SIEGFRIED JACOBSOHN
DAS lAHR DER BÜHNE
Digitized by the Internet Archive
in 2010 witii funding from
University of Toronto
Iittp://www.arcliive.org/details/dasjahrderbhne01jaco
DAS JAHR DER BÜHNE
Copyright 1912 by Oesterheid & Co., Berlin W. 15
0>>^
^
vn
^
SIEGFRIED JACOBSOHN
DAS JAHR DER BÜHNE
OESTERHELD 6. CO. / BERLIN 1912
MEINEM FREUNDE CHRISTIAN MORGENSTERN
Das Jahr der Bühne? Nämlich der berliner, also ungefähr der
deutschen Bühne, und zunächst das Jahr 1911/12. Was ich in diesem
Winter über die Theaterarbeit meiner Vaters und Lieblingsstadt zu sagen
hatte, schien mir — nach elfjähriger kritischer Tätigkeit zum ersten Mal
— nicht unwert, zu einem Buch zusammengefaßt zu werden. Ich
wünsche mir, diese Empfindung auch in den künftigen Sommern zu
haben und dem ersten Band eine ganze Reihe von Bänden nachschicken
zu können. Vor mir liegen ,Les soirees parisiennes' im achten, ,Les annales
duTheätre' im einunddreißigsten Jahrgang. Warum sollte diese Art Chronik
des Theater^ nicht in Berlin dieselbe Berechtigung haben wie in Paris?
Eine Chronik, die nicht mit kaltem Blut und kaltem Blick , hinterher'
abgefaßt wird, sondern einfach die Kritiken aller nicht völlig neben*
sächlichen Aufführungen aneinanderreiht und es dem Leser überläßt,
sich daraus eine Vorstellung von dem gesamten Theaterjahr — von seinen
Errungenschaften und seinen Fehlschlägen, aber auch von seinem Ver«
hältnis zu früheren Theaterjahren — selber zu machen.
Ich meine, daß dies dem Liebhaber der Sache bei mir am wenigsten
schwer fallen wird, weil ich dazu neige, das einzelne Ereignis in einen
theaterhistorischen Zusammenhang einzureihen, seine Herkunft aufzu«
zeigen und seine Tragweite abzuschätzen. Dennoch käme es diesen sechs*
undvierzig Kapiteln kaum zugute, wenn man ihres Ursprungs ganz
vergäße. Sie sind eben doch nicht das Werk des , abgeklärten' Historikers,
sondern des leidenschaftlich beteiligten Kunstfreundes. Es sind Theater*
kritiken und häufig am Morgen nach der Aufführung entstanden.
Sie waren einmal anmaßend genug, den Verlauf der Dinge irgendwie
beeinflussen zu wollen, und scheuten darum vor Übertreibungen aller
Art nicht zurück: weder wo es galt, das Schicksal reiner Künstlerschaft
freundlicher zu gestalten, noch gar wo es galt, unreiner Macherschaft
ihre Triumphe zu verkümmern. Es ist leicht zu merken, wie in beiden
Fällen mein Ton sich polemisch erhitzt. So gründlich ich sonst fast
jeden Artikel gefeilt und gesänftigt, ergänzt oder gekürzt habe: gegen
diesen polemischen Unterton bin ich nicht vorgegangen. Das hieße
fälschen. Er ist im wörtlichen Sinne das journalistische Element von
Arbeiten, die im übrigen allerdings den Ehrgeiz haben, über ihre
Augenblickswirkung hinaus für spätere Generationen das Bild unserer
Theatergegenwart festzuhalten.
Für diese Zukunftswirkung habe ich von dem Überschwang weder
meiner Begeisterung noch meines Widerwillens zu fürchten. Dafür hätte
ich nur zu fürchten, wenn ich falsch urteilte oder schlecht darstellte. Wie
schlecht ich darstelle, mag bereits die Mitwelt entscheiden. Diese hat an mir
erfreulich viel auszusetzen. Aber nichts tadelt sie beharrlicher als die Lächers
lichkeit, daß ich das Theater so schrecklich wichtig, die Kritik des Theaters
so bitter ernst nehme. Ich wieder finde es gar nicht lächerlich, sondern trau*
rig, daß es möglich ist, einen solchen Vorwurf überhaupt auszusprechen. In
Schnitzlers .Einsamem Weg' heißt es irgendwo: „Wenn Sie im Mittelpunkt
der Erde wohnten, so wüßten Sie, daß alle Dinge gleich schwer sind. Und
wenn Sie im Mittelpunkt der Welt wohnen könnten, so wüßten Sie, daß alle
Dinge gleich wichtig sind." Da es wahr ist, daß das Theater der
Spiegel des Zeitalters ist, so wird es doch wohl keine kleine Aufgabe
sein, diesen Spiegel blank zu erhalten. Ich glaube, daß die Dinge der
Kunst, die bei uns unterschätzt werden, gar nicht zu überschätzen sind.
Ich glaube, daß für Deutschlands Wohlfahrt ein Kerl wie Hans von
Bülow einmal existiert haben mußte, Bernhard von Bülow aber nie*
mals existiert zu haben brauchte. Ich glaube, daß es ein Segen wäre,
wenn alle Kritiker des Theaters so unaufhörlich Forderungen stellten,
wenn alle das Theater so wichtig nähmen wie ich. Denn ich nehme
es ja nicht als Selbstzweck wichtig, sondern als Mittel zum Zweck.
Ich weiß, daß es das Leben spiegelt, aber ich weiß auch, daß es ins
Leben zurückwirkt. Es ist meine Überzeugung, daß es mit unserer
Politik, dem öffentlichen Leben, dem Verkehr der Menschen und jedem
Zweig der Kunst in dem Maße besser werden wird, wie das Theater,
das ich meine, an Boden gewinnt; und ich fürchte, daß ich noch eine
ganze Weile fortfahren werde, mich im Dienste dieser Überzeugung
lächerlich zu machen.
Im Juli 1912 S. J.
INHALT
SAISONBEGINN 1
1911. 5. VIII. Die goldene Schüssel, Komödie in drei Akten von
Rudolf Strauß. Lustspielhaus. Regie: Ernst Bach.
26. VIII. Der fette Caesar, Eine Tragikomödie in drei Akten
von Friedrich Freksa. Deutsches Theater. Regie: Felix
Hollaender.
BRIEF AN REINHARDT 7
LANVÄL 14
9. IX. Lanväl, Ein Drama in vier Akten von Eduard Stucken.
Kammerspiele. Regie: Eduard von Winterstein.
GRILLPARZER UND HALM 21
15. IX. Des Meeres und der Liebe Wellen, Trauerspiel in
fünf Aufzügen von Franz Grillparzer. Neues Schau*
spielhaus. Regie: Leopold Dahlberg.
PENTHESILEEN 23
Penthesilea, Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist.
16. IX. Schauspielhaus. Bühnenbearbeitung und Regie :
Paul Lindau.
23. IX. Deutsches Theater. Bühnenbearbeitung: Theodor
Commichau. Regie: Felix Hollaender.
ALLES UM GELD 31
20. IX. Alles um Geld, Fünf Akte von Herbert Eulenberg.
Lessingtheather. Regie: Emil Lessing.
VON BARNOWSKY UND BERNAUERS ... 35
28. IX. Papa, Lustspiel in drei Akten von Robert de Flers
und G. A.de Caillavet. Deutsch von Erich Motz. Kleines
Theater. Regie: Victor Barnowsky.
30. IX. Die Spielereien einer Kaiserin, Fünf Akte und ein
Epilog von Max Dauthendey. Theater in der König?
grätzerstraße. Regie: Rudolf Bernauer.
VERTAUSCHTE SEELEN 39
5. X. Vertauschte Seelen oder Die Komödie der Auf«
erstehungen, Groteske von Wilhelm von Scholz. Kammers
spiele. Regie: Eduard von Winterstein.
HUNDSTAGE 42
7. X. Hundstage, Lustspiel in drei Akten von Kotfiz Holm.
Theater in der Königgrätzerstraße. Regie : Rudolf Ber*
nauer.
DIE ORESTIE 44
13. X. Die Orestie des Aischylos. Deutsch von Karl VoUs
moeller. Musik von Einar Nilson. Zirkus Schumann,
Regie: Max Reinhardt.
DAS WEITE LAND 52
14. X. Das weite Land, Tragikomödie in fünf Akten von
Arthur Schnitzler. Lessingtheater. Regie: Emil Lessing.
DER BETTLER VON SYRAKUS 58
19.x. Der Bettler von Syrakus, Tragödie in fünf Akten
und einem Vorspiel von Hermann Sudermann. Schau*
spielhaus. Regie: Albert Patry.
FANNYS ERSTES STÜCK 62
21. X. Fannys erstes Stück, Ein leichtes Spiel für ein
kleines Theater in drei Akten, einem Vorspiel und
Nachspiel von Bemard Shaw. Deutsch von Siegfried
Trebitsch. Kleines Theater. Regie: Victor Barnowsky.
TURANDOT 64
27. X. Turandot, Chinesisches Märchenspiel von Carlo
Gozzi. Deutsch von Karl VoUmoeller. Musik von
Ferruccio Busoni. Deutsches Theater. Regie : Max Rein«
hardt.
PAUL ABEL 71
28. X. Hans Sonnenstößers Höllenfahrt, Ein heiteres Traums
spiel in fünf Szenen von Paul Apel. Musik von Fried*
rieh Bermann. Neues Schauspielhaus. Regie: Alfred
Halm.
SCHAUSPIELERIN 75
6. XL Schauspielerin, Drama in drei Akten von Heinrich
Mann. Theater in der Königgrätzer Straße. Regie: Ru*
dolf Bernauer.
NATHAN DER WEISE 80
9. XL Nathan der Weise, Ein dramatisches Gedicht in
fünf Aufzügen von Lessing. Kammerspiele. Regie:
Felix HoUaender.
DER ROSENKAVALIER 84
14. XL Der Rosenkavalier, Komödie für Musik, in drei
Akten von Hugo von Hofmannsthal, Musik von Richard
Strauß. Opernhaus. Musikalische Leitung: Carl Muck.
Regie: Georg Droescher.
AGNES BERNAUER 90
17. XL Agnes Bemauer, Ein deutsches Trauerspiel in fünf
Aufzügen (dreizehn Bildern) von Friedrich Hebbel.
Neues Schauspielhaus. Regie: Alfred Halm.
HERMANN, STERNHEIM UND BASSERMANN 93
23. XI. Der Wüstling oder Die Reise nach Breslau, Lust«
spiel in zwei Akten von Georg Hermann. Theater in
der Königgrätzer Straße. Regie: Otto Gebühr.
24. XI. Die Kassette, Komödie in fünf Akten von Carl
Stemheim. Deutsches Theater. Regie: Felix Hollaender.
BRAHM UND HARDT 98
24. XI. Gudrun, Ein Trauerspiel in fünf Akten von Ernst
Hardt. Lessingtheater. Regie: Emil Lessing.
JEDERMANN 103
L XII. Das alte Spiel von Jedermann, erneuert von Hugo
von Hofmannsthal. Musik von Einar Nilson. Zirkus
Schumann. Regie: Max Reinhardt.
OFFIZIERE 107
15. XII. Offiziere, Drama in vier Akten von Fritz von Unruh.
Deutsches Theater. Regie: Max Reinhardt.
DIE NIBELUNGEN 110
17. 21. XII. Die Nibelungen, Ein deutsches Trauerspiel in
drei Abteilungen von Friedrich Hebbel. Schauspielhaus.
Regie: Albert Patry.
DER SCHEITERHAUFEN 116
20. XII. Der Scheiterhaufen, Drama in drei Akten von
August Strindberg. Deutsch von Emil Schering. Berliner
Künstlerisches Theater (im Lessingtheater). Regie : Adolf
Lantz.
HYGIENISCHE ABENDE 118
23. XII. Heiligenwald, Lustspiel in drei Akten von Alfred
Halm und Roberi Saudek. Neues Schauspielhaus. Regie:
Alfred Halm.
31. XII. Große Rosinen oder Berlin hats eilig, Große ber*
liner Originalposse mit Gesang und Tanz in drei Akten
(fünf Bildern) von Rudolf Bemauer undlRudolf Schanzer.
Musik von Willy Bredschneider und Walter Kollo, mit
Einlagen von Leon Jessel und Bogumil Zepler. Bcr*
liner Theater. Regie: Rudolf Bernauer.
23. XII. Das kleine Cafe, Lustspiel in drei Akten von
Tristan Bemard. Deutsch von Erich Motz. Trianon*
theater. Regie: Carl Beese.
23. XII. Die ßinf Frankfurter, Lustspiel in drei Akten von
Carl Kassier. Theater in der Königgrätzerstraße. Regie:
Franz Zavrel.
DAS TÄNZCHEN 12i
1912. 6. 1. Das Tänzchen, Schwank in drei Akten von Hermann
Bahr. Lessingtheater. Regie: Emil Lessing.
DER ZORN DES ACHILLES 126
13. 1. Der Zorn des Achilles, EineTragödie in drei Akten von
Wilhelm Schmidtbonn. Deutsches Theater. Regie: Felix
Hollaender.
EINE GLÜCKLICHE EHE 130
20. I. Eine glückliche Ehe, Lustspiel in vier Akten von
Peter Nansen. Deutsch von Mathilde Mann. Kammers
spiele. Regie: Felix Hollaender.
SCHWANK UND GROTESKE 134
26.1. Alles fiir die Firma, Schwank in drei Akten von
Maurice Hennequin und Andre Mitchell. Deutsch von
BoltensBaeckers. Residenztheater. Regie : BoltensBaeckers.
25. L Fiat justitia! Kriminalgroteske in drei Instanzen von
Lothar Schmidt und Heinrich Ilgenstein. Neues Schau*
spielhaus. Regie: Lothar Schmidt.
SCHNITZLER, SCHONHERR UND BRAHM . 139
30. I. Komtesse Mizzi oder Der Familientag, Komödie in
einem Akt von Arthur Schnitzler.
Erde, Eine Komödie des Lebens in drei Akten
von Karl Schönherr.
Lessingtheater. Regie: Emil Lessing
ROMEO UND JULIA 147
10. II. Romeo und Julia, Trauerspiel in fünf Akten von
Shakespeare. Deutsches Theater. Deutsch von Schlegel«
Tieck. Regie: Max Reinhardt.
UND DAS LICHT SCHEINET IN DER FIN=
STERNIS... 151
8. IL Und das Licht scheinet in der Finsternis . . . , Drama
in vier Akten (fünf Bildern) von Leo Tolstoi. Deutsch
von August Scholz. Kleines Theater. Regie: Victor
Barnowsky.
KONIGIN CHRISTINE 155
20. IL Königin Christine, Schauspiel in vier Akten von
August Strindberg. Deutsch von Emil Schering. Theater
in der Königgrätzerstraße. Regie: Rudolf Bernauer.
DER KLEINE UND DER GROSSE REINHARDT 159
19. III. Margot kann mir gestohlen werden, Zwei Akte von
Georges Courteline und Pierre Wolff. Deutsch von Sieg*
fried Trebitsch. Regie : Robin Robert.
Pierrots letztes Abenteuer, Pantomime in einem Akt
von Victor Arnold. Musik von Friedrich Bermann. Regie:
Victor Arnold.
Kammerspiele.
23. II. Viel Lärm um Nichts, Ein Lustspiel in fünf Akten
von Shakespeare. Deutsch von SchlegeUTieck. Musik
von Einar Nilson. Deutsches Theater. Regie: Max
Reinhardt.
TANZMÄUSE 165
15. III. Tanzmäuse, Ein Satyrspiel in dreizehn Moment*
bildern von Gustav Wied. Deutsch von Ida Anders.
Kleines Theater. Regie: Victor Barnowsky
DIE SCHÖNE HELENA 168
23.111. Die schöne Helena, Operette in drei Akten von
Jacques Offenbach. Theater des Westens. Regie: Max
Reinhardt.
DER FEIND UND DER BRUDER 170
26. III. Der Feind und der Bruder, Eine Tragödie in vier
Akten von Moritz Heimann. Kammerspiele. Regie:
Felix Hollaender.
DAS FRIEDENSFEST 174
30. III. Das Friedensfest, Eine Familienkatastrophe in drei
Akten von Gerhart Hauptmann. Lessingtheater. Regie :
Emil Lessing.
GEORGE DANDIN 178
13. IV. George Dandin oder Der beschämte Ehemann,
Lustspiel in drei Akten mit Tänzen und Zwischenspielen
von Moli^re. Deutsches Theater. Regie: Max Reinhardt.
WEH DEM, DER LÜGT! 182
27. IV. Weh dem , der lügt! Lustspiel in fünf Akten von
Franz Grillparzer. Schauspielhaus. Regie: Oscar Kessler.
DIE FALSCHE NESTROY^FEIER 185
2. V. Titus und Salome bei Judith und Hohfemes, Zwei
Possen in einer von Johann Nestroy. Neues Schauspiel
haus. Regie: Arthur Retzbach.
KITSCH UND KULISSENWARE 187
U.V. Die Spiele ihrer Exzellenz, Spiel in drei Akten von
Zoe Jekels und Rudolf Strauß. Neues Schauspielhaus
(in der Komischen Oper). Regie: Arthur Retzbach.
7. V. Mein Freund Teddy, Lustspiel in drei Akten von
Andre Rivoire und Luden Besnard. Deutsch von Bolten«
Baeckers. Kammerspiele. Regie: Felix Hollaender.
VON GIRARDI 190
GABRIEL SCHILLINGS FLUCHT 192
14. VI. Gabriel Schillings Flucht, Drama in fünf Akten von
Gerhart Hauptmann. Goethes Theater in Lauchstedt.
Regie: Paul Schienther.
DER WEDEKIND^ZYKLUS 202
1. VI. So ist das Leben, Schauspiel in drei Akten.
4. VI. Hidalla (Karl Hetmann, der Zwergriese), Schauspiel
in fünf Akten.
7. VI. Musik, Sittengemälde in vier Bildern.
10. VI. Der Erdgeist, Eine Tragödie in vier Akten.
12. VI. Oaha, die Satire der Satire, Eine Komödie in vier
Aufzügen.
15. VI. Marquis von Keith (Münchener Szenen), Schauspiel
in fünf Akten.
Von Frank Wedekind. Regie: Frank Wedekind.
Deutsches Theater.
,Denn es ist Drang, und so ists Pflicht."
