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Full text of "Das Jahr der Bühne"

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SIEGFRIED  JACOBSOHN 
DAS  lAHR  DER  BÜHNE 


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University  of  Toronto 


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DAS  JAHR  DER  BÜHNE 


Copyright  1912  by  Oesterheid  &  Co.,  Berlin  W.  15 


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SIEGFRIED  JACOBSOHN 
DAS  JAHR  DER  BÜHNE 


OESTERHELD  6.  CO.  /  BERLIN   1912 


MEINEM  FREUNDE  CHRISTIAN  MORGENSTERN 


Das  Jahr  der  Bühne?  Nämlich  der  berliner,  also  ungefähr  der 
deutschen  Bühne,  und  zunächst  das  Jahr  1911/12.  Was  ich  in  diesem 
Winter  über  die  Theaterarbeit  meiner  Vaters  und  Lieblingsstadt  zu  sagen 
hatte,  schien  mir  —  nach  elfjähriger  kritischer  Tätigkeit  zum  ersten  Mal 
—  nicht  unwert,  zu  einem  Buch  zusammengefaßt  zu  werden.  Ich 
wünsche  mir,  diese  Empfindung  auch  in  den  künftigen  Sommern  zu 
haben  und  dem  ersten  Band  eine  ganze  Reihe  von  Bänden  nachschicken 
zu  können.  Vor  mir  liegen  ,Les  soirees  parisiennes'  im  achten,  ,Les  annales 
duTheätre' im  einunddreißigsten  Jahrgang.  Warum  sollte  diese  Art  Chronik 
des  Theater^  nicht  in  Berlin  dieselbe  Berechtigung  haben  wie  in  Paris? 
Eine  Chronik,  die  nicht  mit  kaltem  Blut  und  kaltem  Blick  , hinterher' 
abgefaßt  wird,  sondern  einfach  die  Kritiken  aller  nicht  völlig  neben* 
sächlichen  Aufführungen  aneinanderreiht  und  es  dem  Leser  überläßt, 
sich  daraus  eine  Vorstellung  von  dem  gesamten  Theaterjahr  —  von  seinen 
Errungenschaften  und  seinen  Fehlschlägen,  aber  auch  von  seinem  Ver« 
hältnis  zu  früheren  Theaterjahren  —  selber  zu  machen. 

Ich  meine,  daß  dies  dem  Liebhaber  der  Sache  bei  mir  am  wenigsten 
schwer  fallen  wird,  weil  ich  dazu  neige,  das  einzelne  Ereignis  in  einen 
theaterhistorischen  Zusammenhang  einzureihen,  seine  Herkunft  aufzu« 
zeigen  und  seine  Tragweite  abzuschätzen.  Dennoch  käme  es  diesen  sechs* 
undvierzig  Kapiteln  kaum  zugute,  wenn  man  ihres  Ursprungs  ganz 
vergäße.  Sie  sind  eben  doch  nicht  das  Werk  des  , abgeklärten'  Historikers, 
sondern  des  leidenschaftlich  beteiligten  Kunstfreundes.  Es  sind  Theater* 
kritiken  und  häufig  am  Morgen  nach  der  Aufführung  entstanden. 
Sie  waren  einmal  anmaßend  genug,  den  Verlauf  der  Dinge  irgendwie 
beeinflussen  zu  wollen,  und  scheuten  darum  vor  Übertreibungen  aller 
Art  nicht  zurück:  weder  wo  es  galt,  das  Schicksal  reiner  Künstlerschaft 
freundlicher  zu  gestalten,  noch  gar  wo  es  galt,  unreiner  Macherschaft 
ihre  Triumphe  zu  verkümmern.  Es  ist  leicht  zu  merken,  wie  in  beiden 
Fällen  mein  Ton  sich  polemisch  erhitzt.  So  gründlich  ich  sonst  fast 
jeden  Artikel  gefeilt  und  gesänftigt,  ergänzt  oder  gekürzt  habe:  gegen 
diesen  polemischen  Unterton  bin  ich  nicht  vorgegangen.  Das  hieße 
fälschen.  Er  ist  im  wörtlichen  Sinne  das  journalistische  Element  von 
Arbeiten,  die  im  übrigen  allerdings  den  Ehrgeiz  haben,  über  ihre 
Augenblickswirkung  hinaus  für  spätere  Generationen  das  Bild  unserer 
Theatergegenwart  festzuhalten. 


Für  diese  Zukunftswirkung  habe  ich  von  dem  Überschwang  weder 
meiner  Begeisterung  noch  meines  Widerwillens  zu  fürchten.  Dafür  hätte 
ich  nur  zu  fürchten,  wenn  ich  falsch  urteilte  oder  schlecht  darstellte.  Wie 
schlecht  ich  darstelle,  mag  bereits  die  Mitwelt  entscheiden.  Diese  hat  an  mir 
erfreulich  viel  auszusetzen.  Aber  nichts  tadelt  sie  beharrlicher  als  die  Lächers 
lichkeit,  daß  ich  das  Theater  so  schrecklich  wichtig,  die  Kritik  des  Theaters 
so  bitter  ernst  nehme.  Ich  wieder  finde  es  gar  nicht  lächerlich,  sondern  trau* 
rig,  daß  es  möglich  ist,  einen  solchen  Vorwurf  überhaupt  auszusprechen.  In 
Schnitzlers  .Einsamem  Weg'  heißt  es  irgendwo:  „Wenn  Sie  im  Mittelpunkt 
der  Erde  wohnten,  so  wüßten  Sie,  daß  alle  Dinge  gleich  schwer  sind.  Und 
wenn  Sie  im  Mittelpunkt  der  Welt  wohnen  könnten,  so  wüßten  Sie,  daß  alle 
Dinge  gleich  wichtig  sind."  Da  es  wahr  ist,  daß  das  Theater  der 
Spiegel  des  Zeitalters  ist,  so  wird  es  doch  wohl  keine  kleine  Aufgabe 
sein,  diesen  Spiegel  blank  zu  erhalten.  Ich  glaube,  daß  die  Dinge  der 
Kunst,  die  bei  uns  unterschätzt  werden,  gar  nicht  zu  überschätzen  sind. 
Ich  glaube,  daß  für  Deutschlands  Wohlfahrt  ein  Kerl  wie  Hans  von 
Bülow  einmal  existiert  haben  mußte,  Bernhard  von  Bülow  aber  nie* 
mals  existiert  zu  haben  brauchte.  Ich  glaube,  daß  es  ein  Segen  wäre, 
wenn  alle  Kritiker  des  Theaters  so  unaufhörlich  Forderungen  stellten, 
wenn  alle  das  Theater  so  wichtig  nähmen  wie  ich.  Denn  ich  nehme 
es  ja  nicht  als  Selbstzweck  wichtig,  sondern  als  Mittel  zum  Zweck. 
Ich  weiß,  daß  es  das  Leben  spiegelt,  aber  ich  weiß  auch,  daß  es  ins 
Leben  zurückwirkt.  Es  ist  meine  Überzeugung,  daß  es  mit  unserer 
Politik,  dem  öffentlichen  Leben,  dem  Verkehr  der  Menschen  und  jedem 
Zweig  der  Kunst  in  dem  Maße  besser  werden  wird,  wie  das  Theater, 
das  ich  meine,  an  Boden  gewinnt;  und  ich  fürchte,  daß  ich  noch  eine 
ganze  Weile  fortfahren  werde,  mich  im  Dienste  dieser  Überzeugung 
lächerlich  zu  machen. 

Im  Juli  1912  S.  J. 


INHALT 

SAISONBEGINN 1 

1911.  5.  VIII.     Die  goldene  Schüssel,  Komödie  in  drei  Akten  von 
Rudolf  Strauß.    Lustspielhaus.   Regie:  Ernst  Bach. 
26.  VIII.     Der  fette  Caesar,  Eine  Tragikomödie  in  drei  Akten 
von  Friedrich  Freksa.    Deutsches  Theater.    Regie:  Felix 
Hollaender. 

BRIEF  AN  REINHARDT 7 

LANVÄL     14 

9.  IX.  Lanväl,  Ein  Drama  in  vier  Akten  von  Eduard  Stucken. 
Kammerspiele.    Regie:  Eduard  von  Winterstein. 

GRILLPARZER  UND  HALM 21 

15.  IX.  Des  Meeres  und  der  Liebe  Wellen,  Trauerspiel  in 
fünf  Aufzügen  von  Franz  Grillparzer.  Neues  Schau* 
spielhaus.    Regie:  Leopold  Dahlberg. 

PENTHESILEEN 23 

Penthesilea,  Ein  Trauerspiel  von  Heinrich  von  Kleist. 

16.  IX.  Schauspielhaus.  Bühnenbearbeitung  und  Regie : 
Paul  Lindau. 

23.  IX.  Deutsches  Theater.  Bühnenbearbeitung:  Theodor 
Commichau.    Regie:  Felix  Hollaender. 

ALLES  UM  GELD 31 

20.  IX.  Alles  um  Geld,  Fünf  Akte  von  Herbert  Eulenberg. 
Lessingtheather.    Regie:  Emil  Lessing. 

VON  BARNOWSKY  UND  BERNAUERS     ...     35 

28.  IX.     Papa,  Lustspiel  in  drei  Akten  von  Robert  de  Flers 

und  G.  A.de  Caillavet.  Deutsch  von  Erich  Motz.  Kleines 

Theater.    Regie:  Victor  Barnowsky. 
30.  IX.     Die  Spielereien  einer  Kaiserin,  Fünf  Akte  und  ein 

Epilog  von  Max  Dauthendey.    Theater  in  der  König? 

grätzerstraße.    Regie:  Rudolf  Bernauer. 

VERTAUSCHTE  SEELEN 39 

5.  X.  Vertauschte  Seelen  oder  Die  Komödie  der  Auf« 
erstehungen,  Groteske  von  Wilhelm  von  Scholz.  Kammers 
spiele.    Regie:  Eduard  von  Winterstein. 

HUNDSTAGE 42 

7.  X.  Hundstage,  Lustspiel  in  drei  Akten  von  Kotfiz  Holm. 
Theater  in  der  Königgrätzerstraße.  Regie :  Rudolf  Ber* 
nauer. 


DIE  ORESTIE 44 

13.  X.  Die  Orestie  des  Aischylos.  Deutsch  von  Karl  VoUs 
moeller.  Musik  von  Einar  Nilson.  Zirkus  Schumann, 
Regie:  Max  Reinhardt. 

DAS  WEITE  LAND 52 

14.  X.  Das  weite  Land,  Tragikomödie  in  fünf  Akten  von 
Arthur  Schnitzler.    Lessingtheater.    Regie:  Emil  Lessing. 

DER  BETTLER  VON  SYRAKUS      58 

19.x.  Der  Bettler  von  Syrakus,  Tragödie  in  fünf  Akten 
und  einem  Vorspiel  von  Hermann  Sudermann.  Schau* 
spielhaus.    Regie:  Albert  Patry. 

FANNYS  ERSTES  STÜCK 62 

21.  X.  Fannys  erstes  Stück,  Ein  leichtes  Spiel  für  ein 
kleines  Theater  in  drei  Akten,  einem  Vorspiel  und 
Nachspiel  von  Bemard  Shaw.  Deutsch  von  Siegfried 
Trebitsch.   Kleines  Theater.   Regie:  Victor  Barnowsky. 

TURANDOT      64 

27.  X.  Turandot,  Chinesisches  Märchenspiel  von  Carlo 
Gozzi.  Deutsch  von  Karl  VoUmoeller.  Musik  von 
Ferruccio  Busoni.  Deutsches  Theater.  Regie :  Max  Rein« 
hardt. 

PAUL  ABEL 71 

28.  X.  Hans  Sonnenstößers  Höllenfahrt,  Ein  heiteres  Traums 
spiel  in  fünf  Szenen  von  Paul  Apel.  Musik  von  Fried* 
rieh  Bermann.  Neues  Schauspielhaus.  Regie:  Alfred 
Halm. 

SCHAUSPIELERIN 75 

6.  XL  Schauspielerin,  Drama  in  drei  Akten  von  Heinrich 
Mann.  Theater  in  der  Königgrätzer  Straße.  Regie:  Ru* 
dolf  Bernauer. 

NATHAN  DER  WEISE 80 

9.  XL  Nathan  der  Weise,  Ein  dramatisches  Gedicht  in 
fünf  Aufzügen  von  Lessing.  Kammerspiele.  Regie: 
Felix  HoUaender. 

DER  ROSENKAVALIER      84 

14.  XL  Der  Rosenkavalier,  Komödie  für  Musik,  in  drei 
Akten  von  Hugo  von  Hofmannsthal,  Musik  von  Richard 
Strauß.  Opernhaus.  Musikalische  Leitung:  Carl  Muck. 
Regie:  Georg  Droescher. 

AGNES  BERNAUER     90 

17.  XL     Agnes  Bemauer,  Ein  deutsches  Trauerspiel  in  fünf 


Aufzügen    (dreizehn    Bildern)    von    Friedrich    Hebbel. 
Neues  Schauspielhaus.    Regie:  Alfred  Halm. 

HERMANN,  STERNHEIM  UND  BASSERMANN    93 

23.  XI.  Der  Wüstling  oder  Die  Reise  nach  Breslau,  Lust« 
spiel  in  zwei  Akten  von  Georg  Hermann.  Theater  in 
der  Königgrätzer  Straße.    Regie:  Otto  Gebühr. 

24.  XI.  Die  Kassette,  Komödie  in  fünf  Akten  von  Carl 
Stemheim.    Deutsches  Theater.   Regie:  Felix  Hollaender. 

BRAHM  UND  HARDT 98 

24.  XI.  Gudrun,  Ein  Trauerspiel  in  fünf  Akten  von  Ernst 
Hardt.    Lessingtheater.    Regie:  Emil  Lessing. 

JEDERMANN 103 

L  XII.  Das  alte  Spiel  von  Jedermann,  erneuert  von  Hugo 
von  Hofmannsthal.  Musik  von  Einar  Nilson.  Zirkus 
Schumann.    Regie:  Max  Reinhardt. 

OFFIZIERE 107 

15.  XII.  Offiziere,  Drama  in  vier  Akten  von  Fritz  von  Unruh. 
Deutsches  Theater.    Regie:  Max  Reinhardt. 

DIE  NIBELUNGEN 110 

17.  21.  XII.  Die  Nibelungen,  Ein  deutsches  Trauerspiel  in 
drei  Abteilungen  von  Friedrich  Hebbel.  Schauspielhaus. 
Regie:  Albert  Patry. 

DER  SCHEITERHAUFEN      116 

20.  XII.  Der  Scheiterhaufen,  Drama  in  drei  Akten  von 
August  Strindberg.  Deutsch  von  Emil  Schering.  Berliner 
Künstlerisches  Theater  (im  Lessingtheater).  Regie :  Adolf 
Lantz. 

HYGIENISCHE  ABENDE 118 

23.  XII.  Heiligenwald,  Lustspiel  in  drei  Akten  von  Alfred 
Halm  und  Roberi  Saudek.  Neues  Schauspielhaus.  Regie: 
Alfred  Halm. 

31.  XII.  Große  Rosinen  oder  Berlin  hats  eilig,  Große  ber* 
liner  Originalposse  mit  Gesang  und  Tanz  in  drei  Akten 
(fünf  Bildern)  von  Rudolf  Bemauer  undlRudolf  Schanzer. 
Musik  von  Willy  Bredschneider  und  Walter  Kollo,  mit 
Einlagen  von  Leon  Jessel  und  Bogumil  Zepler.  Bcr* 
liner  Theater.    Regie:  Rudolf  Bernauer. 

23.  XII.  Das  kleine  Cafe,  Lustspiel  in  drei  Akten  von 
Tristan  Bemard.  Deutsch  von  Erich  Motz.  Trianon* 
theater.    Regie:  Carl  Beese. 

23.  XII.     Die  ßinf  Frankfurter,  Lustspiel  in  drei  Akten  von 


Carl  Kassier.  Theater  in  der  Königgrätzerstraße.   Regie: 
Franz  Zavrel. 

DAS  TÄNZCHEN 12i 

1912.  6. 1.     Das  Tänzchen,  Schwank  in  drei  Akten  von  Hermann 
Bahr.    Lessingtheater.    Regie:  Emil  Lessing. 

DER  ZORN  DES  ACHILLES      126 

13. 1.  Der  Zorn  des  Achilles,  EineTragödie  in  drei  Akten  von 
Wilhelm  Schmidtbonn.  Deutsches  Theater.  Regie:  Felix 
Hollaender. 

EINE  GLÜCKLICHE  EHE 130 

20.  I.  Eine  glückliche  Ehe,  Lustspiel  in  vier  Akten  von 
Peter  Nansen.  Deutsch  von  Mathilde  Mann.  Kammers 
spiele.    Regie:  Felix  Hollaender. 

SCHWANK  UND  GROTESKE 134 

26.1.  Alles  fiir  die  Firma,  Schwank  in  drei  Akten  von 
Maurice  Hennequin  und  Andre  Mitchell.  Deutsch  von 
BoltensBaeckers.  Residenztheater.  Regie :  BoltensBaeckers. 

25.  L  Fiat  justitia!  Kriminalgroteske  in  drei  Instanzen  von 
Lothar  Schmidt  und  Heinrich  Ilgenstein.  Neues  Schau* 
spielhaus.    Regie:  Lothar  Schmidt. 

SCHNITZLER,  SCHONHERR  UND  BRAHM     .    139 

30.  I.  Komtesse  Mizzi  oder  Der  Familientag,  Komödie  in 
einem  Akt  von  Arthur  Schnitzler. 

Erde,  Eine  Komödie  des  Lebens  in  drei  Akten 
von  Karl  Schönherr. 

Lessingtheater.   Regie:  Emil  Lessing 

ROMEO  UND  JULIA     147 

10.  II.  Romeo  und  Julia,  Trauerspiel  in  fünf  Akten  von 
Shakespeare.  Deutsches  Theater.  Deutsch  von  Schlegel« 
Tieck.    Regie:  Max  Reinhardt. 

UND  DAS   LICHT  SCHEINET  IN  DER  FIN= 
STERNIS... 151 

8.  IL  Und  das  Licht  scheinet  in  der  Finsternis  . . . ,  Drama 
in  vier  Akten  (fünf  Bildern)  von  Leo  Tolstoi.  Deutsch 
von  August  Scholz.  Kleines  Theater.  Regie:  Victor 
Barnowsky. 

KONIGIN  CHRISTINE 155 

20.  IL  Königin  Christine,  Schauspiel  in  vier  Akten  von 
August  Strindberg.  Deutsch  von  Emil  Schering.  Theater 
in  der  Königgrätzerstraße.    Regie:  Rudolf  Bernauer. 


DER  KLEINE  UND  DER  GROSSE  REINHARDT  159 

19.  III.     Margot  kann  mir  gestohlen  werden,  Zwei  Akte  von 

Georges  Courteline  und  Pierre  Wolff.    Deutsch  von  Sieg* 

fried  Trebitsch.    Regie :  Robin  Robert. 

Pierrots  letztes  Abenteuer,  Pantomime  in  einem  Akt 

von  Victor  Arnold.  Musik  von  Friedrich  Bermann.  Regie: 

Victor  Arnold. 

Kammerspiele. 
23.  II.     Viel  Lärm  um  Nichts,  Ein  Lustspiel  in  fünf  Akten 

von  Shakespeare.    Deutsch   von  SchlegeUTieck.    Musik 

von    Einar    Nilson.     Deutsches  Theater.     Regie:    Max 

Reinhardt. 

TANZMÄUSE 165 

15.  III.  Tanzmäuse,  Ein  Satyrspiel  in  dreizehn  Moment* 
bildern  von  Gustav  Wied.  Deutsch  von  Ida  Anders. 
Kleines  Theater.    Regie:  Victor  Barnowsky 

DIE  SCHÖNE  HELENA 168 

23.111.  Die  schöne  Helena,  Operette  in  drei  Akten  von 
Jacques  Offenbach.  Theater  des  Westens.  Regie:  Max 
Reinhardt. 

DER  FEIND  UND  DER  BRUDER 170 

26.  III.  Der  Feind  und  der  Bruder,  Eine  Tragödie  in  vier 
Akten  von  Moritz  Heimann.  Kammerspiele.  Regie: 
Felix  Hollaender. 

DAS  FRIEDENSFEST 174 

30.  III.  Das  Friedensfest,  Eine  Familienkatastrophe  in  drei 
Akten  von  Gerhart  Hauptmann.  Lessingtheater.  Regie : 
Emil  Lessing. 

GEORGE  DANDIN 178 

13.  IV.  George  Dandin  oder  Der  beschämte  Ehemann, 
Lustspiel  in  drei  Akten  mit  Tänzen  und  Zwischenspielen 
von  Moli^re.   Deutsches  Theater.   Regie:  Max  Reinhardt. 

WEH  DEM,  DER  LÜGT!     182 

27.  IV.  Weh  dem ,  der  lügt!  Lustspiel  in  fünf  Akten  von 
Franz  Grillparzer.  Schauspielhaus.  Regie:  Oscar  Kessler. 

DIE  FALSCHE  NESTROY^FEIER 185 

2.  V.  Titus  und  Salome  bei  Judith  und  Hohfemes,  Zwei 
Possen  in  einer  von  Johann  Nestroy.  Neues  Schauspiel 
haus.    Regie:  Arthur  Retzbach. 


KITSCH  UND  KULISSENWARE 187 

U.V.  Die  Spiele  ihrer  Exzellenz,  Spiel  in  drei  Akten  von 
Zoe  Jekels  und  Rudolf  Strauß.  Neues  Schauspielhaus 
(in  der  Komischen  Oper).    Regie:  Arthur  Retzbach. 

7.  V.  Mein  Freund  Teddy,  Lustspiel  in  drei  Akten  von 
Andre  Rivoire  und  Luden  Besnard.  Deutsch  von  Bolten« 
Baeckers.    Kammerspiele.    Regie:  Felix  Hollaender. 

VON  GIRARDI 190 

GABRIEL  SCHILLINGS  FLUCHT 192 

14.  VI.  Gabriel  Schillings  Flucht,  Drama  in  fünf  Akten  von 
Gerhart  Hauptmann.  Goethes  Theater  in  Lauchstedt. 
Regie:  Paul  Schienther. 

DER  WEDEKIND^ZYKLUS 202 

1.  VI.     So  ist  das  Leben,  Schauspiel  in  drei  Akten. 

4.  VI.     Hidalla  (Karl  Hetmann,  der  Zwergriese),  Schauspiel 

in  fünf  Akten. 
7.  VI.     Musik,  Sittengemälde  in  vier  Bildern. 
10.  VI.     Der  Erdgeist,  Eine  Tragödie  in  vier  Akten. 
12.  VI.     Oaha,  die  Satire  der  Satire,  Eine  Komödie  in  vier 

Aufzügen. 

15.  VI.  Marquis  von  Keith  (Münchener  Szenen),  Schauspiel 
in  fünf  Akten. 

Von  Frank  Wedekind.    Regie:  Frank  Wedekind. 
Deutsches  Theater. 


,Denn  es  ist  Drang,  und  so  ists  Pflicht." 


SAISONBEGINN 

In  früheren  Jahren  ging  man  meist  an  Goethes  Geburtstag 
zum  ersten  Mal  wieder  ins  Theater.  Das  Schauspielhaus  be* 
gann  häufig  seine  Spielzeit  an  diesem  Tage,  mit  Tasso  oder 
Iphigenie,  mit  Egmont  oder  Faust.  Selbst  Brahm  hatte  ein 
Jahr,  wo  er  zum  achtundzwanzigsten  August  den  Faust  ein* 
studierte.  Andere  Bühnen  standen  nicht  nach.  Es  lag  ein  Zug 
von  Noblesse  in  dieser  nicht  übermäßig  einträglichen  Ge* 
wohnheit.  Traurig,  daß  solche  Züge  mehr  und  mehr  aus  dem 
Bild  des  berliner  Theaterwesens  verschwinden.  Der , Betrieb', 
der  immer  hastiger  und  hitziger  wird,  duldet  sie  nicht.  Ver« 
dienen  sollst  du,  sollst  verdienen,  das  ist  der  ewige  Gesang, 
mit  dem  unsere  Direktoren  sich,  frei  nach  Goethe,  frei  von 
Goethe  singen.  Sie  belächeln  jeden,  der  altmodisch  genug 
ist,  von  der  Schaubühne  zu  verlangen,  daß  sie  sich  als  eine 
moralische  Anstalt,  als  ein  Erziehungsinstitut  für  das  Volk, 
als  eine  Pflegestätte  der  Kultur  empfinde.  Für  sie  ist  sie  ein 
Geschäft,  das,  wie  jedes  Geschäft,  den  Zweck  verfolgt:  eine  an« 
gemessene  Verzinsung  des  Anlagekapitals  und  einen  beträcht« 
liehen  Reingewinn  zu  erzielen.  Wer  heute  ein  Theater  über« 
nimmt  und  es  nach  aesthetischen,  nicht  nach  geschäftlichen 
Grundsätzen  führen  will,  muß  entweder  unerschöpfliche 
Geldmittel  hinter  sich  haben,  oder  er  muß  scheitern.  Die 
meisten  scheitern  freilich  nicht,  weil  sie  nach  aesthetischen 
Grundsätzen  verfahren,  sondern  weil  sie  nicht  einmal  tüchtig 
genug  sind,  aus  und  mit  der  Kunst  ein  Geschäft  zu  machen. 
Auf  den  ersten  Blick  sieht  ja  freilich  ein  berliner  Theater« 
jähr  —  nicht  bloß  vorher,  sondern  selbst  hinterher,  im 
Ernst:  selbst  hinterher  —  so  bunt  und  abwechslungsreich 
aus,  als  habe  sich  jeder  Direktor,  nach  Laubes  Vorgang,  das 
Ziel  gesetzt,  in  einem  einzigen  Winter  ungefähr  einen  Durch« 
schnitt  durch  die  ganze  große  dramatische  Weltliteratur  zu 
geben.  In  solch  einem  berliner  Theaterjahr  ist  alles  enthalten, 
was  die  Bühne  zu  vergeben  hat,  einfach  alles:  von  den  plump« 
sten  und  dümmsten  Reizungen  der  Vorstädte  und  den  sinn« 
losesten  Feerien  mondäner  Amüsierbuden  über  die  derbe 

1  1 


und  manchmal  gesunde  Kost  kleinbürgerlicher  Theater  bis 
zu  der  Welt  der  Klassiker,  bis  zu  den  ernsthaften  Produkten 
der  Gegenwart,  bis  zu  den  feinsten  und  extravagantesten 
Spielen  der  Laune,  des  Witzes  und  der  Phantasie.  Von  Er* 
Zeugnissen,  deren  einziger  Zweck  es  ist,  ein  denkfaules  oder 
denkunfähiges  Publikum  über  einen  Abend  hinwegzubringen, 
bis  zu  dramatischen  Werken,  die  uns  angehen  und  erfüllen 
und  steigern.  Aber  schaut  man  näher  hin,  so  stellt  sich  her* 
aus,  daß  die  Kunst  in  die  Vor?  und  Nachsaison  fällt,  und 
gibt  man  sich  die  Mühe,  nicht  bloß  zu  wägen,  sondern  zu 
zählen,  nämlich  die  Zahl  der  Aufführungen  zu  zählen,  so 
kommen  auf  drei  Aufführungen  von  Kunstwerken  dreihundert 
von  Machwerken.  Wer  beherrscht  das  Repertoire?  Die 
Mittelmäßigkeit,  die  für  den  zahlungsfähigen  Mittelstand 
schreibt,  für  die  breite  Masse,  die  sich  nicht  anstrengen  und 
nicht  aufwühlen,  die  sich  belustigen  und  handgreiflich  packen 
lassen  will.  Wer  vermöchte  sie  zu  brechen,  die  Macht  unserer 
Kotzebues  von  heute  (die  auch  aus  Tirol  sein  können),  da 
doch  der  erste  Kotzebue  seinen  klassischen  Zeitgenossen 
Goethe  und  Schiller  siegreich  widerstand?  Wer  vermöchte  es? 
Ratet  1 

Niemand  wird  fehlgeraten  haben:  Paul  Lindau.  Er  hat 
es  sich  und  uns  versprochen.  Ein  Winter  süßen  Nichtstuns 
hat  ihm  die  Kraft  gegeben,  in  diesem  Sommer  wieder  ein 
Programm  für  den  ^X^nter  abzufassen.  Ein  schönes  Programm. 
Wir  erfahren  daraus,  daß  der  alte  Mann  seit  vierzig  Jahren 
eine  glühende  und  pietätvolle  Liebe  im  Busen  hegt.  Ihr  glaubt, 
gemeine  Seelen,  zu  Sardou,  zu  Dumas  und  zu  sich  selber. 
Aber  es  ist  Kleist;  und  wenn  wir  die  Pietät,  die  Herrn  Lin* 
dau  bestimmt  hat,  in  diesen  vierzig  Jahren  die  Hände  von 
Kleist  zu  lassen,  auch  gern  noch  einmal  vierzig  Jahre  kon* 
serviert  gesehen  hätten,  so  werden  wir  doch  mit  Vergnügen 
feststellen,  wie  weit  die  Wahlverwandtschaft  des  Bearbeiters 
reicht.  An  Sprachgewalt  kommt  der  „begeisterte  Verehrer 
des  Dichters"  dem  Dichter  der  ,Penthesilea'  ohne  Zweifel 
gleich.  Er  hat  „sich  im  szenischen  Auf  bau,  in  der  Beibehaltung 


der  aristotelischen  drei  Einheiten:  Ort,  Zeit  und  Handlung, 
streng  an  das  Original  gehalten,  die  unerläßlichen  Kürzungen 
und  Zusammenziehungen,  sowie  die  Reduktion  der  Sprech* 
rollen  auf  ein  von  der  Darstellung  erreichbares  Maß,  und 
endlich  die  Gliederung  der  bei  Kleist  von  Anfang  bis  Ende 
in  ununterbrochener  Reihe  aneinandergefügten  Szenen  in  die 
für  unser  Theater  gebotenen  Abteilungen,  in  ,Akte',  nach 
denen  der  Vorhang  fällt,  nur  da,  wo  sie  Kleist  selbst  mit  un# 
verkennbarer  Deutlichkeit  angezeigt  hat,  vorgenommen". 
Mit  ähnlicher  Congenialität  wird,  soll,  dürfte  —  so  Gott  will 
und  Lindau  gesund  bleibt  und  sonst  alles  klappt  —  gegen 
den  , Prinzen  von  Homburg'  und  , Robert  Guiscard'  und  den 
, Zerbrochenen  Krug'  und  Hebbels  , Nibelungen'  vorgegangen 
werden.  Da  ist  es  denn  immerhin  ein  Trost,  daß  ,, zwischen 
diese  ernsten  und  schwerwiegenden  Dramen  aus  sagenhafter 
Vorzeit  die  Uraufführung  der  neuesten  Dichtung  Hermann 
Sudermanns  und  ein  modernes  Stück  von  leichterer,  heiterer 
Art  eingeschoben  werden  wird". 

* 

Von  den  Drohungen  zu  den  Taten.  ,,Im  Lustspielhaus 
erzielt  ,Die  goldene  Schüssel'  von  Rudolf  Strauß  jetzt  täglich 
ausverkaufte  Häuser."  So  leer  ist  es  dabei  gar  nicht.  Das 
Stück  verdient  auch  einen  Augenblickserfolg.  Rudolf  Strauß, 
von  dem  ich  nie  gehört  hatte,  und  der  in  keinem  Kürschner 
steht,  scheint  Journalist  zu  sein.  Dafür  spricht  vieles  in  seiner 
Komödie.  Er  weiß,  daß  das  Theater,  gleich  der  Zeitung,  im 
engsten  wie  im  weitesten  Sinne  vom  Tage  lebt.  Es  vom 
Tage  abschneiden,  heißt :  seine  Lebenskraft  unterbinden,  heißt : 
seine  Blutzirkulation  hemmen,  heißt:  aus  einem  , pulsierenden' 
Organismus  ein  Petrefakt  machen.  Das  will  Strauß  nicht. 
So  greift  er  denn  hinein  . . .,  nennt  zwar  den  Schauplatz  seiner 
Handlung  Lusitanien,  schmückt  zwar  seine  Personen  mit 
französischen  Namen,  meint  aber  Wien  und  die  Erben  Lue* 
gers.  Hei,  gibt  ers  ihnen!  Sie  sind  entweder  Trottel  oder 
Hallunken.  Der  Autor  ist  so  taktvoll,  sich  weit  genug  von 
seinen  Vorbildern  zu  entfernen,  und  doch  so  geschickt,  das 


ganze  Milieu  greifbar  werden  zu  lassen.  Das  ist  ja  nicht 
schwer,  weil  wir  hier  im  Bezirk  der  eindeutigsten  Verrottung 
sind  und  Abtönungen  nicht,  wie  in  anderen  Fällen,  die 
"Wirklichkeit  wiedergeben,  sondern  fälschen  würden.  Der 
dickste  Strich  ist  der  beste,  und  ihn  am  rechten  Fleck  un* 
verzagt  hinzusetzen,  darin  liegt  Straußens  Stärke.  Nicht  im 
Dialog,  auf  den  er  sich  offenbar  viel  zugute  tut,  und  dem 
man  die  , Gepflegtheit'  leider  nicht  absprechen  kann.  Dieser 
feuilletonistische  Esprit,  der  nach  einem  allzu  einfachen  System 
der  Wortumdrehungen  arbeitet,  muß  denn  doch  üppiger, 
muß  mindestens  molnärisch  quellen,  um  unterhaltsam,  wenn 
auch  noch  lange  nicht  lobenswert  zu  sein.  Aber  gerade  da, 
wo  wir  ungeduldig  werden,  stellt  Strauß  sein  selbstzufriedenes 
Plaudertalent  ab  und  zieht  alle  Register  eines  sehr  begabten 
Theatralikers.  Er  rettet  den  schwachen  zweiten  Akt  am  Schluß 
durch  den  Knalleffekt  einer  einzigen  Wendung  und  entwickelt 
daraus  einen  dritten  Akt,  der,  eine  Seltenheit,  nicht  das  Stück 
mühsam  zu  Ende  führt,  sondern  überhaupt  erst  rechtfertigt. 
Bis  dahin  war  alles  Vorspiel.  Die  Gemeinheit  war  groß,  aber 
alltäglich.  Sie  richtig  wiederzugeben,  vielleicht  ein  Verdienst, 
aber  kein  höheres  als  das  Verdienst  eines  Leitartiklers,  der 
die  Bekämpfung  der  Korruption  zum  Gewerbe  gewählt  hat. 
Hier  nun,  im  dritten  Akt,  nimmt  die  Gemeinheit  phantastische 
Dimensionen  an.  Sie  verliert  ihre  Schäbigkeit  und  entzieht 
sich  jeder  moralischen  Wertung.  Man  lacht  nur  noch.  Wir 
sind  unversehens,  für  die  letzten  fünf  Minuten  des  Stücks  in 
der  Sphäre  der  Kunst.   Am  ersten  Theaterabend!    Und  im 

Lustspielhaus  I 

« 

Bei  Friedrich  Freksa  gehts  umgekehrt:  sein  , Fetter  Caesar' 
wird  immer  magerer.  Mit  ihm  begann  das  Deutsche  Theater. 
Daß  es  die  Tragikomödie  im  August  spielte,  war  eigentlich 
schon  ein  Urteilsspruch.  Trotzdem:  es  hätte  ein  Fehlspruch 
sein  können.  Leider  war  es  keiner.  Man  bestätigte  ihn  durch 
Opposition  gegen  einen  gelinden  Beifall,  der  nur  soweit  be* 
rechtigt  war,  wie  er  Paul  Wegener  galt,  und  für  diesen  frei* 


lieh  viel  lauter  hätte  sein  dürfen.    Freksa  hat  seiner  Tragi* 
komödie  einen  ,Prologus'  vorausgeschickt,  weil  „keiner  der 
drunten  im  Parkett  Sitzenden  von  dem  Lebensgefühl  weiß, 
das  uns  zwang,  gerade  dies  Stück  zu  schreiben".  Aber  wenn 
das  Lebensgefühl  des  Dichters  dem  Stück  nicht  aus  samt* 
liehen  Poren  bricht,  dann  sind  Lebensgefühl  und  Stück  gleich 
fragwürdig,  dann  ist  jeder  Prologus  und  jeder  Epilogus  über* 
flüssig.    In  Freksa  „erwuchs  die  Idee  von  einem  Menschen, 
der  sich  alles  in  naiver  Genußsucht  dienstbar  zu  machen 
sucht",  und  er  bemühte  sich,  diese  Idee  in  einem  unbändig 
dicken  Senator  zu  verwirklichen,  der  im  Rom  der  V^erfallzeit 
für  Geld  die  Kaiserwürde  kauft  und  sie  dreißig  Tage  behält. 
Das  ergibt  eine  natürliche  Gliederung  in   zwei  Teile,  von 
denen  der  erste  als  Einakter  für  sich  bestehen  würde:   Die 
Versteigerung  des  Zepters.    Schon  dieser  Akt  ist  zu  lang* 
wierig,   aber  noch  ganz  lustig.    Der  das  Zepter  ersteigert, 
Didius  Julianus,   steht  —  oder  sitzt,  da  seine  Beine  seinen 
Bauch  nicht  tragen  können  —  auf  Anhieb  da.    Aber  auch 
das  Gewimmel  hat  den  Hautgout,  der  in  diesem  Falle  der 
historisch  wahre  Geschmack  ist.    Die  Lasterhaftigkeit  ist  im 
Heer  nicht  geringer  als  im  Volk  und  wird  die  anständigen 
Elemente  teils  beseitigen,  teils  anstecken.   Schlimm  fängt  es 
an  und  schlimmer  endigt  sichs.   Wir  glauben  es.  Jedenfalls 
ist  unsere  Phantasie  befähigter,  den  ersten  Akt  fortzusetzen, 
als  der  Dramatiker  Freksa,  der  in  den  anderen  beiden  Akten 
eben  keiner  ist.    Sie  müßten  heißen:   Das  Mastschwein  als 
Caesar,  und  damit  wäre  schon  ausgedrückt,  daß  wir  es  mit 
einer  breiten  Zustandsschilderung  zu  tun  haben,   die  auch 
durch  episodische  Liebeleien,  Intrigen  und  Verschwörungen 
nicht  dramatisch,  sondern  nur  geräuschvoll  und  verworren 
wird.    Ich  würde  vielleicht  versuchen,  diese  künstlich  und 
doch  kunstlos  verschlungenen  Fäden  zu  entwirren,  wenn  das 
Stück  eine  Zukunft  auf  der  deutschen  Bühne  hätte.    Aber 
dazu  ist  der  Kern,  die  Monographie  des  fetten  Caesar,  zu 
schwach  geraten.  Daß  er  sein  Fettherz  an  eine  achtzehnjährige 
Schlange  hängt  und  diese  erst  an   einen  jungen  Tribunen 


und  gleich  darauf  überhaupt  verUert  und  darüber  nicht 
hinwegkommt  und  seine  Fulvia  überall  zu  sehen  glaubt  und 
ihr  nachwimmert  und  schließlich  sein  bißchen  Verstand  ein« 
büßt:  das  soll  tragikomisch  wirken  und  wirkt  gar  nicht, 
weil  Freksa  eine  primitive  Antithese,  den  Kontrast  zwischen  der 
Freßsucht  dieses  Caesar  und  seinem  Zärtlichkeitsbedürfnis, 
zwischen  seinem  Körper  und  seinem  Seelchen  zu  einem  Drei* 
akter  auswalzt  und  damit  denselben  Kontrast  auch  in  seiner 
Arbeit  schafft.  Sie  ist  ein  lärmender  Koloß  von  Römerdrama, 
in  dem  irgendwo  ein  Dichterstimmchen  wispert.  Es  kann 
jetzt  noch  vernehmlich  gemacht  werden.  Freksa  hat  selbst 
erzählt,  daß  seine  drei  Akte  aus  fünf  Zeilen  Jakob  Burkhardts 
entstanden  sind.  Für  den  Inhalt  dieser  fünf  Zeilen  sind,  bei 
Freksas  dürftiger  Phantasie,  drei  Akte  offenbar  viel  zu  viel. 
Ein  Akt  tut  es  besser.   Er  stelle  ihn  aus  den  dreien  her. 

Dann  wird  es  um  keinen  Satz  von  Freksa,  aber  um  jeden 
Blick  und  jeden  Ton  von  Wegener  schade  sein.  Die  ganze 
Aufführung  erschien  wohl  nur  denen  unerlaubt  unzulänglich, 
die  sich  zwar  keine  Rechenschaft  darüber  gaben,  wie  un# 
erreicht  hoch  Wegeners  Leistung  über  allen  anderen  stand, 
und  deshalb  gegen  diese  anderen  ungerecht  waren,  die  aber 
desto  deutlicher  bemerkten,  wie  weit  ein  debütierendes  Mit« 
glied  hinter  den  anderen  zurückblieb,  und  sich  dadurch  ver# 
stimmen  ließen.  In  der  Totalität,  und  gar  für  den  August, 
war  die  Aufführung  sehr  anständig.  Mehr  noch :  auf  keiner 
zweiten  berliner  Bühne  bekommt  ein  so  personenreiches  und 
auch  sonst  anspruchsvolles  Stück  so  viel  Haltung  und  Gesicht. 
Eine  schärfere  Gliederung,  weniger  Radau  und  ein  paar  Um« 
besetzungen:  und  die  Aufführung  macht  auch  im  Winter  des 
Deutschen  Theaters  Figur.  Ihr  Hauptfehler  war  die  Ver* 
Wendung  der  »Vorbühne',  die  für  den  zweiten  Teil  des  , Faust' 
angelegt  und  außerdem  für  .Othello'  und  , Hamlet'  benutzt 
worden  ist.  Schön.  Das  sind  Dramen  mit  vielen  Szenen,  bei 
denen  jedes  Hilfsmittel,  die  Verwandlung  zu  beschleunigen, 
im  Interesse  einer  geschlosseneren  und  mächtigeren  Wirkung 
willkommen  sein  mag.  Aber  für  ein  Stück  von  zwei  Bildern 


diesen  Vorbau  zu  gebrauchen,  ist  einfach  eine  BequemHch* 
keit  des  Regisseurs.  Wie  mit  dem  Menschenmaterial,  dem 
Licht,  den  Dekorationen  und  Kostümen  sollte  der  Regisseur 
auch  mit  dem  einmal  gegebenen  O  von  Holz  auskommen 
und  es  nicht  ohne  Not  erweitem.  So  oft  diesmal  ein  Dar* 
steller  über  die  Rampe  trat  oder  sprang,  war  es,  als  ob  plötz* 
lieh  alle  Gesetze  der  Bühnenkunst  aufgehoben  würden.  x\ber 
Wegener  stellte  sie  immer  wieder  her.  Auch  wenn  man  den 
höchsten  Maßstab  anlegt,  wird  man  sich  nicht  vieler  schau* 
spielerischer  Gestalten  von  solcher  Rundheit  und  Saftigkeit, 
von  solchem  Überschuß  erinnern.  Wegener  gab  diesem  kahl* 
köpfigen,  lüstern  äugenden  und  bald  tierisch  grunzenden, 
bald  kindlich  lächelnden  Riesenclown  soviel  Liebenswürdig* 
keit  und  Drolligkeit  und  sogar  Gemüt,  daß  man  bei  seinem 
Anblick  nicht  nur  kein  Unbehagen  empfand,  sondern  all* 
mählich  zu  dem  Kerl  eine  stille  Zuneigung  faßte.  Das  ist 
Fleisch  von  Falstaffs  Fleisch. 


BRIEF  AN  REINHARDT 

Iieber  Max  Reinhardt! 
^  Ich  gratuliere  von  Herzen  zum  Mißerfolg.  Oder  war  es 
keiner?  Aus  den  tadelnden  Stimmen,  die  über  die  münch* 
ner  ,Orestie'  zu  uns  drangen,  ließ  sich  zunächst  auf  eine  Tat 
schließen.  Nach  den  lobenden  Stimmen  zu  urteilen,  sind 
Sie  unter  jenem  Premierenjubel,  den  unsere  armen  Ohren 
aus  Ihrem  Deutschen  Theater  kennen,  durchgefallen  —  und 
mit  Recht  durchgefallen.  Zwar:  die  Depesche  des  Prinzen 
August  Wilhelm,  die  Sie  mitten  in  einer  der  letzten  Proben 
traf,  hatte  Ihre  „Freude  an  der  Arbeit  aufs  höchste  gesteigert". 
Aber  es  muß  doch  wohl  nicht  weit  her  sein  mit  einer  künst* 
lerischen  Arbeit,  die  munterer  fortschreitet,  wenn  die  guten 
Reden  königlicher  Hoheiten  sie  begleiten:  und  so  gewiß  und 
selbstverständlich  Ihr  Werk  bei  der  berliner  Aufführung  auf 
meine  reinste  Empfänglichkeit  treffen  wird,  so  gewiß  glaube 
ich  vorläufig  auf  Grund  einer  Beschreibung  und  aller  mög* 


liehen  Tatsachen  und  Begleitumstände,  daß  dieses  Werk  ziem* 
lieh  mißraten,  und  daß  ihm  trotzdem  nicht  bestimmt  ist,  einen 
Siegeszug  um  die  Welt  zu  machen.  Und  habe  meine  Freude  dran. 
Sie  schütteln  verwundert  den  Kopf.  Schadenfreude  bei 
Jacobsohn?  Aber  das  ist  es  wirklich  nicht.  Es  ist  vielmehr 
eine  aufrichtige  Freude  über  den  Nutzen,  den  Sie  und  wir 
aus  diesem  Fiasko  ziehen  werden.  Seit  etwa  zehn  Monaten 
waren  Sie  nicht  mehr  der  Alte.  Seit  jenem  Novembertage 
des  vorigen  Jahres,  wo  Sie  bewiesen,  was  keinem  bewiesen 
zu  werden  brauchte:  daß  Sie  eine  Menge  nicht  bloß  von 
dreißig,  sondern  von  dreihundert  Statisten  kunstvoll  zu* 
sammenzuballen  und  in  regelmäßigen,  genau  festgestellten 
Windungen  wieder  aufzulösen  vermögen.  Denn  worin  be* 
stand  sonst  der  Unterschied  zwischen  der  Zirkusaufführung 
des  , König  Oedipus'  und  einer  Theateraufführung?  Zu« 
gegeben :  auch  in  einer  schlechteren  Übersetzung,  als  wir  früher 
gehört,  und  in  einer  schwächeren  Darstellung,  als  wir  früher 
gesehen  hatten.  Immerhin  hätte  das  allein  für  einen  europäi* 
sehen  Erfolg  vielleicht  doch  nicht  ausgereicht.  Die  Masse  und 
die  Manege  tat  es.  Man  hatte  keinen  großen,  geschweige  denn 
einen  kolossalen  Eindruck:  aber  man  hatte  den  Eindruck 
der  Kolossalität.  Der  entschied.  Es  war  verlorene  Mühe,  den 
jauchzenden  Völkern  erklären  zu  wollen,  daß  Sie  die  Schwierig* 
keiten  des  Terrains  und  nicht  der  dichterischen  Aufgabe  über* 
wunden  hatten.  Sie  hatten  ja  in  der  Tat  den  dramaturgischen 
Charakter  der  Tragödie  durchaus  verkannt.  Sie  ist  ein  Blitz, 
der  aus  entwölktem  Himmel  niederfährt,  vernichtet  und  er* 
lischt.  In  Ihrem  Zirkus  wurde  der  Blitz  auf  seinem  Wege 
aufgehalten,  mannigfach  gekurvt  in  Seitenbahnen  abgelenkt, 
wieder  auf  den  rechten  Weg  geleitet  und  abermals  zu  Ziek* 
zaekschlänglungen  mißbraucht.  Im  Theater  wäre  kein  rieh* 
tiger  Begriff  vom  Wesen  des  antiken  Dramas  zu  geben  ge* 
wesen?  Sollte  das  etwa  den  richtigen  Begriff  geben,  daß  der 
greise  Teiresias,  der  längst  auf  der  anderen  Seite  des  Lebens 
ist,  und  aus  dem  göttliche  Eingebungen  geisterhaft  und  ab* 
geklärt  heraustönen,   auf  einmal   ein   verkleideter  Jüngling 

8 


war,  der  sich  bei  der  Geschichte  maßlos  aufregte  und  ein 
betäubendes  Geschrei  machte?  Daß  nackte  Läufer  mit  Wind* 
lichtem  über  die  Orchestra  die  Stufen  hinauf  in  den  Palast 
und  wie  die  Wilden  zurückjagten?  Daß  aus  dem  einen 
namenlosen  und  durch  seine  gehaltene  Sachlichkeit  namenlos 
ergreifenden  Boten,  der  den  Selbstmord  der  Jokaste  und  die 
Selbstblendung  des  Oedipus  schildert,  ein  Schwärm  von 
hysterischen  Mägden  wurde,  die  die  pompösesten  Namen 
führten,  sich  mit  gräßlichem  Geheul  über  die  Orchestra  er* 
gössen,  uns  allen  Schmerz  vorwegnahmen  und  den  meister* 
haft  komponierten,  grandios  gesteigerten  Bericht  in  lauter 
kleine  und  unwirksame  Stücke  zerfetzten?  Schreckliche  Er# 
innerungen.  Aus  dem  Naturschauspiel  war  ein  Feuerwerk 
geworden.  Kein  Wunder,  daß  viele  sich  blenden  ließen,  und 
daß  Kappel  an  der  Schlei  so  gut  seinen,  Ihren  Oedipus  haben 
mußte  wie  Berlin. 

Ich  will  hoffen,  daß  alles,  was  wir  seit  jenem  November« 
tage  des  Jahres  1910  erlebt  haben,  bewußte  Ausnutzung  einer 
selten  günstigen  Konjunktur  gewesen  ist.  Sonst  läge  der  Fall 
ja  viel  schlimmer.  Wenn  Wert  und  Würde  dem  Gerichte 
Nach  dem  Erfolg  bemessen  wird,  Ist  die  Kartoffel  Königin 
der  Früchte,  W^eil  sie  zumeist  gegessen  wird.  Schon  die 
Massenhaftigkeit  des  Konsums  hätte  den  , König  Oedipus' 
zur  Kartoffel  unter  ihren  Früchten  gemacht.  Sollten  Sie  der 
Plebs  ihr  Hauptnahrungsmittel  verweigern,  das  Sie  oben* 
drein  schnell  bereicherte,  indem  es  Ihren  Marktwert  ver* 
hundertfachte?  Und  war  es  in  diesem  gesegneten  Zeitalter 
des  Handels  und  der  Industrie  nicht  natürlich,  daß  andere 
mit  Ihnen,  durch  Sie  reich  werden  wollten?  Man  plante  flugs 
den  Bau  riesenhafter  Häuser  zur  Züchtung  von  Kartoffeln, 
und  weil  der  Absatz  eines  gewöhnlichen  Artikels  desto  leb« 
hafter  ist,  je  schwungvoller  man  ihn  benennt  und  je  tief« 
gründiger  man  seine  Unentbehrlichkeit  nachweist,  so  gab 
man  große  Worte  von  sich.  Man  sei  übersättigt  von  den 
Finessen  und  Nuancen  für  die  Minderheit.  Und  von  einer 
Berührung  mit  der  Gesamtheit    erwarte  man   Erneuerung, 


Gesundung  und  Erhöhung  für  die  dramatische  Kunst.  Und 
in  dieser  nüchternen  und  exakten  Epoche  der  Technik  be* 
dürfe  man  für  die  Kunst  eines  Glanzes,  der  ein  Gegengewicht 
nicht  nur  zu  dieser  Nüchternheit  und  Exaktheit,  sondern 
auch  zu  der  rationaUstischen,  kargen,  erdhaften  Dramatik  des 
vorangegangenen  Jahrzehnts  bilde.  Und  so  seien  Volksfest* 
spielhäuser  die  Forderung  des  Tages.  Und  bis  sie  dastünden, 
müßten  Sie  in  München  Operetten,  in  London  Pantomimen 
und  womöglich  irgendwo  Freilichtspiele  inszenieren,  in  allen 
Großstädten  zu  gleicher  Zeit  sein  und  ganz  zu  vergessen 
suchen,  wo  die  starken  Wurzeln  Ihrer  Kraft  sind. 

Sie  vergaßen  es,  leider.  Sie  ließen  sich  durch  den  Lärm 
betäuben,  ließen  sich  durch  die  Konstellation  verführen,  die 
der  sogenannte  europäische  Erfolg  zu  schaffen  pflegt.  Dies* 
mal  brauchten  Ihre  Leute  den  Wind  nicht  erst  zu  machen, 
mit  dem  Ihr  Ruhm  durch  die  Lande  flog.  Aber  es  war  Ihrer 
nicht  würdig,  daß  Sie  nachflogen.  Sie  verschmähten  es  nicht, 
sich  heute  mit  einem  englischen  Tingeltangelkönig,  morgen 
mit  Herrn  Bonn  Hand  in  Hand  zu  verbeugen.  Was  in  Berlin 
geschah,  war  Nebensache.  Nach  acht  Jahren  strenger  und 
reiner  Arbeit  lockte  der  Rausch  billigsten  Applauses  so  süß, 
daß  Ihr  neuntes  Spieljahr  das  ärmste  werden  durfte.  Von 
ungefähr  zwanzig  Aufführungen  zeigte  sich  nur  eine  dem 
Maßstab  gewachsen,  den  Sie  selber  geschaffen  haben: 
»Othello*.  Der  zweite  Teil  des  , Faust'  war  schauspielerisch 
so  schwach  bedacht,  daß  alle  Besonderheiten  des  Experiments, 
künstlerische,  wie  namentlich  außerkünstlerische,  nötig  waren, 
um  über  dieses  Manko  hinwegzuhelfen.  Die  Kammerspiele 
schienen  kaum  mehr  vorhanden,  seit  der  Zirkus  das  Haupt* 
Interesse  an  sich  gerissen  hatte.  Während  die  Pauke  geschlagen 
wurde,  vergaß  man  die  Flöte  zu  blasen,  deren  Klang  so 
köstlich  gewesen  war.  In  neun  Monaten  erblickte  ein  ein* 
ziger  Autor  von  Rang  das  Rampenlicht:  Carl  Sternheim. 
Ungenügende  Vorbereitung  schädigte  aufs  schwerste  die  Tra* 
gödie  von  Wieland,  mit  der  Vollmoeller  hätte  durchdringen 
können.   Der  Sommer  kam.    Den  benutzten  Sie  ehedem,  um 

10 


ein  paar  Inszenierungen  von  der  Art  vorzubereiten,  durch 
die  Sie  mächtig  geworden  sind.  Diesmal  ließen  Sie  sich  da* 
zu  anwerben,  den  Operettenschmarren  eines  reich  gewordenen 
Seifenfritzen  aufzutakeln.  Aber  das  füllt  eines  Posa  Herz 
nicht  aus.  In  glücklicher  Vorurteilslosigkeit  gingen  Sie  von 
dieser  Branche  wieder  zur  antiken  Tragödie  über.  Und  jetzt 
mußte  es  sich  herausstellen:  ob  nämlich  jener  Eindruck  des 
, König  Oedipus'  tatsächlich  nur  der  Eindruck  der  Über* 
raschung,  der  Überrumpelung  mit  ungeheueren  Dimensionen, 
des  verblüffenden  Kontrastes  zu  den  landläufigen  Theater* 
Wirkungen  gewesen  war,  oder  nicht.  Für  mein  Gefühl  hing 
viel  vom  Ausgang  dieses  Abends  ab:  durch  einen  neuen 
Riesenerfolg  mußten  Sie  uns  endgültig  verloren  gehen,  durch 
einen  Mißerfolg  mußten  Sie  uns  zurückgewonnen  werden. 
Sie  wissen,  lieber  Max  Reinhardt,  daß  ich  noch  immer  jung 
genug  bin,  um  diese  Dinge  ziemlich  wichtig  zu  nehmen, 
und  so  wird  es  Sie  nicht  wundern,  daß  ich  den  Daumen 
inbrünstig  auf  Mißerfolg  hielt. 

Der  scheint  es  ja  denn  zum  Glück  geworden  zu  sein. 
Wenn  nicht  alles  trügt,  werden  in  Berlin  von  der  ,Orestie' 
drei,  vier  Aufführungen  im  leeren  Zirkus  stattfinden,  und 
damit  wird  abermals  eine  Theatermode  begraben  sein,  Sie 
aber  werden  Ihre  Arbeit  dort  fortsetzen,  wo  Sie  sie  vor 
einem  Jahre  abgebrochen  haben.  Uns  genügt  diese  Arbeit. 
Wir  brauchen  Sie  gar  nicht  größer,  als  Sie  sind.  Sie  sind 
zum  ersten  Theatermann  dieser  und  wahrscheinlich  auch  aller 
früheren  Tage  dadurch  geworden,  daß  Sie  endlich  einmal 
sämtliche  zehn  Gebote  und  nicht  bloß  vier  oder  sieben  erfüllt 
haben.  Sie  werden  es  also  auch  künftig  wieder  der  Impotenz 
überlassen,  das  elfte  Gebot  zu  erfinden,  und  fortfahren,  die 
guten  alten  zehn  zu  erfüllen.  Sie  sind  Herr  über  das  Deutsche 
Theater,  das  uns  Berlinern  durch  seine  ältere  und  seine  jün* 
gere  Vergangenheit  das  teuerste  ist,  und  über  das  Kammer« 
spielhaus,  das  an  Intimität  und  Schönheit  seinesgleichen  nicht 
hat  und  Ihnen  einst  als  Instrument  unschätzbar  gewesen  ist. 
Hie  salta.  , König  Oedipus'  hat  uns  auf  jeder  Bühne  tiefer 

11 


ergriffen  als  im  Zirkus;  aber  ,Aglavaine  und  Selysette'  wäre 
ohne  Sie  überhaupt  nicht  gespielt  worden,  und  »Othello'  hat 
vor  Ihnen  niemals  eine  ähnliche  Gewalt  gehabt.  Diesen  Be# 
sitz  wollen  wir  nicht  mehr  verlieren,  ihn  wollen  wir  beständig 
vergrößert  sehen.  Geben  Sie,  statt  rastlos  ins  Weite  und 
Breite  zu  greifen,  uns  und  der  nachkommenden  Generation 
die  Zeiten  wieder,  da  Sie  noch  selbst  im  Werden  waren.  Ich 
will  nicht  müde  werden,  Ihnen  zu  wiederholen,  daß  nach 
meiner  Überzeugung  Ihre  künstlerische  Zukunft  in  Ihrer 
künstlerischen  Vergangenheit  liegt.  Sie  für  Ihr  Teil  werden 
mir  wiederholen,  daß  mein  Konservatismus  anfängt,  schäd* 
lieber  zu  werden  als  der  Konservatismus  der  gewissen  alten 
Perücken,  weil  diesen  höchstens  eine  stumpfsinnige  Bour* 
geoisie,  mir  aber  die  Jugend  vertraut.  Konservatismus:  das 
nehme  ich  an.  Aber  schädlich  ist  er  nicht.  Ich  glaube,  daß 
es  in  der  Kunst  ebenso  sehr  darauf  ankommt,  zu  erhalten, 
wie  zu  erobern,  und  sehe  darum  mit  Trauer  immer  deutlicher, 
wie  kümmerlich  gegenüber  der  Eroberungsgier  die  erhaltenden 
Tugenden  in  Ihnen  ausgebildet  sind.  Sie  haben  glorreich  be# 
gönnen,  das  klassische  Drama  im  Geiste  der  Gegenwart  zu 
verjüngen.  Lassen  Sie  dieses  Werk  nicht  verfallen!  Nehmen 
Sie  heute  mit  Bassermann  diejenigen  Dichtungen  wieder  auf, 
für  die  entweder  seinerzeit  die  Schauspielkunst  Ihres  Theaters 
nicht  ausgereicht  hat,  oder  die  durch  ihn  wieder  ein  anderes 
Gesicht  bekommen  würden.  Ich  an  Ihrer  Stelle  würde  eine 
Kraft  wie  diese  gehörig  fürs  Alltagsrepertoire  ausbeuten,  das 
eben  dadurch  unalltäglich  werden  und  immer  interessant 
bleiben  würde.  Er  wäre  Shylock,  Lear,  Tartüff,  Fiesco,  Franz 
Moor,  Clavigo  oder  sein  Carlos,  der  Mephisto  auch  des  ersten 
Teils,  Shaws  Caesar  und  der  Marquis  von  Keith.  Was  fehlt 
dabei  nicht  noch  alles,  was  könnte  durch  Bassermann,  Wegener 
und  Moissi  nicht  noch  alles  lebendig  werden!  Wallenstein, 
Tasso,  Egmont,  Emilia  Galotti,  Julius  Caesar,  Der  Sturm, 
Macbeth,  Heinrich  der  Vierte,  Richard  der  Zweite  und  der 
Dritte.  Man  sollte  meinen,  daß  das  allein  ein  Programm  für 
Jahre  wäre.  Aber  das  ist  ja  erst  die  Hälfte  Ihrer  Aufgaben. 

12 


Es  ist  nicht  nur  im  allgemeinen  zu  wünschen,  daß  Ihr  junges, 
frohes,  mutiges  Streben  künftig  aller  der  Kunststücke  und 
Künsteleien  entraten  möge,  durch  die  es  sich  bisher  mehr 
geschädigt  als  gefördert  hat;  daß  es  sein  Gefühl  für  das 
Wesenhafte  und  Notwendige  schärfe;  daß  es  wieder  ein* 
facher,  sachlicher,  ehrlicher  werde.  Es  ist  im  besonderen  zu 
wünschen,  daß  es  genau  so  wie  der  Vergangenheit  auch  der 
Zukunft  des  germanischen  Dramas  sich  verpflichtet  fühle. 
Das  Deutsche  Theater  hat  ein  Vierteljahrhundert  lang  über 
das  Schicksal  der  zeitgenössischen  Dramatik  entschieden  und 
darf  dieses  Ruhms  nicht  verlustig  gehen.  Als  Sie  anfingen, 
hatte  Ihr  modernes  Repertoire  ein  Gesicht,  das  zugleich  das 
literarische  Gesicht  der  Jahrhundertwende  war.  Heute  gibt 
es  solche  zeitcharakteristischen  Dramen  nicht  mehr?  Sie  liegen 
auf  der  Straße.  Aber  mit  der  Lust,  sie  durchzusetzen,  mag 
freilich  die  Fähigkeit,  sie  zu  entdecken,  verkümmert  sein. 
Lassen  Sie  diese  Lust  nicht  verkümmern!  Lassen  Sie  sich 
wieder  und  wieder  sagen,  daß  die  führende  Stellung  immer 
nur  die  Bühne  der  literarischen  Initiative  behaupten  kann! 
Vielleicht  täten  Sie  gut,  einen  Dramaturgen  zu  suchen,  der 
sich  weder  um  den  technisch*praktischen  Betrieb  noch  um 
die  Verherrlichung  Ihres  Unternehmens,  sondern  ausschließ* 
lieh  um  die  Fortschritte  der  Produktion  zu  sorgen  hätte.  Ein 
Dramaturg  dieses  Schlages  müßte  gegen  den  Geist  des  Theaters 
den  Geist  des  Dramas  als  mindestens  gleichberechtigt  geltend 
machen.  Aber  der  Entschluß  zu  einer  Uraufführung  fällt 
Ihnen  immer  schwerer,  weil  in  so  vielen  Fällen  die  freudig* 
sten  Hoffnungen  zuschanden  geworden  sind?  Dann  trug 
entweder  eine  grundfalsche  Besetzung  oder  eine  lieblose 
Inszenierung  die  Schuld,  oder  es  war  von  vornherein  die 
Sache  eines  Ignoranten,  Hoffnungen  überhaupt  zu  hegen 
oder  zu  erwecken.  Denn  es  ist  ja  nur  eine  Ausflucht  träger, 
ungebildeter  und  instinktverlassener  Routiniers,  daß  es  beim 
Theater  gewöhnlich  anders  komme.  Es  kommt  in  den  selten* 
sten  Fällen  anders,  als  Erfahrung,  lebendiges  Zeitgefühl  und 
eine  gewisse  Kenntnis  menschlicher  Hirne  und  Herzen  voraus* 

13 


zusagen  begabt  sind.  Ein  Dramaturg  von  diesen  Talenten 
würde  sich  reichlich  bezahlt  machen,  und  es  ist  strafbare 
Kurzsichtigkeit,  ihn  für  ein  Unternehmen  vom  Range  des 
Ihren  ersparen  zu  wollen. 

, . .  Ich  bin  fertig  und  wünsche  nichts  sehnlicher,  als  künf* 
tighin  wieder  in  freundlicheren  Tönen  zu  Ihnen  reden  zu 
können.  Es  hängt  von  Ihnen  ab,  lieber  Max  Reinhardt.  Ich 
bin  sicher,  daß  Sie  mich  zu  gut  kennen,  um  meine  Worte 
völlig  in  den  'W^nd  zu  schlagen.  Es  kostet  unsereinen  keine 
kleine  Überwindung,  auch  nur  für  das  Augenmaß  des  schlecht 
testen  Lesers  sich  vorübergehend  Ihren  Gegnern  beizugesel* 
len,  und  Sie  werden  mir  einräumen,  daß  ich  das  nie  ohne 
Not  getan  habe.  Was  auf  dem  Spiele  steht,  ist  ja  nicht  wenig. 
Es  ist  die  Existenz  (wennschon  nicht  gerade  die  tatsächliche 
Existenz)  eines  Theaters,  das  nach  den  Anlagen  seines  Leiters 
berufen  wäre,  zum  ersten  Mal,  seit  es  irgendwo  auf  der 
Welt  Theater  gibt,  das  Ideal  zu  verwirklichen.  Sie  waren 
auf  dem  besten  Wege.  Jetzt  sind  Sie  durch  die  Ungunst  des 
Schicksals,  die  sich  immer  als  Gunst  verkleidet,  auf  einen 
Abweg  gedrängt  worden.  Dort  könnte  sich  dauernd  nur 
wohlfühlen,  wer  eine  Kreuzung  von  Bamay  und  Bachur 
wäre.  Kehren  Sie  also  auf  Ihre  Straße  zurück  und  nutzen 
Sie,  was  Ihnen  der  Umweg  an  Kredit  und  Popularität  ein* 
getragen  hat,  für  Ihre  ursprünglichen  Bestrebungen  aus. 
Wenn  Sie  wieder  wollen,  so  haben  wir  eine  deutsche  Theater* 
kunst.    Wollen  Siel 


LANVAL 

Dreimal  Stucken  in  anderthalb  Jahren:  es  ist  zuviel.  Auch 
in  einer  weniger  kläglichen  Aufführung,  als  die  Kam* 
merspiele  sie  für  Caruso*Preise  zu  bieten  wagten,  hätte  dem 
,Lanväl'  der  Reiz  der  Neuigkeit  gefehlt,  der  schließlich  doch 
den  Erfolg  des  ,Gawän*  entschied,  und  den  , Lanzelot'  schon 
nicht  mehr  haben  konnte.  Eine  andere  Reihenfolge,  und  ,Lan* 
väl'  gewinnt  den  Preis.    Halten  wir  heute,  wo  diese  Dramen 

14 


der  ArtussSage  uns  gleich  vertraut  sind,  alle  drei  neben  ein* 
ander,  so  sind  uns  alle  drei  gleich  lieb  oder  unlieb,  wie  sie 
ihrem  Dichter  einmal  gleich  lieb  oder  unlieb  gewesen  sein 
werden.  Unser  Anteil  ist  von  derselben  Art  wie  seiner,  und 
sein  Anteil  war  artistischer  und  nicht  seelischer  Art.  Seelischer 
Anteil  ist  unerschöpflich  —  ist  das  artistischer  auch?  Jedes 
Menschenleben  ist  anders  als  jedes  andere  und  im  Grunde 
ebenso  interessant;  aber  das  zweite  Hundert  Verse  einer  be# 
stimmten  Prägung  und  Klangfarbe  und  Stoffwelt  kann  nur 
wieder  dieselbe  Stimmung  erzeugen  wie  das  erste  Hundert, 
und  diese  Stimmung  verflüchtigt  sich.  Wen  beim  ersten  Mal 
diese  nebelhafte,  weichliche,  schwüle  Stimmung  noch  einge* 
lullt  hat,  der  macht  sich  beim  zweiten  und  nun  gar  beim 
dritten  Mal  schon  während  der  Aufführung  klar,  wie  sie 
entsteht,  und  hindert  sie  dadurch,  zu  entstehen.  Es  ist  ein 
schlauer  und  doch  so  durchsichtiger  Zauber.  Der  doppelt 
reimende  Nibelungenvers  gibt  dem  Schauspiel  —  heiße  es, 
wie  es  wolle  —  seinen  schweren,  mühsamen  Schritt.  Dieser 
Vers  bindet  und  vereinfacht  durch  seinen  feierlichen  Zwang 
die  Leidenschaft  der  Figuren.  Er  ist  schuld,  daß  in  solch 
einem  Drama  —  heiße  es,  wie  es  wolle  —  diese  Menschen,  in 
diese  Begebenheiten  gestellt,  häufig  kindlich  anmuten.  Es 
sind  von  Haus  aus  verwickelte,  vergrübelte,  in  sich  verstrickte 
Menschen:  der  Vers  simplifiziert  sie  bis  zur  äußersten  Harm* 
losigkeit.  Es  sind  von  Haus  aus  vielfach  gewundene  und 
komplizierte  Vorgänge:  der  Vers  macht  sie  zu  dekorativen 
Zwecken  gradlinig.  So  wenigstens  erkläre  ich  mir,  daß  einem 
in  diesen  tragisch  gemeinten  Verhältnissen  keinen  Augenblick 
das  Weinen  nahe  ist.  Eher  das  Gegenteil.  Allerdings  ist  der 
Respekt  vor  einer  unendlich  ernsten  und  hingegebenen  Arbeit 
—  heiße  sie,  wie  sie  wolle  —  unerschütterlich.  Aber  ich  muß 
gestehen,  daß  ich  mir  liebreiche  Geduld  vor  Ereignissen  auf= 
erlege,  für  die  ich  nicht  einmal  mehr  auf  Umwegen  einen 
Anteil  aufbringe,  und  vor  einer  Gestaltung  dieser  Ereignisse, 
die  ihnen  nur  scheinbar  entspricht.  Wenn  Wagner  mir  nicht 
so  unerträglich  wäre,   würde  ich  sagen,  daß  einzig  Musik 

15 


solche  Stoffe  noch  erträgUch  machen  kann.    Stuckens  Vers* 
musik  kann  es  jedenfalls  nicht. 

Lanväl  ist  ein  Mann  oder  Unmann  zwischen  zwei  Frauen, 
wie  Hauptmanns  Glockengießer  Heinrich,  oder  besser:  wie 
Goethes  Weisungen.  Denn  jener  Heinrich  ist  was  mehr  als 
ein  haltloser  Liebhaber,  ist  wenigstens  noch  ein  halber  Kunst* 
1er.  Lanväl  aber  bringt  seine  und  unsere  Zeit  damit  hin, 
zwischen  Finngula  und  Lionors  zu  schwanken.  Alfred  Polgar 
war,  nach  der  wiener  Aufführung,  freundlich  genug,  diesen 
Zustand  einer  gleichgültigen  Dramengestalt  dadurch  belang* 
voller  machen  zu  wollen,  daß  er  Finngula  für  das  Ideal  und 
Lionors  für  die  Wirklichkeit  und  Lanväls  Stellung  zu  beiden 
für  den  typischen  Jugendkonflikt  eines  großen  Herzens 
zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  erklärte.  Aber  nehmt  das 
an  und  fragt  euch,  ob  eure  Beziehung  zu  diesen  drei  Figuren 
dadurch  irgendwie  bedeutsamer  und  fester  wird.  Warum 
sollte  sie?  Ihr  seht  ein  pompöses  Aufgebot  an  Gesten  und 
Worten,  an  Kommentaren  und  Beschwörungen,  an  Berichten 
und  Erregungen,  die  zum  Teil  aus  einem  alten  Sagenbuche 
stammen,  und  erblickt  auf  dem  Grunde  eine  primitive  Liebes* 
geschichte,  für  welche  diese  wuchtigen  Namen  und  diese  un* 
zähligen  Verse  eine  bequeme,  gleißende  und  gleisnerische 
Maskerade  sind.  Aber  die  Liebesgeschichte  ist  nur  schein* 
bar  primitiv:  sie  bedeutet  gar  nicht  sich  selbst,  sondern  ist 
ein  Symbol!  Was  weiter?  Weiter  gehts  zum  Glück  nicht. 
Jetzt  heißt  es  von  dem  Symbol  satt  werden.  Es  gelingt  euch 
nicht,  und  ihr  versucht  es,  da  ihr  entschlossen  seid,  Stuckens 
Dichtung  zu  retten,  von  einer  anderen  Seite.  Ihr  stellt  euch 
seine  Figuren  im  modernen  Kostüm  vor,  und  —  eure  Ent* 
täuschung  ist  noch  größer.  Ihr  bemerkt  plötzlich,  daß  die 
Motive,  Entschlüsse,  Taten  und  Unterlassungen  dieser  Figu* 
ren  fast  durchweg  auf  einen  Grad  von  Dummheit  oder  einen 
Mangel  an  Stolz  zurückzuführen  sind,  der  sie  euch  wider* 
wärtig  machen  würde,  wenn  —ja,  wenn  nicht  eben  jener  Hagel 
von  Versen  um  eure  Ohren  sauste  und  euch  betäubte.  Daß 
man  in  Gedanken  solch  eine  Umkleidung  vornimmt,  ist  durch* 

16 


aus  kein  unpassender  Rationalismus,  sondern  eine  erlaubte 
Probe  auf  die  Stichhaltigkeit  des  mittelalterlichen  Milieus 
und  die  Dichtigkeit  des  Versgewandes.  Weder  dies  noch 
das  bewährt  sich.  Liebe  und  Haß  und  alle  die  anderen  Natur* 
gewalten  entspringen  nicht  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Blut 
und  der  Art  dieser  bestimmten  Menschen,  weil  es  gar  keine 
bestimmten  Menschen  sind.  Stucken  ist  für  die  Artus*Sage, 
was  Wildenbruch  für  die  Geschichte  der  Hohenzollern  war. 
Auch  Stuckens  Geschöpfe  leben  nicht  aus  sich:  sie  leben  von 
der  jünglingshaften  Grandezza,  mit  der  ihr  Ersinner  an  Ab* 
gründen  einherschreitet.  Wenn  man  ihn  während  der  Arbeit 
anriefe  und  kritisierte  —  er  würde  hinunterstürzen.  Denn  wir 
sind  bei  ihm  nicht  in  der  eigentlich  dichterischen,  sondern  in 
einer  benachbarten  Sphäre.  Ich  meine  das  nicht  in  dem  ober* 
flächlichen  Sinne,  daß  er  mittelbare  Poesie  gibt,  Poesie  aus 
zweiter  Hand,  Überdichtung  von  Dichtungen.  Ich  meine 
es  so,  daß  seine  Verdienste  hauptsächlich  verskünstlerischer 
Natur  sind,  daß  für  einen  dramatischen  Dichter  seine  nacht* 
wandelnde  Naivität  einen  allzu  hohen  Grad  von  Unbewußt* 
heit  hat.  Man  muß  als  Autor  sehen,  wie  gefährlich  nahe  der 
Komik  die  meisten  Situationen  hier  sind.  Sie  sind  es  dank  der 
Schwächlichkeit  des  Helden  Lanväl,  der  Würdelosigkeit  der 
Prinzessin  Lionors  und  —  heiliges  Rautendelein  I  —  der  Ledern* 
heit  des  elbischen  Wesens  Finngula.  Was  fängt  man  mit  diesen 
Herrschaften  an?  Ich  werde  als  Leser,  je  nach  meiner  Gebe* 
laune,  sachlich  erkennen  oder  dankbar  anerkennen,  daß 
Stuckens  Verse,  hier  wie  anderswo,  bald  majestätisch  und  bald 
trivial,  bald  tropisch  und  bald  spießbürgerlich,  bald  rauschend 
und  bald  zäh,  bald  menschlich  warm  und  bald  geschmäckle* 
risch  kühl  sind.  Ich  werde  als  Zuschauer  nicht  bestreiten,  daß 
, Lanväl'  an  Theatereffekten  —  nach  der  Definition  des  Theater* 
effekts  als  einer  Wirkung  ohne  Ursache  —  erheblich  reicher 
ist  als  , Lanzelot',  ja,  fast  so  reich  wie  , König  Laurin*  oder  wie 
,Die  Gewitternacht'.  Nur  werde  ich  eine  Stunde  nach  Lektüre 
und  Aufführung  wissen,  daß  ich  leer  ausgegangen  bin. 


17 


Auch  bei  Reinhardts  scheint  man  nach  der  Annahme 
nichts  mehr  von  dem  Stück  gehahen  zu  haben;  und  so  wün* 
sehenswert  es  ist,  daß  eine  Theaterleitung  keine  geringere 
Einsicht  hat  oder  allmähhch  erwirbt,  als  die  Kritik,  so  gewiß 
gibt  es  in  einem  solchen  Falle  nur  zwei  Wege :  entweder  kauft 
man  sich  von  der  Verpflichtung  los,  sei  es  durch  Geld,  sei 
es  durch  die  Erwerbung  eines  anderen  Stückes  —  oder  man 
trachtet  zu  retten,  was  irgend  zu  retten  ist.  Bei  Reinhardts 
wählte  man  den  dritten  Weg:  auf  eine  unkluge  und  unnoble 
Manier  den  Dichter  entgelten  zu  lassen,  daß  man  die  Mei« 
nung  über  sein  Werk  gewechselt  hatte.  Es  ist  seinem  künst* 
lerischen  Wesen  nach  katholisch.  Es  braucht  Glanz  und 
Farbe,  eine  Art  Frozessionsgepränge  und  die  Entfaltung  einer 
Sprachmusik,  an  die  Stucken  kaum  einen  solchen  Bienenfleiß 
wenden  würde,  wenn  ihm  nicht  sein  Instinkt  sagte,  daß  ohne 
sie  seine  Arbeit  des  Hauptreizes  entbehrte.  Da  war  es  zu* 
nächst  schon  falsch,  die  Aufführung  in  die  Kammerspiele  zu 
legen,  wo  so  etwas  wie  ein  Märchensee  und  eine  Sagenburg, 
der  Abglanz  von  Turnieren  und  der  Prunk  höfischen  Lebens, 
das  königliche  Aufgebot  einer  welthistorischen  Tafelrunde 
und  die  Macht  und  die  Herrlichkeit  der  Kirche  besser  ver# 
borgen  als  gezeigt  werden  kann.  Das  alles  nahm  sich  über* 
trieben  protestantisch  aus.  Die  Wände  des  Schlosses  Camelot 
gähnten  in  ihrer  pappenen  Nüchternheit,  und  die  Trink* 
genossen  des  Königs  Artus  waren  Kegelbrüder  vom  Wed# 
ding.  Aber  auch  in  wichtigen  Einzelheiten  waren  die  sim# 
pelsten  Anordnungen  des  Autors  nicht  befolgt.  Zum  Schluß 
entspinnt  sich  ein  ,, ritterlicher  Zweikampf"  zwischen  Lanväl 
und  seiner  Finngula,  die  als  schwarzer  Ritter  kommt.  Den 
Hergang  dieser  Szene  hat  Stucken  bis  ins  Detail  vorgeschrie* 
ben.  Vom  besten  Platz  der  Kammerspiele  sieht  sie  so  aus, 
als  ob  Lanväl,  der  bis  dahin  ein  armes  Kleingehirn  gewesen  ist, 
jetzt  gar  zum  meuchlerischen  Lumpen  wird,  indem  er  den 
schwarzen  Ritter,  noch  bevor  dieser  Zeit  hat,  sein  Schwert 
zu  erheben,  einfach  über  den  Haufen  rennt. 

Die  Klangwerte  der  Dichtung  waren  ebenso  kümmerlich 

18 


auf  die  Bühne  übertragen  worden.  Wer  an  diesem  Abend 
Stuckens  Verse  zum  ersten  Mal  hörte,  hätte  die  die  reinste 
Freude  an  der  Unmenge  derer  gehabt,  die  er  eben  nicht  hörte. 
Als  ob  die  Abfassung  eines  unzulänglichen  Dramas  exemp* 
larisch  bestraft  werden  müßte,  hatte  man  die  talentgemie* 
densten  Statisten  zu  Sprechern  ernannt  und,  um  die  Grau* 
samkeit  auf  die  Spitze  zu  treiben,  gegen  uns  und  den  Autor 
eine  Dame  mobil  gemacht,  die  .  .  .  Wo  ist  der  Wagemut  mei* 
ner  jungen  Jahre?  Aber  vielleicht  gibt  auch  das  ein  Bild 
von  Frau  oder  Fräulein  Maria  Vera,  wenn  ich  sage,  daß  solch 
ein  Kaliber  nur  derjenige  verzweifelte  Theaterdirektor  präsen* 
tieren  dürfte,  dem  es  mit  fünfhunderttausend  Mark  —  nicht 
einen  Pfennig  weniger!  —  unter  die  Arme  griffe.  Dieser  Folie 
hatten  manche  älteren  Mitglieder  es  zu  danken,  daß  man  sie 
sich  gefallen  ließ.  In  einem  Ensemble,  wie  wir  es  früher  bei 
Reinhardt  gewohnt  waren,  würde  Fräulein  Eibenschütz  durch 
alle  neumodischen  Körperverrenkungen  nicht  darüber  hin* 
wegtäuschen,  daß  sie  für  die  Verzweiflung  legendarischer 
Prinzessinnen  nicht  auf  die  Welt  gekommen  ist.  Das  wußten 
wir.  Aber  eine  Überraschung  war,  daß  Fräulein  Lia  Rosen 
im  Burgtheater  nicht  bloß  nicht  entwickelt,  sondern  offenbar 
ganz  eingebüßt  hat,  was  sie  vor  drei  Jahren  zu  einer  Hoff* 
nung  machte.  Damals  schlugen  Flammen  aus  ihren  Augen 
und  ihrem  Munde.  Sie  schien  vom  Geist  erfüllt,  und  dieser 
Geist  war  es,  der  die  Widerstände  eines  dürftigen  Körpers 
überwand.  Für  elbische  Wesen  mußte  sie  alles  haben.  Finn* 
gula  ist  so  etwas.  Fräulein  Rosens  Finngula  aber  war  eigent* 
lieh  noch  nüchterner  und  uninteressanter  als  Stuckens.  Sie 
sprach  klar  und  verständig  und  hütete  sich,  Herrn  Kayßler 
durch  irgendwelche  „unersättliche  Raserei  ihrer  Lüste"  all* 
zu  sehr  zuzusetzen.  Dieser  Lanväl  sah  aus  wie  Pastor  Sang, 
hielt  sich  in  allen  ruhigen  Momenten  vortrefflich  und  ver* 
sagte  da,  wo  Kayßler  in  solchen  Rollen  immer  versagt:  er 
wird  als  leidenschaftlicher  Liebhaber  Hysteriker,  als  zorniger 
Held  Bramarbas.  Man  sollte  ihm  nicht  länger  einreden,  daß 
dies  sein  Feld  ist.    Ein  Muster  für  gute,  gesunde,  blutvolle 

2*  19 


Spiel*  und  Sprechkunst  war  in  allen  Lebenslagen  nur  Herr 
von  Winterstein,  der  Regisseur  der  Vorstellung.  Ihn  trifift 
für  ihre  Sünden  die  mindeste  Schuld.  Es  ist  zuviel  verlangt, 
daß  einer  ohne  selbständige  Regiebegabung  ein  so  anspruchs* 
volles  Stück  inszeniert  und  zugleich  eine  große  Rolle  spielt. 
Die  Verantwortung  trägt  Reinhardt.  Er  hat  das  Unwesen, 
das  seine  Theater  immer  mehr  bedroht,  einreißen  lassen  und 
täte  gut,  auf  seinen  Reisen  durch  Europa  auch  einmal  nach 
Berlin  zu  kommen  und  ehrlich  zu  sagen,  ob  er  es  noch  vor 
einem  Jahr  für  möglich  gehalten  hätte,  in  seinem  Hause  je* 
mals  eine  solche  Vorstellung  zu  erleben. 

Dreimal  Stucken  in  anderthalb  Jahren:  es  war  zuviel. 
Aber  ist  diese  unanständig  hastige  Ausschrotung  eines  Er* 
folges  nicht  bezeichnend  für  das  stumpfsinnige  Verhältnis 
unserer  Bühnen  zur  modernen  Produktion?  Bis  sie  sich  auf* 
raffen,  einen  Dichter  zu  ,entdecken',  dessen  Dramen  gedruckt 
vorliegen,  kann  er  alt  und  grau  werden.  Ist  er  dann  entdeckt 
und  hat  sich  die  Entdeckung  gelohnt,  so  kommen  sie  zwar 
darauf,  durch  Übertreibung  den  neuen  Mann  zu  entwerten, 
aber  nicht  darauf,  einen  ebenso  begabten  und  ebenso  alt  und 
grau  gewordenen  Kollegen  zu  entdecken.  Von  Paul  Ernst 
gibt  es  ein  Lustspiel:  Ritter  Lanval.  Es  shakespearisiert  ge* 
hörig,  aber  es  hat  auch  wirklich  einen  Hauch  vom  , Sommer* 
nachtstraum'.  Es  vertrüge,  da  der  Dramatiker  Ernst  noch 
keinen  Kredit  hat,  gewiß  nicht  die  sommerliche  Lieblosig* 
keit,  mit  der  Reinhardts  Theater  diesmal  allen  künstlerischen 
Anstand  verletzt  hat.  Es  muß  überhaupt  nicht  unbedingt 
gespielt  werden  —  und  ohne  Stuckens  , Lanval'  wäre  ich  ver* 
mutlich  gar  nicht  auf  den  , Ritter  Lanval'  gekommen  —  denn 
Paul  Ernst  hat  bessere  Dramen  geschrieben.  Aber  daß  man 
sich  auch  um  sie  nicht  kümmert,  daß  ein  Mann  von  dieser 
geistigen  und  dichterischen  Potenz  seit  Jahren  auf  eine  ber* 
liner  Aufführung  wartet:  das  fängt  doch  an,  eine  Schande 
zu  werden. 


