindurch Kopfschmerzen, war ängstlich und bildete sich ein, wenn Leute im 
Hause miteinander sprechen, ziehe man über sie los. Für gestern Amnesie. Am 

24. Oktober geheilt entlassen. Am 

2. Dezember wurde sie wegen hochgradig exzessiven Benehmens auf 
der Straße arretiert. Bei der Untersuchung schreit sie laut: „Hoch Lueger!"* 
starrt dann vor sich hin, um später wilde Schreie auszustoßen. In den Arrest 
geführt, unternimmt sie einen Selbstmordversuch durch Erwürgen. Wegen 
Verdachtes der Simulation an das Beobachtungszimmer abgegeben. 

Hier ruhig, schläft die ganze Nacht. Orientiert; berichtet, Wein 
getrunken zu haben, den ihre Arbeitgeberiu ihr angeboten. Für die im Parere 
angegebenen Vorfälle besteht Erinnerungslosigkeit; im Arrest kam sie zu sich. 
um neuerlich amnestisch zu sein, bis zu ihrer Überführung ins Krankenhaus. — 
Entlassen. Am 

6. Dezember ging sie abends in ihre Wohnung, ließ sich wegen 
Unwohlseins von dort aufs Polizeikommissariat bringen. Dort wurde sie nach 
einem Aufregungszustande bewußtlos, die Gliedmaßen steif, das Gesicht blaß 
und die Augen nach unten gerollt. Nach zwei Minuten erwachte die Patientin,, 
schien verworren. — Bei der Aufnahme erregt, schlägt den begleitenden 
Arzt, weigert sich die Kleidung zu wechseln, riecht nach Alkohol. Nachts- 
über Schlaf. 

7. Dezember. Vollständig geordnet; Amnesie, negiert vorausgegangenen 
Alkoholgenuß. Geheilt entlassen. Am 

21. Dezember wurde Patientin um 3 Uhr morgens auf der Straße auf- 
gegriffen, weil sie durch längere Zeit „Hoch Lueger!" schrie. Im Amte Reden 
lasziven Inhalts. 

Stark alkoholisiert, aber orientiert, sagt, jetzt werde sie in eine Anstalt 
gebracht und wenigstens über die Feiertage versorgt sein; schläft dann ein. 

Früh weigert sich die Kranke zum Examen zu kommen; antwortet ganz 
entschieden: ..Ich gehe nicht.^ Auf Zuspruch des Arztes hält sie die Augen 
wie im Schlafe geschlossen, ist zu keiner Äußerung zu bewegen. — Bei der 



331 

Visite in gleichem Zustande; sie reagiert selbst auf tiefe Nadelstiche nicht. 
Blinzeln. Die passiv erhobenen Arme läßt sie^ solange sie beobachtet wird, 
in unveränderter Stellung; sobald die Visite vorüber ist^ fallen dieselben sofort 
herunter; die Kranke betrachtet die von Nadelstichen getroffenen Stellen. 
Dann wirft sie mit den Polstern herum, bringt dieselben wieder in Ordnung, 
legt sich nieder, läßt Urin ins Bett. — Bei der neuerlichen Untersuchung 
erstaunte Miene, gerunzelte Stirn, aufgerissene Augen. Dieser Zustand dauert 
bis 2 Uhr; keinerlei Konvulsionen; dann benimmt sich Patientin geordnet. 

Bei der Nachmittagsvisite bittet sie, man möge sie morgen entlassen, 
damit sie ihr Weihnachtsgeschenk nicht verliere. (!) Sie negiert Alkoholgenuß; 
behauptet, man habe ihr auf dem Kommissariate Hoffmannsche Tropfen ge- 
geben. Amnesie. Am 

22. Dezember geheilt entlassen. 

Im Jänner 1902 erschien sie mehrmals in verworrenem Zustande beim 
Kommissariate, beruhigte sich aber bald wieder. Am 

29. Jänner wurde sie nachts auf der Straße wegen sehr lauten, 
auffUiligen Benehmens angehalten; am Kommissariate hochgradiger Erregungs- 
zustand, erotische Ausbrüche durch zirka % Stunden. Nach ihrer Beruhigung 
teilte sie in endlosem Gespräche mit, daß sie infolge des Klimakteriums an 
nervösen AnfUllen leide und in ihrem Erwerbe gestört sei. 

Bei der Aufnahme am Beobachtungszimmer lärmend, wälzt sich im Bette, 
schreit, spuckt, fragt dazwischen wo sie sei; schläft wenig. 

30. Jänner. Geordnet, moroser Stimmung, wird bei Fragen gereizt und 
bricht wiederholt ab. Lückenhafte Erinnerung. Am 

2. Februar entlassen. Am 

24. Juni kommt sie neuerlich zur Aufnahme, da sie aus vollem Halse 
schrie, sie wolle den Dr. Lueger heiraten. 

Schon am Aufnahmsjournale ist Patientin klar; am 

27. Juni entlassen. Am 

15. Oktober sucht sie das Ambulatorium der Klinik auf, bettelt den 
Professor in zudringlichster Weise an, läßt davon erst ab, als sie eires Wach- 
mannes ansichtig wird. Am 

17. Oktober wird sie eingeliefert. Im Parere heißt es: . . Pfründnerin . . 
begeht zuzeiten der Anfälle die widersinnigsten Sachen. Im Sommer stürzte 
sie in Währing in ein Wirtshaus und entblößte ihren Körper, vor 1 Monat 
lärmte und schimpfte sie auf der Straße und heute zerrt sie ihr von der 
>fenstruation blutiges Hemd hervor, spricht von Säuen, vom Bürgermeister 
Dr. Lueger, macht unflätige Glossen usw. 

Bei der Ankunft um 9 Uhr abends legte sich Patientin zu Bett. Auf 
einmal begann sie durch 10 Minuten stark zu schreien, dann zitterte sie mit 
beiden Armen fast Y4 Stunde, endlich arbeitete sie im Bett herum, sprach 
von Dr. Lueger. Nach ^2 Stunde neuerlicher Anfall, wo Patientin nur zitterte 
ohne zu schreien; dann lachte sie, deckte sich zu und schlief die ganze Nacht. 
Während beider Anfälle ließ sie Urin, die Augen waren geschlossen, auf An- 
ruf erfolgte keine Reaktion. 

18. Oktober. Klar, orientiert; amnestisch. Ohne daß es ihr vorgeworfen 
worden wäre, verteidigt sie sich gegen die Annahme, sie simuliere. Es könne 
ihr kein Vergnügen machen, hereinzukommen. Patientin drängt sogar auf 
Entlassung, da sie sonst ihre Bedienung verliere. Um Namen und Adresse der 
Arbeitsgeberin gefragt, sucht sie Ausflüchte; sie habe diese Bedienung erst 



332 

seit drei Tagen, nach dem Namen noch nicht sich erkundigt. — Deutlicher 
Alkoholgeruch. 

19. Oktober. Frech; verlangt allerlei Begünstigungen. Eine Sensibilitäts- 
untersuchung wird verweigert. Am 

20. Oktober entlassen. Am 

20. Juni 1903 wird sie wegen auffallenden Benehmens zum Amt gebracht. 
Sie erzählt geordnet von ihren Anfällen, beginnt plötzlich zu schreien, hebt 
die Kleider und zeigt ihre Genitalien. Nach 5 — 10 Minuten klar. Derartige 
Anfälle wiederholen sich dreimal. Am Beobachtungszimmer ein konvulsiver 
Anfall. Nachts Schlaf. Früh klar, amnestisch. Am 

25. Juni entlassen. Am 

28. Jänner 1904 Aufnahme, da sie sich ungefähr ebenso verhält, wie 
das letztemal. Sie räsoniert über die Menschen, lauter Säue, welche die 
gemachten Kinder nicht ernähren könnten. 

An der Klinik schimpft sie noch immer, halluziniert zwei Frauen vor 
sich; stöhnt im Bette. 

29. Jänner. Geordnet, erzählt von ihren Anfallen, die durch heftige Auf- 
regungen ausgelöst werden. Am 

1. Februar entlassen. 

Eine moralisch defekte Person, die wiederholte Abstrafungen (Diebstahl, 
boshafte Sachbeschädigung) hinter sich hat. Einzelnes aus ihren vielseitigen 
Störungen wurde bereits hervorgehoben. Über die Konstatierung, daß sie trinke, 
bekommt sie angesichts der Visite einen Anfall, der wiederum anders aussieht, 
als die früheren; sie bietet am 21. Dezember 1901 einen unverkennbaren 
hysterischen Stupor, andererseits möchte man an hysterische Räusche, an Zweck- 
räusche, sogar an Simulation denken. Über die Zwecke, die sie mit ihrer 
Internierung verfolgt, ist ja kein Zweifel möglich. In vino veritas: so erzählt 
sie in angetrunkenem Zustande treuherzig selbst einmal, sie möchte über die 
Feiertage versorgt sein. Was hindert die arbeitsscheue Person in augenblick- 
lichen finanziellen Schwierigkeiten mit dem letzten Rest ihres Geldes einen 
abnormen Rausch sich anzutrinken? Nachdem aber ähnliche kurzdauernde 
Psychosen mit unsinnigen Wahnideen während mehrmonatlicher Intemierung 
aufgetreten sind, nachdem vielfach hysterische Mechanismen, Stigmen, scharf- 
begrenzte Amnesien, Beeinilufibarkeit in die vorbereiteten Geistesstörungen 
sich einmischen, so dürfte es sich wohl um Äußerungen von Hysterie, speziell 
von Alkoholhysterie bei einem moralisch schwachsinnigen Individuum handeln. 
Einen Kasus, der nur quantitativ verschieden ist, insofern die Hysterie mehr 
im Vordergrund steht, während der Schwachsinn die Folie abgibt, bringt, da 
er kriminell wurde, das letzte Kapitel; er möge die vorliegende Beobachtung 
ergänzen. 

Eine Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Simulation gibt es 
eigentlich nicht. Theoretisch kann man sagen, der Simulant will krank 
scheinen, der Hystericus krank sein. Aber auch die Hysterie übertreibt 
und schwindelt gelegentlich zugestandenermaßen voUbewußt und aus einem 
bestimmten Zweck. Dazu kommt, daß hysterische Dämmerzustände, hyste- 
rischer Stupor aussehen wie plumpste Simulation, allen Gesetzen folgen, 
die man für Simulation aufstellen kann. Insofern derartige Zustände in 
ganz unverdächtigen Fällen auf eine Affekterregung folgen, erschließt 



333 

man deren krankhafte, das heißt hysterische Basis. Die Erscheinungen 
sind psychisch bedingt; fraglich bleibt, welch hoher Grad von Bewußtsein 
die Symptome begleitet, ob dieselben durch eine krankhafte Vorstellung 
suggeriert oder ob sie frei erfunden und gewollt sind. 

In der Praxis steht die Sache noch einfacher. Simuliert das Indi- 
viduum ohne Grund, eventuell gegen seine Interessen und durch längere 
Zeit, dann muß man es hysterisch nennen. Hat es aber ein Motiv zur 
Simulation, ist es etwa kriminell, so kann es sich um Hysterie handeln 
oder um jenen ethischen Defekt, welcher das Erimen bedingte. Von der 
persönlichen Auffassung des Untersuchers hängt es eigentlich ab, ob er 
fttr Hysterie oder für moralischen Defekt plädieren will. Die Verant- 
wortlichkeit des Individuums ist in beiden Fällen die gleiche. Bei hyste- 
rischen Kindern speziell steht das Lügen und Heucheln so obenan, ist 
die Verstellung oft so aufdringlich, daß Hysterie und Simulation hier mehr 
als fließend ineinander übergehen, um so mehr als ja eigentlich immer die 
großen Zwecke fehlen, vielleicht der Wunsch, dem Lehrer wegen einer 
empfangenen Ohrfeige Unannehmlichkeiten zu bereiten, das einzige ver- 
ständliche Motiv sein kann. So weit man sich in geläufigen Bahnen 
bewegt, verwendet man für die Diagnose Hysterie die Antezedentien, 
das Vorhandensein von Stigmen, von sicher hysterischen KrampfanfäUen. 

Man muß nicht jede scheinbare Bewußtseinsstörung Dämmerzustand 
nennen, man darf auch von Simulation auf hysterischer Basis sprechen. 
Es sei diesbezüglich an Mattaus cheks schönen Fall erinnert, der von 
anderer Seite gewiß als hysterischer Dämmerzustand aufgefaßt worden 
wäre. Erst nach achttägiger (!) energischer Behandlung mit dem faradischen 
Pinsel gab dieser kriminelle Mann die Schwindelei auf, gestand dieselbe 
ein, motivierte sie vollkommen klar und als bewußt; ebenso vernünftig 
klang der Grund, warum er sie jetzt aufgab, ohne daß ein weiterer Zwang 
auf ihn ausgeübt worden wäre. Nebenbei ist der Mann ein Hystericus. 
Vielleicht stellen einzelne der von Raecke mitgeteilten Krankengeschichten 
ebenfalls solche hysterischer Simulanten dar. Das Symptom der Kontrast- 
antworten war nicht nur in dem Kasus Mattauscheks, sondern auch bei 
nicht hysterischen Simulanten in schönster Ausprägung anzutreffen. Die 
Hysterie ist in den Fällen Raeckes gewiß nicht anzuzweifeln und 
erleichtert den Individuen ihre Simulation; es komplizieren auch echt 
hysterische Einzelsymptome das Erscheinungsbild. Aber das Ganze ist 
doch nur der Wunsch, als krank zu gelten und exkulpiert zu werden, 
den Raecke selbst als halb bewußt zugibt. Es dürfte kaum möglich sein, 
widerlegt zu werden, wenn man diesen Wunsch ganz bewußt nennt. — 

Im Rückblick auf eine begrenzte Zeit psychiatrischer Erfahrung 
entsinnt man sich einer Reihe von Patienten, die anfangs als hysterisch 
imponierten, wo der weitere Verlauf zwang, die Diagnose fallen zu 
lassen. Seltener geschieht umgekehrt, daß man gar nicht an Hysterie 



834 

dachte, bis irgendeine überraschende Wendung des Verlaufes gerade 
diese sicherte. Die größten differential-diagnostischen Schyrierigkeiten 
bestehen, wie schon erwähnt, bei manisch gefärbten Zustandsbildem 
jugendlicher, namentlich weiblicher Individuen; ein launisches Spiel mit 
Krankheitssjmptomeu, lebhafter Rapport mit der Umgebung wird gefunden 
außer bei Hysterie im manisch-depressiven Irresein, bei Dementia praecox, 
endlich bei manchen Formen degenerativen Irreseins unter dem Bilde der 
akuten halluzinatorischen Verwirrtheit. Von der persönlichen Note ab- 
gesehen, sollen nun allgemein gültige differential-diagnostische Eriterieu 
gesucht werden. 

Hysterische Antezedenzien stützen die Diagnose, im Falle sie zu 
erheben sind. Leider stößt der anamnestische Nachweis manchmal auf 
Schwierigkeiten. Es ist auf die interessanten Beobachtungen Sanders auf- 
merksam zu machen, wo auf Grund eines einmaligen oder wiederholten 
Gemütseindruckes kurz vorübergehende Psychosen auftreten, die das 
Individuum plötzlich, man glaubt, in völliger Gesundheit treffen, ebenso 
plötzlich nach Stunden oder höchstens Tagen verschwinden, ohne daß 
vorher oder nachher Zeichen von Hysterie eruierbar wären. An der 
Diagnose der vier von diesem Autor mitgeteilten Fälle kann kein Zweifel 
sein. Das Delir ist persönlichen Inhaltes, man findet ziemlich regelmäßig 
Stigmen und Amnesie. Vielleicht hätte eine genauere Durchforschung des 
Vorlebens doch noch mehr Anhaltspunkte für hysterische Antezedenzien 
geliefert, als vorübergehende Krämpfe bei einem Falle in der Jugend. Man 
hätte durch Analyse vielleicht auch begründen können, warum gerade im 
gegebenen Momente das Trauma so. schwer einwirkte, daß es zu einer 
Störung des psychischen Gleichgewichtes kam. 

Bei der Aufnahme des Status praesens verlangt mau in erster Linie 
nach den sogenannten Stigmen. Es sind das Symptome, welche durch 
die Häufigkeit ihres Auftretens, durch ihren spezifischen Charakter, durch 
ihren Parallelismus mit dem Krankheitszustand als pathognomonisch für 
Hysterie angesehen werden, eine rein empirisch gefundene Tatsache. 

über die Bedeutung dieser Stigmen stimmen die Ansichten nicht 
ganz überein. Kraepelin und seine Schüler halten ihr Vorhandensein 
nicht für kennzeichnend genug, um begründet eine Psychose der 
Hysterie zuzurechnen. Auch von anderen Seiten wird darauf hin- 
gewiesen, daß Sensibilitätsstörungen sowohl bei Hysterie fehlen als bei 
Epilepsie und anderen Neurosen vorkommen können. Dennoch dürften 
die Stigmen nicht so gering einzuschätzen sein, wenn man nur daran 
festhält, daß nicht alle von gleicher Bedeutung sind. Die Empfindlichkeit 
der einzelnen Menschen schwankt innerhalb weiter Grenzen. Hyper- 
sensiblen Menschen stehen andere gegenüber mit hochgradig herab- 
gesetzter allgemeiner Schmerzempfindlichkeit, die Nadelstiche kaum ab- 
wehren. Letzteres findet man bei verschiedenerlei Geisteskranken; so ganz 



335 

selbstverständlich bei Hemmungszuständen (Dementia praecox), bei Epi- 
lepsie, Idiotie, Paralyse, aber auch bei Melancholie. Mit einer allgemeinen 
Hyp- oder Hyperalgesie ist daher tatsächlich wenig anzufangen. Einzelne 
Druckpunkte sind gleichfalls kaum von Wert. Eine große Anzahl psychisch 
Kranker bietet den einen oder andern Nervenpunkt als Ausdruck einer 
komplizierenden Neuralgie oder Neuritis, so am V., den sogenannten 
Inframammillarpunkt, ohne daß man daraus auf Hysterie schließen dürfte. 
Auch Einschränkung des Gesichtsfeldes, die bei Bewußtseinsstörungen oben- 
drein nur schwer festzustellen sein dürfte, ist nicht sonderlich beweisend. 
Besser steht indessen die Sache, wenn deutliche Halbseitenstörungen 
vorliegen, deren organische Grundlage auszuschließen ist, z. B. eine 
Hemianästhesie; auch gürtelförmige Analgesie, in einer Ausbreitung, die 
aus Gedankenverbindungen abzuleiten ist, in Beziehung steht zu den 
psychischen Störungen, ist durchaus charakteristisch für Hysterie ( vide 
Beobachtung V). Derartige Sensibilitätsstörungen können nur hysterisch 
sein, wenn sie der Suggestion folgen, sich durch Transfert auf die andere 
Seite übertragen lassen. Unbedingt verrät sich die psychogene Entstehung 
durch ein System in den Ausfallserscheinungen, wie es am ehesten im 
Bereiche der höheren Sinnesorgane auffällt. Aufhebung der Wahrnehmung 
für bestimmte Objekte, wenn eine Patientin nicht zu sehen angibt, 
dabei aber den Objekten geschickt ausweicht, kann nur Simulation oder 
Hysterie sein. Endlich haben die Empfindungsdefekte der Hysterischen 
das Bemerkenswerte, daß sie durch sehr starke Beize überwunden werden 
können; ein Versuch^ den man begreiflicherweise nur am Hautorgan 
unternimmt. Die Analgesien, die gegen Nadelstiche so beständig sich 
erweisen, haben häufig ein Ende, wenn man den faradischen Pinsel 
nimmt und die Rollen übereinanderschiebt; am beweisendsten ist es 
für Hysterie, wenn sich damit auch die Persönlichkeit wie auf einen 
Schlag ändert, wenn die früher unzugängliche Patientin ruhig, freundlich, 
sogar krankheitseinsichtig wird, wie man dies in Beobachtung IV 
so schön sieht. Andere Psychosen sind durch den Pinsel kaum zu be- 
einflussen. Es wurden wiederholt auch zweifelhafte oder sicher nicht- 
hvsterische Geisteskranke faradisiert; man entlockt einem wahnhaften 
Mutazismus ein paar Worte, man bringt eine Hebephrenie zu lautem 
Schreien, in anderen Fällen tritt nicht einmal eine besondere Beaktion 
auf; das Zustandsbild als solches, das Verhalten bleibt ganz unverändert. 
In einzelnen Fällen setzen aber auch Hysterische dem Strom gegenüber 
einen hartnäckigen Widerstand fort: ein Moment, das weder Hysterie, 
noch Simulation ausschließen läßt. Es sind mir zwei Simulanten bekannt, 
welche diesen Widerstand durch eine Woche aufrecht erhielten, was 
beweist, daß schon die normale Willenskraft diesen Schmerzreiz unter- 
drücken kann; natürlich vermögen dies dann auch die Krankheits- 
vorstellungen und der Krankheitswille der Hysterie. 



336 

Was die hyperästhetischen Zonen, die Druckpunkte, betriflft, so ist 
es von höchstem diagnostischen Werte, wenn durch Druck auf dieselben 
hysterische Erscheinungen, Erampfanfälle oder wenigstens Rudimente 
solcher in Form von Opisthotonus auszulösen sind. Ein Druckpunkt am 
Scheitel mag bei nicht Hysterischen vorkommen, selbst wenn kein Kopf- 
schmerz besteht. Die Ovarie gehört aber zu den typischen Symptomen, 
wenn man komplizierende organische Leiden, Eoprostase oder gonorrhoische 
Affektionen ausnimmt. 

Andererseits kann eine Psychose sicher hysterisch sein und man 
findet doch keine Sensibilitätsstörungen. Bei Kindern ist das ganz regel- 
mäßig so, aber auch erwachsene Hysterische lassen Stigmen gelegentlich 
durch längere Zeit, während eines Aufenthaltes an der Klinik z. B. ver- 
missen, während dieselben bei einer späteren Untersuchung, ebenso früher 
anderenorts nachweisbar waren. Bei der Definition der Hysterie im vor- 
liegenden Buche wurde von diesen Stigmen durchaus abgesehen; die Praxis 
aber hat einen unleugbaren Zusammenhang zwischen dem hysterischen 
Geisteszustand und den körperlichen Stigmen erwiesen. Wenn vorhanden, 
fordern sie zum Nachdenken in einer bestimmten Richtung auf, sie machen 
auf die Möglichkeit einer Hysterie aufmerksam. Die nähere Analyse, die 
Beobachtung des Falles muß dann aufklären, ob es sich tatsächlich um 
eine psychogene Erkrankung handelt oder ob die Psychose nur aus einer 
latent hysterischen Anlage entspringt, die ja in fließender Steigerung aus 
der Norm hervorgeht und weiter verbreitet ist als man glaubt. Die 
Möglichkeit wurde bereits zugestanden, daß ein Individuum, welches ein 
paar hysterische Züge trägt, nicht genug, um Hysterie daraus zu dia- 
gnostizieren, daß ein Nervensystem, welches an der Grenze des Normalen 
sich bewegt, an einer nicht hysterischen, an einer erworbenen oder Stoff- 
wechselpsychose erkranke. 