SAISONBEGINN
In früheren Jahren ging man meist an Goethes Geburtstag
zum ersten Mal wieder ins Theater. Das Schauspielhaus be*
gann häufig seine Spielzeit an diesem Tage, mit Tasso oder
Iphigenie, mit Egmont oder Faust. Selbst Brahm hatte ein
Jahr, wo er zum achtundzwanzigsten August den Faust ein*
studierte. Andere Bühnen standen nicht nach. Es lag ein Zug
von Noblesse in dieser nicht übermäßig einträglichen Ge*
wohnheit. Traurig, daß solche Züge mehr und mehr aus dem
Bild des berliner Theaterwesens verschwinden. Der , Betrieb',
der immer hastiger und hitziger wird, duldet sie nicht. Ver«
dienen sollst du, sollst verdienen, das ist der ewige Gesang,
mit dem unsere Direktoren sich, frei nach Goethe, frei von
Goethe singen. Sie belächeln jeden, der altmodisch genug
ist, von der Schaubühne zu verlangen, daß sie sich als eine
moralische Anstalt, als ein Erziehungsinstitut für das Volk,
als eine Pflegestätte der Kultur empfinde. Für sie ist sie ein
Geschäft, das, wie jedes Geschäft, den Zweck verfolgt: eine an«
gemessene Verzinsung des Anlagekapitals und einen beträcht«
liehen Reingewinn zu erzielen. Wer heute ein Theater über«
nimmt und es nach aesthetischen, nicht nach geschäftlichen
Grundsätzen führen will, muß entweder unerschöpfliche
Geldmittel hinter sich haben, oder er muß scheitern. Die
meisten scheitern freilich nicht, weil sie nach aesthetischen
Grundsätzen verfahren, sondern weil sie nicht einmal tüchtig
genug sind, aus und mit der Kunst ein Geschäft zu machen.
Auf den ersten Blick sieht ja freilich ein berliner Theater«
jähr — nicht bloß vorher, sondern selbst hinterher, im
Ernst: selbst hinterher — so bunt und abwechslungsreich
aus, als habe sich jeder Direktor, nach Laubes Vorgang, das
Ziel gesetzt, in einem einzigen Winter ungefähr einen Durch«
schnitt durch die ganze große dramatische Weltliteratur zu
geben. In solch einem berliner Theaterjahr ist alles enthalten,
was die Bühne zu vergeben hat, einfach alles: von den plump«
sten und dümmsten Reizungen der Vorstädte und den sinn«
losesten Feerien mondäner Amüsierbuden über die derbe
1 1
und manchmal gesunde Kost kleinbürgerlicher Theater bis
zu der Welt der Klassiker, bis zu den ernsthaften Produkten
der Gegenwart, bis zu den feinsten und extravagantesten
Spielen der Laune, des Witzes und der Phantasie. Von Er*
Zeugnissen, deren einziger Zweck es ist, ein denkfaules oder
denkunfähiges Publikum über einen Abend hinwegzubringen,
bis zu dramatischen Werken, die uns angehen und erfüllen
und steigern. Aber schaut man näher hin, so stellt sich her*
aus, daß die Kunst in die Vor? und Nachsaison fällt, und
gibt man sich die Mühe, nicht bloß zu wägen, sondern zu
zählen, nämlich die Zahl der Aufführungen zu zählen, so
kommen auf drei Aufführungen von Kunstwerken dreihundert
von Machwerken. Wer beherrscht das Repertoire? Die
Mittelmäßigkeit, die für den zahlungsfähigen Mittelstand
schreibt, für die breite Masse, die sich nicht anstrengen und
nicht aufwühlen, die sich belustigen und handgreiflich packen
lassen will. Wer vermöchte sie zu brechen, die Macht unserer
Kotzebues von heute (die auch aus Tirol sein können), da
doch der erste Kotzebue seinen klassischen Zeitgenossen
Goethe und Schiller siegreich widerstand? Wer vermöchte es?
Ratet 1
Niemand wird fehlgeraten haben: Paul Lindau. Er hat
es sich und uns versprochen. Ein Winter süßen Nichtstuns
hat ihm die Kraft gegeben, in diesem Sommer wieder ein
Programm für den ^X^nter abzufassen. Ein schönes Programm.
Wir erfahren daraus, daß der alte Mann seit vierzig Jahren
eine glühende und pietätvolle Liebe im Busen hegt. Ihr glaubt,
gemeine Seelen, zu Sardou, zu Dumas und zu sich selber.
Aber es ist Kleist; und wenn wir die Pietät, die Herrn Lin*
dau bestimmt hat, in diesen vierzig Jahren die Hände von
Kleist zu lassen, auch gern noch einmal vierzig Jahre kon*
serviert gesehen hätten, so werden wir doch mit Vergnügen
feststellen, wie weit die Wahlverwandtschaft des Bearbeiters
reicht. An Sprachgewalt kommt der „begeisterte Verehrer
des Dichters" dem Dichter der ,Penthesilea' ohne Zweifel
gleich. Er hat „sich im szenischen Auf bau, in der Beibehaltung
der aristotelischen drei Einheiten: Ort, Zeit und Handlung,
streng an das Original gehalten, die unerläßlichen Kürzungen
und Zusammenziehungen, sowie die Reduktion der Sprech*
rollen auf ein von der Darstellung erreichbares Maß, und
endlich die Gliederung der bei Kleist von Anfang bis Ende
in ununterbrochener Reihe aneinandergefügten Szenen in die
für unser Theater gebotenen Abteilungen, in ,Akte', nach
denen der Vorhang fällt, nur da, wo sie Kleist selbst mit un#
verkennbarer Deutlichkeit angezeigt hat, vorgenommen".
Mit ähnlicher Congenialität wird, soll, dürfte — so Gott will
und Lindau gesund bleibt und sonst alles klappt — gegen
den , Prinzen von Homburg' und , Robert Guiscard' und den
, Zerbrochenen Krug' und Hebbels , Nibelungen' vorgegangen
werden. Da ist es denn immerhin ein Trost, daß ,, zwischen
diese ernsten und schwerwiegenden Dramen aus sagenhafter
Vorzeit die Uraufführung der neuesten Dichtung Hermann
Sudermanns und ein modernes Stück von leichterer, heiterer
Art eingeschoben werden wird".
*
Von den Drohungen zu den Taten. ,,Im Lustspielhaus
erzielt ,Die goldene Schüssel' von Rudolf Strauß jetzt täglich
ausverkaufte Häuser." So leer ist es dabei gar nicht. Das
Stück verdient auch einen Augenblickserfolg. Rudolf Strauß,
von dem ich nie gehört hatte, und der in keinem Kürschner
steht, scheint Journalist zu sein. Dafür spricht vieles in seiner
Komödie. Er weiß, daß das Theater, gleich der Zeitung, im
engsten wie im weitesten Sinne vom Tage lebt. Es vom
Tage abschneiden, heißt : seine Lebenskraft unterbinden, heißt :
seine Blutzirkulation hemmen, heißt: aus einem , pulsierenden'
Organismus ein Petrefakt machen. Das will Strauß nicht.
So greift er denn hinein . . ., nennt zwar den Schauplatz seiner
Handlung Lusitanien, schmückt zwar seine Personen mit
französischen Namen, meint aber Wien und die Erben Lue*
gers. Hei, gibt ers ihnen! Sie sind entweder Trottel oder
Hallunken. Der Autor ist so taktvoll, sich weit genug von
seinen Vorbildern zu entfernen, und doch so geschickt, das
ganze Milieu greifbar werden zu lassen. Das ist ja nicht
schwer, weil wir hier im Bezirk der eindeutigsten Verrottung
sind und Abtönungen nicht, wie in anderen Fällen, die
"Wirklichkeit wiedergeben, sondern fälschen würden. Der
dickste Strich ist der beste, und ihn am rechten Fleck un*
verzagt hinzusetzen, darin liegt Straußens Stärke. Nicht im
Dialog, auf den er sich offenbar viel zugute tut, und dem
man die , Gepflegtheit' leider nicht absprechen kann. Dieser
feuilletonistische Esprit, der nach einem allzu einfachen System
der Wortumdrehungen arbeitet, muß denn doch üppiger,
muß mindestens molnärisch quellen, um unterhaltsam, wenn
auch noch lange nicht lobenswert zu sein. Aber gerade da,
wo wir ungeduldig werden, stellt Strauß sein selbstzufriedenes
Plaudertalent ab und zieht alle Register eines sehr begabten
Theatralikers. Er rettet den schwachen zweiten Akt am Schluß
durch den Knalleffekt einer einzigen Wendung und entwickelt
daraus einen dritten Akt, der, eine Seltenheit, nicht das Stück
mühsam zu Ende führt, sondern überhaupt erst rechtfertigt.
Bis dahin war alles Vorspiel. Die Gemeinheit war groß, aber
alltäglich. Sie richtig wiederzugeben, vielleicht ein Verdienst,
aber kein höheres als das Verdienst eines Leitartiklers, der
die Bekämpfung der Korruption zum Gewerbe gewählt hat.
Hier nun, im dritten Akt, nimmt die Gemeinheit phantastische
Dimensionen an. Sie verliert ihre Schäbigkeit und entzieht
sich jeder moralischen Wertung. Man lacht nur noch. Wir
sind unversehens, für die letzten fünf Minuten des Stücks in
der Sphäre der Kunst. Am ersten Theaterabend! Und im
Lustspielhaus I
«
Bei Friedrich Freksa gehts umgekehrt: sein , Fetter Caesar'
wird immer magerer. Mit ihm begann das Deutsche Theater.
Daß es die Tragikomödie im August spielte, war eigentlich
schon ein Urteilsspruch. Trotzdem: es hätte ein Fehlspruch
sein können. Leider war es keiner. Man bestätigte ihn durch
Opposition gegen einen gelinden Beifall, der nur soweit be*
rechtigt war, wie er Paul Wegener galt, und für diesen frei*
lieh viel lauter hätte sein dürfen. Freksa hat seiner Tragi*
komödie einen ,Prologus' vorausgeschickt, weil „keiner der
drunten im Parkett Sitzenden von dem Lebensgefühl weiß,
das uns zwang, gerade dies Stück zu schreiben". Aber wenn
das Lebensgefühl des Dichters dem Stück nicht aus samt*
liehen Poren bricht, dann sind Lebensgefühl und Stück gleich
fragwürdig, dann ist jeder Prologus und jeder Epilogus über*
flüssig. In Freksa „erwuchs die Idee von einem Menschen,
der sich alles in naiver Genußsucht dienstbar zu machen
sucht", und er bemühte sich, diese Idee in einem unbändig
dicken Senator zu verwirklichen, der im Rom der V^erfallzeit
für Geld die Kaiserwürde kauft und sie dreißig Tage behält.
Das ergibt eine natürliche Gliederung in zwei Teile, von
denen der erste als Einakter für sich bestehen würde: Die
Versteigerung des Zepters. Schon dieser Akt ist zu lang*
wierig, aber noch ganz lustig. Der das Zepter ersteigert,
Didius Julianus, steht — oder sitzt, da seine Beine seinen
Bauch nicht tragen können — auf Anhieb da. Aber auch
das Gewimmel hat den Hautgout, der in diesem Falle der
historisch wahre Geschmack ist. Die Lasterhaftigkeit ist im
Heer nicht geringer als im Volk und wird die anständigen
Elemente teils beseitigen, teils anstecken. Schlimm fängt es
an und schlimmer endigt sichs. Wir glauben es. Jedenfalls
ist unsere Phantasie befähigter, den ersten Akt fortzusetzen,
als der Dramatiker Freksa, der in den anderen beiden Akten
eben keiner ist. Sie müßten heißen: Das Mastschwein als
Caesar, und damit wäre schon ausgedrückt, daß wir es mit
einer breiten Zustandsschilderung zu tun haben, die auch
durch episodische Liebeleien, Intrigen und Verschwörungen
nicht dramatisch, sondern nur geräuschvoll und verworren
wird. Ich würde vielleicht versuchen, diese künstlich und
doch kunstlos verschlungenen Fäden zu entwirren, wenn das
Stück eine Zukunft auf der deutschen Bühne hätte. Aber
dazu ist der Kern, die Monographie des fetten Caesar, zu
schwach geraten. Daß er sein Fettherz an eine achtzehnjährige
Schlange hängt und diese erst an einen jungen Tribunen
und gleich darauf überhaupt verUert und darüber nicht
hinwegkommt und seine Fulvia überall zu sehen glaubt und
ihr nachwimmert und schließlich sein bißchen Verstand ein«
büßt: das soll tragikomisch wirken und wirkt gar nicht,
weil Freksa eine primitive Antithese, den Kontrast zwischen der
Freßsucht dieses Caesar und seinem Zärtlichkeitsbedürfnis,
zwischen seinem Körper und seinem Seelchen zu einem Drei*
akter auswalzt und damit denselben Kontrast auch in seiner
Arbeit schafft. Sie ist ein lärmender Koloß von Römerdrama,
in dem irgendwo ein Dichterstimmchen wispert. Es kann
jetzt noch vernehmlich gemacht werden. Freksa hat selbst
erzählt, daß seine drei Akte aus fünf Zeilen Jakob Burkhardts
entstanden sind. Für den Inhalt dieser fünf Zeilen sind, bei
Freksas dürftiger Phantasie, drei Akte offenbar viel zu viel.
Ein Akt tut es besser. Er stelle ihn aus den dreien her.
Dann wird es um keinen Satz von Freksa, aber um jeden
Blick und jeden Ton von Wegener schade sein. Die ganze
Aufführung erschien wohl nur denen unerlaubt unzulänglich,
die sich zwar keine Rechenschaft darüber gaben, wie un#
erreicht hoch Wegeners Leistung über allen anderen stand,
und deshalb gegen diese anderen ungerecht waren, die aber
desto deutlicher bemerkten, wie weit ein debütierendes Mit«
glied hinter den anderen zurückblieb, und sich dadurch ver#
stimmen ließen. In der Totalität, und gar für den August,
war die Aufführung sehr anständig. Mehr noch : auf keiner
zweiten berliner Bühne bekommt ein so personenreiches und
auch sonst anspruchsvolles Stück so viel Haltung und Gesicht.
Eine schärfere Gliederung, weniger Radau und ein paar Um«
besetzungen: und die Aufführung macht auch im Winter des
Deutschen Theaters Figur. Ihr Hauptfehler war die Ver*
Wendung der »Vorbühne', die für den zweiten Teil des , Faust'
angelegt und außerdem für .Othello' und , Hamlet' benutzt
worden ist. Schön. Das sind Dramen mit vielen Szenen, bei
denen jedes Hilfsmittel, die Verwandlung zu beschleunigen,
im Interesse einer geschlosseneren und mächtigeren Wirkung
willkommen sein mag. Aber für ein Stück von zwei Bildern
diesen Vorbau zu gebrauchen, ist einfach eine BequemHch*
keit des Regisseurs. Wie mit dem Menschenmaterial, dem
Licht, den Dekorationen und Kostümen sollte der Regisseur
auch mit dem einmal gegebenen O von Holz auskommen
und es nicht ohne Not erweitem. So oft diesmal ein Dar*
steller über die Rampe trat oder sprang, war es, als ob plötz*
lieh alle Gesetze der Bühnenkunst aufgehoben würden. x\ber
Wegener stellte sie immer wieder her. Auch wenn man den
höchsten Maßstab anlegt, wird man sich nicht vieler schau*
spielerischer Gestalten von solcher Rundheit und Saftigkeit,
von solchem Überschuß erinnern. Wegener gab diesem kahl*
köpfigen, lüstern äugenden und bald tierisch grunzenden,
bald kindlich lächelnden Riesenclown soviel Liebenswürdig*
keit und Drolligkeit und sogar Gemüt, daß man bei seinem
Anblick nicht nur kein Unbehagen empfand, sondern all*
mählich zu dem Kerl eine stille Zuneigung faßte. Das ist
Fleisch von Falstaffs Fleisch.
BRIEF AN REINHARDT
Iieber Max Reinhardt!
^ Ich gratuliere von Herzen zum Mißerfolg. Oder war es
keiner? Aus den tadelnden Stimmen, die über die münch*
ner ,Orestie' zu uns drangen, ließ sich zunächst auf eine Tat
schließen. Nach den lobenden Stimmen zu urteilen, sind
Sie unter jenem Premierenjubel, den unsere armen Ohren
aus Ihrem Deutschen Theater kennen, durchgefallen — und
mit Recht durchgefallen. Zwar: die Depesche des Prinzen
August Wilhelm, die Sie mitten in einer der letzten Proben
traf, hatte Ihre „Freude an der Arbeit aufs höchste gesteigert".
Aber es muß doch wohl nicht weit her sein mit einer künst*
lerischen Arbeit, die munterer fortschreitet, wenn die guten
Reden königlicher Hoheiten sie begleiten: und so gewiß und
selbstverständlich Ihr Werk bei der berliner Aufführung auf
meine reinste Empfänglichkeit treffen wird, so gewiß glaube
ich vorläufig auf Grund einer Beschreibung und aller mög*
liehen Tatsachen und Begleitumstände, daß dieses Werk ziem*
lieh mißraten, und daß ihm trotzdem nicht bestimmt ist, einen
Siegeszug um die Welt zu machen. Und habe meine Freude dran.
Sie schütteln verwundert den Kopf. Schadenfreude bei
Jacobsohn? Aber das ist es wirklich nicht. Es ist vielmehr
eine aufrichtige Freude über den Nutzen, den Sie und wir
aus diesem Fiasko ziehen werden. Seit etwa zehn Monaten
waren Sie nicht mehr der Alte. Seit jenem Novembertage
des vorigen Jahres, wo Sie bewiesen, was keinem bewiesen
zu werden brauchte: daß Sie eine Menge nicht bloß von
dreißig, sondern von dreihundert Statisten kunstvoll zu*
sammenzuballen und in regelmäßigen, genau festgestellten
Windungen wieder aufzulösen vermögen. Denn worin be*
stand sonst der Unterschied zwischen der Zirkusaufführung
des , König Oedipus' und einer Theateraufführung? Zu«
gegeben : auch in einer schlechteren Übersetzung, als wir früher
gehört, und in einer schwächeren Darstellung, als wir früher
gesehen hatten. Immerhin hätte das allein für einen europäi*
sehen Erfolg vielleicht doch nicht ausgereicht. Die Masse und
die Manege tat es. Man hatte keinen großen, geschweige denn
einen kolossalen Eindruck: aber man hatte den Eindruck
der Kolossalität. Der entschied. Es war verlorene Mühe, den
jauchzenden Völkern erklären zu wollen, daß Sie die Schwierig*
keiten des Terrains und nicht der dichterischen Aufgabe über*
wunden hatten. Sie hatten ja in der Tat den dramaturgischen
Charakter der Tragödie durchaus verkannt. Sie ist ein Blitz,
der aus entwölktem Himmel niederfährt, vernichtet und er*
lischt. In Ihrem Zirkus wurde der Blitz auf seinem Wege
aufgehalten, mannigfach gekurvt in Seitenbahnen abgelenkt,
wieder auf den rechten Weg geleitet und abermals zu Ziek*
zaekschlänglungen mißbraucht. Im Theater wäre kein rieh*
tiger Begriff vom Wesen des antiken Dramas zu geben ge*
wesen? Sollte das etwa den richtigen Begriff geben, daß der
greise Teiresias, der längst auf der anderen Seite des Lebens
ist, und aus dem göttliche Eingebungen geisterhaft und ab*
geklärt heraustönen, auf einmal ein verkleideter Jüngling
8
war, der sich bei der Geschichte maßlos aufregte und ein
betäubendes Geschrei machte? Daß nackte Läufer mit Wind*
lichtem über die Orchestra die Stufen hinauf in den Palast
und wie die Wilden zurückjagten? Daß aus dem einen
namenlosen und durch seine gehaltene Sachlichkeit namenlos
ergreifenden Boten, der den Selbstmord der Jokaste und die
Selbstblendung des Oedipus schildert, ein Schwärm von
hysterischen Mägden wurde, die die pompösesten Namen
führten, sich mit gräßlichem Geheul über die Orchestra er*
gössen, uns allen Schmerz vorwegnahmen und den meister*
haft komponierten, grandios gesteigerten Bericht in lauter
kleine und unwirksame Stücke zerfetzten? Schreckliche Er#
innerungen. Aus dem Naturschauspiel war ein Feuerwerk
geworden. Kein Wunder, daß viele sich blenden ließen, und
daß Kappel an der Schlei so gut seinen, Ihren Oedipus haben
mußte wie Berlin.