20 


GRILLPARZER  UND  HALM 

Auch  das  Neue  Schauspielhaus  hat  jetzt  begonnen.  Man 
XJLwußte  an  seinem  ersten  Abend  nicht  recht,  ob  man 
Grillparzers  Liebestragödie  die  Schuld  an  dieser  Aufführung 
oder  der  Aufführung  die  Schuld  an  dem  lähmenden  Eindruck 
des  Stückes  geben  sollte.  Auf  jeden  Fall  könnte  man  es  ruhen 
lassen.  Die  Grillparzerbegeisterung  der  achtziger  Jahre  war 
der  unvermeidliche  Rückschlag  auf  die  Grillparzergleich= 
gültigkeit  der  voraufgegangenen  Jahrzehnte.  ,Des  Meeres 
und  der  Liebe  Wellen'  kam  nicht  früher  als  dreiundvierzig, 
,Das  goldene  Vließ'  erst  siebzig  Jahre  nach  der  Entstehung 
zum  ersten  Mal  auf  eine  berliner  Bühne.  Allen  Respekt  vor 
den  Deutschen,  die  pietätvoll  genug  waren,  den  toten  Grill* 
parzer  zu  feiern,  nachdem  sie  den  lebendigen  hatten  ver* 
kümmern  lassen.  Aber  das  ist  kein  Grund,  auch  jetzt  noch 
in  pietätvoller  Urteilslosigkeit  Grillparzer  als  Gesamter* 
scheinung  neben  Kleist  zu  stellen.  Daß  man  vor  fünfund* 
zwanzig  Jahren  einigen  seiner  Dramen  nachhaltige  Erfolge 
bereitete,  das  war  die  Folge  der  Gewohnheit,  über  Schiller 
die  Achseln  zu  zucken  und  sich  intimerer  psychologischer 
Zergliederung  hinzugeben.  Aber  diese  Erfolge  mußten  in 
dem  Maße  schwächer  werden,  wie  Ibsen  und  Hebbel  durch* 
drangen.  Vor  ihrem  Tiefblick  wurde  Grillparzers  Seelen* 
kennerschaft  unbeträchtlich,  vor  ihrer  ethischen  Härte  seine 
gefügige  Halbheit  bekämpfenswert.  Heute  gar,  wo  ein  Theater 
eine  Zeitlang  fast  allein  von  Ibsens  Altersdramen  existiert  hat, 
wo  Judith'  und  ,Gyges'  ohne  sensationelle  Lockmittel  Ful* 
dasche  Aufführungsziffern  erreicht  haben :  heute  Grillparzer 
zu  spielen,  ist  bereits  wieder  ein  Wagnis,  in  das  man  sich 
nur  mit  den  blanksten  und  schärfsten  Waffen  begeben  darf. 
Eben  darum  wohl  fand  Herr  Halm  sich  zu  schade  und 
in  Riga  einen  Regisseur,  der  freilich  mit  allen  Waffen  gegen 
Grillparzer  vorging.  Der  Mann  heißt  Doktor  Dahlberg 
und  wird  hoffentlich  künftig  am  Neuen  Schauspielhaus  nur 
noch  die  Tätigkeit  verrichten,  die  die  Kulissensprache  als 
.Stallwache*  bezeichnet.    Wir  setzen  voraus,  daß  der  Herr 

21 


Doktor  zu  pietätvoll  ist,  um  Grillparzer  anzuzweifeln.  Dann 
hätte  er  sich  über  das  Wesen  des  Liebesgedichts  klar  werden 
und  sich  irgendeiner  Auffassung  zuneigen  müssen.  Man 
kann  das  Hauptgewicht  auf  die  Lyrik  legen,  oder  man  kann 
die  dramatischen  Akzente  verstärken ;  man  kann  das  Wiener* 
tum  der  Gestalten,  ihre  Verwandtschaft  mit  Schnitzler,  her« 
vorkehren,  oder  man  kann  ihre  —  ach,  wie  fadenscheinig  ge« 
wordene!  —  klassizistische  Hülle  betreuen.  Ein  richtiger 
Regisseur  wird  vermutlich  das  eine  tun  und  das  andere  nicht 
lassen.  Der  Herr  Doktor  hat  das  eine  nicht  getan  und  das 
andere  gelassen.  Er  gab  eine  einzige  Stimmungs*  und  Cha* 
rakterlosigkeit.  Die  üblichen  schwarzen  Zypressen  standen 
gegen  die  üblichen  weißen  Säulen.  Nach  den  Bühnenbildern 
hätten  Sestos  und  Abydos  ebenso  gut  in  den  Bergen  wie  am 
Meer  liegen  können,  das  doch  im  Titel  enthalten  ist  und 
irgendwie  in  die  Szenerie  eingefangen  werden  muß.  Nach 
der  Sprache  der  Bewohner  war  hier  Sestos  eine  norddeutsche, 
Abydos  eine  süddeutsche  Großstadt,  oder  umgekehrt.  Der 
angebliche  Natürlichkeitston,  auf  den  Grillparzers  ohnehin 
nicht  gerade  flammender  Überschwang  abgedämpft  wurde, 
wäre  für  ein  Erzeugnis  der  neunziger  Jahre,  sagen  wir:  für 
Halbes  ,Jugend'  zu  nüchtern  gewesen.  Leander  ist  gewiß 
nicht  mehr  als  ein  braver  Bursch.  Aber  er  liebt  immerhin 
zum  ersten  Mal,  und  weder  die  Liebe  noch  die  Erstmalig* 
keit  war  Herrn  Salfner  zu  glauben.  Wahrscheinlich  wäre  er 
ein  Naukleros.  Der  kam  durch  Herrn  Loehr  um  Herz  und 
Humor;  und  da  auch  Herr  Lind  nicht  recht  wußte,  ob  er 
den  Oberpriester  als  gütigen  Griechen  oder  als  harten 
Katholiken  nehmen  sollte,  so  hätte  Frau  Erika  von  Wagner 
Heldenkräfte  haben  müssen,  um  die  ganze  Vorstellung  allein 
zu  tragen.  Dabei  ist  Hero  für  sich  schon  schwer  genug. 
Hofmannsthal  hat  einmal  ,Des  Meeres  und  der  Liebe  Wellen' 
mit  , Romeo  und  Julia'  verglichen  und  in  lokalpatriotischer 
Schwachsichtigkeit  Grillparzer  den  Preis  erteilt.  In  Wahr* 
heit  gibt  es  da  keinen  Vergleich.  Aber  eben  weil  Julia 
ein  ganz  anderer  Kerl  ist  als  Hero,  eben  darum  ist  die  Grill* 

22 


parzersche  Rolle  erheblich  schwerer  zu  spielen.  Hero  lebt 
in  keiner  bunt*  und  wildbewegten  Welt  und  hat  keinen  eben* 
bürtigen  Gefährten:  sie  soll  die  Dürftigkeit  und  Monotonie 
eines  Grillparzerschen  Griechenlands  beleben  und  für  die 
Schmächtigkeit  des  Geliebten  aufkommen.  Frau  von  Wagner 
hat  nicht  einmal  ihre  Figur  bewältigt.  Nur  fürs  Auge  war 
sie:  Hero,  schön  wie  Hebe  blühend.  Wenigstens,  wenn  sie 
stillstand.  Denn  sie  geht  schlecht,  scheint  bei  jedem  Schritt 
schlaff  in  sich  zusammenzusinken  und  hat  diese  pomadige 
Verträumtheit  auch  in  ihrer  Sprechweise,  die  allenfalls  in  sen* 
timentalischen  und  idyllischslieblichen  Momenten  genügt. 
Eine  tragische  Liebhaberin  ist  hier  nicht  gefunden.  Herr  Halm 
versuche  es  mit  Frau  von  Wagner  einmal  im  modernen  Kostüm, 
aber  nicht  bloß  mit  diesem  Mitglied.  Seine  Stärke  sind  Allo« 
tria  von  heute,  und  einen  Kinoschwank  wie  die  ,Million'  her* 
unterzuwirbeln ,  ist  sogar  künstlerisch  verdienstreicher,  als 
das  Märchen  von  Grillparzers  Größe  einer  neuen  Belastungs* 
probe  auszusetzen. 


PENTHESILEEN 

Von  Kleist,  Lindau  und  HoUaender.  In  dieser  Dreiteilung 
liegt  bereits  die  Kritik  der  beiden  Aufführungen.  Denn 
es  dürfte  natürlich  nur  eine  Zweiteilung  sein:  Deutsches 
wie  Königliches  Theater  hätten  ja  eben  Kleists  ,Penthesilea' 
zeigen  müssen.  Dazu  wäre  das  Schauspielhaus  fähig  gewesen, 
als  Matkowsky  lebte  und  die  Foppe  fünfzehn  Jahre  jünger 
war;  dazu  wäre  das  Deutsche  Theater  heute  noch  fähig,  wenn 
es  nicht  gerade  die  Eysoldt  zur  Penthesilea  bestimmte,  und 
wenn  .  .  .  Welch  eine  Aufgabe  für  einen  Regisseur  wie  Rein* 
hardt,  diese  schreckensvolle  Phantasmagorie ,  dieses  blut* 
durchschauerte  und  doch  ganz  gegenwärtige  Vorzeitmärchen 
in  allem  Glanz  und  aller  Größe,  in  aller  Greulichkeit  und 
aller  Glut,  in  aller  Grazie  und  in  aller  Gewalt  auf  die  deut* 
sehe  Bühne  zu  stellen,  die  sich  hundert  Jahre  lang  durch  die 
Nichtbeachtung  einer  ihrer  erschütterndsten  Tragödien  selber 

23 


verarmt  hat!  Aber  Reinhardt  hat  es  leider  vorgezogen,  in 
der  Zeit  der  deutschen  Kleist#Feste  ungarischen  Post«  und 
Kommunalbeamten  die  Chöre  des  Sophokles  beizubringen. 
Halten  wir  uns  also  notgedrungen  an  die  Surrogate,  messen 
wir  diese  mit  ihrem  eigenen  Maß  und  räumen  wir  immerhin 
ein,  daß  Lindau  wie  Hollaender,  jeder  in  seiner  Art,  fleißige, 
ernste  und  säuberliche  Arbeit  getan  haben. 

Hollaender  hat  vor  Lindau  voraus,  daß  er  nicht  im  ge* 
ringsten  für  Stubenreinheit  des  Textes  zu  sorgen  brauchte. 
Der  Hoftheaterdirektor  hat  geglaubt,  aus  einem  dampfenden 
Hexenkessel  einen  handlichen  Futternapf  für  höhere  Zivil« 
anwärter  mit  Töchtern  machen  zu  sollen.  Sein  Redamheftchen 
gibt  eine  glatte,  geleckte,  schillerähnliche  Jambenaffäre.  An 
bedauerlich  zahlreichen  Stellen  wird  man  Heinrich  von  Kleist 
von  dem  schrecklich  keuschen,  schrecklich  vernünftlerischen 
Sprachverwilderer  Paul  Lindau  bedrängt  sehen.  Achills 
Pferde  „schwitzen"  nicht;  Penthesilea,  die  irgendwo  „ein 
holdseliges  Lächeln"  erhält,  verschluckt  ihren  gewaltigen 
Hetzruf,  und  selbst  Meroes  abschwächende  Wiederholung 
dieses  Hetzrufs  wird  verwässert;  Küsse  und  Bisse  ,reimen' 
sich  nicht,  weil  ein  so  sadistisches  Element  unstatthaft  wäre 
—  und  was  dergleichen  Eingriffe  mehr  sind.  Von  alledem 
hält  Hollaender  sich  frei.  Aber  Lindau  streicht  nicht  bloß, 
er  verbessert  seinen  sehr  geliebten  und  doch  vielleicht  nicht 
ganz  richtig  geliebten  Dichter  auch  gern  ein  bißchen.  Ein 
Beispiel  für  viele.  Kleist  sagt:  „Penthesilea  naht  sich  dir,  Pe# 
lidel"  Daraus  macht  Lindau:  „Die  Amazonenkönigin  naht 
sich  dir!"  Noch  nicht  genug:  dieser  Antilyriker  bricht  un« 
bedenklich,  um  die  Dauer  der  Aufführung  ja  recht  abzu« 
kürzen,  aus  einzelnen  Versen  winzige  Partikel  heraus  und 
verstümmelt  dadurch  das  Versmaß  manchmal  barbarisch.  Es 
dürfen  aber  hier  nur  größere  Verskomplexe  entfernt  werden, 
wie  es  bei  Lindau  auch,  bei  Hollaender  oder  Theodor  Com« 
michau  ausschließlich  geschieht.  Dessen  Bearbeitung  ist  end« 
lieh  in  der  Akt«Einteilung,  die  für  den  dreistündigen  Theater« 
abend  unumgänglich  ist,  viel  glücklicher.   Sie  gibt  drei  Akte 

24 


und  läßt  den  Vorhang  nach  Kleists  fünftem  und  zwanzigstem 
Auftritt  fallen.  Das  sind  Zäsuren,  die  so  auf  der  Hand 
liegen,  daß  Lindau  keine  besseren  weiß.  Aber  er  will  —  weiß 
Gott,  warum  —  vier  Akte  und  reißt  darum  den  vierzehnten, 
für  das  Verständnis  der  psychologischen  Entwicklung  weit« 
aus  wichtigsten  Auftritt  mitten  durch.  Commichaus  Bear« 
beitung  sollte  schon  deshalb  gedruckt  werden,  damit  die 
anderen  deutschen  Bühnen  in  ihrer  Trägheit  nicht  zu  Lindaus 
Reclamheftchen  greifen.  Wer  Hollaenders  Aufführung  klei« 
stischer  fand  als  Lindaus  und  das  allein  dem  Regisseur 
Hollaender  zuschob,  der  vergaß,  daß  man  es  mit  Kleist 
leichter  hat,  kleistisch  zu  sein,  als  ohne  Kleist  und  gegen 
Kleist. 

Zu  Lindaus  unkleistischer  Bearbeitung  hätte  eine  kleistische 
Regie  im  übrigen  nicht  einmal  gut  gepaßt.  Es  war  also  stil« 
gerecht,  daß  auch  das  Bühnenbild  keinen  Finger  breit  von 
der  Konvention  abwich.  Auf  diesem  bunten  und  überfüllten 
Stück  Schlachtfeld,  das  während  des  Abends  nicht  wechselte, 
waren  die  Griechen  Theatergriechen,  die  Amazonen  maßvoll 
haarbuschige  Mannweiber  und  ihre  Rosenjungfrauen  Balle« 
teusen.  Hollaender  macht  sich  die  Drehbühne  zunutze,  um 
den  Schauplatz  mehrmals  zu  verändern.  Er  zeigt  eine  An« 
höhe,  ein  Blachfeld,  eine  Art  Opferhain  und  noch  einen 
Fetzen  der  trojanischen  Ebene.  Es  muß  nicht  sein,  aber  es 
kann  sein.  Falsch  ist  nur,  daß  wir  die  Drehbühne  funktio« 
nieren  sehen.  Wenn  man  zu  unserer  Phantasie  nicht  das 
Zutrauen  hat,  daß  sie  einen  einzigen  Ausschnitt  für  die 
Totalität  nimmt,  darf  man  uns  auch  die  Illusion  nicht  durch 
einen  Einblick  in  den  Mechanismus  des  Theaters  zerstören. 
Zum  Schluß  wird  verlangt,  daß  wir  uns  eine  Fappmaske  als 
den  Kopf  des  toten  Achilles  denken.  Vorher  aber  ist  nicht 
für  möglich  gehalten  worden,  daß  wir  uns  bei  Penthesileas 
Hetzruf  die  Hunde  vorstellen.  Sie  müssen  erscheinen  und 
müssen  bellen.  Warum,  läßt  sich  da  fragen,  kommen  wir 
dann  um  Elefanten  und  Sichelwagen?  Dieser  Widerspruch 
zieht  sich  durch  die  ganze  Aufführung,  die  freilich  in  einem 

25 


Punkt  das  Hoftheater  bei  weitem  übertrifft:  die  Griechen 
kommen  wirklich  aus  der  Schlacht;  die  Amazonen  sind  halb* 
nackte,  staubbedeckte,  furiose  Asiatinnen;  die  Priesterinnen 
verrichten  ihren  heidnischen  Kult  mit  düsterem  Fanatismus ; 
und  die  Rosenjungfrauen  halten  sich  von  schablonenhafter 
Süßlichkeit  in  Kleid  und  Zier  erfreulich  fem.  Wäre  ,Penthe# 
silea'  eine  Pantomime  —  sie  brauchte  gar  nicht  besser  in* 
szeniert  zu  werden. 

Aber  auch  zu  sprechen  ist  allerlei.  Da  wird  es  denn  ein 
unbestreitbares  Verdienst  des  Schauspielhauses  bleiben,  daß 
Männer  und  Weiber  und  Mannweiber  fast  durchweg  klar 
und  verständlich  und  zum  Teil  sogar  hinreißend  sprechen. 
Wieviel  bedeutet  das  gerade  hier!  Die  Tragödie  ist  fast  zu 
reich  an  Berichten  von  Vorgängen,  deren  Anblick  auch  dann 
kein  Publikum  ertragen  würde,  wenn  irgendeine  Bühne  sie 
darstellen  könnte.  Diese  Boten  und  Zuschauer  müssen  nicht 
nur  durchs  Wort  ein  deutliches  Bild  der  Vorgänge,  sondern 
dazu  noch  durch  »Aktion'  weiten  Strecken  des  Gedichts  den 
dramatischen  Atem  geben.  Trotzdem  nun  Lindau  nicht  ein* 
mal  alle  Sprecher  des  Schauspielhauses  aufgeboten  hatte,  kam 
doch  der  Metallgehalt  der  Kleistschen  Diktion,  ihr  stählerner 
Klang,  ihre  jagende  Nervosität,  ihr  lebendurchglühtes  Pathos 
überraschend  zur  Geltung.  Es  waren  sogar,  sei  es  mit,  sei 
es  ohne  Absicht,  die  verschiedenen  Berichte  denjenigen  Stimm« 
lagen  zugewiesen  worden,  die  ihrem  Charakter  am  besten 
entsprechen.  Odysseus  war  selbstverständlich  an  den  Baß 
des  Meisterredners  Kraußneck  geraten,  Antilochus  war  ein 
Durchschnittsbariton  und  Adrast  der  helle  Tenor  des  immer 
noch  kainzelnden  Herrn  Geisendörfer.  Für  die  strenge  Ober* 
priesterin  hätte  sich  der  weiche  Alt  der  Butze  beträchtlich 
verhärten,  für  die  Freundin  Prothoe  der  spröde  Alt  der 
Frau  Willig  schneller  erwärmen  können.  Den  Mezzosopran 
vertrat  mit  großer  Energie  bei  den  Amazonen  Fräulein  von 
Arnauld,  bei  den  Rosenjungfrauen  das  fast  zu  hübsche  Frau* 
lein  Ressel,  das  zaghaft  anfing  und  in  der  entscheidenden 
Szene  dann  doch  eine  ganz  unmädchenhafte  Kraft  entwickelte. 

26 


Aber  mehr  als  diese  Stimmen  hätte  der  Sopran  jener  Helene 
Thimig  zu  schmettern  haben  müssen,  die  wir  vor  ein  paar 
Monaten  bei  den  Festspielen  in  Lauchstedt  als  das  Evchen 
des  Komödiendichters  Kleist  entdeckt  haben,  und  die  viel* 
leicht  heute  schon  dem  Tragiker  Kleist  und  seiner  Penthe* 
silea  gewachsen  wäre. 

Auf  diesem  Felde  hatte  das  Deutsche  Theater  sich  einem 
Wettbewerb  einfach  dadurch  entzogen,  daß  es  auf  seine 
besten  Kräfte  verzichtet  hatte.  Einem  Odysseus  von  Krauß* 
neck  ist  vorläufig  der  junge  Herr  Danegger,  dem  Dilettantis* 
mus  und  der  x\nfängerschaft  noch  jüngerer  und  ganz  namen* 
loser  Herren  und  Damen  ist  Kleist  nicht  gewachsen.  Er 
hat  den  schwersten  Vers  aller  deutschen  Dramatiker  ge* 
schrieben,  und  eine  Bühne,  die  es  für  pietätlos  hielte,  ihm 
seine  Hunde  schuldig  zu  bleiben,  müßte  seine  Menschen 
und  ihre  Worte  denn  doch  mit  ganz  anderer  Liebe  pflegen. 
Der  treue  Busen  meiner  Prothoe  hat  nicht  einer  Schauspielerin 
anzugehören,  die  ihren  Seelenschmerz  in  die  Kniekehlen  ver* 
legt  und  den  peinlichen  Eindruck  macht,  als  ob  Wegener 
sich  verkleidet  und  sein  Talent  verloren  habe.  Der  Gesang 
der  Rosenjungfrauen  darf  nicht  wie  von  unbeteiligten  Cho* 
ristinnen  heruntergeplärrt  klingen.  Jede  heroische  und  jede 
idyllische  Schilderung  von  zehn  Zeilen  hat  hier  ihre  Bedeu* 
tung.  Daß  nicht  einmal  viel  dazu  nötig  ist,  sie  im  Sinne  der 
Dichtung  zu  behandeln,  das  bewies  im  Deutschen  Theater 
Fräulein  Lia  Rosen,  die  neulich  als  Stuckens  Finngula  so  voll* 
ständig  versagt  hat.  Und  genau  wie  bei  Lindau  Fräulein 
Thimig,  so  gab  bei  Hollaender  Fräulein  Mary  Dietrich  die 
Antwort  auf  die  Frage,  wer  Penthesilea  sein  sollte,  wenn 
Frau  Poppe  und  Frau  Eysoldt  es  nicht  sind. 

Denn  das  war  ja  das  Unglück  für  beide  Aufführungen 
(und  ein  ärgeres  als  für  die  eine  die  Bearbeitung,  für  die 
andere  die  Unzulänglichkeit  der  meisten  berichtenden  Schau« 
Spieler) :  daß  dort  Achill  fast  gar  nicht  und  Penthesilea  kaum 
halb,  hier  Achill  allenfalls  und  Penthesilea  nicht  im  mindesten 
an  die  Vorstellung  heranreichten,   die  jene  Berichte  immer 

27 


wieder  von  ihnen  erwecken.  Was  Herr  Staegemann  gab, 
war  eine  nicht  unsympathische  Matkowsky#Kopie.  So,  voll* 
kommen  so  warf  Wolf  den  Kopf,  trug  Wolf  das  Schwert  im 
Arm,  strich  Wolf  die  Augenbrauen  mit  der  Hand;  so  ähn# 
lieh  war  Wolfs  Wuchs,  Wolfs  Gang,  vielleicht  auch  seine 
Stimme.  Der  Genius  ist  leider  ausgeblieben.  Es  steckt  nichts 
hinter  dieser  schönen  Maske  als  ein  fideles  Naturburschen* 
tum.  Wenn  Achill  zu  Penthesileens  kleinen  Füßen  liegt,  so 
muß  die  Luft  voll  sein  von  der  Elektrizität  des  furchtbaren 
Gewitters,  das  sich  gleich  entladen  wird.  Hier  hätte  die 
Schäferstunde  nie  ein  Ende  zu  nehmen  brauchen.  Bei  Hol* 
laender  brachte  wenigstens  Moissi  diese  Pulverhaltigkeit  mit. 
Er  kam  auf  die  Bühne  gehüpft  und  enttäuschte  im  ersten 
Augenblick  unsere  Erwartung  —  nicht  von  seinem,  sondern 
von  Kleists  Achill.  Aber  die  Diskrepanz,  wenn  sie  auch 
nicht  ganz  verschwand,  verringerte  sich  zusehends.  Das  ge* 
witterdunkle  Antlitz  strafte  die  zappelnden  Glieder  Lügen, 
und  wer  sich  noch  immer  widersetzte,  der  konnte  bei  ge* 
schlossenen  Augen  aus  diesem  Munde  Krieg  und  Verderben, 
Haß  und  Liebe,  Mannesmut  und  Knabenreinheit  in  ehernen 
und  weichen  Klängen  hören.  Im  Vortragssaal  wäre  keine 
schönere  Feier  für  Kleist  denkbar,  als  Moissi  seine  Verse 
sprechen  zu  lassen. 

Von  der  Poppe  muß  man  nach  der  Penthesilea  der  Eysoldt 
achtungsvoller  reden,  als  man  es  vorher  getan  hätte.  Jetzt 
erst  recht  darf  kein  entlastendes  Moment  vergessen  werden. 
Sie  hat  keinen  Partner  und  hat  keinen  Regisseur  und  kommt 
zu  spät  und  auf  falschem  Wege  zu  der  Gestalt.  Welcher 
Schauspielerin  würde  der  Sprung  von  der  Mutter  der  Mak* 
kabäer  zu  der  Tochter  der  Otrere  glücken!  Welche  Schau* 
Spielerin  würde  es  nicht  schädigen,  wenn  sie  vor  der  Zeit 
zur  Matrone  und  nach  der  Zeit  wieder  zur  Jungfrau  gemacht 
wirdi  Kein  Wunder,  daß  daraus,  aber  nicht  daraus  allein, 
eine  Verzerrung  und  Verkünstelung  des  Leibes  und  der  Seele 
entsteht,  die  der  wahrheitsliebende  Kleist  am  allerwenigsten 
verträgt.  Die  Poppe  spricht  ein  langes  e  niemals  anders  als 

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äh,  und  keiner  sagt  ihr,  wie  unerträglich  verziert  und  wider* 
natürHch  dadurch  jähde  Rähde  wird.  Sie  stachelt  ihr  edles 
Gesicht  zu  den  exaltiertesten  Grimassen  auf  und  erreicht 
damit  nur,  daß  diese  in  ihrem  Übermaß  schließlich  gar  nichts 
mehr  bedeuten.  Sie  hält  Penthesileens  wilde,  giftige  Liebe 
für  den  reinen  Zucker  und  hat  in  ihrer  Zärtlichkeit  Laute 
von  einer  Gefühlsseligkeit,  die  für  Fuldasche  Kostümtändeleien 
zu  geßnerisch  wären.  Kurzum,  sie  schwankt  und  taumelt  un# 
beraten,  am  falschen  Ort  gezügelt  und  am  falschen  Ort  ge* 
hetzt,  zwischen  den  Polen  der  Figur  umher.  Aber  zweimal 
zeigt  sie  doch,  was  sie  einst  war  und  heute  noch  vielleicht 
bei  Reinhardt  wieder  werden  könnte.  Vor  dem  mörderischen 
Zweikampf  gewinnt  sie  die  heldenhafte  Jugend  ihrer  Stimme 
und  damit  ihres  Herzens,  an  der  Leiche  Achills  allen  dun* 
kein  Glanz  ihres  Schmerzes  zurück.  Von  diesen  beiden  Szenen 
fällt  nachträglich  ein  Schimmer  über  die  ganze  Gestalt,  und 
vollends  wie  der  Genius  der  Tragödie  muß  einem  die  Poppe 
dann  erscheinen,  wenn  man  die  Eysoldt  gesehen  hat. 

Es  ist  jetzt  bei  Reinhardt  Mode  geworden,  daß  die  An* 
gestellten  nicht  nur  den  Chef,  sondern  auch  sich  selber  in 
allen  den  Fällen  verherrlichen,  wo  die  künstlerische  Leistung 
nichts  taugt  und  daher  eine  unfreundliche  Beurteilung  zu 
befahren  hat.  Da  die  kluge  Eysoldt  keinen  Augenblick  im 
Zweifel  war,  daß  sie  an  der  Penthesilea  scheitern  würde,  so 
hat  sie  vor  der  Premiere  öffentlich  gefragt,  warum  sie  sie 
eigentlich  nicht  spielen  solle.  Ja,  warum  wirklich  nicht? 
Warum  soll  eine  Amazonenkönigin  nicht  eine  Gnomen* 
königin,  eine  Kriegsfurie  nicht  ein  Hirtenbübchen,  eine  Glanz* 
erscheinung  nicht  eine  Kümmerlichkeit,  eine  Tigerin  nicht 
ein  Frosch  und  Penthesilea  nicht  Puck  sein?  Warum  spielt 
die  Butze  nicht  die  Julia  und  Vollmer  nicht  den  Ferdinand? 
Weil  es  in  der  Schauspielkunst  gewisse  physische  Grenzen 
gibt,  über  die  kein  Mann  und  keine  Frau  hinweg  kann.  Sich 
über  diese  seine  Grenzen  klar  zu  werden,  ist  das  erste  Ge* 
bot  für  den  Schauspieler,  sie  ihm  im  Notfall  klar  zu  machen, 
das  erste  Gebot  für  den  Regisseur.   Die  Eysoldt  als  Penthe* 

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silea  ist  nur  darum  kein  Witz,  weil  Aug  und  Ohr  maßlos 
gequält  werden.  Nicht  allein,  daß  man  ihr  kaum  eine  von 
den  Eigenschaften  und  keine  von  den  Taten  glaubt,  die  ihr 
nachgesagt  werden,  und  deren  sie  sich  selber  rühmt:  sie  hat 
ja  nicht  einmal  die  Kraft,  davon  zu  sprechen.  Sie  steht  als 
Punkt  am  Firmament  und  teilt  uns  mit,  daß  sie  den  Ida  auf 
den  Ossa  wälzen  werde.  Wie  wird  das  enden,  wenn  das 
Körperchen  schon  bebt,  um  diesen  einen  Satz  herauszubringen  I 
Was  wir  da  oben  zittern  sehen,  ist  nie  Penthesileas  Seelen* 
not,  ist  stets  die  mitleidswürdige  Furcht  der  Eysoldt,  ob 
Kleists  granitener  Versbau  sie  nicht  doch  zerschmettern  wird. 
Schweiß  trieft,  die  Augen  irren,  das  Stimmchen  kreischt  und 
überschlägt  sich,  und  zu  armseligen  Künsteleien  wird  miß* 
braucht,  was  für  die  Ewigkeit  gefügt  ist.  Weil  die  Eysoldt 
weder  die  Phantasie  noch  die  Physis  hat,  als  Kleists  Penthe* 
silea  in  den  Zweikampf  zu  rasen,  so  tanzt  sie  als  Hofmanns* 
thals  Elektra  hinein.  Soweit  reicht  es.  So  schlau  ist  die 
Eysoldt  selbstverständlich:  wo  es  irgend  geht,  aus  der  Not 
eine  Tugend  zu  machen.  Aber  diese  Schlauheit  hat  ihr  leider 
auch  die  Szenen  zerstört,  die  sie  sonst  vielleicht  bewältigt 
hätte,  hat  von  Penthesileens  lieblichen  Gefühlen  den  Duft 
und  den  Schmelz  genommen  und  Kleists  silberhell  funkelnde 
Erotik  stumpf  gemacht.  Wenn  diese  Penthesilea  liebt,  wird 
sie  nüchtern,  wenn  sie  haßt,  wird  sie  nuttig,  und  wenn  sie 
stirbt,  wird  sie  larmoyant.  Es  war  ein  peinlicher  Irrtum. 
Denn  Teufelsliebchen,  wenn  auch  nicht  zu  schelten,  sie  können 
nicht  für  Heroinen  gelten. 

Als  vor  diesen  Krämpfen  der  Ohnmacht  das  Publikum 
still  blieb,  da  hielt  ich  das  nicht  etwa  für  Andacht,  sondern 
für  das  anständige  Bedauern  gesitteter  Hörer.  Als  aber  nach 
den  Aktschlüssen  Beifall  nicht  erscholl,  nein,  losdonnerte, 
herab*  und  hinauftoste,  schier  die  Wände  sprengte  und  sich 
nimmer  erschöpfen  und  leeren  wollte,  da  war  nicht  mehr  zu 
zweifeln,  daß  die  Begriffsverwirrung  einen  Grad  erreicht  hat 
wie  noch  nie  zuvor.  Wofür  sind  Goethe  und  Kleist,  Rem* 
brandt  und  Beethoven,  Kainz  und  Matkowsky  auf  der  Welt 

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gewesen,  wenn  das  schön,  wenn  das  selbst  nur  erträglich  isti 
Aber  wer  ist  schuld?  Man  muß  nicht  nur  essen  und  schla* 
fen,  man  muß  auch  lachen,  und  darum  lese  ich  nach  den 
Premieren  die  berliner  Rezensionen.  Nun  denn,  sie  haben, 
wie  nicht  anders  zu  ervv^arten  war,  die  Schändung,  die  als 
Ehrung  ausgegeben  wurde,  sanktioniert.  Noch  mehr.  Die* 
selben  Köpfe,  die  Reinhardt  seit  Jahren  als  Kunstschädling 
verfolgen,  die  seine  stärksten  Visionen  zu  Tode  gehöhnt  und 
ihn  vielleicht  erst  auf  die  bedauerlichen  Irrwege  seiner  Gegen* 
wart  gehetzt  haben:  sie  sind  vor  dieser  ungenialen,  ganz  un* 
kleistischen,  aber  braven  und  anständigen  Kopie  des  geleh* 
rigen  Hollaender  in  die  Knie  gesunken.  Es  wäre  nicht  der 
erste  Fall  der  Kunstgeschichte,  daß  einer  durch  die  Werke 
seiner  Schüler  zu  den  Ehren  kommt,  die  ihm,  dem  Original, 
versagt  geblieben  sind.  Kein  Wunder  aber,  daß  es  Reinhardt 
neuerdings  mit  solcher  Macht  zu  wilden  Völkerstämmen  reißt. 


ALLES  UM  GELD 

Oder  besser:  Traumulus.  Nämlich  darum  besser,  weil  das 
Schicksal  dieses  Vmcenz  durch  sein  unheilbares  Träumer* 
tum  bestimmt  wird,  nicht  durch  seinen  heilbaren  Geldmangel. 
Er  kriegt  ja  immer  wieder  Geld  —  aber  er  verschleudert  oder 
verbrennt  es.  Er  könnte  sich  durch  Zugeständnisse  rangieren 
—  aber  er  verschmäht  sie.  Er  nennt  sich  zuversichtlich  einen 
Raubvogel  —  aber  ist  er  nicht  ein  Lamm?  Eulenberg  hat  ge* 
glaubt,  den  großen  Typen  der  Gallier  hier  einen  allerdeut* 
schesten  Typus  entgegenzustellen:  Lesages  Turcaret,  der 
nichts  ist  als  niedriger  Geldmensch;  Balzacs  Mercadet,  der 
in  den  Taschen  der  anderen  das  Geld  findet,  das  noch  gar 
nicht  darin  ist;  Zolas  Saccard,  der  jahraus,  jahrein  Millionen 
verzehrt,  ohne  je  selber  einen  Pfennig  zu  besitzen  —  diesen 
dreien  eine  halb  namenlose  Kreatur  Gottes,  die  nicht  säet 
und  nicht  erntet  und  doch  erhalten  wird;  den  Verbrechern 
einen  W^lndbeutel ;  den  Zahlenmenschen  einen  Musiker;  den 
gewissenlosen  Spekulanten  einen  gewissenszarten  Phantasten, 

31 


der  keine  Unschuld  für  sich  leiden  läßt.  Im  Stück  werden 
jene  gallischen  Typen  durch  die  pittoresk  vorüberhuschenden 
Episoden  kleiner  Halsabschneider,  Börsianer  und  Heirats* 
vermittler  vertreten.  Eulenberg  müht  sich  redlich  ab,  den  Gegen* 
satz  zwischen  absonderlichen  und  gewöhnlichen,  zwischen  trau* 
menden  und  rechnenden  Menschen  sinnfällig  und  dramatisch 
zu  machen.  Das  Malheur  ist  nur,  daß  er  seinen  Aufwand 
fast  für  nichts  vertut,  daß  er  jenen  Gegensatz  eigentlich  fast 
gar  nicht  ausnutzt.  Auf  Vincenz  läuft  alles  hinaus.  Aber  die 
Geldnot  kann  ernstlich  einer  Seele  nichts  anhaben,  die  in 
anderen  Welten  lebt;  und  was  diese  Seele  ernstlich  trifft,  hat 
nichts  mit  Geld  und  Geldeswert  zu  schaffen.  Wenn  dieses 
Drama  undramatisch  ist,  wenn  dieser  Körper  kein  Rückgrat 
hat  und  an  vielen  Stellen  blutleer  ist:  so  kommt  es  daher, 
daß  jener  Gegensatz  unnotwendig,  daß  er  ein  Akt  dichte* 
rischer  Willkür  ist. 

Einen  zweiten  Gegensatz  konstruiert  \^ncenz  mit  dem 
Munde.  Er  erklärt  es  für  ein  Unglück,  daß  er  mehr  Geist 
als  Glück,  mehr  Genie  als  Geld  habe.  Dazu  würde  noch 
nichts  gehören.  Aber  wo  ist  sein  Schenie,  ich  meine  sein 
Geist?  Müßte  er  nicht  wenigstens  durch  Worte  hörbar 
werden,  da  er  durch  keine  Leistungen  sichtbar  wird?  Ver* 
ziehten  wir  auch  darauf,  um  endlich  zur  Freude  an  der 
Schönheit,  an  der  hohen  und  seltenen  Schönheit  dieser  Dich* 
tung  zu  kommen.  Vmcenz  hat  weder  Geist  noch  Glück, 
weder  Genie  noch  Geld.  Aber  er  hat:  Sehnsucht.  Er  und 
sein  Troß,  sein  verkrüppelter  Sohn,  seine  romantische  Toch* 
ter,  sein  empfindsamer  Schreiber  und  Ursula,  die  prächtige 
alte  Gefährtin  seines  jammervollen  Ausgangs:  sie  alle  sind 
wie  im  Exil,  von  einem  schöneren  Stern  in  diese  kalte  Welt 
verbannt.  Sie  frieren  allein  und  wärmen  sich  an  einander. 
Sie  schwelgen  in  ihrem  Heimweh  und  berauschen  sich  an 
ihren  Ekstasen.  Sie  glauben  lachend  an  ihre  Träume  und 
träumen  zehn  neue,  wenn  einer  zerrinnt.  Eulenberg  gibt 
hier  mit  wahrer  Meisterschaft  die  besondere  Not  jedes  Ein* 
zelnen  und  die  Atmosphäre  von  freudiger  Entrücktheit,  die 

32 


sie  alle  umschimmert  und  verbindet.  Von  dieser  Atmosphäre 
geht  ein  Zauber  aus,  der  sogar  in  die  häßliche  .praktische' 
Welt  hinübergreift.  Ein  fetter  Börsenmensch  wird  gut  und 
hilfreich,  ein  unbedenklicher  Verführer  ziemlich  menschen* 
ähnlich.  Die  blühende  Beredsamkeit  ist  für  jenes  ausgesetzte 
Häuflein  nur  ein  Mittel  mehr,  sich  zu  betäuben.  Darum  ist 
sie  diesmal  auch  dramatisch  unanfechtbar.  In  anderen  Fällen 
ist  sie  es  nur  sprachlich  gewesen.  Von  jeher  klang  jedes 
Wort  von  Eulenberg  neu  und  eigen,  weil  seine  Menschen 
immer  ein  volles,  ganz  von  einer  Empfindung  volles  Herz 
hatten.  Aber  es  brauchte  nicht  immer  dieselbe  Empfindung 
zu  sein.  Eulenbergs  Menschen  handelten  nicht  aus  psycho* 
logisch  kontrollierbaren  Beweggründen,  sondern  aus  jähen 
Impulsen.  Sie  hielten  nicht  fest  auf  ein  Ziel  zu,  sondern 
hüpften  unfaßbar  närrisch  herum.  Sie  überrumpelten  fort* 
während  sich  und  uns.  Da  scheint  es  mir  denn  der  entscheid 
dende  Fortschritt  dieses  Werkes  zu  sein,  daß  es  dramatische 
Existenzen  enthält,  Menschen,  deren  Schöpfer  weiß,  was  er 
mit  ihnen  will,  die  selber  wissen,  was  sie  wollen,  und  die 
trotzdem  nicht  etwa  unkompliziert  sind.  Es  ist  ja  kein  Zufall, 
daß  —  ein  Novum  für  Eulenberg  —  vierzehn  Theater  dieses 
Stück  schon  vor  der  berliner  Premiere  angenommen  haben. 
Sie  haben  richtig  gespürt,  daß  die  Einheit  der  Charakteristik 
jedenfalls  einen  Mißerfolg  verhüten  werde. 

Aber  einen  Erfolg,  den  Erfolg,  den  schmerzlich  begehr* 
ten,  wird  dieser  Dichter  erst  dann  haben,  wenn  er  dramatische 
Menschen  nicht  in  irgendeine  dramatische  Handlung  stellt, 
sondern  in  die  dramatische  Handlung,  der  ihr  Wesen  nicht 
entrinnen  kann.  Noch  einmal  (von  links  herum,  wie  Eulen* 
bergs  Schadehen  Cyriak  sagt) :  was  diesen  Vincenz  zeitlebens 
erfüllt  und  schließlich  umbringt,  und  was  uns  an  seinem 
Schicksal  nahegeht,  das  ist  völlig  unabhängig  von  seinen 
Geldnöten ;  die  Jagd  nach  dem  Geld  aber  nimmt  vier  Fünftel 
des  Stückes  ein.  So  ist  es  gründlich  verformt  und  wird  bald 
verschwinden,  weil  die  Gesetze  der  Bühne  sich  nicht  spotten 
lassen.    Schade.    Denn  es  ist  eine  einzige  Kostbarkeit  und 

3  33 


wird  uns  Wenigen  ein  Besitz  für  immer  werden.  Es  hat  in 
aller  Eintönigkeit  eine  berückende  Klangfülle,  in  aller  Ein* 
farbigkeit  ein  strahlendes  Nuancenspiel.  Es  ist  voll  schruUen* 
hafter  Humore,  die  diesmal  nicht  von  Jean  Paul  und  Dickens 
und  Raimund,  sondern  durchaus  von  Eulenberg  sind.  Es 
ist  gleichwohl  ein  Trauerspiel  und  wird  in  seiner  melancho^s 
lischen  Bangigkeit,  die  der  Weichlichkeit  zur  rechten  Zeit 
noch  immer  ausbiegt,  für  jedes  traumulische  Dasein  eine 
Zuflucht  vor  dem  Jahrmarktslärm  des  Tages  werden. 

. . .  Wenn  man  sich  erinnert,  was  Brahm  alles  nicht  gespielt 
hat,  und  sich  fragt,  warum  er  gerade  auf  diese  Dichtung 
verfallen  sein  mag,  so  ist  es  vielleicht  nicht  einmal  allzu  bos* 
haft,  die  geringen  Kosten  der  Ausstattung  in  Betracht  zu 
ziehen.  Vincenz  haust  ja  in  einer  Dachkammer.  Die  ist, 
sollte  man  meinen,  von  keiner  Regie  zu  verfehlen.  Im  Les* 
singtheater  schien  sie  frisch  lackiert  aus  der  Werkstatt  ge* 
kommen  und  erst  mit  Beginn  des  Stückes  bezogen  worden  zu 
sein.  In  dieser  Dachkammer  vollführen  die  Gläubiger  des  Vm» 
cenz  Akt  um  Akt  ihren  gespenstigen  Flackertanz.  Es  muß  immer 
wieder  die  Stimmung  eines  Albdrucks  entstehen,  den  derMor* 
gen  verscheucht  und  die  nächste  Finsternis  neu  gebiert.  Emil 
Lessing  kann  wenig;  aber  dergleichen  kann  er  am  wenigsten.  In 
massiger  Körperlichkeit  stapfen  die  Gläubiger  einher,  sprechen 
natürlich  und  umständlich  ihren  Part  herunter  und  ver# 
schwinden  nicht,  sondern  schieben  ab.  In  jedem  naturalisti:* 
sehen  Stück  mag  man  lastende  Elemente  dermaßen  lastend 
wiedergeben.  Dies  Nachtstück,  auf  der  Maultrommel  ge* 
spielt,  verlangt  einen  Stil,  der  Schärfe  und  Ungreif barkeit 
zu  einer  Art  fließender  Plastik  vereinigt.  Begnügen  wir  uns 
in  diesem  Theater  mit  Schauspielkunst.  Wenn  hier  irgendwo 
einmal  der  Ton  der  ganzen  Dichtung  getroffen  wird,  ist  es 
Sache  des  einzelnen  Schauspielers.  Herr  Forest  hat  in  seiner 
kraftlos  werdenden  Stimme  und  in  seinen  marionettenhaften 
Bewegungen  etwas  von  der  seltsam  abgestorbenen,  nicht  recht 
geheuren  Lustigkeit  der  Eulenbergschen  Seelenverkäufer.  Bei 
Sauers  Vincenz  geht  alle  Bannkraft  von  den  Augen  aus,  die 

34 


beim  betäubenden  Andrang  der  Verfolger  wie  im  Irrsinn 
umhergeistern  und  sich  im  Schoß  der  Bluts:=  und  Wahlver* 
wandten  zu  dem  gütigen  Lächeln  eines  reinen  Herzens  ver* 
klären.  Seine  beiden  Kinder  sind  tiefer  zu  fassen.  Der  Junge 
Titus  wird  wohl  durch  jede  Schauspielerin  verzerrt  werden. 
Für  das  Mädchen  Susanne  hätte  vielleicht  Fräulein  Lossen 
die  Blumenhaftigkeit,  zu  der  das  robustere  Fräulein  Herterich 
sich  zwingen  muß.  Ganz  wundervoll  aber  sind  die  beiden 
Menschen  geraten,  die  \^ncenz  nicht  erzeugt,  sondern  an  sich 
gezogen  hat.  Als  Ursula  verwandelt  die  Grüning  die  Lächer* 
lichkeit  eines  späten  Weibchens  in  die  biblisch  schlichte  Größe 
jener  Letzten,  welche  die  Ersten  sein  werden.  Als  Schreiber 
Cassian  hat  Herr  Stieler  im  schmalen  edlen  Antlitz  eine  un* 
endliche  Sanftmut,  in  den  weit  aufgerissenen  Augen  eine 
rührende  Angst  um  seinen  Herrn.  Wo  andere  sagen :  Wenn 
ich  nicht  irre,  da  sagt  Cassian:  Wenn  ich  nicht  träume. 
Diese  Verträumtheit  betont  Herr  Stieler  viel  weniger  als 
Eulenberg  und  teilt  sie  dadurch  um  so  nachdrücklicher  mit. 
Als  dann  Cassians  unwahrscheinlichster  Traum  Wirklichkeit 
werden  zu  sollen  scheint,  leuchtet  die  leise  Stimme  des 
Schauspielers  einen  Augenblick  freudevoll  auf.  Aber  sie  eri= 
stirbt  gleich  wieder,  weil  Cassian  weiß,  welchen  ewigen  Men* 
schenschlag  der  Dichter  Eulenberg  in  seiner  schönsten  Dich* 
tung  gestalten  wollte  und  gestaltet  hat:  Sehnsuchtsvolle 
Hungerleider  nach  dem  Unerreichlichen. 

VON  BARNOWSKY  UND  BERNAUERS 

Eine  öde  Woche.  Stücke  wie  dieser  ,Papa'  sollten  nicht 
mehr  nach  Deutschland  herübergenommen  werden.  Ihre 
Nichtigkeit  kann  allein  durch  den  Klang  des  französischen 
Idioms,  durch  ein  paar  Boulevardlöwen  von  selbstverständ* 
lieber  Haltung  und  Eleganz  und  durch  eine  mondäne  Weib* 
lichkeit  nicht  nur  von  Talent,  sondern  auch  von  sehenswerter 
Emballage  erträglich  gemacht  werden.  Wir  sind  nicht  neidisch 
auf  das    alte   Burgtheater,    das    von   solchen  Künsten  und 

3*  i  35 


Wesenszügen  einmal  eine  deutsche  Ausgabe  gehabt  und 
zum  Teil  noch  heute  in  Ernst  Hartmann  hat.  Der  würde, 
was  dem  ,Papa'  obliegt:  einen  fünfundzwanzigjährigen  natür* 
liehen  Sohn  zu  finden,  anzuerkennen  und  um  die  Braut  zu 
bringen,  mit  Delikatesse,  Vornehmheit  und  ziemlich  unver* 
welktem  Charme  verrichten.  Das  sind  nun  lauter  Eigenschaften, 
die  der  Gast  des  Kleinen  Theaters,  Herr  Franz  Schönfeld, 
nicht  hat,  und  so  mußte  man,  je  nach  Temperament,  die 
Komödie  von  Flers  und  Caillavet  entweder  als  gleichgültig 
oder  als  unappetitlich  empfinden.  Die  Sache  wäre  gar  nicht 
schlimm,  wenn  die  Geschlechtlichkeit  eine  lustspielmäßige 
Leichtigkeit  behielte,  wenn  lachend  gezeigt  würde,  daß  das 
Alter  eines  Liebeskünstlers  weder  ihn  noch  ein  junges  Mäd* 
chen  vor  Torheit  schützt.  Aber  die  Autoren  beseelen,  ver* 
tiefen,  belasten  und  verdicken  ihre  simple  Geschichte,  tränken 
sie  mit  Süßlichkeit  und  schwindeln  eine  Sentimentalität  hinein, 
als  hätten  sie  nicht  in  erster  Reihe  an  die  pariser  Aufführungs* 
Serie,  sondern  an  die  Eroberung  aller  deutschen  Provinzen 
gedacht.  Oder  ist  das  der  letzte  pariser  Geschmack?  Dann 
täte  ein  berliner  Theater,  das  sich  aus  den  Beständen  des 
eigenen  Landes  nicht  zu  versorgen  weiß,  auf  alle  Fälle  besser, 
bis  zu  Dumas  und  Sardou  zurückzugehen.  Diese  Generation 
brauchte  denn  doch  nicht  so  schäbig  hauszuhalten.  Sie 
brauchte  sich  nicht  für  die  eine  .Situation'  des  zweiten  Aktes 
den  ersten  Akt  lang  zu  sammeln  und  den  dritten  Akt  lang 
von  den  Strapazen  auszuruhen.  Sie  bildete  sich  nicht  ein, 
durch  einen  trägen  und  ausgelaugten  Dialog  Ton  und  Niveau 
einer  Schicht  wiederzugeben,  die  ihre  Siege  durch  Esprit, 
durch  die  Schnellkraft  des  Wortes  erficht.  Sie  verstand  ein 
Theaterstück  zu  bauen  und  überaus  wohnlich  zu  machen. 
In  den  Nothäuschen,  die  Flers  und  Caillavet  seit  dem  Tode 
Emanuel  Arrenes  zusammenhauen,  kann  man  nur  schlafen. 
Dazu  gibt  ein  gründlicher  Deutscher  noch  mehr  Gelegen* 
heit.  Die  glücklichen  Herzöge  von  Brabant  haben  den  An* 
tritt  ihrer  Regierung  gewohnheitsmäßig  eine  joyeuse  entree 
nennen  dürfen.   Für  berliner  Theaterdirektoren  dagegen  und 

36 


ihre  geladenen  und  ungeladenen  Gäste  ist  von  jeher  aller 
Anfang  schwer  und  kummervoll  gewesen.  Warum  hätten  die 
neuen  Herren  des  alten  Hebbeltheaters ,  das  von  jetzt  an, 
und  hoffentlich  endgültig,  ,Theater  in  der  Königgrätzerstraße' 
heißt,  eine  Ausnahme  bilden  sollen?  Nach  Barnays  ,Deme* 
trius',  Blumenthals  , Nathan',  Max  Loewenfelds  ,Iphigenie', 
Brahms  , Kabale  und  Liebe',  Praschs  .Penthesilea',  Rein* 
hardts  ,Käthchen  von  Heilbronn',  Roberts  ,Maria  Magda* 
lene'  hatten  Meinhard  und  Bernauer  das  Recht  auf  eine 
schlechte  Eröffnungsvorstellung.  Sie  haben  von  diesem  Recht 
insofern  einen  ausschweifenden  Gebrauch  gemacht,  als  sie 
sich  nicht  bloß  mit  der  Aufführung,  sondern,  wirklich  über* 
trieben  mutwillig,  auch  mit  dem  Stück  in  die  Premieren* 
gefahr  begaben.  Sie  sind  darin  umgekommen  und  müssen 
sichs  nun  gefallen  lassen,  daß  ihr  literarischer  Geschmack 
genau  so  in  Zweifel  gezogen  wird  wie  ihre  Regiebegabung. 
,Die  Spielereien  einer  Kaiserin'  sind  ein  Stück  von  er* 
lesener  Grauenhaftigkeit.  Nach  Liliencron,  Dehmel  und 
manchem  anderen  hat  hiermit  Max  Dauthendey  bewiesen, 
was  freilich  nicht  erst  bewiesen  zu  werden  brauchte:  daß 
einer  ein  großer  lyrischer  Dichter  und  doch  oder  deshalb 
ein  hoffnungsloser  Dramatiker  sein  kann.  Unser  Lyriker 
hat  sich  zu  der  Bilderbogenmanier  jener  Kolportagedramatik 
hingezogen  gefühlt,  die  für  jedes  Bild  einen  besonderen  Unter* 
titel  sucht  und  findet:  Das  Dragonerweib,  Das  Frühstück, 
Der  Schmuckkasten,  Das  Taschentuch,  Die  Witwenhaube, 
Das  Kaiserinnenbett.  Darin  liegt  schon  die  Entwicklung: 
Das  Dragonerweib  stirbt  schließlich  im  Kaiserinnenbett. 
Aber  ist  es  denn  eine  Entwicklung?  Trotzdem  es  von  Ma* 
rienburg  über  Moskau  nach  Petersburg,  aus  einem  Kriegszelt 
durch  ein  Fürstenhaus  in  das  Zarenschloß  und  aus  dem  Jahre 
1702  bis  ins  Jahr  1727  geht  —  trotzdem  bleibt  sich  eins 
immer  gleich:  Katharinas  Gemeinheit,  ihre  Weinerlichkeit 
und  ihre  Liebe  zu  Menschikoff.  Dadurch  nämlich  hat  Dau* 
thendey  eine  russische  Atmosphäre  zu  treffen  geglaubt,  daß 
er  seine  Personen  abwechselnd  flennen  und  schimpfen,  beten 

37 


und  saufen,  singen  und  morden,  treten  und  getreten  werden 
läßt.  Es  entsteht  eine  Eintönigkeit,  die  man  sechs  Akte  lang 
erlitten  haben  muß,  um  sich  von  diesem  halb  gemütvollen, 
halb  zähnefletschenden  Lyriker  weit  weg  zu  einem  wirklichen 
Mannskerl,  einem  entschlossenen  Rohling,  einem  brutalen 
Schauerstückfabrikanten,  einem  wilden  Kulissenreißer  hinzu* 
sehnen.  Kurz:  zu  Philippi  oder  Metenier.  Bernauers  wären 
entsetzt  gewesen,  wenn  man  ihnen  angesonnen  hätte,  mit  einem 
Stück  dieser  Herren  ihr  schönes  neues  Haus  zu  eröffnen.  Was 
aber  haben  sie  von  Dauthendey?  An  Spannung  und  Er# 
regung  jeder  Art,  feiner  wie  grober,  ist  in  diesen  sechs  — 
kaum  zusammenhängenden,  beliebig  zu  vermehrenden  und 
zu  vermindernden  —  Akten  ein  Mangel,  der  für  das  Thea# 
ter  der  Tod  ist.  Historische  Namen  rollen  mit  Donnergepolter 
über  die  Bühne  —  und  nichts  rührt  sich  in  uns.  Nerven* 
chocs  der  erregungsbedürftigen  Premierenleute  werden  mit 
einem  ungeheuren  Apparat  vorbereitet  —  und  kein  Choc 
tritt  ein.  Auf  den  Tumult  der  schrecklich  bunten  Begeben* 
heiten  soll  ein  literarisch  veredelndes  Licht  fallen  —  und  alles 
bleibt  dunkel.  Wenn  da  überhaupt  zu  helfen  wäre,  dann 
könnte  nur  schöpferische  Schauspielkunst  helfen.  ,Madame 
Sans*Gene'  ist  als  Theaterstück  ein  unsterbliches  Meisterwerk 
gegen  diese  ungekonnten  , Spielereien  einer  Kaiserin',  an  denen 
gar  nichts,  nicht  einmal  der  Titel  stimmt.  Aber  auch  Sar* 
dous  Titelfigur  ist  schließlich  eine  Atrappe  wie  Dauthendeys 
Katharina.  Und  doch  haben  Hedwig  Niemann  und  Paula 
Conrad    einen    unvergeßlichen   Menschen   daraus   gemacht. 

Vielleicht  wird  Frau  Tilla  Durieux 

Die  Regie  hatte  sich  mächtig  angestrengt,  hatte  Kosaken 
und  Generale,  Popen  und  Mohren  prächtig  ausstaffiert,  hatte 
hochnoble  Interieurs  gestellt,  mit  Säulen  nicht  geknausert 
und  diese  in  jedem  Bild  anders  bekleidet  und  hatte  schließ* 
lieh  den  meisten  Darstellern  befohlen,  die  Hälfte  von  Dau* 
thendeys  bedeutungslosem  Schwulst  zu  verschlucken  oder 
zu  verbrummeln.  Hätte  sie  nun  auch  noch  fertig  gebracht, 
worauf  alles  ankam,  Frau  Durieux  entweder  zu  bändigen 

38 


oder  weit  über  sich  hinaus  zu  steigern,  so  hätte  es  am  Ende 
einen  Darstellungserfolg  gegeben.  Aber  Frau  Durieux  war 
eine  große  Enttäuschung.  Wir  haben  sie  bisher  immer  bei 
Reinhardt  gesehen,  wo  sie,  mit  einer  Ausnahme,  in  Kunst* 
werken  beschäftigt  und,  mit  wenigen  Ausnahmen,  einem 
genialen  Regisseur  unterstellt  war.  Jetzt  hat  sie  sich  als  un* 
bedenkliche  Virtuosin  ohne  die  Mittel  einer  Virtuosin  ent* 
puppt.  Daß  sie  Virtuosin  sein  oder  werden  möchte,  trat 
hauptsächlich  durch  die  schlichte,  kraftvolle  und  herzhafte 
Spielweise  von  Emil  Lindner  zutage,  der  freilich  für  diesen 
Menschikoff  viel  zu  schade  ist.  Daß  sie  keine  ist,  daß  ihr 
Instrument  nicht  ausreicht,  wurde  durch  die  Eindruckslosig* 
keit  fast  aller  wichtigen  Szenen  bewiesen.  Sie  tobte  drauf 
los,  ließ  die  Gegensätze  der  Figur  möglichst  laut  aneinander* 
knallen,  war  ohne  Übergang  Unband  und  Wurm,  Markt* 
weib  und  Vögelchen  —  und  kriegte  weder  eine  echte  Träne 
aus  den  Augen  noch  einen  wirklich  machtvollen  Ton  aus 
der  Kehle.  Je  weiter  der  Abend  und  die  Rolle  auf  den 
Schluß  zuschritt  —  auf  die  Sterbeszene,  die  in  völliger  Ton* 
losigkeit  versank  —  desto  krasser  wurde  das  Mißverhältnis 
zwischen  den  Begierden  der  entfesselten  Schauspielerin  und 
ihrer  wahren,  von  ihr  bedauerlich  verkannten  künstlerischen 
Art.  Sie  ist  eine  feine  und  höchst  aparte  Ensemblespielerin 
und  scheint  sich  als  Star  etablieren  zu  wollen.  Bemauers 
sollten  dem  wehren,  von  Anfang  an.  Sie  entwerten  sonst  das 
Mitglied,  von  dem  sie  bei  richtiger  Einordnung  beträchtlichen 
Nutzen  haben  können,  und  sie  entwerten  ihr  Theater,  das 
nicht  gebaut,  nicht  so  gebaut  worden  ist,  um  uns  mit  Vor* 
stadtspektakeln,  nackten  oder  literarisch  angeputzten,  auf  die 
Nerven  zu  fallen. 


VERTAUSCHTE  SEELEN 

Nach  der  eindruckslosen  Aufführung  hofft  man,  durchs 
Buch  aufgeklärt  zu  werden.     Da    wittert   man    denn 
wenigstens,  was  der  Dichter  sich  gedacht  hat.    Der  König 


39 


Fadlallah  wird  durch  wechselnde  Gestalten  geführt,  um  nach 
tieferer  Einsicht  ins  Leben  ein  besserer  König,  ein  besserer 
Gatte,  ein  besserer  Mensch  zu  sein.  Wenn  der  Mann  uns 
nur  vorher,  nachher  und  mittendrin  im  allergeringsten  inter# 
essiertel  Aber  da  alles  Traum  und  Schein,  Symbol  und  Spiel 
sein  soll,  so  schieben  wir  diesen  Helden  uns  selber  unter, 
um  zu  irgendeinem  Anteil  zu  kommen.  Dann  scheint  das 
Stück  sagen  zu  wollen,  daß  unsere  Entwicklung  davon  ab* 
hängt,  in  wieviel  menschliche  Seelen  und  bis  zu  welchem 
Grade  wir  uns  in  sie  versenken  und  versetzen  können.  Also 
eine  Erziehungskomödie.  „Der  Mensch  erkennt  sich  selber 
nur  im  Menschen;  nur  die  anderen  lehren  jeden,  wer  er  sei" 
—  so  oder  ähnlich  hat  dasselbe  wie  Scholz  einer  seiner  Kol* 
legen  ausgedrückt,  der  vor  ihm  den  Vorzug  der  Kürze,  der 
Klarheit  und  der  Könnerschaft  hat.  Denn  Scholz  ist  hier  ganz 
in  der  Begrifflichkeit  stecken  geblieben,  ist  fast  nirgends  zum 
Poeten  geworden.  Er  gibt  etwa  ein  ekstatisches,  ein  phan* 
tastisches  und  ein  erotisches  Zwischenspiel.  Dieses  erotische 
Zwischenspiel  nun  wird  von  einem  Eunuchen  ausgeführt.  Das 
ist  bezeichnend.  Genau  so  sind  Ekstase  und  Phantasie  ver# 
schnitten  und  gelähmt  und  bringen  es  gerade  zu  einem  dünnen 
Gepiepse.  Scholz  versucht  weiterhin  ein  Gegenstück  zum 
Amphitry on^Motiv :  während  Zeus  als  Amphitryon  zu  dessen 
Alkmene  kommt  und  für  Amphityron  gehalten  wird,  kommt 
König  Fadlallah  in  Gestalt  eines  Bettlers  zu  seiner  Königin 
und  kann  ihr  das  Gefühl  nicht  verwirren,  wird  als  Fad# 
lallah  —  wenn  auch  nicht  erkannt,  so  doch  gespürt.  Wie 
müßte  solch  eine  Szene  dastehen!  Wie  müßte  es  in  ihr  und 
um  sie  von  großen  Ahnungen  rauschen!  Aber  sie  verpufft. 
Scholz  erklärt  in  einem  Nachspiel,  daß  er  sich  von  den* 
jenigen  mißverstanden  fühle,  die  gelacht  hätten,  statt  zu 
weinen.  Er  darf  nicht  enttäuscht  sein,  da  er  ja  den  Ernst 
seiner  Dichtung  in  tausendundeine  Groteskenverwechslung 
eingekapselt  hat. 

Nur  daß  eigentlich  gar  nicht  so  viel  gelacht  worden  ist. 
Das  war  wieder  unsere  Enttäuschung.   Es  wäre  uns  am  Ende 

40 


recht  gewesen,  unsere  Nachdenklichkeit  und  Andacht  öfters 
pausieren  und  uns  von  einer  feineren  oder  gröberen  Komik 
lächern  oder  durchschütteln  zu  lassen.  Aber  dazu  hätte  es  auch 
wirklich  Komik  und  nicht  bloß  das  Rezept  zur  Komik  sein  müs* 
sen.  Man  denkt,  zum  vierten  Mal,  an  den  Haremswächter.  Scholz 
sieht  alle  abenteuerlich^drolligen  Möglichkeiten,  die  in  seinem 
Thema  liegen,  und  rechnet  aus,  wie  sie  abzuwandeln  und  zu 
verknüpfen  sind,  um  einzuschlagen.  Aber  die  wenigsten 
schlagen  ein.  'Wie  es  Dramatiker  gibt,  die  nicht  aufhören 
können,  so  kann  dieser  zunächst  einmal  nicht  anfangen.  Man 
ist  bereits  mürbe,  ehe  es  richtig  losgeht.  Ist  es  endlich  soweit, 
dann  variiert  Scholz  sein  Thema  nur  insofern,  als  er  einiger* 
maßen  unter  den  Körpern  abwechselt,  in  die  seine  Seelen 
schlüpfen.  Tatsächlich  wäre  es  nötig,  daß  er  unter  seinen 
Einfällen  abwechselte.  Im  Grunde  aber  wiederholt  er  fort* 
während  den  einen  Einfall,  daß  ein  Lebendiger  die  Formel 
spricht  oder  andeutet,  die  ihn  tötet  und  gleichzeitig  einen 
Toten  belebt.  Merkwürdig,  daß  Scholz  gar  nicht  auf  das 
Zauberwort  gekommen  ist,  das  seine  tote  Komödie  auch 
dann  belebt  hätte,  wenn  er  nicht  mehr  als  seinen  einen  Ein* 
fall  gehabt  hätte.  Das  Wort,  die  Silbe  lautet:  Reim.  Scholz 
scheint  nicht  zu  wissen,  daß  geglückte  Reime  für  sich  allein 
ein  trockenes  Stück  witzig,  ein  eintöniges  Stück  unterhaltend 
machen  können.  Dabei  hätte  er  sich  bloß  zu  fragen  brauchen, 
warum  das  Nachspiel  von  zwei  Seiten  launiger  und  wirk* 
samer  geraten  ist  als  die  übrigen  hundertfünfzig  Seiten. 
Nicht  so  sehr  dank  jener  Anwendung  des  einen  Einfalls  auf 
den  Dichter  selber  wie  dank  dem  Reim.  Durch  ihn  wird 
die  schleichende,  erschrecklich  mühsam  vorwärtsholpernde 
Komödie  plötzlich  beflügelt.  Zu  spät,  zu  spät!  Für  dieses 
Nachspiel  wäre  die  Vaterschaft  irgendeines  Tirso  de  Molina 
aufrechtzuerhalten  gewesen.  Für  den  Hauptteil  der  Komö* 
die  kam  kein  anderer  Autor  als  ein  schwerer,  grüblerischer 
Deutscher  in  Betracht. 

Um  so  mehr  hätte  die  Aufführung  ein  rechtes  Scherzo* 
tempo  haben  sollen.   Dazu  war  Herrn  von  Wintersteins  Ke» 

41 


gie  leider  zu  pedantisch.  Sie  hatte  treuHch  alles  befolgt,  was 
das  Buch  vorschreibt.  Aber  da  im  Buch  keinerlei  Über* 
schuß  ist,  so  war  das  eben  zu  wenig.  Die  Komik  lag  in 
kleinen  pantomimischen  Einlagen  mit  musikalischer  Beglei* 
tung,  in  übertriebenen  Geräten  und  anderen  Beisteuerungen 
des  erfindungsreichen  Malers  Ernst  Stern  weit  mehr  als  im 
Geblüt  der  Schauspieler.  Selbst  so  zuverlässige  Exzentriks 
wie  Biensfeldt  und  Arnold,  die  freilich  keineswegs  bloß 
Exzentriks  sind,  überboten  den  Dichter  nicht  sonderlich. 
Herr  Henrich  war  als  richtiger  König  schwächer  denn  als 
parodierender  Bettler,  und  Herr  Kühne  bewies  in  jeder  Ver* 
Wandlung  seine  Vortrefflichkeit.  Mit  volleren  Mitteln  bewies 
Wegener  das  feinste  Stilgefühl  und  eine  wunderbare  Mann* 
lichkeit.  Nur  sein  Humor  war  auch  nicht  üppiger  als  Schol* 
zens.  Melpomene  in  der  Komödie  endlich  war  Fräulein  Mary 
Dietrich,  die  sich  beinahe  zu  begeistert  ausgab.  Deswegen  und 
in  jedem  Falle  bleibt  dies  ungewöhnliche  Talent  ein  Fressen 
für  den  wahren  Regisseur. 

HUNDSTAGE 

Korfiz  Holm?  Ich  blättere  in  meinen  Werken  und  finde  eine 
Kritik  vom  zwanzigsten  April  1903,  die  folgendermaßen 
lakonisch  und  lieblos  lautet:  „Im  Berliner  Theater  wurde 
wieder  einmal  ein  Schauspiel  unter  Beifall  begraben.  Korfiz 
Holm  heißt  der  Verfasser.  Er  hat  eine  ungeheuer  lange  und 
langwierige  Dichtung  gedichtet,  eine  Dichtung  mit  Edelmut 
und  Herzensschwärze,  mit  russischem  Graf  und  berlinischem 
Poltron  und  mit  Gott  weiß  was  noch,  eine  Dichtung,  behag* 
lieh,  harmlos,  brav,  geschwätzig,  linkisch,  leer,  etwas  heiter 
und  etwas  sentimental,  ganz  unwahr  und  absolut  unnötig. 
Wieso,  warum,  wozu,  zu  welchem  Behuf?  Um  ein  paar 
genrehaft  flotte  Züge,  ein  paar  drastische  Einfälle,  ein  paar 
wirksame  Witze  zu  verwerten?  Dazu  hätte  eine  schnelle 
Skizze  für  den  ,Simplicissimus'  über  und  über  genügt." 
Holm  scheint  aus  dieser  Kritik  vor  allem  gelernt  zu  haben, 

42 


daß  ihm  der  Spaß  besser  liegt  als  der  Ernst.  Er  hat  sich 
beim  zweiten  Mal  auf  seine  Flottheit,  seine  Drastikund  seinen 
Witz  verlassen  und  daraus  ein  Lustspiel  gemacht,  das  schon 
deshalb  erfreulich  kurz  geraten  mußte,  weil  es  mit  den  schlecht 
ten  Eigenschaften  der  deutschen  Unterhaltungsdramatik  erst 
gar  keine  Zeit  vertrödelt.  Hier  gibt  es  kein  falsches  Gefühl, 
keine  öde  Geistreichelei,  keine  mühsamen  Verwicklungen. 
Mit  nichts  weiter  als  mit  Geschmack  und  Geschicklichkeit 
schiebt  Holm  drei  halbbohemische  Ehepaare  und  eine  ver? 
witwete  .Oelcousine'  durch  einander,  um  sie  zum  Schluß  alle 
unversehrt  wieder  auf  den  rechten  Platz  zu  stellen.  Zeit:  jene 
Hundstage  des  Jahres  und  des  Lebens,  wo  wir,  nach  Thomas 
Mann,  ein  „unanständiges  Prickeln  im  Blute"  haben.  Ort: 
ein  oberbayerisches  Gebirgsdorf  in  der  Nähe  von  München. 
Das  ist  für  Ton  und  Tempo  des  Stückes  wichtig.  Wenn 
unsereiner  nach  München  kommt,  so  bemerkt  er,  daß  er 
plötzlich  langsamer  geht,  ruhiger  atmet,  freudiger  blickt  und 
milder  urteilt.  Die  Luft  ist  anders  als  in  Berlin.  Diese  Luft 
ist  in  Holms  Lustspiel.  Es  ist  gelassen,  ohne  langweilig  zu 
werden,  phlegmatisch,  ohne  Fett  anzusetzen.  Die  lieben  Leut* 
chen  schwätzen,  wie  ihnen  der  Schnabel  gewachsen  ist,  und 
nicht,  was  der  Autor  an  Bonmots  für  ein  Zugstück  gesammelt 
und  nachträglich  auf  verschiedene  Personen  verteilt  hat.  Das 
macht  den  Dialog  nett,  sauber,  literarisch  anständig.  Holm 
bedenkt  das  Metier  mit  Bosheiten,  die  kitzeln,  aber  nicht 
wehtun.  Er  ist  frei  von  aller  Pose,  und  wenn  er  Wahrheiten 
über  Liebe  und  Ehe  vorbringt,  weil  über  dieses  Thema  alle 
seine  sieben  Herrschaften  gerne  mitreden,  so  verständigt  er 
uns  mit  einem  Augenzwinkern,  daß  er  sich  über  die  Altbacken* 
heit  dieser  Wahrheiten  ebenso  klar  ist  wie  wir.  Es  ist  schließ* 
lieh  das  Genre,  das  seit  Jahrzehnten  durch  hundert  Fäden 
mit  den  Herzens*  und  Geistesrudimenten  der  deutschen  Bour* 
geoisie  verknüpft  ist.  Aber , Hundstage'  ist  ein  so  unschädliches, 
manierliches  und  appetitliches  Exemplar  des  Genres,  daß  es 
willkommen  geheißen  werden  soll.  Solche  Exemplare  zivili* 
sieren  das  Durchschnittsrepertoire. 

43 


Das  sind  auch  die  Stücke,  die  Bernauers  spielen  können,  und 
die  das  Theater  in  der  Königgrätzerstraße  braucht.  Desgleichen 
sind  diese  Stücke,  sobald  sie  die  Marke  Blumenthal#Kadelburg 
übertreffen,  auf  so  intime  Theater  angewiesen.  ,Nur  ein 
Traum'  von  Lothar  Schmidt,  trotzdem  es  ein  schärferes  Profil 
hat  als  , Hundstage',  ist  seinerzeit  in  dem  Riesenbassin  des 
Berliner  Theaters  verloren  gegangen.  Diesmal  war  gleich  die 
freundlichste  Beziehung  zwischen  den  Bürgern  und  den  Ko* 
mödianten  hergestellt.  Das  [Bühnenbild  heimelte  sozusagen 
an,  die  Luft  war  voll  von  Sommer,  Flirt  und  Oberbayern, 
und  fünf  von  den  sieben  Darstellern  machten  ihre  Sache  so 
gut,  wie  es  die  kargen  Innerlichkeiten  der  Figuren  irgend  zu* 
ließen.  Herr  Bergen  als  Lyriker,  der  in  dieser  besten  aller 
Lustspielwelten  dreitausend  Mark  Vorschuß  kriegt,  zappelte 
höchstens  ein  bißchen  zuviel.  Mit  ihm  liebelte  FrauDurieux, 
eine  echte  Salonschlange  in  ziemlich  kleinen  Verhältnissen, 
der  man  nur  ihre  Kinder  nicht  recht  glaubte.  Ganz  häuslicher 
Herd  war  dagegen  Fräulein  Serda,  die  allerdings  vom  Autor 
vor  der  entscheidenden  Probe  auf  ihre  Gestaltungskraft  ver# 
lassen  wurde.  Bei  Fräulein  Ludmilla  Hell  scheint  vorläufig 
der  Reiz  des  Persönchens  größer  zu  sein  als  die  Selbständig* 
keit  der  Schauspielerin.  Sie  verfehlte  keine  Pointe;  aber  es 
klang  immer,  als  sei  sie  zu  dieser  Treffsicherheit  abgerichtet 
worden.  Den  Erfolg  des  Abends  hatte  Herr  Otto  Gebühr 
in  einer  Rolle,  die  nicht  nur  die  ganze  Liebenswürdigkeit  des 
Stückes  in  sich  faßt,  sondern  auch  dem  Wesen  und  den  Fähig* 
keiten  dieses  lachenden,  helläugigen,  äußerlich  und  innerlich 
blonden  Schauspielers  besonders  entgegenkommt. 


DIE  ORESTIE 

Das  ist  jetzt  elf  Jahre  her.  Wir  waren  Studenten  der  ber* 
liner  Universität,  glühten  für  , Kunst  und  Literatur'  und 
hatten  einen  ,Akademischen  Verein*,  in  dem  wir  über  unsere 
Lieblingsgebiete  Vorträge  halten  oder  hören  konnten.  Hier 
schieden  sich   früh  die  Theoretiker  von   den   praktisch  ge* 

44 


richteten  Gemütern.  Jene  sehnten  sich,  in  einer  Zeit  der  all* 
gemeinen  Stagnation  durch  Kritik  die  Gewissen  zu  wecken; 
diese  trauten  sich  zu,  es  selber  besser  machen  zu  können. 
Ich  für  meinen  Teil  schrieb  drauflos:  „Gerade  jetzt  ist  der 
Niedergang  so  ojffenbar,  daß  ein  Umschwung  unausbleiblich, 
der  Pegelstand  so  tief,  daß  eine  Steigung  als  Naturzwang 
erscheint.  Eine  greisenhaft  verfallene  Kleinkunst  ist  dicht 
daran,  sich  ins  Nichts  aufzulösen.  Auf  der  anderen  Seite 
deuten  verheißungsvolle  Anzeichen  auf  ein  neues  Drama  der 
Gedanken  und  tiefen  Gefühle  als  eine  unabweisbare  Not* 
wendigkeit,  auf  ein  dramatisches  Drama,  das  keine  Errungen* 
Schaft  des  Naturalismus  aufgäbe,  aber  in  der  banalen  Mo* 
mentbildnerei  nicht  sein  Genüge  fände,  ein  Drama,  hinter 
dem  die  große  Persönlichkeit  stünde,  die  doch  in  Kunst  und 
Poesie  alles  ist,  die  wuchtige  Natur,  die  nicht  Mosaiksteine 
zusammensetzt,  sondern  mit  Quadern  baut.  Und  unsere  Thea* 
terleiter?  Welche  Verpflichtung  erwächst  ihnen  aus  dieser 
Lage  der  Dinge?  Haben  sie  hinreichendes  Interesse  für  den 
Fortgang  unserer  dramatischen  Produktion,  um  Werdendem 
werktätige  Hilfe  zu  leisten?  Und  wenn  sie  Absichten  hegen, 
verfügen  sie  über  die  verwirklichende  Kraft?  Die  Antwort 
lautet  betrübend.  Wo  der  Geist  willig  ist,  ist  das  Fleisch 
schwach.  Trägheit  aber  und  Gewinnsucht  herrschen,  wo  äußere 
und  innere  Mittel  zulangten."  Dergleichen  mag  für  die  Prak* 
tiker  unter  uns  das  Stichwort  und  der  Ruf  zur  Leidenschaft 
gewesen  sein.  Man  beschloß,  die  Schläfer  zu  beschämen  und 
zu  eigenen  Theatervorstellungen  vorzuschreiten.  Wenn  aber 
ein  unbeglaubigtes  Unternehmen  unbeglaubigte  Dramatiker 
aufführte,  so  war  das  für  diese  wahrscheinlich  eher  schädlich 
als  nützlich.  In  solcher  Situation  konnte  es  am  wenigsten 
Studenten  schwer  fallen,  Dramen  zu  finden,  die,  ohne  selber 
neu  zu  sein,  das  neue  Bedürfnis  der  Gegenwart  nach  großen 
Gegenständen,  großen  Gedanken  und  großen  Gefühlen  be* 
friedigten.  Wilamowitz*Moellendorffs  Übersetzung  griechi* 
scher  Tragödien  war  soeben  erschienen.  Was  lag  für  Hörer 
und  Verehrer  des  Gelehrten  näher,  als  die  wichtigsten  von 

45 


diesen  Tragödien  einfach  herzunehmen  und  zu  spielen?  Auf 
den  , König  Oedipus'  ließ  man  nach  einem  Monat  die  ,Antis 
gone*,  auf  diese  nach  acht  Monaten  die  ,Orestie'  folgen.  Es 
gab  Eindrücke  von  außerordentlicher  Stärke,  mehr  noch:  es 
gab  einen  Erfolg  von  ungewöhnlicher  Tragweite.  Plötzlich 
begann  es,  ringsum  lebendig  zu  werden.  Es  schien,  als  sei  allen 
jungen  Kräften  auf  einmal  der  Mut  beflügelt  worden.  Der 
»Akademische  Verein  für  Kunst  und  Literatur'  durfte  getrost 
zu  seinen  Diskussionen  zurückkehren :  denn  ein  Schauspieler, 
dem  in  der  ,Orestie'  nichts  weiter  als  der  Bericht  von  der 
Opferung  der  Iphigenie  zugefallen  war,  hatte  sich  über  Nacht 
selber  entdeckt,  griff  mächtig  aus,  ward  die  Tat  von  unseren 
Gedanken  und  der  Erneuerer  und  Beherrscher  des  berliner 
Theaters.   Er  hieß  Max  Reinhardt. 

Das  ist  jetzt  zehn  Jahre  her.  Und  wenn  sie  köstlich  ge* 
wesen,  so  sind  sie  Mühe  und  Arbeit  gewesen.  Neun  Jahre 
lang  war  es  eine  Wonne,  diesen  reichen  Menschen  an  dieser 
seiner  schönen,  edlen,  stolzen  und  fruchtbaren  Arbeit  zu  sehen. 
Erst  die  europäischen  Zirkustriumphe  des  »König  Oedipus' 
haben  den  künstlerischen  Betrieb  der  Reinhardtschen  Bühnen 
verstört  und  nach  und  nach  so  viel  Schaden  angerichtet,  daß 
es  das  Recht  des  Kritikers  wäre,  vor  jedem  neuen  Zirkusex* 
periment  den  Standpunkt  Lessings  einzunehmen,  der  gesagt 
hat,  daß  er  die  Qualitäten  des  Herrn  von  Voltaire  ja  wohl 
sehe,  daß  er  sie  aber  nicht  nennen  wolle.  Vielleicht  könnte 
ich  mich  nach  einiger  Zeit  gleichfalls  zu  solcher  erlaubten 
und  weitblickenden  Kunstpolitik  abkühlen.  Am  frühen 
Morgen  nach  der  Vorstellung  gibt  es  für  mich  keine  andere 
Möglichkeit,  als  der  reinen  Lust  meines  Metiers  zu  frönen: 
zu  erkennen,  zu  unterscheiden.  Dichter,  Regisseur  und  Dar* 
stellern  ihren  Anteil  zu#  und  abzusprechen,  also:  so  klar  und 
scharf,  wie  meine  Seh*  und  meine  Sprachkraft  es  erlauben, 
den  Eindruck  wiederzugeben,  den  ich  in  voller  Unbefangen* 
heit  gehabt  habe,  und  ihn  zu  erklären. 

Es  war  ein  halber  Eindruck.  Das  ist  ein  Fortschritt  gegen 
den  , König  Oedipus',  der  mir  überhaupt  keinen  Eindruck 

46 


gemacht  hat.  Sophokles  war  damals  nicht  allein  schuld;  da 
er  mich  ja  an  anderen  Orten  immer  irgendwie  gepackt  hat. 
Diesmal  wieder  ist  es  nicht  ausschheßlich  das  Verdienst  des 
Aischylos.  Vor  allem  war  es  klug  von  Reinhardt,  das  dritte 
Stück  der  Trilogie  zu  streichen.  Was  uns  darin  noch  an* 
geht,  wird  am  Schluß  des  zweiten  Stückes  in  einer  Vision 
des  Orest  vollkommen  erschöpft;  und  daß  die  Erinnyen  sich 
schließlich  in  Eumeniden  verwandeln  werden,  wissen  wir. 
Es  hieße  den  Erfolg  der  Vorstellung  noch  nachträglich  in 
Frage  stellen,  wenn  man  wirklich  in  vierzehn  Tagen  die  Tri* 
logie  vervollständigte.  Vorher,  in  den  ersten  beiden  Stücken, 
haben  uns  nicht  die  Inhalte  erregt,  die  uns  mit  ihren  tatsäch* 
liehen  und  religiösen  Voraussetzungen  fremd  geworden  sind, 
sondern:  der  Atem  des  Aischylos,  seine  gewaltige  Geste,  seine 
Überlebensgröße.  Daß  hier  in  Blut  gewatet  wird,  läßt  kalt: 
aber  mit  welchen  mächtigen  Schritten,  mit  welcher  Unbe« 
denklichkeit,  mit  welcher  schauerlichen  Ungerührtheit  —  das 
wühlt  auf.  Uns  immer  wieder  zu  beruhigen,  sind  die  Chöre 
da.  Sie  weisen  über  das  individuelle  Geschick  der  Atriden 
hinaus;  sie  reihen  es  in  den  Ablauf  alles  menschlichen  Ge# 
schehens  ein;  sie  suchen  die  ewige  Dike  in  den  blindwütenden 
Moiren.  Ihre  Lyrik  steht  gleichberechtigt  vor  und  hinter  den 
dramatischen  Gipfelszenen.  Es  kommt  für  Übersetzer  und 
Regisseur  darauf  an,  beide  Elemente  der  Dichtung  zu  treffen. 
Vollmoeller  hat  einen  Meisterwurf  getan.  Wer  hätte  diese 
Knappheit,  diese  Festigkeit,  diese  männliche  Härte  von  ihm 
erwartet!  Wie  weit  ist  hier  die  Übersetzung  von  Wilamowitz, 
die  doch  bisher  die  beste  war,  in  jeder  Hinsicht  übertroffen! 
Wilamowitz  wird  sich  selber  am  meisten  freuen:  denn  mit 
der  sachgetreuen  Uneigennützigkeit  des  echten  Gelehrten  hat 
er,  im  Vorwort  seiner  Ausgabe,  von  der  Zeit  gesprochen,  da 
auch  seine  Übersetzung  ausgedient  haben,  da  auch  sie,  und 
mit  Recht,  der  Vergessenheit  verfallen  wird.  Ich  habe  beide 
Arbeiten  Wort  um  Wort  verglichen  und  festgestellt,  daß  in 
den  Chören  durchschnittlich  auf  fünfundvierzig  Verse  von 
Wilamowitz  einundzwanzig  von  Vollmoeller  kommen.  Diese 

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Konzentrationsfähigkeit,  schon  hier  ein  eminenter  Vorzug, 
hat  erst  recht  im  leidenschaftlich  bewegten  Dialog  Verse  von 
ungeheurer  Schlagkraft  hervorgebracht.  Ein  einziges  Beispiel, 
dem  beliebig  viele  zuzufügen  wären.  Wilamowitz :  „Du  hast 
nicht  von  meiner  Pflicht  zu  reden.  Unter  meinen  Händen 
sank  er,  starb  er  —  Meine  Hände  werden  ihn  begraben." 
Vollmoeller:  „Ich  hab'  ihn  gefällt.  Ich  hab*  ihn  erschlagen. 
Ich  werd'  ihn  begraben.  Was  gehts  dich  an!"  VoUmoellers 
verdichtende  und  beschwingende  Bearbeitung  der  ,Orestie* 
ist  nach  Hofmannsthals  preziös  gedunsener  und  auseinander* 
treibender  Übertragung  des  »König  Oedipus*,  die  am  aller* 
wenigsten  in  den  Zirkus  paßte,  eine  wahre  Wohltat,  und  einer 
von  den  Gründen,  warum  man  diesen  Zirkusabend  keines* 
wegs  mit  derselben  Entschiedenheit  ablehnen  darf  wie  den 
ersten. 

Reinhardt  hat  leider  die  Aufgabe,  jene  beiden  Elemente 
der  Dichtung,  das  lyrische  und  das  dramatische,  gleichermaßen 
zu  treffen,  nicht  annähernd  so  gut  gelöst.  Seine  Behandlung 
der  Chöre  ist  unmöglich.  Unmöglich.  Einfach  darum,  weil 
sie  ihn  zwingt,  drei  Viertel  des  Textes  zu  streichen.  Zunächst 
dauert  es  schrecklich  lange,  bis  zehnmal  so  viel  Greise,  wie 
nötig  wären,  zu  den  Klängen  einer  weihevoll  stimmenden 
Musik  angetreten  sind.  Sie  machen  vor  den  Stufen  des  Pa* 
lastes,  dessen  Vorhalle  rechts  und  links  bemalte  Götterfiguren 
schmücken,  umständlich  einen  zeremoniellen  Hokuspokus, 
lassen  sich  dann  gemütlich  auf  ringsum  angebrachte  Bänke 
nieder  und  beweisen,  wie  gut  sie  gedrillt  sind.  Einer  spricht 
einen  Vers,  den  alle  wiederholen;  alle  sprechen  einen  Vers, 
den  einer  aufnimmt.  Diese  Abwechslung  wäre  an  sich  nicht 
übel,  wenn  immer  neue  Verse  gesprochen  würden,  wenn  wir 
vorwärts  kämen.  Die  Wiederholungen  aber  sind  unerträglich: 
sie  zerstören  jede  Wirkung  und  rücken  manche  Stellen  an 
die  Grenze  der  Lächerlichkeit.  Der  Chor  schreit  etwa  plötzlich 
drohend  auf:  „Noch  lebt  OrestI"  Dabei  kann  einem  schon 
ein  Schauer  durchs  Gebein  gehen.  Dann  aber  werden  diese 
drei  Worte  unter  die  Choreuten  verteilt,  die  sie  an*  und  ab* 

48 


schwellen  lassen  müssen  —  und  wir  stehen  einem  Kunststück 
gegenüber,  das  die  Dirigenten  von  Männergesangvereinen 
interessieren  mag,  und  dem  zuliebe  den  größten  Teil  der 
aischyle'ischen  Verse  zu  opfern  ein  künstlerischer  Frevel  ist. 
Im  zweiten  Stück  gibt  es  Frauenchöre.  Sie  ziehen  in  die 
Arena,  und  es  ist  ulkig,  weil  gänzlich  unmotiviert,  daß  sie 
teils  dumpf  sprechen,  teils  hell  singen.  Im  Verlauf  der  Sache 
verliert  sich  das ;  dann  aber  geht  wirklich  eine  Woge  getähr* 
licher  Heiterkeit  durch  das  Haus,  wenn  die  Damen  am  Schluß 
einer  ergreifenden  Szene  mit  dem  Ruf:  ,, Orestes!"  abzugehen 
haben  und,  sich  nach  verschiedenen  Seiten  zerstreuend,  diesen 
Ruf  wie  Mäuse  zerwispem.  Reinhardt  übersieht  bei  solchen 
Kinkerlitzchen  vor  allem,  daß  sie  in  dem  Augenblick  entwertet 
sind,  wo  wir  das  System  durchschaut  haben.  Kunst  bleibt 
immer  neu;  Kunststücke  aber  müssen  immer  erneuert  werden. 
Diese  hier  hatten  schon  im  ,Oedipus'  versagt,  weil  sie  für  die 
,Braut  von  Messina'  erdacht  worden  waren,  wo  sie  nur  leider 
auch  nicht  gezündet  hatten. 