Es ist also nicht möglich, nach der körperlichen Untersuchung allein 
eine Geistesstörung für hysterisch zu erklären, eigentlich selbstverständlich. 
Aber man hat manchmal kein anderes Mittel, als eine etwas rigorose 
Prüfung auf Stigmen, um die Diagnose im Zweifelsfalle zu sichern. Wenn 
eine Psychose vorliegt, die hysterisch ebensogut wie epileptisch sein 
kann und man findet sicher hysterische Stigmen, so hat man das Recht 
für Hysterie zu entscheiden. Mir ist kein Fall erinnerlich, in welchem 
diese Schlußfolgerung, die ja so selbstverständlich erscheint, hinfällig 
geworden wäre, wenn es sich um mehr als einen Inframammillarpunkt 
und um eine hysteriforme Geistesstörung handelte. Auf letzteres darf 
nicht vergessen werden; das einzelne Symptom bedeutet immer weniger 
als der Gesamtcharakter der Krankheit, die Psychogenie. 

Zu den körperlichen Stigmen gehören auch die hysterischen Anfälle. 
Fast ebenso charakteristisch ist die g^ßteigerte Konvulsibilität, die da- 
durch sich offenbart, daß irgendeine Berührung Zappelreflexe auslöst 



^ 



337 

(Beobachtung XXIX). Vielleicht ist auch eine übermüßige Labilität der 
Vasomotoren hieher zu rechnen. Die Hysterischen zeigen raschen Farben- 
Wechsel, bald Röte, bald Blässe des Gesichtes während des Examens, 
ein über die ganze Brust verbreitetes, bis über die Ohren sich erstreckendes, 
eventuell fleckiges Erythem wenn die Visite mit ihnen sich beschäftigt, 
urtikariaähnliche Quaddeln auf Nadelstiche. Andere hysterische Degenerierte 
lassen diese Erscheinungen völlig vermissen. 

Als psychisches Stigma tritt ein Kardinalsymptom der Hysterie 
entgegen, die Suggestibilität, die sich zunächst einmal in der leichten 
Hypnotisierbarkeit dieser Kranken äußert. Blocq hat schon behauptet, 
daß eine hysterische Prädisposition unumgänglich notwendig sei, um 
hypnotischen Schlaf mit kontrollierbaren körperlichen Phänomenen hervor- 
zurufen. Wenn Jolly auch den diiferential-diagnostischen Wert der 
Hypnose anzweifelt, so wäre es doch gestattet, dieselbe in unklaren 
Fällen zu versuchen. Der Satz, daß alle Menschen suggestibel, ein sehr 
großer Teil hypnotisierbar ist, gilt nicht für die Geisteskranken. Die 
französische Schule vertritt sehr bestimmt den Standpunkt, daß nur die 
hysterischen Delirien durch Hypnose zu beeinflussen sind; ich möchte 
dieser Ansicht mich anschließen; wenn auch zugestanden werden muß, 
daß die Beeinflussung manchmal nur auf Umwegen reüssiert. 

Suggerieren lassen sich die Kranken in der verschiedensten Art. 
Druck auf hysterogene Zonen kann nicht nur Anfälle und Schluchzen 
sondern auch Halluzinationen erwecken; es ist ein Suggestionsphänomen, 
wenn in anderen Fällen Verschluß der Augen oder Ohren zu Beruhigung 
und Schlaf, oder umgekehrt zu gesteigerter Unruhe, zu Kontraktur, 
klonischen Zuckungen, Atmungsveränderungen, vibrierenden Zittern der 
Augenlider führt. Sehr charakteristisch für Hysterie ist das Suggerieren 
von Sinnestäuschungen durch vorgehaltene Gegenstände, farbige Gläser, 
vielerlei Beize. Eine Patientin Hebolds sah Landschaften, kleine 
schwarze Männer, Clowns, einen Totenwagen auf der leeren Wand, wenn 
man ihr ein Glied umschnürte oder die Hand auf den Kopf legte. Hieher 
gehört auch die Beeinflußbarkeit von Halluzinationen durch Eingriffe, 
ihre Verdoppelung durch Prismen; es gelingt manchmal Delirien hervor- 
zurufen durch bestimmte Schlagworte. Natürlich bildet die Initiative der 
Kranken den empfangenen Sinneseindruck je nach ihrer Persönlichkeit um. 

Alle hysterischen Psychosen sind charakterisiert durch die Bunt- 
farbigkeit der einander oft widersprechenden Symptome, den kaleidoskop- 
artigen Wechsel, jähen Übergang zu anscheinend völlig klarem Bewußt- 
sein, das sich in kürzester Zeit wiederum trübt. Häufig trifft man den 
gewissen erotischen, eventuell religiösen Zug des Gebarens. Die einzelnen 
Störungen beginnen akut, verschwinden ebenso plötzlich, eventuell mit 
nachfolgender Amnesie. Halluzinattonen und Wahnideen sind aufdringlich, 
meist affektvoll, stehea untereinander in viel engerem Zusammenhang 

Baimann, Die liystorisclicn Geistosstürunsen. 22 



338 

als bei Verwirrtheitszuständen, die nicht hysterisch sind. Die Delirien 
haben einen persönlichen Inhalt. Gewisse wichtigere Momente des Lebens 
und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bilden den Stoff. Die Kranken 
fügen die um sie herum stattfindenden Ereignisse, die Personen und 
Sachen ihrer Umgebung in verschrobener, sympathisch oder feindselig 
verzerrter Weise in den Rahmen ihrer Wahnvorstellungen; es werden 
Szenen produziert, ein Boman aufgeführt; das Gebaren ist theatralisch im 
Sinne von gemacht, übertrieben. Dazu kommen bunte Phantasiegebilde, 
deren einzelne ganz auffallende psychomotorische Reizzustände auslösen, 
ohne daß in ihnen die Ursache der Hysterie zu suchen wäre. Befremdend 
ist die Inkongruenz, wenn völlige Unorientiertheit zu bestehen scheint, 
wenn der assoziative Zusammenhang schwer gestört, normale Vorstellungs- 
kreise vielleicht ganz ausgeschaltet sind, während die phantastischen Delirien 
sich ganz logisch aneinander reihen. Je genauer man eine Patientin kennt, 
um so verständlicher werden die abgerissenen Worte, die Beziehungen. 

Nach Ablauf der akuten Störungen hält man sich an das System 
in den Amnesien. Ein Gedächtnis, das belanglose Erinnerungen treu 
bewahrt und inselförmig gerade nur jene Dinge unterdrückt, welche 
persönlich unangenehm empfunden werden können, eignet nur einem 
Simulanten oder einer Hysterie. Heftige Affekte vermögen auch bei Gesunden 
Amnesie zu hinterlassen; dabei kommt man aber der hysterischen Ver- 
änderung des Zentralnervensystems nahe, wie schon im vorigen Kapitel 
ausführlich besprochen wurde. Die Amnesie retro-ant6rograde ist wohl 
sicher hysterisch, die einfache retrograde Amnesie nicht, denn eine solche 
wird bei verschiedenen Vergiftungen, nach Erhängen, nach epileptischen 
und eklamptischen Anfällen, nach Schädeltraumen beobachtet: Einflüsse, 
die allerdings anamnestisch auszuschalten sein dürften. Endlich wäre noch 
als charakteristisch hervorzuheben, daß die hysterischen Amnesien gerne 
mit Anästhesien parallel gehen; mit Rückkehr der Sensibilität, eventuell 
durch therapeutische Einflüsse kehrt auch das Gedächtnis wieder zurück. 

Alle diese einzelnen Züge sind aber an und für sich nur im Mom,ent 
Hilfsmittel zur Diagnose. Wesentlich mehr Grundlage für diese entnimmt 
man einer liebevollen Beschäftigung mit den Kranken; denn erst nach 
Kenntnis der Persönlichkeit kann die Geistesstörung aus dieser heraus 
analysiert werden, wenn es sich um eine Äquivalentpsychose handelt. 
Die typischen Delirien, die Geistesstörungen des klassischen Anfalles 
selbst sind nicht kontrovers. Die äußerliche Schwierigkeit, Hysterie von 
anderen organischen und funktionellen Geistesstörungen zu difl^erenzieren, 
dürfte wohl immer zu überwinden sein, wenn man die Fälle ausnimmt, 
bei welchen Hysterie neben anderen Formen degenerativen Irreseins steht, 
die Epilepsie und das zirkuläre Irresein hinzugerechnet; doch auch hier 
wird die Mischung der Krankheitsbilder durch längere Beobachtung in 
zutreffender Weise gewertet werden können. 



VIL Prognose. 

Hier soll unterschieden werden zwischen Hysterie und hysterischem 
Irresein. Die Hysterie bedeutet eine abnorme Reaktionsweise des Indi- 
viduums, sie ist ein dauernder konstitutioneller Zustand. Trotzdem ist es 
in praxi nicht angezeigt, die Prognose ungünstig zu stellen; abgesehen 
davon, daß der hysterische Charakter klinisch recht deutlich in Er- 
scheinung treten kann, ohne daß man von Geisteskrankheit spricht, da 
die Patientinnen in Freiheit möglich sind, vielleicht sogar auf eigene 
Faust durchs Leben sich schlagen. Auch gibt es immer wieder Zeiten, 
wo die pathologischen Züge so weit zurücktreten, daß fast nichts 
von Hysterie an dem Individuum nachweisbar ist, namentlich unter 
günstigen Verhältnissen. Hier entscheidet vielfach die soziale Stellung. 
Die Hysterischen höherer Kreise vermögen gerade auf Grund ihrer Cha- 
rakteranomalien viel Gutes zu wirken, Hysterie philantropique (Charcot), 
wenn sie mit Eigensinn und stets gerührtem Herzen auf Wohltätigkeit und 
humane Vereinsgründungen sich werfen; auch wenn die eigenen Opfer 
recht bescheidene sind, ihre ruhelose Begeisterung, ihr affektierter Altruismus 
reißt die anderen mit fort, und kleine Unzuträglichkeiten nimmt man um 
des edlen Zweckes willen gerne mit in Kauf. Diese Gruppe von Hysterischen 
wäre mit einem Fermente zu vergleichen, das anregend in der mensch- 
lichen Gesellschaft eine höchst wichtige Rolle spielt. Früher oder später, 
unvermeidlich aber in jedem Falle klingen die stürmischen Leidenschaften 
und Affekte der Jugend ab, sie weichen einer gewissen Ruhe und Ge- 
setztheit und damit pflegt auch der hysterische Charakter abzublassen; 
es ist nicht selten zu beobachten, daß er, Mangel äußerer Schädlichkeiten 
vorausgesetzt, mit dem Klimakterium verschwindet und eine im vollsten 
Sinne des Wortes gesunde Matrone hinterläßt. 

Einen besonderen Platz nimmt die Hysterie der Kinder ein. Man 
sagt, daß der Prozeß rasch verlaufe, daß aber Rezidiven nicht ausgeschlossen 
seien. Briquet, Duvoisin, Emminghaus geben wenig Hoffnung, 
während Henoch einige dauernd geheilte Fälle sah. Ebenso stellt Bruns 
namentlich für Landkinder die Prognose günstig. Zufolge der großen 
Suggestibilität der Kinder muß man die hysterischen Erkrankungen 
derselben exquisit für heilbar halten, falls die degenerative Veranlagung 
nicht gar zu schwer ist. 

Wie schon gelegentlich des hysterischen Charakters, speziell aber 

22» 



340 

im Kapitel IV gezeigt wurde, schlummert die Psychoneurose fast in jedem 
Kinde, das heißt, hysterische Erscheinungen können durch einen außer- 
gewöhnlich lebhaften Eindruck bei den meisten Kindern geweckt werden; 
viele Kinder reagieren nach Art der Hysterie, nur nennt man das 
nicht so. Schreitet die Entwicklung fort, so wird mit den Jahren die 
Widerstandsfähigkeit des Nervensystems größer, das Individuum wächst 
sich gleichsam aus, wie mäßige Schwachsinnszustände, namentlich mora- 
lische Defekte aus der Zeit vor der Pubertät später sich verlieren. Es 
wird schließlich eine durchschnittliche Stabilität erreicht, man hat den 
normalen Menschen vor sich. 

Kommt es zu hysterischem Irresein, so befindet sich der Arzt hier 
in einer schwereren Lage als anderen Formen geistiger Erkrankung 
gegenüber. Die hysterischen Psychosen haben wohl ihre Gesetze, die 
Suggestibilität macht aber diese Patienten von äußeren Einflüssen ab- 
hängig. Zunächst ist die Frage zu beantworten, inwieweit die Ursache 
der Erkrankung weggeräumt, in welcher Weise peinliche Erinnerungen 
vermieden werden können, ob man den Patienten Ersatz zu bieten vermag. 
Wesentlich bestimmt auch die Umgebung die Prognose; es lassen sich 
nur einige allgemeine Winke hier vorbringen. 

Was die akuten Geistesstörungen der Hysterie betrifl^t, so sind 
dieselben zum Teile nur eine Exazerbation des Charakters; außerdem 
treten Anfälle auf, die Äquivalente, welche von diesem Charakter 
unabhängig sind, wie andere etwa körperliche Formen der Hysterie. 

Um die Aussichten der einzelnen Attaque richtig zu beurteilen, 
hat man sich vor Augen zu halten, daß zum Ausbruche der hysterischen 
Geistesstörung Anlage, vorangegangene Gemütsbewegungen und auslösendes 
Trauma zusammenwirken. Es gibt Fälle mit so überwiegender hysterischer 
Veranlagung, daß es fast keines Anstoßes bedarf. Die harmlosesten Er- 
eignisse werden geradezu künstlich zum Anlaß genommen, indem die 
Erkrankung an ein Gespräch, an eine Lektüre, an einen kleinen Schreck 
anknüpft; das sind Traumen, vor denen kein Mensch geschützt bleibt. 
Wenn da nicht der Nachweis gelingt, daß durch bestimmte Ideen- 
assoziationen an lebhafte affektbetonte Erinnerungen gerührt wurde, daß 
ein Theaterstück z. B. nur darum wirkte, weil es höchst persönliche 
Wunden wieder aufriß, dadurch die geringfügige psychische Einwirkung 
für die Betroffene doch eine schwere Gemütserschütterung bedeutet: so 
wäre die Prognose ungünstig. Möglich, sogar wahrscheinlich werden 
die Augenblicksstörungen schnell abklingen, so schnell wie sie auf- 
traten, sie müssen sich aber wiederholen, weil Anlässe von gleicher 
Geringfügigkeit sicher wieder vorkommen werden. Hat andererseits ein 
schweres Trauma, ein Affektshock, den auch der Gesunde kaum ver- 
winden könnte, die hysterische Erkrankung verschuldet, dann darf man 
zuversichtlicher sein; es darf fast sicher Heilung versprochen werden, 



•^ 



341 

namentlich, wenn es gelingt, die Wirkung der Gemütsbewegung auf die 
Patientin zu paralysieren, etwas ungeschehen zu machen oder wenigstens 
Ersatz für das Verlorene zu bieten. Insofern hat die ätiologische Er- 
forschung eines Falles die größte Wichtigkeit. 

Weniger lernt man för die Vorhersage aus der Symptomatologie des 
Kasus. Ob Delir- ob Dämmerzustand, ist kaum von Belang; eher noch 
die Tiefe der Bewußtseinsstörung, die Art der Keaktion auf äußere Ein- 
griffe. Jene Formen hysterischer Geistesstörung, die wie gemacht aus- 
sehen, insofern die zweite Person nur ganz oberflächlich festgehalten 
wird, ein einfaches Anschreien z. B. gentigt, die Kranke aus dem Delir 
zu reißen, sind prognostisch günstiger, da entschiedene therapeutische 
Maßnahmen schnell zur Genesung führen. Dort, wo auch der faradische 
Pinsel das Zustandsbild nur ändert: muß die Prognose als zweifelhaft 
betrachtet werden, zumindest ist eine längere Andauer des Leidens 
zu erwarten. Allmählicher Ausbruch, Steigerung der Psychose bis zu 
mäßiger Höhe, dabei deutlich ausgeprägter hysterischer Charakter 
gibt schlechtere Aussichten, wie überhaupt alle die Geistesstörungen, 
die nur eine zeitweilige Steigerung dieses Charakters darstellen; es 
sind Kezidive sowie eine Neigung zu chronischem Verlaufe zu fürchten. 
Beginnen ausgebildete hysterische Mechanismen, z. B. schwere Krampf- 
anfälle, schon in früher Jugend, dann wiederholen sich dieselben endlos, 
wenn es sich um die passiven Formen der Hysterie handelt; steht 
zugleich die Insuffizienz, die Versorgungsbedürftigkeit im Vordergrunde, 
dann versagt jede Therapie; die Prognose wird auch mit zunehmenden 
Jahren immer schlechter. Aktivere Kranke setzen ihre Zwecke durch und 
können für kürzere oder längere Zeit gesund werden bis auf die er- 
übrigenden Zeichen der degenerativen Veranlagung. Daß einzelne rasch 
abklingende Störungen wie Delirien und Dämmerzustände sich nicht 
selten, die II. Zustände regelmäßig wiederholen, wurde schon bemerkt. 
Die Anzahl der Stigmen ist für den Verlauf des Falles bedeutungslos; 
es kann der ganze Körper mit empfindungslosen Inseln überkleidet sein, 
die Psychose verschwindet doch prompt nach wenig Tagen und um- 
gekehrt, Patienten ohne Stigmen schleppen ihre Krankheit durch Monate 
weiter. Die Stigmen haben aber Bedeutung für die Beurteilung einer 
Intermission. Sind sie erst mit der Psychose aufgetreten, bleiben sie zurück, 
während die Patientin sich rasch klärt, so darf man sich keine zu weit- 
gehenden Hoffnungen machen; keinesfalls ist die Hysterie als geheilt 
zu betrachten. Anfälle während der Geistesstörung verschlechtem die 
Aussichten, ebenso wie Anfälle, welche durch Jahre vorhergehen. Am aller- 
entschiedensten aber wird die Prognose beeinflußt durch die Umgebung, 
durch die Behandlung der Hysterie. Kommt eine solche Kranke frühzeitig 
in die richtigen Hände, dann gelingt es wohl, die Chancen der baldigen 
Heilung um ein vielfaches zu steigern, wobei nicht verschwiegen werden 



342 

soll, daß die billigen Verpflegskiassen öffentlicher Irrenanstalten aus mehr- 
fachen Gründen nicht das Ideal darstellen. Die Anhäufung solcher Patienten, 
die hier unvermeidlich ist, birgt für dieselben eine Reihe von Gefahren, 
andererseits wird das behagliche Leben in der modernen Heilstatt fiir 
hysterische Proletarierinnen zum Reizmittel, daß sie ihrer Krankheit nur 
um so leichter erliegen. 

Um einen gewissen überblick zu geben über die Prognose an der 
psychiatrischen Klinik, seien die Zahlen angeschlossen, welche sich 
aus den drei letzten Semestern berechnen lassen: Todesfall ist natürlich 
kein einziger zu verzeichnen; von 145 Fällen hysterischer Psychose 
gingen 44 = 303 Prozent in die Versorgungs- oder Irrenanstalt ab, 
93 = 64-1 Prozent konnten geheilt entlassen werden nach durchschnittlich 
17 Verpflegstagen pro Kopf; der Rest wurde in Familienpflege gebessert 
abgegeben. Rezidivisten waren unter diesen 145 Fällen im ganzen 
17 = 11-7 Prozent. 

Diese Statistik ist natürlich zu ungünstig gegenüber der Wirklichkeit, 
falls man die hysterische Geistesstörung im praktischen Wortsinne faßt. 
Es sind die vielfachen Schädlichkeiten des Aufenthaltes in gemeinsamen 
Krankenabteilungen zu berücksichtigen; die Tatsache, daß eine in- 
dividualisierende Behandlung eigentlich nur in Ausnahmsfällen möglich 
war; Maßnahmen, die im nächsten Kapitel besprochen werden sollen, 
konnten nur in sehr beschränktem Maße herangezogen werden; zahlreiche 
Patienten wurden aus wissenschaftlichen Gründen ganz ohne Behandlung^ 
gelassen, zurückbehalten, bis auch die letzten AflFektreste abgeklungen 
waren, andere mußten aus administrativen Gründen rasch in die Irren- 
anstalt abtransferiert werden. Mag also auch die Hysterie einen Dauer- 
zustand darstellen, die hysterischen Psychosen geben im allgemeinen 
eine erfreulich günstige Prognose, die noch besser zu gestalten ein 
aussichtsvolles Beginnen ist. 



VIII. Therapie. 

Insofern man als Grundlage der Hysterie eine angeborene oder in 
früher Jugend erworbene Veränderung im Zentralnervensystem voraus- 
setzt, kann es eine im engsten Sinne kausale Therapie der Psychoneurose 
selbst nicht geben, wohl aber eine Prophylaxe, die bei der eben lebenden 
Generation einsetzend, in der nächstfolgenden ihre Wirkung zu entfalten 
vermag. 

Da direkte Heredität von Mutter auf Tochter in der Ätiologie der 
Hysterie eine große Rolle spielt, folgt daraus das Fortpflanzungsverbot 
für hysterisch veranlagte junge Mädchen. Die Degeneration der Nach- 
kommenschaft wäre auch zu beschränken, indem man Trunksucht der 
Eltern, den Mißbrauch anderer Nervina bekämpft. Diätetik des Ehelebens, 
der Schwangerschaft und der Kinderstube sollen intrauterine und Er- 
krankungen der ersten Lebensjahre möglichst verhüten. 

Dann ist bei der Erziehung, speziell bei der heutigen Mädchen - 
erziehnng, der Hebel anzusetzen. Die Erziehung hat einen sittlichen Kern 
auszubilden, zu lehren, daß man Unlustempfindungen unterdrücken und 
Entschlüsse nicht von Augenblicksimpulsen abhängig machen soll; sie 
hat gegen alle Unfälle des Lebens zu wappnen. Die Kritik muß geschärft, 
die Kinder angeleitet werden, selbständig zu denken und zu handeln. 
Träumereien, Schwärmereien, Sentimentalitäten ist möglichst entgegen- 
zutreten, frühzeitige Masturbation zu bekämpfen; überhaupt sollen sexuelle 
Erregungen vermieden werden. Man dulde die Neigung zum Alleinsein 
nicht, sorge für regelmäßig abwechselnde Beschäftigung, veranlasse die 
Kleinen, mit ihren Gedanken möglichst bei der Gegenwart zu weilen. Man 
schätze Offenheit, Wahrheit, Aussprache über alles; nur Hinterhältigkeit 
sei verpönt. Freilich kann die Erziehung die Himorganisation nicht um- 
schaifen, aber sie wirkt der Krankheitsdisposition, dem Emporkommen 
krankhafter Vorstellungsgruppen auf assoziativem Wege entgegen. 

In das Kindesalter fallen die wichtigsten ärztlichen Aufgaben, die 
noch ernster genommen werden müssen, wenn hysterische Züge erkennbar 
sind. Hat man es aber gar mit einem Anfalle hysterischer Geistesstörung 
— dasselbe gilt für körperliche Hysterie — bei einem Kinde zu tun, 
so muß dieses schleunigst in eine andere Umgebung gebracht werden, 
womöglich nicht in die Irrenanstalt, wo es allerlei aflfektvolle Eindrücke 
aufnimmt und für sein späteres Leben Verderbliches lernen kann. Die 



344 

kleine Patientin ist rücksichtslos zu behandeln, womöglich mit einem 
Schlage das Aufhören sämtlicher krankhafter Erscheinungen durchzusetzen. 