Ich will hoffen, daß alles, was wir seit jenem November«
tage des Jahres 1910 erlebt haben, bewußte Ausnutzung einer
selten günstigen Konjunktur gewesen ist. Sonst läge der Fall
ja viel schlimmer. Wenn Wert und Würde dem Gerichte
Nach dem Erfolg bemessen wird, Ist die Kartoffel Königin
der Früchte, W^eil sie zumeist gegessen wird. Schon die
Massenhaftigkeit des Konsums hätte den , König Oedipus'
zur Kartoffel unter ihren Früchten gemacht. Sollten Sie der
Plebs ihr Hauptnahrungsmittel verweigern, das Sie oben*
drein schnell bereicherte, indem es Ihren Marktwert ver*
hundertfachte? Und war es in diesem gesegneten Zeitalter
des Handels und der Industrie nicht natürlich, daß andere
mit Ihnen, durch Sie reich werden wollten? Man plante flugs
den Bau riesenhafter Häuser zur Züchtung von Kartoffeln,
und weil der Absatz eines gewöhnlichen Artikels desto leb«
hafter ist, je schwungvoller man ihn benennt und je tief«
gründiger man seine Unentbehrlichkeit nachweist, so gab
man große Worte von sich. Man sei übersättigt von den
Finessen und Nuancen für die Minderheit. Und von einer
Berührung mit der Gesamtheit erwarte man Erneuerung,
Gesundung und Erhöhung für die dramatische Kunst. Und
in dieser nüchternen und exakten Epoche der Technik be*
dürfe man für die Kunst eines Glanzes, der ein Gegengewicht
nicht nur zu dieser Nüchternheit und Exaktheit, sondern
auch zu der rationaUstischen, kargen, erdhaften Dramatik des
vorangegangenen Jahrzehnts bilde. Und so seien Volksfest*
spielhäuser die Forderung des Tages. Und bis sie dastünden,
müßten Sie in München Operetten, in London Pantomimen
und womöglich irgendwo Freilichtspiele inszenieren, in allen
Großstädten zu gleicher Zeit sein und ganz zu vergessen
suchen, wo die starken Wurzeln Ihrer Kraft sind.
Sie vergaßen es, leider. Sie ließen sich durch den Lärm
betäuben, ließen sich durch die Konstellation verführen, die
der sogenannte europäische Erfolg zu schaffen pflegt. Dies*
mal brauchten Ihre Leute den Wind nicht erst zu machen,
mit dem Ihr Ruhm durch die Lande flog. Aber es war Ihrer
nicht würdig, daß Sie nachflogen. Sie verschmähten es nicht,
sich heute mit einem englischen Tingeltangelkönig, morgen
mit Herrn Bonn Hand in Hand zu verbeugen. Was in Berlin
geschah, war Nebensache. Nach acht Jahren strenger und
reiner Arbeit lockte der Rausch billigsten Applauses so süß,
daß Ihr neuntes Spieljahr das ärmste werden durfte. Von
ungefähr zwanzig Aufführungen zeigte sich nur eine dem
Maßstab gewachsen, den Sie selber geschaffen haben:
»Othello*. Der zweite Teil des , Faust' war schauspielerisch
so schwach bedacht, daß alle Besonderheiten des Experiments,
künstlerische, wie namentlich außerkünstlerische, nötig waren,
um über dieses Manko hinwegzuhelfen. Die Kammerspiele
schienen kaum mehr vorhanden, seit der Zirkus das Haupt*
Interesse an sich gerissen hatte. Während die Pauke geschlagen
wurde, vergaß man die Flöte zu blasen, deren Klang so
köstlich gewesen war. In neun Monaten erblickte ein ein*
ziger Autor von Rang das Rampenlicht: Carl Sternheim.
Ungenügende Vorbereitung schädigte aufs schwerste die Tra*
gödie von Wieland, mit der Vollmoeller hätte durchdringen
können. Der Sommer kam. Den benutzten Sie ehedem, um
10
ein paar Inszenierungen von der Art vorzubereiten, durch
die Sie mächtig geworden sind. Diesmal ließen Sie sich da*
zu anwerben, den Operettenschmarren eines reich gewordenen
Seifenfritzen aufzutakeln. Aber das füllt eines Posa Herz
nicht aus. In glücklicher Vorurteilslosigkeit gingen Sie von
dieser Branche wieder zur antiken Tragödie über. Und jetzt
mußte es sich herausstellen: ob nämlich jener Eindruck des
, König Oedipus' tatsächlich nur der Eindruck der Über*
raschung, der Überrumpelung mit ungeheueren Dimensionen,
des verblüffenden Kontrastes zu den landläufigen Theater*
Wirkungen gewesen war, oder nicht. Für mein Gefühl hing
viel vom Ausgang dieses Abends ab: durch einen neuen
Riesenerfolg mußten Sie uns endgültig verloren gehen, durch
einen Mißerfolg mußten Sie uns zurückgewonnen werden.
Sie wissen, lieber Max Reinhardt, daß ich noch immer jung
genug bin, um diese Dinge ziemlich wichtig zu nehmen,
und so wird es Sie nicht wundern, daß ich den Daumen
inbrünstig auf Mißerfolg hielt.
Der scheint es ja denn zum Glück geworden zu sein.
Wenn nicht alles trügt, werden in Berlin von der ,Orestie'
drei, vier Aufführungen im leeren Zirkus stattfinden, und
damit wird abermals eine Theatermode begraben sein, Sie
aber werden Ihre Arbeit dort fortsetzen, wo Sie sie vor
einem Jahre abgebrochen haben. Uns genügt diese Arbeit.
Wir brauchen Sie gar nicht größer, als Sie sind. Sie sind
zum ersten Theatermann dieser und wahrscheinlich auch aller
früheren Tage dadurch geworden, daß Sie endlich einmal
sämtliche zehn Gebote und nicht bloß vier oder sieben erfüllt
haben. Sie werden es also auch künftig wieder der Impotenz
überlassen, das elfte Gebot zu erfinden, und fortfahren, die
guten alten zehn zu erfüllen. Sie sind Herr über das Deutsche
Theater, das uns Berlinern durch seine ältere und seine jün*
gere Vergangenheit das teuerste ist, und über das Kammer«
spielhaus, das an Intimität und Schönheit seinesgleichen nicht
hat und Ihnen einst als Instrument unschätzbar gewesen ist.
Hie salta. , König Oedipus' hat uns auf jeder Bühne tiefer
11
ergriffen als im Zirkus; aber ,Aglavaine und Selysette' wäre
ohne Sie überhaupt nicht gespielt worden, und »Othello' hat
vor Ihnen niemals eine ähnliche Gewalt gehabt. Diesen Be#
sitz wollen wir nicht mehr verlieren, ihn wollen wir beständig
vergrößert sehen. Geben Sie, statt rastlos ins Weite und
Breite zu greifen, uns und der nachkommenden Generation
die Zeiten wieder, da Sie noch selbst im Werden waren. Ich
will nicht müde werden, Ihnen zu wiederholen, daß nach
meiner Überzeugung Ihre künstlerische Zukunft in Ihrer
künstlerischen Vergangenheit liegt. Sie für Ihr Teil werden
mir wiederholen, daß mein Konservatismus anfängt, schäd*
lieber zu werden als der Konservatismus der gewissen alten
Perücken, weil diesen höchstens eine stumpfsinnige Bour*
geoisie, mir aber die Jugend vertraut. Konservatismus: das
nehme ich an. Aber schädlich ist er nicht. Ich glaube, daß
es in der Kunst ebenso sehr darauf ankommt, zu erhalten,
wie zu erobern, und sehe darum mit Trauer immer deutlicher,
wie kümmerlich gegenüber der Eroberungsgier die erhaltenden
Tugenden in Ihnen ausgebildet sind. Sie haben glorreich be#
gönnen, das klassische Drama im Geiste der Gegenwart zu
verjüngen. Lassen Sie dieses Werk nicht verfallen! Nehmen
Sie heute mit Bassermann diejenigen Dichtungen wieder auf,
für die entweder seinerzeit die Schauspielkunst Ihres Theaters
nicht ausgereicht hat, oder die durch ihn wieder ein anderes
Gesicht bekommen würden. Ich an Ihrer Stelle würde eine
Kraft wie diese gehörig fürs Alltagsrepertoire ausbeuten, das
eben dadurch unalltäglich werden und immer interessant
bleiben würde. Er wäre Shylock, Lear, Tartüff, Fiesco, Franz
Moor, Clavigo oder sein Carlos, der Mephisto auch des ersten
Teils, Shaws Caesar und der Marquis von Keith. Was fehlt
dabei nicht noch alles, was könnte durch Bassermann, Wegener
und Moissi nicht noch alles lebendig werden! Wallenstein,
Tasso, Egmont, Emilia Galotti, Julius Caesar, Der Sturm,
Macbeth, Heinrich der Vierte, Richard der Zweite und der
Dritte. Man sollte meinen, daß das allein ein Programm für
Jahre wäre. Aber das ist ja erst die Hälfte Ihrer Aufgaben.
12
Es ist nicht nur im allgemeinen zu wünschen, daß Ihr junges,
frohes, mutiges Streben künftig aller der Kunststücke und
Künsteleien entraten möge, durch die es sich bisher mehr
geschädigt als gefördert hat; daß es sein Gefühl für das
Wesenhafte und Notwendige schärfe; daß es wieder ein*
facher, sachlicher, ehrlicher werde. Es ist im besonderen zu
wünschen, daß es genau so wie der Vergangenheit auch der
Zukunft des germanischen Dramas sich verpflichtet fühle.
Das Deutsche Theater hat ein Vierteljahrhundert lang über
das Schicksal der zeitgenössischen Dramatik entschieden und
darf dieses Ruhms nicht verlustig gehen. Als Sie anfingen,
hatte Ihr modernes Repertoire ein Gesicht, das zugleich das
literarische Gesicht der Jahrhundertwende war. Heute gibt
es solche zeitcharakteristischen Dramen nicht mehr? Sie liegen
auf der Straße. Aber mit der Lust, sie durchzusetzen, mag
freilich die Fähigkeit, sie zu entdecken, verkümmert sein.
Lassen Sie diese Lust nicht verkümmern! Lassen Sie sich
wieder und wieder sagen, daß die führende Stellung immer
nur die Bühne der literarischen Initiative behaupten kann!
Vielleicht täten Sie gut, einen Dramaturgen zu suchen, der
sich weder um den technisch*praktischen Betrieb noch um
die Verherrlichung Ihres Unternehmens, sondern ausschließ*
lieh um die Fortschritte der Produktion zu sorgen hätte. Ein
Dramaturg dieses Schlages müßte gegen den Geist des Theaters
den Geist des Dramas als mindestens gleichberechtigt geltend
machen. Aber der Entschluß zu einer Uraufführung fällt
Ihnen immer schwerer, weil in so vielen Fällen die freudig*
sten Hoffnungen zuschanden geworden sind? Dann trug
entweder eine grundfalsche Besetzung oder eine lieblose
Inszenierung die Schuld, oder es war von vornherein die
Sache eines Ignoranten, Hoffnungen überhaupt zu hegen
oder zu erwecken. Denn es ist ja nur eine Ausflucht träger,
ungebildeter und instinktverlassener Routiniers, daß es beim
Theater gewöhnlich anders komme. Es kommt in den selten*
sten Fällen anders, als Erfahrung, lebendiges Zeitgefühl und
eine gewisse Kenntnis menschlicher Hirne und Herzen voraus*
13
zusagen begabt sind. Ein Dramaturg von diesen Talenten
würde sich reichlich bezahlt machen, und es ist strafbare
Kurzsichtigkeit, ihn für ein Unternehmen vom Range des
Ihren ersparen zu wollen.
, . . Ich bin fertig und wünsche nichts sehnlicher, als künf*
tighin wieder in freundlicheren Tönen zu Ihnen reden zu
können. Es hängt von Ihnen ab, lieber Max Reinhardt. Ich
bin sicher, daß Sie mich zu gut kennen, um meine Worte
völlig in den 'W^nd zu schlagen. Es kostet unsereinen keine
kleine Überwindung, auch nur für das Augenmaß des schlecht
testen Lesers sich vorübergehend Ihren Gegnern beizugesel*
len, und Sie werden mir einräumen, daß ich das nie ohne
Not getan habe. Was auf dem Spiele steht, ist ja nicht wenig.
Es ist die Existenz (wennschon nicht gerade die tatsächliche
Existenz) eines Theaters, das nach den Anlagen seines Leiters
berufen wäre, zum ersten Mal, seit es irgendwo auf der
Welt Theater gibt, das Ideal zu verwirklichen. Sie waren
auf dem besten Wege. Jetzt sind Sie durch die Ungunst des
Schicksals, die sich immer als Gunst verkleidet, auf einen
Abweg gedrängt worden. Dort könnte sich dauernd nur
wohlfühlen, wer eine Kreuzung von Bamay und Bachur
wäre. Kehren Sie also auf Ihre Straße zurück und nutzen
Sie, was Ihnen der Umweg an Kredit und Popularität ein*
getragen hat, für Ihre ursprünglichen Bestrebungen aus.
Wenn Sie wieder wollen, so haben wir eine deutsche Theater*
kunst. Wollen Siel
LANVAL
Dreimal Stucken in anderthalb Jahren: es ist zuviel. Auch
in einer weniger kläglichen Aufführung, als die Kam*
merspiele sie für Caruso*Preise zu bieten wagten, hätte dem
,Lanväl' der Reiz der Neuigkeit gefehlt, der schließlich doch
den Erfolg des ,Gawän* entschied, und den , Lanzelot' schon
nicht mehr haben konnte. Eine andere Reihenfolge, und ,Lan*
väl' gewinnt den Preis. Halten wir heute, wo diese Dramen
14
der ArtussSage uns gleich vertraut sind, alle drei neben ein*
ander, so sind uns alle drei gleich lieb oder unlieb, wie sie
ihrem Dichter einmal gleich lieb oder unlieb gewesen sein
werden. Unser Anteil ist von derselben Art wie seiner, und
sein Anteil war artistischer und nicht seelischer Art. Seelischer
Anteil ist unerschöpflich — ist das artistischer auch? Jedes
Menschenleben ist anders als jedes andere und im Grunde
ebenso interessant; aber das zweite Hundert Verse einer be#
stimmten Prägung und Klangfarbe und Stoffwelt kann nur
wieder dieselbe Stimmung erzeugen wie das erste Hundert,
und diese Stimmung verflüchtigt sich. Wen beim ersten Mal
diese nebelhafte, weichliche, schwüle Stimmung noch einge*
lullt hat, der macht sich beim zweiten und nun gar beim
dritten Mal schon während der Aufführung klar, wie sie
entsteht, und hindert sie dadurch, zu entstehen. Es ist ein
schlauer und doch so durchsichtiger Zauber. Der doppelt
reimende Nibelungenvers gibt dem Schauspiel — heiße es,
wie es wolle — seinen schweren, mühsamen Schritt. Dieser
Vers bindet und vereinfacht durch seinen feierlichen Zwang
die Leidenschaft der Figuren. Er ist schuld, daß in solch
einem Drama — heiße es, wie es wolle — diese Menschen, in
diese Begebenheiten gestellt, häufig kindlich anmuten. Es
sind von Haus aus verwickelte, vergrübelte, in sich verstrickte
Menschen: der Vers simplifiziert sie bis zur äußersten Harm*
losigkeit. Es sind von Haus aus vielfach gewundene und
komplizierte Vorgänge: der Vers macht sie zu dekorativen
Zwecken gradlinig. So wenigstens erkläre ich mir, daß einem
in diesen tragisch gemeinten Verhältnissen keinen Augenblick
das Weinen nahe ist. Eher das Gegenteil. Allerdings ist der
Respekt vor einer unendlich ernsten und hingegebenen Arbeit
— heiße sie, wie sie wolle — unerschütterlich. Aber ich muß
gestehen, daß ich mir liebreiche Geduld vor Ereignissen auf=
erlege, für die ich nicht einmal mehr auf Umwegen einen
Anteil aufbringe, und vor einer Gestaltung dieser Ereignisse,
die ihnen nur scheinbar entspricht. Wenn Wagner mir nicht
so unerträglich wäre, würde ich sagen, daß einzig Musik
15
solche Stoffe noch erträgUch machen kann. Stuckens Vers*
musik kann es jedenfalls nicht.
Lanväl ist ein Mann oder Unmann zwischen zwei Frauen,
wie Hauptmanns Glockengießer Heinrich, oder besser: wie
Goethes Weisungen. Denn jener Heinrich ist was mehr als
ein haltloser Liebhaber, ist wenigstens noch ein halber Kunst*
1er. Lanväl aber bringt seine und unsere Zeit damit hin,
zwischen Finngula und Lionors zu schwanken. Alfred Polgar
war, nach der wiener Aufführung, freundlich genug, diesen
Zustand einer gleichgültigen Dramengestalt dadurch belang*
voller machen zu wollen, daß er Finngula für das Ideal und
Lionors für die Wirklichkeit und Lanväls Stellung zu beiden
für den typischen Jugendkonflikt eines großen Herzens
zwischen Ideal und Wirklichkeit erklärte. Aber nehmt das
an und fragt euch, ob eure Beziehung zu diesen drei Figuren
dadurch irgendwie bedeutsamer und fester wird. Warum
sollte sie? Ihr seht ein pompöses Aufgebot an Gesten und
Worten, an Kommentaren und Beschwörungen, an Berichten
und Erregungen, die zum Teil aus einem alten Sagenbuche
stammen, und erblickt auf dem Grunde eine primitive Liebes*
geschichte, für welche diese wuchtigen Namen und diese un*
zähligen Verse eine bequeme, gleißende und gleisnerische
Maskerade sind. Aber die Liebesgeschichte ist nur schein*
bar primitiv: sie bedeutet gar nicht sich selbst, sondern ist
ein Symbol! Was weiter? Weiter gehts zum Glück nicht.