Für  das  lyrische  Element  der  .Orestie'  hat  also  Vollmoeller 
dem  Regisseur  Reinhardt  deshalb  wenig  nützen  können,  weil 
der  Dramaturg  Reinhardt  dieses  Element  von  vornherein  so 
kläglich  verkürzt  hatte.  Für  das  dramatische  Element,  für  das 
Vollmoellers  Nützlichkeit  sich  als  außerordentlich  groß  erwies, 
ist  nun  wieder  jeder  Regisseur  auf  seine  Darsteller  angewiesen. 
Soweit  das  nicht  unbedingt  der  Fall,  soweit  es  möglich  ist, 
eine  Szene,  unabhängig  von  aller  Schauspielkunst,  zu  spannen 
und  zu  dehnen,  sie  im  weitgeschwungenen  Bogen  zu  führen 
oder  jäh  losschnellen  zu  lassen :  soweit  hat  Reinhardt  hier 
einzelne  Musterbeispiele  für  eine  großflächige  Inszenierungs* 
kunst  geschaffen.  Dazwischen  aber  auch  ein  Monstrebeispiel 
für  die  nervenkitzelnde  Unterhaltung  von  Zuschauermassen, 
die  bei  Stierkämpfen  aufgewachsen  sind.  Wenn  Orest  seine 
Mutter  erschlagen  will,  so  genügt  es  über  und  über,  daß  er 
nach  ihr  aus  der  Tür  des  Palastes  stürzt,  sie  dicht  an  der  Tür 
festhält  und  nach  Abwicklung  des  Wortzweikampfs  in  den 
Palast   zurückstößt.    Hier  jagt  er   sie  die  Treppe  hinunter 

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in  die  Manege,  rauft  sich  dort  mit  ihr  herum  und  zerrt  sie 
dann  viel  zu  langsam  wieder  die  Treppe  hinauf.  Es  ist  grauen* 
haft.  Zum  Glück  ist  es  der  einzige  Moment,  wo  Reinhardts 
Regiekunst  sich  der  besonderen  Art  des  Fräulein  Feldhammer 
angepaßt  zu  haben  scheint.  Überall  sonst  wurde  das  vorsint* 
flutliche  Zähnegefletsch  dieser  Klytaimnestra  selbst  für  den 
Zirkus  als  zu  bestialisch  empfunden.  Elektra  wieder  war  kaum 
vorhanden,  Agamemnon  hielt  sich  ,würdig',  ein  Herold  sprach 
treflflich,  und  die  übrigen  verdarben  nichts.  Den  höchsten 
Ansprüchen  —  und  wir  wollen  doch  nicht  aufhören,  sie  bei 
Reinhardt  zu  stellen  —  genügten  nur  zwei.  Die  Kassandra 
des  jungen  Fräulein  Mary  Dietrich  kam  aus  einer  anderen 
Welt,  als  sie  anhub,  die  mörderischen  Vorgänge  hinter  der 
verschlossenen  Palasttür  zu  schildern  und  mit  ergreifenden, 
tief  aus  dem  Herzen  geholten  Schmerzensschreien  zu  beklagen, 
und  sie  blieb  in  einer  anderen  Welt,  als  sie  mit  den  Schritten 
einer  Nachtwandlerin,  von  Tränenkrämpfen  durchschüttelt 
und  doch  ohne  Furcht,  dem  Beil  Klytaimnestras  entgegen* 
wankte.  Es  ist  der  seltene  Fall  einer  Schauspielkunst,  die 
ganz  durchseelt  und  zugleich  und  schon  jetzt  von  ganz  großem 
Stil  ist.  Moissis  Orest  konnte  nach  seinem  Oedipus  nicht 
mehr  überraschen.  Er,  der  für  Shakespeares  Hamlet  zu  klein 
gewesen  ist,  traf  den  hamletischen  Zug  des  Orest  mit  erhel* 
lender  Größe.  Er  zauderte  erschütternd.  Er  ließ  uns  begreifen, 
daß  nicht  die  feststehende  Tatsache  der  Sage  den  Sohn  zwingt, 
die  Mutter  zu  morden,  sondern  die  Blutsgemeinschaft.  Er 
machte  den  Traum  von  der  Schlange  wahr:  ,,Sie  muß,  die 
solches  Graungezücht  gebar,  gewaltsam  sterben".  Wie  er  nach 
dem  Morde  von  den  inneren  Furien  umhergetrieben  wurde, 
wie  er  vor  seines  Geistes  Aug  der  Mutter  grimmige  Hunde 
gorgonenhaft  von  allen  Seiten  nahen  sah,  und  wie  er  durch 
sie  von  hinnen  gejagt  wurde:  das  war  ein  Schlußbild  von  auf* 
peitschender  Gewalt.  Und  es  war  vielleicht  die  einzige  Szene, 
die  im  Theater  zu  solcher  Geltung  doch  nicht  kommen  kann. 
Denn  sonst?  War  sonst  der  Zirkus  nötig?  Ich  prüfe 
mich  genau,  wäge  peinlich  ab  und  muß  sagen:  Was  immer 

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wieder  die  Stimmung  zerriß ,  hätte  sie  im  Theater  nicht  zer<= 
rissen;  was  'uns  ein  paar  Mal  bannte,  hätte  uns  —  bis  allen* 
falls  auf  jene  Schlußszene  —  noch  unwiderstehlicher  gebannt. 
Auch  im  Theater  wird  Mauerwerk  kyklopisch  aufzutürmen 
und  in  die  dräuenden  Schatten  der  Nacht  zu  hüllen  sein. 
Auch  dort  werden  von  aneinandergekauerten  Mädchen,  die 
ein  fremdes  Schicksal  durchbebt,  die  heftigsten  Beklemmungen 
ausgehen.  Auch  dort  werden  katastrophale  Auftritte  ins  Weite 
zu  recken  sein.  "Wie  gut  das  möglich  ist,  hat  Reinhardt  im 
.Hamlet'  und  im  , Othello'  bewiesen.  Zugegeben,  daß  solche, 
daß  überhaupt  alle  Auftritte  im  Zirkus  an  äußerem  Umfang 
gewinnen.  Das  ist  ja  selbstverständlich.  Aber  seit  wann,  um 
Himmels  willen,  kommt  es  darauf  an?  Genau  so  viel  ver* 
Heren  sie  an  Vertiefung.  Reinhardt  trachtet,  dafür  von  außen 
her  Ersatz  zu  holen.  Musik  soll  ihm  helfen;  gedämpfte  Pauken* 
wirbel  und  sordinierte  Klänge  von  allerhand  anderen  In* 
Strumenten  sollen  uns  einlullen.  Aber  abgesehen  davon,  daß 
auch  schon  das  zur  Manier  geworden  ist,  sind  es  Opernmittel, 
gegen  die  unser  Stilgefühl  sich  wehrt.  Ein  Chorlied  des  Aischy* 
los,  vollendet  gesprochen,  tut  mehr  als  dieser  ganze  Klimbim. 
Daß  Reinhardt  selber  das  nicht  sieht!  Spürt  wahrhaftig  nicht, 
der  ,Aglavaine  und  Selysette'  verstanden  und  nachgeschaffen 
hat,  wie  barbarisch  dieser  Einzug  des  Agamemnon  mit  Tuben 
und  Tschinellen  und  vier  wirklich  schnaubenden  und  stamp* 
f enden  Rössern  ist,  wie  zirkushaft  im  vulgärsten  Sinne!  Be* 
merkt  denn  nicht,  der  die  Kammerspiele  gebaut  hat,  um  uns 
zu  sammeln,  wie  dieser  Zirkus  uns  zerstreut?  Unsere  armen 
Augen,  von  Scheinwerfern  gepeinigt,  müssen,  bei  fünf  Ein* 
und  Ausgängen  für  die  Akteure,  ruhelos  von  einem  zum 
anderen  wandern.  Sie  müssen  die  Köpfe  der  Zuschauer  von 
den  Köpfen  der  Statisten  unterscheiden,  die  hier  tatsächlich 
mitten  im  Publikum  stehen,  und  zwischen  denen  sich  ihr 
Unterdresseur  im  Gehrock  besonders  malerisch  ausnimmt. 
Sie  müssen  —  aber  genug!  Ich  bleibe  dabei:  es  ist  eine  be* 
dauerliche  Kraftverschwendung,  im  Zirkus  einen  annähernden 
Begriff  des  altgriechischen  Theaters  geben  zu  wollen,  der  ja 

*•  51 


doch  immer  nur  ein  annähernder  Begriff  bleiben  kann,  weil 
auch  im  Zirkus  die  notwendigen  Vorbedingungen  fehlen. 
Was  bei  uns  dem  Amphitheater  entspricht,  ist  nicht  der  Zirs; 
kus,  sondern  das  ganz  gewöhnliche  Theater.  Wenn  die 
,Orestie*  neu  wäre,  so  würde  sie  nirgends  anders  als  im  Deutschen 
Theater  aufgeführt  werden,  und  wenn  es  Reinhardt  lockt, 
diese  alte  ,Orestie*  zu  erneuern,  so  bequeme  er  sich  und  sie 
den  Verhältnissen  seines  Theaters  an.  Was  an  der  ,Orestie* 
tot  ist,  mag  auf  den  Zirkus  angewiesen  sein.  Was  an  ihr 
lebendig  ist,  wird  ein  Kerl  wie  Reinhardt,  bei  dieser  Über* 
Setzung  und  bei  seinen  szenischen  und  schauspielerischen 
Mitteln,  alles  in  allem  auf  der  Bühne  zu  unvergleichlich 
schauerlicherer  und  tieferer,  weil  einheitlicher  und  ungetrübter 
Wirkung  bringen. 


DAS  WEITE  LAND 

Das  weite  Land  ist  die  Seele  des  Menschen.  Es  gibt 
kostbarere  Gleichnisse,  auch  in  den  Titeln  Schnitzlerscher 
Dramen.  Aber  nehmen  wirs  hin  und  fragen  wir  lieber,  was 
Schnitzler  in  ungefähr  einem  Dutzend  weiter  Länder  gesehen 
hat.  Dann  fällt  zunächst  das  weg,  das  ein  einziger  Tennis* 
platz  ist,  und  ein  paar  andere,  die  an  die  seriösen  Länder  an* 
grenzen,  wie  Operettenstaaten  an  Großstaaten,  und  die  nur 
dazu  da  sind,  um  die  Karte  möglichst  bunt  zu  machen.  Schnitz* 
1er  hat  hier  manchmal  allzu  gern  ans  Theater  gedacht.  Er  ver* 
schmäht  nicht  Schwankscherze,  nicht  Schwankfiguren,  nicht 
Schwanksituationen.  Aber  es  ist  wirklich  nicht  zu  bezweifeln, 
daß  er  sie,  und  übrigens  mit  Maß,  in  seine  Tragikomödie  hinein* 
gesetzt  hat,  weil  er  auch  gröbere  Elemente  als  uns,  die  wir  ihm 
sicher  sind,  für  die  Tragik  seiner  Komödie  gewinnen  wollte. 
Verwunderlicher  ais  der  Hangdiesesgrüblerischen  Psychologen 
zu  episodischer  Schwankhaftigkeit  ist  die  anfängerhafte  Not, 
die  auf  einmal  wieder  der  Verfasser  von  bühnenrunden  und 
schlagkräftigen  Werken  hat,  um  sein  Stück  in  Gang  zu  bringen 
und  in  Gang  zu  erhalten.    In  den  ersten  drei  Akten  ist,  ab* 

52 


gesehen  von  jenen  listig  eingestreuten  Lustigkeiten,  je  ein  Vier:! 
tel  Füllsel  eines  merkwürdig  unbeholfenen  Technikers.  Erst  die 
beiden  Schlußakte  haben  die  Prägnanz,  die  das  Drama  braucht. 
Es  sind  durchaus  nicht  allein  die  handgreiflichen  Effekte,  die 
diese  Akte  eindrucksvoller  machen.  Schnitzler  hat  sich  einfach 
heiß  geschrieben.  Die  Sätze  werden  leichter,  schneller,  kürzer 
und  sagen,  trotzdem  oder  deshalb,  mehr.  Der  Dialog  bekommt 
hier  manchmal  den  Klang  von  Stichomythien.  Der  letzte  Akt 
hat  dreizehn,  der  erste  fünfunddreißig  Seiten.  Das  ist  be* 
zeichnend.  Als  Schnitzler  fertig  war,  hätte  er  im  Fieber  der 
Arbeit  von  neuem  an  die  erste  Hälfte  gehen  sollen.  Aber 
das,  nicht  wahr,  ist  mir  für  die  Wirkung  auf  die  Leute  wichtig, 
keineswegs  für  die  Wirkung  auf  mich,  für  den  sich  ein  kulti# 
vierter  Kenner  wie  Schnitzler  gar  nicht  genug  Zeit  nehmen 
kann.  Auch  aus  dem  gestrecktesten  Geplauder  eines  Dichters 
will  ich  heraushören,  worum  es  ihm  ernst  ist,  wenn  es  nur 
ein  Dichter,  und  wenn  es  ihm  nur  ernst  ist. 

Schnitzler  ist  es  gerade  diesmal  verteufelt  ernst.  Leider 
ist  er  in  Berlin  an  eine  ausdruckst  und  gefühlsnüchterne  Bühne 
geraten,  der  sein  Ernst  wohl  zu  pathetisch  war,  und  die  ihn 
darum  gestrichen  hat.  Es  darf  den  Dichter  also  nicht  erstaunen, 
daß  selbst  kluge  Kritiker  ihn  für  frivol  gehalten  haben.  Der 
Doktor  Mauer,  der  als  der  anständigste  Mensch  durch  die 
Gesellschaft  des  Stückes  spaziert,  fällt  über  sie  das  Urteil. 
Er  hätte  nichts  einzuwenden  gegen  eine  Welt,  in  der  die 
Liebe  wirklich  nichts  anderes  wäre  als  ein  köstliches  Spiel. 
Aber  was  er  hier  sieht:  dieses  Ineinander  von  Zurückhaltung 
und  Frechheit,  von  feiger  Eifersucht  und  erlogenem  Gleich* 
mut,  von  rasender  Leidenschaft  und  leerer  Lust  —  das  findet 
er  trübselig  und  grauenhaft.  Ist  wirklich  zu  glauben,  daß 
Schnitzler  das  weniger  trübselig  und  grauenhaft  findet?  Es 
ist  eine  echte  Trauer  in  ihm  um  die  Männer  und  Frauen  seiner 
Zeit  und  dieser  Schicht.  Aber  er  hat  freilich  nicht  die  Natur, 
zornig  die  Augen  zu  rollen  und  Donnerworte  der  Empörung 
zu  ballen.  Er  will  schon  der  Sittenrichter  dieser  Generation 
sein.    Aber  nicht  mit  priesterlichen  Gebärden  und  im  Voll* 

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gefühl  der  eigenen  Unfehlbarkeit.  Er  züchtigt,  indem  er  dar* 
stellt:  mit  resignierendem  Verständnis  und  einer  wehmütigen 
Ironie,  deren  weltmännisch  gelassener  Ton  doch  wohl  nicht 
darüber  hinwegtäuschen  kann,  daß  eine  wahre  Herzensnot 
lange  gebraucht  hat,  um  sich  zu  ihm  abzuklären. 

Für  ungefähr  zehn  Seelen  ist  die  Liebe  im  Grunde  Qual, 
Problem  und  Schicksal.  Sie  liebeln,  ja,  weil  es  Frühling  oder 
Sommer  ist,  und  weil  es  Mondlicht  und  Wiesenduft,  Höhen* 
rausch  und  Einsamkeit  und  in  jeder  Jahreszeit  andere  Gelegen* 
heiten  gibt.  Die  Erotik  flicht  um  sie  ein  dünnes  und  doch  dichtes 
Netz  von  spinnwebzarten  Fäden,  die  zerrissen  und  wieder 
zusammengeknüpft  werden  und  immer  künstlich  verschlungen 
sind.  Sie  liebeln  dreist  und  zynisch  durcheinander.  „Das 
Klima  der  Begebenheit",  wie  vor  Poppenberg  schon  Tieck 
zu  sagen  pflegte,  hat  eine  leichte  Beigabe  von  Verwesungs* 
geruch.  Aber  alle  diese  Menschen  liebeln  doch  nur  neben* 
bei  und  zwischendurch,  neben  und  zwischen  der  großen  Liebe, 
an  der  oder  für  die  sie  verbluten.  Der  junge  Musiker  Kor* 
sakow  erschießt  sich,  weil  er  Frau  Genia  Hofreiter  nicht  be* 
sitzen  kann,  und  der  noch  jüngere  Fähnrich  Aigner  wird  er* 
schössen,  weil  er  sie  besessen  hat.  Dieses  Fähnrichs  Eltern 
sind  früh  auseinandergegangen,  weil  der  Mann  die  Frau  ein 
einziges  Mal  betrogen  hat,  und  beide  gestehen  nach  zwanzig 
Jahren,  daß  sie  keinen  und  keine  nachher  je  wieder  wirklich 
geliebt  haben.  Der  Bankier  Natter  weiß,  daß  ihn  seine  Adele 
jeden  Monat  mit  einem  anderen  betrügt,  und  liebt  sie  doch 
so  rettungslos,  daß  er  ein  Leben  ohne  sie  niemals  ertragen 
würde.  Der  Doktor  Mauer  bietet  Erna  Wahl  den  Frieden 
und  die  Sicherheit,  die  sie  nur  anzunehmen  brauchte,  um  den 
braven  Mann  vielleicht  für  immer  zu  beglücken,  und  es  ist 
möglich,  daß  er  nach  ihr  keine  mehr  begehren  wird.  Diese 
Erna  Wahl  liebt  Friedrich  Hofreiter,  der  sie  am  Wendepunkt 
seines  Daseins  von  sich  stößt.  Denn  er  hat  Erna  zwar  ge* 
nommen,  wie  so  viele  Frauen  und  Mädchen,  aber  ist  sich 
klar  darüber,  daß  er  doch  nur  Genia  liebt  —  Genia,  um  derent* 
willen  .  .  . 

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Zwischen  Genia  und  Friedrich  spielt  das  eigentliche  Drama. 
Wenn  es  beginnt,  ist  sie  ihm  unheimlich,  kann  er  ihr  beinah 
nicht  verzeihen,  daß  sie  um  eines  Schemens,  eines  Nichts, 
eines  Phantoms,  nämlich  um  ihrer  Tugend  willen  jenen  jungen 
Korsakow  hat  sterben  lassen.  Wenns  schließt,  hat  er,  in 
blinder  Wut  und  giftiger  Eifersucht  und  großer  Liebe,  den 
noch  viel  jüngeren  Aigner  totgeschossen,  den  sie  , erhört' 
hat  —  sei  es  aus  Erinnerung  an  den  Fall  Korsakow,  sei  es  aus 
Rache  für  die  Erna  Wahl,  sei  es  aus  simpler  Sehnsucht  nach 
der  Wärme  eines  unverbrauchten  und  naiven  Menschen. 
Zwischen  Anfang  und  Ende  sieht  man  wenig  Versuche  der 
beiden,  zu  einander  zu  kommen,  und  das  ist  nicht  nur  ein 
dramaturgischer  Einwand,  sondern  hat  wahrscheinlich  auch 
empfindliche  Gemüter  gegen  das  Ethos  der  Dichtung  ein* 
genommen.  Die  beiden  Menschen,  kann  man  sagen,  kämpfen 
nicht  genug,  um  so  leicht  unterliegen  zu  dürfen.  Für  mich 
ist  es  ausschließlich  ein  dramaturgischer  Einwand.  Denn 
ihre  Kämpfe  liegen  bei  Beginn  des  Stückes  hinter  ihnen. 
Sie  wissen  um  einander  Bescheid.  Sie  sagen,  daß  sie  nichts 
mehr  wünschen  und  nichts  mehr  hoffen,  und  tun  es  im  stillen 
doch.  Sie  kennen  ihre  Tragik:  zu  einander  zu  gehören,  aber 
einander  nicht  festhalten  zu  können.  Weil  sie  die  Reinheit 
dieses  Glücks  nicht  finden,  beschmutzen  sie  sich;  weil  man 
sie  ganz  nicht  haben  will,  zersplittern  sie  sich.  So  geht  es  Genia, 
so  geht  es  den  anderen.  Durch  das  Stück  dröhnt  nicht  pathetisch 
und  wimmert  nicht  sentimental,  sondern  spricht  bald  gefaßt 
und  mit  gütigem  Lächeln,  bald  hinter  Scherzen  verborgen  ein 
tiefer  Schmerz  über  die  Unsicherheit  aller  menschlichen  und 
gar  aller  erotischen  Beziehungen,  über  die  furchtbare  Einsam* 
keit  jeder  feineren  Seele  und  über  die  Aussichtslosigkeit  jedes 
Kampfes  gegen  diesen  traurigen  Zustand.  Von  vierzehn 
Menschen  sind  mindestens  elf  unglücklich  —  und  diejenigen, 
die  schlecht  und  recht  auf  der  goldenen  Mittelstraße  und  im 
Dutzend  geblieben  sind,  womöglich  noch  unglücklicher  als 
die  Libertiner  der  Phantasie  oder  des  Fleisches,  die  doch  ihre 
blauen  Jugendsehnsüchte  oder  ihre  höchst  erdhaften  Genüsse 

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gehabt  haben.    Drei  von  den  Vierzehn  sind  glücklich,  und 
das  sind  Trottel. 

Also  könnte  ,Das  weite  Land'  genau  so  gut  ,Der  einsame 
Weg*  heißen.  Manches  in  beiden  Dichtungen  stimmt  nicht 
bloß  wörtlich,  stimmt  erst  recht  nach  Stimmung  und  Umständen 
überein.  Wie  die  junge  Johanna  Wegrath  zu  dem  alternden 
Sala  bedingungslos  sagt:  „Ich  liebe  dich!",  so  sagt  bedingungs* 
los  zu  dem  alternden  Hofreiter  die  junge  Erna  Wahl:  „Ich 
liebe  dich!"  Aber  der  , Einsame  Weg',  der  den  Vorzug  hatte, 
früher  da  zu  sein,  war  auch  voller,  wog  auch  schwerer.  Ge# 
wiß,  Herr  Friedrich  Hofreiter  ist  durchaus  von  Stefan  von 
Salas  Geschlecht,  Um  die  Wende  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
hießen  beide  William  Lovell  und  Roquairol;  bei  Bourget 
heißen  sie  Dorsenne  und  Armand  de  Querne.  Diese  Menschen, 
so  grundverschieden  sie  im  einzelnen  sind,  waren  doch  samt 
und  sonders  nie  jung  und  von  jeher  skeptisch,  früh  friedlos 
und  schnell  leergebrannt;  hatten  immer  zu  viel  Wissen  und 
zu  wenig  Willen,  das  vielfältigste  Nervensystem  von  schmerz* 
lieber  Erregbarkeit  und  keinerlei  Unmittelbarkeit.  Ihre  Fähig* 
keit  zur  Selbstbeobachtung  verwehrt  ihnen  die  Hingabe 
an  den  Augenblick.  Jede  Empfindung  geht  ihnen  zuerst  ins 
Hirn,  wird  da  zersetzt  und  erreicht  selten  das  Herz.  Sie  sind 
unersättlich  neugierig  auf  sich  selbst,  fühlen  sich  fühlen  oder 
eben  nicht  fühlen  und  haben  eine  helle  Freude  an  ihrer  Un« 
greifbarkeit.  Die  Kühle  ihres  Naturells  schafft  allmählich 
einen  Abgrund  um  sie,  in  den  sie  am  Ende  versinken.  Sala 
versinkt,  und  Hofreiter  versinkt.  Aber  vorher  hat  Sala  eine 
ganz  andere  Existenz  gewonnen  als  Hofreiter,  dem  ich  entweder 
die  Glühlichterfabrikation  oder  seine  Differenziertheit  glaube. 
Es  handelt  sich  nicht  um  die  Branche:  da  geht  einfach  nicht 
alles  zusammen.  „Hineinschauen  in  mich  kannst  du  doch 
nicht  —  das  kann  keiner",  versichert  er  seiner  Frau.  Bis  auf 
den  Dichter,  versichern  wir  Schnitzlern,  der  es  leider  unterlassen 
hat.  Hofreiter  wird  für  jeden  undeutlich  bleiben,  der  nicht 
die  Erinnerung  an  jene  seine  Gefährten  zu  Hilfe  nimmt.  Wer 
die  nicht  kennt,  den  werden  mehr  die  mäßig  komplizierten 

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Menschen  bereichern,  die  hier  vor  ihm  entfahet  werden,  und 
er  wäre  berechtigt,  zu  erklären,  daß  es  ihm  nicht  darauf  an# 
kommt,  in  wie  tiefe  Menschen,  sondern  mit  wie  scharfen 
Bücken  ein  Dichter  in  Menschen  hineinsieht.  So  ist  an  Hof:= 
reiter  vielleicht  nur  ein  Zug  —  wie  er  lügt,  mit  wie  feinem 
Bewußtsein  er  lügt,  und  daß  er  sich  dabei  selbst  nicht  be* 
lügt  —  nur  dieser  eine  Zug  ist  vollkommen  geglückt.  Aber 
um  ihn  lebt  es.    Das  Theater  hat  Arbeit. 

Brahm  hat  der  Dichtung  das  Herz  herausgebrochen  und 
sie  zur  Entschädigung  in  ein  , prächtiges'  Gewand  gesteckt. 
Indessen  will  ich  den  richtigen  Schnitzler  lieber  zwischen 
Fetzen  als  den  verbrahmten  zwischen  echten  Hölzern  und  den 
bunten  Zaubern  eines  wienerischen  Gartens  hören.  Für  die 
Halle  eines  Dolomitenhotels  herrscht  auf  der  Bühne  ein  an# 
gemessen  reges,  für  Schnitzlers  Gesprächskomödie  ein  viel  zu 
reges  Leben,  da  es  von  ihr  ablenkt.  Gerade  im  Lessingtheater 
müßte  man  wissen,  daß  der  Schein  niemals  die  Wirklichkeit 
erreichen  soll,  oder  doch  nur  die  dichterische  Wirklichkeit. 
Die  aber  wird  nicht  erreicht.  Ein  Hauch  von  wienerisch 
süßer  Stimmung,  von  lächelnder  Sentimentalität  und  melan* 
cholischer  Heiterkeit  —  das  fehlt  und  noch  viel  mehr.  Von 
den  drei  wichtigen  Menschen  der  Komödie  —  Erna,  Friedrich, 
Genia  —  werden  zwei  ganz  unzulänglich  dargestellt.  Frau* 
lein  Herterich  als  Erna  Wahl  gibt  diesem  klugen  und  tapferen 
Geschöpf  zuerst  ein  Dauerlächeln,  zuletzt  eine  Schmerz* 
grimasse,  die  keine  Empfindung  verrät  und  keine  erweckt. 
Herr  Monnard  hat  weder  Geist  genug,  uns  Herrn  Hofreiter 
zu  erklären,  noch  Persönlichkeit  genug,  sich  selbst  als  einen 
deutlichen  Menschen  an  die  Stelle  einer  verschwimmenden 
Figur  zu  setzen.  Ihr  Ton  ist  leer,  sein  Ton  ist  subaltem,  und 
wenn  sie  von  ihrer  Liebe  sprechen,  so  hat  man  das  unbehag* 
liehe  Gefühl  einer  Unappetitlichkeit.  Die  Helferin  des  Dichters 
ist  die  Triesch.  Welche  Freude,  sie  nach  so  langer  Zeit  wieder* 
zusehen!  Sie  füllt  die  Bühne  mit  ihrer  rührenden  Gegenwart. 
Ihr  Schicksal  beklemmt  uns,  auch  wenn  sie  nicht  redet.  Sie 
ist,  als  diese  gequälte  Frau,  wahrhaft  von  Schmerz  umflossen. 

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In  ihren  Augen,  in  ihrer  Haltung,  in  den  müden  Abwehr* 
Bewegungen  und  im  Ringen  der  Hände  —  darin  Hegt  alles, 
was  Schnitzler  mit  seiner  Dichtung  hat  sagen  wollen:  daß 
wir  immer  allein  sind,  daß  es  keine  Verschmelzung  von  Seele 
und  Seele  gibt. 

DER  BETTLER  VON  SYRAKUS 

Da  Arratos,  des  Feldherrn  Clewing  Freund,  von  Pohl  ge# 
spielt  wird,  so  weiß  man  gleich,  daß  es  ein  falscher  Freund 
ist,  und  daß  die  Sache  eine  üble  Wendung  nehmen  muß.  Wir 
sind  in  einem  Felsenkessel,  steile  Berge  des  Hoftheatermalers 
Kautsky  dräuen,  Nachtlastetschwer,  und  der  gefangene  Kartha* 
ger  Kraußneck  zeigt  mit  einer  Fackel,  daß  Syrakus,  die  Heimat 
Pohls  und  Clewings,  fast  rettungslos  verloren  ist.  Die  Tod« 
bereitschaft  der  antiken  Militärs  trifft  Sudermann  mit  unge« 
schwächter  Stimmungswucht.  Der  rauhe  Hermann,  er,  dess' 
düstre  Waffen  .  .  .  hat  seine  furchtbaren  Gestalten  rings  be* 
schmiert  mit  grausamer  Heraldik.  Wer  zittert  nicht?  Herr 
SommerstorfF  erscheint.  In  halber  Bühnenhöhe  steht  er,  ein 
gemalter  Wütrich  —  der  Dämon  der  Vergessenheit]  —  vor  uns 
und  Clewing  da.  Wenn  dieser  damit  einverstanden  ist,  aus 
der  Erinnerung  der  Mit«  und  Nachwelt  ausgelöscht  zu  sein, 
so  wird  er  siegen.  Die  Tat  ist  alles,  nichts  der  Ruhm,  sagt 
unser  wahrhaft  wackerer  Clewing  mit  ein  bischen  anderen,  su« 
dermännischeren  Worten;  und  dieses  wundervolle  Vorspiel 
ist  zu  Ende.    Ich  hoffe,  daß  ichs  recht  verstanden  habe. 

Zehn  Jährchen  später.  Pohl  —  wer  hätt'  es  nicht  geahnt! 
—  ist  gleich  nach  Schluß  des  Vorspiels  der  Tyrann  von  Syra« 
kus  geworden  und  schickt  sich  an,  Regierungsjubiläum  zu 
begehen.  ,,Er  ist  schlechtweg  der  König  aus  dem  , Hamlet', 
mit  einem  Zuge  von  Franz  Moor",  entscheidet  weise  und  ge« 
recht  J.  Landau.  Zu  diesem  Rollenfach  gehört  es,  daß  die 
Strafe  dem  Verbrechen  zwar  nicht  auf  dem  Fuße,  aber  immer« 
hin  nach  einigen  Akten  folgt.  Also  keine  Bange :  der  fromme 
Clewing  wird  gerochen.    Er  bricht  zum  Jubiläum  seines  fal* 

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sehen  Freundes  aus  Karthagos  Kerker  aus,  und  zweierlei  sind 
wir  nicht  schlecht  gespannt  vom  Dichter  zu  erfahren:  wie 
Clewing  da  hineingekommen  ist,  wie  es  mit  jener  Schlacht 
und  dem  Verrat  im  Felsenkessel  eigentlich  war  —  und  was  nun 
weiter  werden  wird.  Ein  paar  verleumderische  Rezensenten 
haben  Sudermann  seit  jeher  dumm  genannt.  Das  ist  er  nicht. 
Ein  dummer  Autor  würde,  eins,  zwei,  drei,  die  nötige  Klar^ 
heit  schaffen  und  aus  vernünftigen  Voraussetzungen  die  ge* 
gebenen  Konsequenzen  ziehen.  Um  Neune,  spätestens,  war' 
alles  aus.  Dagegen  Sudermann!  Er  füllt  den  Abend.  Er 
stiftet  Wirrnisse,  hüllt  die  Vergangenheit  in  möglichst  dichte 
Schleier  und  zeigt  im  ersten  Akt  zunächst  nur,  daß  Herrn 
Clewings  Gattin  Rosa  Foppe  inzwischen  den  Tyrannen  Pohl 
geheuert  hat.  Der  Not  gehorchend.  Denn  ihrer  Seele  Haus, 
behauptet  sie,  hat  sie  mit  tausend  Schlüsseln  zugeschlossen. 
"Wird  sie's  jetzt  wieder  öffnen?  Nur  Helios  vermags  zu  sa* 
gen,  der  alles  Irdische  bescheint.  Und,  selbstverständlich. 
Sudermann.  Der  aber  findets  vorteilhafter,  unsere  Neugier 
ganz  gemächlich  zu  erhitzen.  Vorläufig  munkelt  man  nichts 
weiter,  als  daß  vor  Syrakusas  Tor  ein  blinder  Bettler  wunder* 
liehe  Reden  führt,  und  da  auf  dem  Theaterzettel  auch  dieser 
Bettler  Clewing  heißt,  so  liegt  es  für  uns  nahe  .  .  .  Beklom? 
menen  und  doch  freudigen  Gemütes  hören  wir  den  Vorhang 
fallen. 

Zweiter  Akt.  Der  rauhe  Hermann,  gleich  Hyrkaniens 
Leuen,  schickt  Kriegerhaufen  gegen  jenen  Bettler  aus.  Pohl, 
der  Tyrann,  bemüht  sich  selber.  Die  Luft  ist  dick  von  Un* 
heil.  Schlimm  stehts  um  Syrakus,  und  Clewings  Rolle  brauchte 
nur  von  einem  anderen  Autor  als  von  Sudermann  zu  sein: 
dann  wäre  jetzt  Gelegenheit,  Licht  in  die  Dunkelheit  des  ersten 
Zwischenakts  zu  bringen,  die  Stadt  zu  retten,  das  Haus  von 
Rosa  Poppes  Seele  wieder  aufzuschließen  und  uns  befriedigt 
zu  entlassen.  Clewing  müßte  reden,  müßte  ohne  Scheu  die 
Wahrheit  sagen.  Aber,  aber,  der  Kontrakt  mit  SommerstorflF, 
dem  Dämon  der  Vergessenheit!  Er  hat  Herrn  Clewing  ja  den 
Sieg  nur  unter  der  Bedingung  zugeschanzt,  daß  er  für  alle 

59 


Zeit  auf  Lohn  und  Ruhm  verzichte.  Doch  da  sich  Som* 
merstorfif,  zufolge  unserem  Zettel,  schon  nach  dem  Vorspiel 
abgeschminkt  hat,  vermutlich  also  den  Kontraktbruch  nicht 
bestrafen  würde,  so  könnte  Clewing  ihn  getrost  riskieren.  Er 
riskiert  ihn  nicht.  Teils  weil  ein  Bettler  keine  zwanzig  Pfennige 
für  den  Zettel  hat,  teils  weil  die  Würde  des  Tragödienhelden 
keine  Unanständigkeiten  zuläßt,  teils  weil  wir  erst  im  zweiten 
Akte  sind.  Es  wird  nichts  aufgeklärt.  Dafür  beginnt  ein  schelj= 
misch  Frag*  und  Antwortspiel,  das  weniger  unsere  Einsicht 
in  die  seltsamen  Veranstaltungen  dieses  Stückes  als  in  das  rät* 
seihafte  Leben  selber  fördert.  „Nun  ist  zwar  Arbeit  noch 
nicht  Heldentum,  doch  Heldentum  ist  Arbeit."  Möglich  aller* 
dings,  daß  dieser  Spruch  erst  später  fällt;  auch  möglich,  daß 
er  bereits  früher  einmal  fiel  —  wir  wollen  Sudermann  nicht 
Unrecht  tun. 

Der  dritte  Akt  führt  Clewing  ins  Tyrannenhaus  zu  seiner 
einstigen  Familie.  Gott,  was  wird  geschehen!  Es  geschieht 
nichts  als  ein  Akt,  der  wieder  eine  halbe  Stunde  frißt.  Drollig, 
denkt  man:  dieser  Blinde  ist,  natürlich,  blind,  und  doch  erkennt 
er  auf  der  Stelle  Frau  und  Sohn  und  Tochter;  diese  dreie 
aber  sehen  und  erkennen  Mann  und  Vater  nicht.  Was  muß 
der  Clewing  für  ein  treflFlicher  Versteller  sein]  (Und  ist  es  dabei 
gar  nicht.)  Unsere  Ungeduld  hat  fast  den  Siedepunkt  erreicht. 
Wir  sind  geschwollen  von  der  edlen  Wißbegier,  die  nicht 
mehr  fragt,  wie  diese  Tatbestände  ausgehen  werden,  sondern 
lediglich  auf  Sudermanns  Artistentum  gerichtet  ist.  Alle  Ach* 
tungl  UnserTausendkünstler  hat  drei  Akte'damit  vollgemacht, 
daß  er  die  unvermeidlichsten  Begebenheiten  mühevoll  ver* 
zögerte,  und  hat  sein  Publikum  doch  nicht  verloren.  Denn 
wenn  die  erste  Hälfte  jedes  Aktes  auch  von  Wilbrandt  her* 
zurühren  schien,  so  war  dafür  die  zweite  Hälfte  regelmäßig 
von  Philippi;  und  mehr  verlangt  kein  Publikum  der  Welt. 
^X^e  aber  wird  es  weitergehen?  Die  Lösung  kommt  dem 
Schlußakt  zu :  in  einem  vierten  Akt  muß  sie  noch  immer  auf* 
gehalten  werden.  Wie  wirds  der  Dichter  diesmal  machen? 
Es  ist  ja  alles  dagewesen:  Krieg  und  Frieden,  Treubruch  und 

60 


Verrat,  Gespensterei  und  helles  Tageslicht,  Heulen  und  Zähne* 
klappern,  Mut,  Stolz,  Kraft,  ein  unbezweifelbarer  Heroismus 
der  Entsagung,  Bettlerhumor  und  tragische  Gewitterdrohung, 
Enoch  Arden,  Belisar,  Das  dunkle  Tor,  Der  Meister  von 
Palmyra  und  ,Des  Feldherm  erster  Traum'  von  Siegfried 
Trebitsch.  Welche  Neuigkeit  wird  Sudermann  ersinnen? 

Wer  sich  bereits  bei  Landau  unterrichtet  hätte,  würde 
wissen,  daß  „wirs  mit  einem  Stück  zu  schaflFen  haben,  dessen 
Grundmotiv  an  Shakespeares  , Hamlet'  stark  erinnert",  und 
daraufhin  erwarten,  daß  der  vierte  Akt  die  bis  dahin  nicht 
eingetretene  Erinnerung  endlich  bringen  wird.  Doch  da  auch 
Landaus  Impressionen  erst  am  nächsten  Tag  erscheinen,  so 
ist  man  ganz  auf  Phantasie  und  Zettel  angewiesen.  Der  nun 
verzeichnet  neun  Hetären,  und  von  einem  Prinzen  hieß  es, 
daß  er  sich  in  Lüsten  wälzt:  also  werden  wir  wohl  eine  Orgie 
haben.  Hei,  gehts  da  hoftheatermäßig  schamlos  zu!  „Es  riecht 
nach  Weibern",  sagt  der  Schöpfer  der  Frau  Adah  selbst  im 
griechischen  Gewand.  Achte  sind  wahrscheinlich  recht  he« 
tärisch;  eine  aber  kokettiert  mit  ihrem  unverstandenen  Seel# 
chen.  Seht,  daß  auch  in  dieser  Schicht  nicht  nur  getändelt 
wird,  daß  sogar  hier  auf  Herzen  Schmerzen  reimen!  Mühelos 
füllt  man  mit  solchen  Mitteln  einen  halben  Akt,  Der  Rest  be« 
nötigt  einen  Knall  und  Krach.  Dazu  nun  wird  ein  großer  Topf 
herangezogen,  durch  den  Herrn  Kraußnecks  tückenreicher 
Kopf  in  Scherben  geht.  Dieweil  der  fünfte  Akt  in  Sicht  ist,  war 
es  höchste  Zeit,  energisch  gegen  das  Gesindel  einzuschreiten. 
Der  lasterhafte  Prinz  wird  v  plötzlich;l^Mann  und  Held  und 
dadurch  seines  Vaters  Clewing  würdig.  Erzittre,  feiger  Schurke 
Pohl! 

Das  Volk  steht  auf,  der  Sturm  bricht  los  und  ins  Tyrannen« 
haus.  „Ein  Anklang  an  die  , Räuber'",  sagt  J.  Landau.  Der 
rauhe  Hermann  ist  jetzt  rote  Farbe  von  Haupt  zu  Fuß,  Scheuß« 
lieh  geschminkt  mit  Blut  der  Väter,  Mütter,  Töchter,  Söhne 
von  Syrakus.  Zu  Pohl,  den  alle  diese  Schrecken  bleichen, 
dringt  die  Freudennachricht,  daß  Clewing  auf  dem  Wege 
zum  Palast  erstochen  worden  sei.    Die  Götter  leben  noch. 

61 


Die  Götter  leben  nicht  mehr.  Denn  Clewing  ist  nur  ange== 
stechen  worden.  Er  schleppt  sich  vor  den  Thron.  Er  reizt, 
soweit  man  folgen  kann,  ringsum  die  Mannen  und  die  Schran* 
zen  auf.  Er  redet  Dolche.  Wenn  Reden  töten  könnten,  war* 
Pohl  tot.  So  aber  muß  er  selbst  sein  Messer  zücken  und  seine 
eigene  hassenswerte  Existenz  beseitigen.  Leider,  leider  über* 
dauert  ihn  Herr  Clewing  nicht.  Bevor  er  eingeht,  ahnt  man,  wer 
er  ist.  Und  irgendeiner  weiß  sogar.  Aus  irgend  einem  Munde 
kommt  der  Vers :  ,,Dich,  der  die  Tat  getan,  hat  man  vergessen  I 
Sei  ohne  Groll:  es  geht  uns  allen  so!"  Uns  allen?  Der  rauhe 
Hermann  meint  damit  zunächst  sich  selbst;  allein  wie  jedem 
großen  Künstler  weitet  sich  auch  ihm  das  eigene  Schicksal 
zum  Symbol.  Er  ist  ja  zweifellos  vergessen.  Das  alte  Schwert 
gehorcht  nicht  mehr  dem  Arm.  Es  zischt  kaum  noch,  ge# 
schweige  daß  es  trifft.  Es  haut  daneben,  weil  der  Arm  ge* 
lähmt  ist.  Die  zweite  Hälfte  des  Symbols  stimmt  also  ohne 
weiteres.  Und  gar  die  erste  Hälfte  I  Hat  unser  Dichter  etwa 
keine  Tat  getan?  Von  Alma  Heinicke  bis  zu  Melide,  seinem 
Braunkind,  ist  dieses  Dasein  eine  einzige  Tat.  Schämt  euch, 
daß  ihr  nicht  dankbar  seid,  daß  ihr  den  Dichter  zwingt,  auf 
seine  alten  Tage  Elegien  anzustimmen,  sich  —  eine  andere  Art 
von  Deutobold  Symbolizetti  Allegoriowitsch  Mystifizinski 
—  bis  tief  in  die  Antike  zu  begeben,  um  seine  heißen  Schmerzen 
euern  kalten  Augen  zu  verbergen.  ,,Was  je  den  Menschen 
schwer  gefallen.  Eins  ist  das  Bitterste  von  allen:  Vermissen, 
was  schon  unser  war.  Den  Kranz  verlieren  aus  dem  Haar; 
Nachdem  man  sterbend  sich  gesehen.  Mit  seiner  eigenen  Leiche 
gehen."  Das  fühlte  Grillparzer,  das  fühlt  jetzt  Sudermann. 
Und  unsere  Tränen  fließen,  wie's  Bächlein  auf  den  Wiesen. 


FANNYS  ERSTES  STÜCK 

Fannys  erstes  Stück  möge  ihr  letztes  bleiben.  Shaw  täuscht 
vor,  vortäuschen  zu  wollen,  daß  eine  junge  Gräfin  eine 
dramatische  Übung  vor  ihrem  Vater  und  vier  Kritikern  auf* 
führen  läßt.  Leider  spielt  er  sich  zunächst  viel  zu  gut  in  seine 

62 


Rolle  hinein.  Zwei  Drittel  des  dreiaktigen  Stücks  könnten 
wirklich  von  jeder  beliebigen  Fanny  sein.  Im  ersten  Akt  stellt 
sich  heraus,  daß  der  Corsetfabrikantensohn  Bob  Gilbey  mit 
der  „Tochter  der  Freude"  Dora  Dellaney  die  Polizei  angeulkt 
hat,  und  daß  sie  dafür  je  vierzehn  Tage  Gefängnis  bekommen 
haben;  im  zweiten  Akt  stellt  sich  dasselbe  von  der  Corset* 
fabrikantentochter  Margarete  Knox  und  dem  Sohne  Franks» 
reichs  Leutnant  Duvallet  heraus.  Aus  der  Hartnäckigkeit, 
womit  hier  ein  lumpiger  Vorfall  gleich  vier  Personen  ange* 
dichtet  und  anderthalb  Stunden  breit  und  lang  getreten  wird, 
ist  zu  schließen,  daß  eine  Dilettantin  wie  Fanny  ihn  in  irgend* 
einer  Wirklichkeit  erlebt  hat,  und  daß  ein  Sozialreformer  wie 
Shaw  entschlossen  ist,  ihn  zum  Anlaß  einer  öffentlichen  An= 
klage  zu  nehmen.  In  tyrannos,  das  heißt:  wider  londoner 
Polizisten,  die  für  freiheits*  und  vergnügungsdurstiges  Jungs» 
volk  kein  Verständnis  haben.  Wenn  dieser  Kampf  uns  anginge, 
dürfte  er  allenfalls  mit  so  sprudelnder  Wortfülle  geführt 
werden.  Da  er  uns  nicht  angeht,  fällt  uns  Fräulein  Fannys 
Mangel  an  Esprit  doppelt  und  dreifach  auf  die  Nerven.  Dem 
Shaw  zum  Glück  nicht  minder.  Nach  diesen  beiden  Akten 
ist  er  des  trockenen  Tones  satt  und  wird  zwar  nicht  den 
Teufel  spielen,  aber  witzig  werden.  Nur  wird  ein  Witz  durch 
Wiederholungen  nicht  besser.  Nach  diesen  beiden  Akten 
schmeckt  uns  freilich  alles.  Nach  anderen  Akten  Shaws,  die 
wir  in  der  Erinnerung  haben,  überwältigt  es  nicht  weiter,  daß 
gegen  England  Bosheiten  ausgeheckt  werden;  daß  mancherlei 
auf  den  Kopf  gestellt  und  der  Philister  ein  bischen  verblüfft 
wird ;  daß  Bob  statt  Margareten  Dora  und  Margarete  weder 
Bob  noch  Leutnant  Duvallet,  sondern  den  Diener  Punch  heira* 
tet,  das  Muster  guter  Lebensart  —  weil  nämlich,  wie  urplötzlich 
offenbar  wird,  eines  Herzogs  Sohn.  Was  noch?  Die  Eins» 
rahmung.  Der  Einfall,  daß  vor  und  nach  diesem  leichten 
Spiel  für  ein  kleines  (und  für  unser  Kleines)  Theater  vier 
Kritiker  so  viel  Unsinn  schwatzen ,  wie  Tageskritiker  nicht 
bloß  in  London  tun.  Auch  das  ist  eine  Art,  eine  zweite  Art 
von  Verkleidung.    In  jedem  der  vier  Kritiker  steckt  Shaw, 

63 


der  aus  der  Vogelperspektive  auf  sich  heruntersieht  und  durch 
diese  selbstironische  Überlegenheit  beweist,  daß  seine  Produk* 
tion  in  eine  sterile  Periode  eingetreten  ist.  Möge  sie  bald 
wieder  aus  ihr  heraustreten! 


TURANDOT 

Es  war'  so  schön  gewesen!  Man  hätte  nichts  weiter  ge# 
braucht  als :  für  die  Vorstellung  eine  Turandot  und  für 
die  Generalprobe  einen  Polonius,  den  niemand  mit  seinem 
Barte  zum  Barbier  hätte  wünschen  dürfen,  wenn  ihm  ganze 
Scenen  zu  lang,  zu  lang  erschienen  wären  (also  eigentlich  keinen 
Polonius,  denn  dem  scheint  zu  lang,  was  gar  nicht  zu  lang 
ist).  Vollmoeller  ist  nicht  schuld.  Sein  Vorgänger  Schiller 
hat  von  der  Übersetzung,  die  er  vorfand,  das  Gefühl  gehabt, 
daß  ihre  „pedantische  Steifigkeit  überwunden  werden"  müsse. 
Aber  erst  Vollmoeller  ist  das  vollständig  gelungen.  Seine 
Übersetzung  ist  locker,  beweglich,  genügend  phantastisch 
und  rücksichtslos,  das  heißt;  voll  von  der  Gegenwart  unserer 
Sprache.  Es  ist  Vollmoellers  Hauptverdienst,  daß  er  das 
komische  Element  aus  dem  einschnürenden  Vers  zu  einer 
derben,  deftigen  Prosa  erlöst  hat,  deren  Witz  nur  da,  wo  sich 
das  Stegreiftalent  losgehender  Groteskkomiker  seiner  bemäch* 
tigt,  faekalisch  ausartet.  Sein  einziger  Fehler:  daß  er  sich  ge* 
scheut  hat,  diese  und  jene  Glanzstelle  von  Schiller  wörtlich 
zu  wiederholen.  „Ist  etwas  unübertrefflich  gut  gesagt,  so  muß 
man  Abstand  davon  nehmen,  es  übertreffen  zu  wollen;  Ent# 
lehnung  kann  Armut  sein,  aber  auch  feineres  Kunstverständ* 
nis."  Mit  Fontane  hätten  wir  also  Wert  daraufgelegt,  Schillers 
vielsagende  Rätsel  nicht  schwächlich  ersetzt  zu  finden;  oder 
gar  das  geflügelt  gewordene  Wort:  „Sieh  her  und  bleibe 
deiner  Sinne  Meister!"  durch  den  klang*  und  belanglosen 
Vers:  „Nun  schau  mir  ins  Gesicht  und  bleibe  fest!"  Aber 
weder  dadurch  noch  überhaupt  ist  Vollmoeller  schuld  ge* 
worden  an  der  langsam  versiechenden  Wirkung  dieses  höchst 
künstlerisch    beabsichtigten   Abends.    Eher   schon    Busoni. 

64 


Gewiß,  Gozzi  selbst  hat  viel  Musik  vorgeschrieben.  Busoni 
gibt  zu  viel  und,  vielleicht,  für  ein,  für  dieses  leichte  Spiel 
zu  schwere  Musik.  (Ich  beurteile  sie  hier  als  Theaterkritiker, 
nicht  als  Musiker.)  Sie  untermalt  nicht,  sondern  überpinselt. 
Sie  stimmt  nicht  immer  nur  für  .Turandot',  sondern  nimmt 
zum  Teil  für  sich  in  Beschlag.  Das  tut  Beethoven  im  ,Egmont', 
tut  Mendelssohn  im  , Sommernachtstraum'  auch?  Aber  gerade 
diese  Erinnerung  wird  Busoni  am  gefährlichsten.  Schließlich 
ist  seine  Instrumentation  —  das  sechzigköpfige  Orchester  hatte 
mir  gleich  einen  Schreck  eingejagt  —  fast  durchweg  zu  laut. 
Wenn  man  sich  in  der  vierten  Stunde  der  Aufführung  buch* 
stäblich  die  Stirn  trocknen  mußte,  weil  man  vor  dieser  un# 
erschöpflichen,  immer  neu  andrängenden  Fülle  der  Genüsse 
Angstzustände  bekam,  so  mag  Busoni  allerdings  mitschuldig 
sein. 

Die  Hauptschuld  trägt  Reinhardt.  Sein  Plan  ist  wunder* 
bar.  Aber  nicht  nur  sein  Plan.  Er  kann  ja  auch,  was  er  will. 
Er  baut  ein  Fabelland  mit  der  nicht  genug  zu  schätzenden 
Hilfe  seines  Ernst  Stern,  der  nie  geistvoller,  nie  phantasier 
reicher,  nie  farbentrunkener,  nie  prachtstrotzender  war  als  hier, 
und  der  doch  immer  graziös,  immer  schwerlos  bleibt.  Das 
Auge  sieht  sich  nicht  satt.  Ein  lustiges  Gewimmel  von  bun* 
tester  Lebendigkeit.  Lack,  Porzellan  und  Bambus,  Lampions, 
Vorhänge,  Gitterwerk.  Zierliche  Thrönchen,  Türmchen,  Fähn* 
chen.  Ein  Nicken,  Trippeln,  Wippen,  Hüftenwiegen.  Emaille* 
gesiebter,  Puppenfüßchen,  Fächer  und  Frisuren.  Zu  chine* 
sischen  Herrenmenschen  kontrastieren  japanische  Sklaven  mit 
gelberen  Gesichtern  und  zopflosen  Köpfen.  Die  Schauder* 
nisse  sind  skurril  gesänftigt,  die  Schlagetots  von  Knütteln 
Kinderspielzeug.  Man  köpft  zum  Spaß.  Uns  schrecken  nicht 
Samarkands  noch  andere  pappene  Häupter,  auf  Pekings 
Brücke  höchst  unblutig  aufgesteckt.  Dies  alles  will  nichts 
sein  als  Farbenrausch.  Orgien  in  mannigfachem  Grün,  in 
Lila,  Rosa,  Gold,  in  Kobaltblau,  Orangegelb  und  Iris* 
weiß.  Fabelhafte  Wesen,  Drachen,  Kraniche  und  mystisches 
Geflügel  jeder   Art,    Lilien,    Glyzinien    und   hingehauchte 

5  65 


Blüten  fremder  Gegenden  schlingen  sich  prunkvoll  und 
kunstvoll,  dräuend  oder  erheiternd,  durch  schwarze,  stumpf* 
rote  und  violette  Vorhänge,  die  einer  nach  dem  anderen  in 
die  Höhe  schweben,  wenn  im  Halbdunkel  Eunuchen  und 
Krieger,  Schranzen  und  Prinzen  mit  Papierlatemen,  Schwer* 
tern.  Schirmen,  Sänften  und  Baldachinen  daran  vorbeigezogen 
und  ^gegeistert  sind:  eine  Phantasmagorie  von  bezaubernd 
fremdartigem  Geschmack,  und  die  nicht  einmal  zu  lange 
dauert.  Noch  hunderterlei.  Vasen  wachsen  sich  zu  Türmen 
aus.  Hinter  Torbogen  huschen  zu  tupfenden  Tönen  die  Palast* 
Wächter  hin  und  her.  Durchblicke  gibts  auf  Berge  und  in 
Gassen,  hinauf  zu  Schlössern  und  in  einen  Tempel,  wo  Chinas 
Gottheit  wie  ein  Nilpferd  thront.  Beleuchtungskünste  trium* 
phieren.  Helligkeit  und  Dämmerung  und  Finsternis  und  ihre 
Zwischenstufen  wechseln.  Sterne  glitzern  über  die  Giebel 
und  Dächer  von  Häuschen,  die  teils  im  Schlafe  liegen,  teils 
durch  ihre  Fensterchen  ein  Scheinchen  auf  die  winzigen  Straßen 
senden.  Dort  und  allenthalben  ein  Gezirpe,  ein  Geklirre, 
ein  Gefunkel,  ein  Gegaukel  von  echt  komödischer  Unwirk* 
lichkeit.  Aus  alten  Märchen  winkt  es.  Köstlich.  Der  hal* 
bierte  Serail  dreht  sich,  bis  er  zum  ganzen,  großen,  säulen* 
getragenen  Diwan  wird.  Vergnügte  Kandelaber  aus  Papier 
und  Stäbchen  baumeln  vom  Plafond,  Sublim  bestickte  Kissen 
bieten  Sitzgelegenheit.  Zeremonien  werden  possenhaft  ent* 
feierlicht.  Eh  es  auf  Tod  und  Leben  geht,  wird  Tee  ge* 
trunken.  Des  Harems  Oberwächter  schlägt  den  Takt  dazu. 
Wenn  jetzt  so  etwas  wie  die  Glöckchenarie  des  Monostatos 
erklänge,  hätte  ein  Szenenkünstler,  wie  er  niemals  da  war, 
den  congenialen  Musiker  gefunden  —  ein  Szenenkünstler, 
dem  das  Buch  nur  noch  ein  Anlaß  und  ein  Vorwand  ist. 

Denn  dieses  hier  ist  nicht  von  Gozzi,  nicht  von  Schiller 
und  nicht  von  Vollmoeller.  Wir  kennen  —  von  ,Sumurün' 
und  ,Lysistrata'  her  —  die  Weise,  wir  kennen  den  Text,  wir 
kennen  auch  den  Verfasser.  Er  heißt  Max  Reinhardt  und 
hat  ein  unbestreitbares  Recht,  zwischen  der  Erneuerung  großer 
klassischer  Dramen  und  der  Entdeckung  zukunftsvoller  Dich* 

66 


ter  der  deutschen  Gegenwart  jezuweilen  phantastische  Spiele* 
reien  zu  ersinnen,  die  ganz  auf  sich  und  auf  ihn  gesteUt  sind. 
Nur  eine  Bedingung  hat  er  dabei  zu  erfüllen:  er  muß  solch 
einer  Spielerei  ihren  eigenen  Stil  geben.  Sie  muß  scherzhaft, 
menuetthaft  vorübertänzeln,  vorüberschweben,  vorüberhu* 
sehen  und  trotzdem  fugendicht  geschlossen  sein.  Sie  muß 
es  wagen,  auf  Seele  und  ähnlichen  Ballast  zu  pfeifen.  Ihre 
Seele  muß  in  den  Zehenspitzen  sitzen,  auf  denen  sie  über 
die  Bühne  flitzt.  Da  sind  es  denn  also  die  drei  entscheidenden 
Fehler  dieses  wahrhaft  entzückenden  Plans  einer  märchenhaft 
witzigen  Abendunterhaltung:  daß  Reinhardt  noch  nicht  den 
letzten  Mut  gehabt  hat,  seine  Vorlage  kurz  und  klein  zu 
schlagen  und  nur  ein  paar  passende  Enden  und  Szenen  als 
Material  zu  verv\'enden;  daß  er  von  den  beiden  Hauptfiguren, 
gegen  alle  Vernunft  und  alle  aesthetischen  Gesetze,  die  eine 
menschlich,  die  andere  automatenhaft  aufgefaßt  hat,  statt  sie, 
gerade  sie  auf  ein  und  denselben  Stil  zu  bringen;  und  daß 
er  schließlich  die  Aufführung  während  der  Proben  hat  Fett 
ansetzen,  daß  er  sie  über  die  Bühne  nicht  hat  springen,  sondern 
schleichen  lassen. 

Vor  ,Turandot'  hätte  er  wirklich  keinen  Respekt  zu  haben 
brauchen.  Er  ist  doch  sonst  nicht  so.  Ein  drolliger  Wider* 
Spruch:  dem  Aischylos  drei  Viertel  seiner  unentbehrlichen 
Chorlyrik  zu  streichen,  und  dem  Gozzi  keine  seiner  entbehr* 
liehen  Episoden  anzutasten,  ja  diese  noch  zu  vermehren.  Bei 
Schiller,  der  die  Clownerien  vernachlässigt  hat,  wäre  es  eine 
Verbesserung  und  Verstärkung,  dem  allerersten  Auftritt  einen 
rüpelhaften  Auftakt  voraufzuschicken:  für  Reinhardts  Steg« 
reif  komödie,  in  deren  Verlauf  die  Harlekine  von  ihrer  Rede* 
freiheit  einen  so  ausschweifenden  Gebrauch  machen,  ist  ge* 
nau  dasselbe  eine  Verzögerung  und  Verschleppung,  also  eine 
Abschwächung.  Weiterhin  tritt  schon  bei  Gozzi  eine  drama* 
turgisch  sündhafte  Stockung  ein.  Er  hat  selber  gewußt,  wie 
schwer  es  sei,  aus  drei  Rätseln  zwei  volle  Akte  zu  gewinnen; 
aber  wie  viel  schwerer  erst,  aus  der  simpeln  Aufgabe  des 
Prinzen   Kalaf,   zwei   Namen   zu   erraten,   noch   drei  Akte. 

5»  67 


Immerhin  hat  er  damit  sein  PubUkum  nur  „drei  Stunden  lang" 
im  Theater  festhalten  wollen.  Reinhardt  sind  jene  Schwierig* 
keiten  keineswegs  groß  genug.  Er  traut  sich  fast  vier  Stunden 
zu  und  plustert  die  letzten  drei  Akte,  die  irgendwie  zu  drei 
Szenchen  zusammengehauen  werden  müßten,  selbständig  auf. 
Diese  Maßlosigkeit  ist  ein  altes  Laster  von  ihm.  Er  sollte 
doch  künftig  zu  seinen  Generalproben  ein  paar  Kenner  laden, 
denen  nicht  die  Teilnahme  an  den  Proben  die  notwendige 
Distanz  zu  seiner  Arbeit  vermindert  hat. 

Die  hätten  ihn  auch  darauf  hingewiesen,  wie  grundfalsch 
es  ist,  dieTurandot  von  der  Eysoldt  parodistisch  und  den  Kalaf 
von  Moissi  ernst  nehmen  zu  lassen.  Entweder  kümmert  man 
sich  als  selbstherrlicher  Regisseur  um  die  Absicht  des  ur* 
sprünglichen  Stücks  überhaupt  nicht  mehr  und  macht  sich 
über  Kalafs  Werbung  und  Turandots  Weigerung  lustig:  dann 
hätte  man  die  Auffassung  der  Eysoldt  durchsetzen  müssen. 
Selbst  dann  freilich  .  .  .  Im  Bezirk  der  Kunst  gibt  es  keine 
Pflichten  der  Galanterie.  Nach  der  Karikatur  der  Penthesi* 
lea  hätte  man  die  Eysoldt  nicht  wieder  mit  einer  Rolle  bebürden 
dürfen,  die  jeden  wahrheitsliebenden  Kritiker  zwingt,  einer 
so  außerordentlichen  Künstlerin  Unfreundlichkeiten  ins  Ge# 
sieht  zu  sagen,  weil  es  eben  nicht  das  Gesicht  dieser  Gestalt 
ist.  Aber  noch  ärger:  von  der  Penthesilea,  die  für  die  Eysoldt 
nicht  zu  bewältigen  war,  aber  durchaus,  mit  Anspannung 
aller  Kräfte  und  Mittel  bewältigt  werden  sollte  —  davon  hat 
sie  einen  verzerrten  Ton,  eine  Künstlichkeit  und  Affektiert* 
heit  zurückbehalten,  die  ihreTurandot  auch  innerlich  zerstört 
haben.  Einer  von  den  vier  Clowns  mag  die  Prinzessin  ,,eine 
hysterische  Bachstelze"  nennen:  sobald  wir  ihm  das  von  ihr 
nachsagen,  ist  die  Figur  aufs  lächerlichste  verfehlt.  Wenn 
der  Prinz  Kalaf  schon  nicht  von  ihrer  Schönheit  berückt  sein 
kann,  so  müßte  er  es  wenigstens  von  ihrer  Anmut,  Beseelt* 
heit  und  Geistigkeit  werden.  Früher  wären  der  Eysoldt  diese 
Eigenschaften  mühelos  erreichbar  gewesen.  Jetzt  piepst  sie 
in  einer  forciert  hohen  Stimmlage  Turandots  Männerfeind* 
Schaft  wie  ein  unerzogener,  gräulich  gezierter  Backfisch  aus 

68 


sich  heraus  und  geht,  diese  ehemals  denkende  Schauspielerin, 
sogar  so  weit,  in  einem  Monolog  wie  ein  ungewöhnlich  blödes 
Kälbchen  zu  nöhlen  und  sich  zu  haben.  Das  alles  war  um 
so  empfindlicher,  als  die  ,übrigen  Akteurs  uns  die  reinste 
Freude  machten. 

Moissis  Kalaf  war  ein  einziger  Glanz:  ein  exotisch  braun 
angestrichener  Prinz  mit  blitzenden  Zähnen,  schön,  adlig, 
feurig  und  T^lühend  jung.  Als  er  zuerst  Turandots  Medail»» 
lonbild,  dann  sie  selbst  erblickte,  gab  er  mimische  Meister« 
stücke,  wie  sie  in  dieser  Vollendung  vielleicht  immer  nur 
einem  romanischen  Schauspieler  gelingen  werden.  Man  sah 
hier  und  überall,  daß  es  ihm  ganz  ernst  um  die  Durchführung 
eines  Seelenprozesses  zu  tun  war.  Sein  Kalaf  brennt  lichter« 
loh,  schreit  nicht  zum  Spaß  „Tod  oder  Turandotl",  ist  völlig 
an  ein  tiefes,  ungemeines,  unentrinnbares  Erlebnis  hingegeben. 
Diesen  Kalaf  vor  Augen,  hätte  Reinhardt  im  Text  ent# 
decken  müssen,  daß  ja  auch  Turandot  nicht  unbeteiligt 
bleibt,  daß  ihr  von  Selbstbehauptungsdrang  und  weibchen« 
haftem  Unterwerfungstrieb  genügend  heftig  zugesetzt  wird, 
und  daß  sie  schließlich  selig  ist,  in  diesem  Kampf  um  ein 
vermeintes  freies  Menschentum  zu  unterliegen.  Immerhin  soll 
jeder  Regisseur  sich  nach  Belieben  zu  Herrn  Moissi  oder  zu 
Frau  Eysoldt  schlagen  dürfen.  Hier  wird  eine  menschliche 
Komödie,  dort  wird  ein  verwegener  Schwank  entstehen,  und 
beides  kann  auf  seine  Weise  wertvoll  sein.  Aber  es  bleibt 
eine  Barbarei,  des  einen  wegen  auf  das  andere  nicht  verzichten 
zu  wollen.  Dabei  war  die  Wahl  schon  darum  nicht  schwer, 
weil  durch  eine  seriös  gemeinte  Turandot  das  Spiel  ein  Ge« 
wicht  bekommen  hätte,  das  ihm  jetzt  bitter  fehlt. 

Wo  im  übrigen  ein  Stilmischmasch  sichtbar  wurde,  war 
er  beabsichtigt  und  richtig  beabsichtigt.  Die  Eibenschütz, 
die,  im  Gegensatz  zu  Turandot,  dumm  scheinen  muß,  gelangte 
zu  einem  beängstigenden  Grade  von  Echtheit.  Fräulein  Kurz 
verrenkte  sich  zu  parodistischen  Posen,  und  Herr  Kühne 
lieferte  besonders  stillvergnügt  einen  Bramarbas  der  ältesten 
Schule.    Pagay  half  durch  seine  würdige  Erscheinung,  Herr 

69 


Danegger  durch  seine  sicher  reifende  Sprechkunst.  Diegel* 
mann  als  Kaiser  konnte  E.  T.  A.  Hoffmanns  Beschreibung 
einer  itaUenischen  Aufführung  der  ,Turandot'  gelesen  haben: 
so  erstaunlich  traf  er  die  Mitte  zwischen  Ernsthaftigkeit  und 
Scherzhaftigkeit,  zwischen  Schauspiel  und  Operette,  zwischen 
SonnenthalsVerwandtschaft  und  Sonnenthal*Persiflage.  Es 
war  wirklich  eine  rührende  Lächerlichkeit  um  ihn:  in  seinem 
furchtsam*zärtlichen  Verhältnis  zur  Tochter,  in  seinem  patri# 
archalisch#vertrauten  und  immer  wieder  vergeblich  um  Würde 
bemühten  Verhältnis  zu  Kanzlerchen  und  Privatsekretär.  Er 
schlug  damit  die  Brücke  von  den  getragenen  Teilen  des  Stücks 
zu  den  possenhaften,  in  denen  die  vier  Harlekine  Arnold, 
Biensfeldt,  Tiedtke  und  Waßmann  schwelgerisch  und,  jeder 
auf  seine  Art,  unendlich  komisch  einherwatschelten,  wackelten, 
hüpften,  stotterten  und  falsettierten.  Ob  im  einzelnen  der 
eine  hier,  der  andere  dort  übertrieb,  war,  bei  der  Originalität 
und  Saftigkeit  dieser  Künstler,  vollkommen  gleichgültig  (so* 
weit  sie  es  nur  als  Schauspieler,  nicht  auch  als  Dichterkom* 
pagnons  taten). 

Aber  gar  nicht  gleichgültig  war  es,  noch  einmal,  wie 
sehr  Reinhardt  im  ganzen  übertrieben  hatte.  Diese  Über* 
treibungen  sind  so  gefährlich.  Sie  geben  mir  Zeit,  mich  zu  lang* 
weilen,  und  die  Langeweile  gibt  mir  die  Möglichkeit,  über 
diese  Richtung  von  Reinhardts  Tätigkeit  nachzudenken.  Was 
will  er?  Er  will  Drama,  Schauspielkunst,  Malerei  und  Musik 
zu  einer  höheren  Einheit,  zu  einem  neuen  Gesamtkunstwerk 
verbinden.  Schön  und  gut.  Aber  ich  bin  auch  ein  Gesamt* 
kunstwerk.  Ich  habe  nicht  nur  die  Augen,  denen  Reinhardt 
eine  Weide  liefert,  sondern  ich  habe  auch  eine  Art  Herz  und 
sozusagen  ein  Gehirn,  die  hier  leer  ausgehen.  Darum  wäre 
Reinhardts  ,Turandot'  als  hurtiges  Intermezzo  ein  erlesenes 
kleines  Kunstwerk  geworden.  Durch  den  ungeheueren  Auf* 
wand  hat  es  gelitten.  Es  ist,  als  würde  ein  einfacher  Ländler 
von  drei  Wagnerorchestern  auf  einmal  gespielt.  Zu  dieser 
Instrumentierung  gehört  ein  anderer  Inhalt,  ein  anderes  Stück, 
ein  anderer  Dichter.    Der  maßlose  Reinhardt  hat  die  Wahl: 

70 


entweder  doch  allmählicii  maßhalten  zu  lernen  oder  für 
seine  verschwenderischen  Kräfte  andere  Gegenstände  als  solch 
eine  .Turandot'  zu  suchen.  Ich  empfehle  ihm  immer  wieder: 
Wallenstein,  Tasso,  Egmont,  Emilia  Galotti,  Julius  Caesar, 
Macbeth,  den  Sturm,  Heinrich  den  Vierten,  Richard  den 
Zweiten  und  den  Dritten.  Wo  nichts  ist,  hat  schließlich  selbst 
Reinhardt  sein  Recht  nur  dann  nicht  verloren,  wenn  er  aus 
diesem  Nichts  nicht  allzuviel  machen  will. 


PAUL  APEL 

Das  ist  ein  wohlschmeckender  Autor.  Auch  über  ihn  muß 
man  die  Hand  halten,  wie  man  sie  über  Korfiz  Holm 
halten  mußte.  Denn  hier  kommt  ein  erfreulicher  Schlag  auf: 
Humoristen  eines  nicht  großen,  aber  ebensowenig  zu  kleinen 
Formats,  die  ohne  ranziges  Seelenschmalz  und  ohne  das  Ge* 
grinse  eines  feuilletonistischen  Esprits  auf  einfache  und  rein* 
liehe  Weise  zu  unterhalten  suchen  und  zu  unterhalten  vers» 
stehen.  Die  Blumenthal  und  Kadelburg  haben  vorläufig  keine 
rechten  Erben.  Wäre  es  da  nicht  nett,  wenn  die  nächste  Gene* 
ration  der  deutschen  Bourgeoisie  ihre  Abende  bei  wertvolleren 
Spaßmachern  zubringen  könnte  als  die  Eltern  und  Kinder 
der  letzten  Jahrzehnte?  Würde  davon  mit  der  Zeit  nicht  irgend 
etwas  auch  in  die  Tage,  in  den  Ton,  in  die  Lebensführung 
dieser  Bourgeoisie  übergehen?  In  Schnitzlers  wundervollem 
,Weiten  Land'  fällt  einer  Frau  auf,  wie  sehr  sich  seit  ihrer 
Jugend  die  Welt  verändert  hat,  wie  viel  leichtfertiger  der 
Nachwuchs  in  seiner  Lebensauffassung  geworden  ist.  Das 
gilt  für  Oesterreich.  Nicht  auch  für  Deutschland?  Es  ist  keine 
Überschätzung,  für  diese  Entwicklung  die  Wirksamkeit  unserer 
Literatur*  und  Bühnen*Amüseure  von  Lindau  bis  zu  Julius 
Freund  mitverantwortlich  zu  machen.  Wer  eine  Sittengeschichte 
der  jüngsten  Vergangenheit  mit  den  Gründerjahren  anfinge, 
müßte  diesen  Zusammenhängen  mit  besonderer  Aufmerksam* 
keit  nachgehen. 

In   einem  solchen   Kapitel  wäre  also   Paul  Apel  schon 

71 


wieder  als  Lichtblick  und  Hoffnungsstrahl  zu  bezeichnen. 
Ich  sehe  seinen  Erstling  noch  vor  mir,  der  vor  vierthalb  Jahren 
im  Hebbeltheater  uns  allen  Freude  bereitete.  Der  Schauspieler 
Richard  Leopold  war  da  ein  lächerlich  rührender  Kandidat 
der  Philosophie,  der  mitsamt  einem  noch  jüngeren  Kollegen 
von  der  musikalischen  Fakultät  drei  Akte  lang  ein  „reines 
Weib"  anbetete  und  durch  keine  Enttäuschung  von  der 
Lüderlichkeit  der  Dame  zu  überzeugen  war.  Diesem  Kon* 
trastzustand  der  Verblendung  hatte  Apel  alle  Komik  ab;» 
gewonnen.  Sie  wurde  zum  Humor  durch  die  Innigkeit  und 
Unberührtheit  der  zwei  großen  Kinder  und  durch  die  Zart* 
lichkeit,  mit  der  ihr  Schöpfer  sie  umhegte.  Er  wußte,  daß 
Peters  und  Hänschens  Schlemihltum  sich  mit  der  mitleids* 
losen  Realität  des  Daseins  und  der  Gemeinheit  der  Mit* 
menschen  niemals  abfinden  würde.  Aber  wenn  er  sie  dieser 
Gemeinheit  immer  wieder  gegenüberstellte,  in  einer  einzigen, 
nur  notdürftig  variierten  Situation,  so  war  es  fast,  als  wünschte 
er  sich  im  stillen,  sie  dadurch  doch  für  diesen  harten  Lebens* 
kämpf  zu  stählen.  Es  zeugte  von  der  Stärke  seiner  Emp* 
findung  und  von  der  Lebendigkeit  seiner  Anschauung,  daß 
uns  die  ewige  Wiederholung  der  einen  einzigen  Situation 
nicht  im  geringsten  langweilte.  Durch  den  berlinischen  Dialekt, 
eine  entschlossene  Milieuschilderung  und  einen  handfesten 
Witz  wurde  sie  immer  wieder  höchst  lebhaft  und  ergötzlich 
aufgemuntert.  Der  Knabe  Peter  bekräftigte  uns  an  einer  Stelle 
sein  Philosophentum,  indem  er  Kant  zitierte.  Kant  hat  ein 
ander  Mal  den  Schlaf,  die  Hoffnung  und  das  Lachen  die  Wohl* 
taten  des  Lebens  genannt.  Der  Autor  der  Komödie  , Liebe' 
machte  uns  oft  und  herzlich  lachen  und  durfte  darum  schon 
damals  zu  denen  gezählt  werden,  die  im  kleinen  der  Mensch* 
heit  Wohltaten  erweisen. 

,Hans  Sonnenstößers  Höllenfahrt',  das  ,heitere  Traumspiel', 
wird  Abel  sein  Anrecht  auf  diesen  Titel  nicht  schmälern. 
Ein  wirklich  lobenswert  lustiges  Volksstück,  dessen  erziehe* 
rische  Tendenz  aus  Grillparzers  ,Traum  ein  Leben'  vertraut 
ist.  Der  Dichter  Apel  schickt  einem  anderen,  jungen  und  un* 

72 


bemittelten  Dichter,  dessen  Seelenheil  ihm,  in  selten  anzu* 
treffender  Kollegialität,  am  Herzen  liegt,  einen  schweren  Traum, 
zeigt  ihm  darin,  wie  grauenvoll  die  geplante  Ehe  mit  einer 
reichen  Spießbürgerpute  ausfallen  würde,  und  reinigt  dadurch 
Herrn  Hans  Sonnenstößer  so  gründlich  von  seinem  schlechten 
und  gefährlichen  Gelüst,  daß  dieser  sich  mit  dem  ersten  Blick 
aus  wachen  Augen  einer  armen,  aber  sauber  gekleideten  Else 
zuwendet.  Zwei  Szenen,  die  Anlaß  und  Folge  des  Traumes 
schildern,  umrahmen  die  drei  Szenen  des  Traumes  selbst. 
Apel  ist  ein  ordentlicher  Mensch:  er  läßt  seinen  Hans  nicht 
nur  ausschließlich  von  Dingen  träumen,  die  irgendwie  in  der 
ersten  Szene  vorkommen,  sondern  er  läßt  auch  keinen  Vor* 
fall,  keine  Person,  keine  Wendung  dieser  ersten  Szene  für 
den  Traum  ungenutzt.  Weil  Sonnenstößer  sich  mit  dem  holden 
Leichtsinn  und  dem  ganzen  Mut  seiner  Jugend  danach  sehnt, 
endlich  einmal  den  ,Ring  des  Nibelungen'  zu  hören,  klingelt 
es  in  seiner  ehelichen  Traumwohnung  nach  Wagnerschen 
Motiven.  Das  ist  nur  ein  Beispiel.  Dieses  System  wird  streng 
durchgeführt.  So  restlos  arbeitet  wohl  kein  Traum  die  Wirk* 
lichkeit  auf.  Aber  Apel  hat  eben  Bühnenkenntnis  genug, 
um  zu  allererst  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  anzustreben. 
Auch  wo  er  die  Unlogik  des  Traumes  gibt,  ist  er  von  muster* 
hafter  Logik.  Er  verliert  in  allem  blitzschnellen  Hin  und 
Her  niemals  den  Faden,  trotzdem  gerade  das  ja  zur  Glaub* 
haftigkeit  des  Traumes  beitragen  würde.  Die  Hauptsache 
für  uns  ist,  daß  er  durch  seine  sorgfältige  Disposition  nicht 
gehindert  wird,  von  dem  dankbaren  Thema  eine  Fülle  von 
Schrullen  und  Bizarrerien  in  sich  entfesseln  zu  lassen.  Aus 
Fetzen  der  Wirklichkeit  macht  der  Traum  Fratzen,  die  ins 
Reich  einer  künstlerischen  Phantasie  langen.  Tante  Pauline 
etwa,  die  den  Schreckensgehalt  des  ganzen  Familienlebens 
mühelos  in  sich  allein  vereinigt,  schwillt  immer  entsetzlicher 
an,  bis  sie  der  verkörperte  Albdruck  wird.  Apel  geht  der 
Atem  nicht  aus.  Er  findet  hier  und  anderswo  Steigerungen, 
die  das  Theaterglück  des  Stückes  machen  werden.  Uns  wieder 
besticht  am  meisten,  wie  sich  in  den  drei  Traumszenen  Hans 

73 


Sonnenstößers  Gestalt  abrundet.  Er  ist  und  wird  keineswegs 
kompliziert,  dieser  deutsche  Dichter.  Aber  was  an  und  in 
ihm  ist,  das  reißt  Apel  schließlich  ebenso  sinnfällig  wie  launig 
zusammen.  Wenn  Sonnenstößer,  der  sich  von  seiner  kleinen 
Spießerin  nicht  anders  als  durch  ihre  Ermordung  befreien 
konnte,  in  der  spukhaft  verdüsterten  Gerichtsverhandlung 
unter  der  Stehlampe  sitzt,  rauchend  und  lachend,  den  Papagei 
auf  der  Schulter,  ein  bißchen  neugierig  auf  das  Urteil  und 
dabei  doch  seelenruhig  seine  Eindrücke  von  dieser  grotesken 
Begebenheit  niederschreibend:  so  ist  das  wie  von  einem  Jean 
Paul,  der  in  der  Zeit  Thomas  Theodor  Heines  gelebt  hätte. 
Nach  dieser  Szene  wäre  von  Paul  Apel  auch  einmal  ein  Wurf 
zu  erwarten  und  zu  verlangen,  der  seine  charmanten  Unter* 
haltungsstücke  nachträglich  im  Wert  erheblich  sinken  lassen 
würde.  Vorläufig  aber  haben  wir  alle  Ursache,  ihm  für  beide 
dankbar  zu  sein. 

Das  Neue  Schauspielhaus  hat  sich  um  das  Traumspiel 
mannigfach  verdient  gemacht.  In  erster  Linie  hat  es  ihm  den 
Musikhumoristen  Friedrich  Bermann  geliefert,  dessen  Or= 
ehester  die  Ehe  von  Künstlertum  und  Biederwelt  durch  eine 
Verquickung  von  Wagner  und  Victor  Hollaender  aufs  ver* 
gnüglichste  illustriert.  Der  Regisseur  hatte  die  Stimmung  der 
zweiten  und  dritten  Traumszene  so  vollständig  getroffen,  daß 
man  nicht  versteht,  warum  er  in  der  ersten  Szene  die  Traum* 
haftigkeit  der  Vorgänge  nicht  wenigstens  angedeutet  hat. 
Auf  der  Seite  der  Pfahlbürger  exzellierte  Herr  Paschen  als 
ein  rüder  Familiensohn  und  namentlich  Frau  Valetti,  die 
immer  zügellos  übertreibt,  hier  aber  gerade  durch  die  äußerste 
Drastik  eine  Tante  wurde,  wie  sie  in  keinem  Familienbuch 
und  deshalb  eben  in  Apels  Traumbuch  steht.  Als  Sonnen* 
Stößers  Freund  vom  Theater  schritt  Herr  Ziegel  umgürtet 
mit  der  ganzen  Würde  eines  Oberregisseurs  durch  das  Stück. 
Zu  der  armen  Else  dagegen  paßte  der  Hauch  von  Getragen* 
heit,  den  Erika  von  Wagner  entweder  der  Figur  gab  oder  an 
sich  hat,  viel  weniger  gut.  Immerhin  hätte  ein  schönheits* 
durstiges  Auge  wie  Hans  Sonnenstößers  sie  schon  vor  dem 

74 


Traum  allen  anderen  Frauenzimmern  vorziehen  müssen.  Herr 
Salfner  war,  nach  manchen  Fehlschlägen,  hier  wieder  einmal 
der  liebenswürdig  herzliche  Naturbursch,  als  der  er  uns  so 
sympathisch  geworden  ist.  Salfner  und  Sonnenstößer  sind 
Brüder;  aber  Sonnenstößer  ist  geistiger.  Auch  Sonnenstößer 
und  Apel  sind  Brüder ;  aber  Apel  ist  erst  recht  geistiger.  Es 
wäre  schade,  wenn  seine  Geistigkeit  für  den  Philister  so  be* 
schämend  fühlbar  würde,  daß  dieses  geschmackvolle  und 
innerlich  fröhliche  Stück  nicht  zu  den  hundert  Aufführungen 
käme,  die  ihm  zu  wünschen  sind. 


SCHAUSPIELERIN 

Das  ist  ein  schlechtes,  zum  größten  Teil  ungekonntes 
Stück.  Trotzdem  erregt  es.  Von  der  Bühne  herab  und 
erst  recht  aus  dem  Buch  heraus  hat  mich  wenigstens  ein 
Hauch  getroffen,  den  ich  bei  viel  wegsichereren  Versuchen 
nicht  verspürt  habe,  und  den  ich  schwerlich  für  jedes  unan# 
fechtbar  runde  Drama  hergeben  würde.  Was  ist  es?  Man 
verdächtigt  sich  zunächst  selber,  daß  man  die  tiefe  Dankbar* 
keit  für  den  alten  Romandichter  Heinrich  Mann  ein  bißchen 
auch  auf  den  jungen  Dramatiker  ausdehne.  Aber  der  Fall 
ist  verwickelter.  Möglich,  daß  man  sein  Herz,  daß  man  so* 
gar  sein  artistisches  Interesse  den  Krämpfen  und  Kämpfen 
entziehen  kann,  die  sich  in  und  unter  den  Figuren  der  Ko* 
mödie  oder  Tragödie  abspielen;  unmöglich,  ohne  Anteil  auf 
einen  Dichter  zu  blicken,  dem  die  saftige  Ernte  seines  Fei* 
des  nicht  mehr  genügt,  weil  sie  ihm  zu  leicht  zuwächst,  und 
der  auszieht,  einen  neuen,  steinigen  Boden  zu  erobern,  zu 
entsteinen,  anzubauen,  ertragreich  zu  machen.  Muß  man  ihn 
nicht  ermutigen?  Es  ist  gerade  bei  dieser  Gelegenheit  zu 
billig,  den  Schöpfer  des  , Professor  Unrat'  andächtig  zu  ver* 
ehren.  Seien  wir  lieber  gelinde  und  streichelnd  gegen  den 
dramatischen  Anfänger.  , Schauspielerin'  hat  ganz  den  Duft  der 
Unreife,  den  kargen  Reiz  einer  Übergangsform:  nicht  mehr 
Knospe  und  noch  nicht  Blüte,  geschweige  denn  Frucht.   Ein 

75 


embryonales  Zwittergewächs  von  einer  schwermütigen  Blässe 
und  einem  schwachen,  halb  bitteren,  halb  süßen  Geschmack. 
Kosten  wir  [dankbar  auch  ihn  aus  und  lassen  wir  Heinrich 
Mann  nicht  einmal  das  entgelten,  daß  er  weit  weniger  be# 
scheiden  ist  als  wir  und  mit  seinem  ersten  größeren  Drama 
gleich  eine  neue  Gattung  Dramatik  heraufgeführt  zu  haben 
glaubt. 

Was  wäre  das  für  eine  Gattung?  Mann  sagt,  daß  es  jetzt 
nötig,  obzwar  nicht  eben  bequem  sei,  die  vorgeschrittenen 
Seelen  dieser  Zeit  dramatisch  zu  gestalten:  ihren  schwan* 
kenden  Willen,  ihre  Doppelrassigkeit,  die  Klarsichtigkeit 
ihres  Gefühls.  Ja,  was  um  Himmels  willen  hat  Ibsen  in 
seinem  ziemlich  ,zielbewußten'  Leben  anderes  getan?  Was 
tut  Schnitzler  seit  zwanzig  Jahren  anderes?  Daß  aber  dem 
zeitlichen  Abstand  zwischen  diesen  beiden  und  Heinrich 
Mann  nicht  eine  fortschreitende  Komplizierung  der  mensch* 
Hchen  Seele  entspricht,  ist  nebenbei  vielleicht  auch  daraus 
zu  schließen,  daß  es  bei  Kleist  und  Hebbel  psychische  Ver^j 
kettungen,  Windungen,  Zwischenstufen  und  Lichtbrechung 
gen  gibt,  gegen  die  alle  späteren  Subjekte  und  Objekte  einer 
dramatischen  Analyse  grob  anmuten.  Nein,  Manns  Absicht 
ist  wahrhaftig  alt.  Immerhin  könnten  seine  Mittel  neu  sein. 
Dazu  gesteht  er,  daß  er  seine  neue  innere  Welt  (von  der 
wir  also  wissen,  daß  sie  längst  entdeckt  ist)  durch  starke  alte 
Situationen  sichtbar  machen  wolle.  Aber  wieder  muß  man 
ihn  darüber  belehren,  daß  nicht  er  dieses  Mittel  gefunden 
hat.  Bei  Ibsen  scheint  die  sogenannte  Handlung  nicht  sei* 
ten  einem  Kolportageroman  entnommen,  und  Schnitzler  hat 
im  , Ruf  des  Lebens'  wie  im  ,  Weiten  Land'  plump  theatralische 
Zusammenstöße  mit  solcher  Ungeniertheit  verwendet,  daß 
er  von  den  Goldmanns  mit  Sudermann  verwechselt  worden  ist. 
Darüber  ist  selbstverständlich  nicht  zu  reden.  Hier  ist  im 
Augenblick  auch  nur  wichtig,  wodurch  sich  Heinrich  Mann, 
der  im  Zuge  der  Ibsen  und  Schnitzler  steht,  von  ihnen  unter* 
scheidet,  unterscheiden  muß,  da  er  ja  ihre  Wirkung  nicht  ent* 
fernt  erreicht. 

76 


Der  Unterschied  ist  der,  daß  sie  den  Sardou,  den  sie  irgend* 
wie  gebrauchten,  zu  verhüllen  verstanden,  und  daß  er  das 
noch  nicht  versteht.  Bei  ihm  sieht  sich  das  Mittel  zum 
Zweck  wie  Selbstzweck  an,  oder  richtiger:  es  hört  sich  so  an. 
Denn  wenn  bei  Schnitzler  Leidenschaften  gekeucht,  geflüstert, 
zwischen  den  Zähnen  hervorgepreßt  werden;  wenn  Gift 
herumgereicht,  ein  Dolch  gezückt  und  ein  Revolver  ge*  und 
entladen  wird;  wenn  der  Liebhaber  hinter  einem  Vorhang 
hervor  und  der  Gatte  durchs  Fenster  springt:  dann  ist  freilich 
die  Geste  genau  so  von  Sardou  wie  bei  Mann.  Darin  hat 
dieser  Recht.  Aber  —  aber  die  Rede  ist  von  Schnitzler!  Bei 
Mann  ist  auch  die  Rede  häufig  von  Sardou  (und  manchmal 
sogar  von  Sudermann).  Ich  meine  nicht  etwa,  daß  die  Schau* 
Spieler,  die  im  Stück  vorkommen,  zögern  sollten,  in  die  ge* 
schwollene  Sprache  ihres  Metiers  zu  verfallen :  da  es  das  Thema 
des  Stückes  verlangt,  daß  ihre  Gefühle  sich  immer  wieder 
übersteigern,  so  ist  dieser  gekräuselte  Ausdruck  ihr  natür* 
lieber  Ausdruck.  Aber  gegen  den  Komödianten  soll  der 
Bürger  in  jeder  Hinsicht  kontrastiert  werden,  und  in  dieser 
Schicht  ist  es  allerdings  nicht  möglich,  daß  der  Geliebte  die 
Geliebte  „Unglückliche!"  und  den  Nebenbuhler  ,, Unglück* 
lieber  I"  anredet.  Von  solchen  Wendungen,  die  leider  meistens 
länger  geraten  sind,  ist  der  Dialog  voll.  Dazwischen  stehen 
Sätze,  so  blitzend  prägnant,  daß  sie  jedem  Roman  von  Hein* 
rieh  Mann  zur  Zierde  gereichen  würden.  Einem  Roman! 
Sie  fassen  mit  unübertrefflicher  Schärfe  weite  psychologische 
Entwicklungen  zusammen,  von  denen  gewöhnlich  nur  gerade 
der  nichts  weiß,  in  dem  sie  sich  vollzogen  haben.  x\ber  selbst 
wenn  Mensehen  über  die  Klarsiehtigkeit  des  Gefühls  verfügen, 
die  dieser  freigebige  Dichter  ihnen  verleiht,  selbst  dann  ist 
es  selten,  daß  sie  ihr  Gefühl  so  schrankenlos  aussprechen, 
und  nahezu  undenkbar,  daß  sie  es  so  druckreif  aussprechen. 
Das  müßte  denn  der  Stil  des  ganzen  Werkes  sein!  Zum 
Glück  führt  mindestens  ein  Drittel  die  einfache  Sprache  des 
Lebens,  die  zugleich  die  Sprache  des  Dramas  ist,  und  daraus 
geht  für  mich  hervor,  daß  Mann  sie  durchweg  angestrebt  hat. 