Auf die Erziehung durch das Leben, die sozialen Probleme und 
Schädlichkeiten haben die Ärzte keinen Einfluß. Als Freund und Berater 
wird aber der Hausarzt durch tröstlichen Zuspruch, durch Aufklärung, 
durch geräuschloses Eingreifen bei Gegensätzen oft vorbeugend wirken 
können. In der kritischen Zeit der Pubertät hat er auf hygienischer 
Lebensweise zu bestehen. Exzesse in Baccho sind unbedingt zu meiden, 
solche in Venere schädlicher als Abstinenz. Hysterisch veranlagte junge 
Männer tun im eigenen Interesse am besten daran, nicht zu heiraten; 
auch die Allgemeinheit hat ein Interesse daran. Ihre sexuellen Ansprüche 
lassen sich befriedigen, ohne daß die Degeneration propagiert und zum 
mindesten ein zweites Wesen unglücklich wird. Schwieriger macht mau 
dem Arzte die Beantwortung der Frage, ob hysterische junge Damen 
heiraten sollen, für die es keine Art gibt, extra matrimonium ihre 
psychische und physische Sexualität auszuleben. Von den Angehörigen 
wird in solchen Fällen die Ehe als Heilmittel direkt gefordert. Die 
Erfahrung spricht entschieden dagegen; die Ehe als solche wirkt nur 
schädlich. Traumen aller Art, auch sexuelle dauern während des 
Matrimoniums fort, und an Gemütsbewegungen, an die Vorgänge des 
normalen Geschlechtslebens, an Unbefriedigung wie an gehäufte Wochen- 
betten knüpft dann die Hysterie. Selbst hierzulande erinnert mianche 
Menage an das von einem Franzosen gezeichnete Bild: Die Gattin, über- 
trieben zärtlich, selbst in Gegenwart von dritten, verhätschelt den Ehe- 
mann, bis dieser ermüdet und kühler wird. Nun glaubt sie sich nicht mehr 
verstanden, erzählt überall von dem Unglück ihrer Ehe, sie lebt sich in 
dasselbe hinein, legt es darauf an, das Mißfallen ihres Mannes zu erregen. 
Sie scheut sich bei Mangel gesunder Urteilskraft auch nicht, Gewaltakte 
und ähnliches zu begehen, sie droht mit Selbstmord, aber ganz richtig 
bemerkt Las^gue: La femme hyst^rique menace de se suicider, mais c'est 
le mari, qui se suicide. 

Konkret wird sich vielleicht in dem einen oder anderen Falle 
anders entscheiden lassen. Wenn wirklich eine tiefe, zunächst unerwiederte 
Herzensneigung zu hysterischen Aflektäußerungen führt, so mag man sich 
entschließen, auch ärztlich sein Votum dahin abzugeben, daß hier die 
krankmachende Ursache aus dem Wege geräumt werde, aber die Garantie 
für einen glücklichen Ausgang kann man nicht übernehmen. Gerade 
wenn das junge Mädchen mit hochgespannten Erwartungen an den 
„Einzigen" herantritt, besteht die Gefahr, daß sie eine Enttäuschung 
erfährt, von der bei Hysterischen so häufigen Abnormität sexuellen 
Fühlens abgesehen; man bekommt erst eine unglückliche Ehe, eine 
hysterische Mutter und eine hysterische Tochter. Hier, wie im folgenden 
ist immer von Hystcria gravier die Rede; mit einem hysterischeu 



345 

Charakter, namentlich wenn er weniger ausgesprochen, sich abzufinden, 
ist bei gegenseitiger inniger Liebe nicht allzuschwer. Man kennt glückliche 
Paare, deren einer oder beide Teile an der Grenze des Hysterischen 
stehen, ja vielleicht gelegentlich hysterische Affektausbrüche offenbaren; 
sie genießen auch ihres Glückes in hysterischer Weise, in Superlativen. 
Trotzdem mag selbst in dubiis besser von der Heirat abgeraten werden; 
dieselbe bleibt ein Wagnis, dessen Gelingen nicht vorauszusehen ist. Der 
Warner erntet freilich keinen Dank, weder vorher noch nachher. — Für 
junge Leute ist die Ehe wohl eine hygienische Einrichtung; man darf aber 
nicht glauben, daß sie unbedingt vor Hysterie schützt. Es gibt Fälle 
genug, wo erst nuptial eine hysterische Geistesstörung bei anscheinend 
früher vollkommen gesunden Personen ausbricht. 

Nun aber zur Therapie. Die Hysterie als Möglichkeit irgendeinmal 
an hysterischen Erscheinungen zu erkranken, ist allerdings unheilbar; 
sie veranlaßt aber auch nie zum Eingreifen, solange sie nicht offen- 
kundig geworden ist durch das Auftreten nervöser oder psychischer 
Störungen, und diese alle sind exquisit beeinflußbar. Insofern ist die 
Diagnose Hysterie nicht nur wissenschaftlich, sondern hervorragend auch 
therapeutisch von Wichtigkeit. Fast könnte man sagen, es gehört zu den 
erfreulichsten Aufgaben des Arztes, eine akute Hysterie zu behandeln. 
Die Therapie bezweckt hier nicht nur durch rechtzeitiges Eingreifen und 
Schaffung von Gegenmotiven einer weiteren Entwicklung der Krankheit 
im Sinne der Willensschwäche möglichst Einhalt zu tun und so im 
ersten Augenblick, wo die hysterische Veranlagung manifest wird, der- 
selben entgegenzutreten; es gelingt in einer großen Zahl der Fälle, den 
Krankheitsverlauf bedeutend abzukürzen, der Umgebung viel Sorge und 
Mühe zu ersparen, manchmal die anscheinend schrecklichsten Zustände 
mit einer Promptheit zu beseitigen, die man sonst in der medizinischen 
Praxis nicht oft erreicht. 

Die Hysterie und speziell die hysterische Geistesstörung stellt 
eine psychogene Erkrankung dar, die Therapie muß in erster Linie 
eine psychische sein. Aus ihrem Erfolge schöpft man ja auch die 
Überzeugung bezüglich der Genese des Leidens. Diese Therapie kann 
für das einzelne Symptom tatsächlich zu einer kausalen Behandlung 
werden, ohne damit doch die Hysterie als solche zu heilen. Es scheint 
nur Freud zu glauben, daß er mit seiner speziellen Methode der 
Psychotherapie der Hysterie selbst an den Leib rücke, indem er un- 
respektive unterbewußte sexuelle Erinnerungen in bewußte verwandelt. 
Von der Hypnose kam F. bald ab; er drang mittels eines durch Kunst- 
griffe verstärkten Wachexamens gegen das unbewußte Seelenleben vor. 
Der Widerstand aber, den die Patienten der Eeproduktion der von 
ihm verlangten Erinnerungen entgegensetzten, veranlaßte den Forscher 
schließlich, die Hysterischen frei sprechen zu lassen und das, was er 



346 

haben wollte, aus ihren Äußerungen sich zu deuten. Auf die näheren 
technischen Details kann hier nicht eingegangen werden; sie sind wohl 
nur durch Freud selbst zu erfahren. Dieser Umstand sowie der außer- 
ordentliche Aufwand an Zeit, Mühe und Gedankenarbeit, den die Methode 
verursacht, vielleicht auch die Schwierigkeiten und die Eigenart der 
Deutekunst, dürften Schuld daran sein, daß die meisten Neurologen auf 
das Freudsche Verfahren fast a priori verzichteten, vielerlei Bedenken 
dagegen äußerten oder gar abfällig urteilten (Brodmann, Krafft-Ebing, 
Löwenfeld, erst jüngst in motivierter Weise Binswanger). Ich konnte 
in der Literatur nur einen Autor auffinden, Warda, der sich mit großer 
Begeisterung über diese Methode ausspricht. 

Warda legt einen nach Freud behandelten Kasus in ungewöhnlicher 
Breite auseinander, kann aber nur auf einen Mißerfolg hinweisen. 
Mit mehr Scharfsinn als Glück geht er dann ins Zeug, um die Ursache 
dieses Mißerfolges anderswo zu suchen als in der inadäquaten Methode. 
Der AngstaflFekt könne so hochgradig sein, daß keine Aussprache, keine 
Konzentration auf frühere Gemütszustände möglich ist, daß er keiner 
Suggestion weicht. In anderen Fällen gelinge es trotz tiefer Hypnose nicht, 
weiter zu klären; „nicht die Methode an sich, sondern vielleicht irgend- 
welche Mängel des Verfahrens im einzelnen Falle wird für diesen Miß- 
erfolg verantwortlich zu machen sein." Warum? möchte man sich doch 
zu fragen erlauben. Warda fährt fort: „Bei anderen Kranken verzichtet 
man mit Rücksicht auf das Auftauchen störender hysterischer Symptome 
oder Aufrührung schweren Unglückes." Wenn man aber Warda s 
Examina liest oder die Geständnisse anderer Hvsterischer, so erhält mau 
nicht den Eindruck, daß es sich um so grenzenloses Unglück handle. 
Die Patienten berichten oft nur über alltägliche Ereignisse. Man darf 
die zweite Komponente nicht übersehen, die hysterische Prädisposition; 
und wenn man Psychotherapie betreibt, so macht man sich dieselbe 
Eigentümlichkeit der Organisation zunutze, die auch zur Erkrankung 
geführt hat. Man setzt das Individuum psychischen Einwirkungen aus 
und hofft, daß auf Grund seiner Suggestibilität andere Vorstellungsreihen 
an Stelle der krankhaften treten werden. Es wird noch ausführlich davon 
zu sprechen sein, daß psychische Behandlung überhaupt bei Hysterie sehr 
wirksam ist, daß aber mehr die Beschäftigung mit den Patienten, das Er- 
wecken korrigierender und gesunder Ideenkreise als die Berührung alter 
zum Teil peinlicher Erinnerungen therapeutisch etwas versprechen. Unter 
den an der Klinik beobachteten Hysterischen ist eine stattliche Anzahl 
von solchen zu verzeichnen, wo ohne weitere Therapie, natürlich ohne daß 
ein sexuelles Trauma zum Abreagieren gebracht worden wäre, auf ein 
paar freundliche Worte hin Beruhigung eintrat, über früher aflfektbetonte 
Punkte gleichmütig gesprochen wurde, wo gleichzeitig auch die Stigmen 
schwanden und die Kranken als geheilt entlassen werden konnten. 



347 

Gegen die Freudsche Methode hingegen läßt sieh eine Anzahl 
Bedenken vorbringen. Der Autor selbst muß zugeben, daß sie in dringlichen 
Fällen nicht angewendet werden kann, weil sie viel Zeit erfordert, oft 
,, zunächst" die Krankheitserscheinungen verschlimmert. Weniger besagen 
würde, daß Freud refraktären Hysterischen begegnet; wichtiger schon 
für die theoretische Seite der Frage ist, daß Leute, die er mit seiner 
Methode von ihrer Hysterie geheilt hat, wieder erkranken, und zwar an 
den nämlichen Symptomen, daß diese Patienten gelegentlich es vorziehen, 
von selbst gesund zu werden. Bei der Freiheit, die F. den Kranken 
läßt, erstreckt diese Freiheit sich auch auf das Gesund-werden-woUen. 
Von schweren Aufregungszuständen, Anfällen, ja Psychosen, welche die 
Hysterischen beim Examen gelegentlich bekommen, sei ganz abgesehen; 
auf den Anstaltsarzt macht derlei natürlich keinen Eindruck, wiewohl 
es dazu zwingen kann, die Privatbehandlung einer solchen Kranken auf- 
zugeben. Wissenschaftlich bedeutsam, weil sie den Mechanismus des 
Freud sehen Vorgehens näher zeigte, war 

Beobachtung LH. 

Hanka N., 38 Jahre, verheiratet, mosaisch, wird am 3. Oktober 1902 
an die psychiatribche Klinik eingeliefert^ unmittelbar aus einer, allerdings 
nicht von Freud persönlich durchgeführten kathartischen Therapie heraus. 
Die lange fortgesetzte kausale Behandlung hat diese Kranke ganz in Kausalität 
verwandelt; sie leidet nicht an Symptomen^ sondern an Ursachen. Wenn man 
sie fragt, bringt sie nie eine Klage vor, sondern immer nur ein „weil". Ihr 
Denkprozeß hat sich ganz nach dem des behandelnden Arztes gemodelt; die 
Verstimmungen aber, die sie quälten, wurden immer schwerer, fährten 
schließlich zu ihrer Einbringung in die geschlossene Anstalt. Erst am 5. April 1903 
konnte sie in etwas beruhigtcrem Zustande ihren Angehörigen wieder über- 
geben werden. Die Progression des Leidens unter einer laugen und mühseligen 
Behandlung ist doch ein recht trauriger Erfolg. 

Die kathartische Therapie nach Freud — hier muß auch der 
Name Breuer genannt werden — scheint eine Suggestivbehandlung 
auf Umwegen, wenn Freud sich dagegen auch verwahrt. Während 
der Arzt sonst die krankhaften Vorstellungen direkt angeht, verknüpfen 
B. und F. die hysterischen Symptome mit Erinnerungen, speziell mit 
solchen, die eine zeitliche, zum Teil wirklich eine ursächliche Beziehung 
zum Symptom haben, wenigstens bestimmend wurden für sein Auftreten. 
Breuer und Freud lassen die Reminiszenzen abklingen; es heißt 
zugleich: Sie werden gesund, wenn Sie sich daran erinnern, nach einer 
fio und so langen Behandlung etc. Hat diese doch ganz unverkennbare 
Suggestion bei der Patientin gefangen, dann muß selbstverständlich die 
in Arbeit genommene Störung aufhören. Manche Hysterische verfallen 
von selbst auf einen derartigen assoziativen Umweg, indem z. B. 
eine bestimmte Wohnung mit der Krankheit in Kausalnexus gebracht, 
dann durch einen Wechsel des Domizils die Genesung eingeleitet wird. 



348 

Es scheint aber nicht angebracht, diesen Mechanismus in Form einer 
Methode zu verallgemeinern, wenn diese, wie schon gesagt, so um- 
ständlich, zeitraubend, nervenerschtitternd, vom Arzte die größte Selbst- 
aufopferung, von der Patientin willige und tätige Mithilfe verlangt, den- 
noch weder sicher noch nachhaltig wirkt, unter Umständen auch schadet. 
Trotzdem ist die Leistung, die in der Schaffung des Verfahrens liegt^ 
die glänzenden psychologischen Deduktionen, die sich an die Ergebnisse 
der Examina knüpfen, die neu gewonnenen Erkenntnisse über den 
psychologischen Zusammenhang hysterischer Phänomene nicht hoch genug 
anzuschlagen. 

Von theoretischen Erwägungen ausgehend hat Stadelmann eine 
Psychotherapie der Hysterie aufgestellt. Er verwendet die Hypnose, um 
in die Ursache der Erkrankung einzudringen und suggeriert Amnesie. 
Die Nachprüfung dieser Methode hat keine besonderen Resultate ergeben, 
gewiß, weil man auslösende Momente weder objektiv, noch subjektiv 
dadurch wegschafft, weil die Krankheit s Veranlagung außer Spiel bleibt, 
ja weil man ihr in die Hände arbeitet, indem die Hypnose keineswegs 
ein gleichgültiger Eingriff ist, am allerwenigsten für die Hysterie. 

In der Jahressitzung des Vereines deutscher Irrenärzte zu Weimar 
1891 referierten Binswanger und v. Krafft-Ebing über die thera- 
peutische Verwertung der Hypnose in Irrenanstalten. Von einzelnen 
unzuverlässigen Berichten abgesehen, wußte man bis dahin, daß es ganz 
vorwiegend Hysterische sind, die sich hypnotisieren lassen und die mit 
Hypnose erfolgreich behandelt werden. Wenn von funktionellen Geistes- 
störungen die Rede ist, so sind die Fälle entweder hysterieverdächtig 
oder es wurden die hochgespannten Erwartungen, die man an die 
hypnotische Behandlung knüpfte, stark herabgestimmt. Die Schule von 
Nancy vertritt zwar den Standpunkt, daß gerade die schweren, voll 
entwickelten Formen von Hysterie der Hypnose widerstreben; doch 
berechtigt das, wie schon eingangs auseinandergesetzt, nur zu dem 
Schlüsse, daß die krankhaften Eigensuggestionen stärker sind als der 
Arzt; der Kranke will nicht gesund sein, er reagiert wenig auf die 
Hypnose, er ist aber doch suggestibel. Binswanger berichtete, daß er 
sechs Fälle schwerer hysterischer Geistesstörung mit günstigem Erfolge 
behandelte, doch blieben Zeichen von Hysterie bestehen. Gelegentlich sah 
er böse Nebenwirkungen der Hypnose. Korreferent von Krafft-Ebing 
legte das Hauptgewicht auf eine richtige Redaktion der Suggestion. 

Seither hat sich der Standpunkt in der Hypnosefrage nur dahin 
geändert, daß man noch vorsichtiger und zurückhaltender mit ihrer 
Anwendung geworden ist. Die Erfahrung lehrt, daß es nur selten möglich 
wird, eine Hysterica zu überfallen, ihr ohne nähere Kenntnis ihres Wesens 
in der Hypnose sofort völlige Genesung zu suggerieren; es kann das nur 
gelingen, wenn die Persönlichkeit, welche der Hysterie gegenUbertritt, 



349 

derselben bekannt ist, als Autorität imponiert, wenn gerade eine o:tinstige 
Wendung im Krankheitsbilde, vorbereitet durch irgendwelche Innenvor- 
gänge, angebahnt worden ist. Wie alles bei der Hysterie komödienhaft 
aussieht, so ist es auch ihre Eeaktion auf die hypnotische Behandlung. 
Der unbefangene Zuschauer könnte den Eindruck empfangen, als ob 
Arzt und Hysterica sich gegenseitig etwas vormachen würden — sogar 
von wissenschaftlicher Seite wurde einer solchen Meinung Ausdruck 
verliehen. Es ließe sich noch hinzufügen, daß dabei immer die Patientin 
das Heft in der Hand hat, indem man nur so weit kommt, als die 
Hysterica gerade zu wollen scheint, nur daß man sich darauf einigt, als 
sei es jetzt der Wille des Arztes, der eben einen kleinen Erfolg in 
symptomatischer Beziehung errungen. Daß dieser Eindruck auf der Logik 
der Hysterie beruht, daß derartige Gedankengänge krankhaft sind, bedarf 
keines weiteren Beweises, wohl aber müßte erst bewiesen werden, daß 
die Hysterica im Oberbewußtsein tatsächlich so argumentiert, um das 
ganze Schwindel nennen zu können, und die krankhafte Grundlage dieses 
Schwindels wäre damit noch nicht aus der Welt geschafft. 

Einzelne Male widerstreben Autosuggestionen der Heilwirkung, die 
der Hypnotiseur beabsichtigt, namentlich bei der traumatischen Hysterie 
männlicher Individuen. Das würde indes wenig ausmachen. Viel schlimmer 
ist, daß zahlreiche Hysterische die Hypnose nicht vertragen. In der 
Literatur entbrannte ein lebhafter Streit, indem die Schule von Nancy 
alle Mißerfolge der Suggestionstherapie auf mangelhafte Technik und 
Mißbrauch der Hypnose zurückflihren wollte. Nach dem Zeugnisse 
berufener Autoren steht es aber nicht so. Ziehen meint, daß die vor- 
sichtigste Hypnose einen Dämmerzustand verschlimmern könne. Jolly 
ist. ein fast unbedingter Gegner der Hypnose. In Fällen kindlicher 
Hysterie hat B6zy Erampfanfälle bei Hypnotisierversuchen gesehen. 

Ein prächtiges Beispiel ausdauernder hypnotischer Behandlung 
publiziert Hebold, der einen Fall hysterischer Geistesstörung durch 
o Monate in fast täglichen Sitzungen hypnotisierte, teilweise mit ver- 
schlechterndem Erfolge; einzelne Symptome verschwanden, neue kamen 
dafür. Er, legt auch mehr Gewicht darauf, daß die krankhafte Persön- 
lichkeit unter den wirksamen Einfluß eines Gesunden gestellt, ein einheit- 
licher Kurplan durchgeführt werde. 

Selbstverständlich kann man von Therapie nicht sprechen, wenn 
den Patientinnen falsche Namen, Gesichts-, Gehörstäuschungen, Lähmungen, 
Kontrakturen suggeriert werden. Daß eine Fortsetzung solcher Versuche 
für die Wissenschaft etwas bedeutet, ist mit Recht anzuzweifeln. Der 
Arzt von heute wird sich darauf beschränken, auf die schonendste 
Weise zu hypnotisieren, bei leicht erregbaren Personen beruhigend, bei 
Zweiflern energisch im Sinne des vorherbestimmten Heilplaues Sugge- 
stionen zu geben. Aber selbst da macht man bedenkliche Erfahrungen, 



350 

ohne daß man die Technik dabei anschuldigen dürfte. An der Klinik 
wurde durch Fixierenlassen, durch wiederholten Zuspruch, durch Befehl, 
durch Augenschluß, durch Streichen, durch monotone Gehörreize, eventuell 
mit Hilfe von ein paar Tropfen Chloroform Hypnose herbeigeführt, oft 
mehrere Methoden nacheinander an einem und demselben Falle ver- 
sucht, ohne daß Unterschiede zu bemerken waren. Auch die rein verbale 
Schlafsuggestion hat bei Beobachtung XLIV Reizerscheinungen verursacht 
Dieselben blieben auch nicht aus, als man, wie dies verlangt wurde, 
gleichzeitig die Hand auf die Stirne legte. Bei ein und derselben 
Technik eines Untersuchers ist zu konstatieren, daß hin und wieder 
die lebhaften Krankheitsgefühle, der interessierte Krankheitswunsch sich 
nicht wegsuggerieren lassen; und kommt man mit Gewalt, so wehrt sich 
die Patientin und antwortet mit neuen hysterischen Erscheinungen. 

Es ereignet sich, daß die Idee des Beeinflußtwerdens, daß Wahn- 
ideen direkt an die hypnotische Behandlung anknüpfen, aber auch 
schwerere Geistesstörungen, autohypnotische Zustände wie bei Beobach- 
tung XXIV und Fällen der Literatur (Friedrich) können direkt durch 
die Hypnose ausgelöst werden. In allen diesen Fällen verzichtet man zu 
spät auf dieselbe. Man muß schon ein Ende machen, wenn sich eine all- 
zugroße Abhängigkeit der Kranken vom Arzte entwickelt. 