Jetzt heißt es von dem Symbol satt werden. Es gelingt euch
nicht, und ihr versucht es, da ihr entschlossen seid, Stuckens
Dichtung zu retten, von einer anderen Seite. Ihr stellt euch
seine Figuren im modernen Kostüm vor, und — eure Ent*
täuschung ist noch größer. Ihr bemerkt plötzlich, daß die
Motive, Entschlüsse, Taten und Unterlassungen dieser Figu*
ren fast durchweg auf einen Grad von Dummheit oder einen
Mangel an Stolz zurückzuführen sind, der sie euch wider*
wärtig machen würde, wenn —ja, wenn nicht eben jener Hagel
von Versen um eure Ohren sauste und euch betäubte. Daß
man in Gedanken solch eine Umkleidung vornimmt, ist durch*
16
aus kein unpassender Rationalismus, sondern eine erlaubte
Probe auf die Stichhaltigkeit des mittelalterlichen Milieus
und die Dichtigkeit des Versgewandes. Weder dies noch
das bewährt sich. Liebe und Haß und alle die anderen Natur*
gewalten entspringen nicht mit Notwendigkeit aus dem Blut
und der Art dieser bestimmten Menschen, weil es gar keine
bestimmten Menschen sind. Stucken ist für die Artus*Sage,
was Wildenbruch für die Geschichte der Hohenzollern war.
Auch Stuckens Geschöpfe leben nicht aus sich: sie leben von
der jünglingshaften Grandezza, mit der ihr Ersinner an Ab*
gründen einherschreitet. Wenn man ihn während der Arbeit
anriefe und kritisierte — er würde hinunterstürzen. Denn wir
sind bei ihm nicht in der eigentlich dichterischen, sondern in
einer benachbarten Sphäre. Ich meine das nicht in dem ober*
flächlichen Sinne, daß er mittelbare Poesie gibt, Poesie aus
zweiter Hand, Überdichtung von Dichtungen. Ich meine
es so, daß seine Verdienste hauptsächlich verskünstlerischer
Natur sind, daß für einen dramatischen Dichter seine nacht*
wandelnde Naivität einen allzu hohen Grad von Unbewußt*
heit hat. Man muß als Autor sehen, wie gefährlich nahe der
Komik die meisten Situationen hier sind. Sie sind es dank der
Schwächlichkeit des Helden Lanväl, der Würdelosigkeit der
Prinzessin Lionors und — heiliges Rautendelein I — der Ledern*
heit des elbischen Wesens Finngula. Was fängt man mit diesen
Herrschaften an? Ich werde als Leser, je nach meiner Gebe*
laune, sachlich erkennen oder dankbar anerkennen, daß
Stuckens Verse, hier wie anderswo, bald majestätisch und bald
trivial, bald tropisch und bald spießbürgerlich, bald rauschend
und bald zäh, bald menschlich warm und bald geschmäckle*
risch kühl sind. Ich werde als Zuschauer nicht bestreiten, daß
, Lanväl' an Theatereffekten — nach der Definition des Theater*
effekts als einer Wirkung ohne Ursache — erheblich reicher
ist als , Lanzelot', ja, fast so reich wie , König Laurin* oder wie
,Die Gewitternacht'. Nur werde ich eine Stunde nach Lektüre
und Aufführung wissen, daß ich leer ausgegangen bin.
17
Auch bei Reinhardts scheint man nach der Annahme
nichts mehr von dem Stück gehahen zu haben; und so wün*
sehenswert es ist, daß eine Theaterleitung keine geringere
Einsicht hat oder allmähhch erwirbt, als die Kritik, so gewiß
gibt es in einem solchen Falle nur zwei Wege : entweder kauft
man sich von der Verpflichtung los, sei es durch Geld, sei
es durch die Erwerbung eines anderen Stückes — oder man
trachtet zu retten, was irgend zu retten ist. Bei Reinhardts
wählte man den dritten Weg: auf eine unkluge und unnoble
Manier den Dichter entgelten zu lassen, daß man die Mei«
nung über sein Werk gewechselt hatte. Es ist seinem künst*
lerischen Wesen nach katholisch. Es braucht Glanz und
Farbe, eine Art Frozessionsgepränge und die Entfaltung einer
Sprachmusik, an die Stucken kaum einen solchen Bienenfleiß
wenden würde, wenn ihm nicht sein Instinkt sagte, daß ohne
sie seine Arbeit des Hauptreizes entbehrte. Da war es zu*
nächst schon falsch, die Aufführung in die Kammerspiele zu
legen, wo so etwas wie ein Märchensee und eine Sagenburg,
der Abglanz von Turnieren und der Prunk höfischen Lebens,
das königliche Aufgebot einer welthistorischen Tafelrunde
und die Macht und die Herrlichkeit der Kirche besser ver#
borgen als gezeigt werden kann. Das alles nahm sich über*
trieben protestantisch aus. Die Wände des Schlosses Camelot
gähnten in ihrer pappenen Nüchternheit, und die Trink*
genossen des Königs Artus waren Kegelbrüder vom Wed#
ding. Aber auch in wichtigen Einzelheiten waren die sim#
pelsten Anordnungen des Autors nicht befolgt. Zum Schluß
entspinnt sich ein ,, ritterlicher Zweikampf" zwischen Lanväl
und seiner Finngula, die als schwarzer Ritter kommt. Den
Hergang dieser Szene hat Stucken bis ins Detail vorgeschrie*
ben. Vom besten Platz der Kammerspiele sieht sie so aus,
als ob Lanväl, der bis dahin ein armes Kleingehirn gewesen ist,
jetzt gar zum meuchlerischen Lumpen wird, indem er den
schwarzen Ritter, noch bevor dieser Zeit hat, sein Schwert
zu erheben, einfach über den Haufen rennt.
Die Klangwerte der Dichtung waren ebenso kümmerlich
18
auf die Bühne übertragen worden. Wer an diesem Abend
Stuckens Verse zum ersten Mal hörte, hätte die die reinste
Freude an der Unmenge derer gehabt, die er eben nicht hörte.
Als ob die Abfassung eines unzulänglichen Dramas exemp*
larisch bestraft werden müßte, hatte man die talentgemie*
densten Statisten zu Sprechern ernannt und, um die Grau*
samkeit auf die Spitze zu treiben, gegen uns und den Autor
eine Dame mobil gemacht, die . . . Wo ist der Wagemut mei*
ner jungen Jahre? Aber vielleicht gibt auch das ein Bild
von Frau oder Fräulein Maria Vera, wenn ich sage, daß solch
ein Kaliber nur derjenige verzweifelte Theaterdirektor präsen*
tieren dürfte, dem es mit fünfhunderttausend Mark — nicht
einen Pfennig weniger! — unter die Arme griffe. Dieser Folie
hatten manche älteren Mitglieder es zu danken, daß man sie
sich gefallen ließ. In einem Ensemble, wie wir es früher bei
Reinhardt gewohnt waren, würde Fräulein Eibenschütz durch
alle neumodischen Körperverrenkungen nicht darüber hin*
wegtäuschen, daß sie für die Verzweiflung legendarischer
Prinzessinnen nicht auf die Welt gekommen ist. Das wußten
wir. Aber eine Überraschung war, daß Fräulein Lia Rosen
im Burgtheater nicht bloß nicht entwickelt, sondern offenbar
ganz eingebüßt hat, was sie vor drei Jahren zu einer Hoff*
nung machte. Damals schlugen Flammen aus ihren Augen
und ihrem Munde. Sie schien vom Geist erfüllt, und dieser
Geist war es, der die Widerstände eines dürftigen Körpers
überwand. Für elbische Wesen mußte sie alles haben. Finn*
gula ist so etwas. Fräulein Rosens Finngula aber war eigent*
lieh noch nüchterner und uninteressanter als Stuckens. Sie
sprach klar und verständig und hütete sich, Herrn Kayßler
durch irgendwelche „unersättliche Raserei ihrer Lüste" all*
zu sehr zuzusetzen. Dieser Lanväl sah aus wie Pastor Sang,
hielt sich in allen ruhigen Momenten vortrefflich und ver*
sagte da, wo Kayßler in solchen Rollen immer versagt: er
wird als leidenschaftlicher Liebhaber Hysteriker, als zorniger
Held Bramarbas. Man sollte ihm nicht länger einreden, daß
dies sein Feld ist. Ein Muster für gute, gesunde, blutvolle
2* 19
Spiel* und Sprechkunst war in allen Lebenslagen nur Herr
von Winterstein, der Regisseur der Vorstellung. Ihn trifift
für ihre Sünden die mindeste Schuld. Es ist zuviel verlangt,
daß einer ohne selbständige Regiebegabung ein so anspruchs*
volles Stück inszeniert und zugleich eine große Rolle spielt.
Die Verantwortung trägt Reinhardt. Er hat das Unwesen,
das seine Theater immer mehr bedroht, einreißen lassen und
täte gut, auf seinen Reisen durch Europa auch einmal nach
Berlin zu kommen und ehrlich zu sagen, ob er es noch vor
einem Jahr für möglich gehalten hätte, in seinem Hause je*
mals eine solche Vorstellung zu erleben.
Dreimal Stucken in anderthalb Jahren: es war zuviel.
Aber ist diese unanständig hastige Ausschrotung eines Er*
folges nicht bezeichnend für das stumpfsinnige Verhältnis
unserer Bühnen zur modernen Produktion? Bis sie sich auf*
raffen, einen Dichter zu ,entdecken', dessen Dramen gedruckt
vorliegen, kann er alt und grau werden. Ist er dann entdeckt
und hat sich die Entdeckung gelohnt, so kommen sie zwar
darauf, durch Übertreibung den neuen Mann zu entwerten,
aber nicht darauf, einen ebenso begabten und ebenso alt und
grau gewordenen Kollegen zu entdecken. Von Paul Ernst
gibt es ein Lustspiel: Ritter Lanval. Es shakespearisiert ge*
hörig, aber es hat auch wirklich einen Hauch vom , Sommer*
nachtstraum'. Es vertrüge, da der Dramatiker Ernst noch
keinen Kredit hat, gewiß nicht die sommerliche Lieblosig*
keit, mit der Reinhardts Theater diesmal allen künstlerischen
Anstand verletzt hat. Es muß überhaupt nicht unbedingt
gespielt werden — und ohne Stuckens , Lanval' wäre ich ver*
mutlich gar nicht auf den , Ritter Lanval' gekommen — denn
Paul Ernst hat bessere Dramen geschrieben. Aber daß man
sich auch um sie nicht kümmert, daß ein Mann von dieser
geistigen und dichterischen Potenz seit Jahren auf eine ber*
liner Aufführung wartet: das fängt doch an, eine Schande
zu werden.
20
GRILLPARZER UND HALM
Auch das Neue Schauspielhaus hat jetzt begonnen. Man
XJLwußte an seinem ersten Abend nicht recht, ob man
Grillparzers Liebestragödie die Schuld an dieser Aufführung
oder der Aufführung die Schuld an dem lähmenden Eindruck
des Stückes geben sollte. Auf jeden Fall könnte man es ruhen
lassen. Die Grillparzerbegeisterung der achtziger Jahre war
der unvermeidliche Rückschlag auf die Grillparzergleich=
gültigkeit der voraufgegangenen Jahrzehnte. ,Des Meeres
und der Liebe Wellen' kam nicht früher als dreiundvierzig,
,Das goldene Vließ' erst siebzig Jahre nach der Entstehung
zum ersten Mal auf eine berliner Bühne. Allen Respekt vor
den Deutschen, die pietätvoll genug waren, den toten Grill*
parzer zu feiern, nachdem sie den lebendigen hatten ver*
kümmern lassen. Aber das ist kein Grund, auch jetzt noch
in pietätvoller Urteilslosigkeit Grillparzer als Gesamter*
scheinung neben Kleist zu stellen. Daß man vor fünfund*
zwanzig Jahren einigen seiner Dramen nachhaltige Erfolge
bereitete, das war die Folge der Gewohnheit, über Schiller
die Achseln zu zucken und sich intimerer psychologischer
Zergliederung hinzugeben. Aber diese Erfolge mußten in
dem Maße schwächer werden, wie Ibsen und Hebbel durch*
drangen. Vor ihrem Tiefblick wurde Grillparzers Seelen*
kennerschaft unbeträchtlich, vor ihrer ethischen Härte seine
gefügige Halbheit bekämpfenswert. Heute gar, wo ein Theater
eine Zeitlang fast allein von Ibsens Altersdramen existiert hat,
wo Judith' und ,Gyges' ohne sensationelle Lockmittel Ful*
dasche Aufführungsziffern erreicht haben : heute Grillparzer
zu spielen, ist bereits wieder ein Wagnis, in das man sich
nur mit den blanksten und schärfsten Waffen begeben darf.
Eben darum wohl fand Herr Halm sich zu schade und
in Riga einen Regisseur, der freilich mit allen Waffen gegen
Grillparzer vorging. Der Mann heißt Doktor Dahlberg
und wird hoffentlich künftig am Neuen Schauspielhaus nur
noch die Tätigkeit verrichten, die die Kulissensprache als
.Stallwache* bezeichnet. Wir setzen voraus, daß der Herr
21
Doktor zu pietätvoll ist, um Grillparzer anzuzweifeln. Dann
hätte er sich über das Wesen des Liebesgedichts klar werden
und sich irgendeiner Auffassung zuneigen müssen. Man
kann das Hauptgewicht auf die Lyrik legen, oder man kann
die dramatischen Akzente verstärken ; man kann das Wiener*
tum der Gestalten, ihre Verwandtschaft mit Schnitzler, her«
vorkehren, oder man kann ihre — ach, wie fadenscheinig ge«
wordene! — klassizistische Hülle betreuen. Ein richtiger
Regisseur wird vermutlich das eine tun und das andere nicht
lassen. Der Herr Doktor hat das eine nicht getan und das
andere gelassen. Er gab eine einzige Stimmungs* und Cha*
rakterlosigkeit. Die üblichen schwarzen Zypressen standen
gegen die üblichen weißen Säulen. Nach den Bühnenbildern
hätten Sestos und Abydos ebenso gut in den Bergen wie am
Meer liegen können, das doch im Titel enthalten ist und
irgendwie in die Szenerie eingefangen werden muß. Nach
der Sprache der Bewohner war hier Sestos eine norddeutsche,
Abydos eine süddeutsche Großstadt, oder umgekehrt. Der
angebliche Natürlichkeitston, auf den Grillparzers ohnehin
nicht gerade flammender Überschwang abgedämpft wurde,
wäre für ein Erzeugnis der neunziger Jahre, sagen wir: für
Halbes ,Jugend' zu nüchtern gewesen. Leander ist gewiß
nicht mehr als ein braver Bursch. Aber er liebt immerhin
zum ersten Mal, und weder die Liebe noch die Erstmalig*
keit war Herrn Salfner zu glauben. Wahrscheinlich wäre er
ein Naukleros. Der kam durch Herrn Loehr um Herz und
Humor; und da auch Herr Lind nicht recht wußte, ob er
den Oberpriester als gütigen Griechen oder als harten
Katholiken nehmen sollte, so hätte Frau Erika von Wagner
Heldenkräfte haben müssen, um die ganze Vorstellung allein
zu tragen. Dabei ist Hero für sich schon schwer genug.
Hofmannsthal hat einmal ,Des Meeres und der Liebe Wellen'
mit , Romeo und Julia' verglichen und in lokalpatriotischer
Schwachsichtigkeit Grillparzer den Preis erteilt. In Wahr*
heit gibt es da keinen Vergleich. Aber eben weil Julia
ein ganz anderer Kerl ist als Hero, eben darum ist die Grill*
22
parzersche Rolle erheblich schwerer zu spielen. Hero lebt
in keiner bunt* und wildbewegten Welt und hat keinen eben*
bürtigen Gefährten: sie soll die Dürftigkeit und Monotonie
eines Grillparzerschen Griechenlands beleben und für die
Schmächtigkeit des Geliebten aufkommen. Frau von Wagner
hat nicht einmal ihre Figur bewältigt. Nur fürs Auge war
sie: Hero, schön wie Hebe blühend. Wenigstens, wenn sie
stillstand. Denn sie geht schlecht, scheint bei jedem Schritt
schlaff in sich zusammenzusinken und hat diese pomadige
Verträumtheit auch in ihrer Sprechweise, die allenfalls in sen*
timentalischen und idyllischslieblichen Momenten genügt.
Eine tragische Liebhaberin ist hier nicht gefunden. Herr Halm
versuche es mit Frau von Wagner einmal im modernen Kostüm,
aber nicht bloß mit diesem Mitglied. Seine Stärke sind Allo«
tria von heute, und einen Kinoschwank wie die ,Million' her*
unterzuwirbeln , ist sogar künstlerisch verdienstreicher, als
das Märchen von Grillparzers Größe einer neuen Belastungs*
probe auszusetzen.
PENTHESILEEN
Von Kleist, Lindau und HoUaender. In dieser Dreiteilung
liegt bereits die Kritik der beiden Aufführungen. Denn
es dürfte natürlich nur eine Zweiteilung sein: Deutsches
wie Königliches Theater hätten ja eben Kleists ,Penthesilea'
zeigen müssen. Dazu wäre das Schauspielhaus fähig gewesen,
als Matkowsky lebte und die Foppe fünfzehn Jahre jünger
war; dazu wäre das Deutsche Theater heute noch fähig, wenn
es nicht gerade die Eysoldt zur Penthesilea bestimmte, und
wenn . . . Welch eine Aufgabe für einen Regisseur wie Rein*
hardt, diese schreckensvolle Phantasmagorie , dieses blut*
durchschauerte und doch ganz gegenwärtige Vorzeitmärchen
in allem Glanz und aller Größe, in aller Greulichkeit und
aller Glut, in aller Grazie und in aller Gewalt auf die deut*
sehe Bühne zu stellen, die sich hundert Jahre lang durch die
Nichtbeachtung einer ihrer erschütterndsten Tragödien selber
23
verarmt hat! Aber Reinhardt hat es leider vorgezogen, in
der Zeit der deutschen Kleist#Feste ungarischen Post« und
Kommunalbeamten die Chöre des Sophokles beizubringen.
Halten wir uns also notgedrungen an die Surrogate, messen
wir diese mit ihrem eigenen Maß und räumen wir immerhin
ein, daß Lindau wie Hollaender, jeder in seiner Art, fleißige,
ernste und säuberliche Arbeit getan haben.
Hollaender hat vor Lindau voraus, daß er nicht im ge*
ringsten für Stubenreinheit des Textes zu sorgen brauchte.