11 


Vorläufig  also  ist  er  noch  rechts  in  die  Theatralik,  links  in 
die  Romanhaftigkeit  geglitten.  Davon  hätte  von  Haus  aus 
nicht  viel  Aufhebens  gemacht  zu  werden  brauchen.  Ein 
Dichter  dieses  Ranges  dürfte  selbst  für  eine  Arbeit  seines 
eigentlichen  Gebiets  verlangen,  daß  man  sich  weniger  mit 
ihren  hoffnungslosen  als  mit  ihren  hoffnungsvollen  Partien 
befaßt.  Aber  der  Wahn  von  der  neuen  Gattung  mußte  ein 
für  alle  Mal  zerstört  werden.  Erst  jetzt  wird  zu  sagen  sein, 
was  Heinrich  Mann  mit  diesem  Produkt  einer  alten  Gattung 
gewollt  hat. 

Nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  zu  zeigen:  wie  die 
Halbheit  der  Geringen  alle  Großen  zur  Lüge  um  ihrer  höchst 
sten  Wahrheit  willen  herabzwingt,  wie  in  dieser  Welt  tapfere 
Seelen  die  Wahrheit  ihrer  Persönlichkeit  mit  Lügen  ihrer  Lippen 
erkaufen  müssen.  Die  siegreiche  Schauspielerin  Leonie  Hallst 
mann  steht  gegen  die  Durchschnittsmenschheit,  die  ihr  Glanz 
und  ihre  Entrücktheit  lockt,  und  bei  der  wieder  sie  Frieden, 
Wärme  und  Sicherheit  zu  finden  hofft.  Aber  diese  Sphären  sind 
unvereinbar.  Das  wird  mit  schmerzhaftester  Folgerichtigkeit 
dargetan.  Da  es  Leonies  Beruf  ist,  mit  Gefühlen  zu  spielen, 
die  sie  nicht  hat,  so  werden  ihr  im  entscheidenden  Moment 
die  Gefühle  nicht  geglaubt,  die  sie  hat,  oder  gar  nur  dann 
geglaubt,  wenn  sie  auch  diese  spielt.  Daran  geht  sie  zugrunde, 
vielfach  zerspalten,  wie  sie  sich  empfindet.  Sie  wird  hin*  und 
hergerissen  zwischen  Harry  Seiler  und  Robert  Fork,  zwischen 
ihrem  Menschentum  und  ihrem  Künstlertum,  zwischen  Selbst* 
bewunderung  und  Selbstverachtung  und  noch  zwischen  der 
Wollust  und  der  Qual  ihrer  Zerspaltenheit.  Sie  braucht  beide 
Männer  um  ihrer  Gegensätzlichkeit  willen :  sie  braucht  Harrys 
Feinheitund  Roberts  Brutalität;  siebraucht  Reinheit  und  Laster* 
haftigkeit,  anbetendes  Sklaventum  und  befehlendes  Herren* 
tum;  sie  braucht  den  Typus,  auf  den  sie  ,fliegt',  und  den  Typus, 
der  erst  lange  um  sie  werben  muß;  sie  braucht  lodernde 
Flammen  und  ein  stilles  Herdfeuer.  Sie  belügt  keinen,  und 
nicht  einmal  sich  selbst,  wenn  sie  fast  mit  den  gleichen  Worten 
jedem  von  beiden  gesteht,  daß  sie  im  ganzen  Leben  niemand 

78 


weiter  als  ihn  geliebt  habe.  Aber  sie  ermattet  sich  zwischen 
beiden  zu  Tode,  weil  der  grenzenlosen  Aufrichtigkeit  des 
Künstlers  nicht  das  Vertrauen  der  Bürger  zu  dieser  Aufrich* 
tigkeit  entspricht.  Sie  entgleiten  und  schwanken.  Sie  sind 
entweder  zu  weich  oder  zu  kalt.  Sie  wissen  nicht,  daß  proble* 
matisch  organisierte  Menschen,  wie  diese  Leonie,  nur  die 
Umwege  zum  Ziel  führen.  Sie  selber  gehen  den  kurzen  und 
geraden  Weg  von  Impulsen  zu  Worten  und  von  Worten  zu 
Taten,  und  gehen  irre,  weil  die  Impulse  schwach,  die  Worte 
zahm  und  die  Taten  klein  sind.  Es  ist  eine  fast  zu  grelle  Ironie, 
die  Heinrich  Mann  zum  Schluß  gegen  die  Bürger  kehrt,  wenn 
er  Robert  Forks  Frau  es  der  toten  Leonie  zum  Vorwurf  machen 
läßt:  nur  sich  gekannt,  nur  gespielt,  sich  sogar  ihren  Tod 
gespielt  und  nicht  daran  gedacht  zu  haben,  daß  sie,  Herr  und 
Frau  Fork  und  Herr  Harry  Seiler,  „fühlende  Menschen"  sind. 
Es  ist  eine  überdeutliche  Erklärung  der  dichterischen  Ab* 
sichten,  die  obendrein  zu  spät  kommt.  Der  Dramatiker  Hein* 
rieh  Mann  hat  eben  vorläufig  noch  zu  selten  die  Fähigkeit, 
die  unberechenbaren  Plötzlichkeiten  temperamentvoll  han* 
delnder  Menschen  anders  als  durch  Knalleffekte,  die  jäh  auf* 
flutenden  Stimmungen  differenzierter  Seelen  anders  als  durch 
direkte  Formulierungen  auszudrücken.  Die  Personen  eines 
guten  Dramas  haben  Selbstverrat  zu  treiben  und  nicht  vom 
Autor  verraten  zu  werden.  Daß  der  Verfasser  der  , Schau* 
Spielerin',  an  Handwerkszeug  und  Arbeitsmethode  des  Epikers 
gewöhnt,  nicht  durchweg  kann,  was  er  soll,  scheint  mir  ent* 
schuldbar.  Es  ist  ja  viel,  daß  ers  doch  schon  zu  einem  Drit* 
tel  kann. 

Das  Theater  in  der  Königgrätzerstraße  hat  sich  mit  der 
Tatsache  der  Aufführung  ein  größeres  Verdienst  erworben 
als  mit  der  Art  der  Aufführung.  Es  schmälert  von  vornherein 
den  Kredit  eines  Stückes,  wenn  man  es  am  Montag  und  für 
eine  einzige  Sondervorstellung  ansetzt,  und  es  erhöht  nicht 
die  Verständlichkeit  eines  ausgesprochen  geistigen  Werkes, 
wenn  man  einzelne  Rollen  lieblos  oder  geradezu  sinnwidrig 
besetzt.  Auch  ein  unbegabterer  Regisseur  als  Herr  Bernauer 

79 


würde  sich  einen  Kommerzienrat,  eine  Rivalin  der  gefeierten 
Leonie  Hallmann  und  gar  einen  Dämoniker  anders  vorstellen, 
als  sie  uns  hier  gezeigt  wurden.  Wie  viel  mehr  hätte  für  die 
äußere  Irrwischhaftigkeit  der  Komödiantenpartei,  für  die 
äußere  Solidität  der  Bürgerpartei  geschehen  können!  Manch* 
mal  legt  Heinrich  Mann  die  Nerven  seiner  Menschen  bloß, 
als  ob  er  sie  auf  dem  Seziertisch  hätte.  Dann  fröstelt  es 
uns.  In  diesen  Fällen  hätte  jeder  Darsteller  seine  Rolle  be* 
sonders  eindringlich,  besonders  drastisch  »verkörpern'  müs* 
sen.  Was  der  Dichter  gewollt  hat,  wurde  ganz  greifbar  nur 
in  dem  leis  philisterhaften  Harry  Seiler  des  Herrn  Lindner 
und  in  der  wundervoll  zerquälten,  kultiviertshysterischen 
und  auch  wieder  einfach  rührenden  Leonie  der  Frau  Durieux. 


NATHAN  DER  WEISE 

Iessing  hat  es  zwar  nur  vom  Schauspieler  ausdrücklich  ver# 
klangt,  daß  er  für  den  Dichter  denken  solle,  wo  diesem 
etwas  Menschliches  passiert  sei.  Aber  es  ist  ja  selbstverständlich, 
daß  das  auch,  daß  es  zu  allererst  für  den  Regisseur  gilt. 
Wofür  ein  denkender  Regisseur  bei  , Nathan  dem  Weisen' 
zu  sorgen  hat,  liegt  klar  auf  der  Hand.  Das  ist  ein  Mittel* 
ding  zwischen  Oper  und  Abhandlung.  Zu  allzu  gutartig 
arrangierten  Vorgängen  wird  eine  Wortmusik  gemacht,  die 
ein  bißchen  holpert  und  trotzdem  zur  unbestochenen  Nächsten* 
liebe  genau  so  unwiderstehlich  aufreizt  wie  die  Marseillaise 
zur  Revolution.  Ohne  Zweifel:  hier  ist  ,, Charakter  und  Geist 
und  der  edelsten  Menschheit  Bild".  Aber  ist  das  wirklich 
,, alles"?  Fehlt  es  den  Personen  oder  doch  einigen  nicht  an 
Körper?  Nicht  an  Blut?  Ist  also  das  Bild  nicht  vielleicht 
bloß  gezeichnet,  statt  gemalt?  Wenn  Hollaender  die  abstrakte, 
die  lehrhafte  Natur  des  Gedichts  möglichst  getreu  treffen 
wollte,  so  ist  gegen  seine  Inszenierung  wenig  zu  sagen.  Nur: 
daß  es  dann  mit  einer  Vorlesung  auch  getan  wäre.  Sobald 
man  überhaupt  Dekorationen  anfertigen  läßt  und  Schau* 
Spieler  zusammentrommelt,  sollte  etwas  mehr  erstrebt  und  er* 

80 


zielt  werden.  Hier  riecht  es  nach  Kalk.  Der  reiche  Nathan, 
der  ja  wohl  in  Jerusalem  seßhaft  sein  wird,  hat  kaum  eine 
so  uneingewohnte  ärmliche  Diele;  und  Saladin,  mag  er  sich 
sein  Schloß  auch  erst  eben  erobert  haben,  hat  sicherlich  von 
jeher  Luxusbedürfnis  genug  gehabt,  um  sich  gleich  ein  paar 
Teppiche  an  die  kahlen  Wände  seines  allzu  engen  Zimmers 
zu  hängen.  In  dieser  Unbehaglichkeit  müßte  es  der  Atmo* 
Sphäre  von  „heiterer  Naivität",  die  uns  der  red*  und  schreib* 
selige  Regisseur  als  Grundmotiv  der  Darstellung  zugesichert 
hat,  unter  allen  Umständen  schwer  fallen,  zu  entstehen  und 
sich  mitzuteilen.  Hier  soll  sie  herbeigezwungen  werden  und 
wird  gerade  dadurch  weggescheucht.  Nur  von  außen  her 
sind  allerlei  humoristische  Lichterchen  aufgesetzt.  Das  steht 
nicht  im  gemessenen  Abstand  von  Deklamatoren  bei  einander, 
sondern  rückt  familiär  und  liebevoll  zusammen  und  betont 
diese  Neuerung  nachdrücklich.  Das  hockt  sich  mit  unter* 
einandergeschlagenen  Beinen  hin  und  macht  dazu  verschmitzte 
Gesichter.  Das  schickt  sich  an,  Kindertänze  aufzuführen  und 
auf  die  Palmen  zu  klettern.  Das  gestikuliert  und  tollt  umher 
und  zerreißt  sich  und  erreicht,  daß  wir  langsam  schwermütig 
werden.  Hätte  Hollaender  jemals  eine  gute  Aufführung  dieses 
Stückes  gesehen,  so  würde  er  sich  zwar  nicht  einbilden,  daß 
er  jenen  Ton  von  heiterer  Naivität  „gegen  die  Tradition"  an* 
geschlagen  habe;  wohl  aber  würde  er  wissen,  wie  dieser  Ton 
auf  der  Bühne  zum  Klingen  zu  bringen  ist.  Es  ist  nur  nötig, 
daß  neun  herzhafte  Schauspieler  halbwegs  das  Maß  für  Les* 
sings  Figuren  und  dazu  die  Fähigkeit  haben,  seinen  ziemlich 
unsterblichen  Text  gläubig  zu  durchfühlen  und  kraftvoll,  schön 
und  menschlich  zu  sprechen.    Nur  .  .  . 

Familie  Saladin  ist  ganz  unmöglich.  Man  dürfte  nicht  dar* 
an  erinnern,  mit  welcher  inneren  Anmut  früher  Maximilian 
Ludwig  und  die  Poppe  die  Geschwister  und  ihr  freund* 
schaftliches  Verhältnis  dargestellt  haben,  wenn  Hollaender 
für  diese  Rollen  nicht  die  Herren  Moissi  und  Winterstein, 
die  Damen  Dietrich  und  Heims  zur  Auswahl  gehabt  hätte. 
Was  ist  ein  Saladin,  der  nicht  eine  selbstverständliche  Über* 

6  81 


legenheit  über  den  Tempelherrn  hat?  Eine  Sittah,  deren  Alt* 
jüngferHchkeit  nicht  durch  Esprit  gemildert  ist?  Leider  sind 
das  erst  zwei  von  den  sechs  Gestalten,  die  ausfallen.  Der 
Patriarch  ist  für  uns  belustigend,  für  Nathan  beunruhigend: 
Herr  Tiedtke  aber,  ein  sonst  so  zuverlässiger  Charakteristiker, 
wirkt  weder  gefährlich  noch  komisch.  Auch  auf  die  Dame 
Daja,  über  die  jeder  von  uns  schon  herzlich  gelacht  hat,  müssen 
wir  verzichten :  Frau  Kupfer  macht  sie  mit  einem  nichtssagenden 
Dauergrinsen  ab.  Die  volkstümlichsten  Typen  sind  plötzlich 
lederne  Gesellen  geworden  —  woher  um  Himmels  willen  soll 
die  heitere  Naivität  da  kommen?  Zierig  und  dalbrig  ist 
Camilla  Eibenschütz  darum  bemüht.  Zum  Schluß  wird  end* 
lieh  der  ersehnte  Eindruck  —  heiterer?  der  heitersten  Naivität 
erzielt.  Recha  heißt  plötzlich  —  wie?  Blanda  von  Filneck. 
Wir  alle  glaubten:  Kiewe  Cohnreich.  Man  kann  sich  denken, 
wie  vortrefflich  Bruder  Kayßler  zu  der  Schwester  paßt.  An 
sich  betrachtet,  ist  Herr  Kayßler  nahezu  ein  idealer  TempeU 
herr.  Zwar  hat  er  nicht  einen  orientalischen  Vater  und  eine 
deutsche  Mutter,  sondern  ein  kerndeutsches  Elternpaar  ge* 
habt;  zwar  ist  seiner  Zärtlichkeit  zu  Recha  eine  Dosis  Süß* 
lichkeit  beigemischt  (durch  die  sich  dieser  Schauspieler  ge* 
wohnlich  davor  schützt,  gar  zu  barsch  zu  werden) ;  zwar  weiß 
man  nicht,  woraufhin  Nathan  behauptet,  daß  Wolf  sich  so 
die  Brauen  mit  der  Hand  gestrichen  habe,  da  er  den  Tempel« 
herrn  ja  nur  in  unserer  Gegenwart  gesprochen  und  dieser 
sich  kein  einziges  Mal  die  Brauen  mit  der  Hand  gestrichen 
hat.  Aber  im  Grunde  erhöht  es  noch  das  Verdienst  des  Herrn 
Kayßler,  daß  er  sich  so  ehrwürdiger  Charakterisierungsmittel 
entschlagen  und  seinem  Ritter  trotzdem  die  leibhaftigste  Rea* 
lität  geben  kann.  Er  hat  die  rauhe  Tugend  und  den  guten 
trotzigen  Blick,  er  ist  der  plumpe  Schwabe  und  der  deutsche 
Bär.  An  diesem  Theaterabend  ist  eine  größere  Freude  als 
die:  Herrn  Kayßler  poltern,  lachen  und  einherstampfen  zu 
hören,  höchstens  die:  ihn  das  alles  neben  Fagays  Klosterbruder 
tun  zu  sehen.  Wir  kennen  diese  tröstliche  Menschenoffen* 
barung  seit  Jahren;  aber  sie  ist  nicht  schwächer  geworden. 

82 


Dabei  fehlt  dem  alten  Pagay  bekanntlich  das  wichtigste  schau* 
spielerische  Mittel:  das  Organ.  Mit  seiner  bis  zur  Tonlosig* 
keit  eingerosteten  Stimme  muß  er  die  Worte  aus  einer  hohlen 
Brust  heraus  mehr  stoßen  als  sprechen.  Wie  er  trotzdem 
moduliert  und  schattiert,  weil  die  lebhaften  Äuglein  mit  der 
behenden  Mannigfaltigkeit  des  Ausdrucks  das  Manko  er* 
setzen:  das  ist  nur  erstaunlich;  wie  aber  diese  Äuglein  dem 
treuen  Gesichte  einen  Zug  frommer  Milde  aufprägen:  das 
ist  wunderschön.  Von  Kayßler  und  Pagay  und  gar  von  ihnen 
gemeinsam  wurde  das  programmatisch  verkündete  Ziel  der 
Aufführung  mühelos  erreicht.  Wenn  also  die  Schauspieler 
ihre  Natur  nicht  ohne  weiteres  daraufzutreibt,  so  wirds  kein 
noch  so  witziger  Regisseur  erjagen.  Auf  seine  neue  Auffassung 
des  Derwisch  hat  sich  Hollaender  wahrscheinlich  viel  zugute 
getan.  Wegener  unterschied  den  Derwisch  von  allen  früheren 
Derwischen,  nur  leider  auch  von  allen  seinen  früheren  Ge* 
staltungen.  Er  hätte,  so  wie  er  ist,  ein  herrlicher  Derwisch 
sein  müssen  —  erdig,  sonnig,  stürmisch:  er  war  ein  entsetz* 
lieber  —  clownhaft,  gewaltsam,  eunuchisch.  Besonders  sein 
Falsett  ging  auf  die  Nerven.  Gab  es  bei  den  Proben  kein 
einziges  musikalisches  Ohr,  das  empfand,  wie  nötig  es  ge* 
wesen  wäre,  gegen  Bassermanns  ungleichmäßiges  Organ  ein 
schweres,  volles,  ausladendes  Organ,  wie  eben  Wegeners,  zu 
setzen,  und  wie  sinnlos  es  ist,  diesem  Organ  ohne  jede  Not 
grelle,  spitze,  quiekende  Fisteltöne  abzuzwingen?  Mag  sein, 
daß  man  im  Deutschen  Theater  gar  nicht  merken  würde,  was 
einem  in  den  Kammerspielen  ganze  Szenen  verdirbt. 

Auch  Bassermann  schien  bald  durch  den  Raum,  bald  durch 
die  Trockenheit  und  Glanzlosigkeit  der  meisten  Partner  be* 
engt  zu  sein.  Er  tastete,  traute  sich  manchmal  nicht  recht 
aus  sich  heraus  und  wurde  kaum  mehr  als  ein  halber  Nathan. 
Vornehmlich  darum,  weil  er  für  sein  Teil  die  konfessionellen 
Verschiebungen  der  Aufführung  mitmachte.  Er  hieß  gar  nicht 
Nathan,  sondern  etwa  Friedrich  Christian  Wilhelm.  Für  mich 
wenigstens  gewann  der  Mann  keine  Existenz.  Er  war  nie 
mit  Kamelen  durch  die  Wüste  gezogen,  hatte  nie  kostbare 

6*  83 


Stoffe  eingekauft  und  wurde  zu  Saladin  wirklich  nur  gerufen, 
um  eine  Parabel  musterhaft  zu  zergUedern  und  machtvoll  zu 
steigern.  Seine  Hände  waren  rein  von  Geld.  Es  ist  ein 
Dilemma.  „So  ganz  Stockjude  sein  zu  wollen,  geht  schon 
nicht";  denn  Nathan  ist  Freigeist  und  Kosmopolit.  Es  ist 
der  Fall  der  meisten  jüdischen  Darsteller,  die  selten  imstande 
sind,  sich  über  ihre  Nationalität  emporzuschwingen.  „Doch 
ganz  und  gar  kein  Jude,  geht  noch  minder."  Das  ist  Basser* 
manns  Fall,  dessen  schauspielerische  Meisterschaft  ich  an  vielen 
Stellen  bewundere,  dem  die  Liebenswürdigkeit  aus  den  Augen 
strahlt,  der  die  Noblesse  eines  Grandseigneurs  hat  und  die 
Gutmütigkeit,  vielleicht  die  Güte  selber  ist.  Aber  ich  werde 
nicht  warm.  Was  mir  fehlt,  sind  die  Merkzeichen,  die  Blut* 
körperchen,  die  Imponderabilien,  die  Nerven  und  die  Striemen 
meines  Stammes.  Es  ist  ein  Nathan  für  Christen.  HoUaender 
hat  sich  begeistert  zu  ihm  bekannt. 

DER  ROSENKAVALIER 

Jetzt  haben  auch  wir  ihn  und  können  froh  und  dankbar 
sein.  Das  Entzücken,  in  dem  man  aus  der  dresdener  General* 
probe  lief,  hat  sich  zum  zweiten  Mal  eingestellt.  Das  spricht 
für  das  Werk,  das  nicht  auf  den  Reiz  der  Überraschung  an; 
gewiesen  ist;  aber  es  spricht  nicht  minder  für  die  berliner 
Aufführung,  die  selbst  die  mürrischsten  Gesellen  unter  den 
Musikkritikern  zu  Straußens  Oper  bekehrt  hat  und  mir  zum 
ersten  Mal  einen  Lobgesang  auf  den  Grafen  Hülsen  entlocken 
wird.  Es  war  ein  Sieg,  dem  sogar  die  letzte  Bestätigung  nicht 
fehlt:  der  Geifer  Oscar  Blumenthals,  der  auf  die  Welt  ge* 
kommen  ist,  um  Kunstwerke  als  solche  kenntlich  zu  machen. 
Das  Leben  ist  ein  Labyrinth,  der  Künste  sind  viele  und  ihre 
Erzeugnisse  bunt  und  trügerisch.  Man  wüßte  nicht,  wie  man 
sich  zurechtfinden,  wie  man  Kunst  und  Kitsch  unterscheiden 
sollte,  wenn  eben  nicht  der  Dichter  des  .Weißen  Rößls'  wäre. 
Wo  er  hinschimpft:  da  kniet  nieder  und  betet  an. 

Im  Anfang  war  das  Wort.  Hofmannsthal  hat  als  freiwillig 

84 


dienender  Künstler  und  nicht  als  beauftragter  Librettist  eine 
.Komödie  für  Musik'  geschrieben.  Stil  und  Ton,  Inhalt  und 
Kolorit  stellen  diese  Komödie  ungefähr  zwischen  den  ,Aben* 
teurer  und  die  Sängerin'  und  ,Cristinas  Heimreise',  deren 
Bedeutung  sie  gar  nicht  erreichen  will.  Der  Zusatz:  ,für 
Musik'  kündigt  schon  an,  daß  auf  die  Würden  einer  selb* 
ständigen  Dichtung  verzichtet  wird.  Diese  Entsagungsfähig* 
keit,  von  der  nicht  gut  anzunehmen  ist,  daß  Impotenz  sie  er* 
zwungen  hat,  sollte  Nachahmung  finden.  Unsere  Opern* 
literatur  könnte  aufblühen.  Es  fehlt  uns  nicht  an  begabten 
Opernkomponisten:  es  fehlt  diesen  an  ebenbürtigen  litera* 
rischen  Helfern.  Schillings  etwa  ist  noch  immer  an  seinen 
Büchern  gescheitert.  Hofmannsthal  also  hat  sich  stark  genug 
gefühlt,  den  Bannfluch  Stefan  Georges  und  der  Kleinsten 
von  den  Seinen  zu  ertragen,  die  Straußens  Genossen  des 
Hochverrats  zeihen.  Wie  töricht!  Es  gibt  kein  künstlerisches 
Genre,  das  einen  Mann  erniedrigt;  es  gibt  nur  Männer,  die  . . . 
Hofmannsthal  war  ein  schlechter  Kunsttheoretiker,  als  er  Strauß 
erlaubte,  seine  atmende  und  gradgewachsene  ,Elektra'  lange 
nach  der  Entstehung  mit  Haut  und  Haaren  zu  vertonen;  aber 
er  war  kein  schlechter  Künstler,  als  er  für  Strauß  den  , Rosen* 
kavalier'  verfaßte. 

Das  Wien  Maria  Theresias  wird  lebendig.  Die  Alltags* 
spräche  der  Zeit  ist  mit  allen  Finessen  nachgebildet,  und 
diese  teils  zu  altertümelnd,  teils  zu  prosaisch  klingende  Sprache 
hat  Hofmannsthal  dadurch  komponierbar  gemacht,  daß  er 
sie  in  freie  Rhythmen  gegliedert  hat.  Der  Charakter  der  Zeit 
ist  nicht  schlechter  getroffen.  Wie  im  Rokoko  immer  der 
Zartheit  die  Derbheit,  dem  Seufzer  die  Zote,  dem  Nymph* 
lein  der  Faun  nah  benachbart  ist,  so  stehen  auch  in  diesem 
wienerischen  Rokoko  grobe  Elemente  neben  den  feinsten, 
drastische  neben  den  innigsten,  und  was  heiter  aussieht,  ist 
eigentlich  traurig  und  umgekehrt.  H  ier  ist  wahre  Tragikomödie. 
Dieses  gehetzte  und  hetzende  Treiben,  dieses  Durcheinander 
von  keimenden  Gefühlen  und  Resignationsstimmungen,  von 
wildem  Zorn  und  derbem  Gelächter,  von  Leichtsinn  und 

85 


Schwerblütigkeit,  von  Habgier  und  Liebe,  von  abge* 
zirkeltem  Zeremoniell  und  lasterhafter  Zügellosigkeit,  von 
beruhigtem  Alter  und  unschuldiger  Jugend  und  lüsternem 
Alter  und  Treibhausjugend,  dieses  Getümmel  von  Intriganten 
und  Tenören,  von  Aristokratie  und  Gesinde,  diese  Ab* 
wechslung  von  geräuschvollen  Empfängen  und  intimen  Zart* 
lichkeiten  und  wieder  von  jauchzender  Lust  und  wühlendem 
Schmerz  und  lächelnder  oder  elegischer  Lösung  des  Schmerzes : 
das  ist  ein  Abbild  des  Lebens,  das  ist,  wie  Hofmannsthal  es 
früher  einmal  genannt  hat,  das  kleine  Welttheater,  Das  alles 
ist  mit  einer  Maestria  gemacht,  die  man  als  Kenner  artistischer 
Absichten  und  Wirkungen  bestaunen  würde,  wenn  man  nicht 
als  einfacher  Mitmensch  so  ergriffen  wäre.  Ich  werde  nicht 
von  der  Musik  sprechen;  aber  was  ich  hier  zum  Ruhm  des 
Werkes  sage,  gilt  erst,  nachdem  Hofmannsthals  ungewöhnlich 
geglückte  Vorarbeit  von  Richard  Strauß  volles  Leben,  Reich* 
tum,  Duft  und  Seele  empfangen  hat. 

Die  sogenannte  Handlung?  Der  Rosenkavalier  ist  der 
siebzehnjährige  Graf  Oktavian  Rofrano,  der  dem  Fräulein 
Sophie  von  Faninal  die  silberne  Werbe*  und  Verlobungsrose 
des  alternden  Barons  Ochs  von  Lerchenau  überbringen  soll. 
Es  gibt  zwischen  diesen  beiden  jungen  Menschen  Liebe  auf 
den  ersten  Blick,  die  glücklich  endet,  weil  Rofrano  die  Sophie 
dem  grauen  Trottel  und  sich  selber  einer  reifen  Feld* 
marschallin  zu  entwinden  weiß.  Diese  Vorgänge,  die  Ver* 
mummungen  und  Belauschungen  und  Verwicklungen  und 
Zweikämpfe  und  Zaubereien  theatergemäß  machen,  sind 
nicht  etwa  bloß  spaßhaft.  Wenn  der  Lerchenauer,  der  es  auf 
die  Mitgift  seiner  kleinen  Base  Sophie  abgesehen  hat  und  zu* 
gleich  der  Schürze  des  verkleideten  Rosenkavaliers  nachjagt, 
zum  Schluß  um  alles  betrogen  ist,  dann  steht  ein  armseliges 
Menschenkind  da,  mit  dem  man  trotz  seiner  Scheußlichkeit 
Mitleid  hat.  Das  ist  ein  Augenblick.  Was  aber  durch  das 
ganze  Stück  geht  und  tönt  und  trauert  und  uns  Tränen  kostet, 
weil  es  sich  selbst  die  Tränen  tapfer  verbeißt,  das  ist  die 
Einsicht  der  Feldmarschallin  in  das  Los   der  Frau,  der  die 

86 


Haut  früher  welkt  als  das  Herz.  Ihre  gefaßte  Wehmut  unter* 
malt  die  Fröhlichkeit  des  Textes  und  der  Partitur  dunkel,  aber 
nicht  zu  dunkel.  Vielleicht  ahnt  die  Feldmarschallin  mit 
tröstlicher  Genugtuung,  was  wir  wissen:  daß  Oktavian  nicht 
vom  Stamm  des  Cherubin  ist,  der  seinem  Bärbchen  treu 
bleiben  wird,  sondern  vom  Stamm  des  Faublas,  der  seiner 
Sophie  schon  während  der  Flitterwochen  untreu  werden, 
und  dessen  Amouren  ein  anderer  Louvet  de  Couvray  be« 
dichten  wird.  Welch  ein  Dickhäuter  muß  einer  sein,  um  vom 
Reiz  dieser  Fabel  und  ihrer  sublimen  musikalischen  Ver* 
schlingungen,  Abzweigungen,  Durchleuchtungen  und  Aus= 
deutungen  nicht  berührt  zu  werden!  Wie  verkümmert  muß 
ein  Organismus  sein,  der  bei  diesem  Schmaus  aller  Sinne 
stumpf  bleibt  und  sich  langweilt! 

Denn  tatsächlich  haben  Strauß  und  Hofmannsthal  es  an* 
gestrebt,  alle  Sinne  zu  beköstigen.  In  Dresden  hatten  sie  mit 
Hilfe  von  Reinhardt,  Roller,  Seebach  und  Schuch  eine  musik* 
dramatische  Bühnentotalität  zustandegebracht,  auf  der  kunst* 
göttliche  Gnade  sichtbarlich  ruhte.  Roller  hatte  Inhalt  und 
Stimmung  des  Werkes  in  drei  kostbare  und  zeitechte  Bilder 
gefaßt,  der  Graf  Seebach  hatte  in  diese  Bilder  ein  Ensemble 
von  blühenden  Stimmen  gestellt,  und  Reinhardt  hatte  den 
Besitzern  dieser  Stimmen  jede  opernhafte  Steif  heit  genommen, 
um  sie  zu  anmutigster  Ungezwungenheit  zu  befreien.  Der 
Ton  des  ersten  Bildes  war  golden,  des  zweiten  porzellanen, 
und  das  dritte  hatte  jene  nächtliche  Anrüchigkeit  eines  kupp* 
lerischen  Gasthauszimmers,  die  wir  aus  ,Cristinas  Heimreise' 
kennen.  Alles  war  ins  Große  gereckt  und  behielt  doch  die 
Zierlichkeit  des  Rokoko.  Durch  diese  Räume  flutete  und 
wallte  und  wogte  es  von  farbigen  und  blassen,  zierlichen  und 
grotesken,  leidenschaftlichen  und  beherrschten  Menschen 
und  Puppen,  denen  man  anmerkte,  daß  Reinhardt  sie  auf* 
einandergestimmt  hatte,  daß  sein  Temperament  sie  zusammen* 
ballte  und  durcheinanderwirbelte.  Schuch  schließlich  leitete 
mit  gesänftigtem  Feuer  sein  Orchester  und  seine  Sänger. 
Jeder  Teil  hatte  seine  Schönheit  für  sich,  und  alle  griffen  in 

87 


mustergültiger  Geschlossenheit  in  einander.  Im  Gleichmaß, 
in  der  Abgetöntheit,  in  der  Begeisterung  und  der  angespannt 
ten  Energie  sämtlicher  Kräfte  auf,  hinter  und  vor  der  Bühne 
lag  der  Zauber  dieser  Vorstellung.  Es  schien  nicht  möglich, 
sie  zu  erreichen,  geschweige  denn  zu  übertreffen, 

.  Die  berliner  Aufführung  ist  auf  eine  andere  Art  nicht 
minder  wertvoll.  Sie  ist  nicht  so  fein  und  nicht  so  leicht, 
sie  schwebt  nicht,  und  es  haben  nicht  so  zarte  Künstlerhände 
jede  Einzelheit  betreut.  Aber  sie  beweist,  daß  die  dresdener 
Aufführung  doch  in  einer  bestimmten  Hinsicht  zu  überbieten 
war.  Nicht  nur,  daß  Strauß  offenbar  in  zahlreichen  deutschen 
Städten  gesehen  hat,  was  Eindruck  macht,  und  daß  er  darum 
in  Berlin  jeden  legitimen  Effekt  mit  einer  Schärfe  heraus* 
arbeiten  lassen  konnte,  für  die  in  Dresden  einfach  die  genaue 
Kenntnis  der  Publikumsempfänglichkeit  fehlte  —  nicht  nur 
das  ist  es.  Es  hat  auch  eine  Verschiebung  des  Schwer* 
gewichts  stattgefunden,  die  den  burlesken  Szenen  von  Nutzen 
ist,  ohne  den  sentimentalen  zu  schaden.  Jetzt  sehen  wir,  daß 
in  Dresden  von  dem  Dreigestirn  Siems#Osten#Nast  ein  Glanz 
ausging,  der  die  Männer  mehr  als  nötig,  mehr  als  richtig 
beschattete.  Bei  uns  ist  Ochs  von  Lerchenau  kein  pere  noble, 
sondern  ein  oesterreichischer  Falstaff  in  den  besten  Jahren, 
Herr  von  Faninal  kein  bescheidener  Hausvater,  sondern  ein 
rücksichtslos  auftrumpfender  und  aufstampfender  Haustyrann. 
Mit  prachtvoll  festem  Griff  haben  Knüpfer  und  Hoffmann 
die  Figuren  an  sich  gerissen.  Wenn  sie  erscheinen,  wenn  sie 
mit  der  Wucht  ihrer  Stimmen  und  ihres  Humors  einher* 
gefahren  kommen,  dann  ist  es  immer,  als  ob  Sturm  und  Sonne 
das  melancholische  Gewölk  eines  üppigen  Lyrismus  in  dem 
Augenblick  zerteilten,  wo  es  zu  dicht  zu  werden  droht.  Sie 
reinigen  die  Luft  und  berechtigen  das  Gewölk,  sich  von 
neuem  zu  bilden.  Es  zeigt  sich,  daß  es  am  Himmel  einer 
dramatischen  Landschaft  gar  nicht  wetterwendisch  genug 
zugehen  kann.  Vielleicht  hat  es  auch  einen  ähnlichen  Vor* 
teil  für  das  Werk,  daß  Muck  jünger  ist  als  Schuch.  Schuchs 
breitere  Tempi  wiegten  wundervoll  ein.   Muck  ist  nervöser 

88 


und  setzt  die  Lustigkeit  gegen  den  Ernst  kräftiger  ab  —  wo* 
bei  schwer  zu  entscheiden  ist,  ob  mit  dieser  klaren  Kon* 
trastierung  er  sich  der  Regie  oder  die  Regie  sich  ihm  an= 
gepaßt  hat.  Schheßhch  bleibt  es  ja  gleichgültig.  Die  Haupt* 
Sache  ist:  es  gibt  eine  Einheit,  wie  wir  Berliner  sie  in  einem 
Opernhaus  noch  nicht  erlebt  haben,  weil  Hans  Gregor,  dem 
sie  vorgeschwebt  hat,  zwar  niemals  die  dramatischen,  aber  in 
jedem  anspruchsvollen  Falle  die  musikalischen  Mittel  gefehlt 
haben.  Mag  sein,  daß  auch  hier  die  Unersättlichkeit  sich  zu 
beklagen  hat:  Lola  Artöt  de  Padilla  ist  als  Rosenkavalier 
—  zufällig  bloß  heute  oder  überhaupt  —  weder  ganz  auf  der 
Höhe  der  Aufgabe  noch  ihrer  eigenen  Leistungsfähigkeit, 
und  Fräulein  Ciaire  Dux  als  Sophie  greift  nicht  ordentlich 
durch.  Tut  nichts:  die  Hempel  wiegt  alles  auf.  In  Pisa  habe 
ich  einmal  Kirchenglocken  gehört,  die  von  der  Mischung  ihres 
Metalls  oder  von  der  atmosphärischen  Gunst  gerade  dieser 
Stunde  einen  Klang  hatten  —  so  rein,  so  hell,  so  überirdisch, 
daß  ich  niemals  geglaubt  hätte,  ihn  in  einer  menschlichen 
Stimme  wiederzufinden.  Irgendwo  hat  die  Hempel  diesen 
Klang  in  ihrer  Stimme  —  aber  welche  Klänge  hätte  sie  nicht! 
Wer  Susannens  Gartenarie  von  ihr  kennt,  versäumt  nur 
schweren  Herzens  einen  ihrer  Abende.  Durch  Straußens 
Marschallin  hat  sie  auch  die  Schauspielerin  in  sich  entdeckt. 
Vor  sieben  Wintern  war  sie  in  Reinhardts  ,Sommernachtsü 
träum'  eine  Choristin  wie  viele.  Sie  ist  unter  unseren  Augen 
üügge  geworden.  Jetzt  fliegt  sie  davon. 

Und  das  ist  der  bittere  Nachgeschmack,  den  dieser  fest* 
liehe  , Rosenkavalier'  —  glänzendes  Schaustück  und  hohes 
Kunstwerk  zugleich  —  bei  aller  Süßigkeit  in  uns  zurückläßt, 
daß  wir  fragen:  Ist  eine  Stadt  von  der  Größe  und  dem 
Reichtum  Berlins  wahrhaftig  nicht  in  der  Lage,  eine  Wohl* 
täterin  ihrer  Bevölkerung  wie  diese  Frieda  Hempel  dauernd 
an  sich  zu  fesseln?  Und  dürfen  Aufführungen  von  diesem 
Rang,  von  dieser  Reife,  für  die  das  Theater  des  deutschen 
Kaisers  alltäglich  die  künstlerischen  wie  die  materiellen 
Kräfte  hätte,  uns  wirklich  nur  alle  Jubeljahre  und  nicht  ein* 

89 


mal  alle  Jubeljahre  beglücken?  Hat  die  preußische  Hofoper 
nicht  am  Ende  doch  die  Verpflichtung,  diese  Sorgfalt,  dieses 
Verständnis,  diese  Opferwilligkeit  und  diese  Vertiefung  ge* 
nau  so  wie  dem  Richard  Strauß,  der  in  der  Mode  ist,  den 
Mozart,  Gluck  und  Verdi  zugute  kommen  zu  lassen?  — 
die  immer  wieder  in  die  Mode  gebracht  werden  müssen, 
wenn  sie  jemals  haben  verdrängt  werden  können! 


AGNES  BERNAUER 

Hie  Mensch,  hie  Menschheit!  Hie  Mannesrecht,  hie  Für« 
stenpflicht!  Hie  Leidenschaft,  hie  Staatsraison!  Kühl, 
klar  und  scharf  stellt  Hebbel  diese  Antithese  auf.  Wer  in 
der  Mitte  des  dritten  Aktes  noch  nicht  weiß,  worauf  der 
Dichter  hinauswill,  den  belehrt  ein  Redekampf  zwischen 
Herzog  Albrecht  und  Kanzler  Preising:  „Ich  soll  dem  Weibe, 
mit  dem  ich  vor  den  Altar  trete,  so  gut  wie  ein  anderer  Liebe 
und  Treue  zuschwören  —  darum  muß  ichs  so  gut  wie  ein 
anderer  selbst  wählen  dürfen!"  „Ihr  sollt  über  Millionen 
Herr  sein,  die  für  Euch  heute  ihren  Schweiß  vergießen, 
morgen  ihr  Blut  verspritzen  und  übermorgen  ihr  Leben  aus* 
hauchen  müssen:  wollt  Ihr  das  alles  ganz  umsonst?  Einmal 
müßt  Ihr  auch  ihnen  ein  Opfer  bringen."  Unsere  Antwort 
wäre:  wo  denn  geschrieben  steht,  daß  jene  Millionen  Schweiß 
und  Blut  und  Leben  lieber  für  den  Gatten  einer  Fürsten« 
tochter  als  für  den  Gatten  einer  Bürgerstochter  lassen  würden. 
Aber  darauf  kommt  der  junge  Herzog  nicht.  Er  prüft  und 
zweifelt  nicht  —  er  glaubt.  Auch  Hebbel  ist  konservativ  und 
gläubig.  Er  rührt  nicht  an  den  Schlaf  der  Welt.  Vor  alters 
ist  einmal  beschlossen  worden,  daß  Herrscher  gleichgeborene 
Frauen  haben  müssen,  und  so  ists  recht  —  so  ists  vernünftig, 
eben  weil  es  ist.  Aus  Gründen  der  Vernunft,  die  unvernünf« 
tig  sind,  wird  Schönheit,  Licht  und  Wärme  aus  der  Welt  ge« 
schafft,  wird  Agnes  hingemeuchelt.  Albrecht,  ihr  Gatte,  müßte 
unversöhnlich  rasen.  Hätte  Hebbel  dieses  deutsche  Drama 
ausgedichtet  und  nicht  bloß  gedacht,  dann  würde  es  ja  wohl 

90 


so  sein.  Aber  vor  dem  Ende  zaudert  er  hamletisch,  wägt  er 
ab  und  grübelt  nach  Gerechtigkeit.  Auf  fünfthalb  Akte,  die 
in  Augsburg,  München,  Vohburg,  Regensburg  und  Strau* 
bing  spielen,  folgt  ein  halber  Schlußakt,  dessen  Schauplatz 
das  Gehirn  des  Dichters  ist.  Hier  ist  Herzog  Albrechts 
Haltung  zwar  von  höchster  Sittlichkeit,  aber  —  aber  auch 
unmenschlich.  Die  Verkürzung,  die  der  Dichter  vornimmt, 
nimmt  er  gar  zu  heftig  vor.  Bis  dahin  hat  jeder  Vorgang  dieses 
Dramas  so  viel  Zeit  gebraucht,  wie  er  in  Wirklichkeit  ge* 
brauchen  würde.  Plötzlich  überschlägt  der  Dichter  Jahre. 
Er  ersetzt  den  blut*  und  lebensvollen  Gatten  eines  Frauen* 
Wunders  ohnegleichen,  der  vom  grauenvollsten  Mord  ins 
Mark  getroffen  ist,  zu  unversehens  durch  den  Erben  Bayerns, 
der  erst  nach  lange  durchgelittenem  Schmerz  und  mit  ver* 
harschten  Wunden,  weise,  mild  und  resigniert  das  W  ohl  des 
Landes  über  sein  privates  Unglück  stellen  würde.  Albrecht, 
ein  simples  Menschenkind,  wird,  eins,  zwei,  drei,  groß  und 
abscheulich.  Wenn  man  sich  fragt,  warum  man  schließlich 
unergriffen  bleibt:  da  liegt  der  Grund.  In  Handlungsweise 
und  Geschick  jedwedes  Dramenhelden  müssen  wir  uns  selber 
wiederfinden.  Der  Grieche  Gyges  und  der  Lyderfürst  Kan* 
daules  sind  mir  Brüder,  weil  ihre  Taten,  ihre  Leiden  täglich 
irgendwie  auch  meine  werden  können.  Der  alte  Herzog  Ernst, 
der  Schleier,  Kronen,  rost'ge  Schwerter  höher  achtet  als  ein 
blühend  junges  Menschenleben,  und  sein  Sohn  Albrecht, 
ders  begreift  und  reuig  vor  dem  Vater  niederkniet:  sie  sind 
für  mein  Empfinden  Posten  im  Exempel  eines  Dichters,  der 
aufhört,  es  zu  sein,  sobald  die  Rechnung  aufgeht. 

Und  doch!  Noch  Hebbels  Homunculi  haben  mehr  Exi# 
stenzberechtigung,  weil  sie  zum  mindesten  den  Geist  ihres 
Ersinners  haben,  als  die  drallsten  Geschöpfe  der  meisten 
übrigen  Dramatiker.  Darum  sollte  man  ein  Theater,  das 
Hebbel  spielt,  ohne  es  eigentlich  nötig  zu  haben,  auch  dann 
nicht  entmutigen,  wenn  es  nichts  weiter  als  den  guten  Willen 
hätte.  Hebbels  Worte  deutlich  zu  hören,  wäre  ja  schon  Ge* 
winn.   Aber  an  der  Aufführung  des  Neuen  Schauspielhauses 

91 


ist  diesmal  mehr  zu  loben.  Zunächst  hat  man  das  allzu  aus* 
führliche  Stück  mit  Geschmack  und  Geschicklichkeit  auf  das 
Maß  eines  Theaterabends,  auf  dreizehn  gedrungene  Bilder 
gebracht.  Diese  Bilder  sind  in  Rahmen  gefügt,  die  manchmal 
heben  und  niemals  drücken.  Mit  den  sparsamsten  Mitteln 
hat  Herr  Svend  Gade  eine  mittelalterliche  Atmosphäre  ge# 
schaffen,  die  nur  einmal  sich  nicht  in  einem  Theater  des 
Jahres  1911,  sondern  des  Jahres  1861  auszubreiten  scheint: 
da  nämlich,  wo  die  Zuschauer  des  Turniers  von  Regensburg 
auf  den  Prospekt  gemalt  sind  —  wie  wenn  es  nicht  wesentlich 
schwerer  wäre,  diese  Zuschauer  für  Menschen  zu  nehmen, 
als  sich  die  nötige  Menge  Volkes  hinter  dem  Vorhang  zu 
denken.  Daß  die  Drehbühne  blitzschnell  funktioniert,  erhöht 
den  Eindruck,  den  von  den  Darstellern  keiner  schädigt,  und 
den  drei  nachdrücklich  fördern.  Wenn  man  vor  Frau  Erika 
von  Wagners  Agnes  die  Augen  schlösse,  so  wäre  sie  verloren; 
wenn  man  sich  bei  ihren  Reden  die  Ohren  zuhielte  und 
immer  nur  ihren  Partnern  zuhörte,  so  könnte  man  sich  diese 
passive  Figur  nicht  bezaubernder  wünschen.  Nach  drei 
Rollen  läßt  sich  leicht  feststellen,  daß  wir  es  hier  nicht  mit 
einer  Schauspielerin  zu  tun  haben;  aber  gerade  in  Berlin, 
wo  Häßlichkeit  fast  schon  eine  Empfehlung  für  die  Bühne 
ist,  können  wir  auch  Schau^Spielerinnen  gebrauchen.  Herr 
Willy  Loehr  wirkt  vorläufig  wie  ein  feisterer  und  trotzdem 
intelligenterer  Christians  ohne  Manieriertheit  und  Gefallsucht. 
Für  Herzog  Albrecht  war  ihm  günstig,  daß  er  weniger  jung 
aussieht,  als  die  Gestalt  gemeint  ist,  weil  dadurch  die  Uns= 
glaublichkeit  der  letzten  Szene  abgeschwächt  wird.  Alles  in 
allem  aber  sind  mir  die  alten  Mitglieder  des  Neuen  Schau* 
spielhauses  lieber  als  die  neuen.  Herr  Lind  als  Bernauer:  ein 
ehrenfestes  Haupt  von  hitzigem  Bürgerstolz,  ein  herzlich  guter 
Vater  und  ein  Mann,  dem  die  Beschäftigung  mit  der  Antike 
durchaus  zuzutrauen  ist.  Herrn  Ziegels  Kanzler:  ein  feiner 
Graukopf  voll  von  Menschlichkeit,  die  hier  und  da  ein  biß* 
chen  übertropft.  Am  wuchtigsten  Herrn  Hartaus  Herzog 
Ernst.   Tief  aufgewühlt  und  dennoch  streng  und  karg  gefaßt. 

92 


In  jener  letzten  Szene  —  über  die  kein  Mann  und  keine  Frau 
hinwegkommt  —  deklamiert  er,  weils  unmöglich  ist,  sie  durchs 
zufühlen.  Bis  dahin  hat  sein  bloßer  Anblick  schon  gebannt. 
Nie  gibt  er  einen  , Herzog',  immer  einen  Menschen.  ,, Alles, 
was  den  Staat  angeht,  läßt  die  Menge  kalt",  schrieb  Hebbel 
nach  der  münchner  Aufführung  an  seine  Frau.  In  Berlin  wars 
umgekehrt:  hier  hat  nur,  was  den  Staat  angeht,  die  Menge 
und  den  Kenner  interessiert. 


HERMANN,  STERNHEIM  UND  BASSERMANN 

Schäm'  dich,  Georg  Hermann.  Erfolge  verpflichten.  Ich 
weiß  nicht,  wie  mir  dein  Jettchen  Gebert  erschienen  wäre, 
wenn  ich  die  Fähigkeit  gehabt  hätte,  mit  kritischen  Augen 
auf  sie  zu  blicken.  Aber  ich  blickte  mit  einem  stadtgenössi* 
sehen  und  einem  glaubensgenössischen  Auge  auf  sie,  und 
beide  gingen  mir  über  vor  Vergnügtheit  und  Ergriffenheit. 
Ich  konnte  mich  um  so  unbedenklicher  hingeben,  als  zum 
Glück  kein  Blatt  Romankritiken  von  mir  verlangt.  Jetzt  aber, 
wo  mich  keine  Konfession  und  keine  Lokalfarbe  besticht, 
muß  ich  mithelfen,  die  öffentliche  Meinung  über  dein  Lust* 
spiel  zu  machen.  Die  Freude  an  dieser  Tätigkeit  entspricht 
genau  der  Freude,  die  du  mit  deiner  Arbeit  bereitet  hast. 
So  etwas  tut  man  doch  nicht.  Das  schreibt  man  als  iuvenis 
obscurus,  entfaltet  dabei  unter  allen  Umständen  ein  bißchen 
mehr  Witz  und  Geschmack  und  läßt  es  sich  eines  Tages, 
weil  Not  am  Gelegenheitsdichter  ist,  für  ein  Familienfest  ent# 
reißen.  Die  Tanten  werden  sich  über  deine  Moral  entsetzen, 
ein  paar  apoplektische  Onkels  aber  werden  entzückt  sein, 
wie  es  die  neue  Richtung  abbekommt.  Beides  wird  dich  ver# 
führen,  eine  richtige  Aufführung  für  möglich  zu  halten.  Nur 
eine  kluge  Cousine,  die  es  gut  mit  dir  meint,  wird  dich  warnen: 
sie  wird  dir  erklären,  daß  deine  Satire  nicht  allein  über  die 
Maßen  schwächlich,  sondern  auch  völlig  schief  geraten  ist, 
daß  ihre  Stumpfheit  noch  durch  ihre  Unappetitlichkeit  über* 
boten  wird,  und  daß  du  das  —  wie  ist  es  möglich!  —  gar 

93 


nicht  merkst.  Du  wirst  knurren  und  wirst  doch  am  Ende 
kuschen  (weil,  nebenbei,  kein  Thespis  eines  Unbekannten 
Dramen  Hest).  Aber  wartet  nur,  balde!  Es  kommt,  wie  es 
kommen  muß.  Ein  paar  Jahre  später  bist  du  berühmt,  um* 
worben,  kritiklos,  dem  Einfluß  der  klügsten  Cousinen  ent* 
rückt,  Schliemann  deines  eigenen  Schreibtischs  und  reif  für 
den  Durchfall.  Er  kam,  wie  er  kommen  mußte  —  und  unter 
achtungsvollen  Grabgesängen  bevölkerte  sich  Meinhards 
Totenreich. 

Rosen  aber  für  den  Scheitel  des  Herrn  Sternheim.  Dieser 
Autor  hat  es  abgelehnt,  sich  über  seine  .Kassette'  selber  zu 
äußern,  weil  am  Tage  nach  der  Premiere  in  der  berliner  Presse 
stehen  werde,  was  über  sein  Werk  zu  sagen  ist.  Zu  seiner 
Entschuldigung:  er  ist  nicht  von  hier.  Heute  wird  er  wohl 
nicht  mehr  glauben,  daß  von  ihm  die  Mißgeburt  stammt,  die 
in  den  meisten  Morgenblättern  als  Komödie  von  Carl  Stern:» 
heim  verhöhnt  worden  ist.  Er  hat  in  Wahrheit  einen  Wurf 
getan,  wie  wir  ihn  lange  nicht  erlebt  haben.  ,Der  Riese'  des* 
selben  Dichters  war  eine  Talentprobe,  die  viel  erwarten  ließ ; 
aber  das  doch  nicht.  Nicht  diese  unerbittliche  Härte,  nicht 
diese  zähe  Leidenschaftlichkeit,  nicht  diesen  spielenden  Reich* 
tum  bei  aller  Starrheit  eines  einzigen  Motivs.  Denn  es  geht 
ja  nichts  weiter  vor,  als  daß  eine  Aussicht  zur  fixen  Idee 
wird,  daß  ein  Trieb  hypertrophisch  entartet,  daß  ein  leichter, 
luftiger  Schneeball  zur  bedrohlichen  Lawine  anschwillt.  Wer 
hätte  das  von  Heinrich  KruU  gedacht!  Dieser  rötlich*blonde 
Oberlehrer  kommt  gesund  und  munter  von  der  Hochzeits* 
reise  mit  der  zweiten,  zwanzig  Jahre  jüngeren  Frau  zurück, 
erfährt,  daß  seine  Tante  Elsbeth  ihr  Vermögen,  das  er  erben 
möchte,  in  die  gemeinsame  Wohnung  hat  transportieren 
lassen,  und  malt  sich  die  Wonnen  seiner  gesicherten  Zukunft 
mit  einer  so  brennenden  Gegenständlichkeit  aus,  daß  sein 
armes  Hirn  davon  versengt  zu  werden  anfängt.  Es  wird  ein 
Aschenhäuflein  sein,  sobald  die  Tante  mitteilt,  daß  sie  ihn 
enterbt  hat.  Da  Sternheim  kein  plumper  Handwerker  ist,  so 
sehen  wir  nur,  wie  die  Tante  den  Partherpfeil  aus  dem  Köcher 

94 


zieht,  nicht,  wie  der  Neffe  getroffen  wird.  Ich  habe  sogar 
den  Verdacht,  daß  selbst  diese  Vorbereitungen  für  das  Pu* 
bUkum  geschehen.  Dem  Stil  der  Komödie,  die  Marotten  und 
Einbildungen  für  \'C'irklichkeiten  nimmt  und  gibt,  entspräche 
mehr  ein  irgendwie  gespenstischer  als  dieser  kompakte  Ab* 
Schluß.  Das  Ziel  der  Vorgänge  ist  ja  ohnehin  nicht  zweifei* 
haft.  Überraschungen  entstehen  hier  auch  nicht  daraus,  daß 
etwa  der  Weg  zu  diesem  Ziel  unerwartete  Wendungen  nimmt. 
Trotzdem  fünf  Akte  gefüllt  sein  wollen,  hat  Sternheim  keiner* 
lei  theatralische  Hilfsmittel  nötig.  Er  verwickelt  nicht  —  er 
entwickelt:  das  ist  alles.  Er  faltet  sein  Thema  aus  einander. 
Überraschungen,  die  sein  müssen,  weil  Abwechslung  sein 
muß,  entstehen  einfach  daraus,  daß  sich  überall  auf  jenem 
Wege  die  weitesten  Ausblicke  eröffnen. 

Es  ist  erstaunlich,  welche  Perspektive  allmählich  diese 
simplen  Menschen,  diese  alltäglichen  Begebnisse,  diese  Requi* 
siten  bekommen.  Tante  Elsbeth,  die  sich  teuflisch  rächt, 
weil  man  sie  „nicht  um  ihrer  selbst  willen"  geliebt  hat,  ihr 
Neffe  Krull,  der  sich  aus  Habgier  von  früh  bis  spät  vor  ihr 
demütigt,  und  sein  Schwiegersohn,  dem  er  vor  Toresschluß 
schnell  auch  noch  die  Seele  verwüstet:  die  drei  werden  zu 
Repräsentanten  der  Menschen,  die  krüppelhaft  blind,  schäbig 
und  schlecht  sich  und  einander  quälen,  statt  vernünftig,  hilf* 
reich  und  gut  zu  sein.  Die  wilde  Jagd  nach  dem  Gold,  in 
die  sich  hier  Bürger  mit  gesicherter  Existenz  bis  zur  Besinnungs* 
losigkeit  stürzen,  wird  zum  Abbild  des  Lebens,  das  immer 
das  Mittel  zum  Zweck  erniedrigt.  Und  die  Kassette?  Sie 
bedeutet  erst  recht  mehr  als  sich  selbst.  Sie  braucht  nicht 
nur  bayrische  Staatspapiere  zu  enthalten:  es  können  noch  wert* 
und  wesenlosere  Dinge  sein,  um  derentwillen  man  das  Leben 
versäumt.  Mit  solcher  Kassette  wird  jede  Frau  als  ein  Stück 
Natur  von  dem  verbohrten,  im  Instinkt  geschwächten  Männer* 
Volk  betrogen.  Es  ist  eins  von  den  vielen  Verdiensten  des 
Dichters,  daß  er  diese  seine  Tendenz  nicht  überspitzt  und 
übersteigert:  daß  er  den  Mann  nicht  etwa  zwischen  Weib 
und  Welt  stellt,   sondern  zwischen  Weib  und   Scheinwelt. 

95 


Aber  eigentlich  war  das  niemals  eine  Gefahr,  weil  Sternheim 
von  Menschen  ausgeht  und  nicht  von  Absichten.  Wir  sind 
bei  ihm  in  der  dünnen  Höhenluft  einer  Intelligenz,  die  trotz 
allem  satirischen  Ingrimm  die  Fähigkeit  bewahrt,  sich  von 
den  Erscheinungen  zu  distanzieren.  Während  gewöhnlich  in 
die  Erscheinungen  eine  allegorische  Bedeutung  hineingetragen 
wird,  wachsen  sich  hier  die  Erscheinungen  wie  von  selbst  zu 
Symbolen  aus.  Bei  jener  scharfen,  finsteren  und  galligen  In« 
telligenz  ist  es  fast  rätselhaft,  bei  dieser  anschauenden  Ge« 
lassenheitist  es  wieder  ganz  selbstverständlich,  daß  wir  schließ« 
lieh  in  einen  prachtvollen  Wirbel  gerissen  werden,  der  wie 
das  Chaos  selber  und  doch  künstlerisch  beherrscht  und 
zweckvoll  gesichtet  ist.  Nur  könnte  ich  ebensogut  das  eine 
selbstverständlich  und  das  andere  rätselhaft  nennen.  Aesthe* 
tische  Wirkungen  bleiben  letzten  Endes  unerklärlich.  Man 
spricht  nicht  umsonst  von  göttlichem  Funken.  Dieser  Carl 
Sternheim  hat  ihn.  W^ie  kommt  es,  daß  sein  Stück  wie  Dunst 
und  glühendes  Erz  zugleich  ist?  Daß  man  an  Heinrich  Mann, 
an  Goldoni,  Balzac,  Moliere,  E.  Th.  A.  Hoffmann  und  Tho# 
mas  Theodor  Heine  denkt,  und  daß  dieser  Sternheim  trotz« 
dem  kein  Eklektiker  ist?  All  das  ist  nur  des  Stückes  Kleid 
und  Zier.  Sternheim  ergötzt  sich  und  uns  mit  spaßhaften 
Lichtbrechungen,  ulkigen  Schattierungen,  bizarren  Projek« 
tionen  und  parodistischen  Verkürzungen,  die  ja  wohl  von 
klassischer,  romantischer  und  moderner  Literatur  und  Malerei 
beeinflußt  sein  mögen.  Er  umspielt  sein  Thema  mit  Witz  und 
mit  Witzigkeiten,  mit  einem  bewußt  kuriosen  Pathos  und 
schillernden  Exzessen  einer  Sprachgewandtheit,  die  selbst  aus 
den  trockensten  Ausführungen  über  die  Zinsgarantien  der  bay« 
rischen  Forsten  eine  Fülle  komischer  Wirkungen  schlagen  kann. 
Immer  wieder  aber  packt  er  dieses  sein  Thema  mit  eiserner  Faust 
und  hämmert  es,  daß  die  Funken,  eben  die  göttlichen  Funken 
sprühen.  Er  hat  den  Griff,  mit  dem  man  die  großen  Komödien« 
Stoffe  an  sich  reißt,  und  schon  jetzt  die  Meisterschaft,  mit  der 
man  ihnen  ihre  endgültige  Form  für  ein  oder  mehrere  Jahr« 
hunderte  gibt.  Nichts  törichter,  als  gegen  die  .Kassette'  den 

% 


»Geizigen*  auszuspielen!  Wenn  man  ihn  nach  ihr  zur  Probe 
aufführte,  so  würde  sich  zeigen,  daß  er  tot  und  in  ihr  wieder 
auferstanden  ist  —  wie  die  antike  Iphigenie  in  der  Goethe* 
sehen.  Es  ist  ein  Fall,  der  in  künftigen  Literaturgeschichten 
als  ergänzendes  Schulbeispiel  für  die  wahre  Erneuerung  eines 
ewigen  Komödienvorwurfs  dienen  wird. 

Immerhin:  das  sind  spätere  Sorgen.  Wer  leben  wird  .  .  . 
Wer  aber  lebt,  der  sollte  sich  Bassermanns  Oberlehrer  Krull 
ansehen.  Es  ist  das  tragikomische  Gegenstück  zu  seinem 
komitragischen  Oberlehrer  Traumulus,  und  das  besagt  von 
vornherein,  daß  es  eine  der  größten  Leistungen  der  modernen 
Schauspielkunst  ist.  Auch  hier,  wie  bei  Sternheim,  diese  un* 
erklärliche  Vereinigung  von  Schärfe  und  Breite.  \^ele  Schau* 
Spieler  können,  besonders  in  Episoden,  die  Essenz,  den  Ex* 
trakt  eines  Menschen  geben.  Viele  Schauspieler  können, 
besonders  in  fünf  langen  Akten,  mit  aller  Gemächlichkeit 
die  zahlreichen  Züge  eines  Menschen  ausbreiten  und  manch* 
mal  sogar  zusammenfassen.  Wie  aber  Bassermann  beides 
zugleich  kann:  wie  er  immer  förmlich  die  Abstraktion  der 
Habgier  und  doch  in  jedem  Augenblick  dieser  ganz  bestimmte 
nur  einmal  vorhandene  Heinrich  Krull  ist  —  das  ist  schlecht* 
weg  genial.  Er  wagt  alles,  weil  er  bei  dieser  unbegrenzten 
Herrschaft  über  die  Technik  seiner  Kunst  alles  wagen  darf. 
Er  zerreißt  mit  einer  einzigen  überrumpelnden  Grimasse 
den  Ernst  einer  Situation  und  macht  im  nächsten  Moment 
durch  einen  einzigen  schmerzlichen  Ton  aus  einem  Harlekin 
einen  mitleidswürdigen  armen  Teufel.  Durch  ihn  allein  müßte 
das  Stück  Großflächigkeit  bekommen,  wenn  es  sie  nicht  hätte. 
Aus  den  Fliegenden  Blättern  geht  es  bis  tief  in  Callots  nach* 
tiges  Reich.  Dieser  stelzende  Hahnenschritt  des  potenten 
Männchens  und  dünkelhaften  Paukers,  diese  schmierigen 
Bartzotteln,  dieser  duckmäuserisch  lauernde  Blick,  diese  bald 
süßlich  devote,  bald  lüsterne,  bald  feige  zitternde,  bald  zügel* 
los  wütende  Stimme  —  ja,  wo  anfangen  und  wo  aufhören, 
um  die  einzelnen  Bestandteile  einzufangen,  die  hier  zu  einer 
Gestalt  von  grotesker  Großartigkeit  zusammenschießen!  Das 

7  97 


flackert  wild  phantastisch  herum  und  ist  doch  mit  außer* 
ordenthcher  Energie  sparsam  und  klar  umrissen.  Das  hat  die 
äußerste  Schnellkraft  der  Intuition  und  schlendert  doch  be* 
haglich  auf  der  Nuancen  wiese  einher.  Aber  wenn  ich  noch 
weit  mehr  Worte  machte,  so  wüßte  ich  am  Ende  immer,  daß 
ich  ein  Wunder  der  Kunst  nicht  aufgeklärt,  sondern  nur  an* 
geschwärmt  hätte.  Das  ist  freilich  die  Bestimmung  der  Wunder. 
Also  gehet  hin  und  schwärmt  mit  mir. 


BRAHM  UND  HARDT 

Dafür  wurde  gekämpft.  Dafür  wurde  die  Freie  Bühne 
gegründet.  Dafür  wurden  die  Rudolf  Baumbach  und 
Julius  Wolf  entthront,  die  Dame  Heimburg  und  die  gewissen 
dichtenden  Professoren  der  Mythologie  mit  Schimpf  und 
Hohn  aus  dem  Tempel  gejagt.  Dafür,  Dafür,  daß  durch 
eine  Ehrenpforte  Ernst  Hardt  einziehe,  der  von  jenen  zwei 
Sängern  der  deutschen  Vergangenheit  den  pseudolyrischen 
Blasenkatarrh,  von  Wilhelminen  die  Kenntnis  der  weiblichen 
Seele  und  von  dem  Barden  Felix  Dahn  das  Monopol  für 
den  deutschen  Mythus  geerbt  hat.  Brahm  steht  an  der  Pforte, 
segnet  den  Kömmling  und  lächelt  das  undurchdringliche  Lä# 
cheln  der  Mona  Lisa.  Seine  Jugend  war  Kleist  und  Gottfried 
Keller,  sein  Mannesalter  Ibsen  und  Hauptmann  gewidmet. 
Was  er,  zäh  und  ungemein  erfolgreich,  für  sie  tat,  war  ohne 
leidenschaftliche  Beteiligung  nicht  zu  tun.  Wir  schätzten 
ihn  darum,  und  mußten  wir  ihn  schelten,  so  bewiesen  wir 
durch  unseren  zornigen  Eifer  nur,  wieviel  wir  von  ihm 
hofften,  und  wie  groß  in  jedem  Falle  die  Enttäuschung  war. 
Dieser  Eifer  wurde  in  dem  Maße  schwächer,  wie  die  Ein* 
sieht  zunahm,  daß  das  Theater  nun  einmal  der  Konzessionen 
und  der  Kompromisse  nicht  entraten  kann.  Um  die  .Kassette' 
aufzuführen,  die  durch  die  dicken  Felle  unserer  Kritiker 
nicht  bis  ans  Publikum  gelangen  wird,  braucht  Reinhardt 
seine  ,Turandot'  und  ihre  Buntheit,  Massenhaftigkeit  und 
Stil  verworrenheit,  die  dem  Berliner  dieser  Tage,  sei  er  Kommis, 

98 


sei  er  Reporter  fürs  Theater,  rundherum  gefälh.  Um  Ibsen 
durchzusetzen,  brauchte  Brahm  den  Sudermann  oder  hielt 
ihn  wenigstens  für  nötig.  Ich  zweifle  nicht,  daß  er  darunter 
manchmal  litt,  daß  er  auch  als  Direktor  diesen  ewigen  Suder* 
mann,  der  auf  verschiedene  Namen  hörte,  schlechterdings 
zum  Speien  fand.  Sein  Trost  war,  denk'  ich  mir,  die  Zuver* 
sieht,  mit  diesem  Zugeständnis  seinem  Ideal  den  Sieg  und 
sich  nicht  allzu  spät  ein  nettes  Rentnertum  zu  schaffen.  Er 
hats  erreicht.  Er  selbst  ist  seit  geraumer  Zeit  geborgen,  und 
Ibsen  wird  nicht  mehr  umstritten.  (Daß  eine  nicht  zu  ferne 
Zukunft  gegen  ihn  mit  neuen  Waffen  aufbegehren  wird, 
kommt  hier  und  jetzt  nicht  in  Betracht.)  Brahms  Tagwerk 
ist  getan.  Sein  Erbe  wiegt  nicht  schwer.*  Nachdem  er  fünf* 
undzwanzig  Jahre  zwischen  Kunst  und  Kitsch  einhergependelt 
ist,  wird  unter  seinem  Publikum  kaum  jemand  sein,  der  fähig 
wäre,  Kunst  von  Kitsch  zu  unterscheiden,  einen  empfundenen 
Vers  von  einem  aus  Papier,  einen  Knalleffekt  von  einer  legi* 
timen  Wirkung.  Das  Ensemble,  das  er  ausgebildet  hat,  ver* 
fällt  und  zerfällt.  Er  könnte  sich  zur  Ruhe  setzen  oder  aber, 
da  ihn  noch  Verträge  fesseln,  bis  zum  Jahre  1914  für  die 
Götter  seines  Lebens  endlich  Opfer  bringen.  Nicht  jenes 
billige  Opfer  seiner  Überzeugung,  das  er  stets  gebracht  hat, 
sondern  materielle  Opfer.  Lag'  es  dem  Herold  Ibsens  nicht 
doch  ob,  vor  Toresschluß  daran  zu  denken,  daß  er  , Brand', 
,Peer  Cynt*,  , Kaiser  und  Galiläer'  zwanzig  Jahre  übersehen 
hat?  Und  gar  die  Liebe  seiner  Jugend?  Von  den  deutschen 
Direktoren,  die  uns  eine  Ehrung  Kleistens  schuldig  waren,  hat 
allein  der  preisgekrönte  Biograph  des  Dichters  sich  gedrückt. 
Hingegen  ziert  den  Aufruf  einer  Stiftung,  welche  „ringende 
poetische  Talente"  davor  beschützen  soll,  „im  Lebenskampfe" 
zu  erliegen,  selbstverständlich  auch  der  Name  Brahm,  weil 
das  nichts  kostet  und  zu  nichts  verpflichtet.  Wenns  ver* 
pflichtete,  dann  wäre  ja  wohl  niemand  besser  in  der  Lage, 
jungen  Dramendichtern  von  Bedeutung  förderlich  zu  sein, 
als  der  Direktor  eines  führenden  Theaters.  Aber  was  tut 
Brahm?  Auf  seine  alten  Tage  öffnet  er  gastfreundlicher  als 

1*  99 


je  sein  Haus  dem  „einen  Gegner",  den  zu  vernichten  anno 
1889  die  Revolutionäre  feierlich  geschworen  haben,  „dem 
Erb*  und  Todfeind:  der  Lüge  in  jeglicher  Gestalt".  Seit 
zwei  Jahren  haben  die  beiden  gefährlichsten  Mittelmäßigkeiten 
der  letzten  deutschen  Dramengeneration  an  Brahm  ihren 
mächtigen  Beschützer,  Denn  gefährlicher  als  etwa  jener  ver* 
Schollene  Sudermann,  der  in  meiner  Kindheit  bekämpft 
werden  mußte,  sind  die  Herren  Schönherr  und  Hardt,  weil 
sie  nur  zu  einem  Drittel  aus  sudermännischen  Elementen  be* 
stehen.  Das  zweite  Drittel  ist  vertrauenerweckender  Wilden* 
bruch,  und  das  dritte  Drittel,  das  selbst  Juden  und  gar  erst 
Universitätsprofessoren  widerstandsunfähig  macht,  ist  hie  Erd# 
geruch,  hie  Sagenstimmung.  So  war  , Glaube  und  Heimat'.  So 
ist, Gudrun'.  Gegen , Gudrun'  aber  sind  Sudermanns  .Strand* 
kinder'  ein  liebenswert  harmloser,  simpler  und  einfältiger 
Schwindel.  Daß  Ernst  Hardts  treues  deutsches  Auge  un* 
zweifelhaft  in  ebenso  holdem  und  ehrlichem  Dichterwahn* 
sinn  rollt  wie  Schönherrs  und  Sudermanns  Augen,  wäscht 
ihn  nicht  rein.  Hier  geht  es  nicht  um  die  Makellosigkeit 
der  Absichten  —  hier  gehts  um  weiter  nichts  als  ums  Ver* 
mögen. 

Dann  aber  wolle  man  mir  erklären,  wodurch  sich  Melide, 
mein  Braunkind,  das  rührendste  der  , Strandkinder*,  von 
Gudrun,  meinem  Nordvogel,  unterscheidet.  Die  Abneigung, 
eine  steinigte  nordische  Heldenwelt  durch  so  sentimentale 
Rufnamen  zu  befettflecken,  kann  es  nicht  sein.  Ist  Gudrun 
vielleicht  in  eine  andere  , Handlung'  gestellt?  Wie  von  An* 
fang  an  Sudermanns  aequatoriale  Maid  den  westpreußischen 
Blondkopf  Heimeringk  Rynkesohn  liebt,  von  ihm  wieder* 
geliebt  wird  und  als  Magd  bei  seinem  Bruder  Püffe  dulden 
muß  —  genau  so  oder  ähnlich  liebt  die  Königstochter  Gud* 
run  den  Normannenkönig  Hartmut,  wird  von  ihm  geliebt 
und  dient  bei  seiner  Mutter  Gerlind.  Dem  Glück  beider 
Pärchen  steht  nichts  im  Wege  als  die  Entschlossenheit 
ihrer  oekonomischen  Erzeuger,  vier  oder  fünf  Dramen* 
akte  zu     füllen   Wie  füllt  man  sie?  Von  der  Wilhelmine 

100 


Heimburg  —  welche  die  Mutter  des  Theaterbastards  Gudrun 
ist,  während  sich  um  die  rühmHche  Vaterschaft  die  Herren 
Wilbrandt,  Kruse  und  ihresgleichen  noch  im  Grab  gesittet 
raufen  werden  —  von  der  Heimburg  also  nennt  sich  ein  Roman : 
.Trotzige  Herzen'.  Hardt  und  Sudermann  verleihen  ihren 
Helden,  die  in  Wahrheit  zahm  und  weich  und  durchaus 
konziliant  sind,  einfach  für  die  Dauer  des  Theaterabends 
trotzige  Herzen.  Aus  der  Trotzigkeit  dieser  Herzen  entstehen 
Emotionen,  Schrecklichkeiten,  Verkennungen  und  Hindere 
nisse,  die  nicht  ohne  Raffinement  zu  einem  scheußlichen 
Klumpen  geballt,  aber  mit  einer  versöhnend  kindlichen  Will* 
kür  wieder  entknäuelt  werden,  sobald  der  Theaterabend  sich 
seinem  Ende  nähert.  Erst  in  der  Art  der  Lösung  trennt  Hardt 
sich  von  Sudermann,  dessen  Werk  er  kaum  gelesen  haben 
wird.  Es  genügt  ihm,  das  Gudrunlied  mißverstanden  zu 
haben.  Braunkinds  Schöpfer  ist  für  Hochzeit;  Hardt  ist  füi 
Nordvogels  Tod.  Im  Ernst,  weil  der  gefällige  Kitsch  ja  tat* 
sächlich  ein  groß  Publikum  und  zahlreiche  Apostel  gefunden 
hat:  dieser  Tod  ist  genau  so  unmotiviert  wie  Nordvogels 
Dasein  und  alle  ihre  übrigen  Verrichtungen  und  Unter* 
lassungen  in  unserem  Theaterstück.  Damit  aber  ist  der  Tat* 
bestand  jener  Wirkungen  ohne  Ursache  gegeben,  gegen  die 
wir  uns  gewendet  haben,  als  Sudermann  sie  erfolgreich  ent* 
fesselte,  und  vor  denen  wir  am  allerwenigsten  in  einem  Falle 
kapitulieren  wollen,  wo  die  Mache  um  so  viel  geschickter 
verhüllt  wird.  Ernst  Hardt  ist  nämlich  wirklich  nicht  dumm. 
Er  hat  schon  begriffen,  wozu  solch  eine  alte  Sage  gut  zu 
sein  pflegt.  Auch  er  entlehnt  alle  Rechte  von  ihr  und  läßt 
sich  durch  sie  von  allen  Pflichten  dispensieren.  Sein  Plan 
ist,  aus  dem  lustig  begrünten  Felsen  dieses  dräuenden  Idylls 
die  (nicht  bloß  wasserhaltigen)  Tränenbäche  eines  Trauerspiels 
zu  schlagen.  Das  ist  an  und  für  sich  nicht  leicht,  weil  Gud* 
run  weder  einen  dramatischen  noch  gar  einen  tragischen  Zug 
hat.  Was  tun?  Hardt  kompHziert  die  starr  und  steile  Jung* 
frau.  Was  weißt  du  Gotenfrau  von  meiner  Seele?  fragt  sie 
den  alten  Drachen   Gerlind.    Davon  weiß  Gerlind   freilich 

101 


nicht  viel  mehr  als  Gudruns  mittelalterlicher  Dichter.  Diese 
Seele  ist  Hardts  Eigentum,  der  sie  erfinden  mußte  und  durfte, 
um  überhaupt  unser  Interesse  zu  erwecken.  Wenn  wir  dann 
aber  über  mancherlei  erstaunt  sind,  wenn  wir  nicht  glauben,  daß 
diese  Gudrun  voll  von  Stolz  und  Stärke  sich  mit  dem  König 
Herwig  so  verblüffend  schnell  verlobt,  daß  selbst  der  Ur* 
großvater  Wate  seinen  waldbewachsenen  Hohlkopf  zweifelnd 
schüttelt  —  dann,  ja  dann  erklärt  Ernst  Hardt,  daß  die  Ver* 
lobung  in  der  Sage  stehe! 

Es  ist  eine  Sage  zum  Auf*  und  Zuklappen,  mit  der  solch 
ein  Dichter  genau  so  hantiert  wie  mit  seinen  anderen  Requi* 
siten:  mit  rasselnden  Harnischen  auf  den  Hünenleibern  ge* 
fühlvoller  Seefahrer;  mit  urtümlich*wölfischen  Zügen  einer 
guten  alten  Pfefferkuchenmutter;  mit  den  blaublümchenhaften 
Regungen  seines  wilden  Nordvogels.  Je  nach  dem,  was  im 
Augenblick  besser  zu  gebrauchen  ist,  wird  der  weiche  Kern 
oder  die  rauhe  Schale  strapaziert.  Es  ist  und  bleibt  doch 
wohl  nobelster  Sudermann  —  mit  einer  Abweichung,  die 
unwesentlich  ist,  aber  immerhin  die  Blamage  einiger  sonst 
unterscheidungsfähiger  Kritiker  verschuldet  haben  mag. 
Während  nämlich  Meliden,  meinem  Braunkind,  Leihbiblio* 
theksromane  das  zu  sagen  gaben,  was  es  leidet,  und  Gudruns 
vorletzter  Dramatisierer,  Julius  Grosse,  der  blasse  Epigone 
hoffnungsloser  Schiller#Epigonentwar,  folgt  Hardt  errötend 
anderen  Spuren.  Aber  ist  das  schöner?  Wenn  ein  , Dichter' 
keine  eigene  Sprache  hat,  so  ist  es  belanglos,  wessen  Sprache 
er  spricht.  Man  schlage  Hofmannsthals  ,Elektra'  auf,  und 
man  weiß  sofort,  in  welcher  Dichterschule  Hardt  gelernt  hat. 
„Nimmst  du  die  Worte  selber  in  die  Hand,  ganz  nackt  und 
bloß,  so  ists  ein  hämisch  schief  gewachsen  und  geifernd  klein* 
lieh  Ding,  geplatzt  wie  Teig.  Und  geil  nach  Größe  wie 
Schierlingskraut."  Wer  Ernst  Hardt  überschätzte,  könnte 
bestreiten,  daß  das  gewöhnliche  Hofmannsthal*Kopie  sei. 
Er  könnte  behaupten,  daß  es  eine  raffinierte  Literaturspielerei 
sein  solle:  zu  zeigen,  wie  Hofmannsthal  selber  versuchen 
würde,  den  Hofmannswaldau  zu  persiflieren.  Aber  es  wird 

102 


wohl  nichts  sein,  als  aufgedunsenes  Unvermögen.  „Jedes  Werk 
der  unechten  Kunst,  das  von  den  Kritikern  in  den  Himmel 
gehoben  wird,  bildet  eine  Tür,  durch  welche  die  Mittel? 
mäßigkeiten  eindringen."  Darum  ist , Gudrun'  nicht  ein  un* 
schuldiger,  sondern  bedrohlicher  Schmarren  und  mußte  mit 
größerem  Nachdruck  zurückgewiesen  werden,  als  bei  einer 
maßvoller  fälschenden  Tagesblätterkritik  nötig  gewesen  wäre. 
.  .  .  Aus  der  ziemlich  anständigen  Aufführung  des  Lessing* 
theaters  ragten  die  beiden  Frauen,  Gerlind  und  Gudrun,  nicht 
nur  weit,  sondern  so  weit,  wie  überhaupt  möglich,  heraus. 
Was  sie  gaben  war:  schlichte  Vollendung.  Die  Triesch  litt 
mehr,  als  sie  leiden  machte,  und  machte  darum  auch  uns 
leiden.  Lina  Lossen  aber,  diese  herbe  und  hohe  Blondheit, 
entwertete  durch  ihr  bloßes  schweigendes  Da^Sein  Hardts 
glibbrige  Zuckerbäckerei  vollends.  Sie  sollte  sich  aus  diesem 
Theater,  wo  sie  nach  anderthalb  Fastjahren  an  eine  solche 
Gudrun  vergeudet  wird,  schleunigst  an  eine  Bühne  retten, 
wo  man  ihr  zuliebe  das  ganze  spezifisch  deutsche  Repertoire 
aufrollen  würde.  Eine  solche  Künstlerin  darf  nicht  mehr 
lange  in  Berlin  sein,  ohne  uns  Clara  Anton  und  Genoveva 
in  ihrem  Bilde  gezeigt  zu  haben. 


JEDERMANN 

Eine  sterile  Sache,  die  keinerlei  Folge  haben  kann,  und  an 
die  deshalb,  auch  deshalb  so  viel  Zeit  und  Fleiß  nicht 
hätte  gesetzt  werden  sollen.  Reinhardt  wird  langsam,  oder  schon 
nicht  mehr  langsam,  instinktschwach.  Früher  wußte  er,  welchen 
Raum,  welchen  Darstellungsstil,  welche  Sorte  Publikum  ein 
Werk  gebraucht.  Früher  hätte  er  sich  bei  diesem  Spiel  von 
,Jedermann'  gesagt,  daß  es  in  eine  Kirche  oder  auf  die  Ger* 
manistenkneipe  gehört :  vor  ganz  heiße  oder  ganz  kalte  Gemüter, 
vor  Gläubige  oder  vor  Durchschauer,  vor  Anwärter  des 
Himmels  oder  vor  uns  Mephistos  —  auf  keinen  Fall  aber  vor 
jedermann.  Jetzt  bringt  er  es  gleich  vor  fünftausend  Jeders= 
manns,  in  deren  Gefühls*  und  Interessensphäre  es  niemals 

103 


eindringen  wird.  Die  innere  Fremdheit  eines  so  massenhaften 
Publikums,  das  seine  Gebetriemen  aus  StaatsobHgationen 
schneidet  oder  doch  am  Hebsten  schnitte,  erzeugt  zusammen 
mit  seinem  Snobismus  einen  Brodem,  worin  auch  der  rein 
sachHche  Anteil  des  kühl  betrachtenden  Kenners  schlecht  ge* 
deiht.  Wir  werden  verärgert  und  gelangweilt.  Was  denn? 
Buhlt  ihr  um  den  Beifall  der  Menge  von  heute,  so  gebt  ihr 
entweder  ihre  lebendige  Gegenwart  oder  ein  Stück  der  Ver* 
gangenheit,  das  sie  noch  empfindet.  Wendet  ihr  euch  an  uns, 
so  ladet  uns  in  die  Kammerspiele  und  rekonstruiert  eine 
primitive  Kunstform  mit  primitiven  Mitteln.  Auch  die  lon# 
doner  Aufführungen  solcher  Lehrhaftigkeiten  finden  in  kleinen 
Häusern  statt. 

Dabei  ging  es  im  Zirkus  nicht  etwa  protzig  her.  Der  reiche 
Jedermann  sprang  in  das  völlig  kahle  Rund  und  ersuchte  uns, 
seinen  Grundbesitz  mit  Augen  des  Geistes  zu  umfassen.  Man 
hat  ihn  sich  dort  zu  denken,  wo  unsere  Garderobe  aufbewahrt 
wird.  Wo  aber  vor  sechs  Wochen  das  Haus  der  Atriden 
brütete,  erhebt  sich  heute  eine  Art  Mysterienbühne.  Vom 
Parterre  zum  Hochparterre  führt  eine  Treppe;  das  Hochpar* 
terre  bildet  ein  Plateau,  auf  dem  für  das  Gastmahl  Jedermanns 
ein  Tischlein*deck*dich  aus  der  Versenkung  auftauchen  wird; 
der  erste  Stock  birgt  hinter  gotischen  Spitzbogen  und  schwarz* 
goldenen  Vorhängen  Mönche,  Weihrauch,  Heiligenscheine, 
Orgeln  und  andere  hieratische  Gegenstände;  und  den  zweiten 
Stock  hat  sich  Gott  selber  vorbehalten,  um  uns  entweder 
seinen  Hofstaat  zu  zeigen  oder  aus  einem  Strahlenkegel  heraus 
den  Tod  gegen  Jedermann  aufzuhetzen.  Wie  nun  der  Tod 
den  armen  Reichen  mitten  in  seinen  Genüssen  antritt,  ihm 
gar  keine  Frist  gibt,  ihn  gleichwohl  aber  in  den  Himmel  läßt, 
weil  zwei  Schwestern  —  die  ,Werke',  die  er  nicht  getan,  und 
der  , Glaube',  den  er  nicht  gehabt  hat  —  feurige  Kohlen  auf 
sein  Haupt  sammeln  und  sich  für  ihn  verwenden:  das  ist  der 
Inhalt  des  allegorischen  Spiels,  das  aus  der  altjüdischen  Literatur 
über  England,  Holland  und  Hans  Sachs  bis  ins  zwanzigste 
Jahrhundert  und  nach  Rodaun  gelangt  ist,  wo  Hugo  von  Hof* 

104 


mannsthal  es  jetzt  wieder  aufgezeichnet  hat.  In  Bescheidenheit, 
wie  er  selber  richtig  sagt.  Denn  es  wäre  nicht  leicht,  gerade 
ihn  als  Erneuerer  dieser  dramatischen  Parabel  zu  entdecken. 
Soweit  ich  vergleichen  konnte,  unterscheidet  sich  seine  Fassung 
—  abgesehen  von  den  kleinen  Einschiebseln,  die  er  als  solche 
kenntlich  gemacht  hat  —  von  der  mittelalterlichen  Fassung 
nur  dadurch,  daß  er  die  aufrichtige  Erschütterung  Jedermanns, 
der  dieser  schließlich  die  Fürsprache  der  beiden  mildtätigen 
Schwestern  verdankt,  wesentlich  früher  eintreten,  daß  er  den 
Tod  als  Gast  beim  Mahl  erscheinen,  und  daß  er  der  Gottheit 
nervöser,  unruhiger,  verzückter  huldigen  läßt.  Der  moderne 
Wortkünstler  hat  im  übrigen  wenig  Gelegenheit.  Der  Dialog 
soll  eine  bibhsch*kräftige  Einfalt,  soll  Knüttelreim*Derbheit 
neben  fröhlich*naiver  Frommheit  haben ;  und  da  tut  Hofmanns* 
thal  am  besten,  seine  Besonderheiten  zu  verleugnen.  Aber 
jene  drei  oder  vielleicht  auch  mehr  Veränderungen  erweisen 
sein  dramatisches  Temperament,  das  auf  Steigerung,  Kon* 
trastierung,  Zirkulation  gerichtet  ist. 