An der Klinik wurde die Hypnose zunächst zu wissenschaftlichen 
Zwecken angewendet. Das bei dieser Gelegenheit Gelernte fährte zu 
dem Entschlüsse, die Hypnose als therapeutisches Agens möglichst zu 
vermeiden. Gelingt es nicht, ein Individuum zu offener Aussprache zu 
bewegen, weil irgendwelche Hemmungen sich dem entgegenstellen, so 
mag man die Hypnose versuchen, wenn an der ätiologischen Klärung 
des Kasus viel gelegen ist. Im hypnotischen Schlafe erzählen junge 
Mädchen Dinge, die im Wachzustande zu erzählen sie sich manchmal 
zieren. Man kann dann auch auf diesem Wege korrigierend, tröstend, 
den Einfluß tiefsitzender Vorstellungen zerstören. Dabei muß man sich 
aber immer fragen, ob die schädlichen Folgen, welche man riskiert, 
leichter sind als die Übel, welche man beseitigen will. Liebermeister 
hat gewiß Recht, wenn er meint, es sei leichter durch Hypnose einen 
Gesunden hysterisch zu machen als eine Hysterie dauernd zu heilen; 
denn in den allermeisten Fällen bedarf es der Hypnose gar nicht. Es 
wird jetzt allgemein anerkannt, daß derjenige, der die Hysterie im 
Wachzustande nicht zu behandeln versteht, auch durch Hypnose keine 
besseren Erfolge erzielt. Man erfährt im Wachzustande alles, was man 
zu wissen braucht und kann jede therapeutische Suggestion geben. Nicht 
Hypnotherapie, sondern Psychotherapie verlangt die Hysterie. 

Diese Psychotherapie kann nicht besser einbegleitet werden als 
van Eeden dies tut, indem er bedauert, daß sie sich je vom Hypnotismus 
ins Schlepptau nehmen ließ, denn dieser hat mit der Psychotherapie au 



351 

sich nichts zu tun. Grundsätzlich darf man sich der Suggestibilität, wo 
diese vorhanden ist, zwar bedienen, aber dieselbe ohne Not niemals 
steigern. Stets behalte man die ideale Forderung im Auge, die individuelle 
Willensfreiheit zu schonen; nicht zu befehlen, sondern zu leiten, zu 
konzentrieren, anstatt zu verwirren, vor allem die Willenskraft und damit 
die Widerstandskraft zu erhöhen. Diese ideale Psychotherapie erlernt 
man nur zum Teile, indem der Erfolg des einzelnen von Imponderabilien, 
von anscheinend äußerlichen Kleinigkeiten abhängt. Nur leitende Grund- 
gedanken seien hier wiederzugeben versucht. Man muß zunächst trachten, 
das Vertrauen der Kranken sich zu erwerben, etwas, was auf keine 
Weise erzwungen, nur selten durch einen glücklichen Coup rasch, 
sonst meist durch Geduld und liebevolles Entgegenkommen allmählich 
gelingt. Die Tatsache, daß man es meist mit weiblichen Personen zu tun 
hat, erleichtert die Sache einerseits, gestattet dem Anstaltsarzt aber nicht 
eine größere Anzahl Hysterischer gleichzeitig und am selben Orte zu 
behandeln. Man knüpft an die Äußerungen der Krankheit an, läßt die 
Patientin über Entstehung, Bedingungen, Erscheinungsweise reden, ohne 
zuerst noch suggestiv zu wirken, man belehrt dann über die funktionelle 
Natur des Leidens, sucht Mittätigkeit anzuregen bei Bekämpfung der 
Symptome, man widerlegt durch freundlichen Zuspruch, setzt die 
Wirklichkeit den falschen Prämissen entgegen. Man erweckt Vor- 
stellungskreise, Bilder aus gesunder Vergangenheit, tröstet über das 
unausweichliche Mißgeschick, das ja jedem widerfahren muß; man darf 
auch Fatalismus predigen, oder die Patientin dazu bringen, daß sie 
aus philosophischer Höhe auf ihr kleines Ungemach herabblickt, man 
verspricht Möglichkeiten, die eine Wendung ihrer Lage herbeiführen 
könnten. Nachdem die Kranken ihrem Bedürfnis Genüge getan, sich 
alles vom Herzen gesprochen, geht man daran, andere Interessen zu 
wecken, um einen Ersatz, eine Ausfüllung zu bieten für die leeren 
Stellen im Gemütsleben. 

Außer Diskussion steht, daß diese Konversationstherapie, die teil- 
weise in den Rahmen der Anstaltsvisite fallen kann^ bei zielbewußter 
Leitung die Persönlichkeit der Patientin ganz unter den Willen des Arztes 
stellt, der in der öffentlichen Anstalt ja eine außergewöhnliche Autorität 
besitzt und so auf die naturgemäßeste und unschädlichste Weise zur 
Genesung führt. Diese Therapie ist das wichtigste Heilverfahren für 
die Hysterie im allgemeinen, namentlich bei lenteszierenden, viel- 
seitigen Formen, bei Rekonvaleszenten. Auf der Höhe eines Delirs beginnt 
man nicht damit; man wartet bis die Kranke traitabel geworden ist. 
Zugegeben soll werden, daß gewisse, charakterologisch schwer ab- 
norme Hvsterische unvorbereitet auch im Dauerzustande nicht dafür sich 
eignen. Allerdings sind das nur seltene Ausnahmen. Wenn man aber auf 
so eine überempfindliche Organisation trifft, die Krämpfe oder dergleichen 



352 

bekommt, so wie man sich mit ihr überhaupt nur beschäftigen will, dann 
muß diese pathologische Beizbarkeit durch eine der im späteren zu be- 
sprechenden Methoden beseitigt sein, ehe die Psychotherapie mit Nutzen 
einsetzen kann. 

In dem wohl durchdachten Heilplane, der vom Einzelnen nur wenig 
Kotiz nimmt, sich hauptsächlich gegen die Grundlage der Krankheit, 
den Gesamtzustand wendet, ordnen sich nun therapeutische Maßregeln 
der verschiedensten Art dem leitenden Gedanken unter. Man muß 
dafür sorgen, daß der Erfolg der Visite nicht durch die Umgebung 
der Kranken wieder zerstört werde; man wird darum degenerierte, un- 
disziplinierte Genossinnen von der Rekonvaleszenten möglichst fernhalten; 
es sind auch die Besuche, ja die Korrespondenz daraufhin anzusehen^ 
welche Reaktion sie bei der Patientin auslösen. Mit fortschreitender 
Oenesung wird man immer mutiger; man darf beginnen den Kranken 
gewissen Unannehmlichkeiten auszusetzen, ihm Personen vorzuführen, die 
•er früher nicht sehen konnte; er mag schon Dinge tun, welche früher 
Krankheitserscheinungen hervorriefen; man fragt ihn um die persönlichsten 
Angelegenheiten und bekämpft sofort mit Scherz und Ernst jede Spur 
einer etwa sich noch zeigenden Erregung. Nur dadurch erlangt man eine 
<jarantie für die Heilung. 

Ein sehr wichtiges Moment bei dieser psychischen Behandlung ist 
die Beschäftigung der Patienten. Man hat dieselbe zu einem Heilfaktor 
für sich erhoben und von einer Beschäftigungstherapie gesprochen. Be- 
wußte Tätigkeit vermag die Kranken von ihren Innenvorgängen ab- 
zubringen und sie dem realen Leben wieder zuzuführen; es soll das Spiel 
der Phantasie in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Wenn man gleich- 
zeitig die Aufmerksamkeit der Hysterischen schulen will, dann muß man 
ihnen eine Arbeit geben, die anregt; mit irgendeinem Handwerk, Laub- 
sägerei, häuslicher Beschäftigung, die den Kranken weder freut noch 
interessiert, wird nur selten gedient sein. Gartenarbeit, eine mehr 
künstlerische, schöpferische Tätigkeit wie Malen, Modellieren, nebst aus- 
gewählter Lektüre eignen sich ganz ausgezeichnet; Musik wird aktiv 
ausgeübt, passiv genossen. In neuerer Zeit kommen die verschiedenen 
Formen des Sports den Ärzten zu Hilfe. Überanstrengung ist zu vermeiden, 
sonst aber gibt es keine Kontraindikationen; selbst eine dysbasische 
Hysterica kann eine prächtige Radlerin sein. In Sport jederlei Art liegen 
zahlreiche Heilfaktoren, während man mit weiblicher Handarbeit wenig 
erreicht. Dieselbe wird mechanisch geleistet; sie beweist, daß die Kranken 
automatischer Tätigkeit wieder fähig sind, ohne aber therapeutisch zu 
wirken. Empfehlenswert ist ein geregelter aber abwechslungsreicher 
Stundenplan, welcher den ganzen Tag umfaßt. 

Endlich stehen im Dienste des Heilplanes therapeutische Maßnahmen, 
welche die Hysterie von der somatischen Seite her angehen. Sie alle 



353 

wirken mit einer psychischen Komponente, haben im gegebenen Falle 
ihre Indikationen und Kontraindikationen; sie helfen über Lücken hinweg, 
fördern die Vorstellung der Genesung. 

Auch hier hat sich eine spezielle Therapie in den Vordergrund 
gedrängt und den Anspruch erhoben, für sich allein die kausale Be- 
handlung der Hysterie darzustellen. Insoferne man die Hysterie immer 
und zu allen Zeiten mit den Genitalien in Zusammenhang brachte, wurde 
von den Gynäkologen ein außerordentlicher therapeutischer Eifer ent- 
wickelt, und zahllose Hysterische haben sich Eingriife, namentlich solche 
operativer Natur an ihren Genitalien, kranken sowohl wie gesunden 
gefallen lassen mttssen. Man ist seither durch die vielen Mißerfolge 
etwas abgekühlt und steht namentlich in deutschen Landen auf einem 
resignierteren Standpunkt. Doch hat erst neulich wieder ein Gynäkologe, 
Ziegenspeck, die Hysterie definiert als Krankheitserscheinungen ohne 
pathologisch-anatomische Grundlage im Gebiete des NervensystemB, meist 
hervorgerufen durch eine Erkrankung der Genitalien. Diese sei zuerst zu 
beseitigen, dann erst die eventuellen nervösen Beschwerden weiter zu 
behandeln. 

In der Arbeit „Zur Frage der kausalen Beziehungen zwischen 
Frauenleiden und Geisteskrankheiten" mußte die Proposition eines solchen 
Vorgehens zurückgewiesen werden. Theoretisch sind Beziehungen zu 
konstruieren, zweifellos gibt es eine große Gruppe von Genitalneurosen, 
wohl auch von Reflexpsychosen, aber bei hysterischen Geistesstörungen 
hat man die schwersten therapeutischen Mißerfolge zu verzeichnen. Eine 
erdrückende Fülle von Erfahrungen zwingt in der Praxis die Indikationen 
gynäkologischen Eingreifens bei Hysterie ebenso zu präzisieren, wie 
bei Geisteskrankheiten überhaupt: Ich resümierte (1. c): „Ergibt die 
bimanuelle Untersuchung einen pathologischen Befund, der eine Behandlung 
indiziert, so ist es geboten, den vorhandenen Ejrankheitszustand zu be- 
seitigen. Dabei ist jedoch das jeweils schonendste Verfahren, und wenn 
gleiche Rücksichten ftLr konservatives und radikales Vorgehen sprechen, 
das konservative zu wählen." 

Die Hysterie als solche kompliziert diese Indikationen vielleicht 
weiter; eine gynäkologische Untersuchung löst Affekte aus, die gelegentlich 
so schwer werden, daß der untersuchende Eingriff allein eine hyste- 
rische Psychose nach sich zieht Es ist besonders schrecklich und über- 
wältigend, wenn eine vorher anscheinend nur nervöse Patientin am 
Untersuchungstisch Krampfanfälle bekommt oder gar geisteskrank wird — 
tatsächliche Beobachtungen, die es bewirken könnten, daß die öffent- 
liche Meinung gegen eine gynäkologische Untersuchung Hysterischer nur 
ihrer Hysterie wegen, ohne sonstige Indikation, sich wehrt Ist eine 
Patientin einmal in psychiatrischer Behandlung, dann hat eine Indagation 
diese schlimmen Folgen nicht mehr. Geisteskrank ist die Patientin schon, 

Raimanu, Die hysterischen GeiKtesbtönin^en. 23 



354 

ein neuer Anfall geht vorüber, macht wenig Eindruck mehr, mau weiß, 
daß ein geringfügiger anderer Anlaß denselben Effekt gehabt hätte. Was 
die Notwendigkeit der Untersuchung betrifft, so möge der Arzt auch be- 
denken, daß er mit dem Erotismus der Hysterischen zu kämpfen hat, 
daß diese Kranken oft tatsächlich auf der Exploration nur bestehen, um 
irgendwelche Nebenabsichten zu erreichen. 

Endlich ist noch etwas nicht zu vergessen. Hysterische Beschwerden 
und Schmerzen werden in die Genitalien lokalisiert, ohne daß ein greif- 
barer Krankheitsprozeß vorliegen würde. Hysterische haben schon so 
eindringlich und hartnäckig zu klagen verstanden, daß man wegen 
„schmerzhafter Ovarienentartung'^ zur Kastration sich drängen ließ, mit 
dem Erfolge, daß die Hysterie höchstens ihre Erscheinungsform wechselte. 
Die beste Therapie kann in solchen Fällen Schaden stiften, man erzielt 
das Gegenteil von dem, was man erhoffte. Eine Anzahl eigener Er- 
fahrungen illustriert das Gesagte aufs Prächtigste. Einigemale ergab bei 
insuffizienten Hysterischen, die über Unterleibsbeschwerden lamentierten, 
die gynäkologische Untersuchung irgendeine Kleinigkeit, z. B. einen 
Descensus uteri. Wollte man demselben abhelfen, so waren die regel- 
mäßigen Folgen der von sachkundigster Hand vorgenommenen lokalen 
Behandlung, daß diese Kranken tränenüberströmt noch größere Schmerzen 
zur Schau trugen, wenn sie nicht in der gynäkologischen Ambulanz mit 
hysterischen Anfällen aufwarteten, die Ärzte dort beschimpften und ver- 
dächtigten. Diese Patientinnen wollen ja klagen* Wenn man ihren 
Krankheitswillen sanktioniert, ihnen die Dringlichkeit einer gynäko- 
logischen Behandlung zugesteht, dann äußern sich die subjektiven Be- 
schwerden erst recht stark und motivieren die Therapie. 

Boldt stellt für dieselbe folgende Indikationen auf: Es müssen 
alle übrigen therapeutischen Maßnahmen erfolglos geblieben sein, der 
Zustand sich zunehmend verschlechtem, tatsächlich Krankheitserschei- 
nungen in den Adnexen nachweisbar sein, und sich ein Zusammenhang 
der Anfälle mit der örtlichen Erkrankung feststellen lassen, z. B. men- 
struelle Verschlimmerung. Boldt verlangt weiter, daß wenigstens bei 
Betastung der Eierstöcke Anfälle auftreten, daß, falls eine Aura besteht, 
diese vom Ovarium ausgehe; werden alle anderen Ursachen für Hysterie 
ausgeschlossen und verhehlt man der Kranken das möglicherweise nega- 
tive Resultat nicht, dann dürfe man eine Salpingo-Oophorektomie vor- 
nehmen. Gegen diese strenge Einschränkung der operativen Behandlung 
wird sich wohl sachlich nichts einwenden lassen. 

Es scheint, als ob Ziegen speck die schon im Jahre 1897 erschienene 
Arbeit von Angelucci und Pieraccini entgangen wäre, welche das 
Ergebnis einer internationalen Umfrage über den Wert der chirurgisch- 
gynäkologischen Therapie bei Hysterie übersichtlich zusammenstellen. 
Die Autoren erhielten Berichte über 116 Fälle; davon wurden nur 17 



355 

== 146 Prozent gebessert oder geheilt; es ist indes durchaus zweifel- 
haft, ob da wirklich immer Hysterie vorlag. Andere Rubriken dieser 
Statistik lauten: Nach Totalexstirpation zwecks Behandlung der Neurose 
wurden geisteskrank 17 Hysterische, yerschlimmerte sich der Zustand 
von 10. — Nicht oder wenigstens nicht erkennbar hysterische Frauen, 
die nach Entfernung kranker Genitalien geisteskrank wurden: 24! Bei 
Behandlung zwecks Heilung ihrer Psychose blieben gleich oder ver- 
schlimmerten sich 19 Fälle. — Außerdem weist die Statistik 6 Hysterische 
aus, bei denen Heilung durch fingierte Operation erwirkt worden ist, so 
daß man auch in anderen günstigen Fällen, freilich auch bei den un- 
günstigen, an Suggestion denken darf. Letztere Komponente wird durch 
einen instruktiven Kasus von Alessandri näher beleuchtet. 

Eine Patientin, die seit dem 13. Lebeosjahre an schwersten hysterischen 
Anfällen leidet, war durch Hydrotherapie, Hypnose, Sanatoriumaufenthalt etc. 
nicht zu heilen. Sie wurde dann total ovariektomiert, wobei man atrophische, 
degenerierte Ovarien fand. Die Krankheit zessiert, um wieder hervorzubrechen, 
nachdem sich eine Blutung aus dem Genitale gezeigt hatte. Patientin glaubt 
unvollständig operiert worden zu sein und besteht auf Wiederholung der 
Operation. Man täuscht die Kranke durch einen einfachen Schnitt in die 
Bauchhaut, und die schweren Erscheinungen verschwinden. Indem man hier 
der passiven Operationswut der Hysterica nachgibt, hat man auf rein 
suggestivem Wege den Krankheitsprozeß beeinflußt. 

Körperlicherseits kann man günstig wirken in allen Fällen von 
Hysterie nach Vergiftung, nach einer schweren erschöpfenden Krankheit 
etc., indem man die Residuen der Intoxikation tilgt, die Rekonvaleszenz 
befördert, auf irgendeine Art die Widerstandsfähigkeit des Nerven- 
systems erhöht. Luft, Licht, Massage und Wasserkuren dienen zur Ab- 
härtung; als interne Medikation kommen die Tonica, Eisen und Arsen zu 
ihrem Recht, wie man zu sagen pflegt zur Verbesserung der Blutbildung. 
Der von Schubert so warm empfohlene Aderlaß (2 g Blut auf 1 kg 
Körpergewicht) imponiert vielleicht der einen oder anderen Hysterischen. 
Blutverluste werden von Frauen ausgezeichnet vertragen; vielleicht 
regt er die Blutbildung hin und wieder sogar an. Unmittelbar wirksamer 
scheint Hebung des Ernährungszustandes durch reichliche Diät, eventuell 
durch eine vorsichtige Überernährung. Jedes gewonnene und festgehaltene 
Kilogramm bedeutet eine Sicherung gegen Rückfälle aus geringfügigen 
Anlässen. Manchmal wird eine Hysterie erst ganz gut, nachdem man 
volles körperliches Wohlbefinden geschaffen hat. 

Von der ungeheuren Zahl arzneilicher Mittel, welche bei Hysterischen 
versucht, zum Teil als spezifisch gepriesen worden sind, soll erst gar 
nicht gesprochen werden; sie wirken der hier vertretenen Auffassung 
nach nur auf suggestivem Wege und können ebensogut nutzen als 
schaden, je nach den Suggestionen, welche die Patienten der Medikation 
entnehmen. Man gab Präparate von intensivem Geruch und Geschmack, 

'J3* 



356 

Asa foetida, Castoreum, Valeriana; Organpräparate, Spermin, Ovarial- 
tabletten, die schon durch ihre Kamen Eindruck machen müssen. 
Kleinwächter hat von Ovarialtabletten übrigens Nachteil gesehen, was 
besonders registriert werden soll; anderemale gentigte es, daß die wirk- 
same Substanz in festverschlossener Phiole auf das Nachttischchen gestellt 
wurde. Eine wahre Actio per distans. 

Das alles bezieht sich auf die Behandlung der Hysterie als solche. 
Nun hat man aber einen akuten Krankheitsfall; speziell eine hysterische 
Psychose vor sich, die eben in die Anstalt eingeliefert wurde in einem 
Zustande hochgradiger psychomotorischer Erregung oder im Gegenteile, 
schwer gehemmt Schon die Versetzung in die Irrenanstalt kann ein sehr 
wirkungsvoller therapeutischer Eingriff sein. Anfälle z. B. schneiden nicht 
selten mit der Internierung ab. In anderen Fällen liegt die Einbringung 
leider gerade in der krankhaften Gedankenrichtung der Hysterica; man 
möchte sagen, sie sei beabsichtigt und daher ohne Effekt; sie bestärkt 
sogar die pathologischen Eigensuggestionen, Wie jede äußerliche Be- 
handlung eine Anerkennung der Krankheit bedeutet, so ist auch die 
Internierung eine Bestätigung der Psychose. Die psychotische Umgebung 
vermag neue Symptome hinzuzusuggerieren. Darüber entscheidet die 
Eigenart des Falles, und die richtige Wertung derselben bedingt den 
therapeutischen Erfolg. Der ärztliche Scharfblick muß erkennen, ob die 
Internierung zu vermeiden ist; in jedem Falle wohl hat man sich zu 
bestreben, dieselbe möglichst abzukürzen. Für das hysterische Proletariat 
hat die Indikationsstellung keine Bedeutung; im Falle der Störung oder 
Gemeingefährlichkeit, und nur dann werden diese Kranken einer öffent- 
lichen Irrenstation zugewiesen; anders ist es mit den materiell besser 
gestellten Kreisen. Hier ist die Anstalt aber auch im Gegensatz zu den 
unbemittelten Volkskreisen, für welche sie eine Versorgung bedeutet, ein 
Gegenstand des Widerstrebens, des Schreckens und daher manchmal von 
gutem, oft von überraschend günstigem Erfolge. — Insofern schwere 
akute Erscheinungen vorliegen, ist es notwendig, die Kranken für die 
unumgängliche psychische Therapie vorzubereiten, sie traitabel zu machen, 
und hier steht eine Reihe von Methoden zur Verfhgung, als erste die 
Hydrotherapie. 

Allgemein läßt sich die Frage nicht entscheiden, ob bei den Hyste- 
rischen eine kalte Dusche nach vorhergegangener Wärmestauung vorteil- 
hafter ist als eine schottische Dusche oder eine kalte Abgießung. Rein 
symptomatisch behandelt man schwere Erregungszustände mit feuchten 
Einpackungen, die kalt angelegt werden und die Patienten gleichzeitig 
etwas beschränken. Nur für leichtere Exaltationszustände kämen laue 
Bäder in Betracht. Als erregende Prozeduren für Stuporfälle eignen 
sich kalte Duschen (nicht auf den Kopfl), kalte Abgießungen. Es ent- 
scheidet weniger eine geheimnisvolle Wirkung des Wassers, als der 



357 

starke Hautreiz. Je unangenehmer das Verfahren für die Kranke, um so 
wirksamer ist es; insofern darf man die Indikationen aueh frei variieren. 
Ein Glas kalten Wassers kräftig ins Gesicht geschüttet vermag hysterische 
Anfälle zu coupieren u. dgl., so lange die Patienten an den Kältereiz 
noch nicht gewöhnt sind. Energischer wirken Abklatschungen, kräftige 
Schläge mit nassen Kompressen, wie man sie auch zur Wiederbelebung 
Asphyktischer verwendet. Bei den mangelhailen Badeeinrichtungen der 
veralteten Irrenanstalten hat man ein viel bequemeres, handlicheres 
Therapeuticum in dem faradischen Pinsei, der ebenfalls kräftige Haut- 
reize setzt. Der Erfolg der Elektrizität beweist, daß es auf das Wesen 
der Prozedur gar nicht ankommt, zum kleineren Teile auf Heilsuggestion, 
zum größeren darauf, ein Gegenmotiv gegen die Krankheitssuggestionen 
abzugeben, den Willen zur Genesung zu stärken. 