Der Hoftheaterdirektor hat geglaubt, aus einem dampfenden
Hexenkessel einen handlichen Futternapf für höhere Zivil«
anwärter mit Töchtern machen zu sollen. Sein Redamheftchen
gibt eine glatte, geleckte, schillerähnliche Jambenaffäre. An
bedauerlich zahlreichen Stellen wird man Heinrich von Kleist
von dem schrecklich keuschen, schrecklich vernünftlerischen
Sprachverwilderer Paul Lindau bedrängt sehen. Achills
Pferde „schwitzen" nicht; Penthesilea, die irgendwo „ein
holdseliges Lächeln" erhält, verschluckt ihren gewaltigen
Hetzruf, und selbst Meroes abschwächende Wiederholung
dieses Hetzrufs wird verwässert; Küsse und Bisse ,reimen'
sich nicht, weil ein so sadistisches Element unstatthaft wäre
— und was dergleichen Eingriffe mehr sind. Von alledem
hält Hollaender sich frei. Aber Lindau streicht nicht bloß,
er verbessert seinen sehr geliebten und doch vielleicht nicht
ganz richtig geliebten Dichter auch gern ein bißchen. Ein
Beispiel für viele. Kleist sagt: „Penthesilea naht sich dir, Pe#
lidel" Daraus macht Lindau: „Die Amazonenkönigin naht
sich dir!" Noch nicht genug: dieser Antilyriker bricht un«
bedenklich, um die Dauer der Aufführung ja recht abzu«
kürzen, aus einzelnen Versen winzige Partikel heraus und
verstümmelt dadurch das Versmaß manchmal barbarisch. Es
dürfen aber hier nur größere Verskomplexe entfernt werden,
wie es bei Lindau auch, bei Hollaender oder Theodor Com«
michau ausschließlich geschieht. Dessen Bearbeitung ist end«
lieh in der Akt«Einteilung, die für den dreistündigen Theater«
abend unumgänglich ist, viel glücklicher. Sie gibt drei Akte
24
und läßt den Vorhang nach Kleists fünftem und zwanzigstem
Auftritt fallen. Das sind Zäsuren, die so auf der Hand
liegen, daß Lindau keine besseren weiß. Aber er will — weiß
Gott, warum — vier Akte und reißt darum den vierzehnten,
für das Verständnis der psychologischen Entwicklung weit«
aus wichtigsten Auftritt mitten durch. Commichaus Bear«
beitung sollte schon deshalb gedruckt werden, damit die
anderen deutschen Bühnen in ihrer Trägheit nicht zu Lindaus
Reclamheftchen greifen. Wer Hollaenders Aufführung klei«
stischer fand als Lindaus und das allein dem Regisseur
Hollaender zuschob, der vergaß, daß man es mit Kleist
leichter hat, kleistisch zu sein, als ohne Kleist und gegen
Kleist.
Zu Lindaus unkleistischer Bearbeitung hätte eine kleistische
Regie im übrigen nicht einmal gut gepaßt. Es war also stil«
gerecht, daß auch das Bühnenbild keinen Finger breit von
der Konvention abwich. Auf diesem bunten und überfüllten
Stück Schlachtfeld, das während des Abends nicht wechselte,
waren die Griechen Theatergriechen, die Amazonen maßvoll
haarbuschige Mannweiber und ihre Rosenjungfrauen Balle«
teusen. Hollaender macht sich die Drehbühne zunutze, um
den Schauplatz mehrmals zu verändern. Er zeigt eine An«
höhe, ein Blachfeld, eine Art Opferhain und noch einen
Fetzen der trojanischen Ebene. Es muß nicht sein, aber es
kann sein. Falsch ist nur, daß wir die Drehbühne funktio«
nieren sehen. Wenn man zu unserer Phantasie nicht das
Zutrauen hat, daß sie einen einzigen Ausschnitt für die
Totalität nimmt, darf man uns auch die Illusion nicht durch
einen Einblick in den Mechanismus des Theaters zerstören.
Zum Schluß wird verlangt, daß wir uns eine Fappmaske als
den Kopf des toten Achilles denken. Vorher aber ist nicht
für möglich gehalten worden, daß wir uns bei Penthesileas
Hetzruf die Hunde vorstellen. Sie müssen erscheinen und
müssen bellen. Warum, läßt sich da fragen, kommen wir
dann um Elefanten und Sichelwagen? Dieser Widerspruch
zieht sich durch die ganze Aufführung, die freilich in einem
25
Punkt das Hoftheater bei weitem übertrifft: die Griechen
kommen wirklich aus der Schlacht; die Amazonen sind halb*
nackte, staubbedeckte, furiose Asiatinnen; die Priesterinnen
verrichten ihren heidnischen Kult mit düsterem Fanatismus ;
und die Rosenjungfrauen halten sich von schablonenhafter
Süßlichkeit in Kleid und Zier erfreulich fem. Wäre ,Penthe#
silea' eine Pantomime — sie brauchte gar nicht besser in*
szeniert zu werden.
Aber auch zu sprechen ist allerlei. Da wird es denn ein
unbestreitbares Verdienst des Schauspielhauses bleiben, daß
Männer und Weiber und Mannweiber fast durchweg klar
und verständlich und zum Teil sogar hinreißend sprechen.
Wieviel bedeutet das gerade hier! Die Tragödie ist fast zu
reich an Berichten von Vorgängen, deren Anblick auch dann
kein Publikum ertragen würde, wenn irgendeine Bühne sie
darstellen könnte. Diese Boten und Zuschauer müssen nicht
nur durchs Wort ein deutliches Bild der Vorgänge, sondern
dazu noch durch »Aktion' weiten Strecken des Gedichts den
dramatischen Atem geben. Trotzdem nun Lindau nicht ein*
mal alle Sprecher des Schauspielhauses aufgeboten hatte, kam
doch der Metallgehalt der Kleistschen Diktion, ihr stählerner
Klang, ihre jagende Nervosität, ihr lebendurchglühtes Pathos
überraschend zur Geltung. Es waren sogar, sei es mit, sei
es ohne Absicht, die verschiedenen Berichte denjenigen Stimm«
lagen zugewiesen worden, die ihrem Charakter am besten
entsprechen. Odysseus war selbstverständlich an den Baß
des Meisterredners Kraußneck geraten, Antilochus war ein
Durchschnittsbariton und Adrast der helle Tenor des immer
noch kainzelnden Herrn Geisendörfer. Für die strenge Ober*
priesterin hätte sich der weiche Alt der Butze beträchtlich
verhärten, für die Freundin Prothoe der spröde Alt der
Frau Willig schneller erwärmen können. Den Mezzosopran
vertrat mit großer Energie bei den Amazonen Fräulein von
Arnauld, bei den Rosenjungfrauen das fast zu hübsche Frau*
lein Ressel, das zaghaft anfing und in der entscheidenden
Szene dann doch eine ganz unmädchenhafte Kraft entwickelte.
26
Aber mehr als diese Stimmen hätte der Sopran jener Helene
Thimig zu schmettern haben müssen, die wir vor ein paar
Monaten bei den Festspielen in Lauchstedt als das Evchen
des Komödiendichters Kleist entdeckt haben, und die viel*
leicht heute schon dem Tragiker Kleist und seiner Penthe*
silea gewachsen wäre.
Auf diesem Felde hatte das Deutsche Theater sich einem
Wettbewerb einfach dadurch entzogen, daß es auf seine
besten Kräfte verzichtet hatte. Einem Odysseus von Krauß*
neck ist vorläufig der junge Herr Danegger, dem Dilettantis*
mus und der x\nfängerschaft noch jüngerer und ganz namen*
loser Herren und Damen ist Kleist nicht gewachsen. Er
hat den schwersten Vers aller deutschen Dramatiker ge*
schrieben, und eine Bühne, die es für pietätlos hielte, ihm
seine Hunde schuldig zu bleiben, müßte seine Menschen
und ihre Worte denn doch mit ganz anderer Liebe pflegen.
Der treue Busen meiner Prothoe hat nicht einer Schauspielerin
anzugehören, die ihren Seelenschmerz in die Kniekehlen ver*
legt und den peinlichen Eindruck macht, als ob Wegener
sich verkleidet und sein Talent verloren habe. Der Gesang
der Rosenjungfrauen darf nicht wie von unbeteiligten Cho*
ristinnen heruntergeplärrt klingen. Jede heroische und jede
idyllische Schilderung von zehn Zeilen hat hier ihre Bedeu*
tung. Daß nicht einmal viel dazu nötig ist, sie im Sinne der
Dichtung zu behandeln, das bewies im Deutschen Theater
Fräulein Lia Rosen, die neulich als Stuckens Finngula so voll*
ständig versagt hat. Und genau wie bei Lindau Fräulein
Thimig, so gab bei Hollaender Fräulein Mary Dietrich die
Antwort auf die Frage, wer Penthesilea sein sollte, wenn
Frau Poppe und Frau Eysoldt es nicht sind.
Denn das war ja das Unglück für beide Aufführungen
(und ein ärgeres als für die eine die Bearbeitung, für die
andere die Unzulänglichkeit der meisten berichtenden Schau«
Spieler) : daß dort Achill fast gar nicht und Penthesilea kaum
halb, hier Achill allenfalls und Penthesilea nicht im mindesten
an die Vorstellung heranreichten, die jene Berichte immer
27
wieder von ihnen erwecken. Was Herr Staegemann gab,
war eine nicht unsympathische Matkowsky#Kopie. So, voll*
kommen so warf Wolf den Kopf, trug Wolf das Schwert im
Arm, strich Wolf die Augenbrauen mit der Hand; so ähn#
lieh war Wolfs Wuchs, Wolfs Gang, vielleicht auch seine
Stimme. Der Genius ist leider ausgeblieben. Es steckt nichts
hinter dieser schönen Maske als ein fideles Naturburschen*
tum. Wenn Achill zu Penthesileens kleinen Füßen liegt, so
muß die Luft voll sein von der Elektrizität des furchtbaren
Gewitters, das sich gleich entladen wird. Hier hätte die
Schäferstunde nie ein Ende zu nehmen brauchen. Bei Hol*
laender brachte wenigstens Moissi diese Pulverhaltigkeit mit.
Er kam auf die Bühne gehüpft und enttäuschte im ersten
Augenblick unsere Erwartung — nicht von seinem, sondern
von Kleists Achill. Aber die Diskrepanz, wenn sie auch
nicht ganz verschwand, verringerte sich zusehends. Das ge*
witterdunkle Antlitz strafte die zappelnden Glieder Lügen,
und wer sich noch immer widersetzte, der konnte bei ge*
schlossenen Augen aus diesem Munde Krieg und Verderben,
Haß und Liebe, Mannesmut und Knabenreinheit in ehernen
und weichen Klängen hören. Im Vortragssaal wäre keine
schönere Feier für Kleist denkbar, als Moissi seine Verse
sprechen zu lassen.
Von der Poppe muß man nach der Penthesilea der Eysoldt
achtungsvoller reden, als man es vorher getan hätte. Jetzt
erst recht darf kein entlastendes Moment vergessen werden.
Sie hat keinen Partner und hat keinen Regisseur und kommt
zu spät und auf falschem Wege zu der Gestalt. Welcher
Schauspielerin würde der Sprung von der Mutter der Mak*
kabäer zu der Tochter der Otrere glücken! Welche Schau*
Spielerin würde es nicht schädigen, wenn sie vor der Zeit
zur Matrone und nach der Zeit wieder zur Jungfrau gemacht
wirdi Kein Wunder, daß daraus, aber nicht daraus allein,
eine Verzerrung und Verkünstelung des Leibes und der Seele
entsteht, die der wahrheitsliebende Kleist am allerwenigsten
verträgt. Die Poppe spricht ein langes e niemals anders als
28
äh, und keiner sagt ihr, wie unerträglich verziert und wider*
natürHch dadurch jähde Rähde wird. Sie stachelt ihr edles
Gesicht zu den exaltiertesten Grimassen auf und erreicht
damit nur, daß diese in ihrem Übermaß schließlich gar nichts
mehr bedeuten. Sie hält Penthesileens wilde, giftige Liebe
für den reinen Zucker und hat in ihrer Zärtlichkeit Laute
von einer Gefühlsseligkeit, die für Fuldasche Kostümtändeleien
zu geßnerisch wären. Kurzum, sie schwankt und taumelt un#
beraten, am falschen Ort gezügelt und am falschen Ort ge*
hetzt, zwischen den Polen der Figur umher. Aber zweimal
zeigt sie doch, was sie einst war und heute noch vielleicht
bei Reinhardt wieder werden könnte. Vor dem mörderischen
Zweikampf gewinnt sie die heldenhafte Jugend ihrer Stimme
und damit ihres Herzens, an der Leiche Achills allen dun*
kein Glanz ihres Schmerzes zurück. Von diesen beiden Szenen
fällt nachträglich ein Schimmer über die ganze Gestalt, und
vollends wie der Genius der Tragödie muß einem die Poppe
dann erscheinen, wenn man die Eysoldt gesehen hat.
Es ist jetzt bei Reinhardt Mode geworden, daß die An*
gestellten nicht nur den Chef, sondern auch sich selber in
allen den Fällen verherrlichen, wo die künstlerische Leistung
nichts taugt und daher eine unfreundliche Beurteilung zu
befahren hat. Da die kluge Eysoldt keinen Augenblick im
Zweifel war, daß sie an der Penthesilea scheitern würde, so
hat sie vor der Premiere öffentlich gefragt, warum sie sie
eigentlich nicht spielen solle. Ja, warum wirklich nicht?
Warum soll eine Amazonenkönigin nicht eine Gnomen*
königin, eine Kriegsfurie nicht ein Hirtenbübchen, eine Glanz*
erscheinung nicht eine Kümmerlichkeit, eine Tigerin nicht
ein Frosch und Penthesilea nicht Puck sein? Warum spielt
die Butze nicht die Julia und Vollmer nicht den Ferdinand?
Weil es in der Schauspielkunst gewisse physische Grenzen
gibt, über die kein Mann und keine Frau hinweg kann. Sich
über diese seine Grenzen klar zu werden, ist das erste Ge*
bot für den Schauspieler, sie ihm im Notfall klar zu machen,
das erste Gebot für den Regisseur. Die Eysoldt als Penthe*
29
silea ist nur darum kein Witz, weil Aug und Ohr maßlos
gequält werden. Nicht allein, daß man ihr kaum eine von
den Eigenschaften und keine von den Taten glaubt, die ihr
nachgesagt werden, und deren sie sich selber rühmt: sie hat
ja nicht einmal die Kraft, davon zu sprechen. Sie steht als
Punkt am Firmament und teilt uns mit, daß sie den Ida auf
den Ossa wälzen werde. Wie wird das enden, wenn das
Körperchen schon bebt, um diesen einen Satz herauszubringen I
Was wir da oben zittern sehen, ist nie Penthesileas Seelen*
not, ist stets die mitleidswürdige Furcht der Eysoldt, ob
Kleists granitener Versbau sie nicht doch zerschmettern wird.
Schweiß trieft, die Augen irren, das Stimmchen kreischt und
überschlägt sich, und zu armseligen Künsteleien wird miß*
braucht, was für die Ewigkeit gefügt ist. Weil die Eysoldt
weder die Phantasie noch die Physis hat, als Kleists Penthe*
silea in den Zweikampf zu rasen, so tanzt sie als Hofmanns*
thals Elektra hinein. Soweit reicht es. So schlau ist die
Eysoldt selbstverständlich: wo es irgend geht, aus der Not
eine Tugend zu machen. Aber diese Schlauheit hat ihr leider
auch die Szenen zerstört, die sie sonst vielleicht bewältigt
hätte, hat von Penthesileens lieblichen Gefühlen den Duft
und den Schmelz genommen und Kleists silberhell funkelnde
Erotik stumpf gemacht. Wenn diese Penthesilea liebt, wird
sie nüchtern, wenn sie haßt, wird sie nuttig, und wenn sie
stirbt, wird sie larmoyant. Es war ein peinlicher Irrtum.
Denn Teufelsliebchen, wenn auch nicht zu schelten, sie können
nicht für Heroinen gelten.
Als vor diesen Krämpfen der Ohnmacht das Publikum
still blieb, da hielt ich das nicht etwa für Andacht, sondern
für das anständige Bedauern gesitteter Hörer. Als aber nach
den Aktschlüssen Beifall nicht erscholl, nein, losdonnerte,
herab* und hinauftoste, schier die Wände sprengte und sich
nimmer erschöpfen und leeren wollte, da war nicht mehr zu
zweifeln, daß die Begriffsverwirrung einen Grad erreicht hat
wie noch nie zuvor. Wofür sind Goethe und Kleist, Rem*
brandt und Beethoven, Kainz und Matkowsky auf der Welt
30
gewesen, wenn das schön, wenn das selbst nur erträglich isti
Aber wer ist schuld? Man muß nicht nur essen und schla*
fen, man muß auch lachen, und darum lese ich nach den
Premieren die berliner Rezensionen. Nun denn, sie haben,
wie nicht anders zu ervv^arten war, die Schändung, die als
Ehrung ausgegeben wurde, sanktioniert. Noch mehr. Die*
selben Köpfe, die Reinhardt seit Jahren als Kunstschädling
verfolgen, die seine stärksten Visionen zu Tode gehöhnt und
ihn vielleicht erst auf die bedauerlichen Irrwege seiner Gegen*
wart gehetzt haben: sie sind vor dieser ungenialen, ganz un*
kleistischen, aber braven und anständigen Kopie des geleh*
rigen Hollaender in die Knie gesunken. Es wäre nicht der
erste Fall der Kunstgeschichte, daß einer durch die Werke
seiner Schüler zu den Ehren kommt, die ihm, dem Original,
versagt geblieben sind. Kein Wunder aber, daß es Reinhardt
neuerdings mit solcher Macht zu wilden Völkerstämmen reißt.
ALLES UM GELD
Oder besser: Traumulus. Nämlich darum besser, weil das
Schicksal dieses Vmcenz durch sein unheilbares Träumer*
tum bestimmt wird, nicht durch seinen heilbaren Geldmangel.
Er kriegt ja immer wieder Geld — aber er verschleudert oder
verbrennt es. Er könnte sich durch Zugeständnisse rangieren
— aber er verschmäht sie. Er nennt sich zuversichtlich einen
Raubvogel — aber ist er nicht ein Lamm? Eulenberg hat ge*
glaubt, den großen Typen der Gallier hier einen allerdeut*
schesten Typus entgegenzustellen: Lesages Turcaret, der
nichts ist als niedriger Geldmensch; Balzacs Mercadet, der
in den Taschen der anderen das Geld findet, das noch gar
nicht darin ist; Zolas Saccard, der jahraus, jahrein Millionen
verzehrt, ohne je selber einen Pfennig zu besitzen — diesen
dreien eine halb namenlose Kreatur Gottes, die nicht säet
und nicht erntet und doch erhalten wird; den Verbrechern
einen W^lndbeutel ; den Zahlenmenschen einen Musiker; den
gewissenlosen Spekulanten einen gewissenszarten Phantasten,
31
der keine Unschuld für sich leiden läßt. Im Stück werden
jene gallischen Typen durch die pittoresk vorüberhuschenden
Episoden kleiner Halsabschneider, Börsianer und Heirats*
vermittler vertreten. Eulenberg müht sich redlich ab, den Gegen*
satz zwischen absonderlichen und gewöhnlichen, zwischen trau*
menden und rechnenden Menschen sinnfällig und dramatisch
zu machen. Das Malheur ist nur, daß er seinen Aufwand
fast für nichts vertut, daß er jenen Gegensatz eigentlich fast
gar nicht ausnutzt. Auf Vincenz läuft alles hinaus. Aber die
Geldnot kann ernstlich einer Seele nichts anhaben, die in
anderen Welten lebt; und was diese Seele ernstlich trifft, hat
nichts mit Geld und Geldeswert zu schaffen. Wenn dieses
Drama undramatisch ist, wenn dieser Körper kein Rückgrat
hat und an vielen Stellen blutleer ist: so kommt es daher,
daß jener Gegensatz unnotwendig, daß er ein Akt dichte*
rischer Willkür ist.