Hätte  er  nicht  nur  dramatisches  Temperament,  wäre  er 
Dramatiker  von  Geburt  und  Geblüt,  so  hätte  er  im  Interesse 
seiner  Arbeit  Reinhardt  von  der  Manege  abgebracht  und  damit 
auch  diesem  genützt.  Nach  drei  Zirkusspielen  weiß  man,  was 
sie  gemeinsam  haben,  was  also  dem  Raum  anhaftet,  und  daß 
das  dem  Wesen  des  Dramas  fremd  und  schädlich  ist.  Ich 
meine  nicht  die  komischen  Unzulänglichkeiten  dieses  be* 
stimmten  Pferdezirkus,  die  Reinhardt  selber  kennen  wird:  ich 
meine  die  immanenten  Gefahren  der  Arena,  die  ihm  vorschwebt. 
Die  ungeheure  Größe  des  Raums  erfordert  auch  eine  unge* 
heure  Verbreiterung  der  Darstellung,  deren  Charakter  dadurch 
undramatisch  wird.  Bis  eine  Einheit  von  fünftausend  Zu* 
schauern  begreift,  was  bisher  ein*  bis  allerhöchstens  zweitau* 
send  vorgespielt  worden  ist,  vergeht  dreimal  so  viel  Zeit.  Je* 
der  weiß,  wie  viel  schneller  eine  Schulklasse  von  fünfzehn  Kin* 
dem  vorwärtskommt  als  eine  von  sechzig.  Hier  der  Lehr*,  dort 
der  Anschauungsstoff  muß  aus  Rücksicht  auf  die  Schafsköpfe 
faßhcher,  allzu  faßlich  dargelegt  und  bis  zum  Überdruß  aller 

105 


helleren  Hirne  wiederholt  werden.  Man  sehe  sich  daraufhin 
die  Aufführung  von  Jedermann'  an  und  wende  nicht  ein, 
daß  ,Turandot'  ja  eigentlich  weit  gröber  ausgefallen  ist.  Dem 
Regisseur  der,Turandot'  hatte  der  Zirkus  bereits  den  Maßstab 
für  das  Theater  genommen;  der  Regisseur  von  Jedermann' 
kam  wiederum  aus  dem  Theater  in  den  Zirkus  zurück.  Wie 
dem  aber  auch  sei:  zu  Hofmannsthals  Buch  und  seinem  Ge« 
wicht  oder  seiner  Leichtigkeit,  zu  der  Schlankheit  der  Fabel, 
die  gar  keine  Fabel  ist,  und  der  Jachheit  ihrer  Abwicklung 
steht  diese  Umständlichkeit  und  Schwerfälligkeit  in  einem 
argen  Mißverhältnis.  Reizend,  lustig,  anmutig,  wie  Jeder* 
manns  Gäste  zum  Mahle  getanzt  kommen  —  wenn  nur  dieser 
Tanz  ein  bißchen  kürzer  gefaßt  wäre!  Von  buntester  Drastik 
dieses  Mahl  selber  —  wenn  nur  das  Volk  ein  bißchen  früher 
aufhörte,  sich  ganz  kannibalisch  wohl  zu  fühlen!  Vielleicht 
könnte  sogar  jede  Einzelheit  für  sich  so  lange  dauern,  wie 
sie  hier  dauert.  Aber  daß  alle  Einzelheiten  gleich  lange  dauern : 
das  spannt  uns  so  ab.  Die, Solisten' sindnichtschuld.  Bisauf  das 
Vorspiel  im  Himmel,  das  von  Gott  und  Tod  zu  gleichmäßig 
lautheruntergeschrien  wird,  ist  die  Vorstellung  schauspielerisch 
vollkommen  geglückt.  Von  der  ersten  Szene,  wo  Moissis 
Jedermann  und  Wintersteins  Guter  Gesell  wie  aus  einem 
alten  Holzschnitt  hereinhüpfen,  in  die  Hände  klatschen,  die 
Köpfe  werfen,  die  Worte  hacken,  die  Bewegungen  abzirkeln 
und  Interjektionen  juchzen,  bis  zu  der  vorletzten  Szene,  wo, 
wie  auf  einem  alten  Altargemälde,  die  blaue  Mary  Dietrich 
vor  goldenem  Grunde  in  himmlischer  Schönheit  des  Angesichts, 
der  Seele  und  der  Kehle  mit  Biensfeldts  überlebensstruppigem 
und  «ruppigem  Volksbuchteufel  um  Jedermann  kämpft:  von 
Anfang  bis  zu  Ende  böten  die  Schauspieler  einem  Regisseur, 
wie  sie  ihn  nicht  besser  finden,  ein  Material,  wie  er  es  nicht 
besser  findet.  Hätte  er  sich  nur  auch  das  richtige  Publikum 
gesucht  und  es  in  das  richtige  Haus  gesetzt! 


106 


OFFIZIERE 

Ein  vieraktiges,  sechsbildriges,  zerfallendes,  handlungsarmes, 
langsames  und  langatmiges  Schauspiel,  das  keinen  ganz 
kalt  entläßt.  Es  tolpatscht  herum  wie  ein  junger  Hund,  dem 
man  gut  sein  muß.  Von  einer  fast  rührenden  Unschuld. 
Auch  die  Knalleffekte  hat  dieser  Autor  nur  aus  kindlicher 
Freude  am  Knall,  nicht  aus  listiger  Berechnung  des  Effektes 
hingesetzt.  War'  er  besonnen,  hieß  er  nicht:  von  Unruh. 
Es  gärt  in  ihm  selbst,  wie  in  diesen  Leutnants  aller  Spiel* 
arten,  deren  Gesamtheit  ungefähr  die  Jugend  des  preußischen 
Heeres  darstellen  soll  und  wohl  auch  darstellen  wird.  Jeden* 
falls  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  ich  das  Milieu  besser 
kenne  als  Herr  von  Unruh,  nicht  groß  genug,  um  mich  zu 
einer  Kritik  an  wunderlichem  Detail  zu  ermutigen.  Wenn 
ein  dichtender  Offizier  behauptet,  daß  auf  Kasinobällen  mit 
adligen  Fräuleins  so  fragwürdig  umgegangen  wird,  dann 
werde  ich  eben  über  Kasinobälle  meine  Meinung  ändern,  noch 
bevor  es  sich  mir  gelohnt  hat,  eine  zu  haben.  Aber  es  zeugt 
für  unsere  Armee,  daß  selbst  die  mittelmäßigsten  Kavaliere 
dieser  kleineren  oder  größeren  Garnison  es  süß  und  ehren* 
voll  finden,  für  das  Vaterland  zu  sterben,  sobald  es  in  Gefahr 
gerät;  und  es  zeugt  für  Unruh,  daß  er  die  Sachlage  lange 
nicht  so  pathetisch  ausdrückt,  wie  ich  es  hier  getan  habe. 
Der  Patriotismus  unseres  patriotischen  Dramas  wird  nirgends 
übertrieben  betont.  Er  ist  da,  und  diese  Selbstverständlich* 
keit  entspricht  der  volksstückhaften  Ungezwungenheit  der 
Technik,  ohne  daß  mir  beides  gleich  lobenswert  erschiene. 
Auf  der  Bühne  läßt  die  Zeit  nicht  ungestraft  mit  sich  aasen. 
Daß  die  Wirkung  gerade  da  schwach  wird,  wo  gehalten 
werden  müßte,  was  die  kräftige  Einleitung  versprochen  hat, 
liegt  aber  nicht  daran,  daß  Unruh  gewissenhaft  jede  ange* 
fangene  Figur  zu  Ende  führt,  sondern  daran,  daß  er  es  mit 
solcher  Gemächlichkeit,  daß  er  es  nicht  mit  den  Mitteln  der 
dramatischen  Kunst  tut.  Gewiß  entsteht  gerade  aus  der  Fülle 
der  Gesichte  und  Schicksale,  aus  ihrer  Ähnlichkeit  und  ihrer 
Verschiedenheit,  die  besondere  Lebensluft  des  Werkes.  Dieser 

107 


Schlichting,  der  im  Fieber  des  kriegerischen  Ehrgeizes  den 
Fehltritt  des  Homburgers  begeht,  aber  mit  einer  tödUchen 
Verwundung  büßt;  dieser  Mister  Albemarle,  der  mit  der 
Liebe  zu  SchHchtings  Braut  halb  brackenburgisch,  halb  toggen* 
burgisch  herumläuft ;  dieser  Werckmeister,  den  Pfiffigkeit  und 
unverwüstliche  Gutgelauntheit  nicht  hindern,  im  Ernstfall  an* 
dächtig  zum  Himmel  aufzublicken  und  sich  als  ganzen  Kerl 
zu  erweisen;  dieser  Detlefsen,  der  das  Leben  der  Hellenen 
in  jeder  Beziehung  nachleben  möchte;  dieser  Rüxleben,  der 
gar  nicht  so  trocken  ist,  wie  er  sich  stellt;  dieser  Henner,  der 
solange  den  Windhund  und  Galgenstrick  und  Macao  spielt, 
bis  er  seinen  letzten  Heller  und  die  Charge  verliert,  der  aber 
im  Felde  nur  ein  Gefecht  braucht,  um  wieder  zum  Leutnant 
befördert  zu  werden  — :  sie  sind  alle  unentbehrlich,  weil  erst 
sie  alle  zusammen  die  Melodie  der  Dichtung  hervorbringen. 
Wenn  sie  nur  auch  das  Tempo  eines  Dramas  hervorbrächten! 
Die  Gefühlsspannung  ist  da.  Aber  es  fehlt  die  Energie,  die 
zusammenschweißt,  der  Druck,  der  Extrakte  erpreßt  —  es 
fehlt  vorläufig  die  Fähigkeit,  hart,  sachlich,  eben:  dramatisch 
zu  charakterisieren.  So  darf  in  einem  Roman  der  eine  Wagen 
immer  ein  Stück  vorwärtsgeschoben  und  dann  wieder  stehen 
gelassen  werden,  bis  der  andere  Wagen  nachgerückt  ist.  Der 
Witz  des  Dramas  ist,  daß  ein  einziger  Tritt  zugleich  zehn 
Fäden  regt.  Davon  weiß  Unruh  so  viel,  wie  ich  von  den 
Eigentümlichkeiten  einer  gefährdeten  Signalstation  im  Lande 
der  Ovambos  oder  Hereros.  Wenigstens  verrät  er  nicht,  daß 
er  mehr  davon  weiß.  Selten  hat  ein  Erstling  so  vollzählig 
alle  Schwächen  der  Anfängerschaft  vereinigt.  Aber  freilich 
zeigt  er  daneben  alle  Vorzüge  der  Jugend.  Unruhs  Naivität 
hat  Ungestüm.  Sein  Geist  schwärmt  sympathisch.  Auch  ihm 
könnte  man,  wie  seinen  Vorgängern  Hartleben  und  Beyerlein, 
nachsagen,  daß  er  die  Buntheiten  des  Milieus  zu  harmlosen 
Nebenspäßen  ausbeute,  wenn  er  es  nicht  zu  wohltuend  un* 
geschickt  anstellte,  als  daß  man  ein  so  aktives  Verbum  ge* 
brauchen  dürfte.  Diese  burschikosen  Humore  blühen  ihm  — 
hier  üppiger,  dort  spärlicher  —  zu.  Er  ,macht'  überhaupt  wenig. 

108 


Er  verzichtet  ganz  auf  die  grelle  Kontrastierung  des  Militärs 
zum  Bürgertum.  Er  bleibt  in  seinem  Stande  und  nährt  sich 
redhch  von  dessen  Tragiken  und  Glücksmöglichkeiten.  Be* 
quemlichkeit  und  Schmählichkeit  des  Friedens,  Not  und 
Herrlichkeit  des  Krieges:  das  wird  geschildert,  aber  weder 
renommistisch  zugunsten  des  PCrieges  noch  quietistisch  zu« 
gunsten  des  Friedens  bewertet.  Was  Unruh  für  besser  hält,  ist 
höchstens  daraus  zu  schließen,  daß  im  Frieden  die  Laster,  im 
Kriege  die  Tugenden  seiner  Offiziere  hervorbrechen.  Wenn  wir 
mit  Recht  indirekte  Charakteristik  im  Drama  verlangen,  so  ist 
Unruh  zuzugestehen,  daß  er  indirekt  charakterisieren  kann:  er 
müßte  eben  nur  noch  lernen,  dramatisch  zu  charakterisieren, 
falls  es  zu  lernen  ist.  An  der  Sprache  liegt  es  nicht.  Unruh 
versteht  nicht  nur,  seine  Personen  reden,  er  versteht  sogar, 
sie  schweigen  zu  lassen.  Auf  dem  Schiff  teilt  ein  Offizier 
seine  Todesangst  den  anderen  und  uns  ohne  Worte  und  dar« 
um  beklemmend  mit.  Kurze  Ausrufe  bewirken  ebensoviel. 
„Geliebter  Bengel!"  murmelt  der  Oberst  hinter  seinem 
Schwiegersohn  her  und  beleuchtet  damit  sich  und  sein  Ver* 
hältnis  zu  Schlichting.  Für  den  Schlenderdialog  der  lustigen 
Episoden  hat  Unruh  Wendungen  von  volkstümlicher  Dra« 
stik  benutzt,  die  sicher  auch  Offizieren  geläufig  sind.  Wo  es 
ernst  wird,  werden  die  Sätze  zu  einer  prachtvollen  soldatischen 
Knappheit  gehämmert,  die  manchmal  sogar  in  unnatürliche 
V^errenkungen  ausartet,  und  auf  Grund  deren  Unruh  viel* 
leicht  sein  ursprüngliches  Dramatikertum  behaupten  wird. 
Das  wäre  eine  Verwechslung.  Es  kann  in  den  längsten  Sätzen 
ein  mustergültig  dramatisches  Gespräch  geführt,  es  kann  in 
den  kürzesten  endlos  breit  geschwätzt  werden.  In  den  beiden 
mittleren  Bildern  dieses  Stückes  wird  die  Geschwätzigkeit 
unerträglich. 

Hier  hätte  die  Hilfe  des  Deutschen  Theaters  einsetzen 
müssen.  Künstler  sein,  auch  Regiekünstler  sein,  heißt:  opfern 
können.  Aber  nicht  nur  wurde  dem  Dichter  kein  Sterbens« 
wörtchen  geraubt:  man  zelebrierte  ihn  obendrein  wie  einen 
Klassiker.  Jede  Stimmung  wurde  liebevoll  mit  Lichtern  und 

109 


Schatten  versehen  und  lastete,  statt  vorüberzufliegen.  Bei  der 
Besetzung  hatte  man  den  Fehler  begangen,  nur  die  erste  und 
die  siebente  Garnitur  heranzuziehen.  Die  wichtigen  Rollen 
wurden  so  vollendet  gespielt,  wie  es  in  keinem  anderen  Hause 
als  diesem  möglich  ist,  die  unwichtigen  gleich  so  erbärmlich, 
wie  es  nicht  an  allen  kleinen  Provinztheatern  möglich  wäre. 
Auf  dem  Kasinoball  konnte  man  fast  glauben,  daß  nicht  die 
Figuren  des  Stücks,  sondern  die  Darstellerinnen  zur  Strafe 
für  ihren  Mangel  an  Menschenähnlichkeit,  Talent  und  Ge# 
schmack  so  schlecht  behandelt  wurden,  und  daß  es  Schlich* 
tings  Braut  bloß  darum  besser  erging,  weil  Frau  Gebühr  seit 
Moritz  Heimanns  |,Joachim  von  Brandt'  an  Schönheit  und 
Vornehmheit  nicht  verloren,  an  Schauspielkunst  aber  ein  biß« 
chen  zugenommen  hat.  Von  den  Männern  wetteiferten  sieben 
mit  einander.  Diegelmanns  kameradschaftlicher  Pfarrer  strahlte 
von  Milde  und  Menschenfreundlichkeit.  Bei  Wintersteins 
Rüxleben  bedauerte  man,  daß  die  Rolle  nicht  größer  ist. 
Wegeners  Oberst  war  die  vorbildlich  gute  preußische 
Kargheit  selber.  Biensfeldts  schottischer  Liebesschmerz  bHeb 
vor  jeder  Komik  gefeit,  was  bei  einem  Komiker  dieses  Ranges 
nicht  wenig  heißen  will.  Auch  Waßmann  traf  mühelos  nach 
der  Schnurrigkeit  die  Warmherzigkeit  und  Zuverlässigkeit 
des  Barons  Werckmeister.  Kayßler  gab  bewegt  und  bewegend 
und  mit  dem  nötigen  Schuß  Hysterie  Ernst  von  Schlichting, 
diesen  tapferen,  hochgemuten  Jungen.  Bassermann  schließlich 
machte  aus  dem  Henner,  der  im  Buch  einer  von  mehreren  ist, 
die  Hauptperson  des  Stücks  und  die  Glanzleistung  der  Auf* 
führung,  ohne  die  Bescheidenheit  der  Natur  um  ein  Haar  zu 
verletzen. 


DIE  NIBELUNGEN 

Trotzdem  der  Kaiser  von  Hebbels  Werken  dieses  für  das 
stärkste  hält  (und  nach  der  schlechten  Aufführung  des 
Schauspielhauses  sicherlich  weiter  dafür  halten  wird)  —  trotz* 
dem  gehört  es  zu  seinen  schwächeren.  Wenigstens  als  Gesamt* 


110 


heit.  Man  muß  die  Triiogie  schon  an  der  „dicken  Barbarei" 
der  Wagnerschen  Tetralogie  messen,  um  sie  auch  als  Gesamt* 
heit  hochzuschätzen.  Dann  bezwingt  ihre  ethische  Reinlich* 
keit,  ihr  nicht  bloß  angemaßtes  Gefühl  kultureller  Verantwor* 
tung,  ihre  Ungedunsenheit.  Sie  leidet  erst,  wenn  man  an  den 
Griff,  die  Konzentrationskraft  und  die  selbstverständliche  Pro* 
blematik  und  Symbolik  der  dramatischen  Großtaten  dieses 
Hebbel  denkt.  Dann  ist  der  Reihe  nach  zu  sagen:  daß  aus 
dem  uneinheitlichen  Nibelungenlied  mit  seinen  verschiedenen 
Welten  und  seinen  allzu  zahlreichen  Helden  ein  Drama  im 
strengsten  Sinne  überhaupt  nicht  zu  machen  war;  daß  trotz 
dieser  unüberwindlichen  Widerspenstigkeit  der  Vorlage  Heb* 
bei  ihrer  epischen  Natur  erfolgreicher  hätte  zu  Leibe  gehen, 
daß  er  nämlich  im  zweiten  wie  im  dritten  Stück  je  zwei  Akte 
auf  einen  hätte  bringen  können;  daß  schließlich  der  weltge* 
schichtliche  Ausblick  der  Dichtung,  der  Sieg  des  Christen* 
tums  über  das  Heidentum,  sich  nicht  von  selbst  eröffnet,  son* 
dem  ein  bißchen  künstlich,  ein  bißchen  gewaltsam  am  Ende  er* 
öffnet  wird.  Was  aber  als  Gesamtheit  unvollkommen  ist, 
braucht  es  durchaus  nicht  in  seinen  Teilen  zu  sein.  Das  gilt  für 
Menschen,  das  gilt  für  Dramen.  Der  Wert  der , Nibelungen'  ruht 
in  Einzelheiten,  die  schlechtweg  vollkommen  sind :  in  einzelnen 
Aufzügen,  Auftritten,  Worten,  Visionen,  Naivitäten,  Balladen* 
Stimmungen,  Verdichtungen,  Zusammenstößen  und  Steige* 
rungen.  Diese  Triiogie  ist  eine  Folge  von  riesenhaften  Idyl* 
len  mit  tragischem  Unterton,  Gehalt  und  Ziel.  Das  klingt 
paradox.  Aber  es  ließe  sich  zeigen,  wie  hier  in  Wahrheit 
Pastorale  und  Eroi'ca  gemischt,  Helden  unheldisch  und  Wal* 
küren  menschlich  sind,  wie  Todgeweihtheit  lyrisch,  Nächtig* 
keit  leuchtend,  entfesselte  Sturmmusik  melodiös,  Chaos  zweck* 
voll  gesichtet  und  urtümlich  wütende  Grausamkeit  förmlich 
zivilisiert  ist.  Künstlerisch  ist  hier  nicht  Heidentum  von  Chri* 
stentum  besiegt  worden,  sondern  Heidentum  in  unvergleich* 
lieber  Weise  mit  Christentum  durchdrungen.  Es  mag  gar 
nicht  leicht  sein,  diesen  bestimmten  Charakter  einer  monu* 
mentalen  Gebrochenheit,  einer  klugen  Zauberhaftigkeit,  einer 

111 


würdevoll  gehaltenen  Ekstatik,  die  Abenddämmerung  einer 
untergehenden,  die  Morgendämmerung  einer  entstehenden 
Welt  auf  der  Bühne  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  dazu 
noch  irgendwie  durch  mutige  dramaturgische  Arbeit  und 
durch  Farbe  und  Flamme  die  Einheit  zu  schaffen,  die  Heb* 
bei  nicht  erreichen  konnte.  Aber  ob  leicht  oder  nicht  leicht: 
wenn  eine  Aufführung  uns  mehr  leisten  soll  als  die  Lektüre 
der  Dichtung,  so  muß  der  Regisseur  sich  zunächst  einmal 
über  ihre  Besonderheit  klar  geworden  sein  und  sie  den  Schau:« 
Spielern  klar  gemacht  haben.  Wie  weit  es  ihm  gelungen  ist, 
seine  Auffassung  durch*  und  umzusetzen:  davon  wird  der 
Grad  unserer  Anerkennung  abhängen. 

Auffassung?  In  der  Neueinstudierung  des  Schauspielhau* 
ses  wäre  dergleichen  schwer  zu  entdecken.  Diese  Regie  ist 
stumpf  gegen  den  Unterschied  von  Geibel  und  Goethe,  von 
Kleist  und  Körner,  von  Halm  und  Hebbel.  Bei  Brahm  wird 
alles  wie  Hauptmann:  hier  wird  alles  wie  Schiller  gespielt, 
ohne  daß  Schiller  etwa  schön  gespielt  würde.  Für  diese  Regie 
sind  die  , Nibelungen'  ein  Rinnsal  von  Versen,  von  denen  im 
Hinblick  auf  die  schickliche  Länge  zweier  Theaterabende 
eine  genau  zu  berechnende  Anzahl  gestrichen  wird.  Es  ist 
nur  Zufall,  daß  dabei  mehr  unentbehrliche  als  entbehrliche 
fallen.  Der  Rest  wird  gesprochen,  wird  grauenhaft,  zuläng* 
lieh,  gut,  besser,  am  besten  gesprochen  —  wie  eben  der  Schau* 
Spieler  es  kann,  der  aus  irgendeinem  Grunde  gerade  diese 
Rolle  bekommen  hat.  Für  unsereinen  ist  der  Grund  nicht  immer 
zu  finden.  Die  Stärke  dieses  Theaters  liegt  in  der  Verwaltung, 
und  so  werden  wohl  heimliche  oder  unheimliche  bureaukra* 
tische  Erwägungen  bei  der  Besetzung  mitzureden  haben.  An* 
ders  ist  kaum  zu  erklären,  warum  für  ein  so  wichtiges  und 
anspruchsvolles  Werk  nach  jahrelanger  feierlicher  Ankündi* 
gung  ein  paar  der  besten  Kräfte  überhaupt  nicht  verfügbar  sind ; 
und  warum  Herr  Patry,  der  dem  Volker  gewachsen  wäre,  mit 
der  Regieführung  überbürdet  wird.  Auf  diese  Weise  wird 
weder  sichtbar,  was  Hebbel  gewollt  hat,  noch  was  das  Schau* 
spielhaus  am  Ende  doch  vermag.  ,Penthesilea',  nur  dem  Um* 

112 


fang  nach  eine  kleinere  Aufgabe,  war  nicht  nach  unserem  Ge* 
schmack,  aber  immerhin  so  anständig  bewähigt,  daß  sich  dar* 
über  reden  ließ.  Hier  herrscht  die  verdrießlichste  Glätte, 
Verwaschenheit,  Konvention.  Es  formen  sich  Gruppen  von 
unnatürlich  symmetrischer  Korrektheit  und  lösen  sich  wieder 
auf,  um  besonders  lederne  Gesellen  für  den  Einzelkampf  ge* 
gen  Hebbel  freizugeben.  Wie  das  schreitet,  sich  dreht,  die 
Augen  rollt,  die  Mähne  schüttelt,  den  Kopf  auf  die  Schulter 
legt,  den  rechten  Arm  ausstreckt,  die  gespreizte  Hand  zum 
Busen  führt,  sie  zur  Faust  ballt,  sich  langsam  beruhigt  und 
zurück  in  Reih  und  Glied  tritt!  Hat  das  die  Oper  vom  Schau* 
spiel,  oder  ist  es  umgekehrt?  Am  ehesten  sind  noch  die  Herr« 
Schäften  möglich,  die  aus  dem  ,modernen'  Schauspiel  und 
Lustspiel  stammen,  weil  sie  wenigstens  den  Gang  und  den 
Ton  von  Menschen  haben,  wenn  auch  leider  nicht  von  „Hei* 
den,  Christen  oder  Menschen".  Gerade  das  aber  wäre  hier 
nötig,  weil  ja  die  Welt  dieser  Trilogie  in  drei  Welten  zer* 
fällt,  deren  Wesen  Wildheit,  Weichheit  und  Widerspruch* 
lichkeit  ist.  Es  wird  kaum  zu  beweisen  sein,  daß  die  Regie 
das  nicht  gewußt  hat.  Aber  auf  die  Thora  will  ich  schwören, 
daß  die  Wildheit  meistens  als  ein  struppiges,  schrecklich  mas* 
sives,  vorsintflutliches  Pathos,  die  Weichheit  als  schwächliche 
Süßlichkeit  und  die  Widersprüchlichkeit  überhaupt  nicht  her* 
ausgekommen  ist.  Siegfried  ist  ein  liebes  Jungchen,  das  Mat* 
kowskys  Armbewegungen,  Schritte,  Tonfälle,  Schreie  und  Hu* 
more  in  einer  niedlich  gesänftigten  Fassung  noch  ein  paar 
Jahrzehnte  am  Leben  erhalten  wird;  und  nachdem  man  die 
Leistungen  von  achtundzwanzig  seiner  Partner  mit  dem  Schwei* 
gen  der  Achtung  oder  Mißachtung  übergangen  und  der  kleinen 
Thimig  für  ihre  holdselig  befangene  Gudrun  die  Hände  ge* 
küßt  hat,  behält  man  von  den  Hauptgestalten  zwei  übrig, 
von  denen  eine  Kritik  und  eine  Lobpreisung  verdient. 

Kraußneck  bemüht  sich  redlich  um  den  Hagen.  Aber 
was  ist  Hagen  nicht  alles!  Der  geschmeidigste  Diplomat, 
der  rücksichtsloseste  Realpolitiker,  der  furchtloseste  Ritter, 
eine  dunkelprächtige,  tiefzerklüftete  Seele  und  sogar  eine  Art 

8  113 


Liebhaber;  denn  er,  der  Siegfried  fast  ebenbürtig  ist,  rächt 
Brunhild  nicht  bloß,  weil  er  seinem  König  ein  treuer  Vasall 
ist,  sondern  auch,  weil  er  sie  im  stillen  liebt.  Für  diesen 
Hagen  hat  Kraußneck  aus  seiner  Natur  die  seltene  physische 
Kraft,  die  durch  elf  Akte  nicht  zu  ermüden  ist,  und  aus  sei* 
ner  Schminkschatulle  die  Blässe  und  die  hohlen  Todesaugen, 
die  ihm  nachgesagt  werden.  Nur  daß  beides  nicht  genügt. 
So  kann  man  Hagens  Zwiespältigkeit  allenfalls  plakatieren, 
aber  nicht  gestalten.  Weil  der  Grundzug  des  Schauspielers 
Kraußneck  die  zuverlässige  Biederkeit  eines  Lerse  und  eines 
Stauffacher  ist,  kann  er  —  ohne  Regisseur!  —  nicht  anders, 
als  Hagens  heroische  Verschlagenheit  teils  durch  Trotzigkeit 
vereinfachen,  teils  durch  Brunnenvergiftertum  fälschen.  Aller* 
dings  ist  seine  Sprechkunst  so  außerordentlich,  daß  an  ein 
paar  Stellen  die  rechte  Hebbelsche  Luft  wie  von  selbst  ent* 
steht.  Manchmal  wieder  wird  er  nur  von  seinen  Partnern  im 
Stich  gelassen.  Die  souveräne  Sterbensstimmung  der  Szene, 
wo  Hagen  im  Burghof  sitzt,  seine  Lage  kennt,  die  Heunen 
scheucht  und  Volkers  Spiel  in  sich  einsaugt,  muß  bei  diesem 
Volker  und  bei  den  melodramatischen  Absichten  der  Regie 
verpuffen.  Was  bleibt?  Brunhild.  Die  Poppe  hat  einen  dop* 
pelten  Erfolg  gehabt.  Wir  haben  ihre  Brunhild  bewundert 
und  uns  nach  ihrer  Kriemhild  gesehnt;  denn  Frau  Willig 
ist  keinen  Augenblick  Hebbels  Kriemhild  oder  sonst  ein 
menschliches  Geschöpf  gewesen.  Die  Poppe  steht  da  und 
ist  einfach  Brunhild:  aus  dem  Mythos  entsprungen;  mit 
dem  Profil  Melpomenens  selber;  mit  Augen,  die  Brände 
zum  Himmel  lodern;  mit  Erzklängen  in  der  Stimme;  von 
einem  überlebensgroßen  Schicksal  gezeichnet.  Ein  mäch* 
tiges  Bild,  und  mehr  als  ein  Bild.  Sie  redet,  wo  sie  früher 
rädete;  ja,  sie  ist  gegen  diese  ihre  Untugend  allzu  energisch 
vorgegangen:  sie  wünscht  jetzt,  daß  er  keeme.  Wenn  sie  sich 
auch  die  neue  Übertreibung  schnell  wieder  abgewöhnt  und 
sich  darüber  klar  wird,  daß  sie  bei  tragischen  Erschütterun* 
gen  nicht  umherzuwanken  und  keine  einzige  Fratze  zu  schnei* 
den  braucht,  daß  sie  uns,  im  Gegenteil,  ihr  aufgewühltes  In* 

114 


nenleben  ohne  Gliederverrenkungen  und  mit  starrem  Gesicht 
noch  viel  eindrucksvoller  übermitteln  kann:  dann  wird  sie 
den  Glücksfall  einer  deutschen  Heroine  rein  und  groß  ver* 
körpem. 

Zwei  Abende,  drei  Dramen,  elf  Akte,  an  die  dreißig  Dar* 
steller  —  und  der  Ertrag?  Die  winzige  Episode  der  Gudrun, 
ein  paar  Reden  des  Hagen  und  die  gewaltige  Episode  der 
Brunhild,  Solch  eine  Aufführung  gibt  also  in  Wahrheit  be* 
trächtlich  weniger  als  das  Buch.  Das  Buch  beflügelt  meine 
Phantasie:  solch  eine  Aufführung  erdrückt  sie.  Wenn  zwischen 
charakterlosen  Dekorationen,  die  gestern  zu  den  .Karolingern' 
gepaßt  haben  und  morgen  zu ,  Arria  und  Messalina'  passen  wür* 
den,  ein  paar  Dutzend  Beamte  in  ehrlicher  Nüchternheit  oder 
falscher  Begeisterung  an  einander  vorbei  deklamieren,  so 
geht  wohl  oder  übel  mit  Hebbels  Spiritus  auch  meine  Ein* 
bildungskraft  zum  Teufel.  Mein  Aug  ist  zugefallen,  ich  sank 
in  tiefen  Schlaf.  Trotzdem  richtet  sich  mein  Groll  nicht  gegen 
Hülsen,  Lindau  und  Patry,  sondern  gegen  Reinhardt.  Sie 
brächten  mit  heißester  Mühe  kein  Kunstwerk  in  unserem  Sinne 
zustande.  Er  aber  brauchte  seine  Gaben  nur  zu  nutzen.  Mit 
Moissi  als  Günther,  Kayßler  als  Hagen,  Winterstein  als  Vol* 
ker,  Wegener  als  Etzel,  Diegelmann  als  Rüdiger,  Bassermann 
als  Siegfried,  der  Dietrich  als  Brunhild  und  Kriemhild  —  so 
wären  seine  .Nibelungen'  auch  unsere  .Nibelungen',  Leider 
lockt  ihn  dergleichen  nicht  mehr.  Er  stellt  im  Herbst  sein  Thea* 
ter  durch  ein  Ausstattungsstück  wie  ,Turandot'  sicher,  um 
während  der  beiden  Hauptwintermonate,  frei  von  Repertoire* 
sorgen,  allabendlich  die  Gunst  von  zwanzigtausend  Londo* 
nem  durch  eine  Wunder*  und  Monstre*Pantomime  gewin* 
nen  zu  können.  Als  es  ihm  noch  auf  die  Gunst  der  zwei* 
hundert  besten  Berliner  ankam,  war  unsere  Theaterkunst  im 
Aufstieg.  Jetzt  ist  sie  im  Abstieg.  Wer  am  Schluß  des  Jah* 
res  keine  größeren  Sorgen  hat,  der  bete,  daß  im  neuen  Jahr 
sich  Reinhardt  wieder  auf  sich  selbst  besinnen  möge. 


8*  115 


DER  SCHEITERHAUFEN 

Scheiterhaufen?  Holz  wird  von  unten  nach  oben  geschieh* 
tet  und  mit  einer  einzigen  Flamme  von  oben  nach  unten 
erhitzt,  durchstrahlt,  entzündet.  So  ist  auch  Strindbergs 
, Scheiterhaufen'.  Vom  letzten  Akt  her  werden  zwei  hölzerne, 
demonstrative,  eintönige,  monomanisch  verzerrte  Anfangs« 
akte  nachträglich  legitimiert  und  in  Glut  gesetzt.  Bis  dahin 
ist  ,die  Mutter'  ein  Monstrum,  das  den  Hauptreiz  jeder 
besseren  Schreckenskammer  bilden  könnte.  Sie  hat  das  Wirt* 
Schaftsgeld  nicht  verwendet,  um  Mann  und  Kinder  und 
Dienstboten  zu  ernähren  und  die  Wohnung  zu  heizen,  son* 
dern  um  einen  Liebhaber  auszuhalten,  mit  dem  sie  zuerst  nur 
den  Mann,  später  die  Tochter  dazu  betrügt.  Seit  jener,  dank 
jener  grauenhaften  Kindheit  schleppen  Tochter  und  Sohn  einen 
schwachen  Körper,  ein  verkümmertes  Herz,  eine  scheue  Seele 
durch  ein  wertloses  Dasein.  Da  schon  einmal  abgerechnet 
wird,  kommen  durch  einen  Brief  des  toten  Vaters  immer  neue 
Schändlichkeiten  dieses  Mütterchens  zutage  —  gemacht,  uns 
völlig  abzustumpfen.  Aber  Strindbergs  Künstlerschaft  versagt 
auch  hier  nicht.  Eh'  es  zu  spät  ist,  schlägt  sein  blinder  Haß 
die  Augen  auf  und  sieht,  daß  die  Verbrecherin  genau  so 
leidet  wie  die  Opfer;  daß  sie  nicht  wärmen  konnte,  weil  sie 
selbst  gefroren  hat;  daß  sie  gewürgt  hat,  weil  sie  selbst  als 
Kind  nie  frei  hat  atmen  dürfen.  Die  Sünden  der  Eltern 
werden  heimgesucht  .  .  .  Durch  den  dritten  Akt  ist  dieser 
, Scheiterhaufen'  ein  Vererbungsdrama  geworden,  gegen  das 
die  , Gespenster'  ein  bißchen  spießbürgerlich  wirken. 

Strindbergs  Härte  ist  herrlich.  Nur  zweimal  wird  er  weich : 
da  er  das  Zärtlichkeitsbedürfnis  der  Mutter  enthüllt,  und  da 
er  Bruder  und  Schwester  in  einem  balladesken  Gemisch  von 
Bangigkeit  und  Seligkeit  einander  umschlingen  läßt.  Soweit 
er  sonst  Mitleid  mit  dem  überkommenen  Jammer  der  Krea* 
tur  äußert,  knirscht  ers  so  wild  zwischen  den  Zähnen  hervor, 
daß  es  sich  wie  besinnungslose  Wut  anhört.  Er  beweist 
schließlich  sein  Mitleid  weniger  durch  Worte  als  durch  die 
Tat.    Er  erträgt  es  nicht,  daß  der  Jammer  sich  fortzeugt.   Er 

116 


beendet  ihn.  Er  rottet  die  Familie  aus.  Wohltätig  wird  des 
Feuers  Macht,  das  die  Kinder  zeitlebens  zu  ihrem  körper« 
liehen  und  seelischen  Schaden  entbehrt  haben.  Es  sind  die 
Einfälle  eines  Genies,  von  einer  schauerlich#skurrilen  Wirkung 
ersten  künstlerischen  Ranges:  daß  die  Mutter  entlarvt  wird, 
weil  sie  sogar  das  Feuer,  das  den  verräterischen  Brief  auf* 
fressen  sollte,  zu  sparsam  entfacht  hat,  und  daß  der  Sohn 
deshalb  die  Reste  findet;  daß  zweitens  wiederum  durch 
Feuer  die  Mutter  zum  Freitod  getrieben  und  das  Geschwister* 
paar  vom  Leben  erlöst  wird.  Zum  Schluß  glüht  das  Haus, 
das  so  viel  Elend  gesehen,  feuerrot  wie  Strindbergs  Zorn 
gegen  eine  Welt,  die  die  Armen  schuldig  werden  läßt  und  sie 
dann  der  Pein  überantwortet.  Hier  ist  es  nicht  bloß  der  Zorn 
gegen  das  Weib,  der  repräsentative  Zorn  des  ganzen  Männer* 
geschlechts,  der  Strindbergs  Lebenswerk  pantherhaft  schön 
und  erhaben  durchtobt.  Jetzt  ist  die  ganze  Menschheit  seinem 
Zorne  reif.  Der  Eidam  ist  nicht  besser  als  die  Mutter  und 
die  Tochter  nicht  schlechter  als  der  durchschnittsgute  Sohn. 
Aber  tief  ergreifend ,  wie  der  Schmerz  der  Tochter  über  die 
Nichtigkeit  des  höchsten  Glücks,  ist  Strindbergs  Schmerz 
über  die  Nutzlosigkeit  auch  dieses  großartigen  Zorns.  Sie 
kommt  ihm  hin  und  wieder  zum  Bewußtsein.  Dann  ver* 
schieiert  sich  seine  Stimme.  Er  weint  nicht,  aber  er  muß  sich 
der  aufsteigenden  Tränen  erwehren.  Er  dürfte  weinen.  Wei* 
nende  Männer  sind  gut,  sagt  Goethe.  Aus  diesem  Stück, 
auch  aus  seinen  Bösartigkeiten,  Düsterkeiten,  Grausamkeiten 
und  Unerbittlichkeiten,  spricht,  ruft,  schreit  Strindbergs  Güte. 
Wenn  dieses  Stück  im  Buch  ungefähr  zehnmal  stärker 
wirkt  denn  im  Theater  —  als  Kunstwerk,  nicht  als  Nervenfolter! 
—  so  gibt  es  drei  Möglichkeiten:  daß  es  ein  Lesedrama  ist; 
daß  die  Schauspieler  schlecht  waren;  daß  der  Regisseur  sich 
ihm  nicht  gewachsen  gezeigt  hat.  Es  ist  trotz  den  Langwierig* 
keiten  und  Wiederholungen  der  ersten  beiden  Akte  ein  klares, 
normal  gebautes  Theaterstück,  dessen  Sprache  von  Akt  zu 
Akt  an  aufwühlender  Kraft  gewinnt.  Es  hat  drei  bekannten 
Talenten  und  einem  begabten  Anfänger  Gelegenheit  gegeben, 

117 


Strindberg  treulich  zu  helfen,  nämlich  seine  Menschen  ent* 
weder  zu  analysieren  oder  zu  zeichnen  oder  zu  verkörpern 
oder  aus  sich  herauszustöhnen.  Also  trifft  die  Verantwortung 
für  die  ungenügende  und  schiefe  Wirkung  —  und  dafür,  daß 
der  und  jener  Schauspieler  in  der  und  jener  Szene  nicht  aus* 
gereicht  hat  —  den  Regisseur  dieses  .Berliner  Künstlerischen 
Theaters'.  Herr  Adolf  Lantz  hatte  zwar  den  dankenswerten 
Mut,  dieses  Stück  zu  spielen,  aber  nicht  das  Ohr,  seine  Musik 
herauszuhören,  nicht  die  Faust,  es  zusammenzuballen,  nicht 
die  Verwegenheit,  auch  gegen  Strindberg  Akzente  zu  ver* 
schieben.  Die  Spukelemente  mußten  zurückgedrängt,  die 
Worte  aller  dieser  Abrechnungen  mit  äußerstem  Nachdruck 
eingehämmert  werden.  Hier  wurde  die  billige,  in  ihrer  Über* 
triebenheit  dilettantische  Stimmungsmache  zur  Hauptsache, 
der  kostbare  Text  Nebensache.  Kein  Wunder,  daß  man  das 
Stück  erst  im  Buch  richtig  kennengelernt  hat.  Aber  auch  Herr 
Lantz  wird  zugeben,  daß  wir  dazu  keine  neue  Freie  Bühne 
brauchen. 


HYGIENISCHE  ABENDE 

Zwischen  Weihnachten  und  Neujahr  konnten  in  Berlin 
die  Theaterbesucher  aus  Beruf  oder  Neigung  und  der 
eine  Theaterbesucher  aus  Beruf  und  Neigung  die  beiden 
gesündesten  Tätigkeiten  ausüben,  die  dieses  Dasein  über* 
haupt  zu  vergeben  hat:  Schlafen  und  Lachen.  Allerdings 
wird  es  für  die  Theater  auf  die  Dauer  doch  ersprießlicher 
sein,  ihre  Besucher  zum  Lachen  zu  bringen,  weil  ja  der  un* 
entbehrliche  Schlaf  an  anderer  Stelle  vielfach  ohne  Eintritts* 
geld  zu  haben  ist.  Immerhin:  wen  seine  Jahresbilanz  ver* 
schwenderisch  gestimmt  hat,  der  gehe  in  den  , Heiligenwald'. 
Über  seinen  sämtlichen  Wipfeln  ist  Ruh  —  warte  nur,  balde 
ruhest  auch  dul  Wenn  dich  dann  irgend  einmal  das  Ge* 
schnarch  der  Nachbarn  weckt,  so  brauchst  du  nur  auf  die 
Bühne  zu  blinzeln,  um  gleich  wieder  hinüberzudämmem. 
Da  oben  ist  alles  beim  alten:  auf  eine  wahrhaft  herzige  Weise 

118 


werden  im  zweiten  Akt  genau  dieselben  schalkhaften  Situa* 
tionen  wie  im  ersten  dadurch  hervorgerufen,  daß  man  einen 
Kameralstudenten  für  einen  Arbeiter,  die  Prinzessin  von 
WaldstauffensErnstadt  für  eine  Kretschmarn,  ihre  Hofdame 
Gudrune  von  Hasselohe  für  ihr  Tantchen,  ihren  fürstlichen 
Bruder  für  einen  schlichtbürgerlichen  Gelehrten  und  einen 
lumpigen  Schauspieler  namens  Enterich  für  diesen  Fürsten 
hält.  Im  Schlußakt  wird  die  witzige  Wirrnis  höchstwahr« 
scheinlich  witzig  entwirrt:  mit  Anmut,  Esprit  und  Seelenadel 
wird  wohl  jeder  jedem  die  Vorteile  verzeihen,  die  er  etwa 
aus  der  Verwechslung  gezogen  hat.  Du  weißt  es  nicht,  denn  . . . 
Kurz  vorm  Ende  aber  wirst  du,  zum  letzten  Mal,  durch  eine 
herzogliche  Hupe  aufgeschreckt.  Du  kommst  gerade  dazu, 
wie  die  Kretschmarn  voller  Abschiedswehmut  das  Stück  und 
seine  pädagogische  Absicht  erklärt:  daß  hier  der  Zauber 
einer  deutschen  Märchenwelt  gewaltet  hat,  und  daß  du  auch 
im  neuen  Jahre  streben  und  schaffen  sollst,  weil  einzig  Arbeit 
deine  Schmerzen  töten  wird.  Wessen  Arbeit?  Halms  und 
Sandeks,  glaube  mir,  genügt  für  alle,  die  so  stark  sind,  vor 
ihr  wach  zu  bleiben.  Denn  der  herbste  Schmerz  läßt  nach, 
wenn  beide  Dichter  veilchenblaue  Augen  machen  und  dich 
über  die  bedrohte  Zukunft  der  alten  Briefträger*Agerl  be* 
ruhigen.  Im  Ernst:  du  darfst  ihnen  nichts  weiter  vorwerfen, 
als  daß  sie  das  junge  Waldhexchen  Eva,  genannt  Huschel, 
schließlich  nicht  mit  dem  großen  Glück  beschenken,  mit  dem 
sie  ihr  gewinkt  haben,  und  das  sie  denn  doch  wohl  verdient 
hätte.  Hier  mangelts  an  poetischer  Gerechtigkeit.  Und  da* 
bei  hatte  Ida  Wüst  eine  solche  Fülle  von  Waldesduft,  nek* 
kischer  Laune,  Herzensholdheit,  Taufrische,  Süßigkeit  und 
echt  mädchenhafter  Keuschheit  über  Huschel  ausgestreut, 
daß  den  theaterhistorisch  gebildeten  Schläfer  ein  besonders 
willkommenes  Traumbild  umgaukelte:  Die  tote  Jenny  Groß 
ging  durch  den  Heiligen wald! 

* 

Im  Berliner  Theater  aber  konnte  man    nicht    schlafen, 
weil    vom  Orchester    immerzu    gelärmt    und    von    den  zu* 

119 


friedenen  Zuhörern  ebenso  ununterbrochen  und  mit  furch« 
terhcher  Vehemenz  applaudiert  wurde.  Die  unzähhgen 
Text*,  Ton*  und  Tanz*Dichter  der  neuen  ,Originalj=Posse' 
haben  den  vorjährigen  Schlager  desselben  Hauses  kopiert, 
der  bereits  eine  Kopie  des  vorvorjährigen  Schlagers  war,  ohne 
sich  beizeiten  über  alle  Faktoren  dieser  beiden  rechtschaf* 
fenen  , Bombenerfolge'  klar  zu  werden.  Hier  wie  dort 
stammte  Handlung  und  Musik  von  guten  alten  Handwerkern 
eines  anspruchslosen  Genres,  das  in  seiner  Zeit  wurzelte, 
und  war  von  reimenden,  witzelnden  und  komponierenden 
Kindern  unseres  vorgeschrittenen  Jahrhunderts  nur  .aktuell' 
aufgeputzt  worden.  Dies  war  so  geschickt  geschehen,  daß 
sich  ein  doppelter  Reiz  ergab:  ein  antiquarischer  und  ein 
durchaus  lebendiger  Reiz,  die  einander  nicht  totschlugen, 
sondern  förderten.  Jetzt  aber  hat  man  sich  ganz  ,auf  eigene 
Füße'  gestellt,  auf  denen  man  am  vorigen  Silvesterabend 
darum  so  sicher  stand,  weil  sie  Heinrich  Wilken  gehörten. 
, Große  Rosinen  oder  Berlin  hats  eilig'  lautet  der  vielver* 
sprechende  Titel.  Wir  werden  sehen,  wie  unsere  junge  Welt* 
Stadt  sich  dicke  tut,  mit  welcher  unmäßigen  Hast  sie  wachsen 
will  und  wächst,  was  in  dieser  Hast  verkümmert,  was  ge* 
deiht  —  kurz:  wir  werden  für  ein  humoristisch  *  satirisches 
Spiegelbild  des  modernen  Lebens,  für  eine  Art  gereinigter, 
überlegener  und  mutiger  Metropoltheater« Revue,  die  ihre 
Berechtigung  hätte,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dankbar 
sein  können.  Oder  aber  auch  nicht.  Die  Jagd  auf  den  Ka# 
lauer  und  auf  die  Gelegenheit  zu  einem  Tanzduett:  das  wäre 
der  angemessene  Titel.  Der  Ehrgeiz  der  Herren  Bemauer 
und  Schanzer  erschöpft  sich  in  ein  paar  treffenden  Beobach« 
tungen  des  berliner  Volkscharakters,  in  ein  paar  glücklichen 
Erinnerungen  an  die  Skandalchronik  des  abgegangenen  Jahres 
und  in  einer  zwar  drastischen,  aber  ungewöhnlich  taktlosen 
Persiflage  auf  Reinhardts  Zirkusspiele.  Zwischendurch  und 
drumherum  schwemmen  sie  ungeheuere  Mengen  von  , Stoff' 
auf  die  Bühne,  für  alle  Fälle  und  Geschmäcker,  nämlich  in 
der  Hoffnung,  daß  die  einzelnen  Schichten   des  rätselhaft 

120 


gemischten  Publikums  schon  ihre  Auswahl  treffen  werden. 
Sie  knickern  weder  mit  leicht*sentimentalen  Liedern  noch  mit 
Maskeraden,  Quodlibets  und  Finales  im  Stil  des  seligen 
Adolph  Ernst,  weder  mit  Varietetricks  noch  mit  Verlobungen, 
weder  mit  bescheidenen  Ausstattungskünsten  noch  mit  schäm* 
haften  Verspottungen  ihrer  eigenen  Einfallsarmut  —  und  lassen 
im  übrigen,  wie  der  ulkige  Herr  Sabo  sagen  würde,  Terpsichore 
die  Stunde  regieren,  ohne  daß  sie  sich  genügend  souveräne 
und  reiche  Beherrscher  Polyhymnias  dazu  ausgesucht  hätten. 
Je  später  der  Abend,  desto  fauler  die  Witze,  desto  matter  die 
Melodien,  desto  unkomischer  die  Situationen.  Man  kann  da* 
bei  nicht  schlafen ;  aber  man  wird  wenigstens  dadurch  todmüde. 

Herrn  Tristan  Bernard  aber  ist  mit  dem  , Kleinen  Cafe' 
eine  charmante  Komödie  gelungen.  Ein  Vergnügen,  sich  an 
die  geräusch*  und  absichtslose  Virtuosität  solch  eines  Parisers 
zu  erinnern,  nachdem  man  von  acht  und  noch  mehr  deut* 
sehen  Stirnen  den  Schweiß  sauer  und  vergeblich  hat  rinnen 
sehen.  Hier  gibt  es  keinen  gewaltigen  Apparat,  keine  Ge* 
fühlskisten,  keine  Verwicklungen,  keinen  schwelgerischen 
Frohsinn,  bei  dem  einen  der  Menschheit  ganzer  Jammer  an* 
faßt:  hier  gibt  es  nichts  als  eine  Anekdote,  der  säuberlich, 
gelassen  und  liebenswürdig  ihre  ganze  Heiterkeit  abgeluchst 
wird.  Ein  Kellner  hat  achthunderttausend  Franken  geerbt, 
macht  aber  von  seinem  Reichtum  nur  nachts  Gebrauch,  ohne 
die  geringste  Freude  daran  zu  haben,  und  bleibt  am  Tage 
Kellner,  weil  sein  Wirt  ihn  mit  einem  Kontrakt  hineingelegt 
hat.  W^e  das  alles  vor  sich  geht,  ist  völlig  unwahrscheinlich. 
Dies  wäre  ein  Fehler,  wenn  es  wahrscheinlich  sein  wollte. 
So  plumpe  Absichten  hat  Bernard  gar  nicht.  Er  schreibt 
Spiele,  kultivierte  Spiele  für  Erwachsene,  die  Sinn  für  distan* 
zierende  Ironie,  für  den  weltmännisch  lächelnden  Gleichmut 
eines  geistvollen  Unterhalters  haben  und  nicht  fragen,  ob  es 
mit  den  Gesetzen  der  Logik  oder  auch  nur  der  Psychologie 
übereinstimmt,  daß  der  Kellner  so  überraschend  schnell  zu 
seiner  Wirtstochter  kommt.   Bernard  will  nach  zwei  trefflich 

121 


angewendeten  Theaterstunden  einfach  Schluß  machen  —  basta! 
Deutsche  Autoren  würden  das  regelrecht  in  die  Wege  leiten, 
die  gewissenhafteste  Begründung  nicht  scheuen  und  der 
Komödie  damit  das  zufügen,  was  ihr  zu  unserem  Vorteil 
fehlt:  Fett,  Schwerfälligkeit,  Wichtigkeit.  Sie  würden  so* 
gar  eine  Moral  verkünden,  die  hier  spricht,  ohne  ausge* 
sprochen  zu  werden:  Geld  allein  macht  nicht  glücklich  — 
man  muß  es  auch  auszugeben  verstehen.  Wer  es  hat,  der 
sei  so  verständig,  es  weder  fürs  Neue  Schauspielhaus  noch 
fürs  Berliner  Theater,  sondern  fürs  Trianontheater  und  seinen 
Hans  Junckermann  auszugeben  und  sich  unterm  Stadtbahn* 
bogen  Appetit  für  die  ,Fünf  Frankfurter'  machen  zu  lassen. 

Bei  diesen  fünf  Frankfurtern  hat  noch  keiner  sein  Geld 
verloren.  Es  sind  die  Erben  Meyer  Anselm  Rothschilds,  also 
gute  Leute,  solide  Leute,  jüdische  Leute.  Die  Stimmung 
solch  eines  alten  Stammhauses  in  der  frankfurter  ,Judegass' 
trifft  Carl  Rößler  mit  ein  paar  Strichen,  mit  den  sparsam* 
sten  und  eben  darum  eindrucksvollen  Strichen  meisterlich. 
Unsereiner  gewinnt  sofort  das  intimste  Verhältnis  zu  der 
ganzen  Familie.  Muttersprache,  Mutterlaut!  Es  duftet  nach 
Chanukalichtern,  nach  Kreppchen  und  nach  all  den  anderen 
Leibgerichten,  die  die  alte  Frau  Gudula  mit  dem  silbernen 
Haar  und  dem  goldenen  Gemüt  für  jeden  der  fünf  adlig 
gewordenen  Herren  Söhne  zur  Feier  des  Tages  kocht.  Aber 
auch  sonst  werden  diese  Söhne  nach  Möglichkeit  unter* 
schieden,  damit  so  etwas  wie  dramatische  Bewegung  in  die 
Geschichte  kommt.  Der  Frankfurter  Amschel  scheint  mit 
seiner  Schlagfertigkeit  und  seiner  einfachen  Rechtlichkeit 
das  Ebenbild  des  Vaters.  Der  Londoner  Nathan  ist  so  klar 
und  nüchtern,  daß  es  für  Amschel  ein  Vergnügen  ist,  mit 
ihm  zu  rechnen.  Der  Neapolitaner  Carl  hat  einen  brauchbaren 
Kern  in  einer  stutzerhaft  verzierten  Schale.  Den  Wiener 
Salomon  macht  das  stolze  Bewußtsein  des  Besitzes  erst  kühn 
genug,  sich  und  den  Brüdern  die  Baronie  zu  kaufen,  dann 
sogar  tollkühn  genug,  eine  Verheiratung  seiner  einzigen  Toch* 

122 


ter  mit  dem  Herzog  vom  Taunus  anzubahnen.  Der  Pariser 
Jacob  schließlich,  Jacöble,  der  Benjamin,  das  Nesthäkchen, 
der  verschwärmte  Musiker  und  Freund  Rossinis,  hat  eine 
doppelte  Bedeutung.  Es  ist  kaum  möglich,  auf  dem  deut* 
sehen  Theater  mit  einem  ganz  unsentimentalen  Lustspiel  Er* 
folg  zu  haben.  Rößler  will  den  Erfolg,  aber  auch  unsere 
Hochachtung.  Es  wäre  eine  Fälschung,  fünf  jüdische  Brüder 
zusammenzubringen,  ohne  einen  mehr  oder  minder  sentimen* 
tal  sein  zu  lassen.  Mit  einer  Geschicklichkeit  nun,  die  nicht 
Berechnung,  sondern  Begabung  ist,  mischt  Rößler  in  seine 
Komödie  genau  so  viel  Sentimentalität,  wie  er  nötig  hat,  um 
als  professioneller  Stückeschreiber  das  Publikum  zu  fangen 
und  als  Künstler  das  Milieu  zu  treffen.  Es  ist  der  seltene 
Fall  eines  deutschen  Dramatikers,  der  es  fertig  bekommt, 
zween  Herren  zu  dienen  und  von  beiden  gehätschelt  zu 
werden.  Das  lyrisch  bewegte,  gefühlvolle  Jacöble  aber  hat 
auch  noch  die  dramatische  Aufgabe,  vermöge  dieser  seiner 
Veranlagung  Salomos  Lottchen,  die  der  Herzog  vom  Taunus 
mit  märchenhafter  Entschlossenheit  zu  heiraten  bereit  ist, 
für  sich  zu  erobern.  Es  gelingt  ihm  in  einer  Liebesszene  von 
anderthalb  Minuten  und  von  der  Zartheit  und  Verhaltenheit 
berühmt  gewordener  Liebesszenen,  mit  deren  Dichtern  man 
Rößler  bisher  nicht  zusammen  genannt  hat.  Dieser  Ernst  ist 
gerade  in  seiner  Unauffälligkeit  schön.  Keinen  Augenblick 
vergißt  Rößler  darüber  sein  Humörchen  und  seine  Klugheit. 
Er  bleibt  sich  bewußt,  wodurch  unsere  Sympathie  zu  ver* 
scherzen  wäre.  Also  treten  die  Witze  niemals  an  Stelle  des 
Witzes;  und  wenn  jeder  Akt  mit  einem  überraschenden  Bon* 
mot  schließt,  so  macht  das  nur  darum  Glück,  weil  es  der  Situa* 
tion  entspringt.  Rößler  hat  in  die  Zeit  und  in  jüdische  Herzen 
und  Hirne  mit  so  scharfen  Augen  gesehen,  daß  seine  drei 
Akte  Ansprüche  erheben  könnten.  Aber  das  ist  zuguterletzt 
ihr  nettester  Zug:  daß  sie  sich  vollkommen  anspruchslos 
geben.  Sie  wollen  mit  literarischen  Mitteln  eine  Atmosphäre 
schaffen,  in  der  man  lächelt  und  lacht  und  sich  wohl  fühlt, 
und  schaffen  sie.   Diese  anheimelnde  und  erheiternde  Atmo* 

123 


Sphäre  würde  vermutlich  selbst  da  entstehen,  wo  das  Stück 
nicht  so  echt  zu  spielen  ist  wie  von  den  meisten  Darstellern 
des  Hebbel*  ....  des  Theaters  in  der  Königgrätzer  Straße. 
Drollig:  solange  dieses  Theater  Hebbeltheater  hieß,  konnte 
man  sich  nicht  an  den  Namen  gewöhnen;  seitdem  es  nicht 
mehr  so  heißt,  kann  man  sich  den  Namen  nicht  abgewöhnen. 
Die  Hauptsache  ist  freilich,  daß  sich  das  Publikum  endlich 
in  das  Theater  hineingewöhnt.  Das  wird  dank  Rößler  jetzt 
geschehen,  und  so  wird  sein  Stück  in  jeder  Beziehung  hy* 
gienische  Kräfte  bewähren. 

DAS  TÄNZCHEN 

Das  Tänzchen  eines  Bahr,  der  auch  ein  Bär  sein  und  die 
plumpsten  Sprünge  machen  kann.  Atta  Troll,  der  einst 
die  Freiheit  Über  alles  hielt  in  Ehren,  Tanzt  auf  seine  alten 
Tage  Um  des  Pöbels  schnödes  Geld.  Hoffentlich.  Denn  der 
Fall  läge  ja  viel  schlimmer,  wenn  wirklich  anzunehmen  wäre, 
daß  Bahr  diese  schäbigen  Possenreißereien  um  ihrer  selbst 
willen  treibt.  Mit  einem  Schriftsteller,  der  auf  den  Standpunkt 
seines  eigenen  Generaldirektors  Lavin  gekommen  wäre,  ließe 
sich  wenigstens  streiten.  Lavin  verkauft  den  dummen  Deutschen 
monatlich  siebenunddreißigtausend  Flaschen  Lavinol,  um  sich 
ein  Automobil  und  eine  adlige  Schwiegertochter  zu  halten, 
lehnt  aber  für  seinen  persönHchen  Bedarf  dieses  Schwindel* 
fabrikat  entschieden  ab.  Solch  einem  literarischen  Lavin  würde 
man  zu  erklären  suchen,  daß  die  dummen  Deutschen  auch 
zu  unterschätzen  sind,  und  würde  ihn  fragen,  wie  er  es  mit 
seiner  Publikumspsychologie  vereinbar  findet,  daß  von  seinen 
zwölf  Stücken  gerade  das  beste,  das  »Konzert',  den  größten 
Erfolg  gehabt  hat.  Einen  Bahr  jedoch,  der  an  die  Schönheit 
oder  die  Anmut  oder  die  Lustigkeit  dieses, Tänzchens'  glaubte, 
würde  man  aufgeben  müssen  und  aufgeben  können,  weil  sein 
Geist  bereits  tot  wäre.  Da  mir  also  ein  zynischer  Bahr  lieber 
ist  als  ein  geistig  toter,  werde  ich  seinen  Schwank  nicht  als 
ein  dramatisches  Produkt,  sondern  als  eine  geschäftliche  Speku* 

124 


lation  ansehen  und  mich  in  seinem  Interesse  freuen,  daß  sie 
mißglückt  ist.  In  seinem  Interesse  will  ich  sogar  sagen,  warum 
sie  mißglückt  ist. 

Weil  er  zwei  Irrtümer  begangen  hat.  Er  hat  erstens  Aristo* 
phanes  mit  Philippi  verwechselt.  Wenn  wir  unsere  Lustspiel« 
dichter  immer  wieder  anstacheln,  hinein  ins  volle  Menschen« 
leben  zu  greifen,  so  heißt  das,  daß  sie  Komödienstoffe  von 
Gegenwartswert  entdecken,  daß  sie  in  den  Ereignissen  des 
Tages  und  in  den  öffentlichen  und  nichtöflFentlichen  Personen 
dieser  Tage  die  Komik  aufspüren,  einfangen,  gestalten  —  bei« 
leibe  nicht,  daß  sie  fix  und  fertige  Komödien  der  Zeitgeschichte 
dramatisieren  sollen.  Die  Affäre  des  Herrn  von  Jagow,  die 
wir  im  vorigen  Jahr  belacht  haben,  war  eine  runde,  schlagende 
und  sogar  eine  moralische,  eine  pädagogische  Komödie,  weil 
den  lieben  Leuten,  die  die  Grube  gegraben  hatten,  monate« 
lang  von  ihrem  Reinfall  die  Glieder  schmerzten.  Wer  aber 
hätte  geahnt,  daß  zu  allem  Unheil,  das  die  Geschichte  an« 
gerichtet  hat,  nachträglich  auch  noch  dieser  Schwank  kommen 
würde!  Er  treibt  das  Epigramm  zu  drei  Akten  auseinander, 
worin  einmal  ein  satirisches  Wörtchen  mit  dem  preußischen 
Junker  geredet  wird.  Mag  der  nun  tatsächlich  so  schlimm 
sein,  wie  die  liberale  Presse  behauptet  (trotzdem  diese  Gegner« 
Schaft  eigentlich  für  ihn  einnimmt):  schlimmer  als  der 
schlimmste  preußische  Junker  ist  jedenfalls  der  Witz  dieses 
Wieners  überihn.  Wie  albern,  ja,  wie  ordinär  Bahr  hier  wird,  bis 
zu  welchem  Grade  ein  Kopf  und  ein  Geschmack  sich  selbst 
verleugnen  können:  das  war  die  Überraschung  des  Abends. 
Möglich,  daß  Bahr  sich  gegenüber  dem  Vorwurf  der  Über« 
deutlichkeit,  der  Absurdität  seiner  Figuren,  der  lächerlichen 
Tollkühnheit  seiner  Motivierungen  auf  die  Ungebundenheit 
des  Schwanks  beruft,  der  sich  aus  der  platten  Wirklichkeit 
in  phantastischere  Gegenden  hinaufwinden  darf.  Dürfte!  Denn 
wenn  ein  Schwank  nicht  in  einem  Restaurant,  sondern  ,bei 
Borchardt',  nicht  in  einem  Hotel,  sondern  ,bei  Adlon'  spielt, 
so  muß  er  sich  schon  den  Maßstab  der  Wirklichkeit  gefallen 
lassen.   Da  rächt  es  sich,  daß  Bahr  mit  Anspielungen  kitzeln, 

125 


daß  er  bei  der  Einschiachtung  einer  Sensation  auch  im  Detail 
Sensation  machen  wollte.  Er  hat  in  jeder  Hinsicht  bewußt 
unter  seinem  Niveau  gearbeitet  —  und  es  war  sein  zweiter 
Irrtum,  daß  damit  der  Erfolg  zu  zwingen  ist.  Das  Geheimnis 
der  Philippi  und  Sudermann  und  des  Schöpfers  der  ,Fee  Ca* 
price'  und  all  der  anderen  goldglänzenden  Vorbilder  Bahrs 
ist  eben,  daß  sie  durchaus  nicht  kaltherzig  auf  Tantiemen 
ausgehen,  daß  es  um  ihre  erhitzten  Schädel  rauscht,  und  daß 
sie  von  der  Herrlichkeit  ihrer  Dichtungen  inbrünstig  über* 
zeugt  sind.  Darum  ist  es  auch  ihre  Gemeinde.  Bahr  aber 
hält  das  .Tänzchen'  für  einen  Schmarren,  gerade  gut  genug 
für  das  Pack,  und  das  läßt  sich  kein  Pack  gefallen.  Es  will 
respektieren  können  und  wittert  einfach,  ob  es  das  kann,  oder 
ob  ein  Autor  sich  ihm  zuliebe  dümmer  und  ärmer  macht,  als 
er  ist.  Nicht  oft  hat  man  das  Publikum  so  empört  gesehen 
wie  bei  diesem  ,Tänzchen'. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  ein  Teil  der  Empörung  Brahm  ge* 
gölten  hat.  Warumhat  der  Mann  eigentHch  niemals  den  wahren, 
den  tragischen  Philippi  aufgeführt?  Und  wie  lange  wird  er 
noch  zögern,  sich  offen  zu  Robert  Misch  zu  bekennen?  So 
oft  ich  Brahms  Taten  beim  rechten  Namen  nenne,  mahnt  mich 
Bahr  väterlich,  mir  doch  einmal  Berlin  ohne  Brahm  vorzustellen. 
Ich  stelle  mir  vor.  Es  ist  wirklich  furchtbar,  was  uns  droht: 
daß  man  uns  nämlich  kraftlose  Theaterdirektoren,  die  in  einem 
Winter  drei  brauchbare  und  drei  unbrauchbare  Stücke  an* 
ständig  oder  miserabel  spielen,  nicht  mehr  auf  Grund  längst 
verwirkter  Verdienste  als  Wohltäter  der  Menschheit  anpreisen 
wird,  und  daß  für  eine  Unappetitlichkeit  wie  dieses, Tänzchen' 
nur  noch  Bühnen  in  Betracht  kommen  werden,  die  nicht  ein* 
mal  ihr  Verfasser  für  sie  in  Betracht  zieht. 


DER  ZORN  DES  ACHILLES 

Singe  den  Zorn,  o  Göttin,  des  Peleiaden  Achilleus  (dem 
Agamemnon  seine  Briseis  genommen  hat) :  so  beginnt  der 
erste  Gesang  der  Ilias,  und  so  könnten  auch  alle  folgenden 


126 


Gesänge  beginnen,  weil  dieser  Zorn  nicht  wenig  Zeit  braucht, 
um  sich  auszutoben.  Denn  erst  am  Ende  des  vierundzwan* 
zigsten  Gesanges  ruht  Achilleus  im  innersten  Raum  des  Ge# 
zeltes,  und  ihm  Hegt  zur  Seite  wieder  des  Brises  rosige  Tech* 
ter.  Aus  dieser  Geschichte  hat  Wilhelm  Schmidtbonn  ein 
Drama  —  leider  nicht  von  drei  Akten,  sondern  von  acht  Sze* 
nen  gemacht,  für  das  vor  allem  Homers  Schluß  nicht  in  Be* 
tracht  kam.  Es  ist  das  Vorrecht  des  Epos,  unzählige  männer* 
mordende  Kämpfe  in  einen  stattlichen  Festschmaus  ausklin« 
gen  zu  lassen.  Um  für  ein  Drama  tauglich  zu  werden,  mußte 
Achill  sterben.  Um  seinen  Tod  nicht  untragisch  wirken  zu 
lassen,  mußte  der  Dichter  .Schuld'  auf  ihn  laden.  Bei  Schmidt* 
bonn  wird  Achill  ein  Michael  Kohlhaas  der  Antike,  der,  ein* 
mal  erregt,  ganz  außer  sich  gerät  und  blindlings  rast,  um  zu 
seinem  Recht  zu  gelangen.  Diesen  Achill  trifft  es  weniger 
schwer,  daß  er  Brisei's  entbehren  soll,  als  daß  man  ihn  zu 
Unrecht  um  sie  gebracht  hat.  Man  hatte  sie  ihm  geschenkt: 
man  durfte  sie  ihm  nicht  bloß  deshalb  rauben,  weil  Agamem* 
non  seine  Chryseis  hatte  hergeben  müssen.  Darüber  kommt 
er  nicht  hinweg.  Unrecht  ward  mir  getan!  Hier  sitzt  ein 
Mann,  dem  Unrecht  ward  getan!  Ist  Vaterland  ein  Ding,  das 
Unrecht  tun  darf  ohne  Scheu?  Um  diese  eine  Frage  kreisen 
unablässig  seine  Gedanken.  Sie  vergiftet  sein  Blut,  benebelt 
sein  Hirn,  verhärtet  sein  Herz.  Erst  als  sein  Zorn  vertobt  ist, 
weil  er  großartig  und  mitleidslos  wie  ein  Naturereignis  auf 
die  Griechen  und  auf  Hektor  niedergegangen  ist,  erkennt 
oder  ahnt  er  doch  wenigstens:  daß  erlittenes  Unrecht  nicht 
berechtigt,  es  hundertfach,  an  Schuldigen  wie  an  Unschuldig 
gen,  zu  vergelten;  daß  höchstes  Recht  höchstes  Unrecht  wird; 
daß  diese  kluggefügte  Welt  die  Maße  seines  Selbstgefühls, 
seiner  Herrschsucht,  seines  Trotzes  und  seiner  Zerstörungs* 
kraft  zu  sehr  beengt;  daß,  kurz,  des  Adlers  Platz  nicht  unter 
Krähen  ist.  Diese  Erkenntnis  oder  Ahnung  macht  ihn  schwach 
und  stark  zugleich:  er  springt  freiwillig,  freudig,  ungerüstet 
und  laut  singend  zu  sicherem  Tod  dem  Feind  entgegen. 
Es  schadet  nicht,  sondern  nützt,  daß  Schmidtbonn  hier 

127 


zwei  Tragödien  zu  einer  vereinigt:  daß  er  das  Schicksal  des 
arglos  reinen  Menschen,  der  nicht  groß  zu  sein  brauchte, 
unter  den  arglistigen  und  unreinen  Menschen,  und  daß  er 
das  Schicksal  des  Genies,  das  weder  naiv  noch  untadelig  zu 
sein  brauchte,  unter  den  Durchschnittsmenschen  dargestellt 
hat.  Dies  oder  das  allein  hätte  das  Drama  vielleicht  mono:« 
ton  bleiben  lassen.  So  aber  ist  Achilles  reich  genug,  um  uns 
von  Anfang  bis  zu  Ende  in  Atem  zu  halten.  Wo  er  ist,  wären 
Götter,  auch  wenn  über  ihm  keine  wären.  Und  in  Schmidt* 
bonns  Gedicht  sind  keine.  Kein  ApoUon  betäubt  den  tapferen 
Patroklos,  kein  Zeus  sendet  den  Achaiern  stäubenden  Wind 
entgegen:  Achilles  grollt,  und  schon  entvölkert  sich  die  Erde. 
Aber  was  wäre  die  bloße  Bären*  oder  selbst  Löwenhaftigkeit! 
So  ist  denn  nicht  wahr,  was  ein  Schmeichler  zu  Agamemnon 
sagt:  „Er  ist  nur  stark,  du  klug."  Achills  wundervolle Tumb* 
heit  und  Dumpfheit  wird  niemals  Dummheit.  Zum  minde* 
sten  verfeinert  seine  Stärke  sich  da,  wo  er  liebt,  zu  Scharfblick 
und  Seelenzartheit.  Wenn  es  um  Patroklos  geht,  so  wittert 
er  in  jedem  Falle,  woher  ein  gefährlicher  Rat  stammt;  und 
wenn  es  um  Briseis  geht,  so  ist  er  nicht  Herr  und  Gebieter, 
sondern  Ritter.  Sie  hat  er  lieb;  allein  mit  Aug  und  Armen 
hängt  er  an  dem  Jüngling.  Der  ist  ihm  seines  Lebens  tiefste 
Freude.  Zum  Glück  nicht  mehr.  Auch  Unterlassungen  sind 
dichterische  Verdienste.  Freilich  war  von  Schmidtbonns  Ge* 
schmack  nicht  zu  befürchten,  daß  er  Achills  Beziehung  zu 
Patroklos  erotisch  trüben  würde.  Aber  daß  er  die  Episode 
der  Briseis  nicht  ausgebeutet,  daß  er,  zum  Beispiel,  die  Szene 
vermieden  hat,  wo  sie  sich  den  Agamemnon  nicht  zu  nahe 
kommen  läßt:  dafür  soll  ein  Dichter  besonders  bedankt  sein 
in  der  Zeit  Ernst  Hardts,  der  aus  solch  einer  Szene  fünf  Akte 
zu  machen  pflegt  und  uns  nach  seiner  , Gudrun'  hoffentlich 
auch  eine  , Briseis'  schenken  wird.  Schmidtbonn  ist  in  diesem 
Männerstück  prachtvoll  und  unbeirrt  und  in  jedem  Sinne 
männlich  geblieben. 

Aber  warum  hat  er,  der  mit  gutem  Recht  den  Homer  bald 
ganz  aus  dem  Spiel  gelassen,  bald  wörtlich  übernommen,  der 

128 


also  vor  einer  Vorlage  von  wahrhaft  kosmischer  Größe  sich 
selbst  weder  überschätzt  noch  unterschätzt  hat  und  jedenfalls 
so  mit  ihr  umgesprungen  ist,  wie  ein  freier  Künstlersinn  es  sich 
immer  erlauben  sollte :  warum  hat  er  nicht  noch  viel  entschlos* 
sener  alles  Beiwerk  abgestreift,  das  aus  dem  Epos  stammt? 
Es  ist  schuld,  daß  auf  einen  kunstreich  gedrungenen,  eminent 
dramatischen  ersten  Akt  zwei  Akte  folgen,  die  eben  nicht 
geschlossene  Akte  sind,  sondern  in  Szenen  zerfallen,  zersplit* 
tem.  Am  Schluß  des  ersten  Aktes  vergräbt  Achill  sein  Schwert 
und  seine  Rüstung:  am  Anfang  des  zweiten  Aktes  sind  die 
Griechen  bereits  in  Verzweiflung.  Diese  Kurzangebundenheit 
wäre  auch  für  den  weiteren  Verlauf  eine  dramaturgische  Not* 
wendigkeit.  Daß  nach  neunjährigem  Krieg  Troer  wie  Griechen 
den  Frieden  herbeiflehen,  daß  aber  hier  wie  dort  bestimmte 
Elemente  einen  endlosen  Krieg  einem  ehrlosen  Frieden  vor* 
ziehen  würden:  das  setzen  wir  als  selbstverständlich  voraus. 
Diese  Mischstimmung  von  Friedenssehnsucht  und  National* 
gefühl  hätten  uns  dreißig  flammende  Verse  viel  eindringlicher 
übermittelt  als  die  beiden  langwierigen  Szenen,  die  Schmidt= 
bonn  nicht  entbehren  zu  können  glaubt.  Aus  lauter  Angst,  am 
Ende  nicht  gründlich  genug  zu  motivieren,  ermüdet  er  den  An* 
teil  an  der  seelischen  Entwicklung  Achills,  auf  die  nicht  bloß 
uns,  sondern  doch  auch  ihm  alles  ankommt.  Er  durchmißt  treu 
und  gerade  den  Weg,  den  er  sich  vorgesetzt  hat.  Er  weiß  noch 
nichts  von  Verkürzungen,  Überschneidungen,  zeitersparenden 
Abzweigungen.  Dabei  ist  bemerkenswert  und  für  Dramatiker 
höchst  lehrreich,  wie  hart  gehämmerte  Verse  ihren  stählernen 
Charakter  in  demselben  Augenblick  verlieren,  wo  sie  in  ge* 
mächlichen  Szenen  gesprochen  werden.  Je  nach  dem,  ob  das 
Drama  stürmt  oder  schleicht,  wirken  Schmidtbonns  homeri* 
sehe  Helden,  die  in  beiden  Fällen  kaum  ein  überflüssiges 
Wort  reden,  ehern  oder  geschwätzig. 

Es  gab  trotzdem  eine  fast  leidenschaftlich  lebendige  Auf* 
führung,  dank  den  wichtigen  und  auch  einigen  unwichtigen 
Einzelleistungen.  Die  Regie  war  einen  kräftigen  Hauch  von 
Meer,  vor  allem  aber  die  Belebung,  die  Durchglutung  der 

9  129 


Massen  schuldig  geblieben.  Das  fiel  um  so  mehr  auf,  als 
ganz  offenkundig  Schmidtbonn  in  der  Gestaltung  seiner  Mas* 
senszenen  sich  von  Reinhardt  beeinflußt  zeigt,  und  als  es  in« 
folgedessen  das  Theater  eigentlich  nicht  schwer  gehabt  hätte, 
dem  Dichter  das  nachzuschaffen,  was  es  ihm  selber  vorge* 
schaffen  hat.  Nur  daß  eben  nicht  Reinhardt  der  Regisseur 
war,  sondern  HoUaender.  Er  hat  die  Talente  des  Ensembles 
keineswegs  gehindert,  Poesie,  Phantastik,  Farbe,  Würde  und, 
was  sonst  etwa  nötig  ist,  aus  sich  herauszuschleudern  oder 
zu  stellen.  Der  junge  Herr  Danegger  durchleuchtete  und 
formte  zugleich  den  kurzen  Bericht  des  Eurypylos  wie  ein 
alter  Meister,  der  das  Glück  gehabt  hat,  künstlerisch  nicht 
im  geringsten  zu  altem:  wenn  dergleichen  schicklich  wäre,  hätt' 
ich  Da  Capo  geschrien.  Patroklos  war  Moissi,  also  die  Jung* 
lingshaftigkeit,  der  Wohlklang,  die  Liebenswürdigkeit  in  Per? 
son:  Achill  ist  zu  verstehen.  Wegener  hat  denn  auch  am 
meisten  mit  der  klaglosen  Klage  um  den  Freund  ergriffen,  mit 
dem  tonlosen  Ton  eines  Menschen,  der  hinfort  zu  schauriger 
Einsamkeit  verdammt  ist  —  oder  zum  Tode.  Nachdem  We* 
geners  Achill  sich  zum  Tode  verdammt  hat,  stirbt  er,  wie  er 
zu  Lebzeiten  seines  Patroklos  gelebt  hat:  randvoll  von  ele* 
mentarer  Kraft,  unbändig  wild  bis  an  die  Grenze  der  Tierheit 
und  dabei  doch  geadelt,  königlich,  bezwingend  schmerzen* 
reich.  Möglich,  daß  Wegener  anders  aussieht,  als  man  sich 
den  Achill  bis  heute  vorgestellt  hat.  Aber  nicht  das  Gesicht 
entscheidet,  sondern  die  heroische  Wesensmelodie  eines  Man* 
nes  von  strotzender,  von  wahrhaft  reifer  Männlichkeit,  und 
sie  hat  Wegener  so  vollkommen  getroffen,  wie  sie  nach  Mat* 
kowskys  Tode  kein  sichtbarer  deutscher  Schauspieler  zu  tref* 
fen  vermöchte. 


EINE  GLÜCKLICHE  EHE 

Ein  Stück  für  Analphabeten.    Die  nämhch  Peter  Nansens 
Novelle  nicht  lesen  können.  Darin  erzählt  der  charmante 
Däne  leise  lächelnd,  hebenswürdig,  lebenskennerisch,  leiden* 

130 


schaftslos  und  doch  lebhaft,  langsam  und  doch  niemals  lang* 
weilig  die  Geschichte  einer  Ehe,  vieler  Ehen.  Der  Bund 
zwischen  dem  behäbigen  Postassistenten  Christian  Mogensen 
und  dem  leichtfüßigen  Fräulein  Nancy  Schmidt,  der  sich 
zunächst  trüb  anläßt,  wird  allmählich  glücklich  und  immer 
glücklicher,  weil  die  kleine  Frau  es  lernt,  sich  durch  einen 
Liebhaber  in  gute  Laune  zu  bringen  und  durch  diese  dauernde 
Gutgelauntheit  sich  selber  ihrem  Manne  reizvoll  und  ihr 
Haus  behaglich  zu  machen.  Nansen  stellt  seine  glückliche 
Ehe  nicht  bloß  verlockend  dar,  sondern  verteidigt  sie  noch 
nachdrücklich.  Er  findet  es  falsch,  daß  der  moralische  Wert 
einer  Frau  davon  abhängen  soll,  ob  sie  etwas  häufiger  oder 
seltener  küsse.  Wichtig  sei  nur,  ob  man  schlecht  gegen  je* 
mand  handle  oder  nicht,  und  einer  treuen  Frau,  deren  Mann 
ein  freudloses  Dasein  führe,  sei  unter  allen  Umständen  diese 
untreue,  aber  leuchtende  und  verschwenderisch  wärmende 
Frau  Nancy  vorzuziehen.  Es  ist  der  Lauf  der  Welt,  daß  das 
Kind  auf  den  Geschmack  kommt,  und  daß  dem  ersten  Lieb* 
haber  ein  zweiter  folgt.  Peter  Nansen,  auch  er  ist  in  seine 
Nancy  verliebt  und  Kavalier  genug,  nicht  ihr  die  ganze  Schuld 
an  dem  Bruch  mit  dem  Ministerialrat  Jermer  zuzuschieben 
Obendrein  vollzieht  dieser  Bruch  sich  erst  nach  einem  Jahr, 
in  aller  Gemächlichkeit,  und  nicht  ohne  daß  beider  Herzen 
ausgiebig  bluten,  nicht  ohne  daß  beider  Wunden  noch  eine 
Zeitlang  bei  jeder  Berührung  schmerzen.  Wenn  dann  der 
zweite  Liebhaber  dem  dritten  erheblich  schneller  weichen  muß, 
so  wird  das  wohl  eher  daran  liegen,  daß  Herr  Martin  seinem 
Vorgänger  nicht  gewachsen,  als  daß  Nancy  inzwischen  ver# 
derbter  geworden  ist.  Denn  das  ist  Nansens  größte  Kunst: 
diese  pendelnde  Nancy  bleibt  reizend  unschuldig.  Sie  ist  ein* 
fach  zu  viel  für  einen  Mann.  Ihre  Begierden  sind  natürlich 
und  erhalten  sie  jung  und  schön,  weil  sie  sie  als  natürlich 
empfindet  und  es  aufgibt,  sie  zu  bekämpfen.  Sie  ist  wirklich 
wie  Hebe,  jene  anmutige  häusliche  Göttin,  die  still  und  be* 
scheiden  mit  dem  Labetrank  zwischen  den  durstenden  Göt# 
tern  umherwandelt. 

9»  131 


Als  Nansen  daran  ging,  diese  funkelnde,  sanft  malitiöse 
und  virtuos  abgewogene  Novelle  für  die  Bühne  umzuschrei* 
ben,  schien  es  ihm  vor  allem  nötig,  die  Feder  mit  dem  Zauns* 
pfähl  zu  vertauschen.  Immer  wieder  ist  es  erstaunlich,  wie 
vollständig  graziöse  Geister  von  ihrer  Grazie  und  ihrem 
Geist  verlassen  werden  können,  sobald  es  sie  nach  dem  Theater* 
erfolg  gelüstet.  Wer  hätte  Bahr  das  , Tänzchen'  zugetraut, 
wer  Peter  Nansen  diese  taktlose  Eindeutigkeit!  In  seinem 
Lustspiel  wird  Nancy  gerade  das,  was  sie  nicht  werden  darf, 
wenn  die  Geschichte  ihrer  Ehe  einen  Sinn  haben  und  sie 
selbst  uns  durch  vier  Akte  fesseln  soll:  sie  wird  eine  Dirne. 
Nachdem  Jermer  bei  seinem  ersten  Besuch  fünf  Minuten 
neben  ihr  auf  dem  Diwan  gesessen  hat,  küßt  sie  ihn,  duzt 
sie  ihn,  verspricht  sie  ihm,  morgen  abend  zu  kommen,  und 
bedauert  nur,  daß  es  heute  abend  nicht  gehe.  Warum  geht 
es  eigentlich  nicht?  Man  wundert  sich,  daß  sie  nicht  gleich 
die  Tür  zuriegelt.  An  sich  wäre  gegen  eine  so  offen  einge* 
standene  Geschlechtlichkeit  gewiß  nichts  einzuwenden.  Man 
kennt  Nancys  genug,  die  keineswegs  erpicht  sind  auf  die 
zarten  Schwingungen  des  Anfangs,  die  Katzbalgereien  der 
Zwischenstadien,  die  Sensationen  des  Todeskampfes,  die  wol« 
lüstige  Witwentrauer  und  die  zarten  Schwingungen  des  nach* 
sten  Anfangs.  Aber  ein  dichtender  Erotiker  wie  Nansen 
hätte  zu  wissen,  daß  für  kultivierte  Zuschauer  der  Weg  alles, 
das  Ziel  fast  nichts  ist.  Er  gibt  immer  wieder  das  Ziel  und 
spart  sich  die  Nuancen,  die  Übergänge,  die  Untertöne,  die 
Unmerklichkeiten,  die  Entwicklung.  Damit  wir  doch  an  einer 
Stelle  der  Komödie  erfahren,  wie  das  innere  Verhältnis  Nan* 
cys  zu  Jermer  sich  gestaltet  hat,  muß  das  Liebespaar  sich  dar* 
über  in  demselben  kleinen  Zimmer  unterhalten,  wo  Mogensen 
mit  dem  Weihnachtsbaum  beschäftigt  ist.  Weiter.  So  oft  in 
der  Novelle  Nancy  bei  Jermer  ist,  lachen  sie  darüber,  daß  ihr 
Mann  sie  bei  der  alten  Tante  Lene  glaubt.  Als  dann  einmal 
Jermer  mit  dem  Mann  zusammensitzt  und  von  ihm  hört,  daß 
sie  bei  Tante  Lene  sei,  weiß  er,  wie  weit  sie  mit  Herrn  Martin 
ist.  Es  ist  ein  Muster  von  geschmackvoll  und  witzig  indirekter 

132 


Charakteristik,  Auch  auf  der  Bühne  sitzen  beide  Männer  zu# 
sammen:  aber  hier  tritt  Nancy  vor  sie  hin  und  teih  ihnen 
mit,  daß  sie  jetzt  zu  Tante  Lene  gehe  —  ohne  daß  Nansen  sie 
etwa  eine  BrutaHtät  gegen  Jermer  begehen  lassen  will.  Von 
solchen  Plumpheiten  wimmelt  das  Stück,  Sie  steigern  sich  zu 
unbegreiflichen  Klobigkeiten,  wenn  zum  Schlüsse  Jermer  so 
weit  aus  der  Rolle  eines  zuverlässig  diskreten  Menschen  fällt, 
daß  er  Hern  Martin  deutlich  genug  seine  eigenen  Beziehungen 
zu  Nancy  verrät.  Nur  die  bemitleidenswerte  technische  Hilfs 
losigkeit  des  Stückes  schützt  den  Autor  vor  dem  Verdacht, 
daß  er  sich  bei  der  Dramatisierung  seines  kleinen  Kunstwerks 
heimlich  der  Hilfe  eines  budapester  Freundes  bedient  hat. 