Als ein ganz ausgezeichnetes Mittel zur Bekämpfung exzessiver 
hysterischer Aufregungszustände hat sich an der Klinik das Apomorphin. 
hydrochlor. erwiesen, das subkutan in einer Dosis von 0*005 — 0*02 an- 
gewendet wurde. So wie der Kranken übel wird, hört das Toben auf; 
der Brechakt schließt den Aufregungszustand definitiv ab, und nur 
abgehärtete Hysterische widerstehen dem Mittel. Da leicht Gewöhnung 
erfolgt, muß man sich darauf beschränken, das Apomorphin in einer nicht 
zu kleinen Dosis beim ersten Anlasse anzuwenden und dann durch 
längere Zeit zu pausieren, auch wenn die Indikation binnen kurzem sich 
wiederholen sollte. 

Hat man volles Verfügungsrecht über die Patienten, dann können 
mit derartigen Maßnahmen wahre Wunderkuren verrichtet werden, wenn 
es sich um akute, nicht gar zu tief sitzende Zustände handelt. Der 
chronische Hysterismus ist dadurch nicht zu beseitigen, im Gegenteil, 
die Kranken rächen sich dafür, daß man sie so schnell zur Genesung 
zwingen will. Im nächsten Kapitel wird ein Fall von Rouby zu berühren 
sein, der das Gesagte wohl am schrecklichsten illustriert. Der Mann dieser 
Hysterica ist darauf gekommen, daß für die AnfUUe und hysterischen 
Streiche Prügel die beste Therapie seien; dieselbe wirkte auch aus- 
gezeichnet. Die Frau wurde gesund, aber dem Mann kostete sie das 
Leben; er wurde von ihr vergiftet. 

Der Grundplan der Behandlung läßt sich nicht in eine Schablone 
zwängen. Man wird Erfolge erzielen und Mißerfolge zu beklagen haben 
nach den verschiedensten Methoden; man hat sich dann entweder in der 
Persönlichkeit der Hysterischen getäuscht oder die krankhaften Sug- 
gestionen, die Gegenmotive, sind stärker als der Arzt. 

Leichte Fälle werden spontan gut, indem die Patienten die nicht 
tiefliegende Idee selbst korrigieren; der gesunde Vorstellungsinhalt gewinnt 
das Übergewicht und führt zum früheren Ich zurück. Die meisten Formen 
des hysterischen Irreseins sind ihrer inneren Natur nach transitorisch, so 



358 

pflegt z. B. das typische Delir ohne jede Therapie in der kürzesten Zeit 
abzuklingen; es fragt sich nur, welcher Grad von AflFekterregbarkeit zurück- 
bleibt, ob die Kranke ohne jeden Eingriff auch entlassungsfähig wird. Man 
behandelt hier, von der Erscheinungsform ganz abgesehen, die Hysterie; 
die symptomatologische Therapie spielt nur eine untergeordnete Rolle. 

Wichtig ist die hysterische Organisation, grundlegend der Einfluß 
der Persönlichkeit, die man zu ändern versuchen muß, gegenüber den 
einzelnen Symptomen, die nur durch äußere oder abgeleitete Einflüsse 
von innen heraus bedingte Folgeerscheinungen jener sind und nur wenig 
Anknüpfung bieten. Es ist sogar ein Fehler, in jedem Falle alles behandeln 
zu wollen; speziell die Stigmen verschwinden ganz von selbst, ohne daß 
man das mindeste dazu tut. Den komplizierten Krankheitsbildern gegen- 
über ist es vielleicht sogar besser, etwas weniger zu medizinieren, als zu 
viel. — Es gibt zwei ganz entgegengesetzte Prinzipien, von denen aus 
man sein Vorgehen leitet. 

Die Therapie kann sich den Suggestionen der Kranken anschließen, 
man läßt sie gesund werden auf ihre Weise. Das ist eine vielleicht 
zeitraubende, aber sichere Behandlung, wenn man alles zu Hilfe nimmt, 
was dem Glauben der Hysterischen entgegenkommt. Wechsel des Auf- 
enthaltsortes reißt sie aus der Umgebung, an welche ihre Krankheits- 
zeichen anknüpfen, und vermeidet die neuerliche Anregung hysterischer 
Mechanismen. Die Patienten deuten selbst an, wie sie gesund werden 
wollen, wünschen nur etwas freundlichen, beruhigenden, tröstenden oder 
aufmunternden Zuspruch. Andere verlangen neuartige Kurprozeduren, 
einen Wechsel des Arztes, eine Autorität, und liier heißt es, rechtzeitig 
den Rat zu geben, die Kranke möge einen Wundermann weit in der 
Ferne oder einen Wunderort aufsuchen. Manche Kultstätten erfreuen sich 
als Kurorte eines Weltrufes, den sie ausschließlich Hysterischen verdanken. 
In dem Maße, als die persönliche Autorität des Behandelnden sinkt, bei 
gläubig veranlagten, sehr frommen Hysterischen ist durch eine derartige 
Ordination ein wenigstens augenblicklich glänzender Erfolg leicht zu er- 
zielen. Wenn die Autosuggestion nicht dahin lautet: mein Leiden ist so 
schwer, daß mir auch das brünstigste Gebet an geweihter Stätte nichts 
helfen kann — ein Gedanke, der mit wahrer Gläubigkeit unverträglich 
ist — muß die Ordination auch wirken, gibt jedenfalls der Kranken 
neues Vertrauen zu ihrem Arzte. 

Minder intelligente Hysterische sind der Psychotherapie jederlei 
Art im allgemeinen weniger zugänglich; sie bereiten gewisse Schwierig- 
keiten, wenn man ihnen nicht mit einem sieht- und fühlbaren Zeichen 
der unsichtbaren Einwirkung entgegenkommt. Man ordiniert entweder 
geräuschvolle Prozeduren, große Flaschen schön gefärbter Medikamente 
mit detaillierten, eventuell nur schriftlich zu berechnenden Dosierungen. 
Andere Kranke dieser Art haben aber eine unbesiegliche Scheu vor 



359 

interner Medikation, vor Medizingifteu, eine Suggestion, die gerade 
jetzt von gewisser Seite in die breiten Schichten des Volkes getragen 
wird. Dann tun Eniegüsse und Oberwickel dieselben Dienste. Glaubt 
man auf dem richtigen Wege zu sein, so darf man die Wünsche der 
Patienten vorher erraten und dieselben durch eine möglichst bestimmte 
Ordination auf ihre Weise gesund machen. 

Die ganz entgegengesetzte Methode, Hysterie zu behandelu, besteht 
darin, daß die Umgebung sich geradezu in einen Gegensatz zu der Be- 
achtungssucht, zu der Egozentrizität dieser Patienten stellt. Man schafft 
die Krankheit weg, indem man sie nicht anerkennt Eine alte Erfahrung 
lehrt, wie gtlnstig Isolierung, namentlich bei hysterischen Simulanten, 
Dämmerzuständen, bei hysterischen Kindern wirkt; die Patienten sind 
gewissermaßen enttäuscht, daß ihr schweres Leiden so gar keine Auf- 
merksamkeit erweckt; es fehlt der Anreiz, noch weiter krank zu sein. 
Man hat dieses Verfahren zu einem System ausgebildet und spricht von 
zweckbewußter Vernachlässigung. Dieselbe läßt sich nur dort anwenden, 
wo die Hysterica vollkommen in die Hand eines Arztes gegeben ist, denn 
speziell gegen diese Behandlung pflegen sich die Kranken zu sträuben. Man 
geht ruhig an ihnen vorüber wie wenn man es nicht merkte, daß sie 
sich in Krämpfen winden, daß sie halluzinieren. So nimmt die hysterische 
Nahrungsverweigerung am schnellsten ein Ende, wenn absolute Isolierung 
sogar die Möglichkeit brieflicher Klagen abschneidet. 

Man kann zwei Methoden verbinden, aber man darf niemals halbe 
Maßregeln ergreifen, keine Kompromisse schließen. Nimmt die als Beispiel 
herangezogene Patientin auch in der Isolierung nichts, so greife man 
entschlossen zum Nährschlauch. Gelingt es mit der nötigen Energie der 
Vorbereitung gleich am ersten Tage eine abstinierende Hysterica zum 
Essen zu bringen, sogar zur Annahme gewöhnlicher Kost, dann ist alles 
gewonnen. Wenn man eine hysterische Simulantin einmal zu faradisieren 
begonnen, dann muß diese Behandlung konsequent trotz des Widerstandes 
der Kranken fortgesetzt werden, bis Korrektur erzielt ist, sonst hat man 
verspielt und kommt gegen diesen Fall nicht mehr auf. Es ist gestattet 
geradeheraus zu reden, namentlich Kindern ganz direkt ihre „Dumm- 
heiten" zu verbieten, sie grob anzufahren. Ein sehr bekannter Autor — 
er übrigens nicht allein — hat Fälle kindlicher Hysterie durch einen 
Klaps, eine einzige Ohrfeige geheilt. Das entspricht durchaus dem Wesen 
dieser Krankheit, kollidiert nur mit dem Buchstaben des Strafgesetzes 
und dem, was humane Krankenbehandlung heißt. Man darf allerdings 
mit der Humanität nicht so weit gehen, daß man darauf verzichtet, eine 
Hysterie zu coupieren, daß man diesen Patienten lieber auf anderer 
Kosten nahelegt, möglichst lange passive Mitglieder der menschlichen 
Gesellschaft zu bleiben. 

Wie schon einmal gesagt, hat das ärztliche Trachten vielmehr dahin 



360 

zu gehen, eine Hysterie außerhalb der Wohlfahrtsanstalten zu erhalten. 
Wenn irgendeine bemittelte Familie sich den Luxus gönnt, einer solchen 
Kranken all ihre Launen zu erfüllen, so ist das Privatsache. Die Art, 
wie jemand sein ererbtes oder sonst irgendwie gewonnenes Vermögen zu 
genießen wünscht, steht ihm ebenso frei; er darf sich zeitlebens in einem 
Sanatorium verpflegen lassen. Wo ein schwerer Schicksalsscblag die ab- 
norme Organisation zu einer pathologischen Reaktion veranlaßt, verdienen 
diese Patienten das lebhafteste Mitgefühl und tätige Beihilfe, das Bemühen, 
ihnen Ersatz für das Verlorene zu schaffen. Wo aber Hysterische mit 
ethischen Defekten, antisozialen Neigungen die für Hilfsbedürftige ge- 
schaffenen humanitären Einrichtungen mißbrauchen, da möge man doch ein 
Veto einlegen. Leider sind die Mittel für öffentliche Wohlfahrtspflege überaus 
beschränkt, so daß eine Auswahl unter den zu Unterstützenden getroffen 
werden muß. Da scheint es nun nicht angebracht, gerade die Hysterischen, 
die sich vordrängen, zu begünstigen, während man vollwertige und darum 
wertvolle Organisationen im schweren Kampf ums Dasein in Elend sich 
aufreiben läßt, zum Schaden der Gesamtheit. Ebenso darf man nicht zu- 
geben, daß die Degenerierten die Spitalsabteilungen füllen und selbst 
Leuten den fiaum nehmen, die einer äußeren Schädlichkeit erliegend, 
durch das Krankenhaus wieder arbeitsfähig zu machen sind. Die soziale 
Gemeinschaft bedingt für jedes ihrer Mitglieder Rechte und Pflichten; 
pathologisch oder nicht, sozial ist jeder Mensch, für sein Tun verant- 
wortlich. Gelingt es nicht, den Krankheitswillen einer Hysterica zu 
besiegen, diese Patientin wieder auf eigene Füße zu stellen, dann dtlrfte 
es wohl genügen, ihr das Existenzminimum einzuräumen. Damit ist der 
krankhaften Grundlage genügend Rechnung getragen; denn keinem 
Gesunden ist dieses Existenzminimum garantiert. Die fahnenflüchtigen 
Elemente des gesellschaftlichen Organismus gehören in die Versorgungs- 
anstalt, als die billigste Verpflegsmöglichkeit. 



IX. Forensisches. 

Für das Zivilgericht hat die Hysterie kaum eine Bedeutung. Die 
„nervösen Anfälle" und die „Nervenkrisen" gehen immer rasch vorüber 
und lassen eine Entmündigung ebensowenig in Frage kommen wie der 
Dauerzustand des hysterischen Charakters, der nicht als Geisteskrank- 
heit im Sinne des Gesetzes vertreten werden kann. Die Hysterischen 
verstehen übrigens viel besser als Schwachsinnige ihre persönlichen 
Interessen zu wahren, bedürfen für ihre Person keiner Fürsorge. Die 
menschliche Gesellschaft nimmt sie als Charaktere, wie so viele andere 
Psychopathen und anerkennt ihre Privatrechte, ihre Schenkungsakte, ihre 
Testamente. Sollten sie durch ihr Gebaren das Vermögen der Familie in 
Gefahr bringen, dann scheint es besser, sie wegen Verschwendung als 
wegen „Wahnsinn" unter Kuratel zu setzen. Letzteres könnte nur zu 
fruchtlosen und dornigen Disputationen führen, worin denn eigentlich die 
behauptete Geisteskrankheit bestehe, die generell und in naturwissen- 
schaftlichem Sinne ja nachzuweisen ist, kaum aber in concreto bei den 
kommissioneilen Verhandlungen. Die Kranken nehmen sich da zusammen, 
machen den „vernünftigsten" Eindruck; sie wissen mit rabulistischer 
Logik alles Belastende harmlos zu wenden, sich als die besten und 
edelsten Menschen zu schildern; gerne drehen sie sogar den Spieß um, 
setzen ihre Gegner so herab, daß aus dem Beschwerdeführer ein Ange- 
klagter wird. 

Zu Eheirrungen und Ehescheidungen dürften die Hysterischen ein 
größeres Kontingent stellen. Während ihr Charakter mit all seinen 
unliebenswürdigen Seiten gerne an dem Partner sich auslebt, kommt das 
dissoziale Verhalten, ihr Egoismus bei ganz freier Bewegungsmöglichkeit 
nicht so zur Geltung; dem Fremden gegenüber sind sie oft die Liebens- 
würdigkeit selbst. Treten sie in einem Ehescheidungsprozesse öffentlich 
auf, dann zeigen sie 'sich wieder als die vollendetsten Schauspielerinnen, 
geben sich in der Rolle der vernachlässigten, unverstandenen Frau so 
überzeugend, daß sie das Publikum blenden, jedenfalls ein ihnen gün- 
stiges Urteil herbeiführen; mindestens bringen sie die Lacher und einen 
großen Teil der Öffentlichkeit auf ihre Seite. 

Selten werden zivilgerichtliche Ansprüche erhoben von Hysterischen 
auf Grund von Pseudologien Autosuggestion. So hört ein Patient Viberts 
von einem Eisenbahnunfall, meint er war dabei, glaubt sieh schwer ver- 



362 

letzt und verlangt Entschädigung; er spuckt Blut aus, behauptet von 
einem Fiaker niedergestoßen worden zu sein. Es können Schwangerschaft, 
sogar Entbindung vorgetäuscht (Pailhas) und hieraus Forderungen ab- 
geleitet werden. 

Regelmäßig stellen Ersatzansprüche die Fälle traumatischer Hysterie. 
Eine sehr berechtigte Forderung, neuestens auch von Kraepelin ver- 
treten, geht dahin, die Patienten sofort kapitalisch abzufertigen, sowie 
der Ausbruch unzweifelhafter Krankheitserscheinungen an einen Unfall 
respektive an einen Nervenshock unmittelbar anschließt Doch wäre die 
Höhe dieser einmaligen Abfindungssumme entsprechend zu restringieren; 
einmal mit Rücksicht darauf, daß gesunde Individuen auf ein nicht außer- 
ordentliches Trauma keineswegs mit traumatischer Hysterie antworten, 
daß es sich meist nur um die Reaktion einer schon vorher pathologischen 
respektive minderwertigen Persönlichkeit handelt; zweitens mit Rücksicht 
auf di« weitaus günstigere Prognose des Leidens bei Fortfall der geradezu 
krankheitsstimulierenden Rentenprozesse. Es scheint damit eine für alle 
Beteiligten günstigere Lösung der bis nun so kontroversen Fragen an- 
gebahnt. 

Von außerordentlicher Bedeutung ist die Hysterie für das Forum 
criminale. Die Rechthaberei dieser Patienten, ihre Pseudologien und 
Gedächtnisfälschungen verursachen den Behörden viele Mühe; ein ziem- 
licher Prozentsatz von Hysterischen vergeht sich gegen das Strafgesetz 
und bereitet Schwierigkeiten bei der Remedur, indem eine ausbrechende 
Psychose den Strafvollzug unmöglich machen kann. 

Wenn die Hysterischen als Zeugen vor Gericht stehen, deponieren 
sie durchaus unzuverlässig; die Ereignisse drehen und wenden sich in 
ihrer Darstellung, wie es gerade ihrem Zwecke und den herrschenden 
Vorstellungen entspricht. Das ist um so schlimmer, da die Kranken voll- 
kommen geordnet auftreten, plastisch schildern. Sie sind als Zeugen nicht 
einmal dann zu verwenden, wenn die eigene Person außer Spiel bleibt; 
denn sie treten auch äußeren Vorgängen mit Sympathien oder Antipathien 
entgegen, welche ihre Wahrnehmungen fälschen, sie werden durch die 
Fragen des Untersuchungsrichters suggestiv beeinflußt — und schwören 
einen Meineid. 

Das gefährlichste aber sind falsche verbrecherische Anklagen, Denun> 
ziationen. Es liegen historische Beispiele vor, daß Menschen ums Leben 
gekommen sind, indem die Patienten Dinge zu Protokoll gaben, welche 
in allen Details glaubwürdig, durch ihre Einzelheiten überzeugend, den 
Angeklagten außerstande setzten, einen strikten Gegenbeweis zu erbringen. 
Dergleichen geschieht in der Nachwirkung eines Delirs oder in reiner 
Pseudologie; charakteristisch ist es, wenn die Ereignisse weit in die 
Vergangenheit zurückgelegt werden; übrigens knüpfen die Kranken oft 
an einen nachweisbaren Anlaß, eine sensationelle Blättermeldung, welche 



363 

sie gewissermaßen suofgestiv überwältigt. Die Hysterie fabuliert dann in 
raffinierter und formell gewandter Weise, unterstützt ihr Lügengewebe 
durch Selbstverstümmelungen. 

In den letzten Jahren sind wiederholt Ritualmordanzeigen durch 
die Zeitungen gegangen; die Personen hatten sich selbst vorher irgend- 
eine kleine Epidermisverletzung beigebracht. Das zähe FeHthalten an der 
Behauptung, auch der Behörde und den Ärzten gegenüber, die handgreif- 
lichen Widersprüche in den Aussagen, zum Überfluß der gerichtsordnungs- 
mäßig erbrachte Nachweis, daß diesen Erzählungen jede Grundlage fehlt, 
gestatten hier auf Distanz die Diagnose Hysterie. 

Mit besonderer Vorliebe ist der Inhalt solcher aufsehenerregender 
Anzeigen aber ein sexueller. Die hysterischen Patientinnen sind Spezia- 
listinnen im Erleiden von Notzuchtsattentaten, eventuell mit räuberischem 
Überfall verbunden. Zum Teil handelt es sich um Autosuggestionen, eine 
pathologische Äußerungsweise des Erotismus dieser Kranken; anderemale 
aber stehen diese durchaus tiber dem Symptom, das seinen besonderen 
Zweck erhält. Mit vollem Rechte warnt man namentlich Ärzte davor, 
mit einer Hysterica unter vier Augen zu verkehren; es sei hinzugefügt, 
mit einer Person, die sie nicht näher kennen. Man kann es erleben, daß 
Hysterische mit der Anzeige eines unsittlichen Attentates drohen und da- 
durch den Betreffenden wehr- und widerstandslos machen. Seiner Ver- 
teidigung, soweit sie sich auf einfache Negation beschränkt, wird man 
nicht glauben, der allgemeinen Überzeugung nach spricht die Wahrschein- 
lichkeit gegen ihn; die Klägerin sagt unter Eid aus, und diesem kann 
er keine Zeugen gegenüberstellen. An der Klinik sah ich drei Patientinnen, 
welche mit erdichteten Notzuchtsattentaten die Behörden behelligten, 
dabei bezeichnenderweise von den Eltern wärmstens unterstützt wurden. 
Es sind Fälle in der Literatur wo sich Hvsterische selbst mit Stricken 
binden, auf den Boden legen oder gar knebeln, um ihrer Aussage mehr 
Glauben zu verschaffen (Pick, Vibert). 

Die Möglichkeiten lassen sich gar nicht erschöpfen. Das Krankhafte 
wird um so deutlicher, je mehr die Hysterischen bei diesen romanhaften 
Erfindungen das eigene Ich schädigen und gefährden. Es werden auch 
fingierte Selbstanzeigen erstattet. Anderemale arbeitet die hysterische 
Phantasie ganz im Dienste bewußter Vorstellungskreise, z. B. der Rache 
gegen eine bestimmte Person. Rouby teilt einen Fall mit, wo die 
Patientin in rücksichtsloser Konsequenz eine Familie zugrunde zu richten 
beabsichtigte. 

Die Tochter eines Trinkers, bis zur Pubertät gesund, von da sin 
seltene Hysteria gravi:» - Anfalle, neben ausgeprägt hysterischem Charakter 
häufige Schlafanfälle. Sie knüpft ein Liebesverhältnis an, verführt ihren Lieb- 
haber, verfällt beim Koitus in einen Schlafanfall, was den Mann so erschreckt, 
daß er sich zurückzieht und eine andere heiratet. Wütend darüber macht sie 



364 

mit ihrer Mutter ein Komplott; den Liebhaber zu vernichten. Sie schneidet 
Weinreben ab; denunziert jenen Mann und seinen Bruder als Täter, behauptet 
Augenzeugin des Krimens gewesen zu sein. Sie beschwört ihre Aussage und 
setzt Verurteilung durch. Die ganze Familie jenes Mannes wird durch sie ver- 
leumdet und schlecht gemacht. Ein Jahr später kommt die Kranke verwundet 
daher gerannt; denunziert den Onkel ihres Geliebten des Mordversuches an 
ihr; angeblich aus Rache, setzt auch dessen Verurteilung durch. Dann spielt 
sie genau dieselbe Komödie gegen einen anderen Onkel; der glücklicherweise 
ein Alibi erbringen kann. 

Für kurze Zeit wechselt nun ihre Hysterie die Form. Ihre Mutter 
alarmiert das Dorf und führt die Leute zum Bette der PersoU; die mit einem 
Kranz um ihr Uaupt daliegt, den ein Engel des Nachts gebracht haben sollte 
nebst einer Rolle, auf welcher stand: Corona martyri. Die Geistlichkeit stellte 
sich auf ihre Seite. Man opferte reichlich dem Mirakel. Mutter und Tochter 
zogen dann im Lande umher, teils als Heilige; teils als Hetären. 

Dann kam die Patientin auf ihren früheren Ideenkreis zurück. Sie legte 
Feuer an ihr HauS; schnitt in einem Stall einer Kuh die Euter ab; denunzierte 
abermals ihren Liebhaber; diesmal aber ging es ihr schlecht. Sie mußte flüchten; 
wurde eines Tages bei Diebstahl betreten und verurteilt; schließlich wegen 
Giftmord lebenslänglich eingekerkert. 