Einen zweiten Gegensatz konstruiert \^ncenz mit dem
Munde. Er erklärt es für ein Unglück, daß er mehr Geist
als Glück, mehr Genie als Geld habe. Dazu würde noch
nichts gehören. Aber wo ist sein Schenie, ich meine sein
Geist? Müßte er nicht wenigstens durch Worte hörbar
werden, da er durch keine Leistungen sichtbar wird? Ver*
ziehten wir auch darauf, um endlich zur Freude an der
Schönheit, an der hohen und seltenen Schönheit dieser Dich*
tung zu kommen. Vmcenz hat weder Geist noch Glück,
weder Genie noch Geld. Aber er hat: Sehnsucht. Er und
sein Troß, sein verkrüppelter Sohn, seine romantische Toch*
ter, sein empfindsamer Schreiber und Ursula, die prächtige
alte Gefährtin seines jammervollen Ausgangs: sie alle sind
wie im Exil, von einem schöneren Stern in diese kalte Welt
verbannt. Sie frieren allein und wärmen sich an einander.
Sie schwelgen in ihrem Heimweh und berauschen sich an
ihren Ekstasen. Sie glauben lachend an ihre Träume und
träumen zehn neue, wenn einer zerrinnt. Eulenberg gibt
hier mit wahrer Meisterschaft die besondere Not jedes Ein*
zelnen und die Atmosphäre von freudiger Entrücktheit, die
32
sie alle umschimmert und verbindet. Von dieser Atmosphäre
geht ein Zauber aus, der sogar in die häßliche .praktische'
Welt hinübergreift. Ein fetter Börsenmensch wird gut und
hilfreich, ein unbedenklicher Verführer ziemlich menschen*
ähnlich. Die blühende Beredsamkeit ist für jenes ausgesetzte
Häuflein nur ein Mittel mehr, sich zu betäuben. Darum ist
sie diesmal auch dramatisch unanfechtbar. In anderen Fällen
ist sie es nur sprachlich gewesen. Von jeher klang jedes
Wort von Eulenberg neu und eigen, weil seine Menschen
immer ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz
hatten. Aber es brauchte nicht immer dieselbe Empfindung
zu sein. Eulenbergs Menschen handelten nicht aus psycho*
logisch kontrollierbaren Beweggründen, sondern aus jähen
Impulsen. Sie hielten nicht fest auf ein Ziel zu, sondern
hüpften unfaßbar närrisch herum. Sie überrumpelten fort*
während sich und uns. Da scheint es mir denn der entscheid
dende Fortschritt dieses Werkes zu sein, daß es dramatische
Existenzen enthält, Menschen, deren Schöpfer weiß, was er
mit ihnen will, die selber wissen, was sie wollen, und die
trotzdem nicht etwa unkompliziert sind. Es ist ja kein Zufall,
daß — ein Novum für Eulenberg — vierzehn Theater dieses
Stück schon vor der berliner Premiere angenommen haben.
Sie haben richtig gespürt, daß die Einheit der Charakteristik
jedenfalls einen Mißerfolg verhüten werde.
Aber einen Erfolg, den Erfolg, den schmerzlich begehr*
ten, wird dieser Dichter erst dann haben, wenn er dramatische
Menschen nicht in irgendeine dramatische Handlung stellt,
sondern in die dramatische Handlung, der ihr Wesen nicht
entrinnen kann. Noch einmal (von links herum, wie Eulen*
bergs Schadehen Cyriak sagt) : was diesen Vincenz zeitlebens
erfüllt und schließlich umbringt, und was uns an seinem
Schicksal nahegeht, das ist völlig unabhängig von seinen
Geldnöten ; die Jagd nach dem Geld aber nimmt vier Fünftel
des Stückes ein. So ist es gründlich verformt und wird bald
verschwinden, weil die Gesetze der Bühne sich nicht spotten
lassen. Schade. Denn es ist eine einzige Kostbarkeit und
3 33
wird uns Wenigen ein Besitz für immer werden. Es hat in
aller Eintönigkeit eine berückende Klangfülle, in aller Ein*
farbigkeit ein strahlendes Nuancenspiel. Es ist voll schruUen*
hafter Humore, die diesmal nicht von Jean Paul und Dickens
und Raimund, sondern durchaus von Eulenberg sind. Es
ist gleichwohl ein Trauerspiel und wird in seiner melancho^s
lischen Bangigkeit, die der Weichlichkeit zur rechten Zeit
noch immer ausbiegt, für jedes traumulische Dasein eine
Zuflucht vor dem Jahrmarktslärm des Tages werden.
. . . Wenn man sich erinnert, was Brahm alles nicht gespielt
hat, und sich fragt, warum er gerade auf diese Dichtung
verfallen sein mag, so ist es vielleicht nicht einmal allzu bos*
haft, die geringen Kosten der Ausstattung in Betracht zu
ziehen. Vincenz haust ja in einer Dachkammer. Die ist,
sollte man meinen, von keiner Regie zu verfehlen. Im Les*
singtheater schien sie frisch lackiert aus der Werkstatt ge*
kommen und erst mit Beginn des Stückes bezogen worden zu
sein. In dieser Dachkammer vollführen die Gläubiger des Vm»
cenz Akt um Akt ihren gespenstigen Flackertanz. Es muß immer
wieder die Stimmung eines Albdrucks entstehen, den derMor*
gen verscheucht und die nächste Finsternis neu gebiert. Emil
Lessing kann wenig; aber dergleichen kann er am wenigsten. In
massiger Körperlichkeit stapfen die Gläubiger einher, sprechen
natürlich und umständlich ihren Part herunter und ver#
schwinden nicht, sondern schieben ab. In jedem naturalisti:*
sehen Stück mag man lastende Elemente dermaßen lastend
wiedergeben. Dies Nachtstück, auf der Maultrommel ge*
spielt, verlangt einen Stil, der Schärfe und Ungreif barkeit
zu einer Art fließender Plastik vereinigt. Begnügen wir uns
in diesem Theater mit Schauspielkunst. Wenn hier irgendwo
einmal der Ton der ganzen Dichtung getroffen wird, ist es
Sache des einzelnen Schauspielers. Herr Forest hat in seiner
kraftlos werdenden Stimme und in seinen marionettenhaften
Bewegungen etwas von der seltsam abgestorbenen, nicht recht
geheuren Lustigkeit der Eulenbergschen Seelenverkäufer. Bei
Sauers Vincenz geht alle Bannkraft von den Augen aus, die
34
beim betäubenden Andrang der Verfolger wie im Irrsinn
umhergeistern und sich im Schoß der Bluts:= und Wahlver*
wandten zu dem gütigen Lächeln eines reinen Herzens ver*
klären. Seine beiden Kinder sind tiefer zu fassen. Der Junge
Titus wird wohl durch jede Schauspielerin verzerrt werden.
Für das Mädchen Susanne hätte vielleicht Fräulein Lossen
die Blumenhaftigkeit, zu der das robustere Fräulein Herterich
sich zwingen muß. Ganz wundervoll aber sind die beiden
Menschen geraten, die \^ncenz nicht erzeugt, sondern an sich
gezogen hat. Als Ursula verwandelt die Grüning die Lächer*
lichkeit eines späten Weibchens in die biblisch schlichte Größe
jener Letzten, welche die Ersten sein werden. Als Schreiber
Cassian hat Herr Stieler im schmalen edlen Antlitz eine un*
endliche Sanftmut, in den weit aufgerissenen Augen eine
rührende Angst um seinen Herrn. Wo andere sagen : Wenn
ich nicht irre, da sagt Cassian: Wenn ich nicht träume.
Diese Verträumtheit betont Herr Stieler viel weniger als
Eulenberg und teilt sie dadurch um so nachdrücklicher mit.
Als dann Cassians unwahrscheinlichster Traum Wirklichkeit
werden zu sollen scheint, leuchtet die leise Stimme des
Schauspielers einen Augenblick freudevoll auf. Aber sie eri=
stirbt gleich wieder, weil Cassian weiß, welchen ewigen Men*
schenschlag der Dichter Eulenberg in seiner schönsten Dich*
tung gestalten wollte und gestaltet hat: Sehnsuchtsvolle
Hungerleider nach dem Unerreichlichen.
VON BARNOWSKY UND BERNAUERS
Eine öde Woche. Stücke wie dieser ,Papa' sollten nicht
mehr nach Deutschland herübergenommen werden. Ihre
Nichtigkeit kann allein durch den Klang des französischen
Idioms, durch ein paar Boulevardlöwen von selbstverständ*
lieber Haltung und Eleganz und durch eine mondäne Weib*
lichkeit nicht nur von Talent, sondern auch von sehenswerter
Emballage erträglich gemacht werden. Wir sind nicht neidisch
auf das alte Burgtheater, das von solchen Künsten und
3* i 35
Wesenszügen einmal eine deutsche Ausgabe gehabt und
zum Teil noch heute in Ernst Hartmann hat. Der würde,
was dem ,Papa' obliegt: einen fünfundzwanzigjährigen natür*
liehen Sohn zu finden, anzuerkennen und um die Braut zu
bringen, mit Delikatesse, Vornehmheit und ziemlich unver*
welktem Charme verrichten. Das sind nun lauter Eigenschaften,
die der Gast des Kleinen Theaters, Herr Franz Schönfeld,
nicht hat, und so mußte man, je nach Temperament, die
Komödie von Flers und Caillavet entweder als gleichgültig
oder als unappetitlich empfinden. Die Sache wäre gar nicht
schlimm, wenn die Geschlechtlichkeit eine lustspielmäßige
Leichtigkeit behielte, wenn lachend gezeigt würde, daß das
Alter eines Liebeskünstlers weder ihn noch ein junges Mäd*
chen vor Torheit schützt. Aber die Autoren beseelen, ver*
tiefen, belasten und verdicken ihre simple Geschichte, tränken
sie mit Süßlichkeit und schwindeln eine Sentimentalität hinein,
als hätten sie nicht in erster Reihe an die pariser Aufführungs*
Serie, sondern an die Eroberung aller deutschen Provinzen
gedacht. Oder ist das der letzte pariser Geschmack? Dann
täte ein berliner Theater, das sich aus den Beständen des
eigenen Landes nicht zu versorgen weiß, auf alle Fälle besser,
bis zu Dumas und Sardou zurückzugehen. Diese Generation
brauchte denn doch nicht so schäbig hauszuhalten. Sie
brauchte sich nicht für die eine .Situation' des zweiten Aktes
den ersten Akt lang zu sammeln und den dritten Akt lang
von den Strapazen auszuruhen. Sie bildete sich nicht ein,
durch einen trägen und ausgelaugten Dialog Ton und Niveau
einer Schicht wiederzugeben, die ihre Siege durch Esprit,
durch die Schnellkraft des Wortes erficht. Sie verstand ein
Theaterstück zu bauen und überaus wohnlich zu machen.
In den Nothäuschen, die Flers und Caillavet seit dem Tode
Emanuel Arrenes zusammenhauen, kann man nur schlafen.
Dazu gibt ein gründlicher Deutscher noch mehr Gelegen*
heit. Die glücklichen Herzöge von Brabant haben den An*
tritt ihrer Regierung gewohnheitsmäßig eine joyeuse entree
nennen dürfen. Für berliner Theaterdirektoren dagegen und
36
ihre geladenen und ungeladenen Gäste ist von jeher aller
Anfang schwer und kummervoll gewesen. Warum hätten die
neuen Herren des alten Hebbeltheaters , das von jetzt an,
und hoffentlich endgültig, ,Theater in der Königgrätzerstraße'
heißt, eine Ausnahme bilden sollen? Nach Barnays ,Deme*
trius', Blumenthals , Nathan', Max Loewenfelds ,Iphigenie',
Brahms , Kabale und Liebe', Praschs .Penthesilea', Rein*
hardts ,Käthchen von Heilbronn', Roberts ,Maria Magda*
lene' hatten Meinhard und Bernauer das Recht auf eine
schlechte Eröffnungsvorstellung. Sie haben von diesem Recht
insofern einen ausschweifenden Gebrauch gemacht, als sie
sich nicht bloß mit der Aufführung, sondern, wirklich über*
trieben mutwillig, auch mit dem Stück in die Premieren*
gefahr begaben. Sie sind darin umgekommen und müssen
sichs nun gefallen lassen, daß ihr literarischer Geschmack
genau so in Zweifel gezogen wird wie ihre Regiebegabung.
,Die Spielereien einer Kaiserin' sind ein Stück von er*
lesener Grauenhaftigkeit. Nach Liliencron, Dehmel und
manchem anderen hat hiermit Max Dauthendey bewiesen,
was freilich nicht erst bewiesen zu werden brauchte: daß
einer ein großer lyrischer Dichter und doch oder deshalb
ein hoffnungsloser Dramatiker sein kann. Unser Lyriker
hat sich zu der Bilderbogenmanier jener Kolportagedramatik
hingezogen gefühlt, die für jedes Bild einen besonderen Unter*
titel sucht und findet: Das Dragonerweib, Das Frühstück,
Der Schmuckkasten, Das Taschentuch, Die Witwenhaube,
Das Kaiserinnenbett. Darin liegt schon die Entwicklung:
Das Dragonerweib stirbt schließlich im Kaiserinnenbett.
Aber ist es denn eine Entwicklung? Trotzdem es von Ma*
rienburg über Moskau nach Petersburg, aus einem Kriegszelt
durch ein Fürstenhaus in das Zarenschloß und aus dem Jahre
1702 bis ins Jahr 1727 geht — trotzdem bleibt sich eins
immer gleich: Katharinas Gemeinheit, ihre Weinerlichkeit
und ihre Liebe zu Menschikoff. Dadurch nämlich hat Dau*
thendey eine russische Atmosphäre zu treffen geglaubt, daß
er seine Personen abwechselnd flennen und schimpfen, beten
37
und saufen, singen und morden, treten und getreten werden
läßt. Es entsteht eine Eintönigkeit, die man sechs Akte lang
erlitten haben muß, um sich von diesem halb gemütvollen,
halb zähnefletschenden Lyriker weit weg zu einem wirklichen
Mannskerl, einem entschlossenen Rohling, einem brutalen
Schauerstückfabrikanten, einem wilden Kulissenreißer hinzu*
sehnen. Kurz: zu Philippi oder Metenier. Bernauers wären
entsetzt gewesen, wenn man ihnen angesonnen hätte, mit einem
Stück dieser Herren ihr schönes neues Haus zu eröffnen. Was
aber haben sie von Dauthendey? An Spannung und Er#
regung jeder Art, feiner wie grober, ist in diesen sechs —
kaum zusammenhängenden, beliebig zu vermehrenden und
zu vermindernden — Akten ein Mangel, der für das Thea#
ter der Tod ist. Historische Namen rollen mit Donnergepolter
über die Bühne — und nichts rührt sich in uns. Nerven*
chocs der erregungsbedürftigen Premierenleute werden mit
einem ungeheuren Apparat vorbereitet — und kein Choc
tritt ein. Auf den Tumult der schrecklich bunten Begeben*
heiten soll ein literarisch veredelndes Licht fallen — und alles
bleibt dunkel. Wenn da überhaupt zu helfen wäre, dann
könnte nur schöpferische Schauspielkunst helfen. ,Madame
Sans*Gene' ist als Theaterstück ein unsterbliches Meisterwerk
gegen diese ungekonnten , Spielereien einer Kaiserin', an denen
gar nichts, nicht einmal der Titel stimmt. Aber auch Sar*
dous Titelfigur ist schließlich eine Atrappe wie Dauthendeys
Katharina. Und doch haben Hedwig Niemann und Paula
Conrad einen unvergeßlichen Menschen daraus gemacht.
Vielleicht wird Frau Tilla Durieux
Die Regie hatte sich mächtig angestrengt, hatte Kosaken
und Generale, Popen und Mohren prächtig ausstaffiert, hatte
hochnoble Interieurs gestellt, mit Säulen nicht geknausert
und diese in jedem Bild anders bekleidet und hatte schließ*
lieh den meisten Darstellern befohlen, die Hälfte von Dau*
thendeys bedeutungslosem Schwulst zu verschlucken oder
zu verbrummeln. Hätte sie nun auch noch fertig gebracht,
worauf alles ankam, Frau Durieux entweder zu bändigen
38
oder weit über sich hinaus zu steigern, so hätte es am Ende
einen Darstellungserfolg gegeben. Aber Frau Durieux war
eine große Enttäuschung. Wir haben sie bisher immer bei
Reinhardt gesehen, wo sie, mit einer Ausnahme, in Kunst*
werken beschäftigt und, mit wenigen Ausnahmen, einem
genialen Regisseur unterstellt war. Jetzt hat sie sich als un*
bedenkliche Virtuosin ohne die Mittel einer Virtuosin ent*
puppt. Daß sie Virtuosin sein oder werden möchte, trat
hauptsächlich durch die schlichte, kraftvolle und herzhafte
Spielweise von Emil Lindner zutage, der freilich für diesen
Menschikoff viel zu schade ist. Daß sie keine ist, daß ihr
Instrument nicht ausreicht, wurde durch die Eindruckslosig*
keit fast aller wichtigen Szenen bewiesen. Sie tobte drauf
los, ließ die Gegensätze der Figur möglichst laut aneinander*
knallen, war ohne Übergang Unband und Wurm, Markt*
weib und Vögelchen — und kriegte weder eine echte Träne
aus den Augen noch einen wirklich machtvollen Ton aus
der Kehle. Je weiter der Abend und die Rolle auf den
Schluß zuschritt — auf die Sterbeszene, die in völliger Ton*
losigkeit versank — desto krasser wurde das Mißverhältnis
zwischen den Begierden der entfesselten Schauspielerin und
ihrer wahren, von ihr bedauerlich verkannten künstlerischen
Art. Sie ist eine feine und höchst aparte Ensemblespielerin
und scheint sich als Star etablieren zu wollen. Bemauers
sollten dem wehren, von Anfang an. Sie entwerten sonst das
Mitglied, von dem sie bei richtiger Einordnung beträchtlichen
Nutzen haben können, und sie entwerten ihr Theater, das
nicht gebaut, nicht so gebaut worden ist, um uns mit Vor*
stadtspektakeln, nackten oder literarisch angeputzten, auf die
Nerven zu fallen.