Nansen  hat  es  seiner  Vergangenheit  als  Novellist  zu  ver* 
danken,  daß  ich  ein  Corpus  liebevoll  viviseziert  habe,  das 
ich  sonst  mit  ein  paar  wütenden  Hieben  in  die  Pfanne  ge* 
hauen  hätte.  Da  er  behauptet,  schon  vor  der  Premiere  ge* 
wüßt  zu  haben,  wie  unbarmherzig  die  berliner  Theaterkritik 
ist,  wird  er  durch  meine  Milde  angenehm  überrascht  sein. 
Da  er  femer  versprochen  hat,  diese  Kritik  mit  Verständnis 
aufzunehmen,  so  wird  er  aus  ihr  ja  wohl  auch  herauslesen, 
daß  mir  seine  Zukunft  als  Dramatiker  hoffnungslos  erscheint, 
und  daß  ich  es  bedauern  würde,  wenn  er  öfter  seinen  guten 
literarischen  Ruf  aufs  Spiel  setzte,  und  sei  es  das  Spiel  des 
intimen  Theaters  der  Schumannstraße,  Höchstwahrscheinlich 
würde  diese  Komödie  überall  sonst  noch  grauenhafter,  noch 
undelikater  wirken.  Hier  wurde  doch  nach  Möglichkeit  ab* 
gedämpft  und  vermenschlicht.  Geradezu  ein  Glück  für  das 
Theaterschicksal  des  Stückes  war  es,  daß  Moissi  eine  ganz 
andere  Figur  spielte,  als  Nansen  sich  gedacht  hat.  Der  will 
einen  höchst  soignierten  Herrn  von  grader,  gemessener,  distin* 
guierter  Haltung,  den  Typus  eines  jungen  dänischen  Mini* 
sterialbeamten  comme  il  faut,  halb  Diplomat,  halb  Geistlicher. 
Hätte  Moissi  sich  daran  gekehrt,  so  wäre  der  Verlauf  der 
Sache  vollends  unerklärlich  und  unerträglich  geworden.  Er 
gibt  einfach  einen  lieben,  netten,  frischen,  verführerischen 
Jungen  mit  dem  entzückendsten  Lächeln  von  der  Welt,  weiß 

133 


erfreulicherweise  die  Hälfte  des  Textes  nicht  und  nimmt  dem 
Rest  jede  Peinlichkeit.  Trotzdem  sollte  mit  einer  kostbaren 
Kraft  wie  Moissi  nicht  so  wenig  sparsam  umgegangen  werden, 
daß  er  von  Premiere  zu  Premiere  kaum  Zeit  hat,  die  Rolle 
zu  lernen.  Seine  Geliebte  ist  Fräulein  Terwin,  die  hiermit  den 
Platz  gefunden  hat,  den  sie  ungefähr  ausfüllt.  Weswegen  man 
aber  selbst  diesen  Abend  nicht  als  verloren  bezeichnen  kann,  das 
ist  Arnolds  Mogensen.  Ein  anspruchslos  zufriedener,  dumpf 
ahnungsloser  Bürger  von  ergötzlichster  Kurzsichtigkeit,  um# 
schimmert  von  der  Glorie  derer,  deren  das  Himmelreich  ist. 
Man  malt  sich  unwillkürlich  aus,  was  Mogensen  empfände, 
wenn  er  hinter  das  Treiben  seines  Weibchens  käme.  Den 
Mogensen  des  Nansenschen  Stückes  könnte  unsertwegen  der 
Teufel  holen.  Mit  Arnolds  Mogensen  würde  man  ein  biß* 
chen  mitleiden.  Der  Schauspieler  gab  den  Humor,  den  der 
Dichter  durchweg  schuldig  geblieben  ist. 

SCHWANK  UND  GROTESKE 

Als  Paul  Lindau  die  schlechte  Kunst,  die  er  heute  in  rüsti* 
XA.ger  Altersschwäche  macht  oder  wenigstens  verantwortet, 
noch  in  seniler  Jugendlichkeit  kritisch  erforschte  und  förderte, 
nahm  er  einmal  folgende  erleuchtende  und  erlösende  Ab? 
grenzung  vor:  ,, Vielleicht  ließe  sich,  besser  als  aesthetisch, 
empirisch  der  Unterschied  zwischen  der  Posse  und  dem  Lust? 
spiel  in  der  Weise  bezeichnen,  daß  das  Lustspiel  keine  Cou* 
plets  enthält  und  nur  ein  freundliches  Lächeln  hervorruft, 
während  die  erstere  mit  Gesangseinlagen  gegeben  wird,  die 
Zuschauer  bis  zu  Tränen  zum  Lachen  zwingt  und  ihnen, 
während  sie  sich  köstlich  amüsieren,  den  Schmerzensruf  ent* 
lockt:  Herr  Gott,  ist  das  dumml"  Ein  großes  Muster  weckt 
Nacheiferung  und  gibt  dem  Urteil  höhere  Gesetze.  Ich 
werde  also  als  unzweifelhaft  empirischer  Besucher  des  Resi* 
denztheaters  und  des  Neuen  Schauspielhauses  den  Unter* 
schied  zwischen  dem  gallischen  Schwank  und  der  germanischen 
Groteske  am  einfachsten  so  bezeichnen:   daß  mir  zwar  in 

134 


beiden  Fällen  der  Lindausche  Schmerzensruf  ohne  die  ange* 
nehme  Beigabe  von  Lachtränen  entlockt  worden  ist,  daß 
aber  der  Schwank  anspruchslos,  die  Groteske  anspruchsvoll 
auftritt.   Das  bestimmt  den  Ton  der  Ablehnung. 

Die  Herren  Maurice  Hennequin  und  Georges  Mitchell 
haben  keinen  anderen  Wunsch,  als  ein  gesättigtes  Publikum 
zwei  Stunden  lang  zu  unterhalten.  Der  deutsche  Theater* 
direktor  nun,  der  ein  Stück  von  ihnen  oder  ihren  Brüdern 
herübemimmt,  sollte  niemals  außer  acht  lassen,  daß  wir 
vor  dem  Abendbrot  ins  Theater  gehen  und  uns  einigermaßen 
satt  lachen  wollen.  Bedingung  ist  demnach  eine  gewisse 
Dichtigkeit  der  Komik.  Ein  öder  erster  Akt  macht  verdrieß* 
lieh,  ein  dünner  zweiter  Akt  muntert  nicht  genügend  auf, 
und  wenn  endlich  der  dritte  Akt  imstande  wäre,  seine 
Schuldigkeit  zu  tun,  dann  ist  es  immer  noch  nicht  leicht, 
über  zwei  Hindernisse  hinwegzukommen.  Man  glaubt  zu* 
nächst  Alexander  den  ,aime  des  femmes*  nicht  mehr.  Wie 
er  auf  Hutnadeln  sitzt:  das  ist  nach  wie  vor  zum  Schreien. 
Aber  wo  von  der  frischesten  Probiermamsell  bis  zur  abge# 
takeltsten  Großfürstin  alles  besinnungslos  in  einen  verliebt 
ist,  da  muß  es  schon  eine  verführerischere  und  vermutlich  auch 
jüngere  Männlichkeit  sein.  Es  ist  für  uns  und  für  Alexander 
ganz  gut,  daß  dies  seine  letzte  Rolle  im  Residenztheater  war : 
wir  werden  jetzt  hoffentlich  erfahren,  daß  er  nicht  bloß  eine 
»Spezialität'  ist,  und  er  selbst  wird  sich  freuen,  von  einem 
Genre  befreit  zu  sein,  das  sich  überlebt  hat.  Freilich:  , Alles 
für  die  Firma'  ist,  trotz  der  Abgenutztheit  der  Bauart  und 
der  Altertümlichkeit  vieler  Züge,  doch  meines  Wissens  das 
erste  Exemplar  eines  neu  und  besonders  zusammengesetzten 
Fabrikats.  Nennen  wir  es:  pornographischer  Benedix.  Ein 
moralischer  Schwank.  Zwei  Frauen  wollen  ehebrechen  und 
bleiben  notgedrungen  treu.  Ein  schlaues  Jüngferlein  hält 
mit  sich  Haus  und  wird  denn  auch  zum  Schluß  geheiratet. 
Also:  ein  Spiel  für  Hofbühnen,  das  erst  durch  Zoten, 
gesprochene  und  zur  Schau  gestellte  Zoten  residenztheater* 
fähig  wird.   Da  aber  wird  es  wohl  eine  übertriebene  Zimper* 

135 


lichkeit  von  mir  sein,  daß  ich  Zoten  in  unserer  plumpen 
deutschen  Sprak  weder  aus  dem  Munde  eines  Mannes  noch 
gar  einer  Frau  mitanhören  kann,  und  daß  es  mir  höchst 
genierlich  ist,  zusammen  mit  achthundert  Menschen  ein  Mäds= 
chen  weiter  als  bis  auf  den  Unterrock  entkleidet  zu  sehen. 
Diese  Massivitäten  waren  bei  mir  das  zweite  Hindernis  einer 
heiteren  Wirkung.  Die  Zensur,  die  das  alles  erlaubt,  rechnet 
wahrscheinlich  nicht  damit,  daß  blütenweiße  Gemüter  wie 
ich  das  Residenztheater  besuchen,  und  wird  überhaupt  wissen, 
warum  sie  seit  Jahrzehnten  hier  nicht  denselben  Maßstab 
anlegt  wie  an  anderen  Orten.  Wenn  nur  auch  wir  wüßten, 
warum  sie  immer  wieder  reine  Kunstwerke  verbietet! 

Damit  ist  beileibe  nicht  ,Fiat  Justitiar  gemeint.  Diese 
, Kriminalgroteske  in  drei  Instanzen'  hat  so  lange  geatmet, 
wie  die  Zensur  in  ihrer  Finsternis  sie  zärtlich  betreute,  und 
ist  mit  dem  ersten  Schritt  ins  rosige  Licht  der  berliner  Öffent* 
lichkeit  schmählich  verblichen.  Da  Lothar  Schmidt  und  Hein* 
rieh  Ilgenstein  verlangen,  sogar  mit  Ausrufungszeichen  ver# 
langen,  daß  Gerechtigkeit  ohne  Unterschied  der  Person 
herrsche,  so  werden  sie  sicherlich  nicht  gerade  für  sich  selber 
eine  ungerecht  milde  Justiz  beanspruchen.  Also:  Kopf  ab I, 
weil  sie  ihn  nicht  dazu  gebraucht  haben,  sich  über  das  Wesen 
der  politischen  Satire,  das  Wesen  der  dramatischen  Groteske, 
das  Wesen  des  lebendigen  Theaters  klar  zu  werden.  Der 
Satiriker  braucht  ein  Objekt,  jUm  es  jmit  einem  Dolch  zu 
Tode  zu  kitzeln.  Wenn  er  ihm  aber  mit  einem  Dreschflegel 
zu  Leibe  geht,  so  ist  es  nach  einem  Schlage  tot  und  kein 
Objekt  mehr.  Die  Autoren  werden  mich,  solange  sie  nicht 
weitergelesen  haben,  mißverstehen  und  triumphierend  darauf 
hinweisen,  daß  das  Leben  nachträglich  einen  ähnlichen  Fall 
wie  den  ihren  geliefert  hat.  Genau  so  wie  in  diesem  Stück 
war  tatsächlich  im  Mordprozeß  von  Dabendorf,  den  wir 
eben  erlebt  haben,  das  Opfer  verschwunden.  Der  Staats* 
anwalt  beantragte  Todesstrafe,  die  Geschworenen  erkannten 
auf  Freisprechung.  Trotzdem  das  Opfer  verschwunden  blieb. 
Irgendwie  durfte,  ja  mußte  selbstverständlich  solch  ein  Fall 

136 


verzerrt  werden,  um  eine  Satire  abzugeben.  Im  Stück  aber 
erscheint  das  Opfer  gesund  und  vergnügt  vor  Gericht, 
ohne  daß  das  für  Richter  und  Geschworene  ein  Grund 
wird,  das  Urteil  aufzuheben.  Dagegen  wird  ein  Graf,  der 
sich  selbst  bezichtigt,  einen  seiner  Knechte  erschossen  zu 
haben,  im  Gefängnis  mit  Lampreten,  im  Gerichtssaal  mit 
Klubsesseln  traktiert  und  freigesprochen.  Das  heißt  so  kraß 
übertreiben  und  so  hanebüchen  kontrastieren,  daß  wirklich 
nur  die  durchgeführte  Form  der  Groteske  die  Vorgänge 
künstlerisch  glaubhaft  machen  könnte.  Ein  wilder  Witz,  eine 
freche  Genialität,  ein  verwegenes  Temperament,  ein  —  wo 
gerate  ich  hin!  Wir  sind  leider  nicht  in  tropisch  bunten  und 
glühenden  Geländen  der  Absurdität,  sondern  bei  Schmidt 
und  Ilgenstein,  die  gewiß  eine  Groteske,  aber  eine  unfrei* 
willige  Groteske  verfaßt  haben.  Ihr  Stück,  das  ein  Epigramm 
breit  und  entzwei  walzt,  ist  mit  seinem  unscharfen  Gerede, 
seiner  matten  Witzelei,  seinen  unbedenklichen  Geschmack* 
losigkeiten  und  seiner  asthmatischen  Technik  wie  ein  greulich 
entarteter  Körper,  der  keine  Nerven,  keine  Sehnen,  keine 
Knochen,  sondern  nichts  als  Muskeln  und  noch  dazu  schlappe 
Muskeln  hat.  Erst  im  dritten  Akt  straffen  sie  sich.  Da  ist 
es  denn  zu  spät.  Daß  man  nämlich  einen  erträglichen  dritten 
Akt  mit  um  so  größerer  Freude  begrüßen  wird,  je  schlechter 
die  ersten  beiden  Akte  waren,  das  ist  ein  Irrtum  kurzsichtiger 
Dramaturgen.  Man  ist,  besonders  wenn  man  die  beiden 
Akte  in  der  plumpen  und  geistlosen  Darstellung  des  Neuen 
Schauspielhauses  gesehen  hat,  einfach  nicht  mehr  aufnähme* 
fähig.  Witze,  die  sonst  gezündet  hätten,  verpuffen.  Hier  gar 
ist  die  Pointe  (daß  der  Ermordete  plötzlich  erscheint)  nicht 
einmal  neu,  Fiat  justitia:  Werft  das  Scheusal  in  die  Wolfs* 
Schlucht  und  habt  keinen  Respekt  vor  dem  Freisinn,  dem 
Republikanertum  und  dem  Mut  von  Leuten,  denen  es  so 
große  Herzensnot  bereitet,  wie  die  Gerechtigkeit  bei  uns 
mißbraucht  wird,  daß  sie  selber  diese  Gerechtigkeit  zu  einem 
groben,  flüchtigen,  armseligen  Theaterstück  ohne  einen  Hauch 
von  echtem  Zorn  mißbrauchen. 

137 


Aber,  o  Freunde,  nicht  diese  Töne!  Lohnt  es  denn?  Und 
bin  ich  nicht  tadelnswerter  als  sämtliche  schwachen  Autoren, 
daß  ich  von  ihnen  und  ihrer  Blöße  spreche,  statt  von  meinen 
Genüssen?  Am  Abend  vor  dem  Schwank  war  .Figaros 
Hochzeit*,  am  Abend  nach  der  Groteske  ,Die  Entführung 
aus  dem  Serail'  (und  dazu  noch,  ausnahmsweise,  im  Schau* 
spielhaus  —  wo  Mozart  freilich  regelmäßig  gespielt  werden 
sollte,  weil  man  erst  hier  der  Partitur  in  jede  Falte  blicken 
kann,  weil  durch  die  wunderbare  Intimität  des  Raums  jeder 
Klang  zugleich  verstärkt  und  verfeinert  wird).  Da  wallfahrtet 
hin.  Da  gibts  kein  Premierenvolk,  gibts  nicht  einmal  ein  be* 
kanntes  Gesicht.  Aber  da  habt  ihr  Schwank  und  Groteske 
und  politische  Satire,  Witz  und  Geist  und  Seele,  Zartheit, 
Grazie  und  Güte,  Sehnsucht,  Erfüllung  und  Verklärung, 
adligstes  Menschentum  und  alle,  alle  Süßigkeit  der  Kunst. 
Bestaunt  den  kleinen  Lieban,  der  ein  Genie  ist  und  nicht 
altert  und  aus  Pedrillo  und  Basilio  voll  Komödenwirbligkeit 
den  farbenfrohsten  Funkenregen  schlägt.  Hört,  von  der 
Hempel,  Susannens  Gartenarie,  bei  der  euch  vor  Seligkeit 
das  Herz  stocken  wird,  es  sei  denn,  daß  ihr  keins  habt.  Er* 
lebt  das  Finale  des  , Figaro',  erlebt  diesen  brausenden  Auf* 
Schwung,  diese  zusammenschießende  Leidenschaft  von  zehn 
menschlichen  Stimmen,  hinter  denen  es  wie  von  einer  Orgel 
und  einem  unsichtbaren  Chor  zu  schallen  scheint,  und  über 
denen  sich  der  Himmel  öffnet.  „Hinauf,  hinauf!  die  Erde 
flieht  zurück!"  Da  waltet  eine  Kraft  der  Entrückung,  der 
man  sich  mit  ekstatisch  ausgebreiteten  Armen  überläßt,  auch 
wenn  man  kühler  ist  als  ich.  Denn  schaut  euch  um:  die 
innigste  Rührung  in  allen  Mienen,  Glanz  in  den  Augen,  ein 
beglücktes  Lächeln,  das  verbindet  und  verbündet,  eine  Atmo* 
Sphäre  von  Reinheit,  Schönheit,  Helligkeit  und  Leichtigkeit 
im  ganzen  Hause  und  Freude,  Jubel,  Dankbarkeit  wie  nir* 
gends  sonst.  Dies  sind  die  wahren  Feste  des  Theaters  von 
Berlin. 


138 


VON  SCHNITZLER,  SCHÖNHERR  UND  BRAHM 

So  oft  ich  das  Lessingtheater  unsanft  behandle  —  und  das 
muß  ja  neuerdings  leider  nach  jeder  Aufführung  geschehen, 
weil  entweder  das  Stück  oder  die  Darstellung  nichts  taugt  — 
setzt  es  Beschimpfungen,  Bedrohungen  und  Denunziationen. 
So  oft  ich  Reinhardt  unsanft  behandle  —  und  selbst  heute, 
wo  meine  Begeisterung  nicht  mehr  oft  genug  gelockert  wird, 
braucht  das  ja  zum  Glück  nicht  allzu  oft  zu  geschehen  — 
im  Falle  Reinhardt  also  werde  ich  bedankt,  gehätschelt 
und  mit  allen  Künsten  mündlicher  und  schriftlicher  Über* 
redung  aufgestachelt,  diesen  Götzen  doch  nun  endgültig  zu 
verbrennen.  Armer  Brahm!  Ihn  hat  das  harte  Schicksal  ge* 
troffen,  auf  seine  alten  Tage  ein  Liebling  zu  sein.  Die  Trunken* 
heit  ist  so  allgemein,  daß  wohl  auch  die  paar  Vorzüge,  die 
ich  seinem  Theater  immer  noch  zuerkenne,  gar  nicht  vorhanden 
sein  werden.  Ich  will  nächstens  schärfer  zusehen.  Indessen  wütet 
ruhig  weiter.  Über  euern  Racheschwur  lach  ich  nur  Ich 
weiß  längst,  daß  es  schwerer  ist,  Kritiken  zu  erfassen  als  zu 
verfassen.  Wer  mir  aber  nicht  einmal  nach  elf  Jahren  einer 
ziemlich  planvollen  Tätigkeit  draufgekommen  ist,  daß  ich  am 
liebsten  juble;  wem  es  entgangen  ist,  daß  meine  Ablehnungen 
keinen  anderen  Zweck  haben,  als  Raum  für  die  Dinge  zu 
schaffen,  über  die  ich  jubeln  kann:  der  gehe  endlich  zu  den 
Kritikern  über,  denen  sein  Gehirnchen  gewachsen  ist.  Wenn 
ein  Enthusiast  von  Geblüt  sich  einem  Theater  abkehrt,  das 
er  manches  liebe  Mal  mit  Überschwang  gepriesen  hat,  so  gibt 
es  drei  Möglichkeiten.  Entweder  ist  der  Enthusiast  allmählich 
ein  Griesgram  geworden.  Aber  eh'  siehst  du  die  Loire  zu* 
rückefließen,  eh'  daß  aus  mir  ein  Griesgram  wird.  Oder 
es  haben  sich,  wie  ein  anonymer  Schubiak  mutmaßt,  gute 
persönliche  Beziehungen  in  schlechte  verwandelt.  Aber  weder 
hat  hier  jemals  die  leiseste  persönliche  Beziehung  bestanden, 
noch  wäre  mein  bedauerlicher  Sachlichkeitsfanatismus  durch 
dergleichen  zu  brechen.  Was  bleibt  demnach  drittens? 
Daß  Brahms  Theater  sich  erschreckend  verschlechtert  hat. 
Aber  diese  Erklärung  liegt  zu  nah,  als  daß  ich  meinen  An* 

139 


klägem  und  Angebern   zumuten  dürfte,   gerade  darauf  zu 
verfallen. 

Ich  werde  mir  auch  heute  wenig  Mühe  geben,  durch  Freund* 
lichkeit  der  kritischen  Sitten  bei  Brahms  unheilbarer  Gemeinde 
Anklang  zu  finden.  Was  wäre  denn  um  alles  in  der  Welt  an 
diesem  letzten  Abend  groß  zu  loben,  soweit  Brahms  Leistung 
in  Betracht  kommt?  Ohne  jeden  Zweifel:  Schnitzlers  ,Kom« 
tesse  Mizzi  oder  Der  Familientag'  ist  ein  äußerst  amüsantes 
kleines  Kunstwerk.  Die  Menschen,  unter  denen  ,Das  weite 
Land'  vor  sich  geht,  sind  hier  geadelt  und  (dadurch?)  um 
die  Fähigkeit  gebracht,  zu  sterben,  wenn  sie  lieben.  Sie  kriegen 
Kinder,  ob  sie  auch  gräfliche  Fräuleins  sind;  sie  machen  diesen 
Fräuleins  Kinder,  ob  sie  auch  mit  Fürstinnen  verheiratet  sind ; 
und  sie  treffen  sich  nach  achtzehn  vergnügten  und  in  jeder 
Beziehung  abwechslungsreichen  Jahren,  um  einander  aus  ihrer 
unfeierlichen  Lebensauffassung  kein  Hehl  mehr  zu  machen, 
aber  vielleicht  doch  noch  nachträglich  dem  illegitimen  Sohn 
leidlich  legitime  Eltern  zu  verschaffen.  Was  Schnitzler  hier 
vermeidet,  das  allein  bezeugt  seinen  unfehlbaren  Geschmack. 
Er  unterdrückt  die  Erkennungsszene  zwischen  der  ledigen 
Mutter  und  ihrem  erwachsenen  Kind,  um  derentwillen  die 
meisten  anderen  Dramatiker  einen  solchen  Einfall  überhaupt 
nur  ausgeführt  hätten.  Er  läßt  sein  Spiel  leicht  und  frei  von 
wehmütiger  Nachdenklichkeit,  die  es  vielleicht  ein  bißchen 
vertieft,  sicherlich  aber  übermäßig  beschwert  hätte.  Er  be* 
moralisiert  diese  spöttischen,  entweder  aus  Dummheit  oder 
aus  Klugheit  spöttischen  Epikuräer  durch  nichts  anderes  als 
durch  die  milde,  unauffällige  Ironie  seines  Tons.  Bis  hierher 
hätte  die  Geschichte  ebenso  gut  eine  Novellette  werden  können. 
Ein  Dramolet  wird  sie  nicht  durch  irgendeinen  Konflikt, 
sondern  durch  eine  Parallele  zu  dem  Hauptvorgang.  Komtesse 
Mizzi  also  kommt  nach  achtzehn  Jahren  zu  ihrem  Kind  und 
ein  bißchen  später  wahrscheinlich  zu  einem  Mann.  Mizzis 
Vater  aber  wird  nach  achtzehn  Jahren  von  seiner  Balleteuse 
verabschiedet,  weil  es  sie  unwiderstehlich  zu  einem  Fiaker 

140 


zieht.  Mizzi,  ihr  letzter  Liebhaber,  ihr  erster  Liebhaber,  sein 
und  ihr  Sohn,  ihr  Vater,  seine  Freundin  und  deren  Verlobter, 
sie  treten  nach  einander  und  mit  einander  auf:  das  ergibt  den 
Familientag  und  das  lustige  Drama.  Sie  schwatzen,  scherzen, 
plänkeln,  beobachten  und  lassen  sich  beobachten,  schleifen 
aus  ihrer  Vergangenheit  und  Gegenwart  und  Zukunft  einen 
deliziösen  Dialog  und  erzeugen  zugleich  den  vollen  Schein 
des  Lebens  und  die  runde  Realität  der  Kunst,  der  leider  das 
Lessingtheater  nur  halb  gewachsen  ist.  Es  entsteht  nicht  die 
Atmosphäre,  die  Schnitzler  sich  gedacht  hat,  weil  nicht  alle 
seine  Menschen  entstehen.  So  kunstvoll  die  Triesch  Komtesse 
Mizzi  durch  lächelnden  Gleichmut  von  ihrer  schwerblütigen 
Schwester  Genia  Hofreiter  unterscheidet:  sie  ist  für  diese  Mizzi 
noch  immer  zu  viel,  ohne  daß  sie  etwa  zu  viel  macht.  Ihr 
künftiger  Mann  dagegen  ist  gar  nichts,  und  ihr  Vater  macht 
zu  viel.  Reicher  hat  einen  verhängnisvollen  Zug  nach  dem 
Osten.  Neulich  hat  er  Bahrs  Generaldirektor  aus  dem  Lavin 
in  den  Levin  und  aus  der  Tiergartenstraße  in  die  Rosenstraße 
zurückgespielt;  jetzt  hat  er,  als  oesterreichisch^ungarischer 
Graf,  das  wiener  Cottage  allzu  tief  in  die  Fuszta  verlegt.  Herr 
Monnard  aber,  der  ein  Fürst  sein  sollte,  hätte  hier  hoch* 
stens  Fürst  geheißen,  wenn  das  ein  christlicher  Name  wäre. 

Es  folgte,  statt  voranzugehen:  ,Erde'  von  Schönherr.  Zu 
dieser  Ausgrabung  hat  Brahm  der  Kassenerfolg  von  »Glaube 
und  Heimat'  ermutigt.  Die  Wirkung  war  erheblich  schwächer, 
da  die  , Komödie  des  Lebens'  immerhin  ein  bißchen  stärker 
ist  als  die  ,Tragödie  eines  Volkes*.  Man  ersieht  hoffentlich 
schon  aus  diesem  Satz,  daß  ich  entschlossen  bin,  mich  gegen 
den  gefeierten  Schönherr  entsetzlich  blasphemisch  zu  be* 
nehmen.  Im  Ernst:  Was  ist  , Glaube  und  Heimat'  denn 
Großes?  Ein  wackeres  Theaterstück,  mehr  nicht.  Ein  drama* 
tischer  Defregger.  Eine  Monumentalität  aus  Gips,  der  ich 
vor  einem  Jahr  prophezeit  habe,  daß  sie  in  ein  paar  Jahren 
zerbröckelt  sein  würde,  und  die,  siehe  da,  gar  nicht  einmal 
so  viel  Zeit  dazu  gebraucht  hat.  Heute  murmeln  die  wütend* 

141 


sten  Vorkämpfer  des  Reißers,  deren  Autorität  den  Schönherr* 
Rummel  überhaupt  erst  heraufbeschworen  hat,  schämig  etwas 
von  , Überschätzung'.  Welche  Blamage  für  sie  und  für  ihre 
lieben  Deutschen!  Man  mußte  wohl  ein  guter  Christ  sein, 
um  sich  vor  einem  Drama  mit  der  Freude  zu  begnügen,  daß 
es  Fragen  des  evangelischen  Glaubens  behandelt  und  diesen 
Glauben  verherrlicht.  Kein  Wunder,  daß  sich  zu  den  guten 
Christen  die  schlechten  gesellten  und  die  Begeisterung  orga# 
nisierten.  Erst  recht  kein  Wunder,  daß  die  schlechten  Juden 
sich  benebeln  ließen  und  vertrauensvoll  den  Schwindel  mit* 
machten.  An  den  guten  Juden  war  es  schon  damals,  die 
Begeisterung  auf  ihren  Ursprung  zurückzuführen  und  nach* 
drücklich  zu  erklären,  daß  und  warum  , Glaube  und  Heimat', 
angeblich  das  Werk  einer  neuen ,  reicheren ,  saftigeren ,  erd* 
haften  Kunst,  überhaupt  kein  Kunstwerk  geworden  ist. 

Glaube  und  Heimat  sind  in  der  Weise  kontrastiert,  wie 
etwa  der  selige  Wildenbruch  Kaiser  und  Reich,  Pflicht  und 
Liebe,  Laster  und  Tugend,  Zwang  und  Freiheit  kontrastiert 
hat  oder  kontrastiert  hätte.  Weil  Ferdinand  der  Zweite  zum 
Kardinal  Kiesel  gesagt  hat,  daß  er  lieber  eine  Wüste  als  ein 
Land  voll  Ketzer  haben  wolle,  stellt  Schönherr  seine  Ober* 
oesterreicher  vor  die  Wahl  zwischen  dem  Glauben  und  der 
Heimat.  Im  ganzen  Stück  gibt  es  nichts  als  diese  beiden 
Begriffe.  Von  jedem  Punkt  des  einen  zu  jedem  Punkt  des 
anderen  werden  Drähte  gelegt,  die  Funken,  nämlich  Theater* 
effekte  sprühen,  sobald  sie  aufeinandertreffen.  Es  ist  un* 
wahrscheinlich,  daß  Schönherr  irgendeine  Möglichkeit,  eine 
knallende  Szene  herbeizuführen,  ungenützt  gelassen  hat.  Seine 
Bauern  sind  ihm  nur  Mittel  zu  diesem  Zweck.  Sonst  haben 
sie  keine  Funktionen.  Selbst  in  friedlichen  Zeiten  wären  sie 
außerstande,  einen  Acker  zu  pflügen,  eine  Kuh  zu  melken, 
eine  Sense  zu  dengeln  und  anderes  Stroh  als  das  Stroh  dieses 
Dialogs  zu  dreschen. 

Denn  es  ist  ja  keineswegs  richtig,  daß  diese  Sprache 
durchweg  von  deutscher  Markigkeit,  von  asketischer  Karg* 
heit,  von  naiver  Rauheit  ist.   Manchmal  scheint  sie  es  wirk* 

142 


lieh.  Aber  noch  immer  sind  genug  Schlupfwinkel  für  Roman* 
floskeln  da,  die  dadurch  nichts  von  ihrer  Phrasenhaftigkeit 
verlieren,  daß  sie  ziemlich  einsilbig  sind.  Die  Leute  nennen 
sich  selber  so,  wie  allenfalls  wir  sie  nennen  dürften,  aber  aus 
Gründen  des  guten  Geschmacks  nicht  nennen  würden. 
Vater,  Mutter  und  Sohn  sind  ein  Dreigespann,  eine  Groß* 
mutter  ist  eine  Gluckhenne,  ein  Unmündiges  ist  ein  Spatz, 
Schwalbennester  spielen  eine  sentimentale  Rolle,  Herzen 
stehen  sperrangelweit  offen,  und  wenns  zum  Äußersten  kommt, 
dann  „ist  sie  da,  die  blutige  Stund",  dann  „geht  es  erst  ans 
große  Leiden". 

Der  Zuschauer  leidet  nur  mit,  wenn  er  sich  dumm  machen 
läßt.  Mit  scharfen  Ohren  bleibt  er  gegen  so  geschwollene 
Formulierungen  mißtrauisch,  mit  scharfen  Augen  sieht  er 
die  Nähte.  Der  wilde  Reiter,  der  das  große  Leid  über  das 
Dorf  bringt,  der  es  entweder  in  eine  Wüste  verwandeln  oder 
den  Dörflern  das  Ketzertum  austreiben  soll  —  dieser  halb 
allzu  harte,  halb  allzu  weiche  Kerl  hat  weder  den  Verstand 
seines  Kaisers  noch  seinen  eigenen,  sondern  den  Verstand 
des  Autors,  der  ihm  immer  gerade  das  auszuhecken  und  aus* 
zusprechen  aufgibt,  was  dem  Stück  weiterhelfen  und  es  um 
eine  krasse  Situation  vermehren  kann.  Man  wird  dagegen 
einwenden,  daß  ich  den  Stil  des  Dramas  nicht  erfaßt  habe, 
wenn  ich  von  dieser  Balladenfigur  eine  volle  Menschlichkeit 
verlange.  Ich  habe  schon  erfaßt,  welchen  Stil  Schönherr  an* 
gestrebt  hat;  aber  ich  bin  allerdings  der  Meinung,  daß 
Schönherr  seinen  eigenen  Stil  mißverstanden  oder  zum  min* 
desten  nicht  durchgeführt  hat. 

Ein  Beispiel.  Von  den  zwei  kurzen  Szenen  der  Sand* 
pergerin  hat  die  zweite  drei  Sätze :  „(Sinkt  zu  Boden)  Bluet, 
rinnl  Mein*  Bib'l  laß  i  nitl"  (Mit  brechenden  Augen)  Reiter, 
stich  noch  einmal!  Mein'  Bib'l  laß  i  nit!  (Zu  ihrem  Mann) 
Red'  nit  viel  .  .  .  und  .  .  .  geh  .  .  .  dein'  Glauben  nach  .  .  . 
(Fällt  tot  zurück)."  Lebensinhalt  und  Lebensende  der  Frau 
sind  in  diesen  drei  Sätzen  gestaltet.  In  solche  drei  Sätze  ist 
Herz  und  Hirn  auch  jeder  anderen  Figur  einzufangen.   Für 

145 


sie  aber  hat  Schönherr  dreißig,  sechzig  und  neunzig  Sätze 
gebraucht,  in  denen  eigentlich  immer  dasselbe  steht.  Das 
macht  dieses  Drama  so  gedankenarm  und  fleischlos,  das 
macht  alle  Szenen,  in  denen  es  nicht  pufft  und  wettert, 
schlechtweg  langweilig.  Diese  Leute,  die  einander  nichts  zu 
sagen  haben,  haben  auch  uns  nichts  zu  sagen.  Erst  wenn 
aus  der  Theaterwolke  der  Kolophoniumstrahl  zuckt,  kommt 
Leben  auf  die  Bühne.  Da  der  Strahl  hier  nicht,  wie  bei 
anderen  Brettergöttern,  ohne  Wahl  zuckt,  sondern  mit  ruh* 
menswerter  Akkuratesse  nur  da  hervorgespult  wird,  wo  es 
sich  gehört,  wo  die  Kulissenatmosphäre  geladen  genug  ist, 
so  ist  wenigstens  an  dem  Theaterstück  nichts  auszusetzen. 

Von  diesem  Theaterstück  hätte  auch  ich  mit  Achtung  zu 
sprechen  keinen  Augenblick  gezögert.  Wir  sind  ja  an  tüch* 
tigen  Theaterstücken  nicht  reich.  Aber  weil  wir  an  großen 
dramatischen  Dichtungen  noch  ärmer  sind,  deswegen  plötz* 
lieh  Karl  Schönherr  zum  Erlöser  auszurufen  —  das  geht 
wahrhaftig  nicht  an,  das  durfte  kein  ernster  Kritiker  mit« 
machen.  In  den  Literatur«  und  Theatergeschichten  werden 
mit  ganz  besonderen  Ehren  diejenigen  Dramen  bedacht,  vor 
denen  Deutschland  durchgefallen  ist.  Die  künftigen  Histo* 
riker  werden  mit  ganz  besonderen  Unehren  diese  »Tragödie 
eines  Volkes'  bedenken,  auf  die  Deutschland  hineinge* 
fallen  ist. 

,Erde'  aber,  eine  Komödie  des  Lebens,  wird  gar  nicht 
vermerkt  werden.  Sie  ist  zwar  viel  lustiger  als  die  Tragödie 
und  dazu  tatsächlich  kunstähnlicher.  Trotzdem  wird  sie  der 
Zukunft  als  Symptom  unserer  Sehnsucht  nicht  bezeichnend 
genug  und  als  Kunstwerk  schließlich  doch  zu  gleichgültig  sein. 
Auch  sie  ist  ja  nach  vier  Jahren  schon  ziemlich  tot.  Wenn 
sie  ganz  tot  ist,  sollte  man,  um  nichts  umkommen  zu  lassen, 
aus  den  Regiebemerkungen  einen  Gartenlaubenroman  machen 
und  den  Text  zuweilen  kropferten  tiroler  Bauern  vorspielen, 
die  beim  geseufzten  Tirili  und  beim  unverdient  frühen  Tode 
eines  gefühlvollen  Jungknechts  hoffentlich  weinen  werden, 
und  denen  man  die  Gefräßigkeit  eines  Roßknechts  dreimal 

144 


demonstrieren  muß,  bis  sie  begreifen,  daß  ihr  Dichter  einen 
gefräßigen  Roßknecht  hat  darstellen  wollen.  Gott  helfe  mir: 
aber  hier  sitze  ich  und  kann  nicht  anders,  als  die  Primitivität 
solcher  Stücke  unerträglich  heißen.  Was  wars  um  diesen 
Schönherr?  wird  man  nach  fünf,  allenfalls  noch  nach  zehn 
Jahren  gefragt  werden.  Es  sah  so  aus,  wird  die  Antwort 
lauten,  als  ob  nach  einer  fast  übertriebenen  Seelenzerfaserung 
eine  Kunst  der  Muskeln  gut  tun  würde.  Da  erwählte  man 
kein  Patrizierkind,  Da  erwählte  man  einen  vom  Plebse.  Da 
ernannte  man  diesen  Sohn  der  "Wildnis  zum  Dichter.  Und 
wirklich:  sein  Geist,  sein  Denken  blieb  Ganz  frei  vom  Ein« 
fluß  abstrakter  Philosophie!  Er  blieb  er  selbst!  Der  Kobes 
war  ein  Charakter.  Aber  es  kam  allzu  schnell  auf,  daß  das 
allein  doch  nicht  genügt,  und  da  wurde  der  Sohn  der  Wild# 
nis  wieder  abgesetzt. 

Immerhin:  heut  atmet  er  noch  im  rosigten  Licht  und 
hat  die  kleine  Genugtuung,  daß  ,Erde'  von  derselben  Bühne 
begehrt  wird,  die  ihm  die  Komödie  vor  dem  Kassenerfolg 
von , Glaube  und  Heimat'  zurückgegeben  hat.  Was  lange  währt, 
wird  selten  gut.  Wollte  Brahm  mit  seiner  Aufführung  beweisen, 
wie  weit  das  Hebbeltheater  von  1908  bereits  nach  einjähriger 
Übung  das  jahrelang  eingespielte,  gerade  auf  derlei  Stücke 
eingespielte  Lessingtheater  überboten  hat?  Herrn  Lessings 
Regie  —  durch  läppische  Unterstreichungen,  durch  stumpf« 
sinnige  Ausmalung  ,naturwahrer'  Nebenzüge  verhindert  sie, 
daß  herauskommt,  was  Schönherr  vorgeschwebthat:  der  Rhyth« 
mus,  die  Melodie,  das  Lebensgefühl  erdenseliger,  erdeneifer« 
süchtiger,  erdenschlichter  Menschen.  Diese  Menschen  selber? 
Reicher  bemüht  sich  redlich  und  für  sein  städtisch«jüdisches 
Wesen  nicht  einmal  ohne  Glück,  den  Ackersmann  vorzutäu« 
sehen,  hat  aber  nichts  von  der  Dämonie,  die  dem  alten  Grutz 
zugedacht  ist,  und  die  ein  genialer  Schauspieler  ihm  zuteilen 
würde.  Eine  anständige  Leistung,  an  der  nichts  überrascht. 
Sein  Sohn  wird  uns  interessanter,  weil  Herr  Stieler  mit  jeder 
neuen , Charakterrolle'  klarerbeweist,  wieviel  wertvolle  Jugend« 

10  145 


jähre  ihm  Brahms  Kurzsichtigkeit,  die  ihn  solange  als  ,Lieb* 
haber'  sah,  ziemlich  unwiederbringlich  geraubt  hat.  Als  seine 
Trine  hat  den  Erfolg  nicht  Fräulein  Sussin,  sondern  nach* 
träglich  Maria  Mayer.  Dafür  gibt  die  Lehmann,  Trines  Ri* 
valin  Mena,  förmlich  die  Titelrolle,  solange  sie  nicht  spricht. 
Dann  aber  deckt  Herr  Forest  durch  die  Echtheit  seines  Dia* 
lekts  ihr  Kauderwelsch  auf  und  zeigt,  wie  sehr  die  Glaub* 
haftigkeit  eines  Menschen  von  seiner  Sprache  abhängt.  Ein 
Regisseur,  der  Beziehungen  zur  Kunst  hätte,  wäre  keinen 
Augenblick  im  Zweifel  gewesen,  daß  für  die  Lehmann  aus 
dieser  Mena  eine  schlesische  oder  märkische  Magd,  die  den 
Tirolern  zugewandert  ist,  gemacht  werden  mußte.  Der  Rest? 
Theater.  Dickes  und  dünnes,  pathetisches  und  übernatura* 
listisches,  provinziales  und  großstädtisches  Theater,  Die 
ganze  Aufführung:  eine  belästigende  Überflüssigkeit.  Wie 
denn?  Nach  zwei  schönen  Dichtungen  von  Eulenberg  und 
Schnitzler,  die  sich  bei  so  unzulänglicher  Gesamtdarstellung 
unmöglich  halten  konnten;  nach  jenem  epigonenhaften  Vers* 
gerinnsei  von  Ernst  fiardt,  dem  der  Geschäftsmann  Brahm 
wieder  einmal  seine  literarische  Überzeugung  geopfert  hat; 
nach  Bahrs  hochsensationellem  und  pseudopolitischem 
Schmarren  schließlich,  den  herauszustellen  noch  würdeloser 
war,  als  ihn  herzustellen :  nach  solchen  fünf  Monaten  wird 
eines  Dichters  bildhübscher  Einakter,  den  alle  anderen  Thea* 
terstädte  seit  Jahren  kennen,  teils  gut,  teils  schlecht  und  das 
gleichgültige  alte,  selbst  für  Berlin  abgeklapperte  Schiller* 
preisstück  einer  Eintagsgröße  wesentlich  schlechter  gespielt 
als  im  Hebbeltheater  —  und  auch  da  soll  man  loben?  Be* 
schwerliche  Briefschreiber,  schreibt  eure  Beschwerdebriete 
an  Brahm.  Er  möge  seine  letzten  paar  Theaterjahre  nützlicher 
und  schöner  anwenden.  Dann  werdet  ihr  euch  über  mich 
nicht  mehr  zu  beklagen  haben.  Wie  es  in  den  Kritiker  hinein* 
schallt,  so  schallt  es  wieder  heraus. 


146 


ROMEO  UND  JULIA 

Der  Wille  ist  höchlichst  zu  loben.  Der  Wille:  zu  bewah* 
ren,  was  einmal  erobert;  ganz  zu  erobern,  was  beim 
ersten  Anlauf  nicht  ganz  erobert  worden  ist.  Diesen  Willen 
braucht  ein  Theater,  das  nach  seiner  Vergangenheit  und  nach 
den  Gaben  seines  Leiters  die  Pflicht  hat,  mehr  als  ein  hasti* 
ges  Eintagsleben  zu  führen.  Die  Neueinstudierung  von , Romeo 
und  Julia'  ist  ein  Anfang.  Mag  sie  auch  nur  der  Not,  näm* 
lieh  dem  Mangel  an  einem  Zugstück  entsprungen  sein,  so 
sollte  den  heimgekehrten  Reinhardt  doch  die  Dankbarkeit 
des  überfüllten  Hauses  endgültig  darüber  belehren,  daß  die 
Zugstücke  auf  der  Straße  liegen.  Er  hat  wirklich  nichts  weiter 
nötig,  als  sie  aufzuheben.  Er  greife  in  sein  eigenes  Repertoire. 
Er  nehme  die  wichtigsten  Aufführungen  seiner  zehn  Jahre, 
die  gewiß  nicht  alle  geglückt  sind,  die  aber  eben  vervoll* 
kommnet  werden  können  und  werden  müssen  und  jedenfalls 
niemals  verschwinden  dürften.  Er  erneuere  oder  lasse  nicht 
veralten:  die  Gespenster,  das  Friedensfes^t,  den  Revisor,  den 
Erdgeist,  den  Marquis  von  Keith,  Candida,  Caesar  und  Cleo* 
patra,  Aglavaine  und  Selysette;  Gyges  und  sein  Ring,  den 
Prinzen  von  Homburg,  die  Räuber,  Fiesco,  Kabale  und  Liebe, 
Don  Carlos,  Clavigo,  Faust,  Minna  von  Bamhelm,  Tartüff,  Kö* 
nig  Lear,  Hamlet,  den  Sommemachtstraum,  den  Kaufmann  von 
Venedig,  Othello  und  Der  Widerspenstigen  Zähmung.  Das 
sind  vierundzwanzig  Dramen,  die  für  die  Struktur  der  letzten 
vier  Theaterjahrhunderte  entscheidend  charakteristisch  sind. 
Wenn  Reinhardt  diesem  kunst*  und  kulturgeschichtlich  gleich 
bedeutsamen  Bestand  alle  drei  Wochen  abwechselnd  ein  klas= 
sisches  und  ein  modernes  Drama  hinzufügt  und  es,  bei  einem 
Erfolg,  nicht  öfter  als  zweimal  in  der  Woche  gibt,  so  kommt 
von  meinen  vierundzwanzig  Dramen  jedes  einmal  in  ändert* 
halb  Monaten  an  die  Reihe.  Für  das  eine  Stück,  das  dem 
Bestand  im  Jahre  zuwächst,  wird  ihm  dasjenige  abbröckeln, 
dessen  Anziehungskraft  am  empfindlichsten  nachläßt.  Dieses 
System  kann  Reinhardts  Theater  gesund  machen.  Die  Schau* 
Spieler  bleiben  frischer  als  jetzt,  wo  ,Penthesilea'  und  ,Turandot' 


lö« 


147 


je  vierzigmal  hinter  einander  heruntergespielt  und  dann 
weggeworfen  werden.  Die  ganze  Aufführung  wirkt  immer 
wieder  jung  und  verführerisch.  Wer  sie  sieht,  rät  seiner  Sippe, 
ihm  zu  folgen.  Die  korrumpierende  Jagd  nach  dem  Schla* 
ger  wird  auf  Bühnen  beschränkt,  die  außerstande  sind,  ein  Re* 
pertoire  zu  bilden.  Hier  hat  man  Schlager  und  Repertoire 
zugleich,  nämlich  ein  Repertoire  von  lauter  Schlagern.  Vor* 
aussetzung  ist  freilich,  daß  Reinhardt  die  geschäftliche  Rieh« 
tigkeit  meines  Exempels  anerkennt  und  trotzdem  mit  der  alten 
Künstlerlust  an  die  Erhaltungs«  und  Erneuerungsarbeit  geht. 
Halb  widerwillig  ist  sie  nicht  zu  leisten.  Ich  möchte  diese 
Künstlerlust  nach  Kräften  nähren  und  bedaure  selbst  am 
meisten,  daß  der  erste  Abend  mich  dazu  nicht  froh  genug 
gestimmt  hat.  Aber  wenn  mein  hilfsbereiter  Tadel  fähig  ist, 
den  Mann  nach  einem  Schritt  schon  wieder  zu  entmutigen, 
so  ist  auf  eine  Dauer  dieses  Unternehmens  ohnehin  nicht 
zu  vertrauen. 

Die  ursprüngliche  Aufführung  von  , Romeo  und  Julia' 
hat  ungefähr  ebenso  viel  gewonnen  wie  verloren.  Reinhardt, 
dem  häufig  vorgeworfen  worden  war,  daß  er  zu  wild  streiche, 
hatte  vor  fünf  Jahren  einmal  die  Probe  vom  Gegenteil  ge* 
macht  und  fast  gar  nichts  gestrichen.  Von  zweiundzwanzig 
Szenen  gab  es  einundzwanzig,  also  einen  Theaterabend  von 
annähernd  fünf  Stunden  und  eine  ungeheure  Abgespanntheit 
des  Zuschauers.  Diesmal  gibt  es  sechzehn  Szenen,  die  sich 
in  kaum  dreieinhalb  Stunden  so  geschwind  abwickeln,  daß 
man  in  die  jähe  Handlung  förmlich  hineingerissen  wird.  Gleich 
die  turbulente  Anfangsszene  wird  in  ein  Tempo  gehetzt,  das 
für  die  Katastrophen  des  Verlaufs  maßgebend  bleibt.  Bei 
diesem  Gesamttempo  ist  es  nicht  mehr  möglich,  Nebenfigu« 
ren  allzu  liebevoll  auszutuschen  und  Nebenzüge  vorwiegen 
zu  lassen.  War  aber  dieser  Vorteil  nur  durch  den  Verzicht 
auf  drei  der  farbigsten  Szenen  zu  erkaufen?  Ich  erinnere  mich 
noch,  wie  es  bei  Capulets  unablässig  treppauf  und  treppab 
ging,  vom  Untergeschoß  ins  Erdgeschoß  und  ins  Zwischen« 

148 


geschoß,  von  rechts  nach  Hnks  und  von  hinten  nach  vorn, 
und  wie  auf  diese  Weise  das  lebensvolle  Bild  eines  italieni* 
sehen  Adelshauses  von  Reichtum  und  üppigster  Gastfreund* 
Schaft  entstand.  Das  verhängnisvolle  Fest  zog  sich  dann  durch 
drei  Stockwerke,  und  Spaziergänger  des  nächtlichen  Verona 
hatten  das  Vergnügen,  hinter  den  Fenstern  die  Gäste  schatten* 
haft  tanzen  zu  sehen.   Zum  Schluß  fiel  man  von  der  ebenen 
Erde  des  Friedhofs  in  ein  Grabgewölbe,  das  eins  der  unver* 
geßlichsten  Einfälle  des  Szenenkünstlers  Reinhardt  war.  Dies* 
mal?  Capulets  Behausung  hat  keine  Physiognomie,  der  an* 
mutige  Schattentanz  ist  gestrichen,  und  die  scheintote  Julia 
liegt  in  —  Bruder  Lorenzos  Gartenhöfchen,  aus  dem  der  eine 
Baum  entfernt  worden  ist.    Zum  Glück  erneuern  sich  andere 
Eindrücke.   Die  Montecchi  und  Capuletti  geraten  —  bei  Sha* 
kespeare  am  Anfang  des  dritten,  bei  Reinhardt,  und  das  ist 
ein  vortrefflicher  dramaturgischer  Eingriff,   am  Schluß  des 
zweiten  Aktes  —  die  feindlichen  Häuser  also  geraten  so  hart 
und  heiß   aneinander,  daß   die  ganze  erschreckende  Roheit 
der  Zeit  hochsteigt  und  überschäumt.   Die  Montecchi  allein 
scherzen  mit  Juliens  Amme  so  liebenswürdig,  wie  es  nach  den 
lyrischen  und  vor  den  tragischen  Szenen  zur  Abwechslung 
nötig  ist.   Ein  Höhepunkt  ist  wieder  die  Trauung.  Sechsund* 
dreißig  schnelle  Zeilen  hat  der  Auftritt  und  jagt  hier  wie  ein 
Wirbelwind  vorüber,  ohne  daß  eine  Silbe,  ein  Blick,  eine 
Regung  verloren  ginge.   Aber  es  hätte  wenig  für  sich,  wenn 
in  allen  Szenen  gleichmäßig  viel  Zug  und  Wurf  und  Schmiß 
wäre.   Ein  Presto  von  drei  Stunden  würde  genau  so  ermüden 
wie  ein  Lento.  Reinhardts  Hauptkunst  zeigt  sich,  wie  immer, 
in  Abschattungen   und  Abstufungen,   in  Einschnitten   und 
Steigerungen,  in  Finessen  der  Beschleunigung  und  Verlang* 
samung,  die  nur  darum  nicht  immer  zur  Geltung  kommen, 
weil  ein  Shakespearesches  Trauerspiel  eine  größere  Anzahl 
guter  Schauspieler  braucht,  als  selbst  Reinhardt  beschaffen 
zu  können  scheint. 

Aber  weniger  als  ungute  Schauspieler  wird  er  doch  ent* 
fernen  können?   Gräfin  Capulet  ist  endlich  seinem  Grimme 

149 


reif.  Wo  sie  hintritt,  ist  Tirschtiegel ,  wenn  ich  Tirschtiegel 
nicht  unterschätze.  Man  wünschte,  auch  ein  graphisches 
Mittel  zu  haben,  um  den  Abstand  zu  bezeichnen  zwischen 
dieser  Frau  Vera  und  Herrn  Kühne,  dem  für  Bruder  Lorenzo 
der  Ton  gütiger  Menschlichkeit  fehlt.  An  Winterstein  hat 
Tybalt  mehr  verloren,  als  Mercutio  an  ihm  gewonnen  hat. 
Diegelmann  versucht  einen  veronesischen  burbero,  der  zwar 
nicht  malefico,  aber  auch  nicht  sonderlich  benefico  ist,  und 
dem  eine  falsche  Beflissenheit  dieses  Schauspielers  schadet: 
schärfer  zu  charakterisieren,  als  er  es  bei  seiner  ausgiebigen 
Natur  zu  tun  brauchte.  Soweit  war  früher  die  Darstellung 
lobenswerter.  Frau  Kupfer  wird  vielleicht  noch.  Aber  schon 
jetzt  ist  man  ihr  dafür  dankbar,  daß  nicht,  wie  bei  ihrer  Vor* 
gängerin,  die  Amme  beherrschend  im  Mittelpunkt  von 
, Romeo  und  Julia'  steht.  Durch  Herrn  Daneggers  nach« 
drückliche  Rhetorik  bekommen  die  drei  Auftritte  des  Prinzen 
Escalus  einen  stärkeren  Akzent  als  zuvor.  Und  Waßmann 
schlägt  mit  immer  geringeren  Bemühungen  immer  größeres 
Gelächter  für  den  Dichter  heraus.  Soweit  ist  diesmal  die 
Darstellung  lobenswerter.  Aber  das  wäre  nicht  viel,  wenn 
nicht  auch  Romeo  und  Julia  zugenommen  hätten.  Es  ist  tat« 
sächlich  nicht  viel,  weil  Romeo  und  Julia  nicht  genug  zu« 
genommen  haben. 

Fräulein  Terwin  übertrifft  Fräulein  Eibenschütz  ebenso 
weit,  wie  sie  Shakespeares  Julia  fern  bleibt.  Sie  hat  bewiesen, 
daß  sie  routinierter  ist,  als  man  bisher  geglaubt  hat;  und  das 
ist  immerhin  etwas.  Sie  sieht  aus  wie  eine  entjudete  Triesch 
und  entfaltet  einen  unleidenschaftlichen  Spieleifer,  durch  den 
die  naive  Holdheit  der  unerweckten  wie  der  erweckten  Julia 
umgebracht  wird.  Wenn  es  dann  Julien  schlimm  ergeht, 
schreit  Fräulein  Terwin  so  laut,  daß  man  bei  schwachem 
Unterscheidungsvermögen  wie  von  wahrem  Schmerz  berührt 
werden  mag.  Wir  anderen  werden  von  Juliens  Liebstem  leb« 
hafter  gefesselt.  Moissi  ist  wenigstens  bis  zum  Abschied  von 
Julien  auf  seine  Art  ein  Romeo.  Seine  schauspielerische 
Technik  hat  sich  erstaunlich,  seine  Sprechkunst  bewundems« 

150 


wert  entwickelt.  Er  holt  Töne  des  Leids  nicht  aus  der  Seele 
(wenn  er  eine  hat),  sondern  löst  sie  von  einem  gottbegnadeten 
Gaumen  ab.  Mit  dieser  Stimme  macht  er,  was  er  will;  ja, 
vielleicht  behandelt  er  sie  bereits  ein  bißchen  zu  virtuos. 
Jedenfalls  reicht  das  auch  für  uns  so  lange  aus,  wie  den 
Romeo  selbst  sein  Leid  nicht  tiefer  zu  packen  hat.  Romeos 
Schwermut  um  Rosalinde  geht  vorüber  und  steckt  uns  bei 
Moissi  dennoch  an.  Romeos  Liebe  zu  Julia  dauert  übers 
Grab  und  zündet  bei  Moissi  dennoch  nicht.  Er  ist  köstlich 
in  seiner  Ungebärdigkeit,  seinem  Überschwang.  Er  hat  einen 
überzeugenden  Ausdruck  für  Hitze,  wie  er  einen  für  Kälte 
hat.  Aber  er  ist  heute  —  und  war  es  vor  fünf  Jahren,  scheint 
mir,  nicht  —  am  Ende  aller  seiner  Künste,  sobald  man  ihm 
Juliens  Tod  berichtet  hat.  Dann  zeigt  es  sich,  daß  er  keinen 
Ausdruck  für  Wärme,  für  ein  schlichtes  menschliches  Gefühl, 
für  einen  tiefen,  trostlosen,  tödlichen  Liebesschmerz  hat 
(wenigstens  keinen,  der  anderswo  als  im  Zirkus  echt  klänge). 
Diesen  Ausdruck  hatte  ja  auch  Julia  nicht.  Aber  steht  und 
fällt  damit  nicht  die  Tragödie?  Wenn  man  keinen  Romeo 
und  keine  Julia  hat,  dann  lasse  man  die  Hand  von  ihrem 
Schicksal,  bis  ein  Romeo  und  eine  Julia  nachgewachsen 
sind.  Darum  war  dies  kein  rechter  Anfang.  Allein  der  Wille 
soll  so  herzlich  anerkannt  werden,  daß  Reinhardt  sich  zu 
denjenigen  Aufführungen  angespornt  fühlt,  an  denen  nicht 
bloß  der  Wille  anerkennenswert  sein  wird. 

UND  DAS  LICHT  SCHEINET  IN  DER  FINSTERNIS . . . 

In  diesem  Drama,  das  keins  sein  will,  keins  zu  sein  brauchte 
und  schließlich  doch  eins  geworden  ist,  sind  alle  Adlig* 
keiten  des  Herzens,  auch  die  größte,  die  schönste:  Gerech* 
tigkeit.  Von  einem  Abend  voll  lautloser  Erschütterungen, 
wie  ihn  das  berliner  Theater  seit  Jahren  nicht  zu  vergeben 
gehabt  hat,  bleibt  als  tiefster  Eindruck  bestehen :  der  Anblick 
eines  Menschen,  dem  es  um  nichts  als  um  die  Wahrheit  geht. 
In  dem  eine  Überzeugung,  ein  Glaube,  eine  Sehnsucht  lebt, 

151 


aber  nicht  die  bornierte  Sicherheit,  daß  er  die  Weisheit  ge* 
pachtet  hat.  Der  grübelt  und  zweifelt,  mit  sich  ringt  und  für 
andere  kämpft,  Probleme  wälzt  und  jeden  Einwand  abwägt, 
Anläufe  nimmt  und  zurückweicht,  sich  nicht  ängstigt  in  dieser 
Welt  und  doch  davor  ängstigt,  Unrecht  zu  haben  und  Un* 
recht  zu  tun.  Aus  dem  Gewissen  einen  Feigling  und  einen 
Heiland  macht.  Fünf  Bilder  zeigen  einen  skeptischen  Evan* 
gellsten,  einen  sündig*schwachen  Bußprediger,  einen  unter* 
liegenden  Asketen:  Leo  Tolstoi,  der  sich  hier  Sarynzewa 
nennt,  nicht  um  sich  zu  verstecken,  sondern  um  sich  zur  Strafe 
für  seine  Fehlbarkeit  noch  fehlbarer  zu  schildern,  als  er  war. 
Es  entsteht  ein  Bekenntniswerk  hohen  Ranges  und  seltenster 
Art  zugleich:  worin  der  Bekenner  zu  schlecht  wegkommt, 
zu  wenig  leistet,  zu  glanzlos  erscheint.  Sarynzewa  führt  die 
Worte  der  Bergpredigt  im  Munde,  aber  setzt  es  nicht  durch, 
darnach  zu  handeln:  das  war  auch  Tolstois  Schicksal.  Saryn* 
zewa  will  sein  Flab  und  Gut  den  Armen  geben,  wird  aber 
durch  die  Rücksicht  auf  seine  Familie  aus  der  Bahn  gelenkt: 
so  ist  es  auch  bei  Tolstoi  gewesen.  Sarynzewa  eifert  gegen 
die  Kunst:  das  hat  auch  Tolstoi  getan.  Und  nur  durch  eins 
unterscheidet  er  sich  zu  seinem  und  unserem  Vorteil  von 
Sarynzewa.  Der  erlahmt  an  der  Umwelt,  läßt  resigniert  alles 
beim  alten  und  begnügt  sich  damit,  am  Grabe  die  Hoffnung 
auf  bessere  Zeiten  aufzupflanzen.  Kein  Tadel  soll  ihn  treffen : 
er  hat  immerhin  einmal  aufbegehrt;  und  das  wird  nicht  ganz 
vergebens  gewesen  sein.  Tolstoi  dagegen?  Auch  er  also  ist 
als  Täter  seiner  Gedanken  ermattet  (und  erst  in  seinen  aller* 
letzten  Tagen  doch  noch  in  den  Schnee  gelaufen).  Vorher 
aber  hat  er  —  nicht  bloß  seine  Lehre  zum  tausendsten  Mal 
ausgesprochen,  sondern  seinen  Zwiespalt,  seine  Halbheit, 
seinen  Zusammenbruch  gestaltet,  gestaltet!  Der  unerschrok« 
kene  Mensch  hat  sich  vor  allem  Volk  die  Brust  aufgerissen, 
und  der  Feind  der  Kunst  hat  als  Künstler  eine  leuchtende 
Schönheit  geschaffen. 

Denn  mögen  die  Vorgänge  auch  durchaus  kunstlos  an# 
einandergefügt  sein:  unkünstlerisch,  wie  die   meisten  Ten* 

152 


denzstücke  sind,  ist  dies  in  keinem  Zuge  geworden.  Man 
sitzt  drei  Stunden  vor  —  ja,  vor  Gerede  und  würde  in  unermüd* 
licher  Andacht  noch  einmal  drei  Stunden  davorsitzen,  weil 
unter  der  Hand,  unter  solchen  Händen  dies  heilige  Gerede 
eine  Form  gewinnt,  von  der  ein  hypnotisierender  Zauber 
ausgeht.  Sarynzewa  steckt  mit  seinen  Ideen  einen  jungen 
Fürsten  an.  Der  muß  es  infolgedessen  ablehnen,  seine  Mit* 
menschen  zu  erschießen,  und  gerät  schnell  genug  in  Konflikt 
mit  den  Militärbehörden.  Es  brauchte  nicht  einmal  undich* 
terisch  zu  sein,  diese  Vertreter  der  Staatsgewalt,  und  gar  der 
russischen,  als  besonders  verhärtet  zu  malen ;  und  es  brauchte 
der  Makellosigkeit  der  ganzen  Dichtung  keinen  x\bbruch  zu 
tun,  wenn  sie  für  die  fünf  Minuten  ihres  Bühnendaseins 
hingewischt  wären.  Tolstoi  aber  kann  nicht  anders  als  be* 
haupten,  daß  alle  Kinder  Gottes  im  Grunde  gut  sind;  und 
er  kann  nicht  anders  als  aus  noch  so  unbedeutenden  Neben* 
figuren  runde,  volle,  leibhaftige  Menschen  machen.  Man  sehe 
diesen  General,  diesen  Gendarmerieoffizier,  diesen  Militär* 
arzt.  Man  sieht  sie  wirklich.  Sie  gewinnen  —  wer  weiß,  wie 
das  geschieht!  —  durch  drei  Sätze  Gesicht,  Haltung,  Person* 
lichkeit,  kommen  dem  Fürsten  nicht  mit  Brutalität,  sondern 
mit  Verständnis  entgegen  und  haben  genau  so  recht  wie  er. 
Durch  die  Widersetzlichkeit  dieses  Fürsten  wird  das  Bühnen* 
stück  bunt,  durch  seine  Auslegung  von  Sarynzewas  Lehre 
wird  es  dramatisch.  Es  hätte  nämlich  nicht  genügt,  dessen 
Lehre  nur  durch  ihn  selber  vertreten  und  ihn  mit  ihr  Schiff* 
bruch  leiden  zu  lassen.  Sie  mußte  auch,  eben  von  dem 
Fürsten,  konsequent  befolgt  werden.  Wohin  führt  sie  dann? 
Zum  Irrsinn.  Kapitulation  oder  Irrsinn:  dies  oder  das  ist  das 
Ende  eines  hochgearteten  Daseins,  das  nichts  weiter  erstrebt 
hat,  als  den  Mühseligen  und  Beladenen  wohlzutun  und  mit* 
zuteilen,  als,  mit  einem  Wort,  das  Reich  Gottes  auf  Erden 
begründen  zu  helfen.  Die  Frauen  fallen  von  solchen  Man* 
nem  ab,  die  sie  und  sich  selbst  enttäuschen  und  Schaden 
über  Schaden  anrichten.  Die  "Welt  verlacht  sie  oder  sperrt 
sie  ein.    Die  Kirche  schließlich  flucht  ihnen.  Tertullian  hat 

153 


gesagt:  Die  menschliche  Seele  ist  von  Natur  eine  Christin. 
Aber  wenn  sie  eine  Christin  sein  will,  so  wirkt  das  als  eine 
Unnatur,  gegen  die  mit  Feuer  und  Schwert  angegangen  wird. 
Das  ist  das  Ergebnis,  zu  dem  Tolstoi  kommt,  und  von  dem 
man  annehmen  sollte,  daß  es  niederschmettert.  In  Wahrheit 
tröstet,  stärkt  und  erhebt  es.  Warum?  Weil  Leo  Tolstoi  es 
ist,  der  zu  diesem  Ergebnis  kommt;  und  weil  er  als  Leo 
Tolstoi  auf  einem  Wege  dazu  kommt,  in  dessen  Finsternis 
das  Licht  scheinet:  das  Licht  seines  Genies  und  das  Licht 
seines  heißen,  edlen,  unendlich  demütigen  Herzens. 

.  .  .  Herr  Barnowsky  wird  geraume  Zeit  Fhilisterschwänke 
und  die  belanglosesten  Einakter  geben  können,  bis  man  das 
Recht  erlangen  wird,  ihm  diesen  Abend  zu  vergessen.  Wo 
waren  Brahm  und  Reinhardt,  als  die  Reichtümer  solch  eines 
Dichternachlasses  verteilt  wurden?  Warum  spielt  nicht  einer 
von  ihnen  wenigstens  den  »Lebenden  Leichnam',  der  dieser 
Herrlichkeit  nachsteht,  aber  doch  auch  von  diesem  Tolstoi 
ist?  Brahm  hätte  schon  um  Sauers  willen  an  Sarynzewa 
nicht  vorübergehen  dürfen.  Reinhardt  hat  immerhin  zu  Bar# 
nowskys  Unternehmen  beigetragen,  indem  er  ihm  in  Kayß* 
1er  denjenigen  berliner  Schauspieler  geliehen  hat,  der  nach 
Sauer  am  ehesten  für  die  Gestalt  in  Betracht  kommt.  Ge# 
wachsen  ist  er  ihr  freilich  bei  weitem  nicht.  Er  hat  die  Un« 
antastbarkeit  des  Wesens,  die  Schwerblütigkeit,  das  Grübler* 
tum,  die  Gabe,  mit  äußerster  Mühe  unausführbare  Gedanken 
aus  sich  herauszuwühlen.  Er  hat  vorwiegend  die  Finsternis. 
Was  ihm  fehlt,  ist  das  Licht,  das  visionäre  Licht  des  schwär* 
merischen  Gottsuchers.  Dieser  Mangel  wurde  noch  empfind* 
lieber,  weil  Kayßler  den  fragwürdigen  Einfall  gehabt  hatte, 
seinem  Sarynzewa  Tolstois  Gesicht  zu  geben.  Da  aus  der 
ersten  Szene  hervorgeht,  daß  Sarynzewa  tatsächlich  Tolstoi 
selber  sein  soll,  so  versuchte  man  fortwährend,  sich  Tolstoi 
als  Kayßler  vorzustellen,  wobei  Kayßler  schlechter  als  nötig 
wegkam.  Diese  Maske  wäre  nur  dann  angebracht  und  er* 
laubt,  wenn  Tolstoi  sich  in  seinem  Stück  einfach  Tolstoi  ge* 
nannt  hätte.   Alles  in  allem  wäre  Kayßler  mit  seiner  geringen 

154 


schauspielerischen  Modulationsfähigkeit  trefflicher  als  für 
den  Meister  für  den  entschlossenen  Schüler  geeignet  gewesen, 
den  Abel  freilich  ausreichend  fest  und  klar  hinstellte.  Über* 
haupt  konnte  Herr  Barnowsky  die  Freude  erleben,  keinen 
von  seinen  vier  Gästen  aus  seinem  Ensemble  herausragen  zu 
sehen.  Die  Fehdmer  hat  in  ihrer  gar  nicht  robusten,  sondern 
nervös  belebten  Blondheit  einen  Frauen*  und  Menschenreiz, 
dem  ihr  Reiz  als  Schauspielerin  niemals  entsprechen  wird; 
Frau  Gebühr  glich  dieser  ihrer  Mutter  nicht  bloß  aufs  Haar; 
und  selbst  eine  Künstlerin  wie  Frau  Renier  sah  diesmal  nur 
wundervoll  aus.  Sie  wurden  sämtlich  im  Preise  gedrückt 
von  Ilka  Grüning:  die  vertrat  den  nüchternen  Verstand  der 
Frau  Welt  mit  einer  entwaffnenden  Schwatzhaftigkeit  und 
ließ  doch  immer  die  Anständigkeit  der  Gesinnung  durch* 
spüren,  durch  die  der  gütige  Tolstoi  auch  diesen  Menschen 
seiner  Liebe  würdig  macht.  Von  den  drei  Vertretern  der 
Staatsgewalt  war  einer  immer  besser  als  der  andere.  Die  Ge* 
sellschaftsszenen  hatten  Leben.  Der  Bühnenbilder  hätten  sich 
die  Kammerspiele  nicht  zu  schämen  brauchen.  Es  war  die 
Kunst  im  Haus,  die  wir  uns  wünschen.  Dank,  Heil  und 
Siegl 


KÖNIGIN  CHRISTINE 

Oder:  Erdgeist.  Oder:  Die  Büchse  der  Pandora.  Beide 
Wendungen  gebraucht  Strindberg  an  einer  einzigen  Stelle 
seines  halbhistorischen  Dramas,  als  wolle  er  ausdrücklich  auf 
dessen  Verwandtschaft  mit  Wedekinds  Doppeltragödie  hin* 
weisen.  Lulu,  das  rein  triebhafte  Kind;  diese  herkunftlose, 
ganz  charakterbare  Inkarnation  der  Sinnlichkeit;  Naturkraft, 
Elementarerscheinung,  Verkörperung  einer  Zwangsgewalt,  die 
all  unser  Leben  durchtobt  —  was  unterscheidet  Christinen  auf 
den  ersten  Blick  von  ihr?  Was  wir  aus  der  Geschichte  von 
ihr  wissen,  und  was  sie  am  Schluß  des  Dramas  als  das  Ziel 
verkündet,  das  sie  angestrebt  habe :  diese  rohe  Nation  zu  bilden 
und  in  ihr  Interesse  noch  für  anderes  als  Krieg  zu  erwecken. 

155 


Im  Verlauf  des  Dramas  ist  freilich  nur  zu  sehen,  was  sie  zum 
Schaden  des  Landes  begeht  und  unterläßt.  Die  Rechnungen 
stimmen  nicht,  das  Eigentum  der  Krone  wird  verschleudert, 
ein  Ballettabend  darf  dreißigtausend  Kronen  kosten,  die  Armee 
existiert  allenfalls  auf  dem  Papier,  die  Flotte  verfault,  die  Reichs* 
stände  werden  wie  ein  Gemeinderat  behandelt,  der  Reichsrat 
rekrutiert  sich  aus  Unteroffizieren  —  und  das  Königsschloß 
ist  ein  Hurenhaus.  Wenigstens  vor  Beginn  des  Stückes.  Da 
ist  Christine  wirklich  Lulu.  Da  liebt  sie  alle,  weil  sie  keinen 
liebt.  Ihre  größte  Lust  ist:  immer  wieder  frei  zu  werden,  um 
jede  Spielart  von  Maskulinum  kennen  zu  lernen  und  jede  so 
weit,  wie  es  ihr  gefällt.  Den  Freund,  den  sie  sich  erhält,  weil 
sie  sich  ihm  versagt;  den  Liebhaber,  den  sie  anbeißt  und  weg* 
wirft;  den  Geliebten,  dem  sie  das  Herzblut  austrinkt;  den 
Hypnotiseur,  der  ihren  Willen  lähmt;  den  Sklaven,  der  sie 
halb  zur  Beglückerin,  halb  zur  Sadistin  macht;  den  Mann 
schließlich,  durch  den  sie  Mensch  und  Tragödienheldin  wird. 
Am  Anfang  des  ersten  Aktes  schießt  Christine  wie  ein  Habicht 
auf  Klaus  Tott  nieder  und  fängt  ihn  sich  ein  —  am  Ende  des 
vierten  Aktes,  wo  ihre  Vergangenheit  lebendig  wird,  stößt  er 
sie  als  Dirne  von  sich.  Ihre  Tragik:  daß  sie  es  gerade  da  nicht 
mehr,  gerade  dank  Klaus  Tott  nicht  mehr  ist. 

Es  soll  ihre  Tragik  sein.  Die  Absicht  des  Dramas  ist  stark. 
Wenn  es  nicht  tief  genug  dringt,  wenn  man  die  Tragik  nicht 
mitempfindet,  so  liegt  das  hauptsächlich  daran,  daß  für  die 
entscheidende  Rolle,  die  Klaus  Tott  in  Christinens  Leben  spielt, 
sein  Format  nicht  ausreicht.  Von  ihm  weiß  man  so  wenig,  daß 
er  das  Recht  hat,  sich  beim  unverhofften  Einblick  in  Christinens 
Leben  als  gräßlichen  Philister  zu  entpuppen.  Aber  von  ihr 
weiß  man  zuviel,  aus  der  Geschichte  und  aus  Strindbergs 
Werk,  als  daß  man  ihren  Schmerz  über  seinen  Abfall  begriffe. 
Mögen  immerhin  ihm  die  Augen  über  sie  aufgehen:  dann 
müssen  sie  ja  erst  recht  ihr  über  ihn  aufgehen,  weil  sie  ihm 
aus  solchem  Anlaß  aufgegangen  sind.  Die  Entwicklung  stimmt 
nicht  zur  Voraussetzung.  Christine,  die  aus  hundert  fast  un* 
vereinbar  scheinenden  Zügen  bereits  eine  überzeugende  Ein? 

156 


heit  geworden  war,  wird  durch  einen  einzigen  Zug  zerstört, 
weil  Strindberg  durch  ihn  nicht  ihr  Bild  abrunden,  sondern 
einen  Beweis  führen  will:  daß  ein  Weib  durch  keine  Aufgabe, 
durch  keine  Idee,  durch  keine  Krone  zum  Menschen  wird, 
sondern  nur  durch  Liebe.  Nach  drei  lebensvollen  Akten  hat 
man  von  diesem  vierten  leblosen  Akt  ungefähr  den  Eindruck, 
als  ob  einem  Körper,  dem  zur  Totalität  noch  der  Kopf  fehlt, 
eine  klug  abgefaßte  und  schön  gedruckte  Beschreibung  samt* 
lieber  Gliedmaßen  auf  den  blutigen  Halswirbel  gelegt  würde. 

Wie  schade!  Denn  diese  ersten  drei  Akte  zu  hören,  ist  ein 
geistiger  Genuß.  Da  ist  dramatischer  Dialog.  Da  wird  nicht 
an  der  historischen  Bedeutung  der  Figuren  schmarotzt:  ihre 
Seelen,  nicht  ihre  Namen  machen  uns  warm,  solange  sie  uns 
warm  machen.  Da  wird  nicht  eine  Silbe  mehr  gesagt,  als  für 
die  Aufdeckung  der  Vergangenheit  und  für  die  Fortführung 
der  Handlung  nötig  ist,  und  doch  wird  auf  diese  Weise  nicht 
bloß  die  Handlung  entwickelt  und  die  Vergangenheit  erhellt, 
sondern  auch  Welt  und  Umwelt  und  Atmosphäre  geschaffen 
und  übermittelt.  Das  Geheimnis  ist  eben,  daß  die  Gesetz? 
mäßigkeit  einer  Kunstform  wahrhaft  erfüllen  bereits  ihren 
unentbehrlichen  Überschuß  geben  heißt.  Wenn  in  diesem 
musterhaft  knappen  Dialog  Hart  auf  Hart  trifft,  so  wissen 
wir,  daß  Nordländer  sprechen,  daß  ihre  Liebe  von  kalter  und 
um  so  jäherer  Entschlossenheit  ist,  und  daß  diese  Liebe  von 
einem  Dichter  gestaltet  wird,  der  sie  erlitten  hat  und  mutig  ihre 
große  Flamme  und  jedes  kleinste  Strählchen  eingesteht.  Aber 
vor  der  Zeiterhebtsich  ein  rauherWind,  Flamme  und  Strählchen 
erlöschen,  und  Dialektik  versucht  vergeblich,  sie  wieder  an* 
zufachen.  Ach,  daß  dem  Menschen  nichts  Vollkommenes 
wird! 

Das  gilt  auch  für  die  Vorstellung  des  Theaters  in  der  König* 
grätzerstraße.  Den  Direktor  Bernauer  muß  man  loben,  daß 
er,  ohne  durch  ein  eigenes  literarisches  Vorleben  dazu  ver* 
pflichtet  zu  sein,  ab  und  zu  eine  von  den  Versprechungen 
erfüllt,  auf  die  Brahm  ehedem  Vorschuß  genommen  hat.  Der 
Regisseur  Bernauer  scheint  mir  nicht  ebenso  lobenswert.  Von 

157 


seiner  Bühne  ging  nicht  viel  aus.  Das  Buch  erlaubt,  ja,  ge* 
bietet:  in  Ritterholmskirche,  Rechnungskammer,  Schneider* 
werkstätte  und  Gartenpavillon  den  Hauch  einer  Stadt  dringen 
zu  lassen,  die  von  einer  j  ungen,  ahnungslos  verschwenderischen, 
berauschten  und  berauschenden  Königin  regiert,  nämlich 
nicht  regiert  wird.  Nun,  dergleichen  war  kaum  versucht  worden. 
Die  Räume  hatten  die  zulänglichen  Dimensionen,  waren  aber 
schlecht  belebt.  Trocken,  pedantisch,  schwunglos  reihte  sich 
Akt  an  Akt.  Den  stürmischen  Augenblicken  fehlte  die  Wild* 
heit,  den  funkelnden  der  Glanz,  den  spukhaften  das  Halb* 
dunkel  —  nicht  der  Beleuchtung,  sondern  der  Stimmung.  So 
verpufften  selbst  Szenen,  denen  der  Leser  eine  unwiderstehliche 
Schlagkraft  zugetraut  hatte.  Wenn  ich,  in  dankbarer  Erinne* 
rung,  nach  diesen  Szenen  applaudierte,  so  fielen  drei  Leute 
aus  Mitleid  mit  mir  und  voll  Verwunderung  ein.  Glaubt  mir: 
Strindberg  hat  keine  Schuld.  Dabei  hatte  Herr  Bernauer  kein 
unzulängliches  Material.  Herr  Lindner  als  Klaus  Tott  wird 
erst  im  vierten  Akt,  also  erst  da  papieren,  wo  höchstens  die 
zwei  großen  toten  Schauspieler  helfen  könnten.  Für  Totts 
Vorgänger  hat  Herr  Bergen  nicht  das  Wesen,  aber  eine  be* 
merkenswert  zuverlässige  Routine.  Herr  Siebert,  als  Christinens 
mannhafterer  Brackenburg,  bewährt  seinen  schönen  Ton 
schlichter  Treue.  Herr  Zelnik  ist  ein  schwerblütiger,  gutartig 
düsterer  Oxenstjerna.  Herr  Gebühr  schließlich  stellt  in  dem 
schnapsfreudigen  Carl  Gustav  einen  wohltuend  struppigen 
Kerl  hin.  Was  will  ein  Regisseur  mehr?  Reinhardt  hätte  hier 
keine  Umbesetzung  vorzunehmen  brauchen,  um  aus  den  ersten 
drei  Akten  das  Feuer  zu  peitschen.  Und  dazu  kam  dieTriesch! 
Daß  es  Brahm  nicht  mehr  lohnt,  sich  vor  Toresschluß  sonderlich 
anzustrengen,  dem  Verfall  seines  Ensembles  zu  steuern,  ein 
paar  zeitlebens  versäumte  wertvolle  Experimente  nachzuholen : 
das  ist,  so  sehr  wir  es  bedauern,  allenfalls  begreiflich.  Daß 
er  aber  selbst  dazu  zu  bequem  ist,  die  Reste  seines  Ensembles 
auszunutzen:  das  ist  eine  Übertreibung.  Wenn  man  noch 
drei  Schauspieler  von  Rang  hat,  so  dürfte  keiner  von  ihnen 
für  ein  fremdes  Theater  zu  haben  sein.  Was  ein  wechselndes 

158 


Repertoire  ist,  hat  Brahm  freilich  nie  gewußt,  lernt  er  selbst 
in  Zeiten,  wo  die  Not  es  ihn  lehren  müßte,  nur  stümperhaft. 
Mit  der  Triesch  ist  viel  anzufangen.  Liegt  es  an  mir,  liegt 
es  an  ihr,  daß  sie  mir  von  Jahr  zu  Jahr  lieber  wird?  Als 
Christine  kann  sie  das  Kind,  kann  sie  Klein*Christel  nicht 
gut  sein,  ohne  sich  zu  verstellen.  Sie  ist  klug  genug,  sich 
nicht  zu  verstellen,  zu  geschmackvoll,  um  zu  minaudieren. 
Sie  gibt  einfach  das  Weib  Christine,  das  Zähne  und  Klauen 
und  Habichtsfänge  hat.  Das  nimmt  der  Figur  von  ihrem  spielen* 
den  Reichtum,  aber  es  macht  sie  wunderbar  hart  und  soweit 
nordisch,  wie  es  die  südländische  Schwärze  der  Schauspielerin 
irgend  zuläßt.  Mit  dem  letzten  Akt  plagt  sie  sich  nicht  weiter 
ab.  Dafür  gibt  sie  über  Strindbergs  Schluß  hinaus  einen  Be? 
griff  von  der  geschichtlich  beglaubigten  Zukunft  der  Königin 
Christine.  Sie  ist  am  Ende,  was  sie  von  Anfang  an  gewesen 
ist:  ein  ungewöhnlicher  Mensch. 

DER  KLEINE  UND  DER  GROSSE  REINHARDT 

Nach  einem  großen  Abend  ein  übertrieben  kleiner.  War 
das  unbedingt  nötig?  Zu  , Pierrots  letztem  Abenteuer' 
sollte  man  Menschen  nicht  aus  den  entlegeneren  Vororten 
locken.  Dazu  sollte  man  eine  Kraft  wie  Bassermann  nicht 
mißbrauchen.  Zum  Schluß  liegt  er  selbstgemordet  am  Boden: 
im  einen  Arm  hat  er  sein  goldlockiges  Töchterchen,  für  das 
der  Papa  nur  schläft,  das  ihm  den  Gutenachtkuß  aufs  graue 
Haar  gehaucht  und  sich  dann  zu  ihm  gebettet  hat;  im  anderen 
Arm  hat  er  Herzblättchens  Lieblingspuppe.  Auf  dieses  Bild 
aus  dem , Kaiserpanorama'  —  Entree  zwanzig  Pfennige,  Kinder 
und  Militär  die  Hälfte  —  fällt  das  bengalische  Licht,  das 
Barnays  Oberbeleuchter  auf  den  Chef  und  Star  zu  gießen 
pflegte,  damit  das  Ende  eines  Shakespearischen  Aktes  bei 
der  Galerie  möglichst  schallenden  Anklang  fände.  Bis  dahin 
hat  die  Pantomime  der  Kammerspiele  weniger  kurzweilig  als 
ergreifend  ausgemalt,  wie  der  Sohn  eines  alterslüsternen 
Pierrots  weiß  und  weich  und  erzieherisch  veranlagt  genug 

159 


ist,  um  dem  Vater  als  Mädchen  zu  nahen  und  ihn  dann  durch 
die  Aufdeckung  des  Betruges  zu  beschämen;  und  was  das 
für  schreckliche  Folgen  hat.  Darauf  steht  nämlich  der  Tod. 
Auf  die  Abfassung  solch  eines  Schmarrens  auch. 

Der  Autor  Victor  Arnold  möge  trotzdem  am  Leben 
bleiben,  um  noch  Jahrzehnte  lang  komische  Menschengestalten 
zu  formen,  wie  es  außer  ihm  höchstens  zwei,  drei  Männer 
der  berliner  Bühne  imstande  sind.  Margot  könnte  uns  wirk« 
lieh  gestohlen  werden,  wenn  nicht  eben  Arnold  es  wäre,  dem 
sie  gestohlen  werden  kann.  Georges  Courteline  ist  allein 
mehr  als  mit  Pierre  Wolff  zusammen.  Allein  ist  er  ein  un* 
gerührter  Menschenbelächler;  als  Compagnon  ist  er  ein 
rührungsbeflissener  Stückemacher.  Margot  ist  das  kleine 
Mädel,  das  dahin  fällt,  wohin  man  es  stößt;  das  nicht  wider* 
steht,  geschweige  denn  will;  das  sich  lieben,  mißhandeln,  ver* 
schenken,  rauben  und  heiraten  läßt,  wie  es  dem  Herrn  und 
den  Herren  gefällt.  Es  müßte  uns  Spaß  machen,  das  nette 
Ding.  In  diesen  zwei  Akten  ist  sie  Trauerweide,  ohne  daß 
es  ihr  Schöpfer  uns  abzwingt,  sie  seriös  zu  nehmen.  Es  bleibt 
ein  Zwiespalt  zwischen  der  Belanglosigkeit  und  Alltäglichkeit 
ihres  Geschicks  und  der  ununterbrochen  fließenden  Tränen* 
flut,  die  ihre  Äuglein  einer  vernünftigeren  Bestimmung  ganz 
entfremdet.  Oder  war  ein  neuer  Regisseur  schuld?  "Vielleicht 
hätte  er,  wofern  das  bei  einer  so  papierenen  Übersetzung 
erreichbar  ist,  ein  bißchen  Heiterkeit  auch  in  diese  Hälfte 
des  Stückes  tragen  sollen.  Für  die  andere  Hälfte  sorgt  also 
Arnold.  Er  gibt  Margots  Besitzer,  der  auf  sie  pfeift,  solange 
sie  ihm  nach  seiner  Meinung  sicher  ist,  und  um  sie  weint, 
sobald  sie  ihm  abhanden  zu  kommen  droht.  Da  lohnt  es 
sich,  Arnold  zu  sehen :  erst  seine  pfiffige  Beschränktheit  und 
seine  ohnmächtige  Energie;  dann  aber  seinen  Übergang  vom 
Scherz  zum  Ernst.  Es  ist  gar  kein  Übergang,  sondern  ein 
Übersprung.  Unser  Gelächter  über  einen  Narren  wird  haar* 
scharf  abgeschnitten,  und  wir  sitzen  beklommen  vor  einem 
Menschen,  der  irgendwie  leidet,  aus  niedrigen  Motiven,  aus 
Eitelkeit,  Bequemlichkeit,  verhinderter  Rachsucht  leidet  — 

160 


aber  leidet.  Dieser  Umschwung  wird  nicht  vielen  Komikern 
gelingen;  und  man  würde  einen  Komiker,  dem  er  so  voll* 
kommen  gelingt  wie  Arnold,  künftig  zu  den  Humoristen 
zählen  müssen,  wenn  man  das  nicht  schon  seit  Gogols 
.Heiratsgeschichte'  täte. 

Der  große  Abend  war:  Viel  Lärm  um  Nichts.  Aus  dieser 
Aufführung  schwingt  man  sich  mehr,  als  man  geht:  feder* 
leicht,  wie  im  Takt  von  Beatricens  Werbehopser,  noch  immer 
lachend  und  voll  Dankbarkeit  gegen  den  Künstler,  der  einen 
in  diese  lebensbejahende  Stimmung  geschmeichelt,  geleitet, 
gezwungen  hat.  Vergessen  ist,  daß  man  am  Anfang  Ein« 
wände  hatte.  War  die  Introduktion  nicht  ein  bißchen  zu 
pedantisch  genommen?  Überschätzt  Reinhardt  nicht  die 
Resultate,  zu  denen  diese  Gespräche  führen,  daß  er  jedes 
Wort  so  gewissenhaft  stehen  und  bringen  läßt?  Aber  es  ist 
nur  der  erste  Akt,  der  sich  hinschleppt.  Dann  wird  wirklich 
der  Titel  der  Komödie,  die  Komödie  dieses  Titels,  gespielt: 
es  gibt  viel  Lärm,  dessen  nicht  so  viel  wird,  daß  irgend  eine 
Wendung  von  Wichtigkeit  umkäme;  und  es  wird  doch  im 
Grunde  um  nichts  gelärmt.  Um  nichts  und  wieder  nichts. 
Darauf  kommt  es  an;  und  das  hat  keiner  vor  Reinhardt 
durchgesetzt.  Wenn  nämlich  der  Intrige,  die  das  Fräulein 
Hero  häßlich  verdächtigt,  nicht  von  vornherein  die  Gefähr* 
lichkeit  geraubt  wird,  ist  das  Stück  unerträglich,  weil  für 
die  bloße  Möglichkeit  des  Ernstes  alle  Maße  und  alle  Tö* 
nungen  anders  sein  müßten.  Reinhardt  entzieht  also  die 
Rolle  des  verleumderischen  Juan  dem  Charakterspieler  und 
läßt  seinen  verdienstvollen  Komiker  Biensfeldt  das  Kinn 
lächerlich  zuspitzen,  einen  Schnurrbart  nicht  kleben,  sondern 
pinseln,  die  Farbe  der  Leberkrankheit  in  die  Visageschmieren 
undtvon  Zeit  zu  Zeit  ein  schadenfrohes,  dumpfes  Gewieher 
aus  dem  Halse  holen.  Dieser  Kinderschreck  ist  Rechtfertigung 
und  Voraussetzung  zugleich  für  die  neue  Auffassung  der 
Kirchenszene.  Anderswo  erfolgt  erst  auf  einen  langwierigen 
und  weihrauchenden  Umzug  der  armen  Hero  Beschimpfung, 

11  161 


die  dadurch,  und  nicht  allein  dadurch,  ein  Tragödiengewicht 
bekommt.  Hier  stehen,  wenn  der  Vorhang  aufgeht,  Claudio 
und  Hero  bereits  am  Altar,  Biensfeldt  schneidet  im  Vorder* 
grund  Fratzen,  und  der  Priester  ist  so  drollig  hilflos,  daß 
man  fast  versucht  ist,  auch  das  für  eine  Absicht  des  Regis« 
seurs  zu  halten:  wir  sollen  nicht  ernst  werden.  Das  Ge* 
witterchen  entlädt  sich.  Hero  fällt  zwar  in  Ohnmacht,  aber 
Diegelmann  poltert  seinen  Schmerz  wie  ein  echter  Komödien* 
vater  heraus,  und  da  parodiert  ihn  schon  Benedikt,  und 
Beatrice  wird  munter  und  lacht  mit,  und  Benedikt  nutzt  das 
aus  und  zieht  sie  an  sich  und  küßt  sie,  und  beide  sind  glück* 
lieh,  und  es  gibt  das  lustigste  Hinundher,  und  keiner  weiß 
mehr,  daß  und  warum  vor  fünf  Minuten  ein  Tränchen  ge* 
flössen  ist  — :  Viel  Lärm  um  Nichts.  Selbst  Reinhardt  hat 
selten  mit  so  sicherem  Griff  den  Sinn  eines  Stückes  gefaßt. 
Hier  ist  er  wieder  einmal  ganz  auf  seiner  Höhe. 