Auf die Anklagebank gerät nur ein Bruchteil aller Hysterischen, trotz- 
dem die Hysterie, wie schon gesagt, im Grunde ihres Wesens eine disso- 
ziale Erkrankung bedeutet. Es gibt Hysterische, die freilich zunächst aus 
Rücksichten auf sich selbst ein so hohes ethisches Niveau einhalten, daß 
sie nie kriminell werden; den apathischen und insuffizienten Formen 
fehlt die Initiative verbrecherischen Tuns; das Strafgesetz tibertreten vor- 
wiegend die moralisch defekten, die mit krankhaften Impulsen behafteten 
Hysterischen. Da überdies die weiblichen Degenerierten ein Äquivalent 
in der Prostitution finden, das vorwiegend verbrecherische männliche 
Geschlecht aber viel weniger zu Hysterie neigt, ist die Zahl der hyste- 
rischen Kriminellen begrenzt. Eine Statistik von selten der Hysterischen 
zu geben, ist sehr schwer, weil man wenig abgeschlossene Biographien 
überblickt; die eigenen Fälle stehen teilweise in so jugendlichem Alter, 
daß die Kriminalität noch kaum begonnen haben kann. Moravcsik 
verzeichnet unter seinen Hysterischen 19 Prozent Kriminelle. Besser er- 
sieht man die Bedeutung der Hysterie für das Strafrecht, wenn man das 
Verhältnis der hysterischen Verbrecher zu den übrigen ansieht. Schnitze 
fand unter 32 in die Irrenanstalt eingelieferten Militärgefangenen 7 Hyste- 
rische, Koppen unter den von 1891 — 1901 in der Irrenabteilung der 
königlichen Charite beobachteten 381 gerichtlichen Fällen 18 Hyste- 
rische = 4-7 Prozent. Natürlich ist diese Zahl zu klein, denn zahlreiche 
Hysterische werden glatt verurteilt, ohne daß Zweifel an ihrer Zurechnuugs- 
fahigkeit auftauchen; andere werden als offenkundig geistesgestört un- 
mittelbar der Irrenanstalt zugewiesen. 

Die Art, in welcher die Patienten gegen die soziale Ordnung sich 
vergehen, ist eine verschiedene. Ihr Übermaß von Affekten, ihre Reiz- 



365 

harkeit, ihre Eifersüchtelei ftlhrt zu Aggression gegen die Umgebung, die 
sich zunächst nur in wörtlicher, dann aber in tätlicher Ehrenbeleidigung 
äußert; doch greifen sie auch zum Vitriol. Sie rächen sich ftlr vermeintlich 
erlittene Unbill durch rücksichtslose Verleumdung, Irreführung der Be- 
hörden, durch boshafte Sachbeschädigung; sie intriguieren, schicken 
anonyme Schmähbriefe, beschwören Skandalprozesse herauf, in denen sie 
sich etwa als Zeugen vernehmen lassen. Ihre Verstellungsfahigkeit begabt 
sie zur Ausführung von Betrügereien; ihre Beweglichkeit zu Eigentums- 
delikten. Unter den Gelegenheits- und Ladendiebinnen befindet sich eine 
ziemliche Anzahl hysterisch veranlagter Frauen. Eine man möchte sagen 
hysterische Spezialität sind Verbrechen zu wohltätigem Zwecke, aus 
religiösen Motiven: Betrug, Urkundenfälschung im Dienste der Philan- 
thropie, raffinierte, durch lange Zeit fortgesetzte Diebstähle, wobei das 
ganze gewonnene Geld ehrlich in einen Altarscbmuck umgesetzt, einer 
Madonna gestiftet wird. Andere Hysterische spielen die Rolle von Hoch- 
staplerinnen, von ihrer Pseudologie wirksam unterstützt; sie führen ein 
abenteuerndes Leben, heiraten mehrere Männer gleichzeitig, helfen sich 
durch konvulsive Anfälle über einen peinlichen Anklang aus der Ver- 
gangenheit Doch können Hysterische auch Kapitalverbrechen begehen: 
Brandstiftungen, räuberische Überfälle, Vergiftungsversuche. Totschlag 
seitens dieser Kranken ist selten, eher gehen die Hysterischen hinter- 
rücks auf ihre Feinde los, mit Gift, oder sie töten kleine Kinder, die 
keine Gegenwehr leisten können. In der Literatur vnrd über eine Anzahl 
hysterischer Kindesmörderinnen berichtet: der sprechendste Beleg für die 
Warnung hysterisch veranlagte junge Mädchen aus therapeutischen Gründen 
zu verheiraten. Beispielsweise seien zwei Fälle Hospitals zitiert: 

I. Schwer belastete, von Kindheit auf exzentrische Person. Am Hochzeits- 
tage begeht sie allerlei Streiche, verlangt einen andern zu ehelichen, zerreißt ihre 
Kleider. Obzwar sie ihren Mann haßt, ist sie höchst eifersüchtig, äußert wieder- 
holt homizide Drohungen. Eines Abends ertränkt sie ihre drei Kinder, legt sich 
dann ruhig schlafen, läuft am nächsten Morgen zu den Behörden, um nach 
dem Verbleib der Kinder zu fragen, reist in die Heimat, behauptet lachend, 
sie habe keinen Mann und keine Kinder, wolle jetzt einen andern heiraten. 
Amnesie für die Straftat. 

II. Tochter eines Alkoholikers erstickt eines ihrer Kinder, indem sie 
den Ann auf dessen Hals preßt. Auch sie behauptet hinterher, von der Tat 
nichts zu wissen. 

Im Jahre 1903 hat sich in Wien ein Fall dieser Art zugetragen, 
der beträchtliches Aufsehen hervorrief. 

Eine nach außenhin in glücklichster Ehe lebende Frau tötete ihr jüngstes, 
viertes Mädchen durch einen Revolverschuß in die Schläfe; natürlich im hyste- 
rischen Dämmerzustande, d. h. die Patientin gab Erinnernngslosigkeit an. Es 
ist wohl wahrscheinlich, daß die Tatsache keinen Sohn zu bekommen, die 
schwer hysterische Frau zum Morde geführt hat; Leitgedanke war, den letzten 
und schwersten Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen. 



366 

Gramer erzählt von einer Hysteriea, die eigentlich grundlos ein 
fremdes, einjähriges Kind erstickte, indem sie demselben Gras in den 
Mund stopfte; Wollenberg von einer Frau, die sich mit ihren zwei 
Kindern zu ertränken versuchte, nur ein Knabe kam dabei uul Die 
Drohung hysterischer Mütter, mit ihren Kindern ins Wasser zu springen, 
ist eine ganz regelmäßige (vgl. Beobachtung XXVI u. a.). Tatsächlich 
führen pathologische Affekte die Patientinnen zu solchen Demonstrationen, 
die nur glücklicherweise meist gut ausgehen; so stürzte sich eine Mutter 
mit dem Sprößling am Arme vor die elektrische Straßenbahn — nach 
dem Buchstaben des Gesetzes ein Mordversuch am Kinde; mit Rücksicht 
auf die Ortlichkeit, eine belebte Hauptstraße, wohl nicht so gefährlich 
und auch nicht so gemeint. 

Im Arch. de neurol. (1893, 26, 95) wird von einer Hysteriea 
berichtet, die einen Totschlag mittels Revolvers sogar an einem Erwach- 
senen ausführte. Männliche Hysteriker sind manchmal ganz brutale 
Mörder. So wirft ein Kasus Tambronis nach einem kleinen Streite 
seinen Freund ins Wasser und gesteht später die Tat, die er anfangs zu 
leugnen versuchte. Auch ein Patient Osbornes verübt ein Mordattentat 
im hysterischen Dämmerzustande. 

Zur Verantwortung gezogen, verhalten die Hysterischen sich ver- 
schieden. Nur wenige gestehen, beschönigen ihre Tat; womöglich wird 
der Spruch befolgt primum defensionis nega. Die Kranken sind außer- 
ordentlich geschickt, den Verdacht von sich ab, auf andere zu wälzen; 
sie denunzieren dabei Unschuldige ganz rücksichtslos. Andere wissen 
nichts von ihrer Tat, können sich nicht erinnern oder sie bieten offen- 
kundig hysterische Symptome, Anfälle, wenn die Sache ftlr sie ungünstig 
verläuft, eine Entscheidung gegen sie bevorsteht. Man sieht Kriminelle, 
welche vorher für gesund gegolten hatten und erst nach Entdeckung der 
strafbaren Handlung Zeichen von Hysterie erkennen lassen. Es kommt 
jetzt eben ein treibendes Motiv für den Krankheitswillen hinzu; die 
Psychoneurose hat aber in dem Individuum geschlummert, wenn es auf 
die Gemütsbewegungen des Strafverfahrens mit hysterischem Irresein ant- 
wortet. So ein Kasus, wo postkriminell zum ersten Male eine Geistes- 
störung ausbricht, ist 

Beobachtung LIII. 

Marie S., 26 Jahre alt^ katholisch^ Geschäftsdienersgattin^ wurde im 
Oktober 1902 wegen Mißhandlung ihres unehelichen Kindes bezirk8geri()htlich 
zu 8 Tagen Arrest verurteilt. 

Am 14. Dezember starb eines ihrer ehelichen Kinder; da sich an dem- 
selben Verletzungen zeigten, wurde die gerichtliche Obduktion beantragt, 
der Gatte dem Landesgerichte eingeliefert. Es war gerade die Zeit^ wo von 
der Staatsanwaltschaft die Propaganda gegen Kindermißhandlungen in so 
schneidiger Weise eröffnet worden war. Die Frau, gegen welche das Ver- 
fahren auf freiem Fuße geführt wurde, fiel sofort durch ihr deprimiertes 



367 

Wesen auf. Nach wiederholten Verhören, brach am 17. Dezember abends in 
ihrer Wohnung Feuer aus, dadurch verursacht, daß die Person, weil sie sich 
fürchtete, eine Kerze anbrannte und sie auf einen Korb stellte, der später in 
Brand geriet. Dem Polizeiarzte fUllt auf, daß die Frau sich schwer erinnert 
und viel weint. 

Bei der Ankunft an der Klinik zeigt Patientin depressive Verstimmung, 
leichte Angst; sie ist zeitlich orientiert. Örtlich nicht. Der Gedankengang ist 
schwerfällig, wickelt sich über hunderterlei belanglose Details nur mühsam ab, 
ohne daß die Kranke jedoch den Faden verlieren würde. Sie ist nicht im- 
stande, auf Zwischenfragen zu antworten oder von einem gegebenen Zeitpunkt 
an weiter zu erzählen; man muß sie aussprechen lassen. Patientin berichtet 
außerdem über Sinnestäuschungen. In einer Nacht, als ihr Mann schon von 
der Polizei abgeführt war, hörte sie — zirka 1 Uhr in vollkommen wachem 
Zustande — einen schweren Wagen heranpoltern, der immer langsamer fuhr 
und vor dem Hause stehen blieb, worüber sie große Angst empfand. Dann 
rief jemand unten: ^Jesus, Maria, Josef !^; eine andere Männerstimme sagte 
darauf: „Na, na, na.^ Ersteres war die Stimme ihres Gatten. Sie hörte ihn 
dann noch durch einige Stunden unten sprechen, husten und glaubte, daß 
er ihr durch die Freiwillige Rettungsgesellschaft zurückgebracht worden sei; 
doch machte sie keinen Versuch, sich davon zu überzeugen. — Diffuse all- 
gemeine Drnckempfindlichkeit. 

19. Dezember. Patientin erklärt, auch hier große Angst zu haben; sie 
weiß nicht, was mit ihr geschehen werde, spricht immer in derselben, außer- 
ordentlich schleppenden, umständlichen Weise. 

20. Dezember. Nachmittags ängstlich, erregt, behauptet die Stimme ihrer 
Schwester hinter der Türe zu hören. 

22. Dezember. Nachts schlaflos. Weint bei der Visite. 

24. Dezember. Behauptet allnächtlich an der Zimmeruhr ihren Gemahl 
zu sehen. Deutet den schwarzen Fleck im Mittelpunkte der Uhr als den Mann, 
den Zeiger als Regenschirm, außerdem sehe sie ihre ,,Mietzl^. Eine alte Zimmer- 
genossin erklärt sie für ihre Mutter. „Das lasse ich mir nicht nehmen.^ 

26. Dezember. Patientin andauernd depressiver Stimmung, ersucht um 
ein "Mittel, daß ihr das Blut wieder vom Kopfe herabsteige. 

28. Dezember. Der Gatte wird aus der Haft entlassen, die Untersuchung 
mangels eines Tatbestandes eingestellt. Patientin wesentlich freier, zweifelt an 
der Realität ihrer Sinnestäuschungen, empföngt mit großer Freude den Mann, 
der sie heute besucht. Wird am 

31. Dezember von der psychischen Störung geheilt entlassen. 

Eine gewiß etwas schwachsinnige Person, welche bereits einmal wegen 
Kindermißhandlung verurteilt worden ist und bei der jetzt herrschenden Tendenz 
einer größeren Strafe entgegensieht. Nach den ersten Verhören beim Landes- 
gericht bricht akut ein Hemmungszustand mit Halluzinationen herein, der 
den gewissen unaufrichtigen Zug und das atypische der hysterischen Psychose 
an sich trägt. Patientin hört des Nachts die Stimme ihres Mannes, der ihr 
zurückgebracht wird. Es sind also ihre Ideenkreise, die laut werden. Sie sieht 
den Gatten am hellichten Tage in der Uhr, als sie der Arzt darum fragt; fällt 
aber sonst nur durch außergewöhnliche Schwerfälligkeit auf, die eine höher- 
gradige Demenz vortäuschen würde. Der Zustand verschwindet, als ihr Mann 
entlassen wird und sie durch ihren Aufenthalt am lieobachtungszimmer ge- 
nügend immunisiei*t ist. 



368 

Diese Form hysterischer Psychosen geht fließend aus bewußter 
Simulation hervor. Wie einen kriminellen hysterischen Stupor und DS-mnaer- 
zustand, so gibt es auch eine hysterische Simulation, wie im Kapitel VI 
bereits berührt wurde. Eine DifiFerenzierung von der symptomatolog-ischen 
Seite her ist nicht wohl möglich, eigentlich auch nicht notwendig; Indi- 
viduen, die erst nach der Straftat abnorm psychische Zustände ofFenba^reii. 
sind auf Grund dieser nicht zu exkulpieren. Man sieht nicht wenig Psjrcho- 
pathen, die während der gerichtlichen Voruntersuchung mit Selbstmord- 
drohungen um sich werfen, üferpromenaden lieben oder gar oberfläch- 
liche Hautschnitte sich beibringen, ihre Verstimmung und ihre Aflfektt* 
maßlos übertreiben, eventuell Sinnestäuschungen dazu lügen. Bei Hyste- 
rischen ist dergleichen quasi die normale Reaktion; die Gemütsbeweg-on^i: 
veranlaßt gehäufte Krampfanfälle, aus der Depression wird eine Art 
Melancholie. Noch leichter kommt es zu hysterischen Geistesstöruog-eii 
bei psychogen veranlagten Menschen in der Untersuchungshaft 

Auf das Trauma der Entdeckung folgt ein zweites. Der Inkalpat 
wird vom Verkehr mit der Außenwelt isoliert, er ist in öder Muße nur 
mit sich, mit dem ihm drohenden Schicksal beschäftigt Hier muß das 
Irresein allerdings deutlicher werden, damit es für die Behandlung des 
Angeklagten entscheidend wird. Ein markierter Selbstmordversuch genügt 
nicht. Diese Geistesstörungen nehmen dann oft die weniger für das Indi- 
viduum als für die Rechtspflege und die Allgemeinheit ungünstige Wendung, 
daß das Verfahren verschleppt wird. Hören die gerichtlichen Verhand- 
lungen auf, so verschwindet natürlich die Hysterie, sie ist nicht mehr not- 
wendig. Das Verfahren wird aufgenommen, die Hysterie ist wieder da 
und macht sowohl die Verhandlung, wie nach der geltenden Auffassung 
die Strafverbüßung unmöglich, eventuell muß sogar die Internierung in 
die Irrenanstalt durch längere Zeit erfolgen. Einen solchen Fall einer 
recht interessanten hysterischen Psychose, wo die Hysterie auch schon 
in die Straftat hineinspielt, also bei der Begutachtung selbst Schwierig- 
keiten machte, stellt dar 

Beobachtung LIV. 

Marie A., geboren 1864, katholisch; ledig, Dienetmädchen, kommt am 
19. Oktober 1901 an die Klinik. (Dem gerichtsärztlichen Gutachten Prof. 
Fritsch und Dr. Probst sind die meisten anamnestischen Angaben entnommen.) 

Die Behörde erfuhr, daß Marie A. in der Nacht vom 3. auf den 
4. Juni 1901 heimlich geboren habe. Nach Aussage von Zeugen hatte 
sie ihre Schwangerschaft durch beständiges Tragen eines enggeschnttrten 
Mieders zu verbergen gesucht; sie gab Kolleginnen, denen ihr geringer 
Leibesumfang am 4. Juni aufgefallen war, an, sie sei nicht schwanger 
gewesen, habe nicht geboren, sondern nur am 2. Juni menstruiert; davon 
rührten auch die an Rock und Hemd gefundenen Blutflecken. A. verrichtete wie 
gewöhnlich ihre Obliegenheiten, besuchte die Kirche, nährte sich wie sonst und 
arbeitete noch am 7. Juni im Walde. Als am selben Tage die Gerichts- 



omhk: 
tweDiii.'; 












369 

aü) U kommission erschien^ faod sie die A. ie der Wohnung aaf der Ofenbank 
)rDO(JK liegend, mit geschlossenen Augen, anscheinend leblos, nicht vernehmbar. In 
iiQ jv: einer Ecke des Kastens fand sich in ein Wftschebündel eingewickelt eine 
weibliche Eindesleiche noch mit der Nabelschnur; dieselbe wies an beiden 
Halsseiten bläuliche Flecken auf. Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab, 
dafi das Kind lebensfähig war, lebend zur Welt kam und seinen Tod durch 
ideofrE Erstickung gefunden. 

t^eDjVK Inkulpatin, die auf den Gemeindearzt, der sie seit 15 Jahren kennt, den 

Eindruck einer geistig nicht normalen Person gemacht hatte, gab beim bezirks- 

gerichtiichen Verhöre am 10. Juni an, sie sei am 3. Juni von heftigen Unter- 

ieibsschmerzen befallen worden, habe um Mitternacht zur Hebamme nach 8ch. 

i^^'' sich begeben, diese aber nicht angetroffen. Am Wege zu einer Bekannten sei 

BtiE sie von der Geburt überrascht worden. Sie habe das Kind nach Hause ge- 

üdi^f. tragen, zunächst ins Bett, dann in den Kasten gelegt. Wie lange sie bei der 

Geburt im Freien war, weiO sie nicht. 

Im Herbste 1900 will sie zum ersten Male mit einem Manne intim ver- 
kehrt haben; im Oktober hatte sie die letzte menstruelle Blutung; sie dachte 
ft in den Wechsel zu kommen (!), zumal sie eine besondere Zunahme ihres Leibes- 

j^ umfanges und anderweitige Beschwerden außer Schwellung der Beine nicht 

beobachtete. Doch widersprechen sich diese Angaben fortwährend. Bald be- 
hauptet sie, sich ihres Znstandes nicht bewußt gewesen zu sein, dann erklärt 
sie wieder, sie habe aus ihm anderen gegenüber kein Hehl gemacht. 
il!:r: Beim Verhöre am 26. Juni fiel sie plötzlich vom Sessel, fing an, sich 

j,..-: in Krämpfen zu winden. Am 4. Juli wieder vernommen, war sie apathisch, 

schwer besinnlich, klagte über andauernden Kopfschmerz und mangelnden 
Schlaf. Betreffs ihres Deliktes bemerkt sie, sie habe vielleicht während des 
Geburtsaktes durch ihre Nachhilfe ohne böse Absicht dem Kinde etwas getan 
und sei dann wohl bewußtlos gewesen, denn plötzlich war ihr sehr kalt und 
sie lag mit dem Kinde zwischen den Füßen am Boden. Die Nabelschnur 
müsse sie, ohne es zu wissen, abgerissen haben; am Heimweg sei dann die 
Nachgeburt abgegangen. Am Morgen habe sie das Kind im ELasten verborgen, 
da ihr leid war und sie es hie und da ansehen wollte. 

Mutter der Patientin seit der Verheiratung geistig nicht normal, sprach 
oft Unsinn, besonders zur Zeit der Periode. Während einer ausgesprochenen 
Laktationspsychose kam sie mit der Inkulpatin in die Hoffnung. Diese selbst 
machte als Kind Scharlach durch, war im Lernen schwach; mit Eintritt der 
Menstruation begannen transitorische Störungen: sie redete irre, aß nichts, 
lief in den Wald. Aber aach außer der Zeit der Menses benahm sie sich auf- 
fällig, war bald sehr niedergeschlagen, wortkarg, sprach 2 — 3 Tage mit 
niemandem, band sich ein Tuch über Augen und Stirne, damit sie niemand 
anschauen solle. Um nicht in Gesellschaft anderer s^in zu müssen, blieb sie 
im Winter tagelang mit dem Spinnrocken im Kuhstall. Wenn sie ihren ^Rappel^ 
hatte, mußte man ihr ausweichen; jede Widerrede brachte sie in Wut, sie 
hätte sofort losgeschlagen. Sie war überhaupt boshaft; warf z. B. auf dem 
Acker eines Fremden den Pflug in einen Graben, hatte Freude daran, anderen 
zu schaden; mitunter ohne Grund ausgelassen lustig. Das letzte halbe Jahr bis 
zu ihrer Verhaftung war sie indeß unauffällig, arbeitete tadellos. 

Ein gerichtsärztlicher Befund vom 25. Juni 1901 konstatiert subjektiv 
Klagen über Kopfschmerzen, scheuen, meist abwärts gerichteten Blick, schwer- 
fälligen Gang, zeitweises Zittern der Hände. Patientin antwortet erst nach 
längerem Nachdenken, unvollkommen, seufzt tief auf. Sie weiß nur von 

Raimann, Die hysterischen Geistesstörungea. ^4 



dl- 

fij': 



[r 



370 

zehn Monnten, kann dieselben nicht aufzählen, gibt mtihsam die Namen ihrer 
sechs Geschwister an. Zar Kenntnis ihres Deliktes will sie erst naeh dem 
Erwachen aus dem Schlafe im Krankenhause gelangt sein. Während sie Aber 
hartnäckige Schlaflosigkeit klagt, versichern die Saalgenossinnen, dafi A. gut 
schlafe; während sie Besuchern gegenüber tiefes Schweigen beobachtet, ist 
sie in Gesellschaft ihrer Kolleginnen lebhaft und gesprächig. Einmal benahm sie 
sich derart, als ob sie einen Fraisenanfall bekomme. Auf Äußerung einer 
Genossin: ^Da werde ich gleich um den Aufseher schicken^ erklärte sie aber 
sofort: „Es ist schon wieder gut." Auf Grund des widerspruchsvollen Ver- 
haltens der A. wurde dieselbe ins Wiener Landesgerichts-Inquisitenspital zur 
weiteren Beobachtung transferiert. 