VERTAUSCHTE SEELEN
Nach der eindruckslosen Aufführung hofft man, durchs
Buch aufgeklärt zu werden. Da wittert man denn
wenigstens, was der Dichter sich gedacht hat. Der König
39
Fadlallah wird durch wechselnde Gestalten geführt, um nach
tieferer Einsicht ins Leben ein besserer König, ein besserer
Gatte, ein besserer Mensch zu sein. Wenn der Mann uns
nur vorher, nachher und mittendrin im allergeringsten inter#
essiertel Aber da alles Traum und Schein, Symbol und Spiel
sein soll, so schieben wir diesen Helden uns selber unter,
um zu irgendeinem Anteil zu kommen. Dann scheint das
Stück sagen zu wollen, daß unsere Entwicklung davon ab*
hängt, in wieviel menschliche Seelen und bis zu welchem
Grade wir uns in sie versenken und versetzen können. Also
eine Erziehungskomödie. „Der Mensch erkennt sich selber
nur im Menschen; nur die anderen lehren jeden, wer er sei"
— so oder ähnlich hat dasselbe wie Scholz einer seiner Kol*
legen ausgedrückt, der vor ihm den Vorzug der Kürze, der
Klarheit und der Könnerschaft hat. Denn Scholz ist hier ganz
in der Begrifflichkeit stecken geblieben, ist fast nirgends zum
Poeten geworden. Er gibt etwa ein ekstatisches, ein phan*
tastisches und ein erotisches Zwischenspiel. Dieses erotische
Zwischenspiel nun wird von einem Eunuchen ausgeführt. Das
ist bezeichnend. Genau so sind Ekstase und Phantasie ver#
schnitten und gelähmt und bringen es gerade zu einem dünnen
Gepiepse. Scholz versucht weiterhin ein Gegenstück zum
Amphitry on^Motiv : während Zeus als Amphitryon zu dessen
Alkmene kommt und für Amphityron gehalten wird, kommt
König Fadlallah in Gestalt eines Bettlers zu seiner Königin
und kann ihr das Gefühl nicht verwirren, wird als Fad#
lallah — wenn auch nicht erkannt, so doch gespürt. Wie
müßte solch eine Szene dastehen! Wie müßte es in ihr und
um sie von großen Ahnungen rauschen! Aber sie verpufft.
Scholz erklärt in einem Nachspiel, daß er sich von den*
jenigen mißverstanden fühle, die gelacht hätten, statt zu
weinen. Er darf nicht enttäuscht sein, da er ja den Ernst
seiner Dichtung in tausendundeine Groteskenverwechslung
eingekapselt hat.
Nur daß eigentlich gar nicht so viel gelacht worden ist.
Das war wieder unsere Enttäuschung. Es wäre uns am Ende
40
recht gewesen, unsere Nachdenklichkeit und Andacht öfters
pausieren und uns von einer feineren oder gröberen Komik
lächern oder durchschütteln zu lassen. Aber dazu hätte es auch
wirklich Komik und nicht bloß das Rezept zur Komik sein müs*
sen. Man denkt, zum vierten Mal, an den Haremswächter. Scholz
sieht alle abenteuerlich^drolligen Möglichkeiten, die in seinem
Thema liegen, und rechnet aus, wie sie abzuwandeln und zu
verknüpfen sind, um einzuschlagen. Aber die wenigsten
schlagen ein. 'Wie es Dramatiker gibt, die nicht aufhören
können, so kann dieser zunächst einmal nicht anfangen. Man
ist bereits mürbe, ehe es richtig losgeht. Ist es endlich soweit,
dann variiert Scholz sein Thema nur insofern, als er einiger*
maßen unter den Körpern abwechselt, in die seine Seelen
schlüpfen. Tatsächlich wäre es nötig, daß er unter seinen
Einfällen abwechselte. Im Grunde aber wiederholt er fort*
während den einen Einfall, daß ein Lebendiger die Formel
spricht oder andeutet, die ihn tötet und gleichzeitig einen
Toten belebt. Merkwürdig, daß Scholz gar nicht auf das
Zauberwort gekommen ist, das seine tote Komödie auch
dann belebt hätte, wenn er nicht mehr als seinen einen Ein*
fall gehabt hätte. Das Wort, die Silbe lautet: Reim. Scholz
scheint nicht zu wissen, daß geglückte Reime für sich allein
ein trockenes Stück witzig, ein eintöniges Stück unterhaltend
machen können. Dabei hätte er sich bloß zu fragen brauchen,
warum das Nachspiel von zwei Seiten launiger und wirk*
samer geraten ist als die übrigen hundertfünfzig Seiten.
Nicht so sehr dank jener Anwendung des einen Einfalls auf
den Dichter selber wie dank dem Reim. Durch ihn wird
die schleichende, erschrecklich mühsam vorwärtsholpernde
Komödie plötzlich beflügelt. Zu spät, zu spät! Für dieses
Nachspiel wäre die Vaterschaft irgendeines Tirso de Molina
aufrechtzuerhalten gewesen. Für den Hauptteil der Komö*
die kam kein anderer Autor als ein schwerer, grüblerischer
Deutscher in Betracht.
Um so mehr hätte die Aufführung ein rechtes Scherzo*
tempo haben sollen. Dazu war Herrn von Wintersteins Ke»
41
gie leider zu pedantisch. Sie hatte treuHch alles befolgt, was
das Buch vorschreibt. Aber da im Buch keinerlei Über*
schuß ist, so war das eben zu wenig. Die Komik lag in
kleinen pantomimischen Einlagen mit musikalischer Beglei*
tung, in übertriebenen Geräten und anderen Beisteuerungen
des erfindungsreichen Malers Ernst Stern weit mehr als im
Geblüt der Schauspieler. Selbst so zuverlässige Exzentriks
wie Biensfeldt und Arnold, die freilich keineswegs bloß
Exzentriks sind, überboten den Dichter nicht sonderlich.
Herr Henrich war als richtiger König schwächer denn als
parodierender Bettler, und Herr Kühne bewies in jeder Ver*
Wandlung seine Vortrefflichkeit. Mit volleren Mitteln bewies
Wegener das feinste Stilgefühl und eine wunderbare Mann*
lichkeit. Nur sein Humor war auch nicht üppiger als Schol*
zens. Melpomene in der Komödie endlich war Fräulein Mary
Dietrich, die sich beinahe zu begeistert ausgab. Deswegen und
in jedem Falle bleibt dies ungewöhnliche Talent ein Fressen
für den wahren Regisseur.
HUNDSTAGE
Korfiz Holm? Ich blättere in meinen Werken und finde eine
Kritik vom zwanzigsten April 1903, die folgendermaßen
lakonisch und lieblos lautet: „Im Berliner Theater wurde
wieder einmal ein Schauspiel unter Beifall begraben. Korfiz
Holm heißt der Verfasser. Er hat eine ungeheuer lange und
langwierige Dichtung gedichtet, eine Dichtung mit Edelmut
und Herzensschwärze, mit russischem Graf und berlinischem
Poltron und mit Gott weiß was noch, eine Dichtung, behag*
lieh, harmlos, brav, geschwätzig, linkisch, leer, etwas heiter
und etwas sentimental, ganz unwahr und absolut unnötig.
Wieso, warum, wozu, zu welchem Behuf? Um ein paar
genrehaft flotte Züge, ein paar drastische Einfälle, ein paar
wirksame Witze zu verwerten? Dazu hätte eine schnelle
Skizze für den ,Simplicissimus' über und über genügt."
Holm scheint aus dieser Kritik vor allem gelernt zu haben,
42
daß ihm der Spaß besser liegt als der Ernst. Er hat sich
beim zweiten Mal auf seine Flottheit, seine Drastikund seinen
Witz verlassen und daraus ein Lustspiel gemacht, das schon
deshalb erfreulich kurz geraten mußte, weil es mit den schlecht
ten Eigenschaften der deutschen Unterhaltungsdramatik erst
gar keine Zeit vertrödelt. Hier gibt es kein falsches Gefühl,
keine öde Geistreichelei, keine mühsamen Verwicklungen.
Mit nichts weiter als mit Geschmack und Geschicklichkeit
schiebt Holm drei halbbohemische Ehepaare und eine ver?
witwete .Oelcousine' durch einander, um sie zum Schluß alle
unversehrt wieder auf den rechten Platz zu stellen. Zeit: jene
Hundstage des Jahres und des Lebens, wo wir, nach Thomas
Mann, ein „unanständiges Prickeln im Blute" haben. Ort:
ein oberbayerisches Gebirgsdorf in der Nähe von München.
Das ist für Ton und Tempo des Stückes wichtig. Wenn
unsereiner nach München kommt, so bemerkt er, daß er
plötzlich langsamer geht, ruhiger atmet, freudiger blickt und
milder urteilt. Die Luft ist anders als in Berlin. Diese Luft
ist in Holms Lustspiel. Es ist gelassen, ohne langweilig zu
werden, phlegmatisch, ohne Fett anzusetzen. Die lieben Leut*
chen schwätzen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und
nicht, was der Autor an Bonmots für ein Zugstück gesammelt
und nachträglich auf verschiedene Personen verteilt hat. Das
macht den Dialog nett, sauber, literarisch anständig. Holm
bedenkt das Metier mit Bosheiten, die kitzeln, aber nicht
wehtun. Er ist frei von aller Pose, und wenn er Wahrheiten
über Liebe und Ehe vorbringt, weil über dieses Thema alle
seine sieben Herrschaften gerne mitreden, so verständigt er
uns mit einem Augenzwinkern, daß er sich über die Altbacken*
heit dieser Wahrheiten ebenso klar ist wie wir. Es ist schließ*
lieh das Genre, das seit Jahrzehnten durch hundert Fäden
mit den Herzens* und Geistesrudimenten der deutschen Bour*
geoisie verknüpft ist. Aber , Hundstage' ist ein so unschädliches,
manierliches und appetitliches Exemplar des Genres, daß es
willkommen geheißen werden soll. Solche Exemplare zivili*
sieren das Durchschnittsrepertoire.
43
Das sind auch die Stücke, die Bernauers spielen können, und
die das Theater in der Königgrätzerstraße braucht. Desgleichen
sind diese Stücke, sobald sie die Marke Blumenthal#Kadelburg
übertreffen, auf so intime Theater angewiesen. ,Nur ein
Traum' von Lothar Schmidt, trotzdem es ein schärferes Profil
hat als , Hundstage', ist seinerzeit in dem Riesenbassin des
Berliner Theaters verloren gegangen. Diesmal war gleich die
freundlichste Beziehung zwischen den Bürgern und den Ko*
mödianten hergestellt. Das [Bühnenbild heimelte sozusagen
an, die Luft war voll von Sommer, Flirt und Oberbayern,
und fünf von den sieben Darstellern machten ihre Sache so
gut, wie es die kargen Innerlichkeiten der Figuren irgend zu*
ließen. Herr Bergen als Lyriker, der in dieser besten aller
Lustspielwelten dreitausend Mark Vorschuß kriegt, zappelte
höchstens ein bißchen zuviel. Mit ihm liebelte FrauDurieux,
eine echte Salonschlange in ziemlich kleinen Verhältnissen,
der man nur ihre Kinder nicht recht glaubte. Ganz häuslicher
Herd war dagegen Fräulein Serda, die allerdings vom Autor
vor der entscheidenden Probe auf ihre Gestaltungskraft ver#
lassen wurde. Bei Fräulein Ludmilla Hell scheint vorläufig
der Reiz des Persönchens größer zu sein als die Selbständig*
keit der Schauspielerin. Sie verfehlte keine Pointe; aber es
klang immer, als sei sie zu dieser Treffsicherheit abgerichtet
worden. Den Erfolg des Abends hatte Herr Otto Gebühr
in einer Rolle, die nicht nur die ganze Liebenswürdigkeit des
Stückes in sich faßt, sondern auch dem Wesen und den Fähig*
keiten dieses lachenden, helläugigen, äußerlich und innerlich
blonden Schauspielers besonders entgegenkommt.
DIE ORESTIE
Das ist jetzt elf Jahre her. Wir waren Studenten der ber*
liner Universität, glühten für , Kunst und Literatur' und
hatten einen ,Akademischen Verein*, in dem wir über unsere
Lieblingsgebiete Vorträge halten oder hören konnten. Hier
schieden sich früh die Theoretiker von den praktisch ge*
44
richteten Gemütern. Jene sehnten sich, in einer Zeit der all*
gemeinen Stagnation durch Kritik die Gewissen zu wecken;
diese trauten sich zu, es selber besser machen zu können.
Ich für meinen Teil schrieb drauflos: „Gerade jetzt ist der
Niedergang so ojffenbar, daß ein Umschwung unausbleiblich,
der Pegelstand so tief, daß eine Steigung als Naturzwang
erscheint. Eine greisenhaft verfallene Kleinkunst ist dicht
daran, sich ins Nichts aufzulösen. Auf der anderen Seite
deuten verheißungsvolle Anzeichen auf ein neues Drama der
Gedanken und tiefen Gefühle als eine unabweisbare Not*
wendigkeit, auf ein dramatisches Drama, das keine Errungen*
Schaft des Naturalismus aufgäbe, aber in der banalen Mo*
mentbildnerei nicht sein Genüge fände, ein Drama, hinter
dem die große Persönlichkeit stünde, die doch in Kunst und
Poesie alles ist, die wuchtige Natur, die nicht Mosaiksteine
zusammensetzt, sondern mit Quadern baut. Und unsere Thea*
terleiter? Welche Verpflichtung erwächst ihnen aus dieser
Lage der Dinge? Haben sie hinreichendes Interesse für den
Fortgang unserer dramatischen Produktion, um Werdendem
werktätige Hilfe zu leisten? Und wenn sie Absichten hegen,
verfügen sie über die verwirklichende Kraft? Die Antwort
lautet betrübend. Wo der Geist willig ist, ist das Fleisch
schwach. Trägheit aber und Gewinnsucht herrschen, wo äußere
und innere Mittel zulangten." Dergleichen mag für die Prak*
tiker unter uns das Stichwort und der Ruf zur Leidenschaft
gewesen sein. Man beschloß, die Schläfer zu beschämen und
zu eigenen Theatervorstellungen vorzuschreiten. Wenn aber
ein unbeglaubigtes Unternehmen unbeglaubigte Dramatiker
aufführte, so war das für diese wahrscheinlich eher schädlich
als nützlich. In solcher Situation konnte es am wenigsten
Studenten schwer fallen, Dramen zu finden, die, ohne selber
neu zu sein, das neue Bedürfnis der Gegenwart nach großen
Gegenständen, großen Gedanken und großen Gefühlen be*
friedigten. Wilamowitz*Moellendorffs Übersetzung griechi*
scher Tragödien war soeben erschienen. Was lag für Hörer
und Verehrer des Gelehrten näher, als die wichtigsten von
45
diesen Tragödien einfach herzunehmen und zu spielen? Auf
den , König Oedipus' ließ man nach einem Monat die ,Antis
gone*, auf diese nach acht Monaten die ,Orestie' folgen. Es
gab Eindrücke von außerordentlicher Stärke, mehr noch: es
gab einen Erfolg von ungewöhnlicher Tragweite. Plötzlich
begann es, ringsum lebendig zu werden. Es schien, als sei allen
jungen Kräften auf einmal der Mut beflügelt worden. Der
»Akademische Verein für Kunst und Literatur' durfte getrost
zu seinen Diskussionen zurückkehren : denn ein Schauspieler,
dem in der ,Orestie' nichts weiter als der Bericht von der
Opferung der Iphigenie zugefallen war, hatte sich über Nacht
selber entdeckt, griff mächtig aus, ward die Tat von unseren
Gedanken und der Erneuerer und Beherrscher des berliner
Theaters. Er hieß Max Reinhardt.
Das ist jetzt zehn Jahre her. Und wenn sie köstlich ge*
wesen, so sind sie Mühe und Arbeit gewesen. Neun Jahre
lang war es eine Wonne, diesen reichen Menschen an dieser
seiner schönen, edlen, stolzen und fruchtbaren Arbeit zu sehen.
Erst die europäischen Zirkustriumphe des »König Oedipus'
haben den künstlerischen Betrieb der Reinhardtschen Bühnen
verstört und nach und nach so viel Schaden angerichtet, daß
es das Recht des Kritikers wäre, vor jedem neuen Zirkusex*
periment den Standpunkt Lessings einzunehmen, der gesagt
hat, daß er die Qualitäten des Herrn von Voltaire ja wohl
sehe, daß er sie aber nicht nennen wolle. Vielleicht könnte
ich mich nach einiger Zeit gleichfalls zu solcher erlaubten
und weitblickenden Kunstpolitik abkühlen. Am frühen
Morgen nach der Vorstellung gibt es für mich keine andere
Möglichkeit, als der reinen Lust meines Metiers zu frönen:
zu erkennen, zu unterscheiden. Dichter, Regisseur und Dar*
stellern ihren Anteil zu# und abzusprechen, also: so klar und
scharf, wie meine Seh* und meine Sprachkraft es erlauben,
den Eindruck wiederzugeben, den ich in voller Unbefangen*
heit gehabt habe, und ihn zu erklären.
Es war ein halber Eindruck. Das ist ein Fortschritt gegen
den , König Oedipus', der mir überhaupt keinen Eindruck
46
gemacht hat. Sophokles war damals nicht allein schuld; da
er mich ja an anderen Orten immer irgendwie gepackt hat.
Diesmal wieder ist es nicht ausschheßlich das Verdienst des
Aischylos. Vor allem war es klug von Reinhardt, das dritte
Stück der Trilogie zu streichen. Was uns darin noch an*
geht, wird am Schluß des zweiten Stückes in einer Vision
des Orest vollkommen erschöpft; und daß die Erinnyen sich
schließlich in Eumeniden verwandeln werden, wissen wir.
Es hieße den Erfolg der Vorstellung noch nachträglich in
Frage stellen, wenn man wirklich in vierzehn Tagen die Tri*
logie vervollständigte. Vorher, in den ersten beiden Stücken,
haben uns nicht die Inhalte erregt, die uns mit ihren tatsäch*
liehen und religiösen Voraussetzungen fremd geworden sind,
sondern: der Atem des Aischylos, seine gewaltige Geste, seine
Überlebensgröße. Daß hier in Blut gewatet wird, läßt kalt:
aber mit welchen mächtigen Schritten, mit welcher Unbe«
denklichkeit, mit welcher schauerlichen Ungerührtheit — das
wühlt auf. Uns immer wieder zu beruhigen, sind die Chöre
da. Sie weisen über das individuelle Geschick der Atriden
hinaus; sie reihen es in den Ablauf alles menschlichen Ge#
schehens ein; sie suchen die ewige Dike in den blindwütenden
Moiren. Ihre Lyrik steht gleichberechtigt vor und hinter den
dramatischen Gipfelszenen. Es kommt für Übersetzer und
Regisseur darauf an, beide Elemente der Dichtung zu treffen.
Vollmoeller hat einen Meisterwurf getan. Wer hätte diese
Knappheit, diese Festigkeit, diese männliche Härte von ihm
erwartet! Wie weit ist hier die Übersetzung von Wilamowitz,
die doch bisher die beste war, in jeder Hinsicht übertroffen!