Dieser  Sinn  wird  keinen  Augenblick  verdunkelt  oder  be* 
einträchtigt ,  sondern  naturgemäß  nur  noch  schärfer  ausge* 
prägt  dadurch,  daß  märchenhafte  Rüpelspäße,  Exzesse  eines 
phantastischen  Witzes  und  die  Ausgeburten  einer  delikaten 
Farbenfreude  immerzu  ein  festliches  Geraschel  machen.  Die 
Bühne  dreht  sich  bei  offenem  Vorhang,  aber  gesperrter  Be* 
leuchtung  zu  einer  reichlichen  Tanz*,  Tupf*  und  Tändelmusik, 
die  den  Ton  für  die  Inszenierung  anschlägt,  wenn  sie  ihn 
nicht  von  ihr  genommen  hat.  Was  wir  sehen,  ist  niemals 
überladen;  ja,  Reinhardt  muß  sich  jetzt  schon  manchmal 
sagen  lassen,  daß  er  nicht  üppig  genug  ist.  Solange  seine 
Aufführungen  so  mitreißend  belebt  sind  wie  diese,  mag  eine 
Straße  von  Messina  ruhig  ein  wenig  zu  eintönig,  ein  Kirchen* 
ausschnitt  meinetwegen  unwahrscheinlich  schmal  sein.  Um 
diesen  Preis  wird  das  Tempo  erkauft,  das  ein  Lustspiel  nöti* 
ger  braucht  als  geräumige  Schauplätze.  In  den  meisten  Szenen 
bleibt  übrigens  nichts  zu  wünschen.  Leonatos  rotausge* 
schlagener,  kerzenerhellter  Saal  ist  gewiß  nicht  untauglich 
für  den  Maskenball  eines  Stadthaupts.  Seine  Tochter  wohnt 
in  einer  blauen  Pracht,  deren  Hauptreiz  ihre  geschmackvolle 

162 


Unprächtigkeit  ist.  Sein  Garten,  ob  man  ihn  jenseits  der 
Mauer  nur  ahnt  oder  mit  seinen  riesenhaften  Hecken  im 
Mondschein  und  bei  Tageslicht  vor  sich  hat,  ist  so  weit  in  die 
UnwirkHchkeit  stilisiert,  daß  scherzhaft  abwechselnde  und 
abgezirkelte  Belauschungen  mit  programmäßigem  Verlauf 
eigentlich  nirgends  anders  stattfinden  können.  Das  alles 
stimmt  zu  heiterer  Empfänglichkeit.  Aber  es  ist  wertlos, 
wenn  es  Staffage  bleibt,  wenn  wir  uns  mit  unserer  Empfang* 
lichkeit  begnügen  müssen  und  nicht  tatsächlich  das  empfangen, 
was  Shakespeare  lebendig  erhalten  hat:  seine  Menschlich* 
keiten  und  seine  Menschen. 

Da  ist  es  denn  freilich  wundervoll,  mit  welch  energischer 
Handbewegung  Reinhardt  den  Staub  von  der  Komödie  ge* 
wischt  hat,  um  ihr  unsterbliches  Teil  sichtbar  zu  machen. 
Halb  glaubt  man  es  zum  ersten  Mal  zu  sehen,  halb  glaubt 
man  das  nicht  nur.  Hat  man  gewußt,  was  für  ein  Herr,  wie 
elegant,  von  wie  junkerlicher  Grandezza  der  Prinz  von  Ära« 
gon  Don  Pedro  ist?  Was  für  rührende  Taperfritzen  die 
Brüder  Antonio  und  Leonato,  und  was  für  gute  Brüder  sie 
sich  sind?  Daß  die  Kammerzofen  Gesichter  haben?  Daß 
Borachio  ein  Kerl  ist?  Daß  sogar  der  Gerichtsschreiber  her* 
vorstechen  kann,  ohne  sich  hervorzudrängen?  Dies  alles 
sind  kleine  Meisterstücke  der  großen  Gestaltungskunst 
dieses  Reinhardt,  die  man  um  so  gieriger  aufnimmt,  je  länger 
man  sie  entbehrt  hat.  Aber  auch  dies  alles  wäre  wertlos  ge* 
wesen,  wenn  nicht  von  den  siebzehn  Leutchen,  die  hier  zu* 
sammentreten,  zusammentreffen,  zusammentorkeln,  um  viel 
Lärm  um  nichts  zu  machen,  die  zwei  Hauptpaare  zu  drei  Vier* 
teln  die  schauspielerische  Vollkommenheit  erreicht  hätten.  Da* 
bei  ließe  sich  von  drei  Hauptpaaren  reden,  wenn  Reinhardt 
die  Hero  für  Fräulein  Terwin  zu  schade  und  Moissi  für  den 
Claudio  nicht  zu  schade  gefunden  hätte. 

Die  beiden  schwachsinnigen  Gerichtsdiener  sind,  selbst* 
verständlich,  Waßmann  und  Arnold.  Somit  steht  ausnahms* 
weise  Schlehwein  gleichberechtigt  neben  Holzapfel,  und  das 
ist  gut,  weil  durch  zweier  Zeugen  Mund  noch  überzeugender 

n*  163 


die  Wahrheit  all  der  Spruch*  und  Bibelworte  kund  wird, 
die  von  der  Nützlichkeit  der  Dummheit  reden.  Waßmann 
sieht  aus  wie  ein  Küken  und  Arnold  geradezu  wie  die 
blinde  Henne,  die  auch  einmal  ein  Korn  aufpickt.  Was  die 
beiden  treiben,  hat  einen  Stärkegrad  der  Komik,  der  seit 
Jahren  auf  keiner  berliner  Bühne  überboten  worden  ist. 
Sie  schwatzen  viel  mehr,  als  Shakespeare  vorschreibt;  aber 
das  bedeutet  nicht,  daß  sie  karikieren.  Denn  sie  verdicken 
damit  nur  den  Umfang  ihrer  Rollen,  nicht  die  Konturen  ihrer 
Gestalten.  Im  Gegenteil:  beide  fügen  ihrem  alten  Trottel 
einen  Zug  der  Zuneigung  zum  anderen  bei,  der  ihn  verfeinert, 
der  ihn  aus  der  Clownsphäre  in  unsere  Regionen  hebt.  Ja, 
wenn  Holzapfel  seinen  „lieben  alten  Schlehwein"  zärtlich 
tätschelt  und  mit  Innigkeit  in  der  Stimme  einen  , .guten  alten 
Mann"  nennt,  so  gehört  schon  wieder  Waßmanns  ganze 
Drastik  dazu,  um  solche  Momente  nicht  sentimentaler  wirken 
zu  lassen,  als  es  bei  dem  klaren,  germanischen  Realisten  Shake* 
speare  angebracht  wäre. 

So  vortrefflich  nun,  wie  diese  beiden  unwiderstehlichen 
Schafsköpfe,  passen  die  Esprits  von  Benedikt  und  Beatrice 
nicht  zusammen,  weil  die  Heims  zu  wenig  davon  und  über* 
haupt  nicht  den  rechten,  sondern  einen  berlinischen  hat.  Sie 
macht  ab  und  zu  ein  Doppelkinn,  ist  schnippisch,  hüpft 
hurtig  aus  dem  hellsten  Sopran  in  den  tiefsten  Alt  und  kann 
nicht  verbergen,  wie  sehr  der  Regisseur  Reinhardt  sich  be# 
müht  hat,  seine  und  ihre  Bemühungen  um  Beatricens  spezi* 
fische  Eingeteufeltheit  zu  verbergen.  Eine  Lücke?  Nicht  nur 
daß  die  Heims  ja  auch  hier  eine  zuverlässige  und  herzliche 
Schauspielerin  ist,  nicht  nur,  daß  die  Totalität  der  Vorstellung 
zu  uneinnehmbar  rund  und  fest  geraten  ist:  vor  allem  kommt 
Bassermann  für  zwei  und  mehr  auf.  Er  ist  mühelos  geistreich, 
ist  Herr  aller  Liebenswürdigkeiten  und  Tollheiten,  ist  sou* 
verän  genug,  um  noch  seinen  Übertreibungen  den  rechten 
Komödienstil  zu  geben.  Er  darf  sogar  gelegentlich  aus  der 
Rolle  herausfallen,  weil  er  auch  das  in  die  Rolle  einzubeziehen 
versteht.  Man  achte  auf  Einzelheiten:  wie  romantisch*grotesk 

164 


er  mit  seinem  Schatten  spielt;  welche  anmutige  Kraft  er  in 
die  Maßregelung  des  Claudio  legt;  wie  wahrhaft  berückend 
er  den  Schlußreigen  kommandiert.  Lichtenberg  sagt  von 
Garricks  Benedikt:  „Auch  in  dem  Tanz  unterscheidet  er  sich 
vor  anderen  durch  die  Leichtigkeit  seiner  Sprünge ;  als  ich  ihn 
in  diesem  Tanze  sah,  war  das  Volk  so  zufrieden  damit,  daß 
es  die  Unverschämtheit  hatte,  seinem  Roscius  encore  zuzu* 
rufen."  Die  Berliner  fänden  dergleichen  in  einem  ernsten 
Theater  nicht  schicklich;  aber  alle  hätten  Bassermann  gern 
länger  tanzen  sehen.  Er  ist  von  echtem  Übermut  randvoll. 
Das  ist  der  ganze  Zauber,  den  er  übt.  Damit  führt  er.  Da* 
mit  durchdringt  er  bis  in  die  letzten  Winkel  eine  Aufführung, 
die  mir  seit  dem  , Othello'  von  allen  Reinhardtschen  Auf* 
i^ührungen  die  beste  geworden  zu  sein  scheint. 


TANZMÄUSE  - 

W''as  macht  dieses  .Satyrspiel  in  dreizehn  Momentbildern' 
letzten  Endes  so  unerfreulich?  Nicht  daß  es  kein  so* 
genanntes  dramatisches  Rückgrat  hat;  nicht  daß  die  Zahl  der 
Momentbilder  unsere  Ansprüche  übersteigt;  nicht  daß  es 
gar  keine  Momentbilder,  sondern  meistens  Einakter  sind.  Der 
Grund  der  Geringwertigkeit  liegt  um  eine  Windung  tiefer. 
Der  wahre  Satiriker  ist  ein  Enthusiast,  Prophet,  Erlöser,  dessen 
Sehnsucht  durch  Enttäuschungen  bitter,  gallebitter  geworden 
ist.  Der  undämonische  Mephisto  von  Kopenhagen  aber  hat 
„seine  Freude  dran";  ja,  er  lebt  von  nichts  anderem,  als  daß 
sein  Mitmensch  schäbig  und  der  Weltlauf  grausam  genug  ist, 
um  Anlaß  zu  einem  Satyrspiel  zu  geben.  Freilich  brauchte 
das  noch  immer  kein  Einwand  zu  sein.  Warum  sollte  nicht 
ein  Dichter  einmal  ohne  jeden  Rest  von  Unzufriedenheit  aus 
der  Vogelperspektive  auf  das  Gehudel  unter  sich  blicken  oder 
blinzeln  und  aus  vollem  Halse  lachen?  Nur  daß  ein  so  un* 
bedingt  amüsierter  Dichter  auch  unbedingt  und  im  höchsten 
Grade  amüsant  sein  muß.  Und  das  ist  Wied  diesmal  leider 
nicht.   Er  spürt  es  selbst  und  glaubt,  seine  Position  nachträg* 

165 


lieh  dadurch  zu  verbessern,  daß  er  seine  Spaße  in  einen  pech# 
schwarzen  Rahmen  steUt,  eine  Nachdenklichkeit  vorspiegelt, 
die  er  zum  Glück  nicht  hat,  das  beneidenswerte  Los  der  ober* 
flächlich  vergnügten,  gierigen,  dummen,  streberischen,  bos* 
haften,  leeren  Menschen  tendenziös  in  Gegensatz  bringt  zu 
dem  betrüblichen  Los  der  Charaktere,  Talente,  Genies.  Aber 
diese  ruckartige  Vertiefung  macht  die  Sache  schlimmer.  Wied 
hat  falsch  gerechnet.  Eine  Spekulation  auf  das  Zwerchfell 
des  Publikums  droht  zu  mißlingen.  Was  tun?  Man  speku* 
liert  schnell  auf  die  Tränendrüsen  des  Publikums  —  das  nun 
endlich  lacht.  Schade,  Keinem  glaubt  man  so  leicht  und  gern 
wie  Wied  den  guten  Willen,  an  der  richtigen  Stelle  unbän»» 
dige  Heiterkeit  hervorzurufen.  Er  hat  den  Wunsch,  seine 
Tanzmäuse  so  rapid  durcheinanderzuwirbeln,  daß  sich  die 
bizarrsten  optischen  Täuschungen  ergeben:  daß  sie  uns  als 
Schweine,  Schafe,  Füchse,  Wölfe,  Geier  und  anderes  \^ehzeug 
erscheinen.  Er  stachelt  seine  malitiöse  Laune.  Aber  sie  bockt. 
Jeder  Versuch,  diese  Momentbilder  zu  lesen,  würde  mißlin* 
gen.  Denn  was  im  Kleinen  Theater  wach  erhielt  und  fröhlich 
machte,  stammte  von  Barnowsky  und  seinen  Mitarbeitern, 
nicht  von  Wied. 

Man  zerbricht  sich  seit  einiger  Zeit  die  Hohlköpfe  dar* 
über,  ob  dieser  Barnowsky  berufen  ist,  das  Erbe  des  heiligen 
Brahm  anzutreten.  Das  ist  darum  so  sinnlos,  weil  ja  Bar* 
nowsky  von  Brahm  weder  ein  Programm  noch  das  Ensemble, 
sondern  gar  nichts  weiter  als  das  Haus  übernimmt.  Wenn 
aber  schon  verglichen  werden  muß,  dann  ist  es  allerdings 
eine  Ungerechtigkeit  gegen  Barnowsky,  bei  einer  Regieleistung 
wie  dieser  seiner  jüngsten  überhaupt  an  Brahm  zu  denken. 
Mit  soviel  Witz  und  Phantasie  kommt  außer  Reinhardt  kein 
berliner  Regisseur  einem  schwachen  Bühnenwerk  zu  Hülfe, 
Es  handelte  sich  darum,  dieser  dürftigen,  nicht  übermäßig 
zusammenhängenden  Folge  von  Bildern  den  Kinematographen* 
Charakter  aufzuprägen,  der  mit  ihrer  unzulänglichen  Geistig* 
keit  am  ehesten  versöhnte,  das  Auge  reichlich  beköstigte  und 
die  Dauer  einer  nicht  ganz  schmerzlosen  Exekution  einiger* 

166 


maßen  abkürzte.  Bamowsky  ließ  nun  erstens  einen  scherz* 
haften  Sondertitel  für  jede  der  dreizehn  Szenen  vor  Beginn 
jeder  einzelnen  auf  einem  dunkeln  Vorhang  aufleuchten.  Aber 
damit  war  noch  nichts  für  die  Beschleunigung  der  Aufführung 
getan.  Barnowsky  hatte  also  zweitens  von  seinem  Svend  Gade 
die  Ausstattung  für  jede  der  dreizehn  Szenen  auf  einen  Bett* 
schirm  von  Überlebensgroße  malen  lassen,  der  eins,  zwei, 
drei  im  stumpfen  Winkel  zwischen  denselben  zwei  festen, 
mit  Türöffnungen  versehenen  blauen  Seitenpfosten  aufgeklappt 
werden  konnte.  Da  sogar  die  meisten  Versatzstücke  und 
Requisiten  gemalt  waren,  so  entstanden  allerlei  kleine  Be* 
lustigungen.  Über  diese  gemalten  Schaukelpferde  stolperten, 
in  diese  gemalten  Kakteen  griffen  Darsteller,  die,  mit  einer 
Ausnahme,  nicht  bedeutend  genug  sind,  um  sich  selbst  zu 
loben,  aber  treu,  geschmackvoll  und  gestaltungskräftig  ge= 
nug,  um  dem  Regisseur  Bamowsky  seine  mehr  als  sorgfältige 
und  saubere,  seine  künstlerisch  untadelige  Arbeit  zu  ermög* 
liehen.  Wenn  man  einer  Vorstellung  nachsagt,  daß  siebzehn 
Schauspieler  zweiundzwanzig  Figuren  erschöpften,  so  klingt 
das  wie  eine  Übertreibung,  ohne  doch  eine  zu  sein.  Dabei 
ist  das  noch  gar  nichts  gegen  den  Lobgesang,  den  man  auf 
Ilka  Grüning  anstimmen  muß.  Sie  gab  nicht  nach  einander, 
sondern  durch  einander  eine  Millionärin  im  gefährlichsten 
Alter  und  eine  völlig  eingetrocknete  Proletarierv\'itwe  und 
gab  sie  so,  daß  man  keinen  Augenblick  diese  wahrhaftig 
ungewöhnliche  Wandlungsfähigkeit  bestaunte,  sondern  sich 
jedesmal  von  der  Blutwärme  eines  strotzend  lebendigen 
Menschen  unendlich  wohltätig  berührt  fühlte.  Das  Spiel 
dieser  seltenen  Frau  ist  bei  der  äußersten  Groteskkomik  nie* 
mals  um  eine  Spur  zu  laut;  die  Reichhaltigkeit  ihrer  drasti* 
sehen  Töne  scheint  unbegrenzt;  die  Güte,  mit  der  sie  auf 
ihre  Gestalten  blickt,  veredelt  irgendwie  sogar  die  niedrigste 
von  ihnen.  Wled  hätte  in  alle  dreizehn  Szenen  Rollen  für 
die  Grüning  hineindichten  sollen,  und  , Tanzmäuse'  wären, 
mit  all  ihren  Mängeln,  ein  Riesenerfolg  geworden. 


167 


DIE  SCHÖNE  HELENA 

abwechselnd  trifft  Reinhardt  ins  Schwarze  oder  ganz  da* 
x~Xneben.  Er  erneuert  zu  unserem  Entzücken  von  Grund 
auf  Werke,  die  man  kaum  noch  ansehen  konnte;  und  er 
schlägt  oder  drückt  andere  tot,  die  eben  noch  höchst  leben* 
dig  erschienen  waren.  Demgegenüber  wird  er  für  seine 
,Schöne  Helena'  hoffentlich  nicht  auf  die  stolzen  Kassen* 
rapporte  zahlreicher  Städte  Deutschlands  verweisen.  Das 
nämlich  weiß  ich  allein,  daß  eine  so  beschaffene  Inszenierung 
den  Gaumen  der  Plebs  aufs  wonnigste  kitzelt.  Hier  hat  sie: 
Klimbim  jeder  Axt,  Massenumzüge,  Buntheit,  Fett,  Lärm, 
Kalauer,  Exzentrizitäten  und,  nicht  zuletzt,  das  schmeichel* 
hafte  Gefühl,  von  den  dii  maiorum  gentium,  von  Reinhardt, 
Fried  und  Offenbach  die  Entzückungen  zu  erhalten,  die 
sonst  Richard  Schultz,  Monsieur  Meschugge  und  Victor 
Hollaender  austeilen.  Wohl  bekommsl  Ich  für  mein  Teil 
bleibe  hungrig,  weil  ich  wissen  will,  was  ich  esse,  und  das 
hier  nicht  erkenne.  Die  beiden  Köche  sind  sich  nicht  einig 
geworden.  Reinhardt  hat  Offenbachs  Operette  für  eine  alte 
Schuhsohle  gehalten,  die  ohne  seine  üppigen,  vielfältigen, 
saftigen  und  pikanten  Garnierungen  nicht  mehr  zu  genießen 
sei;  Fried  aber  hat  den  erlesensten  Leckerbissen  vor  sich  zu 
haben  geglaubt,  von  dem  jedes  einzelne  Fäserchen  bloßgelegt 
und  ausgekostet  werden  müsse.  Schon  jedes  für  sich  ist 
falsch:  Offenbach  ist  weder  so  abgetan  noch  so  groß.  Immer* 
hin  wäre  es  denkbar,  daß  durch  eine  energische  und  einheit* 
liehe  Durchführung  die  eine  oder  die  andere  falsche  Auf* 
fassung  eine  Evidenz  empfinge,  die  sie  für  den  Theaterabend 
auch  künstlerisch  erfolgreich,  also  richtig  machte.  Aber  beides 
zusammen  geht  gewiß  nicht. 

Mit  dem  Blumensteg  aus  ,Sumurün',  der  sich  durchs 
Parkett  zieht,  fängt  es  an.  War  er  nicht  bereits  damals  zum 
mindesten  überflüssig?  Es  entsteht  eine  Anbiederung  der 
ein*  und  abmarschierenden  Komödianten  an  die  Zuschauer, 
die  den  groben  von  diesen  wohlgefällig  sein  mag,  den  feinen 
bestimmt  lästig  ist.   Dazu  kommt,  daß  der  umständliche  und 

168 


anspruchsvolle  Apparat  wesentlich  kräftigere  Heiterkeiten 
und  Sensationen  verheißt,  als  sich  schließlich  ergeben.  Wenn 
dann  die  Herrschaften  endlich  auf  der  Bühne  sind,  macht 
der  Regisseur  den  zweiten  Fehler.  Er  hat  eine  Parodie  vor 
sich.  Diese  Parodie  müßte  nun  wenigstens  naiv  gespielt 
werden.  Aber  sie  wird  noch  einmal  parodiert  und  verliert 
dadurch  an  Schlagkraft  genau  in  dem  Maße,  wie  die  Berech* 
tigung  der  Mimen,  sich  über  Offenbach  zu  stellen,  abnimmt. 
Die  Bewußtheit  geht  bis  in  die  Äußerlichkeiten.  Früher  trug 
solch  ein  Operettengrieche  ein  Trikot,  einMonocle  und  einen 
Strohhut,  und  alles  schrie.  Jetzt  ist  er  über  dem  Trikot  nach 
der  neuesten  Mode  ausstaffiert,  dreht  sich  teils  in  mensch* 
lieber,  teils  in  aesthetischer  Eitelkeit  hin  und  her  und  her 
und  hin,  und  ich  werde  schwermütig.  Denn  das  ist  das 
Malheur:  es  werden  so  viele,  so  gewissenhafte,  ja,  förmlich 
pedantische  Vorbereitungen  getroffen,  um  mein  Gelächter  zu 
erkaufen,  daß  die  Pointe  mich  nicht  mehr  zahlungsfähig 
findet.  Wolle  Gott,  daß  meine  französische  Theatergeschichte 
nicht  aufschneidet:  dann  hat  die  pariser  Premiere  der , Schönen 
Helena'  fünfundvierzig  Minuten  gedauert.  Das  entspräche 
durchaus  dem  inneren  Tempo  des  Werkes.  Wahrscheinlich 
hat  zwischen  Lied  und  Lied  nur  gerade  der  unentbehrlichste 
Text  gestanden.  Erst  in  Deutschland  werden  sich  die  Ko* 
miker  seiner  bemächtigt  und  ihre  Extempores  wie  eine  ewige 
Krankheit  vererbt  haben.  Bei  Reinhardt  ist  vollends,  was 
sich  bis  zum  Jahr  1911  angehäuft  hat,  von  der  Elefantiasis 
befallen  worden.  Hier  werden  die  Vierhundertelf  besten 
Anekdoten  des  Simplizissimus,  das  Buch  der  jüdischen  Witze 
und  zwei  Sammlungen  von  Roda  Roda  ausgebreitet.  Dauer? 
Von  halb  Acht  bis  Viertel  Zwölf. 

Und  alles  ohne  Schöne  Helena.  Die  hat  man  nicht  für 
nötig  gehalten.  Ihr  Paris  singt  trefflich  genug,  soweit  ihn 
nicht  das  andächtige  Orchester  aus  dem  Cancan  ins  Maestoso 
verschleppt,  Kalchas  ist  ungewöhnlich  liebenswürdig,  und 
Menelaus  steht  im  Mittelpunkt.  \X^ie  gut  muß  Herr  Pallen* 
berg  gewesen  sein,  als  er  noch  nicht  wußte,  wie  gut  er  ist! 

169 


Mehr  freilich,  als  daß  er  heute  seiner  Wirkungen  zu  sicher 
ist  und  sich  zu  lange  auf  ihnen  festsetzt  —  mehr  kann  man 
ihm  nicht  vorwerfen.  Wie  sieht  er  einem  altersschwachen 
Affen  gleich,  zumal  wenn  er  vom  Apfel  frißt!  Wie  putzig 
ist  es,  wenn  er  auf  den  Thron  weniger  steigt  als  fällt  und 
immer  wieder  herunterkollert I  Wie  taktvoll,  daß  er  darauf 
verzichtet,  diesen  Ehemann  tragikomisch  zu  vertiefen!  Aber 
was  nützt  das  alles?  Helena  fehlt  (trotzdem  in  Deutschland 
viele,  in  Berlin  manche  und  sogar  am  Theater  des  Westens 
ein  bis  zwei  Sängerinnen  zu  haben  gewesen  wären,  die  Fräu# 
lein  Jlona  Hajdu  aus  Budapest  an  Schönheit,  Jugend,  Charme 
und  Esprit  übertroffen  hätten),  und  damit  fehlt  Nerv  und 
Seele.  Sobald  in  Helena  nicht  von  Anfang  an  das  ganze 
Publikum  verliebt  ist,  sollte  man  die  Aktrice  allenfalls  für  Kly* 
taimnestren  heranziehen.  Kurzum:  da  keine  Helena  dieses 
mächtige  Aufgebot  an  selbstgefälligen,  aber  auch  an  ge* 
schmackvoll  kitzelnden  Raffinements  gerechtfertigt  und  be# 
schwingt  hat,  so  ist  für  die  Kunst  nicht  viel  herausgekommen. 
Was  im  Gedächtnis  haftet,  ist  eine  Vorstellung  —  gedunsen, 
dickblütig,  schleppfüßig;  für  den  , Export',  nicht  für  Rein* 
hardts  beste  Freunde. 


DER  FEIND  UND  DER  BRUDER 

Diese  Tragödie  glaube  niemand  zu  kennen,  der  sie  nur 
aus  den  Kammerspielen  kennt.  Wenn  es  in  schwierigen 
Fällen  die  Aufgabe  des  Theaters  ist,  den  Zuschauer  aus  der 
Dunkelheit  in  die  Klarheit  zu  führen,  so  hat  es  hier  die  Ver# 
wirrung  erst  gestiftet.  Denn  Moritz  Heimanns  Buch  ist  zwar, 
glücklicherweise,  vieldeutig,  aber  keineswegs  undurchdring* 
lieh.  Freilich  wirtschaftet  ein  wesentlicher  Autor  wie  dieser 
schon  mit  den  tatsächlichen  Vorgängen  nicht  so  unbedenklich 
herum,  daß  der  winzigste  unterschlagen  werden  dürfte.  Des« 
wegen  hatte  man  eine  Szene  von  neunzehn  Seiten  zunächst 
einmal  vollständig  gestrichen.  Was  hinterher  über  den  Unter* 
gang  des  Stephan  Badoer  bekannt  wird,  genügt  nicht,  um 

170 


dem  Jüngling  die  Stellung  im  Drama  zu  geben,  die  er  braucht, 
und  die  er  ja  bei  Heimann  auch  hat. 

Er  ist  der  Bruder  der  kaum  erblühten  Pallas,  die  ihn 
liebt,  wie  er  sie  liebt.  Beider  Stolz  auf  ein  gemeinsames 
höheres  Menschentum  ist  so  eifersüchtig,  daß  für  keinen 
von  ihnen  ein  anderer  außer  ihrer  Mutter  überhaupt  in 
Frage  kommt.  Aber  wie  die  Luft  um  das  Landhaus  der  Badoer, 
so  ist  die  dramatische  Atmosphäre  gleich  am  Anfang  unheil* 
voll  geladen.  Das  Schicksal  in  Gestalt  des  venetianischen 
Grafen  Barbaro  da  Brazza  streckt  die  linke  Hand  nach  Ste* 
phan,  die  rechte  nach  Pallas  aus.  Des  Bruders  Leben  wird 
sinnlos,  weil  es  einen  Sinn  erst  durch  den  Staat  Venedig  er? 
halten  soll  und  ganz  und  gar  nicht  auf  Sozialgefühl  gestellt 
ist;  der  Schwester  Leben  wird  unrein,  weil  sie  Ersatz  für  die 
erotisch  gefärbte  Beziehung  zum  Bruder  in  der  ehebreche« 
rischen  Liebe  zum  jungen  Tuzio  Tuzi  findet  und  nicht  weiß, 
daß  auch  der  ihr  Bruder  ist.  Stephan  treibt  der  Schmerz 
über  der  Schwester  Untreue  —  nicht  gegen  den  Gatten,  son* 
dern  gegen  ihn  —  zum  Selbstmord.  Da  ist  es  nun  in  jeder 
Hinsicht  der  Höhepunkt  der  Tragödie,  wenn  die  Mutter 
vor  dem  Rat  der  Zehn  den  Tod  des  Sohnes  und  das  Doppel« 
verbrechen  der  Tochter  erfährt,  jenen  beweint,  dieses  nicht 
einmal  als  einfaches  Verbrechen  anerkennt,  die  Zusammen* 
hänge  aufdeckt,  mit  der  Hoheit  einer  Erbin  und  Vererberin 
aristokratischen  Geblüts  ihren  Anspruch  gegen  den  Dogen, 
gegen  seine  Abweisung  ihres  eigensüchtigen  Geistes  und 
seine  Verherrlichung  des  Gemeinwesens  verficht  und  sich  am 
Ende  ruhig  verbannen  läßt,  Pallas  aber  vergiftet  den  Boten 
ihres  Gatten  Barbaro,  der  ihr  den  Tuzio  Tuzi  als  ihren  Bruder 
enthüllt,  ersticht  darauf  diesen  Bruder,  weil  ihm  ein  anderer 
doch  die  Augen  öflfiiet,  und  ersticht  schließlich  sich  selbst. 
Über  ihrer  Leiche  behauptet  der  Graf  in  einem  shakespeari« 
sierenden  Nachruf,  daß  nicht  er,  sondern  der  Bruder  Tuzio 
ihr  Feind  gewesen  sei.  Die  letzte  Szene  zwischen  den  Ge* 
schwistern  hatte  bereits  das  Martyrium  dieser  wie  jeder 
großen  Liebe,  ihren  Todeskeim  sichtbar  gemacht. 

171 


Das  wären  die  Grundzüge  der  »Handlung*.  Den  Inhalt 
des  , Hamlet*  will  ich  angeben,  und  getreu  und  lückenlos  an* 
geben,  ohne  ahnen  zu  lassen,  daß  wir  hier  mehr  als  ein  starkes 
Drama,  daß  wir  ein  Werk  voll  aller  Weisheit  der  Welt  vor 
uns  haben.  Es  spricht  gegen  den  Dramatiker  Heimann,  daß 
man  seine  Fabel  nicht  nacherzählen  kann,  ohne  zugleich  seine 
geistigen  Absichten  anzudeuten.  Richtiger:  daß  man  es  wohl 
könnte,  daß  aber  dabei  eine  Begebenheit  ohne  Zweck  und 
Ziel  und  Bedeutung  herauskäme.  Wenn  ich  mir  irgend  rieh* 
tig  erkläre,  warum  eine  so  tiefsinnige  Arbeit  auf  keine  zehn 
Menschen  gewirkt  hat,  dann  liegt  es  daran,  daß  eben  jene 
geistigen  Absichten  früher  da  waren  als  die  Menschen  und 
die  Aktion,  in  der  diese  Menschen  sich  entfalten.  Es  sollte 
nicht  zuerst  ein  Stück  Dasein  geformt,  sondern  der  Mecha* 
nismus  ewiger  Kräfte  bloßgelegt  werden.  Aus  dem  Verfall 
der  Familie  Badoer  sprießen  nicht  allerlei  Lehren  auf,  sondern 
diese  Familie  verfällt,  damit  allerlei  bewiesen  werde.  Etwa: 
daß  Inzucht  verderblich  ist  und  unter  besonderen  Umständen 
zum  Inzest  führt.  Oder,  noch  einmal:  daß  die  Tragik  der 
blutschänderischen  Liebe  keinen  Schutz  bietet  vor  der  Tragik 
der  Liebe.  Oder,  vor  allem:  daß  zwischen  Staat  und  Indi* 
viduum  Kampf  gesetzt  ist,  daß  aber  beide  nicht  ohne  ein* 
ander  leben  können,  daß  also  für  das  Individuum  der  Staat 
und  für  den  Staat  das  Individum  der  Feind  und  der  Bruder 
zugleich  ist.  Es  war  ja  von  vornherein  sicher,  daß  bei  Hei* 
mann  hinter  einem  so  mythisch  tönenden  Titel  mehr  zu  suchen 
sein  würde,  als  eine  Bezeichnung  für  das  Verhältnis  zweier 
einzelner  Menschenkinder, 

Das  wären  ein  paar  von  den  wichtigsten  Erkenntnissen, 
die  für  mich  aus  der  Tragödie  herausspringen.  Aber  es  ist 
trotzdem  zu  einfach :  weil  sie  Geist  im  kostbarsten  Sinne  hat, 
und  weil  dieser  wahrscheinlich  früher  da  war  als  der  Körper 
—  ihr  deswegen  schlankweg  den  Charakter  einer  Dichtung  abs 
zusprechen.  Gewiß,  das  Werk  eines  ungewöhnlich  skeptischen 
Kopfes  wird  nicht  gerade  von  der  Flamme  der  Leidenschaft 
durchglüht  sein.   Nur  ist  Heimanns  Skepsis  mit  der  Zeit  so 

172 


fruchtbar  geworden,  daß  ein  dramatisches  Opus  seiner  Reife 
—  wenn  nicht  poetisches  Erdreich,  so  doch  zum  mindesten 
poetische  Leuchtkraft  haben  muß.  Seine  Gestalten  sind  wohl 
nicht  plastisch,  aber  sie  sind  transparent.  Sie  sind  nicht  von 
dunkeln  Säften  genährt,  aber  geheimnisvoll  am  Leben  erhalten 
durch  die  Entschlossenheit  eines  starken  Denkers,  seine  Ge* 
danken  in  keinem  kunstunähnlichen  Gebilde  auszudrücken.  So 
ist  es  fast  unvermeidlich,  daß  sie  Ich#Psy  chologen,  Selbst*  Analy« 
tiker,  Theoretiker  ihrer  Blutnotwendigkeiten,  Kommentatoren 
ihres  eigenen  Geschicks  werden.  Ist  das  solch  Unglück?  Sind 
das  nicht  Hebbels  Menschen  im  Grunde  auch?  Ich  erinnere 
mich  daran ,  daß  man  ,Gyges  und  sein  Ring'  und  .Herodes  und 
Mariamne'  vor  sechzig  Jahren  nicht  besser  verstanden  und 
nicht  besser  behandelt  hat  als  unsere  Tragödie,  und  vertröste 
Heimann,  falls  er  Trost  braucht,  auf  die  Nachwelt.  Sie  wird 
hoffentlich  schärfere  Ohren  haben  als  die  Mitwelt  und  Verse 
wie  diese  zu  würdigen  wissen.  Der  Philosoph  ist  voll  Musik, 
der  Grübler  hat  einen  prachtvollen  Schwung,  der  Aufdrösler 
führt  zugleich  einen  Hammer.  Der  Denker  ist  eben  doch 
ein  Dichter.  Es  ist  bei  dieser  Doppeltheit  Moritz  Heimanns 
nur  natürlich,  daß  seine  Verse  einen  intellektuellen  Rausch 
erzeugen.  Man  liest  die  anderthalbhundert  Seiten  drei*,  vier*, 
fünfmal  und  entdeckt  immer  neue  Schönheiten,  immer  neue 
Tiefen.  Aber  freilich:  wem  hätte  die  Aufführung  der  Kam* 
merspiele  Lust  gemacht,  das  Buch  überhaupt  kennen  zu 
lernen! 

Selten  genug  kommen  Werke  so  hohen  Ranges  auf  die 
Bühne ;  noch  seltener  werden  sie  so  verstümmelt.  Reinhardt 
mag  Operetten  spielen,  wieviel  er  will;  er  mag  das  Ausland  be* 
glücken,  wie  oft  er  will;  er  mag  seine  Theater  aufgeben,  wann 
er  will.  Aber  solange  er  noch  nomineller  Herr  im  Hause  ist, 
muß  er  einigermaßen  auf  Würde  halten,  müßte  es  unmöglich 
sein,  daß  eine  Potenz  wie  Heimann  dermaßen  geschädigt 
wird.  Kein  Mensch  zwingt  Reinhardt,  Dichtungen  so  un* 
gemeiner  Art  je  darzustellen.  Daß  er  diese  annahm,  bewies 
ein  Verständnis,  das  jeder  Kenner  des  Buches  höchlichst  pries. 

173 


Wenn  er  dann  die  Lust  verlor,  so  hatte  er  sich  von  der  Ver* 
pflichtung  loszukaufen.  Niemals  aber  durfte  er  das  Stück 
so  mißhandeln  lassen.  Die  Tragödie  braucht  bei  ihrer  Kom* 
pliziertheit  den  Regisseur  Reinhardt :  also  erhielt  sie  Hollaender. 
Sie  braucht  bei  der  Weite  ihres  Schritts  das  Deutsche  Theater: 
also  kam  sie  in  die  Kammerspiele.  Sie  braucht  bei  ihrer  Geistig* 
keit  Farbe,  Sonne,  Sinnlichkeit :  also  wurde  sie  in  das  schäbigste 
Gewand  gesteckt.  Sie  braucht  bei  ihrer  ziemlich  beispiellosen 
Gedrängtheit  Respektierung  jedes  Wortes:  also  wurde  min* 
destens  ein  Drittel  getilgt.  Sie  braucht  für  Stephan,  Brazza, 
Tuzio  Kayßler,  Wegener,  Moissi:  also  las  man  andere, 
wesentlich  geringere  Namen.  Auf  der  Höhe  Heimanns  und 
des  Hauses  stand  nur  Mary  Dietrich  als  Mutter.  Wie  weit 
es  einem  neuen  Fräulein  Gina  Mayer  gelungen  wäre,  die 
Entwicklung  der  Pallas  von  einer  wundervoll  unberührbaren 
Mädchenhaftigkeit  zu  einer  wundervoll  überlegenen  Weib* 
lichkeit  und  Menschenhaftigkeit  zu  verkörpern,  war  in  der 
zweiten  (letzten!)  Aufführung  nicht  festzustellen,  da  die  junge 
Dame  als  Kranke  spielte.  Aber  auch  ein  anerkanntes  Talent  in 
blühender  Gesundheit  hätte  den  Gesamteindruck  nicht  ent* 
scheidend  ändern  können.  Warum  hat  Heimann  sich  das 
gefallen  lassen?  Hat  er  sich  etwa  über  die  Schmählichkeit 
der  Aufführung  getäuscht?  Ist  es  denkbar,  daß  ein  kritischer 
Kopf  dieses  Grades  jede  Kritik  in  dem  Augenblick  verliert, 
wo  es  sich  um  die  Darstellung  des  eigenen  Werkes  handelt? 
Es  ist  schwer  zu  glauben.  Wenn  er  aber  klar  gesehen  und 
trotzdem  nicht  verzichtet  hat,  dann  will  ich  ihn  freilich 
nicht  länger  mit  meinem  Beileid  behelligen.  Volenti  non  fit 
iniuria. 


DAS  FRIEDENSFEST 

Dieser  Hauptmann!  Man  glaubt,  ihn  in*  und  auswendig 
zu  kennen.  Und  wenn  man  dann  eins  seiner  alten  Dramen, 
freilich  das  stärkste,  vor  einer  neuen  Aufführung  wieder  liest, 
so  entdeckt  man,  daß  man  zwar  gewußt  hat,  wie  weit  es  über 

174 


die  Erde,  aber  nicht,  wie  weit  es  unter  die  Erde  reicht.  Wie 
fest  es  im  Humus  wurzelt,  wie  unaufhörlich  es  also  wächst, 
Schößlinge  treibt,  Kronen  ansetzt,  dürre  Zweige  und  faules 
Laub  abstößt,  kurz :  sein  Gesicht  verändert.  Sieht  das  .Friedens* 
fest'  heute  nicht  wirklich  ganz  anders  aus  als  vor  zweiund* 
zwanzig  Jahren?  Gewiß:  ,Vor  Sonnenaufgang'  auch.  Der 
Unterschied  ist  nur,  daß  das  , Friedensfest'  in  dieser  Zeit  nicht 
älter,  sondern  jünger,  nicht  kleiner,  sondern  größer,  nicht 
blasser,  sondern  bunter  geworden  ist.  Keiner  denkt  mehr 
daran,  daß  es  einmal  das  Schulbeispiel  einer  , Richtung'  war; 
daß  einmal  die  Frage  nach  der  Pathologie  der  Personen  die 
Sorge  um  ihr  Seelenheil  zurückdrängte;  daß  man  einmal  im* 
Stande  und  begierig  war,  den  Finger  auf  die  Stellen  zu  legen, 
die  den  , Einfluß'  von  Ibsen  und  Zola  und  Strindberg  ver* 
rieten.  Der  Naturalismus,  oder  was  sich  dafür  ausgab,  war  zu 
überwinden.  Aber  dies  hier  ist  eben  kein  Naturalismus.  Dies 
ist  durch  eine  Welt  getrennt  von  den  Exaktheiten  fleißiger  All* 
tagsbeobachter.  Dies  ist  einfach  Poesie:  nicht  weil  am  Schluß 
durch  das  Gewölk  ein  Sonnenstrahl  bricht;  sondern  weil  unter 
dem  düsteren  Himmel  Menschen  wimmeln,  die  einander  und 
uns  Geschwister  sind  —  die  Hitze  und  Frost  schüttelt,  die 
sich  in  Angstdelirien  winden,  die  blind  umhertasten,  die  hoch* 
streben  und  niedergeworfen  werden,  die  glauben  möchten 
und  zweifeln  müssen,  die  ihr  Geblüt,  als  sich  selber,  abwech* 
selnd  lieben  und  hassen  und  öfter  hassen,  die  gestreichelt  sein 
und  streicheln  wollen,  aber  aus  Scham  über  ihre  Weichheit 
wütend  um  sich  stechen.  Es  ist  das  Ziel  jedes  Tragikers,  daß  uns 
der  Menschheit  ganzer  Jammer  anfaßt.  Glaubt  etwa  noch 
jemand,  dazu  der  Menschheit  ragende  V^ertreter  oder  gar  ihre 
sogenannten  großen  Gegenstände  nötig  zu  haben?  Was  sich 
auf  diesem  Schützenhügel  bei  Erkner  unter  den  Mitgliedern 
der  bügerlichen  Familien  Scholz  und  Buchner  abspielt,  ist 
weder  erhaben  noch  allzu  selten.  Trotzdem:  es  macht  mich 
erschaudern,  sträubt  mir  das  Haar,  schlingt  mich  unwider* 
stehlich  in  seinen  dunkeln  "Wirbel  ein.  So  grauenhafte  Vor* 
gänge  zusammenzuballen,  sind  andere  Dramatiker  auch  nicht 

175 


faul  gewesen.  Aber  das  Dichter«  und  Menschentum  dieses 
Gerhart  Hauptmann  hat  die  mitleidsvolle  Gebärde,  den  eksta« 
tischen  Blick,  die  tiefen  Naturlaute,  die  mir  das  Herz  auf* 
brechen. 

Allerdings  darf  man  das  Drama  nicht  durch  Brahm  kennen 
lernen.  Der  hält  noch  im  Jahre  1890.  Er  ist  bestenfalls  den* 
jenigen  Jugendwerken  seines  Hauptmann  gewachsen,  die  nie* 
mals  eine  Zukunft  hatten.  Die  anderen,  die  sich,  mit  uns,  ent* 
wickelt  haben,  gibt  er  falsch,  nämlich  historisch.  Aber  selbst 
historisch  gibt  er  sie  nicht  gut.  Das  .Friedensfest'  im  beson* 
deren  hat  er  schon  vor  dreizehn  Jahren  nicht  spielen  können. 
Immerhin  hat  er  im  Deutschen  Theater  Schauspieler  gehabt, 
die  sich  nicht  hindern  ließen,  wenigstens  ein  paar  Gestalten 
für  sich  zu  erschöpfen.  Im  Lessingtheater  dagegen  sieht  die 
Familienkatastrophe  so  aus :  daß  ein  fleischgewordener  Mangel 
an  Regiebegabung  die  Atmosphäre  zu  schaffen  verabsäumt 
hat,  in  der  die  Reste  des  Brahmschen  Ensembles  durchweg 
den  Eindruck  von  schönen  Resten  gemacht  hätten.  Haupt« 
manns  Vorschriften  sind  befolgt,  aber  nicht  belebt.  Diese 
Halle  birgt  kein  Geheimnis,  hat  keine  Geschichte,  erzeugt 
keine  Stimmung.  Hier  jagt  nicht  das  lebendige  Drama  vor* 
bei,  das  für  uns  das , Friedensfest'  geworden  ist:  hier  rollt  sich 
gemächlich  das  Zustandsbild  einer  verflossenen  Literatur* 
periode  ab.  Hier  wird  die  Hysterie  dieser  Familie  nicht  ge* 
peitscht:  hier  wird  sie  pedantisch  auseinandergebreitet.  Hier 
glühen  keine  Fieberfarben  auf:  hier  lastet  eine  einzige  Grau* 
heit.  Man  klebt  an  Hauptmanns  Buchstaben,  an  seiner  anfän* 
gerhaften  Vorliebe  für  die  getreue  Wiedergabe  des  Umgangs* 
gestotters.  Man  soll  zwischen  fünf  Menschen  diejenige  Ahn* 
lichkeit  des  Wesens  erzielen,  die  alle  Zusammenstöße  und 
Erschütterungen  erst  herbeiführt  und  erklärt,  und  kann  sie 
nicht  einmal  zum  simpelsten  Zusammenspiel  abrichten.  Wenn 
Wilhelm  ohnmächtig  wird,  dann  gruppieren  sich  die  Ver* 
wandten  so  hölzern  um  ihn,  daß  man  auf  die  Bühne  springen 
und  Unordnung  unter  sie  bringen  möchte.  Woran  fehlt  es 
hier  eigentlich  nicht?    Es  fehlt  an  den  Grundbegriffen  und 

176 


an  den  Finessen,  an  Verständnis  für  jede  unalltägliche  Dich= 
tung  und  an  Phantasie. 

Kann  man  auch  nur  mit  den  Einzelleistungen  dieser  Vor* 
Stellung  viel  anfangen?  Reicher  ist  aus  Robert  Scholz  der 
Vater  Scholz,  aber  damit  nicht  künstlerisch  reifer  geworden. 
In  Brahms  guter  Zeit  war  fast  jeder  Darsteller  reicher,  als  er 
für  seine  Rolle  zu  sein  brauchte.  Aus  diesem  Überschuß  ahn« 
lieh  gerichteter  Naturen  entstand  ohne  eigentliche  Regie  die 
Luftschicht  der  Aufführungen,  für  die  wir  dem  Brahm  der 
Vergangenheit  verpflichtet  bleiben.  Als  Vater  Scholz  gibt 
Reicher  gerade  einen  alten  Mann,  und  nicht  einmal  diesen 
alten  Mann,  der  das  Schicksal  seines  Hauses  zur  Hälfte  ver* 
schuldet  und  doch  wieder  nicht  verschuldet  hat.  Zur  anderen 
Hälfte  schuldig  und  unschuldig  ist  seine  Frau.  Daß  sie  hier 
nicht  genug  Gewicht  und  schwerlich  das  richtige  Gesicht 
bekommen  hat,  muß  an  der  Regie  liegen.  Denn  warum  sollte 
die  Grüning  nicht  eine  Person  spielen  können,  der  man  es 
glaubt,  daß  sie  den  Mann  aus  dem  Hause  getrieben  und  die 
Kinder  falsch  erzogen  hat?  Bei  dieser  zu  leisen,  zu  unner* 
vösen,  zu  gutartigen  Frau  Scholz  hätte  es  keine  Familienkata* 
Strophe  gegeben.  Man  sieht  in  der  Darstellung  der  Grüning 
förmlich  alle  Kühnheiten  der  Charakteristik,  alle  mimischen 
Einfälle,  die  nicht  da  sind,  weil  sie  den  Rahmen,  das  heißt: 
diesen  Rahmen  gesprengt  hätten  und  darum  verboten  wurden. 
Reinhardts  Fähigkeit:  die  Schwachen  zur  Höhe  der  Starken 
emporzustacheln.  Brahms  Fähigkeit:  zugunsten  der  Mittel* 
mäßigkeit  das  Talent  zu  dämpfen.  Da  die  Eltern  nicht  stim* 
men,  hätten  die  Kinder  es  selbst  dann  nicht  leicht,  wenn  sie 
alle  ausreichten.  Fräulein  Sussin  ist  zuzutrauen,  daß  sie  sich 
als  Auguste  in  anderer  Umgebung  mehr  herausnehmen  würde 
als  hier.  Aber  Herr  Stieler  als  ihr  Bruder  Wilhelm  ist  ganz 
unzulänglich.  Für  so  anspruchsvolle  Aufgaben  hat  er  noch 
nicht  die  innere  Fülle.  Seine  Aufgewühltheit  glaubt  man  ihm 
um  so  weniger,  je  mehr  Grimassen  sie  glaubhaft  zu  machen 
suchen.  Vom  Künstler  Wilhelm  Scholz  ist  nichts  als  die 
Perücke  da.    Aber  man  versuche  einmal,  sie  Herrn  Stieler 

12  177 


abzunehmen  und  dem  hoffnungsvollen  Herrn  Loos  aufzu* 
setzen,  und  wir  werden  kaum  merken,  daß  die  Rollen  ver* 
tauscht  sind.  Die  Forderung  des  Dichters,  daß  die  Scholzens 
eines  Blutes  scheinen  müssen,  ist  nirgends  recht  erfüllt.  Nur 
bei  den  Brüdern  ist  sie  so  übertrieben  erfüllt,  daß  der  drama« 
tische  Gegensatz  fast  aufgehoben  wird.  Was  bleibt  vom  ,Frie# 
densfest'?  Das  Friedensfest.  Und  selbst  das  ist  für  Brahm  nicht 
mehr  ganz  zu  bewältigen.  Fräulein  Herterichs  Ida  ist  von  Zuk* 
ker  und  Anis,  nicht  von  Fleisch  und  Blut;  von  Moser,  nicht 
von  Hauptmann;  die  Tochter  Hansi  Arnstaedts,  nicht  Else  Leh* 
manns.  Ich  möchte  gern  noch  einmal  hören  und  sehen,  wie 
die  Lehmann  als  Frau  Buchner  das  Geständnis  ihrer  Liebe 
zu  Wilhelm  herausstößt,  die  Hände  vors  brandende  Gesicht 
schlägt  und  in  einer  jähen  Wendung  wegstürzt.  Aber  selbst 
ich  würde  dafür  all  diese  lähmende  Gleichgültigkeit  nicht 
ein  zweites  Mal  auf  mich  nehmen. 


GEORGE  DANDIN 

Reinhardt  scheint,  erstens,  historisch  recht  zu  haben.  Wie 
er  dieses  , Lustspiel  in  drei  Akten  mit  Tänzen  und 
Zwischenspielen  von  Moliere'  gibt,  fast  genau  so  ist  es  1668 
in  Versailles  gegeben  worden.  Fast.  Denn  nicht  nur  fehlt 
bei  uns  von  den  vier  intermedes  das  vierte,  das  den  betrogenen 
Ehemann  von  der  erlösenden  Flüssigkeit  seines  Teiches  zu 
der  betäubenden  Flüssigkeit  des  Gottes  Bacchus  hinüber* 
zulocken  versucht:  es  fehlt  ja,  vor  allem,  das  Publikum,  das 
eine  Theateraufführung  erst  rund  und  fertig  macht.  Da  das 
Publikum  aber  niemals  wiederherzustellen  ist,  so  wird  eine 
historisch  noch  so  richtige  Aufführung  schließlich  doch  immer 
unrichtig,  nämlich  unvollständig  sein.  Was  tun?  Wie  soll 
man  , George  Dandin'  spielen?  Vor  zwanzig  Jahren  ist  diese 
Frage  in  Paris  wütend  erörtert  worden.  Der  kunstdumme  alte 
Sarcey  entschied,  daß  der  Schauspieler  Got  mit  seiner  tra* 
gischen  Auffassung  der  Gestalt  gründlich  geirrt  habe,  daß 
George  Dandin  für  Moliere  lächerlich  sei,  und  daß  der  Re# 

178 


gisseur  kein  anderes  Mittel  habe,  das  Stück  zu  bewältigen, 
als  dieses :  de  le  toumer  en  bouffonnerie.  Lemaitre,  der  gra# 
ziöser  schreibt  als  Sarcey,  aber  auch  kein  untrügliches  Kunst* 
gefühl  hat,  stimmt  begeistert  zu.  Oh!  la  la,  que  d'affaires! 
Je  relis  , George  Dandin'  et  je  n'y  retrouve  rien  de  tout  cela. 
Amere!  Oh!  Dieu,  non.  Wer  den  Dichter  will  verstehen, 
muß  aus  Dichters  Lande  gehen.  Der  Übersetzer  VoUmoeller 
spricht  von  der  „grausamsten  Komödie  des  mitleidlosen 
Menschenschilderers",  und  man  begreift  nicht,  wie  sie  je* 
mals  verkannt  werden  konnte. 

Reinhardt  scheint  also,  zweitens,  theoretisch  recht  zu  haben, 
wenn  er  die  Grausamkeit  und  die  Komödienhaftigkeit  des 
Stückes  gleich  scharf  herauszuheben  trachtet.  Trachtet.  Er 
stellt  einen  ehrlich  leidenden  Menschen  in  eine  lachende  oder 
höchstens  spielerisch  leidende  Umgebung.  Von  dem  Glanz 
versunkener  Tage  beschwört  er  einen  kräftigen  Schimmer 
herauf.  „Nichts  als  Liebe,  Liebe,  Liebe"  ist  das  unaufhörHch 
gesungene  Leitmotiv  dieser  glücklichen  Schäfer  und  Schafe* 
rinnen.  Sie  tanzen  durch  einen  bald  sonnigen,  bald  verführe* 
risch  dunkeln  Rokokopark,  in  dem  sich  die  Küsse  wie  Nachti* 
gallengezwitscher  anhören.  Sie  hüpfen  aus  eingebildetem 
Gram  über  den  schöngeschwungenen  Sandsteinrand  eines 
Karpfenbassins,  aus  dem  sie  zwar  mit  mächtigen  Netzen 
herausgefischt  werden  müssen,  aber  in  dem  es  sich  offenbar 
auch  für  eine  höhere  Klasse  der  Wirbeltiere  stundenlang 
leben  läßt.  Man  merkt,  worauf  es  hinausgeht:  Phantastik; 
Spielzeugschachtel;  Getändel;  Ballett;  porzellanene  Pierrot* 
traurigkeiten ;  Kontraste  des  Rüpeltums;  Gequäk  der  quer* 
gehalsten  Flöte  und  Empfindsamkeit  des  Spinetts;  Lully ;  Louis 
Quatorze;  der  Schein,  der  nie  die  Wirklichkeit  erreichen  soll 
und  sie  hier  durch  ein  Bindeglied  doch  erreicht.  Von  der 
Schwerlosigkeit  dieses  Schäfertums,  das  so  unreale  Namen 
trägt  wie  Tirsio  und  Philen  und  Cloris  und  Climene,  fühlt  sich 
die  Flatterhaftigkeit  eines  Adels  angezogen,  dessen  jauchzende, 
aber  oberflächliche  Daseinsfreude  sich  weder  trüben  noch 
vertiefen  würde,  wenn  er  ahnte,  wie  es  ihm  hundertzwanzig 


12* 


179 


Jahre  später  ergehen  wird.  Dichter  und  Regisseur  sind  sich 
in  der  Schilderung  dieser  Schicht  einig.  Sie  lebt  nicht  aus 
sich,  sondern  führt  eine  marionettenhafte  Existenz.  Sie  voll« 
zieht  ihre  Begrüßungszeremonien  zum  Takt  der  Musik,  ist 
in  jeder  Beziehung  abhängig  vom  leersten  Formelkram  und 
bezahlt  ihr  neumodisches  Schloß  mit  dem  Gelde  des  Bauern, 
den  sie  zum  Dank  verachtet  und  mißhandelt.  Damit  sind 
wir  bei  der  Tragik  des  Stückes.  War  es  wirklich  Gots  Schuld, 
daß  die  Pariser  von  1891  aus  dem  Theater  gingen  —  oppresses 
et  tristes  ä  mourir?  Ich  wüßte  nicht,  wie  ein  Darsteller,  er 
sei  denn  ein  unvernünftiger  Possenreißer,  diesen  Eindruck 
verhüten  sollte.  Daß  George  Dandin  sich  sein  Schicksal 
selbst  bereitet  hat  und  das  einsieht,  kann  unseren  Anteil 
nicht  vermindern.  Auch  nicht,  daß  die  Frau  aus  zarterem 
Stoff  gegen  dieses  plumpe  Element,  das  ihre  verarmten  Eltern 
ihr  aufgezwungen  haben,  sich  mit  Fug  empört.  Es  kommt 
mit  unerbittlicher  Konsequenz,  wie  es  kommen  muß.  Daß 
es  so  kommt,  stimmt  tieftraurig.  Daß  es  so  kommen  muß, 
daß  man  für  alles  einmal  bezahlt,  daß  man  um  so  teurer  be# 
zahlt,  je  weniger  man  schuld  und  schuldig  ist:  das  ist  der  Lauf 
der  Welt.  Darüber  könnte  man  wieder  lachen.  Aber  wer  ein 
Ohr  für  die  Dominante  von  Dichtungen  hat,  der  hört,  daß 
dem  Mann  der  Armande  Bejart  hier  das  Lachen  vergangen  ist. 
Mit  seinem  Ebenbild,  mit  dem  Sprachrohr  seiner  Qualen, 
mit  George  Dandin  lächern  wollen,  hieße  also  literaturge« 
schichtlich  fälschen.  Das  wäre  nicht  schlimm.  Nur  hieße  es 
auch  psychologisch  fälschen.  Deshalb  würde  es  gar  nicht 
gelingen.  Das  weiß  Reinhardt,  Er  hat  überhaupt  mit  den 
meisten  Einzelheiten  der  Aufführung  historisch  und  theo« 
retisch  recht.   Aber  .... 

Was  soll  der  Theatermann  in  erster  Reihe?  Den  Augen« 
blick,  der  sein  ist,  ganz  erfüllen.  Was  darf  er  um  keinen 
Preis?  Den  einen  Augenblick,  für  dessen  Dauer  er  mich  in 
der  Gewalt  hat,  unausgefüllt  lassen.  Er  mag  gegen  alle 
Historie  mein  Herz  und  gegen  alle  Theorie  mein  Zwerchfell 
erschüttern.   Aber  ich  pfeife  auf  seine  sämtHchen  Tugenden, 

180 


* 


wenn  er  mich  langweilt.  Lieber  will  ich  schlechter  werden 
als  mich  ennuyieren.  Nun  denn:  diese  betont  vollständige 
und  nach  Möglichkeit  stilgetreue  Aufführung  ist  zu  einem 
beträchtlichen  Teil  langweilig.  Es  war  ein  schädlicher  Ein« 
fall,  den  Charakter  der  Zwischenspiele  zu  verändern:  sie  ab 
und  zu  in  die  eigentliche  Handlung  und  die  Handlung 
wieder  in  sie  übergehen  und  die  Figuren  beider  Welten  mit 
einander  in  dramatischen  Verkehr  treten  zu  lassen.  Wenig* 
stens  ist  dieser  Einfall  zu  pedantisch  durchgeführt  worden. 
Er  hat  Wiederholungen  hervorgerufen,  die  aufhalten  und 
lähmen.  Das  ist  ja  seit  einiger  Zeit  der  Geburtsfehler  von 
Reinhardts  Einfällen:  daß  sie  eitel  sind  und  von  sich  selber 
nicht  genug  kriegen  können.  Davon  bekommt  solche  Auf* 
führung  häufig  einen  Embonpoint,  der  sie  verhindert,  sich  in 
dem  Rhythmus  vorwärts  zu  bewegen,  der  des  Werkes  Rhyth* 
mus  ist.  Bei  diesem  Werk  aber  weiß  man  nicht  einmal, 
welches  sein  wahrer  Rhythmus  ist.  Denn  es  sind  doch  eben 
zwei  Werke:  eins,  das  Moliere  mit  seinem  Blut,  und  eins, 
das  er  auf  Bestellung  geschrieben  hat.  Auch  darum,  und 
darum  besonders,  war  es  falsch,  die  beiden  Teile  nicht  aufs 
schärfste  zu  trennen.  Dandin  mußte  fest  und  breit  die  Erde 
treten,  zu  der  er  gehört,  und  die  anderen  mußten  um  ihn 
herum,  an  uns  vorbeihuschen.  Vollmoeller  hat  den  Sinn  des 
Spiels  gedeutet:  der  nackte  Mensch  in  einer  Welt  von  Larven. 
Weshalb  aber  hat  er  seine  Deutung  nicht  auf  der  Bühne 
durchgesetzt?  Wie  sollte  dieser  Sinn  aufleuchten,  da  Dandin 
als  Pierrot  geschminkt,  also  dem  Anschein  nach  eine  Larve 
war  wie  die  anderen?  Oder  hat  Reinhardt  darauf  vertraut, 
daß  Victor  Arnold  auch  mit  der  Larve  unter  Larven  die  ein* 
zige  fühlende  Brust  sein  würde?  Dann  hat  ihn  Arnold  frei* 
lieh  nicht  im  Stich  gelassen.  Dieser  Dandin  wäre  selbst  im 
Bauerngewand  kein  Bauer  gewesen:  aber  er  war  und  ist 
immer  ein  Mensch.  Er  erregt  bald  Mitleid,  bald  Grauen  und 
niemals  Heiterkeit.  Er  hat  ergreifende  Augenblicke  des 
Schmerzes,  Augenblicke  im  wörtlichen  Sinne,  und  durch* 
dringend  lautlose  Töne  des  Hasses  gegen  ein  Geschlecht,  das 

181 


ihm  ungleich,  und  dem  er  nicht  überlegen  ist.  Aber  was 
hatte  man  von  dieser  Meisterleistung  eines  Humoristen,  der 
vor  unseren  erstaunten  Augen  von  Mal  zu  Mal  wächst? 
Reinhardt  hatte  es  sich  stilecht  gedacht,  Dandin  mit  seinen 
Nöten  ans  Publikum  zu  verweisen;  und  so  mußte  Arnold 
die  eigene  Gestaltung  immer  wieder  zerbrechen  und  die 
einzelnen  Stücke  von  fremdem  Gerank  überwuchern  lassen. 
Es  entstand  keine  Einheit  der  Stimmung,  des  Tempos,  des 
Interesses.  Schade  nur,  daß  dieser  Mangel  den  äußeren  Er# 
folg  eher  herbeirufen  als  verscheuchen  wird.  Sonst  nämlich 
gäbe  es  für  mich  keinen  Zweifel,  wie  dem  , George  Dandin' 
mit  Arnolds  George  Dandin  ein  großer  künstlerischer  Erfolg 
zu  bereiten  wäre.  Man  dürfte  nicht  den  Abend  mit  einem 
Stück  füllen  wollen,  das  in  Deutschland  noch  nie  den  Abend 
gefüllt  hat.  Das  Motiv  ist  in  anderthalb  Stunden  und  schneller 
erschöpft.  Um  es  uns  einzuprägen,  braucht  man  Larven,  ge# 
wiß;  aber  nicht  unbedingt  die  Larven  der  Zwischenspiele. 
Die  Larven  der  Komödie  genügen  als  Gegenspiel.  Man 
wende  ihnen  mehr  Aufmerksamkeit  zu,  dränge  Dandin  mit 
seinen  Leiden  nicht  über  die  Rampe,  gebe  der  Firma  De  Wit 
in  Leipzig  ihr  Spinett  zurück  und  schicke  dem  Moliere  die 
,Mitschuldigen*  oder  den  , Zerbrochenen  Krug'  voran  —  und 
man  wird  eine  klassische  Komödienvorstellung  haben,  die 
wahrscheinlich  sehenswert  sein  wird. 


WEH  DEM,  DER  LÜGT! 

Weh  dem,  der  lügt,  indem  er  bestreitet,  daß  diese  Vor* 
Stellung  des  Königlichen  Schauspielhauses  durch  ihre 
Schalheit  und  Stillosigkeit  eine  förmlich  körperliche  Pein  be* 
reitet.  Was  tut  Herr  Lindau  eigentlich  in  der  Zeit,  wo  er  nicht 
den  ,Austauschleutnant'  für  die  nächste  Saison  erwirbt  und 
bei  Sigwart  Friedmanns  siebzigstem  Geburtstag  deutsches 
Schrifttum  und  deutsche  Theaterkunst  zugleich  vertritt?  Selbst 
diese  Leistungen  müßten  ihm  Kraft  lassen,  auf  die  General* 
probe  solch  einer  Neueinstudierung  zu  kommen.   Dann  aber 

182 


müßte  er  schon  nach  fünf  Minuten  zu  dem  Regisseur  (Keßler) 
hinaufschreien,  weshalb  er  denn  aus  den  vielen  ungeeigneten 
Dekorationen  gerade  eine  sommerliche  Gartenvegetation  her* 
ausgegriffen  habe,  wenn,  nach  Leons  Behauptung,  die  Szene 
in  rauher  und  kalter  Frühlingsluft  spielt!  Man  darfauch  sonst 
nicht  hinsehen.  Die  Bühne  ist  vollgestopft  mit  hunderterlei 
toten  Gegenständen,  die  deshalb  noch  keine  künstlerische 
Daseinsberechtigung  haben,  weil  sie  vielleicht  in  einer  wirk* 
liehen  Landschaft  anzutreffen  sind.  Am  Opernhaus  ist  Gregor 
nicht  spurlos  vorübergegangen:  nach  allen  Eindrücken  des 
Theaterjahrs  behauptet  sich  Herrn  von  Hülsens, Rosenkavalier' 
als  einer  der  stärksten.  Warum  versperrt  sich  das  Schauspiel* 
haus  so  stumpfsinnig  gegen  Reinhardts  , Errungenschaften', 
denen  es  sich  nach  zehn,  zwanzig  Jahren  ja  doch  öffnen  wird? 
Das  Prinzip  der  Zahmheit  ist  in  diesem  Hause  so  mächtig, 
daß  Troglodyten  und  Christenmenschen  kaum  von  einander 
unterschieden  werden.  Bei  Kattwald  wird  ungefähr  so  bar* 
barisch  gekneipt  wie  um  die  Polizeistunde  in  unserer  »Hopfen* 
blute'.  Dann  wieder  läßt  man  das  betrunkene  Untier  eine 
Solonummer  aufführen,  die  Reinhardt  einmal  wagen  sollte. 
Ergo:  man  ist  nicht  derb,  wo  es  die  Charakteristik  verlangt, 
sondern  nur,  wo  man  die  albernsten,  die  übelsten  Posseneffekte 
herausschlagen  kann.  Grillparzers  halb  sanft*moralisches, 
halb  märchenhaft*rüpliges  Lustspiel  ist  im  Schauspielhaus  ein 
süßlichspappiger  Koppel*Ellfeld  mit  gelegentlicher  Berück* 
sichtigung  eines  knotigen  Galeriegeschmacks. 

Das  brauchte  es  nicht  einmal  hier  zu  sein.  Freilich  wäre 
dazu  nötig,  daß  dem  schwächsten  Regisseur  der  erträglichste 
die  Arbeit  abnähme  und  in  ihrem  Interesse  auf  die  Aussonde* 
rung  der  unzulänglichsten  Beamten  bestünde.  Am  besten  ge* 
rät  Galomir,  weil  Herrn  Vallentin  die  ergiebige,  trotz  oder 
wegen  der  Unartikuliertheit  des  Textes  ergiebige  Rolle  zu  keiner 
der  üblichen  Übertreibungen  verleitet.  Und  als  Kattwald  zeigt 
Herr  Zimmerer,  soweit  ihn  eben  die  törichte  Regie  nicht 
schädigt,  daß  seiner  Begabung  Unrecht  geschieht,  wenn  man 
ihr  heldischen  Ernst  abfordert.    Damit  ist  das  Lob  der  Dar* 

183 


Stellung  erschöpft.  Der  Darsteller  des  Atalus  dürfte  noch 
nicht  als  Solist  beschäftigt  werden,  und  sein  Onkel  . . .  O  laßt 
uns  wahr  sein,  vielgeliebte  Brüder,  so  schwer  es  fällt,  bejahrten 
und  nicht  verdienstlosen  Männern  harte  Worte  zu  geben. 
Was  ist  aus  Herrn  Pohl  in  dieser  Umgebung  geworden!  Er 
geht  nicht  mehr,  sondern  wackelt;  er  blickt  nicht,  sondern 
rollt  die  Augen;  er  öffnet  den  Mund  nicht,  sondern  kriegt 
einen  Kieferkrampf;  er  spricht  nicht,  sondern  zischt;  und  er 
ist  nicht  der  Bischof  von  Chalons,  sondern  der  Rebbe  von 
Rogasen.  War  kein  Kraußneck  da?  Die  Lehrhaftigkeit  ist  ein 
Wesenselement  dieses  Lustspiels,  kein  bloßer  Zusatz,  und  seine 
Weisheiten  wollen  verkündet,  nicht  zernuschelt  sein.  Aber 
es  kommt  der  Leitung  dieses  Theaters  offenbar  weniger  darauf 
an,  eine  Dichtung  zur  Geltung  zu  bringen,  als  irgendwelche 
geheimnisvollen  Gesetze  der  Anciennität  zu  befolgen.  Wie 
wäre  es  sonst  möglich,  daß  man  bei  Edriten  an  eine  andere 
als  an  Helene  Thimig,  daß  man  gar  an  Fräulein  Arnstaedt  ge* 
dacht  hat!  Die  Literaturgeschichte  macht  sich  darüber  lustig, 
daß  bei  der  Premiere  das  Naturkind  von  der  Heroine  Julie 
Rettich  auf  den  Kothurn  gestellt  worden  ist.  Aber  man  male 
sich  die  Poppe  als  Edrita  aus,  und  man  wird  sie  bei  weitem 
einer  Salondame  vorziehen,  die  nichts  als  eine  flaue  Geleckt« 
heit  einzusetzen  hat  und  nur  darum  nicht  so  auf  die  Nerven 
geht  wie  ihr  Leon,  weil  sie  nicht  auch  die  Unbescheidenheit 
der  Mittelmäßigkeit  hat.  Herr  Clewing  nämlich  ist  nicht 
wiederzuerkennen.  Kann  das  Schauspielhaus  ein  Talent  in 
einem  Jahre  ruinieren?  Andere  Talente  haben  sich  selbst  hier 
Jahrzehnte  lang  gehalten.  Ist  sein  Entdecker  Bernauer  ein  so 
großer  Regisseur?  Das  hat  er  sonst  noch  nicht  bewiesen. 
Hat  Herr  Clewing  bisher  nur  das  Fach  der  dankbaren  Rollen 
gespielt?  Leon  ist  wahrhaftig  eine  der  dankbarsten  Rollen, 
und  Herr  Clewing  spielt  sie  schrecklich.  Er  hat  nicht  die 
Schlauheit  Leons,  sondern  des  gefallsüchtigen  Komödianten, 
der  jede  Augenblickswirkung  herauskitzelt,  unbekümmert  um 
die  Grundlinien  der  Gestalt,  ja,  um  die  Glaubhaftigkeit  der 
Situation.  Wenn  Kattwald  von  Atalus  spricht,  benimmt  sich 

18-i 


Herr  Clewing  so,  daß  das  gefräßigste  Monstrum  Leons  Be* 
freiungsabsichten  durchschauen  und  ihn  unschädlich  machen 
würde.  Dieser  Leon  ist  gewandt,  aber  nie  graziös,  gefühls* 
nüchtern  bis  zur  Hundeschnäuzigkeit  und  so  glanzlos  und 
poesieverlassen,  daß  sogar  das  berühmte  Gebet  verpufft.  Wahr* 
scheinlich  haben  wir  Herrn  Clewing  überschätzt.  Keinesfalls, 
das  steht  nach  dieser  Probe  fest,  wird  er  stark  genug  sein, 
um  das  Klima  unserer  Hofbühne  zu  vertragen. 

DIE  FALSCHE  NESTROY.FEIER 

Vor  fünfzig  Jahren,  also  viel  zu  früh,  ist  Johann  Nestroy 
gestorben.  Das  Neue  Schauspielhaus,  als  einziges  berliner 
Theater,  beschloß,  durch  eine  Gedenk*Aufführung  sich  selber 
zu  ehren.  Aber  statt  ein  einzelnes  Stück  von  Nestroy  zu  be* 
leben,  ließ  es  zwei  einander  totschlagen.  Das  Rezept  vom 
Rollmops  und  der  Chocoladensauce  taugt  auch  für  die  Bühne 
nicht,  es  sei  denn,  daß  sie  völlig  auf  die  Unterlage  eines 
mehr  oder  minder  literarischen  Textes  verzichtet.  Als  der 
,Talisman'  nach  zwei  Akten  durch  zwei  Szenen  von  ,Judith 
und  Holofemes*  unterbrochen  wurde,  da  wars  um  die  Persi* 
flage  geschehen.  Kein  Wunder.  Welch  ein  drolliger  Wider* 
Spruch,  Nestroy  als  einen  Autor  anzusehen,  der  nach  einem 
halben  Jahrhundert  noch  gefeiert  zu  werden  verdient,  zu* 
gleich  aber  als  einen  Autor,  an  dessen  Werken  man  beliebig 
herumschnipseln  darf,  um  sie  bequemer  übereinanderstülpen 
zu  können!  Weil  es  Possen  und  Persiflagen  sind?  Die  Re* 
spektlosigkeit  dieser  Hebbel*Travestie  ist  nicht  bloße  Un* 
Verschämtheit.  Wenn  satirische  Tief  blicke  in  die  Eingeweide 
eines  Dichters  diesen  töten  könnten,  müßte  Hebbel  oder 
doch  seine  ,Judith'  seit  Jahrzehnten  tot  sein.  Daß  beide  noch 
leben,  daß  sie  diese  Parodie  überlebt  haben,  spricht  für  ihre, 
aber  auch  für  Nestroys  Stärke,  der  nicht  nötig  hatte,  sich 
mit  Kleinigkeiten  abzugeben.  Hebbel  selbst  verkennt  „durch* 
aus  nicht  sein  gesundes  Naturell".  Für  uns  heißt  das  so  viel, 
daß  Nestroy  das  schärfste  Ohr  für  klingende  Phrasen,  für 

185 


geschraubten  Ernst  und  verstiegene  Gewichtigkeit  hat.  Was 
ist  Holofernes  denn  Großes?  fragt  er,  und  sobald  die  Frage 
überhaupt  gestellt  wird,  ist  es  allerdings  mit  seiner  Größe 
aus.  Es  ist  ein  Triumph  für  Nestroy  und  die  beste  Legiti* 
mierung  seiner  Satire,  daß  er  die  Tiraden  des  Holofernes 
gar  nicht  immer  zu  persiflieren  braucht,  sondern  zum  Teil 
wörtlich  aus  Hebbels  Text  übernehmen  kann,  ohne  daß  man 
einen  Unterschied  merkt  und  zu  lachen  aufhört.  Man  hört 
erst  in  Bethulien  zu  lachen  auf,  und  auch  das  ist  lehrreich. 
Satire  ist  die  Bundesgenossin  der  Kritik,  ist  selber  Kritik 
und  fruchtbarste  Kritik.  Was  vor  der  Kritik  bestehen  kann, 
ist  kein  Objekt  der  Satire.  Die  Szenen  in  Bethulien  sind 
unantastbare  Meisterstücke;  also  prallt  selbst  Nestroys  Witz 
an  ihnen  ab.  Aber  wo  der  Größenwahn  der  Judith  und  die 
Gottähnlichkeit  des  Holofernes  Funkenschlagen  mit  einander 
spielen:  da  trifft  dieser  Witz  wieder  ins  Schwarze. 

Nestroys  Persiflage  wird  so  lange  bleiben  wie  Hebbels  ,Ju* 
dith'  selbst;  und  von  Nestroys  Possen  hat  der  Dichter  dieses 
Dramas,  als  er  sich  bereit  erklärte,  für  einen  ihrer  Witze  eine 
Million  gewöhnlicher  Jamben  zu  opfern,  nicht  einmal  genug 
gesagt.  Denn  es  sind  ja  nicht  bloß  Sammlungen  von  Witzen, 
sondern  geschlossene  Gebilde.  Gewiß  hat  Nestroy  vielen 
seiner  Figuren  das  lose  Mundwerk  gegeben,  das  er  selber 
hatte.  Daraus  sprudelts  von  kaustischer  Bosheit  und  bitterem 
Sarkasmus,  von  ungemütlichem  Spott  und  gottlosem  G'spaß. 
Aber  das  ist  nicht  alles.  Diese  stechend  und  schlagend 
witzigen  Reden  mitanzuhören,  ist  mehr  als  erheiternd,  weil 
sie  von  einer  bewundernswerten  Sprachkunst  zugeschliffen 
sind;  sie  zugeschliffen  zu  haben,  ist  mehr  als  eine  feuille* 
tonistische  Leistung,  weil  die  Sprecher  doch  auch  irgendwie 
Gestalten  werden.  Nestroy  war  mit  seiner  Vaterstadt  ver* 
wachsen  und  hat  von  ungefähr  den  Lebensinhalt  ihrer  Be* 
wohner  in  Typen  verkörpert,  die  sich  über  die  Vergänglich* 
keit  der  primitiven  Mache  hinaus  ihre  Echtheit  erhalten 
haben.  Titus  Feuerfuchs,  der  in  jeder  Haarfarbe  eine  andere 
üppige  Wittib  perückt,  aber  schließHch  ehrlich  und  dankbar 

186 


an  einer  kargen  Feuerfüchsin  hängen  bleibt:  er  ist  Wiener 
und  Mensch  und  ein  kleines  Sinnbild  fürs  Oesterreichertum 
zugleich.  Will  man  ihm  ein  Gegenstück  in  der  ,höheren' 
Literatur  dieses  Landes  suchen,  so  findet  man  es  in  Grill* 
parzers  Rustan.  Diesen  Feuerfuchs  nun  herzunehmen  und 
aus  heiler  Haut  einen  schmählich  kastrierten  Holofernes 
gaukeln  zu  lassen;  seine  Partner  in  dem  Augenblick,  wo  sie 
gerade  in  unserer  Vorstellung  Wurzel  fassen,  als  geists=  und 
leblose  Puppen  in  den  Zuschauerraum  zu  verteilen;  zugunsten 
eines  so  verbrauchten  Einfalls  Nestroys  Couplets  zu  streichen 
und  das  Schlächter*  und  Stopplerwerk  durch  den  abge* 
schmackten  Titel  ,Titus  und  Salome  bei  Judith  und  Holo* 
fernes'  zu  krönen:  Herr  Halm  wird  sich  inzwischen  selbst 
gesagt  haben,  wie  ahnungslos,  wie  barbarisch  er  mit  alledem 
gehandelt  hat.  Am  meisten  wird  ihm  Herr  Eugen  Burg 
grollen.  Dem  hat  er  die  Komik  seines  Titus  unnötig  ge# 
schmälert,  indem  er  ihn  mitten  im  besten  Zuge  zu  einem 
Holofernes  zwang,  nach  dessen  Hintritt  wie  die  ganze  Posse, 
so  ihr  Held  kein  rechtes  Leben  mehr  gewinnen  wollte. 
Nestroy  ehren,  ist  Verdienst;  aus  Nestroys  Humoren  berliner 
Bouletten  machen,  ist  Verbrechen. 

KITSCH  UND  KULISSENWARE 

Es  muß  schon  schlimm  kommen,  wenn  man  sich  in  den 
Wochen  der  Erdbeeren,  des  Spargels,  der  Destinn,  des 
.Monsieur  de  la  Palisse',  der  Batistblusen,  des  Zyklus  heiterer 
Opern  und  der  Reisepläne  ärgern  soll.  Aber  die  , Spiele  ihrer 
Exzellenz'  sind  so  schlimm.  Das  geht  denn  doch  nicht.  Das 
läßt  man  selbst  als  Sommertheaterdirektor,  selbst  als  Erbe  der 
Komischen  Oper  von  Frau  Aurelie  Revy  ruhig  in  der  süd* 
östlichen  Gegend,  auf  die  der  eine  Autorname  Zoe  Jekels 
hinweist.  Der  Sozius  Rudolf  Strauß  hat  in  der  , Goldenen 
Schüssel'  einen  unwählerisch  derben  Geschmack,  aber  auch 
Talent  gezeigt.  Hier  fragt  es  sich,  was  peinlicher  ist:  die 
Talentlosigkeit  oder  die  Geschmacklosigkeit.   Das  einfachste 

187 


Schicklichkeitsgefühl  hätte  noch  so  gierigen  Sensationsmachern 
zu  sagen,  daß  man  einer  ordinären  Moritat,  die  mit  der  Maurer* 
kelle  fürs  Panoptikum  hingeklext  wird,  als  Hintergrund  nicht 
die  russische  Revolution  malt;  daß  man  deren  Größe,  den 
schwermütigen  Zauber  ihrer  sehnsüchtig  aufbegehrenden, 
namenlos  verreckenden  oder  gebrochen  resignierenden  ,Hel* 
den'  nicht  zu  schäbigen  Kraßheiten  ausbeutet.  Unappetit« 
lichstes  Schmarotzertum  ist  es,  für  das  es  nicht  einmal  die 
Rechtfertigung  gibt,  daß  wenigstens  die  illegitimen  ,Wir* 
kungen'  ihre  Schuldigkeit  tun.  Man  lacht,  so  oft  Bomben 
geschmissen,  Revolver  gehoben  und  Dolche  geredet  werden, 
und  es  gruselt  einen  immer  nur  da,  wo  nach  Esprit  geschnappt 
und  Aphorismen  geschmatzt  und  geschweinigelt  werden.  So 
nämlich,  wie  sich  hier  russische  Aristokraten  unterhalten,  stellt 
man  sich  den  Verkehrston  in  budapester  Bordells  vor,  die 
aber  wohl,  um  Geschäfte  zu  machen,  ein  bißchen  mehr  Charme 
anbieten  müssen.  Die  meisten  Plumpheiten  hat  Fräulein  Wüst 
hinzulegen.  Man  würde  sich  für  sie  als  Frau  schämen,  wenn 
sie  nicht  die  liebenswürdige  Fähigkeit  hätte,  durch  parodistische 
Nebengeräusche  den  lästigsten  Text  zu  übertönen.  Herr  Halm 
aber  könnte  einem  leid  tun.  Er  war  nicht  von  vornherein 
entschlossen,  sich  dem  Schund  zu  verschreiben.  Auch  diesen 
Winter  hat  ihn  erst  die  Not  in  solche  Regionen  getrieben. 
Freilich :  wohin  er  gehört,  weiß  man  nach  sechs  Jahren  noch 
immer  nicht.  Seine  Experimente  sind  letzten  Endes  wertlos, 
weil  ihm  jede  Physiognomie  fehlt.  Aber  nicht  minder  fehlt 
ihm  die  besondere  Begabung,  ein  Stück  zu  finden,  das  von 
Leben  und  Kunst  weit  genug  entfernt  und  dabei  theatersicher 
genug  ist,  um  ein  breites  Publikum  zu  unterhalten. 

.Mein  Freund  Teddy'  ist  solch  ein  Stück.  Wenn  die  Kammer« 
spiele  es,  statt  im  Mai,  im  Oktober  gegeben  hätten,  so  wäre 
es  bis  in  den  Mai  hinein  gegeben  worden.  Das  heißt,  daß 
die  Kammerspiele  ihrer  ursprünglichen  Bestimmung  längst 
entfremdet  sind,  und  daß  sie  sich  ihrer  nur  zu  erinnern  brauchen, 
um  gemieden  zu  werden,  daß  sie  ihrer  nur  zu  spotten  brauchen, 
um  überfüllt  zu  sein.    Dieses  Lustspiel  von  Andre  Rivoire 

188 


und  Lucien  Besnard  ist  jenes  harmlose,  sanfte,  behagliche, 
sympathische,  rechtschaffene,  gutgelaunte,  saubere,  freund* 
liehe,  gemütvolle  und  gottverlassene  Konversationsstück  der 
siebziger  Jahre,  in  dessen  Verachtung  wir  von  der  Freien  Bühne 
aufgezogen  worden  sind,  und  das  jetzt  aus  Paris  zu  uns  zu* 
rückkehrt.  Was  einmal  war,  in  allem  Glanz  und  Schein,  Es 
regt  sich  fort;  denn  es  will  ewig  sein.  Oder  werden  künftige 
Jahrzehnte  einen  besseren  Salonhelden  erzeugen  als  den  Jung* 
ling  aus  der  Fremde,  der . . .  ja,  gibt  es  etwas,  was  unser  Freund 
Teddy  nicht  kann?  Nämlich  außer  der  deutschen  Sprache  — 
aber  selbst  dieses  Manko  ist  für  sein  Bühnendasein  eine  un# 
erschöpfliche  Tugend.  Sonst  plätschert  er  noch  im  Golde, 
lenkt  die  Geschicke,  löst  Ehen,  knüpft  neue,  macht  glücklich, 
wird  glücklich  und  ist  wesentlich  talentvoller  als  der  liebe 
Gott,  weil  ihm  nichts  schief  geht.  In  der  ersten  Szene  sagt 
er,  wie  es  kommen  wird,  und  ob  ihrs  glaubt  oder  nicht:  genau 
so  kommt  es  auch.  Wer  nicht  weiß,  daß  es  genau  so  kommen 
wird,  weil  er  Teddys  Väter  und  Vettern  nicht  kennt,  ist  un* 
säglich  gespannt.  Wer  es  weiß,  hält  sich  an  die  Darstellung 
und  wünschte,  sich  zügelloser  über  sie  freuen  zu  können. 
Wie  posensch  sich  Herr  HoUaender  französische  Minister,  Ge* 
sandtschaftssekretäre  und  Kunstberühmtheiten  ausmalt,  erfährt 
man  hier  nicht  das  erste  Mal;  auch  nicht,  daß  Frau  Bertens 
zu  der  Verwechslung  neigt,  eine  aufdringliche  Frau  mit  den 
Künsten  aufdringlicher  Schauspielerei  herzustellen ;  auch  nicht, 
daß  .  . .  Aber  es  ist  das  Geheimnis  von  wahren  Menschen 
und  wahren  Begabungen,  daß  sie  immer  wieder  neu  erscheinen. 
Was  Waßmann  und  die  Heims  hier  zeigen,  werden  sie  früher 
erreicht  und  überboten  haben.  Trotzdem  bildet  man  sich  ein, 
sie  nie  so  leicht  und  hell  und  schön  und  innig,  ihn  nie  so  warm 
und  fest  und  delikat  und  putzig  gesehen  zu  haben.  Man  mag 
es  beklagen,  daß  man  kein  wertvolles  Stück  zu  diesen  wohl* 
tuenden  schauspielerischen  Schöpfungen  zubekommt;  aber 
den  Genuß  an  ihnen  beeinträchtigt  es  nicht. 