Hier erscheint Patientin in ihrem Benehmen sehr auffallend, kindisch 
scheu, hie und da auch ängstlich. Sie zittert dann am ganzen Körper, faltet 
die Hände, rutscht auf den Knien herum und ruft: „Ich bitt von Herzensgrund» 
ich bitt gar schön, ich bitt' alles nur nicht aufhenken, Kopf abhacken und 
alles, nur nicht aufhenken, ich bitt, ich bitt, Himmelsgericht, Jesus Maria und 
Josef steh mir bei, Herr verlaß mich nicht, nimmer fort von da, ich bitt, 
ich bitt, da bleiben, da bleiben, bitt schön. ^ Inkulpatin ist schwer zu be- 
ruhigen, auch in Phasen von Beruhigung sind nur dürftige Auskünfte von 
ihr zu erlangen. Zuzeiten antwortet sie etwas williger, doch stets zögernd, 
wie nach längerem Nachsinnen und in defekter Form. Ihr Befinden bezeichnet 
sie als „nie gut^. Auf die Frage, was ihr eigentlich fehle, spricht sie von 
„lauter Beuteln und nicht liegen können'^, der ganze Kopf tue ihr weh; es 
sei ihr bald kalt, bald warm, sie habe sich vor Schmerzen schon öfters nieder- 
legen müssen; auch leide sie an Schwindel, da die ganze Hitze in den Kopf 
komme. Von einer ihrer Bäuerinnen habe sie Anfälle erwischt, die sie nicht 
näher beschreiben kann. 

Auf die Frage, wann sie das erstemal mit einem Manne zu tun gehabt, 
bemerkt sie nach einer Pause, sie sei ohnehin verlobt mit dem Herrn 
Pfarrer von lüer, weil sie ihn gern habe. Von wem das Kind? „Das ist 
schon gestorben." Wie heißt der Vater? „Ich weiß nicht ... er war 
Häuslmann und ist bald danach gestorben." Sie will von der Schwangerschaft 
selbst nichts gewußt, das Schnüren des Leibes gewöhnlich mäßig vorgenommen 
haben. Nur wegen ihrer geschwollenen Füße, auf Anraten einer Freundin 
suchte sie Hilfe bei einer Hebamme, Schmerzen trieben sie auf den Weg; sie 
sei dann von der Geburt überrascht worden. Über den Vorgang dabei enthält 
sie sich jeder Aussage; sie schüttelt über Vorhalt ihrer Tat den Kopf, ohne 
ein Wort zu sprechen, versichert dann, sie habe das Kind behalten wollen 
und es „alleweil recht abgebusselt". Eine Kränkung über den Tod desselben 
ist an ihr nicht wahrzunehmen. 

Geringer Tremor der Zunge, sehr starker der Hände; die tiefen Reflexe 
an den oberen Extremitäten sind erhöht, die Kniereflexe stark gesteigert, 
Andeutung von Fußklonus. Beim Stehen mit geschlossenen Augen Schwanken. 
Der Puls konstant sehr frequent, 150. Im Gesichte zu Beginn der Unter- 
suchung fleckige Rötung, die immer ausgebreiteter und schließlich difihis wird. 

Im folgenden wechselndes Verhalten. Oft teilnahmslos, schweigsam; zeit- 
weise weinend und betend; mitunter hilft sie beim Waschen aus und entwickelt 
großen Fleiß. Nahrungsaufnahme und Schlaf sind normal, keine AnfMle. 

1. Oktober. Am Beobachtungszimmer blickt Patientin starr vor sich 
hin, zeigt fatuöse Miene, spricht spontan nicht. Zeitlich erscheint sie im 
Groben orientiert, über den gegenwärtigen Aufenthaltsort ist sie völlig im 



371 

Unklareo, macht auch keinen Versuch, sich aufzuklären. Den Orand ihrer Ein- 
bringung weiß sie nicht. 

2. Oktober. Tagsüber still; abends wird die Kranke unruhig; sie bleibt 
nicht zu Bette^ geht händeringend im Zimmer herum^ schreit unaufhörlich die 
eine Phrase: „Mein Vater ist im Zuchthaus." Betet dann durch einige Stunden 
laut; nachts schlaflos. Am 

19. Oktober kommt die Kranke in der Irrenanstalt an. Auch hier er- 
scheint sie apathisch, antwortet oft mit: ,,Ich weiß nicht." Es gelingt 
nachzuweisen, daß sie auch örtlich orientiert ist, sie sei jetzt in dem dritten 
Hause, seitdem man sie von ihrer Heimat weggeführt; sie charakterisiert die 
einzelnen Aufenthaltsorte. Durch viele Fragen läßt sich die (an der Klinik 
noch unbekannte) Tatsache eruieren, daß. man sie angeklagt habe, sie hätte 
ihrem Kinde etwas gemacht. Sie sei auf dem Wege zu der Hebamme von 
Geburtswehen ObeiTascht worden; war ganz allein auf freiem Felde, wurde 
bewußtlos und als sie wieder zu sich kam, sei das Kind tot gewesen. Sie 
habe dasselbe mit nach Hause getragen, sei schließlich an das Kreisgericht W. 
eingeliefert worden. All das sei „schon lange her". Patientin meint, daß 
sie vielleicht krank sei, sie müsse zittern, wenn man sie unrecht anrede. Sie 
schlafe oft schlecht. Exploration auf Sinnestäuschungen negativ. 

Hochgradigste Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit. 

20. Oktober. Nahrungsaufhahme und Schlaf gut. Patientin will tagsüber 
stets aus dem Bette, ist zu sprachlichen Äußerungen wenig geneigt, antwortet 
meist: Ich weiß nicht, beginnt plötzlich zu weinen, hört ebenso schnell damit 
w^ieder auf. — Nachmittags heftiger Angstaffekt; die Kranke wiederholt un- 
ausgesetzt die Worte: „Wo bin ich, wo bin ich .... ?" 

22. Oktober. Kein Ohren-, Nasen-, Würgreflex, allgemeine totale Anal- 
gesie, die auch der Behandlung mit faradischer Bürste und stärksten Strömen 
zunächst nicht weicht. 

23. Oktober. Unempfindlich gegen Nadelstiche und Kneifen von Haut- 
falten, äußert jedoch Schmerz dem faradischen Pinsel gegenüber. 

24. Oktober. Fühlt heute auch Nadelstiche an den gestern faradisierten 
Hautstellen schmerzhaft, nicht aber an anderen Körperpartien. — Psychisch 
dauert die Hemmung an. 

Nachmittags behauptet Patientin auf der Weide zu sein und die Schafe 
zu hüten, widerstrebt jeder Korrektur. Sie wird nachdrücklich darauf hin- 
gewiesen, daß sie doch zu Bette liegt. Sie blickt aber starr vor sich, fixiert 
nicht, verbigeriert endlich: „Da ist's lustig etc " 

28. Oktober. Fragt unausgesetzt in ängstlichem Tone: „Wo sind wir 
denn?" Behauptet vielerlei „Vieher" bei Nacht zu sehen. 

30. Oktober. Liegt zunächst ruhig da, fragt dann: „Wo bin ich heute?" 
Spricht den Arzt mit Du an, hält ihn für einen Bischof. Später schreit sie 
durch einige Minuten: „Oehts nit fort . . . nichts ... da gibt es nichts . . . . d. h. 
Patientin wandelt die unaufhörlich wiederholte Phrase im angedeuteten Sinne 
um, dabei erfolgen rhythmisch schlagende Bewegungen mit der rechten Hand. 
Augen geschlossen, das Gesicht wird langsam dunkelrot. 

2. November. Seit gestern abends in der Zelle, ganz unzugänglich, läuft 
im Schutzkleid im Kreise herum, kreischt unausgesetzt mit kaum mehr ver- 
ständlicher Stimme: „Den Staatsanwalt gehts gar nix an .... " Totale 
Analgesie. 

4. November. Ähnlicher Aufregnngsznstand. — Wiederholt in der Nacht 
den Satz: „Die Kaiserkrone geht es gar nichts an .... " 

24* 



372 

5. November. Früh anzugänglich; repetiert immer die zwei Worte: 
„Gras ist .... '^ Sie beachtet Anffordernngen nicht. Es wird der faradische 
Pinsel zu Hilfe genommen, ohne daß Schmerzreaktion erfolgt trotz stärkster 
Ströme. Die Kranke lä6t sich aber mit einiger Nachhilfe aus dem Bette 
bringen, scheint sich der Situation soweit bewußt, daß sie ihr Hemd richtet. 
Gesichtsausdruck frei; hartnäckiger Mutazismus. Ftiße zyanotisch und warm. — 
Tagsüber uriniert Patientin nicht, sie ißt und trinkt nicht, spuckt das in den 
Mund geschobene aus. 

6. November. Zu Bett mit relativ freiem Gesichtsausdruck. Behauptet 
den Arzt nicht zu kennen, antwortet auf die weiteren Fragen: „Ich weiß nicht^ 
oder bleibt ganz stumm. Hautempfindlichkeit schon gegen mittelstarkes Kneifen; 
bei der faradischen Pinselung jammert die Kranke lebhaft, gibt auf einmal 
prompte und richtige Auskünfte über Alter, Geburtsjahr; sie weiß sich auch 
in einem Spitale; nur auf die Vergangenheit will sie nicht eingehen. — 
Linke Mamma und Ovarialgegend hyperästhetisch. 

7. November. Starke Hemmung, Gesicht zyanotisch. Später Verbigeration. 

8. November. Freier. Auf die Frage nach ihrem Alter nickt Patientin 
mit dem Kopfe, flüstert: „Jänner, Feber . . . . ^ Im folgenden verkehrte Ant- 
worten oder ein: ^Ich weiß nicht.^ 

9. November. Stark gehemmt, befolgt Aufforderungen sehr zögernd: 
benennt vorgehaltene Gegenstände nicht, wohl aber prompt und richtig, als 
der faradische Pinsel angesetzt wird. 

10. November. Da die Nahrungsverweigerung andauert, wird Patientin 
künstlich genährt. Sie sträubt sich anfangs wenig, ruft nur immer: „Ich bitt, 
ich bitt schön." Sie wird dann aufgefordert, das Bett zu verlassen; was sie 
nur sehr widerwillig tut; als sie sieht, daß man sie anziehen will, wehrt sie 
sich verzweifelt. Sie wird überwältigt, ruft dabei immer: „Nicht abholen . . ." 
Sowie man sie ausläßt, reißt sie mit außerordentlicher Geschicklichkeit und 
Überlegung das Schutzkleid von rückwärts auf. Sie erhält ein neues und Hand- 
schuhe; beißt dieselben dreimal hintereinander auf. Die Kranke erweist sich 
als sehr gut orientiert, spricht den Arzt mit seinem Titel an. Nach kurzer 
Zeit gibt sie der Wärterin das Versprechen; ihr Kleid anzubehalten^ wenn 
man ihr die Handschuhe abnehme. Hierauf sogar Nahrungsaufnahme. Schlaf 
sehr gut. 

14. November. Patientin ist unerschöpflich in der Anwendung immer 
neuer Finten^ wenn man sie von einer ihrer Eigenheiten abbringen will. Es 
ist kaum durchzusetzen, daß sie außer Bette bleibt. 

15. November. Wiederholt heute endlos die Phrase: „Ich habe die 
Doktores beleidigt .... 

16. November. Sitzt oder geht mit langsamen Schritten, gesenkten 
Hauptes. Der fast maskenartig starre Gesichtsausdruck wird nur durch zeitweise 
Lippenbewegungen unterbrochen. 

22. November. Mit größter Mühe gelingt es, unter Zuhilfenahme einiger 
faradischer Pinselungen und Androhung einer Wiederholung derselben, die 
Kranke von der Tobabteilung auf eine bessere und ruhigere zu bringen. 

30. Dezember. Im wesentlichen unverändert. Patientin bewegt sich in 
schwerfälliger Weise oder liegt herum; ist analgetisch. Die Wangen zeigen 
gewöhnlich blaurote Flecken, auch die Hände sind meist schweißig, kühl und 
blaurot verfUrbt. Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie halb lächelnd vor 
sich hin. Die Schwester die zu Besuch kommt, erkennt sie nicht; auch auf 
dringende Fragen erwidert sie nur mit flüsternder Stimme, ganz unpassend 



373 

das Wörtchen ;,Ja"; anderemale ist eine weitgehende Orientierung nachzu- 
weisen. Sie muß am heutigen Tage gegen Revers entlassen werden. 

Das Meritorische des Falles hat größte Ähnlichkeit mit dem einer 
hysterischen Kindesmörderin, über die Cullere berichtet. 

Marie A. verheimlicht mit großem Raffinement ihre Schwangerschaft^ sie 
ist weder vor, noch nach der Geburt erkennbar psychisch gestört, arbeitet 
wie sonst. Erst als die Gerichtskommission erscheint, liegt sie im Stupor da. 
Drei Tage später gibt sie im ersten Verhör zusammenhängend Auskunft, stellt 
alles ganz harmlos dar, Itlgt sich so gut heraus als eine Person ihrer Intelligenz 
nur vermag. Doch kommt schon jetzt das subjektive Krankheitsgefühl. 6 Tage 
später stürzt sie vor dem Richter im hysterischen Anfall zusammen. Ihre An- 
gaben wechseln fortwährend; konsequent ist Patientin nur darin, daß sie von 
ihrem Verbrechen nichts wissen will, trotzdem sie eine Menge von Details verrät. 

Bei der ersten gerichtärztlichen Untersuchung erweckt sie den Eindruck 
einer Simulantin; im Wiener Inquisitenspital tritt die Psychose mehr hervor; 
doch erhält man neben scheinbar verwirrten Reden eine zusammenhängende 
Darstellung ihrer Unschuld. An der Klinik wechseln verschiedengradige Blöd- 
sinnszustände. Die Patientin weiß indes ganz gut, worum es sich handelt, nur 
Über die Einstellung des Verfahrens scheint die bäuerliche Person nicht 
recht versichert; sie empfing wohl den Eindruck, als stehe sie noch immer 
unter Beobachtung. Die Äußerungen ihrer Krankheit beziehen sich deutlich 
genug auf das Krimen, das ihren Bewußtseinsinhalt beherrscht: ,. Staatsanwalt, 
nicht abholen! . . . "^ Wenn der Verlauf leider auch nicht weiter verfolgt 
werden konnte, und der Dämmerzustand reichlich mit katatonen Einzelsym- 
ptomen durchsetzt ist, so scheint die richtige Wertung des Ganzen durch 
den psychologischen Aufbau wie durch die Beeinflußbarkeit, äußerlich auch 
durch das Vorhandensein von Stigmen gewährleistet. Patientin läßt sich durch 
den faradischen Pinsel nicht nur sensibel machen, sie gibt Auskunft, ist bei 
methodischem Vorgehen nach dem Willen des Arztes zu dirigieren. Es ist so 
recht hysterisch, wenn sie ihre Schwester nicht zu erkennen vermag, trotzdem 
sie die Personen der Umgebung genau unterscheidet. Möglicherweise hat die 
Vorbereitung zur Abreise ihren Zustand auch noch verschlechtert. Jedenfalls 
hat diese Hysterica ihre Krankheitsvorstellung mit dem Eigensinne Imbeziller 
aufrecht erhalten. 

In foro wäre hier zuerst die Frage zu beantworten, in welcher Art 
Bewußtseinszustaud die kriminelle Handlung nnternommen worden ist Inkul- 
patin leugnet, das lebende Kind erwürgt zu haben. Damit ist natürlich gar 
nichts anzufangen; es kann eine bewußte Lüge sein — primum defensionis 
nega. Die inkriminierte Handlung erscheint in ihren Motiven, vom Standpunkte 
des Täters aus zweckmäßig^ und überlegt, hier speziell durch lange Zeit vor- 
bereitet: erst wurde die Schwangerschafl: verheimlicht, dann der lebende 
Beweis des Fehltrittes beseitigt; auch die immer durchblickende genaue 
Erinnerung an die Tatumstände spricht für ein ungestörtes Bewußtsein; während 
Anhaltspunkte für ein Irresein tempore criminis nicht auffindbar sind. 

Allgemein stellt sich das Problem etwa folgendermaßen. Scheinbar 
lazide Individuen, die sich geordnet benehmen, werden kriminell, behaupten 
hinterher Amnelle, d. h. sie stellen die Straftat in Abrede. Wie soll man 
das auffassen? Ist eine schwere Hysterie nachweisbar, so mag trotz zahl- 
reicher offenbarer Lügen die Amnesie echt sein, d. h. es kann eine transi- 



374 

torische Geistesstörung mit Sicherheit niemals ausgeschlossen werden, 
wenn sie im konkreten Falle auch überaus unwahrscheinlich wird. Aus 
ganz unverdächtigen Beobachtungen geht hervor, daß auf dem Boden des 
hysterischen Charakters, dieses grundlegenden Dauerzustandes Schwan- 
kungen in der Helle des Bewußtseins, Einengung, selbst Trübung desselben, 
namentlich im Affekt zustande kommen. Um hier vertreten zu können, 
daß eine scharf abgehobene Psychose gerade nur tempore criminis be- 
stand, müßte die vorgegebene Amnesie über allen Zweifel sicherzustellen 
sein und das ist leider fast nie möglich. Oft sind die angeblichen Be- 
wußtseinslücken von sehr kurzer Dauer, die Patienten verraten Detail- 
kenntnisse, vielleicht aus der Zeit unmittelbar vorher oder nachher ge- 
schöpft, sie wälzen den Verdacht mit großem Geschick unter Berück- 
sichtigung der Tatumstände auf andere. Noch schwieriger wird die 
Sache, wenn die Amnesien sich verschieben, wenn die Erinnerung kurz 
nach der Straftat noch vorhanden, erst im folgenden verschwindet. Diese 
Patienten geben das Verbrechen zu, das sie erst später abzuleugnen 
versuchen. Nachdem sie ein bewußtes Interesse daran haben müssen, sich 
aus der Affaire zu ziehen, ist es ärztlicherseits nicht gut zu entscheiden, 
welch hoher Grad von Bewußtsein hinter diesem „Nicht wissen" sich 
verbirgt. Es bleibt beinahe nichts übrig, denn sich auf die Beurteilung 
der Person im ganzen als einer Hysterica zu beschränken. 

Einzelnes ergibt allerdings auch die Analyse des Tatbestandes. 
Mangel an Geschicklichkeit und Umsicht bei Ausführung der kriminellen 
Handlung, scheinbar zwecklose Nebenakte, welche nur die Entdeckung: 
des Verbrechers erleichtern, deuten auf Schwachsinn oder höhergradige 
Bewußtseinstrübung, eventuell auf Affekte hin. Vielleicht läßt sich auch 
kombinieren, ob die Tat lange vorbereitet, geplant, oder ob sie impulsiv 
begangen wurde, gewissermaßen suggeriert durch einen überwältigenden 
äußeren Eindruck. Je zweckloser, je weniger dem Ich förderlicher das 
Unternehmen einer Hysterica, um so mehr drängt sich auch dem Laien das 
pathologische Moment auf; allerdings sind selbst die unsinnigsten Hand- 
lungen immer aus den Vorstellungskreisen der Kranken heraus abzuleiten. 

Menstruation, Gravidität zur kritischen Zeit läßt eine Bewußtseins- 
störung für das Krimen begreiflicher erscheinen, desgleichen voraus- 
gegangener Alkoholkonsum. Man hat zu berücksichtigen, daß die Kranken 
auf Alkohol sehr lebhaft reagieren; die Hysterie wird im Bausche 
kriminell durch das Freiwerden von Antrieben, ohne daß von einer 
Geistesstörung gesprochen werden kann (Leppmann). Ebenso ist aber 
auch möglich, daß ein pathologischer Rauschzustand, wenn nicht ein 
hysterisches Irresein durch den Alkohol ausgelöst wird. 

Verbrechen können fast automatisch begangen werdbn während der 
präparoxysmellen Psychosen Die Kranken bieten Farbenwechsel, neben 
korrekten, ganz unverständliche, alberne, verkehrte Äußerungen, hinterher 



375 

partielle Amnesie; die totalen Gedächtnisausfälle werden wohl nur vor- 
gegeben. Klärend wirkt der Krampf, das Auftreten ganz gleicher Störungen 
unmittelbar vor dem nächsten Anfall. 

Ebenso schwankt die Helle des Bewußtseins postparoxysmell. Es 
wird Luzidität vorgetäuscht, während das Bewußtsein hochgradig ein- 
geengt ist; hinterher können trotz zusammenhängender, korrekter Dar- 
stellung wirkliche Erlebnisse mit pathologisch modifizierten und delirierten 
zusammengeworfen werden; oder die Hysterica fabuliert ganz frei. Ge- 
wöhnlich findet man indessen auch hier Amnesie, welche den krank- 
haften Zustand zu bestätigen vermöchte, ohne daß der Schein erhaltener 
Erinnerung einen solchen tempore criminis ausschließen wttrde. 

Während ihrer transitorischen Psychosen sind die Hysterischen 
moralisch nicht besser als im Intervall; insofern diese Geistesstörungen 
aus der Persönlichkeit herauswachsen, bleiben die antisozialen Nei- 
gungen der einzelnen Individuen bestehen. Sie treten eher rücksichtsloser 
hervor und führen zu Vagabundentum auf Kosten der anderen, zu Dieb- 
stahl, Brandstiftung, sexuellen Verirrungen. Die Straftaten entsprechen 
dabei der speziellen Gedankenrichtung, Versuchungen, welche bei den 
Kranken schon wiederholt aufgetreten waren, die nun aber beim Wegfall 
der Hemmungen in akute Impulse sich umsetzen. 

Bei sinngemäßer Interpretation des Strafgesetzes genügt der Nach- 
weis von konvulsiven Anfällen nicht, Zurechnungsfähigkeit auszuschließen; 
trotz zahlreicher Stigmen kann das hysterische Temperament obendrein 
nur wenig ausgesprochen sein. Man gewinnt fast immer den Eindruck, 
als ob die Individuen genügend Einsicht in das Verbotene ihrer Handlung 
hätten, und die meisten sind kriminell nicht in irgendeiner akuten Psy- 
chose, sondern im Dauerzustande; ihre Widerstandslosigkeit den auf- 
tauchenden Antrieben gegenüber führt unmittelbar zur Tat. Nur wenn 
der Nachweis einer schweren Bewußtseinsstörung tempore criminis zu 
erbringen, wäre man gezwungen, von Geisteskrankheit im Sinne des 
Gesetzes zu sprechen, unbeschadet der Konsequenzen. Es ist die meta- 
physische Frage der subjektiven Verschuldung vom naturvnssenschaft- 
lichen Standpunkte aus nicht zu beantworten, wohl aber lehrt die Er- 
fahrung, daß bei Hysterischen mit der Strafe etwas auszurichten ist. Sie 
wirkt als Gegenmotiv. 

Die Beurteilung des eben mitgeteilten Falles LIV in forensischer Be- 
ziehung wird dadurch wesentlich erleichtert, dafl ein Strafvollzug nach den 
bestehenden Gesetzen unmöglich ist; eine ausgesprochen hysterische Geistes- 
krankheit macht diese Patientin strafunfähig. Sollte nach einiger Zeit^ wie zu 
erwarten, Genesung eintreten, so wäre von einer an den Irrenanstaltsaufenthalt 
anschließenden Strafhaft bei dem hier fast unüberwindlichen hysterischen 
Eigensinn nicht viel zu erhoffen, vielmehr eine Wiedererkrankung nahegerHckt. 
In diesem und allen analogen Fällen wäre der Schwachsinn so stark zu be- 
tonen; daß die Patientin exkulpiert werden könnte. 



376 

Etwas anders verhält es sich in der folgenden 

Beobachtung LV. 

Albine F.^ geboren 1860, katholisch; ledig, Wäscherin, wifd am 23. Sep- 
tember 1890 mit einem hysterisch deliranten, rasch vorübergehenden Zustande 
das erste Mal einer psychiatrischen Behandlung zugeführt. 

Die überaus zahlreichen Krankengeschichten können wegen des Raumes, 
den sie beanspruchen würden, nicht wiedergegeben werden. Ganz ähnlich, wie 
Beobachtung LI kommt auch diese Patientin in kurzen Intervallen, häufig im 
Anschlüsse an einen Alkoholkonsum, manchmal als unbekannte Frau oder gar 
unter falschem Namen mit transi torischen Psychosen, die Amnesie hinterlassen. 
Epileptoide Züge fehlen gänzlich; Verlogenheit drängt sich in den Vorder- 
grund. Hier sollen nur die Internierungen skizziert werden, die mit kriminellen 
Fakten in Zusammenhang stehen. 

8. Aufnahme am 1. August 1893 wegen Taedium vitae. Patientin be- 
hauptet, sie sei trübsinnig, gebe sich Schuld, durch ihr Betragen den Tod 
ihres Geliebten verursacht zu haben. Sie sah denselben auf dem Friedhofe, 
wiederholt auch in der Nacht, mit einem weißen Kleide angetan; er sprach 
zu ihr, forderte sie auf, sich umzubringen, damit sie wieder beisammen seien. 
Sie wolle wie er durch Selbstmord enden. 

Von einer Frau, welche die Patientin lange kennt, erhält man eine etwas 
abweichende Darstellung. F. sei eine heuchlerische, dem Trünke seit langer 
Zeit ergebene Person. Am 28. Juli traf Deponentin sie zufällig auf der Straße. 
F. schilderte ihre Not, ihr Geliebter habe sich im Rausche am 4. Juni er- 
henkt, während sie gerade auf der Beobachtnngsstation weilte . . . Aus Mit- 
leid gab Referentin ihr Unterstand gegen das Versprechen der Möbel ihres 
Geliebten. Am 29. Juli erbettelte sich die Kranke von dem Direktor der 
Irrenanstalt 5 fl. Unterstützung; 3 fl. wurden in Form von Bier, Wein und 
Schnaps sofort vertrunken, was einen argen Rausch ergab. Am 1. August, 
als Deponentin vormittags die Wohnung verließ, stahl F. alle geeigneten Gegen- 
stände und verschwand damit. Die Frau erstattete die Anzeige, erfuhr aber, 
daß die Diebin sich in der Anstalt befinde. 

Die Patientin ist traurig verstimmt, weint zeitweilig; sie leugnet Abusus 
spirituosorum, ebenso entschieden den Diebstahl. Sie sei vormittags vom Hause 
weggegangen, herumgedämmert, nachmittags auf den Friedhof gewandert, um 
sich dort aufzuhängen. Erst auf dem Kommissariate kam sie zur Besinnung. 
Zeitlich mangelhaft orientiert. 

9. August. Äußert andauernd Taedium vitae. 

17. August. Der Appetit hat sich gebessert. Die Kranke versichert noch 
immer Angst zu haben. Sie höre ihren Geliebten rufen, sie sei schuld, daß 
er sich aufgehängt habe. Gestern in der Nacht habe sie ihn auch gesehen; 
er und sein Bruder wollten sie umbringen. 

30. August. Verstimmung geschwunden. Nimmt regen Anteil an den Vor- 
gängen in ihrer Umgebung, beteiligt sich an Schlägereien zwischen den Kranken. 

15. September. Ruhig, geordnet, klagt nur in Gegenwart des Arztes 
über diverse Beschwerden. Am 

2. Oktober wird sie in die heimatliche Anstalt B. übersetzt. 

21. Aufnahme: Am 3. Dezember 1898 abends wird Patientin in einer 
Straße kniend angetroffen. Bei der Anhaltung durch den Wachmann sehr erregt, 
dann gewalttätig. Sie schimpfte und schlug, zertrümmerte die Fenster der 
Wachstube und des Sanitätswagens, antwortete nicht; dann wurde sie etwas 



377 

ruhiger, deprimiert: mit gefalteten Händen bat sie, man möge sie umbringen; 
sie sei eine strafwürdige Person, sie könne sich öffentlich nicht zeigen, da die 
Leute sie beschimpfen und ihr allerlei Schlechtes nachsagen. Auf Zureden 
gibt sie ihr Nationale an, erzählt, daß sie oft auf dem Beobachtungszimmer, 
in den Irrenanstalten zu Wien und B. war. Nach wenig Minuten wieder er- 
regte Stimmung; sie lärmt, während nichts weiteres aus ihr herauszubringen ist. 

Bei der Ankunft an der Klinik: Mtlrrisch, abw^eisend, spricht nichts^ 
setzt sich in einen Winkel, sttltzt den Kopf in die Hände. 

4. Dezember. Etwas zugänglicher. Seit 14 Tagen sei sie ängstlich, 
schlafe schlecht, gestern früh 6 Uhr ging sie in die Kirche nach S., was 
weiter sich ereignete, wisse sie nicht; nur dunkel schwebt ihr vor, daß sie 
mittags zu Hause (Patientin ist wiederum als unterstandslos bezeichnet) aß 
und die Frau vor ihr Angst äußerte. Erst auf der Fahrt in die Anstalt kam 
sie zu sich. Sie bestätigt, daß die Leute auf der Straße sie verdächtig ansehen, 
vor ihr ausspuckten. Allgemeine Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit. 

8. Dezember. Freundlich zuvorkommend, beschäftigt sich. 

31. Dezember. Das Landesgericht Wien teilt anher mit, daß gegen F. 
eine Untersuchung wegen Diebstahls läuft. Von diesem Augenblick an zeigt 
die Kranke ein verändertes Wesen. Sie weicht den Ärzten bei der Visite aus, 
äußert der Wärterin gegenüber, die Welt gehe zugrunde, sie werde bald 
sterben. Schlaf gut. 

2. Februar 1899. Patientin entzieht sich beharrlich jeder Besprechung 
mit den Ärzten, versteckt sich zur Zeit der Visite. Wenn man sie einmal 
überrascht, läuft sie mit dem Ausdrucke des Unwillens davon. Den Wärterinnen 
erzählt sie, sie höre die Rüben sprechen, mit denen man sich wie mit Menschen 
unterhalten könne. Das Bestehen dieser Gehörstäuschungen wollte sie durch 
mehr als zwei Wochen glaubhaft erscheinen lassen. Weder vor dieser Zeit, 
noch während derselben wurden irgendwelche Anfälle konvulsiver Art, Be- 
wußtseinspausen oder irgendwelche anfallsweise auftretende Bewußtseins- 
störungen beobachtet. Bis auf obige Äußerungen zeigen sich keinerlei Er- 
scheinungen psychischer Störung. Ihr Benehmen auf der Abteilung, ihre 
Verwendbarkeit bei den Arbeiten waren gleich geblieben. Sie betätigte 
die frühere Selbständigkeit, belehrte und wies neu eingetretene Wärterinnen 
in ihren Dienstesobliegenheiten zurecht. Selbst nebensächliche Vorgänge auf 
der großen Abteilung (über 70 Kranke) entgingen ihrer Aufmerksamkeit nicht. 
Sie bemerkte jeden Abgang von Patientinnen, machte spontan darauf auf- 
merksam, um wieviel weniger Straputzen für die Nacht zu richten seien. 
Nachdem der Patientin eröffnet worden war, daß sie wegen ihres Diebstahles 
dem Landesgerichte überstellt werde, sprach sie nicht mehr von den an- 
geblichen Gehörstäuschungen. Sie war verstimmt, wollte einige Tage nicht 
recht essen; dann kamen Klagen, ihr Gehirn sei wackelig; sie band sich ein 
ungeheures Tuch um den Kopf, äußerte die Befürchtung, daß sie ins Arbeits- 
haus werde abgegeben werden. 

22. März. Klagt die letzten Tage über Schwindel; verweigert die 
Nahrungsaufnahme. Zu Bett gebracht, lamentiert sie über allgemeine Schwäche, 
Gefühl von Übelkeit im Magen; gestern erbrach sie. Heute wird sie von der 
Wärterin betreten, wie sie durch Einführen des Fingers in den Rachen Er- 
brechen provoziert. Seither ißt sie wieder regelmäßig. 

28. März. Als der Arzt ein eingehendes Examen versucht, sie durch 
Vorhalte in die Enge treibt, an gewissen Krankheitserscheinungen zweifelt. 



378 

springt sie plötzlich auf und schlägt systematisch; aber mit größter Schnelligkeit 
acht Fensterscheiben ein. Sie kann nicht blind losgeschlagen, sondern muß 
jede einzelne Scheibe zentral und im rechten Winkel getroffen haben^ denn 
sie zeigt nur kleine Epidermisverletzungen an den Fingern. Patientin schreit 
wie ein Tier, gibt keine Auskunft. Zu den Wärterinnen äußert sie gleich 
darauf, der Arzt habe sie beleidigt, darum habe sie das Fenster zertrümmert. 

8. April. Normales Verhalten. Wird unter heutigem dem Landes- 
gerichte überstellt. 

Nun folgt die längste Pause in den Anstaltsaufenthalten. Patientin bleibt 
fast 2^/3 Jahre aus, während sie sonst alle Jahre zweimal kam und in der 
Zwischenzeit noch in B. interniert gewesen war. Sie kommt überhaupt nur- 
mehr dreimal mit transitorischen Störungen. 

Daß moralischer Defekt, und zwar derjenige, der nicht im Rahmen 
einer Psychose yorübergehend, sondern derjenige, der dauernd z. B. dem 
Gewohnheitsverbrecher eigen, und moderne Irrenanstalt sich durchaus 
nicht vertragen, ist schon von berufenerer Seite in der überzeugendsten 
Weise dargelegt worden. Will man einem Prinzip zuliebe die pathologische 
Organisation dem Krankenhause zuweisen, so muß dieses durchaus um- 
gestaltet werden, und daß diese Rückkehr zu älteren Yerpflegsformen 
weder ftlr die Degenerierten noch für die Heilstätte und deren übrige 
Insassen von Vorteil, sei nur nebenbei bemerkt. Insofern es sich um 
(jemeinschädlinge handelt, hat der soziale Organismus das Recht der Not- 
wehr; er bedarf der Irrenanstalt nicht, die in ihrer freieren Ausgestaltung 
ein immer ungenügenderes Werkzeug daftlr wird, andererseits diesen Indi- 
viduen das Gefühl der Immunität verleiht Diese Defektorganisationen ver- 
halten sich eben ganz anders als die Geisteskranken engeren Sinnes. Alle 
Fortschritte der Humanität werden nur ihrem Egoismus dienstbar gemacht 
und bestärken sie in ihren gesellschaftsfeindlichen Neigungen. Wie oft 
hört man nicht von einem solchen Degenerierten: „Ich bin geisteskrank, 
mir kann nichts geschehen^ und mit kühler Überlegung setzt er sich' 
über das Strafgesetz hinweg, das er ausgezeichnet kennt, während das 
Bewußtsein der zu erwartenden Strafe als eines Übels ein verbrecherisches 
Beginnen hemmen könnte. Die Versorgung in der modernen Irrenanstalt 
mit allen Benefizien, die sie sich zu erzwingen wissen, schreckt solche Indi- 
viduen nicht ab. In augenblicklicher Notlage ist diese sorgenfreie Existenz 
gewissermaßen als Prämie auf die Begehung eines Verbrechens gesetzt. 
Es darf nicht wundern, daß unter diesen Umständen die antisozialen 
Richtungen ein gefährliches übergewicht erhalten, zumal die in die 
Anstalt Internierten es jederzeit in d^r Hand haben, durch geeignetes 
Verhalten ihre Entlassung wieder durchzusetzen. Sie sind in jeder Hinsieht 
besser daran, als im Kriminal. Die Hysterica stiehlt. Wird sie nicht er- 
wischt, so freut sie sich des leicht erworbenen Besitzes, genießt denselben 
auf ihre Weise, und sei es im Schnapsrausch. Will man sie aber zur Ver- 
antwortung ziehen, dann ist sie geisteskrank, unverantwortlich, disponiert 



379 

gleichzeitig aber selbst über ihre Zukunft. Die menschliche Gesellschaft 
darf sich diesen Leuten nicht mit gebundenen Händen ausliefern. 

Nun zartick zu dem letzt angeführten Falle schwerer moralischer 
Depravation mit Hysterie. Patientin nutzt ihre Intoleranz gegen Alkohol als 
iSpitalsschwester aus, sie bettelt und stiehlt; mit irgendeiner Arbeit vermag 
sie sich nie auszuweisen. Es wäre die Frage aiifznwerfen, ob man nicht das 
Hecht zu einer dauernden Detention hat. Der Irrenanstalt bedarf es keines- 
falls, das lehrt gerade dieser Kaitus. Warum die Patientin so oft interniert wird, 
geht aus ihren eigenen Worten klar hervor; sie betrachtet es als ihr gutes 
Hecht, jederzeit sowie es ihr beliebt, in einer Art Sanatorium reichlich ver- 
pflegt zu werden, gegen minimale Leistungen ihrerseits, die mehr einen Zeit- 
verti'eib darstellen. Sie zieht den Aufenthalt in Wien dem in B., ihrer Heimat, 
bei weitem vor. Es gefüllt ihr dort so wenig, da6 sie durchbrennt, direkt 
wieder nach Wien fUirt, trotzdem sie hier gar nichts zu suchen hat. Sie hält 
sieh gut^ um der drohenden Transferierung nach B. lieber durch eine Entlassung 
zuvorzukommen, weil sie dann doch wieder Chancen für einige Monate Wien 
hat. Es ist wohl überlegt und begreiflich, daß Patientin aus der Wiener 
Anstalt einmal durchgeht, auch das ist die Flacht vor der bevorstehenden 
Heimbeförderung. Lokale und administrative Momente werfen ein eigenartiges 
Licht auf die 24 Wiener Krankengeschichten, während man sonst zu falschen 
>>chlÜ88en gelangen könnte. 

Unverkennbar günstig wirkt die viermonatliche Detention im Strafhause; 
dadurch ist auch hinterher die Entscheidung gerechtfertigt, welche die Person 
illr den letzten Diebstahl als zurechnungsfähig erklärt. Eine Greistesstörung 
zur Zeit der Tat konnte nicht nachgewiesen werden; erst später führt ein 
psychotischer Zustand, während dessen die Kranke sich aber legitimierte, zur 
Aufnahme. In der Anstalt beginnt dann ein unzweifelhaft simuliertes Zustands- 
bild, sowie die F. von der eingeleiteten Untersuchung hört. Als sie damit 
nicht reüssiert, versucht die Person durch schwere körperliche Leiden das 
Herz der Ärzte zu rühren. Genaue Überwachung entlarvt den Schwindel, die 
F. gibt nach; es fehlt ihr wohl auch der Alkohol, der eine wirkliche Be- 
wußtseinstrübung bewirken könnte. Die scharf abgesetzten hysterischen Geistes- 
störungen stehen auf dem Boden einer dauernden ethischen Defektuosität; die 
keinen Grund zur Strafausschließung zu geben schien. 

Insofern man durch eine Irrenanstaltsbehandlung, eine Verpflegung 
für längere Zeit, den Krankheitswillen der Hysterien sanktioniert, ihre 
Arbeitsscheu heiligt, ihre Unzurechnungsfähigkeit anerkennt, erheben sich 
prinzipielle Bedenken; es sprechen gegen ein solches Vorgehen auch 
Orttnde der Anstaltsdisziplin. Jede solche Kranke, die psychologisch, d. h. 
nur mit Benefizien und Kostaufbesserung behandelt werden kann, bildet 
eine Infektionsquelle für andere haltlose Charaktere, welche die Vorteile 
■dieser Art Geistesstörung sofort erfassen. Wie schon erwähnt, schließen 
«ich die Hysterischen gerne aneinander, sie intriguieren, komplottieren 
und vermögen es in einer Mehrzahl um so leichter, ihre persönlichen 
Interessen auf Kosten der anderen Geisteskranken durchzusetzen, der 
Umgebung ihren Willen zu diktieren. Hysterische Verbrecher und Ver- 
brecherinnen, Temperamente, die gemeingefährlich sind oder nach der 



380 

Artung ihrer Ideenkreise, nach ihren schweren moralischen Defekten 
jederzeit es erwarten lassen, müßten in den zu errichtenden Staatsanstalten 
für geisteskranke Verbrecher, eventuell in den Adnexen der Strafanstalten 
interniert bleiben wie alle gemeingefährlichen psychopathischen Minder- 
wertigkeiten. Unter den gegebenen Möglichkeiten hat eine Verurteilung 
immer noch die besten Folgen; sowohl für die Hysterie als für den 
sozialen Organismus. Es ist Sentimentalität, wenn man davor zurttck- 
scheut, die hysterischen Degenerierten zu disziplinieren, jedes Strafttbel 
abzuschaffen und die Verbrecher so gut zu halten, daß zahlreiche Exi- 
stenzen im freien Leben schlechter daran sind. Man gefährdet dadurch 
die Allgemeinheit, denn alle Individuen mit mangelhaften Hemmungen 
werden geradezu zu Verbrechen gereizt, wenn sie dadurch ihre Situation 
nur verbessern können. Indem man also speziell die hysterischen Ver- 
brecher für zurechnungsfähig erklärt, verwertet man ihre Suggestibilität 
nicht gegen, sondern für die Interessen der menschlichen Gesellschaft. 

In der Praxis stößt man aber auf große Schwierigkeiten. Es gibt 
Hysterische, deren impulsives Handeln man versteht, im Stillen vielleicht 
billigt; Verbrecher, die Mitgefühl erregen, weil sie in hemmungslosem 
Affekt über gesetzliche Schranken hinausgegangen sind. Andere zwingen 
zur Anerkennung ihrer Krankheit. Was will man machen, wenn eine 
Patientin bei der Verhandlung in Krämpfen sich windet, auf jede be- 
lastende Zeugenaussage, jede ungünstige Wendung mit deliranten Auf- 
regungszuständen antwortet? Schließlich sind die Hysterischen doch im- 
stande, den üblichen Strafvollzug zu hindern, wenn sie über die Krank- 
heitsmechanismen genügend verfügen. Mau kann darum keine andere 
Regel geben als individualisieren; man studiert die Reaktionsweise der 
Persönlichkeit, berücksichtigt jedes einzelne Faktum. Es kommt vor, daß 
eine und dieselbe Hysterica für eine Handlung als nicht geisteskrank 
im Sinne des Gesetzes zu bezeichnen ist, während man sie von der 
Verantwortlichkeit für eine andere freispricht, in der Annahme, es sei 
diese Tat in einem pathologischen Bewußtseinszustande ausgeführt worden. 
Ein derartiges Gutachten birgt keinen inneren Widerspruch. Handelt es 
sich um EJieinigkeiten, um reparable Schäden, nicht um Kapitalverbrechen, 
so kann man die Patienten ganz gut der Fürsorge ihrer Angehörigen 
übergeben, wenn jemand da ist, der die Aufsicht und Verantwortung über- 
nimmt. Bei jedem Krimen, also im Falle der Gemeingefährlichkeit, wären 
die Hysterischen genau so zu behandeln wie andere degenerierte Ver- 
brecher. Zur Abgabe an die Irrenanstalt ist man unter den gegenwärtigen 
Verhältnissen gezwungen, wenn eine Psychose engeren Sinnes ausbricht 
oder tempore criminis nachgewiesen werden kann; doch ist diese Lösung 
in keiner Weise vorteilhaft. Keinesfalls ist die Ansicht zu vertreten, man 
könne eine Hysterica schon auf Grund ihrer Charakterabnormitäten oder 
gar ihrer körperlichen Stigmata dem Arme der Justiz entreißen. 



X. Literatur. 

Die Literatur Über Hysterie, speziell über hysterische Geistesstörungen, ist eine 
unübersehbar grofie. In dem folgenden Verzeichnisse ist eine Auswahl insofern ge- 
troffen, als 

1. nur die Literatur vom Jahre 1890 an berücksichtigt wird. Diese Publikationen 
enthalten immer wiederholt Hinweise auf die früheren; 

2. sind nur Arbeiten erwähnt, welche sich mit der Psyche der Hysterischen 
beschäftigen; außerdem einzelne, welche einen direkten Bezug zum Texte des vor- 
liegenden Buches haben; 

3. sind nicht angeführt die allbekannten Lehrbücher, in denen Hysterie ein 
Kapitel darstellt. 

Abricosoff G., L*Hyst6rie aux XVII et XVIII siöcles. Paris 1897. 

d'Abnndo, Contributo allo studio delle amnesie postconvulsive et posttraumatiche, 

Riv. Clin, e terap. Napoli 1893. 
Aemmer, Epidemie d*hyst4rie dans une ^cole de filles de B&le. Th^se de Bäle 1893. 
Andrews J. B., Traumatic Hysteria from railroad Injury. Americ. Journal of insanity. 

1891, Juli. 
Angelucci G. e Pieraccini, Sulla opportunita ed eflficacia della cura chirurgico' 

ginecologica nelle neurosi isterica (e nelle alienazioni mentali). Riv. di Freniatr. 

Ig97, XXIII, 2, 291. 
Antonini G., Di una rara forma di impulsione ambulatoria in uno istero-epilettico 

per traumatismo. Riv. sper. di fren. e di med. leg., 1894, XX, 2, 193. 

— Contributo allo studio delF automatismo psicologico per autosuggestione. Ibidem 

1898, XXIV, 3, 626. 

Ascoli e Tranquill i, Uno caso dlsteria maschile con amnesia retro-anterograda. 

Riforma med. Napoli 1893, IX, 1, 435. 
Azam, Hypnotisme et double conscience. Paris 1893. 

Babinski J., Hypnotisme et Hysterie. Paris 1891. 

— Association de Thyst^rie avec les maladies organiques du systöme nerveux, les 

n^vroses et diverses autres afifections. Extrait des Bull, et M6m. de la Soc. m^d. 
des HOpitaux de Paris 1892, Nov. 

— Definition de Thyst^rie, Compt. rendus des S^anc. de la soc. de Neurol. de Paris 

7. Nov. 1901. 
Baccelli, Un caso dMsteria con amnesia anterograda. Soc. lancis. degli ospedali. 

Roma 1893. 
Bailey Pearce* The medico-legal relations of traumatic Hysteria. Medical Record 

1899, LV, 308. 

Ballet Gilbert, Le sommeil provoqu6 par Tocclusion des oreilles et des yeux chez les 
individus affect^s d'anesth^sie hyst^rique g^n^ralisee. Progrös med., 1892, 26, 497. 

— Congrös des m^decins ali^nistes et neurologistes fran^ais a Clermont - Ferrand 

6. Aug. 1894, u. Diskussion: Jof froy, Pitres, R^gis, Falret, Vallon. Cullöre. 



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et paralysie faciale systematis^e. Revue de m^., 1893, XIII, 6, 532. 

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