189 


VON  GIRARDI 

Nach  Jahren  soll  man  ihn  wiedersehen.  Aber  weder  als 
Valentin  noch  als  alten  Weigelt,  der  ja  durch  ihn  gleich* 
falls  zu  einer  Gestalt  von  Raimund  geworden  ist;  noch  in 
einer  ähnlichen  Aufgabe.    Sondern  in  irgendeinem  wiener 
Fabrikat  von  heute.   Es  wird  vom  Schema  kaum  abweichen. 
Danach  werden  wohl  wieder  einmal  ein  paar  Gesangstexte 
zu  einer  Art  Operette,  ein  paar  Narrenzüge  zu  einer  Haupt* 
und  Gastierfigur  zusammengemanscht  worden  sein.    So  ist 
man  darauf  gefaßt,  über  Girardis  Leistung  zu  lachen  und 
über  sein  ,Los'  wehmütige  Betrachtungen  anstellen  zu  müssen. 
Aber  es  kommt  ganz  anders.   Man  bemerkt  keine  Musik, 
keinen  Dialog,  keinen  Partner,  die  dieses  Künstlers  unwürdig 
wären:  man  bemerkt  nur  ihn,  am  ersten,  am  siebzehnten  Abend 
nur  ihn,  und  ist  eben  deshalb  weit  davon  entfernt,  ihn  zu 
bedauern.  Nie  vorher  habe  ich  die  schöpferische  Gewalt  des 
wahrhaft  großen  Schauspielers  so  stark  empfunden.    Denn 
wenn  Mitterwurzer  den  Coupeau,  Matkowsky   den  Kean, 
Kainz  den  Janikow,  Bassermann  den  Narziß  spielte,  so  stan* 
den  sie  in  einem  wertlosen  Stück,  aber  in  einem  Stück,  und 
hatten  als  Material  eine  unmenschliche  Rolle,  aber  eine  Rolle. 
Girardi  hat  nichts,  das  heißt:  nichts  als  sich  —  also  doch  genug. 
Er  schleudert  sich  auf  die  Bühne,  als  wäre  er  kein  Sech* 
ziger,  sondern  ein  Zwanziger.  Mit  Schritten,  die  einen  Meter 
lang  sind,  nimmt  er  sie  in  Beschlag  und  uns.  Aus  dem  Gang 
jedes  Menschen  will  ich  sein  Wesen  erkennen.  Wie  gar  ein 
Schauspieler  vor  uns  tritt  oder  schleicht  oder  springt:  das  ent* 
scheidet  fast  immer  für  ihn  oder  gegen  ihn.   Dieser  hier  rüt* 
telt  uns  auf,  spannt  uns  an,  schärft  unseren  Blick  und  unser 
Ohr,  noch  bevor  er  den  Mund  geöffnet  hat.   Er  scheint  die 
,Frohnatur*  eines  Gemeinwesens  zu  verkörpern,  das  sich  selbst 
genügt  oder  doch  ehedem  genügte  und  heute  noch  sich  lie* 
ber  an  sich  selbst  berauscht  als  Einkehr  hält.  Diese  Frohnatur 
blitzt  dem  Girardi  aus  den  Italieneraugen,  leuchtet  ihm  um 
den  feinen  Mund,  zuckt  ihm  aus  allen  Gliedern  eines  wunder* 
bar  geschmeidigen  Leibes.    Sein  Gesicht  gleicht  einer  Ver* 

190 


einigung  von  Kainz  und  Emil  Thomas,  Schlichtheit  und  Grad 
der  Künstlerschaft  erinnern  uns  am  ehesten  an  Vollmer.  So* 
bald  Girardi  nur  an  die  Rampe  und  an  ihr  entlang  geschos* 
sen  ist,  dem  Chor  abgewinkt  und  sich  für  sein  Antrittslied 
in  Positur  gereckt  hat,  ist  uns  klar,  daß  der  Mann  allen  Gefah? 
ren  einer  vierzig  Jahre  währenden  und  wärmenden  Berühmt« 
heit  entgangen  ist:  daß  ihm  auch  für  die  Operette  das  Gesetz 
der  Einfachheit  in  unverbrüchlicher  Geltung  steht. 

Dann  beginnt  er,  Unsinn  zu  singen.  Aber  wichtig  ist  nur 
die  Tatsache,  daß  er  singt,  weil  sich  im  Gesang  die  blühend 
reiche  künstlerische  Persönlichkeit:  Alexander  Girardi  entfal* 
ten  wird.  Vielleicht  war  die  Stimme  einmal  frischer  und  grö* 
ßer.  Das  ist  durchaus  unerheblich.  Ihr  eigentlicher  Zauber 
ist  unversehrt:  daß  in  ihr  Blutvs'ärme,  Lebensfreude,  un wider* 
stehliche  Liebenswürdigkeit,  Noblesse,  Zartheit,  Naivität  und 
alle  übrigen  guten  Gaben  einer  vollen  Menschennatur  schwin* 
gen  und  klingen.  Mit  seiner  Stimme  müßte  Girardi  die  Gemein* 
heit  selber  adeln.  Einzig  auf  diese  Stimme  kommt  es  an.  Im 
Ernst:  der  Text  könnte  das  Alphabet,  die  Musik  von  Paul 
Ottenheimer  sein. 

Aber  sobald  der  Text  ein  bißchen  ergiebiger  ist  als  das 
Alphabet,  triumphiert  noch  eine  Tugend  des  Künstlers,  die 
für  mein  Gefühl  artistisch  nicht  geringer  zu  schätzen  ist  als 
Kainzens  Fähigkeit,  einen  Monolog  zu  durchleuchten,  zu 
gliedern,  zu  steigern.  Wie  Girardi  eine  Pointe  abschnellt,  einen 
Vers  schattiert,  eine  Strophe  aufbaut  und  das  ganze  Couplet 
zu  einem  runden  Kunstw^erk  erhöht:  man  sollte  meinen,  daß 
auch  ein  unbegabterer  Librettist  das  nur  einmal  zu  beobachten 
brauchte,  um  davon  für  immer  zu  profitieren.  Ein  frommer 
Wahn.  Man  sehe  sich  an,  was  für  Lieddichtungen  solch  ein 
Buch  zieren,  und  was  für  Reden  sie  mit  einander  verbinden. 
Zum  Glück  müssen  schon  andre  als  Girardi  diese  Reden 
halten,  damit  man  sie  überhaupt  hört. 

Er  nämlich  schämt  sich  ihrer  und  unterschlägt  oder  erschlägt 
sie.  Er  ersetzt  sie  entweder  durch  die  gewissen  altbewährten 
Bühnenscherze,  die  in  seinem  Munde  wieder  jung  und  schön 

191 


werden,  oder  er  macht  Dialektkunststücke,  die  freilich  nichts 
vom  Dialog  übriglassen.  Er  zerfetzt  die  Sätze,  zerkaut  die 
Worte,  zerreibt  die  Konsonanten,  gurgelt  die  Diphthonge  und 
brummt  oder  trillert  die  Vokale  —  eine  erquickend  Volkstum* 
liehe  Musik,  die  wieder  ganz  Girardis  Eigentum  ist.  Was 
stammt  denn  eigentlich  von  den  Lieferanten  des  Rollenheftes? 
Sie  schreiben  an  einerStelle  einenSchwips,  an  einer  anderen  einen 
Tanz  vor.  Nun  ja:  ohne  ihre  Vorschrift  würde  Girardi  weder 
torkeln  noch  tanzen,  also  auch  nicht  so  überwältigend  drastisch 
und  dabei  förmlich  aetherisch  torkeln,  nicht  so  graziös,  so 
elegant,  so  erstaunlich  jugendlich  tanzen.  Aber  jene  Vorschrift 
ist  für  diese  Leistung  nicht  notwendiger,  als  daß  vor  zweiund* 
zwanzig  Jahren  der  Zimmermeister  Prause  ein  paar  Bretter 
zur  Bühne  des  Lessingtheaters  zusammengeschlagen  hat. 

Ein  einzigartiger  Mensch,  dessen  Kunst  aus  noch  rätsei* 
hafteren  Untergründen  strömt  als  alle  echte  Kunst.  Denn: 
dieser  Possenreißer  ist  auch  da  keiner,  wo  er  offenkundig 
Possen  reißt.  Auch  da  verliert  oder  verleugnet  seine  Stimme 
nicht  ihren  besonderen  Ton,  der  an  Beseeltheit  dem  Ton  von 
Ysayes  Geige  nichts  nachgibt.  Es  besagt  noch  immer  zu 
wenig,  daß  dieser  Ton  voll  Bewegtheit  und  dabei  zu  unend* 
lieber  Milde  sublimiert  ist.  Es  ist  in  dem  Rhythmus  seiner 
Vibrationen  und  der  zwingenden  Kraft  seines  Anlasses  ein 
lyrischer  Ton,  und  wer  ihn  vor  Gericht  stellen  wollte,  müßte 
selber  Lyriker,  nicht  Kritiker  sein.  Herrlicher  Girardi!  In 
seiner  Nähe  wird  das  Dasein  reicher.  Man  lacht,  so  oft  er 
anhebt.  Aber  lange  bevor  er  geendet  hat,  ertappt  man  sich 
in  einem  Zustand  der  Rührung,  der  Verzückung  und  der  Ver* 
sunkenheit,  in  den  einen  nur  die  Genies  hineinreißen.  Dies 
hier  ist  das  größte,  das  die  Bühne  deutscher  Sprache  heute  hat. 

GABRIEL  SCHILLINGS  FLUCHT 

Einige  versichern,  Eunosthus  sei  ihnen  begegnet,  ans  Meer 
eilend,  um  sich  zu  baden,  weil  ein  Weib  sein  Heiligtum 
betreten  habe."   Das  ist  ein  Wort  von  Plutarch,  das  Haupt* 

192 


*  mann  seinem  Drama  vorangesetzt  hat.  Nach  diesem  aggres* 
siven  Motto  wäre  die  bitterböse,  fanatisch  misogyne  Dichtung 
eines  neuen  Strindberg  zu  erwarten.  Eine  Dichtung,  die  alle 
Schuld  an  allem  Unglück  auf  das  Weib  wälzte;  die  etwa 
zeigte,  wie  das  Weib  sich  an  den  Mann  ansaugt,  wie  sie  ihm 
Hände  und  Füße  delilahaft  bindet  und  ihm  Herz  und  Hirn 
austrinkt.  Eine  Dichtung,  die  bis  zur  Sinnlosigkeit  ungerecht 
wäre;  der  die  Wut  auf  die  Verderberin  den  Atem  benähme; 
aus  der  Flammen  des  Hasses  glutrot  und  anklägerisch  zum 
Himmel  schlügen.  Eine  Dichtung,  die  vor  lauter  Tendenz 
kaum  noch  Dichtung  wäre.  Aber  es  kommt  anders.  Wenn 
Hauptmann  sein  Drama  in  so  furioser  Stimmung  geplant 
hat,  so  ist  sie  ihm  jedenfalls  bei  der  Arbeit,  durch  die  Arbeit 
verloren  gegangen.  Das  Motto  bezeichnet  nur  seinen  Aus* 
gangspunkt.  Wollte  man  für  das  Ziel,  für  den  Endpunkt, 
für  das  Lebensgefühl  des  ganzen  Werkes  ein  Motto  suchen, 
so  würde  man  es  bei  Dehmel  finden.  „Hie  Weib,  hie  Welt! 
Wen  das  noch  quält.  Wer  da  noch  wählt,  Wer  sich  sein 
Weib  nicht  so  vermählt.  Daß  es  für  seine  Welt  ihn  stählt 
—  Der  ist  kein  Held!"  Das  hört  sich  gleich  beträchtlich 
ruhiger  an.  Diesen  Spruch  hat  Hauptmann  nicht  bloß  dich* 
terisch  ausgeweitet,  sondern  gewissermaßen  regelrecht  drama* 
tisiert.  Ja,  mehr  Dramatiker  als  in  diesem  Sorgen*  und  Schmer* 
zenskind,  das  wir  nicht  von  der  Bühne  herab  kennen  gelernt 
haben,  ist  er  selten  gewesen.  Hier  sieht  man  wieder  einmal, 
daß  das  Wesen  des  Dramas  primitivste  Kontrastierung  ist. 
Denn  Hauptmann  stellt  einfach  das  Positiv  und  das  Negativ 
unseres  Spruches  gegen  einander:  das  Weib,  das  den  Mann  für 
seine  Welt  stählt,  und  die  Weiber,  die  ihn  für  seine  Welt 
schwächen;  den  Mann,  der  gestählt  wird,  und  den  Mann, 
der  sich  schwächen  läßt  und  darum  zwar  kein  Held  in  Deh* 
mels  Sinne,  aber  wie  geschaffen  zum  Helden,  zum  halben 
Helden  eines  Hauptmannschen  Dramas  ist.  Gabriel  Schilling 
ist  ein  gealterter  Wilhelm  Scholz,  ein  unalkoholischer  Harry 
Crampton,  ein  bürgerlicher  Florian  Geyer,  ein  Meister  Hein* 
rieh  in  Prosa.  Sein  Name  gibt  der  Dichtung  den  Titel;  aber 

13  193 


wie  er  ihr  nicht  den  ganzen  Titel  gibt,  so  gibt  er  ihr  auch 
nicht  den  ganzen  Inhalt.  Vielleicht  trägt  das  dazu  bei,  daß 
der  Eindruck  tiefer  ist  als  bei  Hauptmannschen  Werken,  die 
auf  eine  einzige,  nicht  hinreichend  starke  Persönlichkeit  ge* 
baut  sind. 

Es  sind  sechs  Menschen,  die  leben  sollen.  Hauptmann  ge^ 
staltet  mit  leisen  und  doch  unverrückbar  festen  Strichen  eine 
augenfällige,  greif*,  hör*,  schmeck*  und  riechbare  Wirklichkeit, 
in  der  sie  leben  können.  Es  ist  an  der  Ostsee,  wahrscheinlich 
auf  Hiddensee.  Meer  und  Erde,  Luft  und  Sonne,  Wind  und 
Wolken  bilden  eine  pantheistische  Einheit  von  Elementen, 
mit  der  von  unseren  sechs  Menschenkindern  zwei  ein  bißchen 
verwandt  sind,  während  die  anderen  sich  nur  nach  ihr  sehnen 
oder  nicht  einmal  nach  ihr  sehnen.  Ottfried  Maurer,  der 
Bildhauer,  und  seine  kleine  Lucie  Heil,  die  Geigerin,  die  er 
nicht  heiraten  will,  weil  das  für  seinesgleichen  immer  die 
Klippe  ist,  die  aber  mit  ihm  zusammenbleiben  wird,  solange 
es  dauert  in  dieser  Welt:  beide  sind  echte,  freie,  gesunde, 
innerlich  blonde  Naturen,  die  lachen  und  arbeiten  und  sich 
lieben  und  uns  all  in  ihrer  Unverwickeltheit  doch  durchaus 
interessant  werden.  Kein  Wunder:  so  wie  Hauptmann  kann 
heute  keiner  durch  winzige,  unauffällig  angebrachte,  förmlich 
unter  der  Hand  erblühende  Züge  einen  Menschen  rund  und 
schön  machen.  Diese  helle,  lebenstüchtige  Lucie  ist  reich 
genug,  um  jedem  eine  andere,  jedem  eine  freundliche  Seite 
zuzukehren  und  trotzdem  immer  ganz  und  gar  sie  selbst  zu 
bleiben.  Nicht  umsonst  ist  ihr  Lieblingsdichter  die  Droste. 
Sie  ist  gebildet,  geschmackvoll,  gerecht  und  hat  Takt  und 
Humor  und  keine  Spur  Sentimentalität.  Sie  freut  sich,  daß 
auf  ihrer  Insel  alles  so  gespenstig  ist,  weil  sie  sich  in  dieser 
dunstigen  Atmosphäre  mit  ihrer  toten  Mutter  inniger  ver* 
bunden  fühlt.  Sie  liebt  ihren  Maurer  zuzeiten  schwesterlich 
und  zuzeiten  wieder  so  leidenschaftlich,  daß  sie  an  sich  halten 
muß,  wenn  die  junge  Russin  Majakin  ihn  irritiert.  Daß 
Maurer  für  sein  Teil  diese  schwarze  Verehrerin,  an  der  ihn 
schon  der  ungewohnte  Typus  lockt,  nicht  ems,  zwei,  drei 

194 


nimmt  und  dann  ruhig  zu  seinen  Statuen  zurückkehrt,  Hegt 
nur  daran,  daß  im  Augenblick  wichtigere  Dinge  um  ihn  vor* 
gehen.  Denn  sonst  ist  er  so.  Ein  strammer,  kurznackiger 
Kerl.  Voll  schmunzelnder  Schalkhaftigkeit,  aber  klug  und 
ernst  und  zuverlässig,  wo  es  darauf  ankommt.  Da  er  in  jeder 
Hinsicht  auf  sich  zählen  kann,  so  darf  er  sich  gelegentlich 
verlieren.  Man  läßt  sich  fallen  —  trotzdem  man  weiß,  was 
man  an  einer  solchen  Lucie  hat;  man  hebt  sich  auf  —  aber 
nicht  nur,  weil  man  solche  Lucie  hat.  Die  Hauptsache  ist 
daß  man  Richtung  behält.  Maurer  behält  Richtung  weil  Manns 
genug  und  wohl  auch  Künstlers  genug  in  ihm  ist. 

Gabriel  Schilling  ist  anders.  Wenn  das  Stück  beginnt, 
flieht  er  vor  seinen  beiden  Frauen  auf  die  Insel;  wenn  es 
authört,  ist  er  vor  ihnen  ins  Wasser  geflohen.  Es  blieb  ihm 
nicht  viel  übrig.  Seine  angetraute  Eveline  ist  ein  abgehärmter 
deutscher  Dürrling,  vor  dem  freilich  der  stärkste  Mann  die 
Flucht  ergreifen  würde;  und  mit  Hanna  Elias  läßt  sich  nicht 
leben,  weil  Eveline  da  ist,  vor  dem  kranken  Mann  ihren  Haß, 
ihren  dicken,  geschwollenen  Vipernhaß  auf  die  Nebenbuh* 
lerin  aus  sich  herausgeifert  und  diese  dadurch  zwingt,  des* 
gleichen  zu  tun.  Hauptmann  übertreibt  nicht,  verzerrt  nicht, 
verallgemeinert  nicht.  Er  entfesselt  zwei  Frauen,  die  das 
Schicksal  haben,  denselben  Mann  zu  lieben,  entfesselt  sie 
bis  zur  Raserei.  Er  verurteilt  sie  nicht,  er  beurteilt  sie  nicht 
einmal.  Er  sagt,  wie  Eveline  aussieht,  und  wir  wissen,  was 
ein  Maler  an  ihr  haben  wird.  Hanna  wieder  gestaltet  er  durch 
die  grundverschiedenen  Empfindungen,  die  sie  weckt.  Maurer 
ist  ihr  Feind,  weil  sie  seinen  Freund  entnervt.  Die  Majakin 
hängt  an  ihr  in  jugendlicher  Schwärmerei.  Lucie  kann  ihr 
nicht  böse  sein,  weil  sie  alles,  also  auch  dieses  arme  Geschöpf 
versteht.  Schilling  selber  war  ihrer  Intellektualität,  ihrer  spie* 
lerischen  Verlogenheit,  ihrem  hysterischen  Temperament,  ihrer 
Schneekühle,  ihrer  wächsernen  Blässe,  ihrer  orientalischen 
Faulheit,  der  Exotik  ihres  Blutes  und  ihres  Geistes  verfallen. 
Dann  aber  steht  er  plötzlich  vor  den  beiden  losgelassenen 
Hyänen,  bewegungslos,  mit  weit  aufgerissenen  Augen  voll 

13»  195 


Wasser,  vom  Ekel  gewürgt,  mit  unendlichem  Grauen  im 
bleichen  Gesicht  —  und  findet  dieses  Leben  keinen  Augen- 
blick  mehr  lebenswert.  Er  hat  nicht  Richtung  behalten,  weil 
nicht  Manns  genug  und  wohl  auch  nicht  Künstlers  genug 
in  ihm  war. 

Man  hat  darum  ihn  mit  Johannes  Vockerat,  das  Drama 
mit  den  , Einsamen  Menschen'  verglichen.  Zu  einer  Ver* 
gleichung  der  äußeren  und  inneren  Vorgänge  böten  höchstens 
ein  paar  zufällige  Gemeinsamkeiten,  zu  einer  Vergleichung 
der  Kunstwerte  bietet  meines  Erachtens  nichts  einen  Anlaß. 
Der  junge  Hauptmann  hat  nicht  gekonnt,  was  er  gewollt 
hat.  Der  reife  Hauptmann  hat  vielleicht  nicht  gemacht,  was 
er  gewollt,  aber  vollkommen  gekonnt,  was  er  gemacht  hat. 
Der  junge  Hauptmann  will  einen  geistigen  Entscheidungs* 
kämpf  zum  tragischen  Abschluß  bringen  —  und  läßt  geistige 
Energielosigkeit  sich  zu  Tode  ermatten.  Sie  ist  das  Gepräge 
jenes  Werkes.  Johannes  Vockerat  wimmert  und  poltert  sich 
durch  fünf  Akte,  daß  es  ein  Graus  ist.  Er  klagt,  daß  man 
ihn  gebrochen  hat,  ohne  daß  je  ein  Knochen  in  ihm  gewesen 
wäre,  der  gebrochen  werden  konnte.  Er  verlangt  die  zarteste 
Rücksicht  und  behandelt  Frau  und  Mutter  mit  einer  flegel* 
haften  Brutalität,  die  auch  die  unbestrittenste  Gelehrtengröße 
nicht  entschuldigen  würde,  und  die  bei  einigem  menschlichen 
Wert  unmöglich  wäre.  Den  Beweis  für  diese  Größe  und 
diesen  Wert  brauchte  er  nicht  ausdrücklich  zu  führen;  aber 
er  führt  ja  mit  jedem  Wort  und  jeder  Handlung  den  Gegen* 
beweis,  Johannes  Vockerat  ist  im  Kern  mißraten,  ein  Jammer* 
ling,  dem  man  nicht  einmal  die  Fähigkeit  zum  Selbstmord 
zutraut,  und  mit  ihm  steht  und  fällt  die  Tragödie. 

Dagegen  sehe  und  höre  man  Gabriel  Schilling  an.  Ge# 
wiß:  auch  er  ist  durch  und  durch  hilflos  und  deshalb  schließ* 
lieh  wert,  daß  er  zugrunde  geht.  Aber  er  hat,  was  Johannes 
Vockerat  niemals  hat:  er  hat  von  Anfang  bis  zu  Ende  unseren 
Anteil,  den  er  sich  durch  kein  unvornehmes,  kein  protziges 
Wort  verscherzt.  Es  ist  eine  stille  Trauer  um  ihn,  die  noble 
Schwermut  eines  Kunstmenschen,  bei  dem  es  zum  Künstler 

196 


nicht  gereicht  hat.  Er  klagt  keinen  an  und  jammert  nicht 
eigenthch,  sondern  hängt  höchstens  schwächHchen  Ahweiber* 
Sommermeditationen  nach,  die  sich  nicht  als  Weisheiten  aus* 
geben  und  von  ihm  selbst  und  den  anderen  durchschaut  wer* 
den.  Er  weiß  um  sich  Bescheid,  weiß,  daß  es  zu  spät,  daß 
seine  Existenz  verpfuscht  ist,  und  zieht  die  Konsequenz. 
Der  Zwanziger  Vockerat  begeht  mit  seinem  Selbstmord  ein 
Verbrechen  an  seinen  Eltern,  seiner  Frau  und  seinem  Kind. 
Der  Selbstmord  des  \^erzigers  Schilling  ist  eine  mutige,  rein* 
liehe  Tat.  Die  herrliche  Lucie  spricht  auch  hier  das  erlösende 
Wort.  Sie  hat  den  Maler  gern  gehabt  und  seine  Leiden  mit* 
gelitten.  Aber  eben  deshalb  gesteht  sie  vor  seiner  unerkalteten 
Leiche  mit  dem  ganzen  Freimut  ihrer  klaren  Seele,  daß  ein 
neues,  frisches  Gefühl  über  sie  komme,  weil  sie  glaube,  daß 
Schilling  jetzt  für  ewig  geborgen  sei.  Über  die  Welt  der  un* 
selig*untauglichen  erhebt  sich  in  Wort  und  Tat  die  Welt  der 
tauglichen  und  darum  glücklichen  Menschen,  „Manche  frei:! 
lieh  müssen  drunten  sterben.  Wo  die  schweren  Ruder  der 
Schiffe  streifen.  Andere  wohnen  bei  dem  Steuer  droben,  Ken* 
nen  Vogelflug  und  die  Länder  der  Sterne  .  .  .  Doch  ein 
Schatten  fällt  von  jenen  Leben  In  die  anderen  Leben  hinüber. 
Und  die  leichten  sind  an  die  schweren  Wie  an  Luft  und  Erde 
gebunden."  Auch  diese  Verse  —  von  denen  man  wünscht,  daß 
jeder  sie  kennt  oder  zum  mindesten  als  Hofmannsthalisch 
erkennt  —  auch  sie  gäben  für  .Gabriel  Schillings  Flucht'  ein 
passenderes  Motto  ab  als  das  Zufallswort  des  Plutarch.  Es 
ist  wundervoll,  mit  welcher  gelassenen  Sicherheit,  mit  welcher 
meisterlichen  Bildnerruhe  Hauptmann  seine  beiden  Welten 
formt,  wie  er  sie  auf  einander  wirken,  einander  durchdringen, 
wie  er  die  eine  von  der  anderen  betrübt  und  getrübt,  die 
andere  von  der  einen  vorübergehend  gehoben  und  doch  nicht 
gerettet  werden  läßt.  Das  Meer,  das  deutsche  Meer,  macht 
zu  diesen  Kämpfen  eine  stimmende  und  verstärkende  Begleit* 
musik.  Es  ist,  alles  in  allem,  bester  alter  Hauptmann.  Der 
Dichter  erwähnt  irgendwo  die  Eigenschaft  des  ,Wafelns',  die 
Fähigkeit,   mit  dem    zweiten   Gesicht  zu   sehen.    Er  hat  in 

197 


seinem  letzten  Jahrzehnt  häufig  den  Fehler  begangen,  zu  wa* 
fein  —  den  Fehler,  weil  er  diese  Fähigkeit  in  Wahrheit  gar 
nicht  hat,  sondern  nur  den  Wunsch,  sie  zu  haben.  Hier  sieht 
er  einfach  wieder  mit  seinen  klaren  Menschen*  und  Künstler* 
äugen,  und  was  er  sieht  —  es  sei,  wie  es  wolle,  es  ist  doch 
so  schön. 

Dieses  Drama  stammt  aus  dem  Jahre  1906  und  ist  bis  zum 
Jahre  1912  unbekannt  geblieben,  weil  Hauptmann  eine  Auf* 
führung  „mehr  gescheut  als  gewünscht"  hat.  In  sechs  Jahren 
hat  sich  wenigstens  die  Scheu  vor  der  Veröffentlichung  ver* 
flüchtigt.  Die  Scheu  vor  der  Aufführung  schwindet  schneller. 
Noch  in  der  Begleitnotiz  zum  ersten  Abdruck  behauptet  der 
Dichter,  daß  eine  „einmaHge  Aufführung  vollkommenster 
Art  im  intimsten  Theaterraum"  sein  „unerfüllbarer  Wunsch" 
sei.  Wie?  Kann  er  sich  und  seine  Geltung  wirklich  so  unter* 
schätzen?  Sobald  er  diesen  Wunsch  dem  Direktor  der  Kam* 
merspiele  geäußert  hat,  ist  er  erfüllt.  Hauptmann  nun  äußert 
nichts  dergleichen,  sondern  erklärt  aufs  entschiedenste,  daß 
er  das  Drama  keinesfalls  „auf  den  Hasardtisch  einer  Premiere" 
würde  legen  mögen.  Im  Januar  1912.  Ein  Viertel] ährchen 
später  liest  mans  anders.  Da  wissen  die  Gazetten  zu  melden, 
daß  der  Hasardtisch  in  Lauchstedt  aufgeschlagen  wird,  daß 
gleich  drei  Aufführungen  stattfinden,  daß  Festspielpreise  er* 
hoben  werden,  daß  Sonderzüge  laufen,  und  daß  man  dabei 
gewesen  sein  muß.  Von  allen  zweiundzwanzig  Dramen  Ger* 
hart  Hauptmanns  ist  schließlich  rücht  eins  mit  solchem  Trara 
vorbereitet  worden  wie  dieses,  das  ursprünglich  „keine  An* 
gelegenheit  für  das  große  Publikum,  sondern  für  die  reine 
Passivität  und  Innerlichkeit  eines  kleinen  Kreises"  sein  sollte. 
Reinheit?  InnerHchkeit?  Beseht  die  Gönner  in  der  Nähe! 
Es  gab  in  Lauchstedt  vorder  Vorstellung  Zusammenrottungen^ 
deren  geräuschvolle  Mitglieder  die  Verabredung  trafen,  den 
angebrochenen  Nachmittag  mit  einer  Pokerpartie  zu  be* 
schließen;  und  man  suchte  vergebfich  die  Jugend,  die  in 
Berlin  gegen  diese  Sippschaft  das  Gegengewicht   zu  bilden 

198 


pflegt.  Aber  es  war  doch  wohl  von  vornherein  sicher,  daß 
das  Unternehmen  durch  seine  Seltenheit  alle  Protzen  und 
Snobs  herbeilocken,  durch  seine  Kostspieligkeit  die  empfang* 
lichsten  Elemente  fernhalten  würde. 

Das  spürt  man  außerdem  gleich,  wenn  man  ankommt: 
gegen  das  Theater  der  Vergangenheit,  das  überall  auflebt, 
wird  es  das  Theater  der  Gegenwart  nicht  ganz  leicht  haben. 
Erinnerungen  auf  Schritt  und  Tritt:  an  Schiller  und  an  Goethe, 
an  den  siebzehnjährigen  Studenten  Joseph  von  Eichendorff 
und  den  einundzwanzigjährigen  Richard  Wagner,  der  hier 
als  Kapellmeister  beginnt,  ,Don  Juan'  und  ,Lumpacivaga* 
bundus'  dirigiert  und,  zu  seinem  Unheil,  Minna  Planer  ken* 
nen  lernt.  Dergleichen  schaflFt  schon  eine  Atmosphäre.  Aber 
auch  sonst  könnte  man  nicht  ergründen,  weshalb  der  Ort  auf 
Wagner  einen,  wie  er  sich  in  seinen  Memoiren  ausdrückt, 
„sehr  bedenklichen  Eindruck"  gemacht  hat.  So  winzige  deut* 
sehe  Städte  wie  dieses  Lauchstedt  sind  eigentlich  immer 
irgendwie  schön.  ^X^^le  lieblich  ist  dieser  kleine  Kurpark  mit 
seinen  schmalen  Arkaden,  seinen  alten  hohen  Kastanien,  mit 
seinem  einfachen  Brunnenhäuschen  und  seinem  weidenum* 
standenen  Schwanenteich!  Wie  atmet  rings  Gefühl  der  Stille 
(solange  keine  Berliner  da  sind)!  Das  Theaterchen  scheint 
aus  der  Spielzeugschachtel  genommen:  ein  adrettes,  stumpf* 
gelbes,  längliches  Häuschen,  dem  man  von  außen  gar  nicht  ein 
so  ausgiebiges  Parkett  und  am  allerwenigsten  noch  einen 
Balkon  und  Logen  zutraut.  Trotzdem  müssen  unsere  Vor* 
fahren  auf  einander  gesessen  und  gestanden  haben,  wenn  tat* 
sächlich,  wie  Goethe  erzählt,  auf  einmal  gegen  tausend  Per* 
sonen  in  diesen  Zuschauerraum  gingen.  Er  ist  vor  vier  Jahren 
frisch  und  hell  gestrichen  worden;  aber  die  Patina  hat  zum 
Glück  nicht  übertüncht  werden  können.  Der  schmale  und 
kahle  Wandelgang  wird  durch  Kupfer  zum  ,Wallenstein'  und 
durch  gerahmte  Theaterzettel  aufgemuntert,  aus  denen  man 
erfährt,  daß  die  , Räuber'  hier  unter  dem  Titel  ,Carl  Moor' 
aufgeführt  wurden,  weil  sonst  am  Ende  die  Studentenschaft 
revolutioniert  worden  wäre;   daß  auf  diesen  paar  Quadrat* 

199 


meiern  Holz  ,Götz  von  Berlichingen',  Julius  Caesar*,  die 
Jungfrau  von  Orleans',  offenbar  ohne  Dekorationen,  unter* 
zubringen  waren;  und  daß  die  Plätze,  die  heute  Stück  für 
Stück  zehn  Mark  kosten,  in  jenen  löblichen  Zeiten  vier  bis 
sechzehn  Silbergroschen  gekostet  haben. 

Hat  Max  Liebermann  es  für  nützlich  und  möglich  gehal* 
ten,  einen  Hauch  von  jenen  Zeiten  zu  beschwören,  einen  Zu* 
sammenhang  zwischen  Saal  und  Bühne  herzustellen,  indem 
er  Gardinen,  Bettstellen  und  Kommoden  auf  die  Kulissen 
malte  und  diese  selber  auf  recht  altvaterische  Manier  be# 
handelte?  Dergleichen  war  schwerlich  seine  Absicht.  Auch 
ihm  wird  es  wichtiger  erschienen  sein,  zwischen  diesem  Bühn# 
chen  und  dieser  Dichtung  den  Zusammenhang  herzustellen. 
Er  hat  sich  einfach  den  Raumverhältnissen  angepaßt  und 
eine  Bettstelle  gemalt,  weil  ein  einziges  richtiges  Möbel  das 
Bühnchen  vielleicht  nicht  ausgefüllt,  aber  keinesfalls  sechs 
Personen  Platz  zu  einer  leidenschaftlich  bewegten  Szene  ge# 
lassen  hätte.  In  den  Strandbildern  wieder  hat  er  sich  damit 
begnügen  müssen,  die  stille  Trauer  des  dramatischen  Spiels 
zu  fixieren.  Es  wird  lebendig,  wovor  diese  Menschen  flie# 
hen,  nicht  wohin  sie  sich  retten;  was  ihnen  das  Herz  he^ 
drückt,  nicht  was  ihnen  die  Seele  weitet:  das  Meer.  Wenn 
es  bei  Hauptmann  zu  den  Kämpfen  der  freien  und  der  un* 
freien  Erdenkinder  eine  stimmende  und  verstärkende  Begleit* 
musik  macht,  so  ist  diese  Musik  bei  Liebermann  zu  einem 
undeutlichen  Gemurmel  abgeschwächt.  Ohne  seine  Schuld. 
Kein  Zweifel  nach  dieser  Probe,  bei  dem  lichten  Ton  sei* 
ner  Prospekte,  der  Festigkeit  seiner  Linienführung  und  dem 
angeborenen  Zug  zur  Schlichtheit  und  Selbstverständlich* 
keit  der  Natur  —  kein  Zweifel,  daß  er  der  berufene  Helfer 
für  den  Hausdichter  des  Lessingtheaters  wäre,  dem  in  Goe* 
thes  Theater  nicht  recht  zu  helfen  war.  Aber  selbst  ange* 
nommen,  daß  man  Gabriel  Schillings  Flucht  ins  Meer  ohne 
Meer  spielen  kann:  ohne  Gabriel  Schilling  kann  man  sie 
nicht  spielen. 

Die  Frauen  waren  ihres  Dichters  würdig;  alle  vier.    Sie 

200 


kamen  von  vier  Bühnen  und  schienen  von  einer  zu  kommen. 
Soweit  in  dieser  ziemlich  schleppenden  Aufführung  die  Ar« 
beit  eines  Regisseurs  zu  merken  war,  war  sie  hier  zu  merken. 
Gegen  zwei  Russinnen  haben  zwei  Deutsche  zu  stehen. 
Fräulein  Gina  Mayer  als  das  blutjunge  Fräulein  Majakin  hat 
ganz  die  Feinheit,  die  ihre  reife  Freundin  Hanna  Elias  gar 
nicht  haben  soll,  und  die  Frau  Durieux  im  x\nfang  nicht 
völlig  unterdrückt.  Aber  vielleicht  ist  es  eine  Schauspiele* 
rische  Finesse,  daß  sie  erst  nach  und  nach  die  Züge  zu  dem 
Bilde  liefert,  das  man  sich  aus  den  Schilderungen  ihrer  Mit« 
menschen  von  ihr  gemacht  hat.  Sie  spricht  mit  berückend 
tiefer  Stimme  und  tanzt  verführerisch,  selbst  wenn  sie  sitzt. 
So  sehen  lemurische  Nachtgespenster  aus?  Dann  versteht 
man  Schilling,  der  dieser  Hanna  verfallen  ist.  x\ber  sobald 
sie  gekratzt  wird,  kommt  die  Tatarin  zum  Vorschein  und 
rast  entsetzlich  und  mordsordinär.  Frau  Bertens  singt  die 
andere  Stimme  in  dieser  schaurigen  Katzenmusik.  Sie  mutet 
nicht  gerade  deutsch  an,  sondern  eigentlich  auch  slawisch. 
Es  schadet  nichts.  Sie  ist  so  zerbeult  und  zerknujEFt  und  zer? 
grämt,  so  kleinbürgerlich  giftig  und  so  befähigt,  ihr  Gift  zu 
tödlicher  "Wirkung  in  schmerzende  Wunden  zu  senden,  daß 
durch  sie  an  der  Dichtung  klar  wird,  was  bis  dahin  etwa 
nicht  klar  war.  Höchstens  daß  sie  ein  bißchen  zu  alt  scheint  — 
wie  Helene  Thimig  für  Lucie  Heil  um  drei,  vier  Jahre  zu 
jung  ist.  Der  liebenswürdigste  Fehler,  der  sich  einer  Schau« 
Spielerin  nachsagen  läßt.  Sonst  ist  dieses  blonde,  warme,  feste 
und  doch  zarte  Stück  Natur  wie  geschaffen  für  Hauptmanns 
Gestalt.  Ihr  Blick  strahlt  Güte  und  Klugheit,  und  ihre  frohe, 
entschiedene  Mädchenstimme  reinigt  die  Luft  von  allen  Ba« 
zillen  des  Hasses. 

Aber  was  hilft  dies  und  das  und  noch  mehr,  da  Maurer 
nur  in  Duodez  und  Schilling  gar  nicht  vorhanden  ist!  Der 
lustige  Herr  Gebühr  hat  nicht  die  menschliche  Schwere  für 
einen  Mann  von  vierzig  Jahren,  der  sich  Leben  und  Kunst 
und  Weiber  und  Weib  nach  seinem  Willen  gezwungen  hat. 
Ihn  erhebt  über  Hauptmanns  Schilling  nichts  als  die  kreuz« 

201 


fidele  Unempfindlichkeit  eines  verfetteten  Bourgeois.  Aber 
gegen  Herrn  Grunwalds  Schilling  ist  selbst  so  einer  ein  nütz* 
liches  Mitglied  der  menschlichen  Gesellschaft.  Es  wäre  un« 
gerecht,  den  vortrefflichen  Darsteller  komischer  Chargen  zu 
tadeln,  weil  er  einer  Rolle  nicht  gewachsen  ist,  für  die  Sauer 
gerade  gut  genug  wäre.  Wenn  schon  getadelt  werden  muß, 
dann  mögen  Hauptmann  und  seine  Berater  vor  Herrn  Grün* 
wald  treten,  der  sich  gewiß  die  Seele  aus  dem  Leibe  gespielt 
hat.  Leider  hat  er  keine.  Er  kann  sie  nicht  einmal  vortäu* 
sehen.  Solch  ein  Grad  von  Untransparenz  ist  unwahrscheinlich. 
Schillings  Nerven  müssen  bloß  zutage  liegen.  Herr  Grunwald 
schminkt  sich  kreideweiß  und  unterscheidet  weder  den  er* 
starrten  von  dem  erwachten  noch  diesen  von  dem  todbereiten 
Schilling,  Allenfalls  .schreitet'  er  ,visionär'.  Man  weiß  nicht, 
was  dieser  Maler  mit  Kunst  zu  tun  hat,  und  man  begreift 
nicht,  weshalb  sich  um  diesen  Mann  zwei  Frauen  reißen  und 
zerreißen.  Damit  verliert  die  Figur  ihren  Sinn,  die  Dichtung 
ihre  Überzeugungskraft.  Damit  hatte  aber  auch  die  Auffüh* 
rung  ihre  Existenzberechtigung  verloren.  Wer  nach  Lauch« 
stedt  gekommen  war,  um  .Gabriel  Schillings  Flucht'  über* 
haupt  erst  kennen  zu  lernen,  war  vergeblich  gekommen,  da 
er  ein  falsches  Stück  zu  sehen  bekam.  Wer  sich  nach  der 
Lektüre  den  Eindruck  von  vollendeter  Bühnenfähigkeit  be* 
stätigen  oder  abschwächen  lassen  wollte,  war  gleichfalls  ver* 
geblich  gekommen,  da  der  Eindruck  dieser  Aufführung  nicht 
maßgebend  sein  kann.  Ihr  Ertrag  ist,  daß  Hauptmann  seine 
Scheu  überwunden  hat:  er  legt  das  Werk  auf  den  Tisch 
Otto  Brahms,  der  nun  kein  Hasardtisch  mehr,  ist. 

DER  WEDEKIND*ZYKLUS 

Wenn  Reinhardt  uns  und  sich  das  Versprechen  erfüllt, 
im  Herbst  dieses  Jahres  den  Wedekind*Zyklus  zu 
wiederholen,  so  ist  es  möglich,  daß  er  ihn  vervollständigt, 
eine  chronologische  Ordnung  hineinbringt  und  seine  stärk* 
sten  Schauspieler  dazu  hergibt.   Das  alles  würde  mancherlei 

202 


für  sich  haben.  Die  Besonderheit  eines  , Zyklus'  und  das 
Ansehen  des  Deutschen  Theaters:  beides  würde  gewahrt 
bleiben.  Wer  Wedekinds  Entwicklung  nicht  kennt,  könnte 
sie  hier  kennen  lernen;  und  wer  für  seine  Wirkungen  als 
Darsteller  oder  Sprecher  der  eigenen  , Ideen'  stumpf  ist,  könnte 
sich  an  den  regelrechten  Leistungen  großer  Berufsschauspieler 
schadlos  halten.  Aber  es  fragt  sich,  ob  der  überraschende, 
der  ungeahnte  Erfolg  dieses  ersten  Versuchs  nicht  auch  auf 
seine  Mangelhaftigkeit,  seine  Überstürztheit,  seinen  durch* 
aus  fragmentarischen  Charakter  zurückzuführen  ist.  Es  fragt 
sich,  ob  der  erregende  Atem  von  Wedekinds  Wesen,  der 
aus  diesen  sechs  nachhinkenden,  schlecht  vorbereiteten,  schäbig 
eingekleideten,  stillosen  oder  bestenfalls  stilwirren  Vorstellung 
gen  herausschlug,  nicht  leiden  würde  durch  den  ganzen  um* 
ständlichen  Apparat  einer  eingereihten,  durchgearbeiteten,  her« 
ausgeputzten,  in  jedem  Sinne  würdigen  Veranstaltung.  Es  fragt 
sich  wirklich.  Denn  so  gewiß  Reinhardt  sich  nicht  zur  För* 
derung  des  NX^edekind^Zyklus  mit  der  Auslese  seiner  Truppe 
nach  Frankreich  begeben  hatte:  so  gewiß  war  gerade  diese 
ofifenkundige  Interesselosigkeit  wie  eine  letzte  Rechtfertigung 
für  den  Wedekind,  der  sich  unterschätzt,  verfolgt,  gefoltert 
glaubt  und  sich  deshalb  unter  markerschütterndem  Geschrei 
die  Kleider  vom  Leibe  und  die  Brust  aufreißt.  Man  hat  ihn 
diesmal  endlich  angehört,  beweint,  bezahlt,  gefeiert  und  zum 
Teil  vielleicht  sogar  verstanden.  Er  ist,  nach  zwanzigjährigem 
Kampf,  mit  diesem  Zyklus  , durchgedrungen'.  Aber  ist  es 
ausgeschlossen,  daß  das  Glück,  ein  so  fragwürdiges  Glück, 
zugleich  sein  Ende  ist?  Vor  noch  nicht  drei  Jahren  bot 
Bruno  Cassirer  seine  Werke  feil  und  trat  sie  einem  anderen 
Verleger  ab:  dabei  ließ  sich  leben.  Jetzt  hat  Paul  Cassirer 
ihm  ein  Fest  gegeben :  das  ist  Grund  zum  Selbstmord.  Trotz* 
dem:  Hoffen  wir  auf  Wedekind!  Er  wird  selber  fühlen,  daß 
eine  begüterte  Angesehenheit  die  Sphäre  ist,  in  der  seine  ja* 
kobinische  Frechheit  zu  königstreuer  Friedlichkeit,  sein  bürger* 
schreckender  Satanismus  zu  langweiliger  Sentimentalität,  sein 
Philisterhaß  zur  Philisterähnlichkeit  werden  könnte  oder  gar 

203 


werden  müßte.  Als  Mitglied  der  Gesellschaft  wäre  Frank 
Wedekind  reizlos  und  wertlos.  Als  Feind  der  Gesellschaft 
war  er  ein  originaler  Künstler  oder  richtiger  wohl :  ein  künst# 
lerisches  Original.  Wer  das  etwa  nicht  gewußt  hat,  dem  hat 
dieser  Zyklus  es  bewiesen.  Dessen  sechs  Dramen  gehören 
drei  verschiedenen  Perioden  an:  der  »Erdgeist'  von  1895  und 
der  , Marquis  von  Keith'  von  1900  der  Periode  der  Meister* 
Schaft;  ,So  ist  das  Leben'  von  1903  und  .Hidalla'  von  1904 
der  Periode  der  angstvollen  Selbstbemitleidung;  ,Musik'  von 
1907  und  ,Oaha'  von  1908  der  Periode  der  beginnenden 
Rückkehr.  Selbst  die  schwächste  dieser  Arbeiten  ist  durch 
den  Schein,  der  von  den  anderen  auf  sie  fiel,  und  durch 
Wedekinds  Interpretation  irgendwie  belangvoll  und  auf* 
schlußreich  geworden. 

Die  schwächste  ist  ,Oaha',  weil  von  vier  Akten  nicht 
zwei,  und  obendrein  die  letzten  beiden,  versagen  dürfen. 
In  diesen  beiden  Akten  ermattet  zwar  nicht  die  Wirbelwind* 
verve  der  Personen,  aber  der  Geist  ihres  Ersinners.  Die  eben 
noch  atemlos  die  blitzenden  Klingen  des  witzigen  Wortes 
kreuzten,  scheinen  plötzlich,  bei  unverminderter  Atemlosig* 
keit,  Besenstiele  in  den  Händen  zu  halten.  Bis  dahin  hatte 
Wedekind  mit  einer  unbeweglichen,  manchmal  wie  ver* 
steinerten  Boshaftigkeit  auf  die  Menschen  gesehen,  an  denen 
er  sich  rächen  wollte:  auf  die  Mitarbeiter  des  ,Simplicissi* 
mus',  auf  dessen  Begründer  und  auf  seine  Sippe.  Unter  dem 
kalten  Blick  seines  Hasses  wurden  Künstler  zu  Kretins,  smarte 
Geschäftsleute  zu  schmierigen  Schurken,  europäische  Dichter 
zu  salbungsvollen  Komödianten.  Ob  ihnen  damit  Unrecht 
geschah,  ob  sie  die  Hiebe  verdienten,  war  gleichgültig.  Wichtig 
war  nur,  daß  sie  als  Dramenfiguren  lebten.  Die  ersten  beiden 
Akte  gelangen  Wedekind  so  vollständig,  daß  er  entgiftet 
sein  konnte.  Er  war  es  nicht.  Er  drosch  weiter  —  ohne  Maß, 
ohne  Selbstkontrolle,  allmählich  erhitzt  und  mit  verzerrtem 
Gesicht,  also  ohne  Schlagkraft.  Der  Satiriker  mag  aus  Wut 
an  die  Arbeit  gehen;  aber  er  darf  nicht  bei  der  Arbeit  wütend 
bleiben,  wenn  er  nicht  als  ein  Kläfferchen  erscheinen  will. 

204 


Davor  ist  Wedekind  durch  seine  Schauspielkunst  und  durch 
unsere  Erinnerung  an  seine  anderen  Werke  geschützt.  Außer« 
halb  dieses  Zyklus,  für  sich  allein  ist  ,Oaha'  zu  schwach. 

Wie  vor  vier  Jahren  , Musik'  zu  schwach  gewesen  ist. 
Damals  sah  es  aus,  als  ob  Wedekind  einen  Vorfall  des  Tages 
zu  einer  grimmigen  Kolportagedramatik  verarbeitet  habe, 
um  gegen  den  Paragraphen  Zweihundertachtzehn  des  Straf« 
gesetzbuches  zu  protestieren.  Vielleicht  war  die  Aufführung 
falsch ;  vielleicht  hatten  wir  uns  falsch  eingestellt.  Jetzt  wenig* 
stens,  wo  der  tatsächliche  Anlaß  des  Stückes  längst  vergessen 
ist  und  Wedekind  selber  es  inszeniert  hat  und  spielt  —  jetzt 
fühlen  wir  uns  von  keiner  fördersamen  Tendenz  belästigt, 
finden  nichts  von  dem  nassen  Elend  des  Schauerstücks  und 
freuen  uns  an  den  karikaturistisch  verzogenen  Konturen. 
Wir  sehen  Wedekind  wieder  auf  dem  Wege  zu  seiner  Ver« 
gangenheit.  Eine  Ausbauchung  der  Linie  —  und  ein  sakro« 
sankter  Begriff  ist  entheiligt.  Eine  skurrile  Verkürzung  — 
und  ein  Ideal  ist  zerstört.  Durch  eine  Veränderung  des  Ge« 
sichtswinkels  wird  aus  Vernunft  Unvernunft,  aber  auch  aus 
Unvernunft  Vernunft;  aus  Clara  Hühnerwadel  ein  Gretchen 
und  aus  dieser  volksstückhaften,  volksliedhaften  Figur  wieder 
eine  Komikerin.  Rückwärts,  rückwärts,  Don  Rodrigo!  In 
,Oaha'  peitscht  er  lachend  auf  seine  Feinde  los,  bis  sein 
Arm,  zu  früh,  erlahmt,  und  in  ,Musik'  gibt  er,  wenngleich 
nicht  mit  solcher  Bildnerkraft  wie  ehedem,  jenen  Ernst  ohne 
Pathos,  der  sich  von  der  anderen  Seite  wie  Spaß  ausnimmt  — 
nachdem  er  ein  paar  Jahre  lang  über  sich  und  Gott  und  die 
Welt  gejammert  hatte. 

Des  sind  Zeugnisse:  ,Hidalla'  und  ,So  ist  das  Leben'. 
Was  diese  Dramen  wollen  und  sollen,  verkündet  die  eine 
Figur  mit  der  Seele  des  Dichters,  die  durch  die  Werke  aller 
mutigen  Bekenner  geht.  Bei  Byron  hieß  sie:  Manfred  oder 
Toscari  oder  Mazepa.  Bei  Wedekind  heißt  sie :  König  Nicolo 
und  Karl  Hetman.  Die  Angst,  daß  man  eines  Tages  über 
dem  Bänkelsänger  den  Dichter  in  ihm  vergessen  haben  könnte, 
hat  ihn  damals  gestachelt,  ein  Mal  ums  andere  Mal  poetische 

205 


Selbsteinschätzungen  zu  versuchen.  „Mir  ekeh  in  dieser  kur* 
zen  Spanne  Daseins  vor  Possenspiel."  In  dieser  Stimmung 
allegorisiert  er  sein  eigenes  Leben  mit  seinen  wirklichen  In* 
teressen  und  Konflikten,  mit  seinen  Nöten  und  Krämpfen, 
seinen  Scheinsiegen  und  seinen  Niederlagen.  Ein  verzwei* 
feltes  Gefühlsringen  wird  laut  und  lebendig.  Der  Adels* 
mensch  hält  der  Gier  und  der  Niedertracht  nicht  stand,  wird 
von  der  Meute  für  wahnsinnig  erklärt,  um  seines  Wahnsinns 
willen  von  einem  Zirkusdirektor  umworben  und  erhängt  sich 
daraufhin.  Das  ist  ,Hidalla'  oder  mindestens  der  Kern  dieses 
viel*,  aber  dünnhäutigen  Stücks.  Dem  König  Nicolo  von 
Umbrien  oder  dem  geistesköniglichen  Menschen  überhaupt 
gelingt  es  nicht  eher,  sich  in  diese  Welt  zu  schicken,  als  bis 
er  aufhört,  er  selbst  zu  sein,  und  anfängt,  sich  selbst  zu 
spielen.  Da  hat  er  Beifall.  Aber  man  glaubt  ihm  nicht,  daß 
sein  wahres  Wesen  nur  notgedrungen  die  Zuflucht  zu  dieser 
Art  der  Aeußerung  genommen  hat  —  und  das  ist  seine  Tra* 
gödie,  die  Tragödie  des  Künstlers,  der  den  Leuten  als  Schei« 
nender,  als  Königsvortäuscher  gilt  und  doch  zugleich  der  König 
ist.  Stets  wird  der  Schlächtermeister  herrschen,  und  der  König 
arm  und  verkannt  und  ganz  gering  und  unter  Masken  durch  die 
Lande  irren.   ,So  ist  das  Leben'  nicht  bloß  Wedekinds. 

Vorher,  und  später  wieder,  hat  dieser  Wedekind  unge* 
rührt  auf  das  keuchende  Gehudel  unter  sich  geblickt.  Hier 
aber  treiben  ihn  siedender  Ingrimm  und  Mitleid  mit  sich 
selber.  Seht  her:  Vor  euch  steht  einer,  der  sich  maßlos  quält, 
der  mit  dem  Gott  im  Himmel  und  dem  Gott  in  seiner  Brust, 
nicht  minder  heftig  als  Bellerophon  mit  der  Chimäre,  kämpft! 
Das  wird  so  inbrünstig  vorgetragen,  daß  ein  Zweifel  an  der 
Echtheit  dieser  Empfindungen  und  dem  Ernst  dieses  Kampfes 
gar  nicht  möglich  ist.  Leider  wird  es  nur  vorgetragen.  Auch 
jener  Bellerophon  saß  einstmals  auf  dem  Pegasus,  und  dieser 
Pegasus  hat  auch  unseren  Dichter  eines  Tages  unsanft  ab* 
geworfen.  In  der  Königstragödie  gibt  es  einzelne  unvergeß* 
liehe  Farbstücke,  wie  die  Elendenkirchweih,  die  in  fähige* 
spenstigem  Licht  märchenhaft  vorüberhuscht ;  gibt  es  einzelne 

206 


Szenen  von  ergreifend  grotesker  Kraft  wie  die  Gerichtsver* 
Handlung;  einzelne  Worte  von  einer  schmerzlichen  Fieber? 
Schönheit;  einzelne  Nebenfiguren  von  steifer  Unschuld  und 
knapper,  einfältiger  Leidenschaft.  Aber  alle  diese  Einzel« 
heiten  schießen  zu  keiner  Einheit  zusammen:  das  Werk  zer# 
rinnt  zu  phantastischem  Dunst,  zu  genialem  Spuk,  In  ,Hidalla' 
ist  eigentlich  nur  der  gaunerische  Verleger  Launhart,  dank 
Wedekinds  persönlicher  Antipathie,  fest  und  faßbar  geworden. 
Die  anderen  verschwinden  knochen*  und  umrißlos  in  einem 
dicken  Nebel,  einem  monotonen  Grau.  Diese  Verschwommen« 
heit  könnte  einen  phantasmagorischen  Charakter  haben.  In 
ihr  könnten  die  Gestalten  auf  ähnliche  Art  wesenhaft  sein, 
wie  die  bleichen  Seelen  der  Schattenheroen,  die  Odysseus 
in  der  Unterwelt  aufruft,  den  homerischen  Helden  vor  Troja 
gleichen.  Diese  Gestalten  aber  sind,  wie  logische  Schemata  oder 
mathematische  Zeichen,  für  die  Einbildungskraft  gar  nichts ; 
sie  sagen  nichts  weiter,  als  daß  sie  eben  nichts  sind.  Wenn 
der  konsequente  Naturalismus  mit  seinem  Wirklichkeitsfana« 
tismus  einen  Endpunkt  der  Kunst  bedeutete,  so  ist  diese 
Kunstübung  in  entgegengesetzter  Richtung  an  einem  Abgrund 
angelangt,  worin  abgenagt  und  ausgedörrt  abstrakte  Gedanken« 
typen  liegen.  Der  Rückweg  brauchte  gerade  Wedekind  nicht 
erst  gewiesen  zu  werden. 

Dieser  Rückweg  führt  zum  .Erdgeist'  und  zum  ,Marquis 
von  Keith'.  Die  sind  heute  beinah  schon  ,klassisch'.  Es  ist 
ja  kein  Zufall,  daß  in  ,Oaha'  Bouterwek,  in  .Musik'  Linde« 
kuh,  in  der  Königstragödie  Nicolo,  in  ,Hidalla*  Hetman  nur 
Pseudonyme  für  den  Namen  Wedekind  sind.  Diese  vier 
Stücke  sind  eben  künstlerisch  nicht  fertig  geworden  und  müssen 
vom  Autor  mehr  oder  minder  deutlich  kommentiert  werden. 
Wo  aber  ist  Wedekind  im  , Erdgeist'  und  im  »Marquis  von 
Keith'?  In  keiner  besonderen  Figur,  weil  er  in  jedem  Wort 
und  jedem  Winkel  ist.  Diese  beiden  Dramen  bilden  mit 
.Frühlings  Erwachen'  und  ,Der  Büchse  der  Pandora'  das  Teil 
von  Wedekind,  das  nicht  bloß  um  seines  biographisch* 
psychologischen  Wertes  willen   auf  die  Nachwelt  kommen 

207 


wird,  wie  etwa  ,Hidalla',  sondern  das  um  seines  aesthetischen 
Wertes  willen  der  Nachwelt  noch  eine  ganze  Weile  lebendig 
bleiben  wird.  Es  sei  denn,  daß  diese  Dramen  an  der  Armut 
ihrer  Ideen  —  das  heißt  keineswegs :  der  Armut  an  Ideen  — 
viel  früher  sterben,  als  wir  Zeitgenossen  des  Dichters  glauben 
möchten;  daß  Dramen  lebendig  bleiben  können,  die,  statt 
den  Sinn  des  Daseins  zu  deuten,  die  Sinnlosigkeit  des  Daseins 
wenn  auch  nicht  predigen,  so  doch  darstellen.  Der  Moral* 
reformator  Wedekind  ficht  mit  starken  Worten,  aber  ohne 
klare  oder  gar  neue  Gedanken  für  —  ja,  wofür  eigentlich? 
Er  trauert  um  die  verlorene  Schöne :  das  merkt  man  und  fühlt 
seine  Trauer  mit.  Nur  daß  er  wenig  an  ihre  Stelle  zu  setzen 
hat.  Man  müßte  ein  schlechtes  Ohr  für  den  Ursprung  von 
dichterischen  Wehklagen  haben,  um  nicht  zu  hören,  daß 
Wedekind  über  nichts  so  wehklagt  wie  über  seine  leeren 
Hände.  Seine  Dramen  bekommen  dadurch  allein  den  Stempel 
von  Geistigkeit,  daß  er  selber  ihren  Mangel  an  erlösender 
Geistigkeit  insgeheim  so  tief  empfindet.  Er  eröffnet  zum 
Beispiel  den  Freiheitskampf  der  Menschheit  für  den  Feuda* 
lismus  der  Liebe.  Einfacher  ausgedrückt:  er  ist  der  Meinung, 
daß  die  Unberührtheit  des  jungen  Weibes  zu  hoch  einge* 
schätzt  wird ;  daß  die  Zeit  nicht  fern  ist,  wo  die  Gesellschaft 
die  Lebensführung  der  Mädchen  nicht  mehr  überwachen  wird, 
um  ihre  geistige  und  körperliche  Entwicklung  möglichst  zu 
hindern,  sondern  um  sie  möglichst  zu  fördern.  Sollte  Wede# 
kind  nun  wirklich  nicht  wissen,  daß  —  von  Friedrich  Schlegel 
und  George  Sand  gar  nicht  zu  reden  —  vor  zwanzig  Jahren  die 
gute  Laura  Marholm  es  liebte,  auf  dieselbe  Weise  und  zum 
selben  Ziel  ihre  Schwestern  zu  entflammen?  Damals  sprach 
man  von  der  Sünde,  die  nie  vergeben  wird:  von  Evas  Sünde 
gegen  ihr  Geschlecht.  So  oder  so :  es  ist  nicht  eben  bestürzend, 
dergleichen  heute  zu  sagen.  Aber  für  Jahrzehnte  oder  zum 
mindesten  für  die  Mitwelt  verdienstlich  ist  es,  ein  Pandae* 
monium  unserer  Zeit  aus  sich  herauszuschleudern  wie  den 
, Marquis  von  Keith'  und  ein  Organ  für  das  Wesen  der  dra* 
matischen  Form,  für  den  spezifisch  dramatischen  Ausdruck 

208 


eines  tragischen  Weltbilds  zu  bewähren,  wie  es  Wedekind 
in  dem  Crescendo  des  , Erdgeists'  bewährt  hat. 

Wenn  dann  noch  er  selbst  .  .  .  Der  Schauspieler  Wede# 
kind  war  vom  ersten  Tag  an  eine  Schwärmerei  von  mir,  trotz* 
dem  oder  weil  er  gar  kein  Schauspieler  war.  „Es  ist  ein  großer 
Unterschied",  läßt  er  in  ,Hidalla'  zu  sich  selber  sagen,  „ob 
Sie  Ihre  Lehren  in  Ihrer  begeisterten  Sprache  zum  Vortrag 
bringen,  oder  ob  man  sie  Schwarz  auf  Weiß  vor  sich  sieht." 
Der , ungelernte'  Schauspieler  Wedekind  bannt  mit  der  Macht 
und  dem  Nachdruck  einer  unwiderstehlichen  Hypnose.  Wie 
erreicht  er  das?  Bei  einer  bestimmten  Replik  seines  Kammer* 
Sängers,  die  er  sehr  erregt  sprechen  könnte,  ist  angegeben, 
daß  er  sie  ,,sehr  sachlich"  spricht.  Das  ist  das  Kennwort  für 
Wedekind.  Die  Prinzipien  eines  Künstlers  sind  die  Ver* 
Schleierungen  seiner  Schwächen.  Wedekind  hat  sich  von 
vornherein  mit  einsichtiger  Beschränkung  zum  sachlichen 
Sprecher  erzogen  —  wahrscheinlich  weil  er  nicht  hoffte,  je* 
mals  ein  gestaltender  Schauspieler  zu  werden.  Er  hatte  mit 
der  Ungefügigkeit  seines  Körpers,  mit  der  Plumpheit  seines 
Ganges,  mit  der  Befangenheit  seiner  Gebärden  und  mit  der 
Widerspenstigkeit  seines  Gedächtnisses  zu  verzweifelt  zu 
kämpfen,  als  daß  zunächst  die  Illusion  eines  lebendigen 
Menschen  entstehen  konnte.  x\ber  er  kämpfte  auch  wirklich 
.verzweifelt'.  Das  gab  ihm  schon  vor  Jahren  diese  erstaun* 
liehe  Intensität,  die  seine  Zuhörer  vor  der  Bühne  und  auf 
der  Bühne  hinriß  (und  namentlich  seine  Frau  der  Reihe  nach 
zu  einer  rührend  hingegebenen  Gehilfin,  zu  einer  zuverlässigen 
Partnerin  und  mit  der  Zeit  sogar  zur  Schauspielerin,  aus  einer 
Sprecherin  zu  einer  Darstellerin  gewisser  Gestalten  gemacht 
hat).  Diese  Intensität  Frank  Wedekinds  war  anfangs  durch* 
aus  unterschieden  von  der  Intensität  schauspielerischer  Ge* 
staltungskraft :  es  war  die  Intensität  dichterischer  Schöpfer* 
freude,  die  mit  der  Vollendung  des  Dichtwerks  nicht  befriedigt 
ist  und  sich  als  Rhetorik  fortsetzt  —  als  eine  Rhetorik,  deren 
Ziel  die  Stärkung  der  poetischen  Suggestion  ist.  Der  Wort* 
künstler  Wedekind  war  auch  auf  der  Bühne  ein  Priester  des 


Wortes.  Er  sprach  scharf,  stoßend  und  fast  gleichmäßig  laut, 
vor  allem  bemüht,  den  Inhalt  seiner  Rede  deutlich  zu  Gehör 
zu  bringen.  Aber  wo  es  nötig  war,  glühte  die  Leidenschaft 
seiner  großen  grünen  Augen  auch  aus  seiner  Stimme.  Diese 
Stimme  und  diese  Augen  waren  seine  einzigen  Schauspiele* 
rischen  Mittel.  Sie  genügten  für  die  Figuren,  in  denen  Wede* 
kinds  Herz  schlug.  Heute  ist  er  um  einen  Schritt  weiter. 
Er  stellt  bereits  farbig  und  rund  ein  Lümpchen  aus  sich  her* 
aus  und  weit  von  sich  weg  wie  den  Verleger  Sterler,  gegen 
den  ,Oaha'  geschrieben  ist.  Er  legt  die  drastischen  Pointen 
mit  einer  Unauffälligkeit  hin,  die  der  diskreteste  Schauspieler 
nicht  überbietet.  Er  wird  am  Ende  noch  ein  leidlicher  Interpret 
für  anderer  Dramatiker  Rollen.  Seine  ungeheure  Wirkung  be* 
ruht  freilich  darauf:  daß  es  eben  doch  seine  eigenen  Werke 
sind,  in  denen  er  bis  zur  äußersten  Selbstvergessenheit  aufgeht; 
daß  er  mit  der  Schamlosigkeit  der  Größe  vor  tausend  Men* 
sehen  sein  Blut  verströmt ;  daß  es  ihm  unfehlbar  gelingt,  sich 
geheimnisvoll  schreckend  zu  machen  und  das  Rauschen  seines 
entfesselten  Schmerzes  zu  erschütternder  Stärke  anschwellen 
zu  lassen. 


210 


REGISTER 


Abel  155 

Aischylos  44f.  67 

Alexander  135 

Apel  71  f. 

Aristophanes  125 

Arnauld  26 

Arnold,  Victor  41.  70.    134.   160  f. 

163  f.  181  f. 
Arnstaedt  178.  184 
Arrene  36 
Artot  de  Padilla  88 

Bachur  14 

Bahr  124  f.  132.  141.  146 

Balzac  31.  96 

Barnay  14.  37.  159 

Barnowsky  35.  154  f.  166  f. 

Bassermann  12.  83  f.  97  f.  110.  115. 

159.  164f.  190 
Baumbach  98 
Beethoven  30.  65 
Benedix  135 
Bergen  44.  158 
Bermann  74 
Bernard  121  f. 
Bernauer  35  f.  44.   79 f.   120.   157  f. 

184 
Bertens  189.  201 
Besnard  189 
Beyerlein  108 

Biensfeldt  41.   70.   106.    110.    161  f. 
Blumenthal  37.  44.  71.  84.  126 
Bonn  10 
Bourget  56 
Brahm  1.  34.  37.  57.  98  f.  112.  126. 

139f.  154.  157f.  166.  176f.  202 
Burckhardt,  Jakob  6 
Burg,  Eugen  187 
Busoni  64  f. 
Butze  26.  29 
Byron  205 

Caillavet  36 
Cassirer,  Bruno  203 


Cassirer.  Paul  203 
Clewing  58  f.  184  f. 
Commichau  24  f. 
Conrad,  Paula  38 

Dahlberg,  Leopold  21  f. 

Dahn  98 

Danegger  27.  70.  130.  150 

Dauthendey  37  f. 

Defregger  141 

Dehmel  37.  193 

Destinn  187 

Dickens  34 

Diegelmann  70.  110  115.  150.   162 

Dietrich,  Mary  27.  41.  50.  81.  106. 

115.  174 
Droste  194 
Dumas  2.  36 
Durieux  38  f.  44.  80.  201 
Dux  89 

Eibenschütz  19.  69.  82.  150 
Eichendorff  199 
Ernst,  Adolph  121 
Ernst,  Paul  20 
Eulenberg  31  f.  146 
Eysoldt  23.  27  f.  68  f. 

Fehdmer  155 
Feldhammer,  Anna  50 
Flers  36 
Fontane  64 
Forest  34.  146 
Freksa  4  f. 
Freund,  Julius  71 
Fried  168 

Friedmann,  Sigwart  182 
Fulda  21.  29 

Gade  92.  167 

Garrick  165 

Gebühr,  Cornelie  110.  155 

Gebühr,  Otto  44.  158.  201 

Geibel  112 

Geisendörfer  26 


213 


George  85 

Girardi  190  f. 

Gluck  90 

Goldoni  96 

Got  178 

Goethe  1.  2.  16.  30.  97.    112.    117. 

199.  200 
Gozzi  65  f. 
Gregor  89.  183 

GriUparzer  21  f.  62.  72.   182  f.   187 
Gross,  Jenny  119 
Grosse  102 

Grüning  35.  115.  167.  177 
Grunwald  202 

Hajdu  170 

Halbe  22 

Halm.  Alfred  21  f.    119.    187.    188 

Halm,  Friedrich  112 

Hardt  98  f.  128.  146 

Hartau  92 

Hartleben  108 

Hartmann,  Ernst  36 

Hauptmann  16.  98.  112.  174f.  192f. 

Hebbel3.21.76.90f.  llOf.  173.185f. 

Heimann  110.  170f. 

Heimburg  98  f. 

Heims  81.  164.  189 

Heine,  Thomas  Theodor  74.  86 

Hell,  Ludmilla  44 

Hempel  89.  138 

Hennequin  135 

Henrich  41 

Hermann,  Georg  93  f. 

Herterich  35.  57.  178 

HofFmann,  Baptist  88. 

Hoffmann,  E.  Th.  A.  70.  96 

Hofmannsthal  22.  30.  48.  84 f.  102. 

103  f.  197 
Hofmannswaldau  102 
Hollaender,    Felix   23  f.    80  f.    130. 

174.  189 
Hollaender,  Victor  74.  168 


Holm,  Korfiz  42  f.  71 
Homer  128 
Hülsen  84.  115.  183 

Ibsen  21.  76.  98  f.  175 
Ilgenstein  136  f. 

Jekels,  Zoe  187 
Junckermann  122 

Kadelburg  44.  71 

Kainz  30.  190f. 

Kant  72 

Kautsky  58 

Kayßler  19.  82f.  110.  115.  154.  174 

Keller  98 

Kessler  183 

Kleist  2.  3.  21.  23f.  76.  98f.   112 

Knüpfer  88 

Koppel.Ellfeld  183 

Körner  112 

Kotzebue  2 

Kraußneck  26f.  58f.  113f.  184 

Kruse  101 

Kühne,  Friedrich  41.  69.  150 

Kupfer,  Margarete  82.  150 

Kurz,  Emilie  69 

Landau,  I.  58  f. 

Lantz  118 

Laube  1 

Lehmann,  Else  146.  178 

Lemaitre  179 

Leopold  72 

Lesage  31 

Lessing,  Emil  34.  145 

Lessing,  Gotthold  Ephraim  46.  80  f. 

Lichtenberg  165 

Lieban  138 

Liebermann  200 

Liliencron  37 

Lind,  Emil  22.  92 

Lindau  2.  3.  23  f.  71.  115.  134.  182 

Lindner,  Emil  39.  80.  158 

Loehr  22.  92 

Loewenfeld,  Max  37 


214 


Loos,  Theodor  178 
Lossen  35.  103 
Louvet  de  Couvray  87 
Ludwig,  Maximilian  81 
Lully  179 

Mann.  Heinrich  75  f.  96 

Mann,  Thomas  43 

Marholm  208 

Matkowsky  23.  28.  30.  113.  190 

Mayer.  Gina  174.  201 

Mayer.  Maria  146 

Meinhard  37.  94 

Mendelssohn  65 

Metenier  38 

Misch  126 

Mitchell  135 

Mitterwurzer  190 

Moissi  12.  28.  50.  68f.  81.  106.  115. 

130.  133f.  150.  163.  174 
Moliere  96.  178  f. 
Molina,  Tirso  di  41 
Monnard  57.  141 
Moser  178 
Mozart  90.  138 
Muck  88 

Nansen,  Peter  130  f. 
Nast,  Minnie  88 
Nestroy  185  f. 
Niemann,  Hedwig  38 

OfFenbach  168  f. 
Osten,  Eva  von  der  88 
Ottenheimer  191 

Pagay  69.  82  f. 
Pallenberg  169  f. 
Paschen  74 
Patry  112.  115 
Paul,  Jean  34.  74 
Philippi  38.  60.  125f 
Plutarch  192 
Pohl,  Max  58  f.  184 
Polgar  16 


Poppe  23.   27  f.   59. 
Poppenberg  54 
Prasch  37 


81.    114f.    184 


Raimund  34.  190 

Reicher  141.  145.  177 

Reinhardt  7  f.  18  f.  23  f.  37.  39.  46  f. 

65  f.  87.  89.  98.  103  f.  115.  120. 

130.  139.  147  f.  154.   158.   1591. 

166.  168f.  173f.  177.  178f.  183. 

202  f. 
Rembrandt  30 
Renier  155 
Ressel  26 
Rettich  184 
Revy  187 
Rivoire  188 
Robert,  Eugen  37 
Roda  Roda  169 
Roller  87 
Rosen,  Lia  19.  27 
Rössler  122  f. 

Sabo  121 

Sachs,  Hans  104 

Salfner  22.  75 

Sand  208 

Sarcey  178  f. 

Sardou  2.  36.  38.  77 

Saudek  119 

Sauer  34  f.  154.  202 

Schanzer  120 

Schiller  2.  21.  64  f.  112.  199 

SchiUings  85 

Schmidt,  Lothar  44.  136 f. 

Schmidtbonn  127 

Schlegel,  Friedrich  208 

Schnitzler  22.   52f.   71.  76f.    1391. 

Schönfeld,  Franz  36 

Schönherr  100.  139f. 

Scholz,  Wilhelm  von  39  f. 

Schuch  87  f. 

Schultz,  Richard  168 

Seebach,  Graf  87 


215 


Serda  44 

Shakespeare  50.  61.  147  f.  161  f. 

Shaw  12.  62  f. 

Siebert  158 

Siems,  Margarete  88 

Sommerstorff  58  f. 

Sonnenthal  70 

Staegemann  28 

Stern,  Ernst  42  f.  6r5 

Sternheim  10.  94  f. 

Stieler  35.  145.  177 

Strauß,  Richard  84  f. 

Strauß,  Rudolf  3  f.  187 

Strindberg  116f.  155  f.  175.  193 

Sudermann   3.   58  f.   76  f.  99  f.    126 

Sussin  146.  177 

Terwin  134.  150.  163 

Thimig,  Helene  27.  113.    184.   201 

Thomas,  Emil  191 

Tieck  54 

Tiedtke  70.  82 

Tolstoi  151 

Trebitsch  61 

Triesch  57.  103.  141.  150.  158 

Unruh  107 

Valetti  74 

Vallentin,  Hermann  183 

Vera  19.  150 


Verdi  90 
Vollmer  29.  191 
Vollmoeller  10.  47  f.  64  f.   179  f. 
Voltaire  46 

Wagner,  Erika  von  22  f.  74.  92 

Wagner,   Richard  15.   73.   74.    111. 

199 
Wassermann  70.  110.  150.  163  f.  189 

Wedekind,  Frank  155.  202  f. 

Wedekind,  Tilly  209. 

Wegener  4  f.    12.   27.  41.   83.    110. 

115.  130.  174 
Wied  165  f. 

Wilamowitz*MoeIlendorfF  45  f. 
Wilbrandt  60.  101 
Wildenbruch  17.  100 
Wilken,  Heinrich  120 
Willig  26.  114 
Winterstein  20.  41  f.  81.    106.    110. 

115.  150 
Wolff,  Julius  98 
Wolff,  Pierre  160 
Wüst  119.  188 

Ysaye  192 

Zelnik  158 
Ziegel  74.  92 
Zimmerer  183 
Zola  31.  175 


216 


DIE  SCHAUBÜHNE 

Wochenschrift  für  die  gesamten 
Interessen  des  Theaters 

Herausgeber:   SIEGFRIED  JACOBSOHN 

Stimmen  der  Presse: 

Maximilian  Hardens  Znknnft.  Die  .Schaubülme'  ist  die  beste  deutsche  Theaterzeit- 
schrift,  die  wir  besitzen;  eine  der  am  würdigsten  redigierten  Zeitschriften.  Ein  Golf- 
strom: I<ebendigkeit,  Wärme.  Geistigkeit,  Kampf,  Witz,  Seele  geht  von  ihr  aus.  Vieles, 
was  sie  totschlug,  kann  nie  wieder  auferstehen,  vieles,  was  sie  lebendig  machte,  nie  mehr 
sterben.  Fast  alle  jungen  Dichter  und  Schriftsteller  sind  irgendwann  in  den  Jahrgängen 
der  .Schaubühne'  vertreten.  In  die  Werkstatt  großer  Schauspieler  dürfen  wir  blicken,  in 
Vers  und  Prosa  geben  sich  Zartheiten  und  schamhafte  Tiefen  von  unübertrefElichem  Reiz. 
Dresdner  Anzeiger.  Nach  acht  Jahren  des  Bestehens  dieser  Zeitschrift,  die  damals 
bereits  an  dieser  Stelle  mit  Anerkennung  begrüßt  wurde,  muß  nachdrücklich  betont 
werden,  daß  wir  in  Deutschland  jetzt  keine  Theaterzeitschrift  haben,  die  der  ,Schau- 
bühne'  an  Schärfe  und  Weitsichtigkeit  des  Urteils,  an  gediegenen  und  glänzenden  Auf- 
sätzen vorangestellt  werden  kann.  Sie  ist  unsere  beste  Theaterzeitschrift.  In  jahrelanger 
aufmerksamer  Prüfung  hat  sich  dieses  Urteil  bei  uns  befestigt.  Jeder  Freund  einer  ehr- 
lichen, freien  imd  eindringenden  Kritik  wird  die  ,Schaubühne'  mit  Genuß  und  reich- 
lichem Nutzen  lesen. 

Hannoverscher  Courier.  Recht  verschiedene  Geister  sind  es,  die  sich  hier  im  Rahmen 
einer  Zeitschrift  zusammenfinden,  aber  eins  eint  sie:  sie  alle  reden  mit  dtirchaus  persön- 
lichen Akzenten;  es  sind  sämtlich  Leute,  die  ihrem  eigenen  Instinkt  lieber  folgen  als  dem 
Instinkt  der  Masse.  Manche  sprechen  geradezu  im  Ton  der  Leidenschaft,  des  Fanatismus. 
Der  Inhalt  des  Blattes  ist  in  hohem  Grade  maimigf altig;  auch  die  Form  unterhaltsam 
und  abwechslungsreich. 

Mannheimer  Generalanzeiger.  Die  , Schaubühne'  ist  von  allen  Theaterzeitschriften  die 
aparteste,  lebendigste  imd  anregendste.  Siegfried  Jacobsohn  gibt  sie  heraus.  Er  ist  von 
denen,  die  heute  über  Theater  schreiben,  der  einzige,  der  wirküch  Kritik  hat.  Seine  ganze 
Absicht  geht  auf  eine  möglichst  scharfe  und  schlackenlose  Herausarbeitung  der  rein  künst- 
lerischen Werte,  die  die  unendliche  Mamugfaltigkeit  der  heutigen  Theaterwirklichkeit 
durchdringen.  Von  einer  Idee  für  eine  Idee,  lücht  von  sich  für  sich  zu  schreiben,  das 
ist  das  Woher  und  Wohin  seiner  kritischen  Art. 

Nene  Zürcher  Zeitung.  Die  , Schaubühne'  ist  ein  frisch  redigiertes,  inhaltlich  an- 
regendes Organ  für  alles,  was  näher  oder  femer  mit  der  Bühne  Lq  deutschen  Landen  wie 
im  Ausland  zusammenhängt.  Sie  ist  eine  jener  Zeitschriften,  die  man  stets  gerne  in  die 
Hand  nimmt,  weil  man  stets  sicher  ist,  irgend  etwas  zu  finden,  was  Interesse  und  Nach- 
denken weckt,  und  die  auch  zu  gesundem  Widerspruch  reizt. 

Leipziger  Tageblatt.  Die  .Schaubühne'  verdient  das  Lob,  eine  unsrer  besten  Zeit- 
schriften imd  \inter  denen,  die  sich  mit  dem  Theater  und  der  dramatischen  Kunst  be- 
schäftigen, weitaus  die  beste  zu  sein. 

Vierteljährlich  Mk.  3^0,  jährlich 
Mk.  12.-,  Einzelnummer  40  Pfg. 

Probenummem  gratis  und  franko 


VERLAG  DER  SCHAUBÜHNE,  CHARLOTTENBURG 


SIEGFRIED  JACOBSOHN 
DAS  THEATER 

DER 

REICHSHAUPTSTADT 

IX    und    154  Seiten 
Stimmen  der  Presse: 

Maximilian  Harden  in  der  Znknnft.  I<est  es;  Ihr  werdets  nicht  bereuen.  Der  Be- 
trachter beweist  auf  jeder  Seite  eiferndes  Verständnis  für  die  Sache;  auch  den  ernsten 
Willen,  gerecht  zu  sein. 

Altonaer  Tageblatt.  Die  Anordnung  des  Materials  zeugt  von  großem  historischen 
Verständnis.  Das  Buch  ist  ebenso  geistreich  wie  belehrend  tind  hält,  was  es  in  der  Ein- 
leitung verspricht. 

Literarisches  Echo.  Die  Charakteristiken  der  Bühnen  und  künstlerischen  Richtungen 
sowie  einzelner  Schauspieler  sind  sehr  treffend  in  ihrer  Knappheit;  das  Urteil  bleibt 
immer  ruhig  und  sachlich. 

Neue  Zürcher  Zeitung.  Nirgends  wird  der  I,eser  durch  weitläufige  Quellenstudien 
ermüdet,  imd  doch  hat  er  überall  die  Empfindung,  von  einem  wohlunterrichteten  Ver- 
fasser geleitet  zu  werden.  Was  besonders  angenehm  berührt  und  die  Lektüre  des  Buches 
zu  einem  Genuß  macht,  ist  die  stilistische  Gewandtheit  des  Verfassers,  seine  prägnante  Form. 
'Wiener  Montagszeitung.  Auf  dritthalbhundert  Seiten  gibt  Jacobsohn  einen  gedrängten 
Abriß  der  berliner  Theatergeschichte  von  1870  bis  1904.  Alles  wirbelt  in  kaleidoskopischer 
Bimtheit  an  uns  vorüber.  Und  dabei  urteUt  Jacobsohn  so  klug,  schsirf  und  treffend, 
daß  man  von  je  himdert  Worten  getrost  siebenundneunzig  unterschreiben  kann. 
Der  Osten.  Jacobsohns  ungemeine  psychologische  Begabung  »md  seine  absolute  Sach- 
lichkeit — beides  lehrt  sein  trefflicher  Überblick  über  die  Theatergeschichte  Berlins  während 
des  letzten  Menschen  aHers  schätzen.  In  sechs  sachkundig  den  Stoff  zusammendrängenden 
Kapiteln  wird  mit  tiefer  Einsicht  und  weitem  BUck  die  Geschichte  der  berliner  Bühnen 
seit  den  Tagen  des  großen  Krieges  dargestellt. 

Dramatorgische  Blätter.  Die  einzelnen  Strömungen,  die  Persönlichkeiten  ihrer  Führer 
sind  scharf  charakterisiert,  das  Ganze  ausgezeichnet  durch  ein  ernstes  Streben,  eine  hohe 
Begeisterung  für  ein  großes  Ziel. 

Breslaner  Zeitung.  Hier  ist  ein  Plus  an  Reichtum  des  Ausdrucks,  an  bildnerischer 
Kraft,  an  —  niemals  protzig  verwandter  —  Gelehrsamkeit. 

Preis  2  Mark 


ALBERT  LANGEN,  MÜNCHEN 


MAX  REINHARDT 

von 

SIEGFRIED  JACOBSOHN 

Mit  einem  Portrait  von  Max  Reinhardt 
und  fünfzehn  unveröfifentlichten  ganzseitigen  Illustrationen 
nach   Inszenierungen  des  Deutschen  Theaters   in  Berlin 

XII  und  175  Seiten  —  Zweite  Auflage 

Stimmen  der  Presse: 

Maximilian  Harden  in  der  Zukunft.  Ein  Buch,  in  dem  mit  tapferer  junger  Begeiste- 
rung der  Versuch  gemacht  wird,  aus  einer  Kritikenreihe  wie  von  selbst  das  Büd  des 
stärksten  deutschen  Theaterleiters  sich  gestalten  zu  lassen;  ein  Buch,  dem  die  beste 
Eigenschaft,  die  Liebe  zum  Objekt  auch  der  im  einzelnen  anders  Empfindende  nicht 
absprechen  kann. 

Bohemia.  Wir  lernen  Reinhardt  von  seinen  begeisterndsten  Seiten  kennen  und  lernen 
zugleich  die  Schönheit  einer  Begeistenmg  kennen,  die  von  ihrem  Gegenstand  so  viel 
Klares  imd  Beweiskräftiges  auszusagen  hat. 

Pester  Lloyd.  Ein  außerordentüch  interessantes,  höchst  instruktives  Dokument. 
Mannheimer  Tageblatt.  Wer  den  Verlauf  von  Reinhardts  berliner  Tätigkeit  \md  die 
Entwicklung  seiner  Regiekunst  verfolgen  will,  der  greife  zu  diesem  Werk  aus  der  zu- 
ständigen imd  fachmännischen  Feder  des  bekannten  berUner  Theaterkritikers. 
Württembergische  Zeitung.  Mit  glänzender  DarsteUungsktmst  gibt  Jacobsohn  seine 
Eindrücke  von  den  größten  darstellerischen  Taten  Reinhardts  veieder.  Überall  begegnen 
wir  einem  scharfsichtigen  Urteil,  einem  tiefen  Erfassen,  einem  glühend  lebendigen  Gestalten. 
Prager  Tagblatt.  Jeder,  der  den  klugen,  schnörkellosen  imd  doch  durch  Innere  Fein- 
heiten überraschenden  Stil  Jacobsohns  schätzt,  wird  das  Buch  in  einem  Zuge  auslesen, 
als  wäre  es  ein  Roman. 

Heidelberger  Neueste  Nachrichten.  Ein  Buch,  das  auf  jeder  Seite  das  lautere  imd 
gerechte  Urteil  eines  von  sachlichstem  Ernst  und  innerUchstem  Kimsteifer  beseelten 
Kritikers  gibt. 

Die  Aktion.  Ich  halte  Jacobsohn  für  den  bedeutendsten  lebenden  Theaterrezensenten 
Deutschlands. 

Frankfurter  Zeitung.  Jacobsohns  Buch  wird  als  ein  im  Jubel  wie  im  Tadel  stets  ab- 
geklärtes Dokument  der  jüngsten  deutschen  Theatergeschichte  seinen  Wert  behalten. 
Rheinische  Musik»  und  Theaterzeitung.  Jacobsohn  ist  vielleicht  der  einzige  berliner 
Kritiker,  der  in  Sachen  des  Dramas  und  der  Bühne  seine  Stimme  im  Vollbewußtsein  einer 
spezifischen  Überlegenheit  erheben  darf;  der  einzige,  der  zum  Theaterkritiker  geboren  ist. 
Die  Zeit.  Das  Feinste  und  Herzlichste,  was  Jacobsohn  zu  sagen  hatte,  war  immer  den 
Bühnen  Reinhardts  gewidmet.  Es  ist  ein  Buch  auch  für  die  Zukunft,  ein  Quellenwerk 
für  einen  neuen  Devrient. 

Der  neue  Weg.  Diese  dreißig  Kapitel  sind  von  meisterhafter  Knappheit  und  Geschlossenheit. 
Hamburger  Nachrichten.  Jacobsohn ,  dieser  stets  frappant  Sachkundige,  zeichnet 
schöpferisch  nach,  führt  Andeutungen  aus.  Wenige  besitzen  so  reiches  und  reifes  Ver- 
ständnis für  Regie,  Spiel,  Dichtung. 

Breslauer  Morgenzeitung:  Das  Werk,  das  die  stilistischen  Vorzüge  und  die  drama- 
turgischen Kenntnisse  seines  Verfassers  ins  hellste  Licht  setzt,  wird  jedem  Theaterfreunde 
und  jedem  Theaterfachmann  vollkommen  sein. 

Broschiert  Mk.  5.-,  gebunden  Mk.  6.50 
ERICH  REISS  VERLAG,  BERLIN  W  62 


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