Wilamowitz wird sich selber am meisten freuen: denn mit
der sachgetreuen Uneigennützigkeit des echten Gelehrten hat
er, im Vorwort seiner Ausgabe, von der Zeit gesprochen, da
auch seine Übersetzung ausgedient haben, da auch sie, und
mit Recht, der Vergessenheit verfallen wird. Ich habe beide
Arbeiten Wort um Wort verglichen und festgestellt, daß in
den Chören durchschnittlich auf fünfundvierzig Verse von
Wilamowitz einundzwanzig von Vollmoeller kommen. Diese
47
Konzentrationsfähigkeit, schon hier ein eminenter Vorzug,
hat erst recht im leidenschaftlich bewegten Dialog Verse von
ungeheurer Schlagkraft hervorgebracht. Ein einziges Beispiel,
dem beliebig viele zuzufügen wären. Wilamowitz : „Du hast
nicht von meiner Pflicht zu reden. Unter meinen Händen
sank er, starb er — Meine Hände werden ihn begraben."
Vollmoeller: „Ich hab' ihn gefällt. Ich hab* ihn erschlagen.
Ich werd' ihn begraben. Was gehts dich an!" VoUmoellers
verdichtende und beschwingende Bearbeitung der ,Orestie*
ist nach Hofmannsthals preziös gedunsener und auseinander*
treibender Übertragung des »König Oedipus*, die am aller*
wenigsten in den Zirkus paßte, eine wahre Wohltat, und einer
von den Gründen, warum man diesen Zirkusabend keines*
wegs mit derselben Entschiedenheit ablehnen darf wie den
ersten.
Reinhardt hat leider die Aufgabe, jene beiden Elemente
der Dichtung, das lyrische und das dramatische, gleichermaßen
zu treffen, nicht annähernd so gut gelöst. Seine Behandlung
der Chöre ist unmöglich. Unmöglich. Einfach darum, weil
sie ihn zwingt, drei Viertel des Textes zu streichen. Zunächst
dauert es schrecklich lange, bis zehnmal so viel Greise, wie
nötig wären, zu den Klängen einer weihevoll stimmenden
Musik angetreten sind. Sie machen vor den Stufen des Pa*
lastes, dessen Vorhalle rechts und links bemalte Götterfiguren
schmücken, umständlich einen zeremoniellen Hokuspokus,
lassen sich dann gemütlich auf ringsum angebrachte Bänke
nieder und beweisen, wie gut sie gedrillt sind. Einer spricht
einen Vers, den alle wiederholen; alle sprechen einen Vers,
den einer aufnimmt. Diese Abwechslung wäre an sich nicht
übel, wenn immer neue Verse gesprochen würden, wenn wir
vorwärts kämen. Die Wiederholungen aber sind unerträglich:
sie zerstören jede Wirkung und rücken manche Stellen an
die Grenze der Lächerlichkeit. Der Chor schreit etwa plötzlich
drohend auf: „Noch lebt OrestI" Dabei kann einem schon
ein Schauer durchs Gebein gehen. Dann aber werden diese
drei Worte unter die Choreuten verteilt, die sie an* und ab*
48
schwellen lassen müssen — und wir stehen einem Kunststück
gegenüber, das die Dirigenten von Männergesangvereinen
interessieren mag, und dem zuliebe den größten Teil der
aischyle'ischen Verse zu opfern ein künstlerischer Frevel ist.
Im zweiten Stück gibt es Frauenchöre. Sie ziehen in die
Arena, und es ist ulkig, weil gänzlich unmotiviert, daß sie
teils dumpf sprechen, teils hell singen. Im Verlauf der Sache
verliert sich das ; dann aber geht wirklich eine Woge getähr*
licher Heiterkeit durch das Haus, wenn die Damen am Schluß
einer ergreifenden Szene mit dem Ruf: ,, Orestes!" abzugehen
haben und, sich nach verschiedenen Seiten zerstreuend, diesen
Ruf wie Mäuse zerwispem. Reinhardt übersieht bei solchen
Kinkerlitzchen vor allem, daß sie in dem Augenblick entwertet
sind, wo wir das System durchschaut haben. Kunst bleibt
immer neu; Kunststücke aber müssen immer erneuert werden.
Diese hier hatten schon im ,Oedipus' versagt, weil sie für die
,Braut von Messina' erdacht worden waren, wo sie nur leider
auch nicht gezündet hatten.
Für das lyrische Element der .Orestie' hat also Vollmoeller
dem Regisseur Reinhardt deshalb wenig nützen können, weil
der Dramaturg Reinhardt dieses Element von vornherein so
kläglich verkürzt hatte. Für das dramatische Element, für das
Vollmoellers Nützlichkeit sich als außerordentlich groß erwies,
ist nun wieder jeder Regisseur auf seine Darsteller angewiesen.
Soweit das nicht unbedingt der Fall, soweit es möglich ist,
eine Szene, unabhängig von aller Schauspielkunst, zu spannen
und zu dehnen, sie im weitgeschwungenen Bogen zu führen
oder jäh losschnellen zu lassen : soweit hat Reinhardt hier
einzelne Musterbeispiele für eine großflächige Inszenierungs*
kunst geschaffen. Dazwischen aber auch ein Monstrebeispiel
für die nervenkitzelnde Unterhaltung von Zuschauermassen,
die bei Stierkämpfen aufgewachsen sind. Wenn Orest seine
Mutter erschlagen will, so genügt es über und über, daß er
nach ihr aus der Tür des Palastes stürzt, sie dicht an der Tür
festhält und nach Abwicklung des Wortzweikampfs in den
Palast zurückstößt. Hier jagt er sie die Treppe hinunter
4 49
in die Manege, rauft sich dort mit ihr herum und zerrt sie
dann viel zu langsam wieder die Treppe hinauf. Es ist grauen*
haft. Zum Glück ist es der einzige Moment, wo Reinhardts
Regiekunst sich der besonderen Art des Fräulein Feldhammer
angepaßt zu haben scheint. Überall sonst wurde das vorsint*
flutliche Zähnegefletsch dieser Klytaimnestra selbst für den
Zirkus als zu bestialisch empfunden. Elektra wieder war kaum
vorhanden, Agamemnon hielt sich ,würdig', ein Herold sprach
treflflich, und die übrigen verdarben nichts. Den höchsten
Ansprüchen — und wir wollen doch nicht aufhören, sie bei
Reinhardt zu stellen — genügten nur zwei. Die Kassandra
des jungen Fräulein Mary Dietrich kam aus einer anderen
Welt, als sie anhub, die mörderischen Vorgänge hinter der
verschlossenen Palasttür zu schildern und mit ergreifenden,
tief aus dem Herzen geholten Schmerzensschreien zu beklagen,
und sie blieb in einer anderen Welt, als sie mit den Schritten
einer Nachtwandlerin, von Tränenkrämpfen durchschüttelt
und doch ohne Furcht, dem Beil Klytaimnestras entgegen*
wankte. Es ist der seltene Fall einer Schauspielkunst, die
ganz durchseelt und zugleich und schon jetzt von ganz großem
Stil ist. Moissis Orest konnte nach seinem Oedipus nicht
mehr überraschen. Er, der für Shakespeares Hamlet zu klein
gewesen ist, traf den hamletischen Zug des Orest mit erhel*
lender Größe. Er zauderte erschütternd. Er ließ uns begreifen,
daß nicht die feststehende Tatsache der Sage den Sohn zwingt,
die Mutter zu morden, sondern die Blutsgemeinschaft. Er
machte den Traum von der Schlange wahr: ,,Sie muß, die
solches Graungezücht gebar, gewaltsam sterben". Wie er nach
dem Morde von den inneren Furien umhergetrieben wurde,
wie er vor seines Geistes Aug der Mutter grimmige Hunde
gorgonenhaft von allen Seiten nahen sah, und wie er durch
sie von hinnen gejagt wurde: das war ein Schlußbild von auf*
peitschender Gewalt. Und es war vielleicht die einzige Szene,
die im Theater zu solcher Geltung doch nicht kommen kann.
Denn sonst? War sonst der Zirkus nötig? Ich prüfe
mich genau, wäge peinlich ab und muß sagen: Was immer
50
wieder die Stimmung zerriß , hätte sie im Theater nicht zer<=
rissen; was 'uns ein paar Mal bannte, hätte uns — bis allen*
falls auf jene Schlußszene — noch unwiderstehlicher gebannt.
Auch im Theater wird Mauerwerk kyklopisch aufzutürmen
und in die dräuenden Schatten der Nacht zu hüllen sein.
Auch dort werden von aneinandergekauerten Mädchen, die
ein fremdes Schicksal durchbebt, die heftigsten Beklemmungen
ausgehen. Auch dort werden katastrophale Auftritte ins Weite
zu recken sein. "Wie gut das möglich ist, hat Reinhardt im
.Hamlet' und im , Othello' bewiesen. Zugegeben, daß solche,
daß überhaupt alle Auftritte im Zirkus an äußerem Umfang
gewinnen. Das ist ja selbstverständlich. Aber seit wann, um
Himmels willen, kommt es darauf an? Genau so viel ver*
Heren sie an Vertiefung. Reinhardt trachtet, dafür von außen
her Ersatz zu holen. Musik soll ihm helfen; gedämpfte Pauken*
wirbel und sordinierte Klänge von allerhand anderen In*
Strumenten sollen uns einlullen. Aber abgesehen davon, daß
auch schon das zur Manier geworden ist, sind es Opernmittel,
gegen die unser Stilgefühl sich wehrt. Ein Chorlied des Aischy*
los, vollendet gesprochen, tut mehr als dieser ganze Klimbim.
Daß Reinhardt selber das nicht sieht! Spürt wahrhaftig nicht,
der ,Aglavaine und Selysette' verstanden und nachgeschaffen
hat, wie barbarisch dieser Einzug des Agamemnon mit Tuben
und Tschinellen und vier wirklich schnaubenden und stamp*
f enden Rössern ist, wie zirkushaft im vulgärsten Sinne! Be*
merkt denn nicht, der die Kammerspiele gebaut hat, um uns
zu sammeln, wie dieser Zirkus uns zerstreut? Unsere armen
Augen, von Scheinwerfern gepeinigt, müssen, bei fünf Ein*
und Ausgängen für die Akteure, ruhelos von einem zum
anderen wandern. Sie müssen die Köpfe der Zuschauer von
den Köpfen der Statisten unterscheiden, die hier tatsächlich
mitten im Publikum stehen, und zwischen denen sich ihr
Unterdresseur im Gehrock besonders malerisch ausnimmt.
Sie müssen — aber genug! Ich bleibe dabei: es ist eine be*
dauerliche Kraftverschwendung, im Zirkus einen annähernden
Begriff des altgriechischen Theaters geben zu wollen, der ja
*• 51
doch immer nur ein annähernder Begriff bleiben kann, weil
auch im Zirkus die notwendigen Vorbedingungen fehlen.
Was bei uns dem Amphitheater entspricht, ist nicht der Zirs;
kus, sondern das ganz gewöhnliche Theater. Wenn die
,Orestie* neu wäre, so würde sie nirgends anders als im Deutschen
Theater aufgeführt werden, und wenn es Reinhardt lockt,
diese alte ,Orestie* zu erneuern, so bequeme er sich und sie
den Verhältnissen seines Theaters an. Was an der ,Orestie*
tot ist, mag auf den Zirkus angewiesen sein. Was an ihr
lebendig ist, wird ein Kerl wie Reinhardt, bei dieser Über*
Setzung und bei seinen szenischen und schauspielerischen
Mitteln, alles in allem auf der Bühne zu unvergleichlich
schauerlicherer und tieferer, weil einheitlicher und ungetrübter
Wirkung bringen.
DAS WEITE LAND
Das weite Land ist die Seele des Menschen. Es gibt
kostbarere Gleichnisse, auch in den Titeln Schnitzlerscher
Dramen. Aber nehmen wirs hin und fragen wir lieber, was
Schnitzler in ungefähr einem Dutzend weiter Länder gesehen
hat. Dann fällt zunächst das weg, das ein einziger Tennis*
platz ist, und ein paar andere, die an die seriösen Länder an*
grenzen, wie Operettenstaaten an Großstaaten, und die nur
dazu da sind, um die Karte möglichst bunt zu machen. Schnitz*
1er hat hier manchmal allzu gern ans Theater gedacht. Er ver*
schmäht nicht Schwankscherze, nicht Schwankfiguren, nicht
Schwanksituationen. Aber es ist wirklich nicht zu bezweifeln,
daß er sie, und übrigens mit Maß, in seine Tragikomödie hinein*
gesetzt hat, weil er auch gröbere Elemente als uns, die wir ihm
sicher sind, für die Tragik seiner Komödie gewinnen wollte.
Verwunderlicher ais der Hangdiesesgrüblerischen Psychologen
zu episodischer Schwankhaftigkeit ist die anfängerhafte Not,
die auf einmal wieder der Verfasser von bühnenrunden und
schlagkräftigen Werken hat, um sein Stück in Gang zu bringen
und in Gang zu erhalten. In den ersten drei Akten ist, ab*
52
gesehen von jenen listig eingestreuten Lustigkeiten, je ein Vier:!
tel Füllsel eines merkwürdig unbeholfenen Technikers. Erst die
beiden Schlußakte haben die Prägnanz, die das Drama braucht.
Es sind durchaus nicht allein die handgreiflichen Effekte, die
diese Akte eindrucksvoller machen. Schnitzler hat sich einfach
heiß geschrieben. Die Sätze werden leichter, schneller, kürzer
und sagen, trotzdem oder deshalb, mehr. Der Dialog bekommt
hier manchmal den Klang von Stichomythien. Der letzte Akt
hat dreizehn, der erste fünfunddreißig Seiten. Das ist be*
zeichnend. Als Schnitzler fertig war, hätte er im Fieber der
Arbeit von neuem an die erste Hälfte gehen sollen. Aber
das, nicht wahr, ist mir für die Wirkung auf die Leute wichtig,
keineswegs für die Wirkung auf mich, für den sich ein kulti#
vierter Kenner wie Schnitzler gar nicht genug Zeit nehmen
kann. Auch aus dem gestrecktesten Geplauder eines Dichters
will ich heraushören, worum es ihm ernst ist, wenn es nur
ein Dichter, und wenn es ihm nur ernst ist.
Schnitzler ist es gerade diesmal verteufelt ernst. Leider
ist er in Berlin an eine ausdruckst und gefühlsnüchterne Bühne
geraten, der sein Ernst wohl zu pathetisch war, und die ihn
darum gestrichen hat. Es darf den Dichter also nicht erstaunen,
daß selbst kluge Kritiker ihn für frivol gehalten haben. Der
Doktor Mauer, der als der anständigste Mensch durch die
Gesellschaft des Stückes spaziert, fällt über sie das Urteil.
Er hätte nichts einzuwenden gegen eine Welt, in der die
Liebe wirklich nichts anderes wäre als ein köstliches Spiel.
Aber was er hier sieht: dieses Ineinander von Zurückhaltung
und Frechheit, von feiger Eifersucht und erlogenem Gleich*
mut, von rasender Leidenschaft und leerer Lust — das findet
er trübselig und grauenhaft. Ist wirklich zu glauben, daß
Schnitzler das weniger trübselig und grauenhaft findet? Es
ist eine echte Trauer in ihm um die Männer und Frauen seiner
Zeit und dieser Schicht. Aber er hat freilich nicht die Natur,
zornig die Augen zu rollen und Donnerworte der Empörung
zu ballen. Er will schon der Sittenrichter dieser Generation
sein. Aber nicht mit priesterlichen Gebärden und im Voll*
53
gefühl der eigenen Unfehlbarkeit. Er züchtigt, indem er dar*
stellt: mit resignierendem Verständnis und einer wehmütigen
Ironie, deren weltmännisch gelassener Ton doch wohl nicht
darüber hinwegtäuschen kann, daß eine wahre Herzensnot
lange gebraucht hat, um sich zu ihm abzuklären.
Für ungefähr zehn Seelen ist die Liebe im Grunde Qual,
Problem und Schicksal. Sie liebeln, ja, weil es Frühling oder
Sommer ist, und weil es Mondlicht und Wiesenduft, Höhen*
rausch und Einsamkeit und in jeder Jahreszeit andere Gelegen*
heiten gibt. Die Erotik flicht um sie ein dünnes und doch dichtes
Netz von spinnwebzarten Fäden, die zerrissen und wieder
zusammengeknüpft werden und immer künstlich verschlungen
sind. Sie liebeln dreist und zynisch durcheinander. „Das
Klima der Begebenheit", wie vor Poppenberg schon Tieck
zu sagen pflegte, hat eine leichte Beigabe von Verwesungs*
geruch. Aber alle diese Menschen liebeln doch nur neben*
bei und zwischendurch, neben und zwischen der großen Liebe,
an der oder für die sie verbluten. Der junge Musiker Kor*
sakow erschießt sich, weil er Frau Genia Hofreiter nicht be*
sitzen kann, und der noch jüngere Fähnrich Aigner wird er*
schössen, weil er sie besessen hat. Dieses Fähnrichs Eltern
sind früh auseinandergegangen, weil der Mann die Frau ein
einziges Mal betrogen hat, und beide gestehen nach zwanzig
Jahren, daß sie keinen und keine nachher je wieder wirklich
geliebt haben. Der Bankier Natter weiß, daß ihn seine Adele
jeden Monat mit einem anderen betrügt, und liebt sie doch
so rettungslos, daß er ein Leben ohne sie niemals ertragen
würde. Der Doktor Mauer bietet Erna Wahl den Frieden
und die Sicherheit, die sie nur anzunehmen brauchte, um den
braven Mann vielleicht für immer zu beglücken, und es ist
möglich, daß er nach ihr keine mehr begehren wird. Diese
Erna Wahl liebt Friedrich Hofreiter, der sie am Wendepunkt
seines Daseins von sich stößt. Denn er hat Erna zwar ge*
nommen, wie so viele Frauen und Mädchen, aber ist sich
klar darüber, daß er doch nur Genia liebt — Genia, um derent*
willen . . .
54
Zwischen Genia und Friedrich spielt das eigentliche Drama.
Wenn es beginnt, ist sie ihm unheimlich, kann er ihr beinah
nicht verzeihen, daß sie um eines Schemens, eines Nichts,
eines Phantoms, nämlich um ihrer Tugend willen jenen jungen
Korsakow hat sterben lassen. Wenns schließt, hat er, in
blinder Wut und giftiger Eifersucht und großer Liebe, den
noch viel jüngeren Aigner totgeschossen, den sie , erhört'
hat — sei es aus Erinnerung an den Fall Korsakow, sei es aus
Rache für die Erna Wahl, sei es aus simpler Sehnsucht nach
der Wärme eines unverbrauchten und naiven Menschen.
Zwischen Anfang und Ende sieht man wenig Versuche der
beiden, zu einander zu kommen, und das ist nicht nur ein
dramaturgischer Einwand, sondern hat wahrscheinlich auch
empfindliche Gemüter gegen das Ethos der Dichtung ein*
genommen. Die beiden Menschen, kann man sagen, kämpfen
nicht genug, um so leicht unterliegen zu dürfen. Für mich
ist es ausschließlich ein dramaturgischer Einwand. Denn
ihre Kämpfe liegen bei Beginn des Stückes hinter ihnen.
Sie wissen um einander Bescheid. Sie sagen, daß sie nichts
mehr wünschen und nichts mehr hoffen, und tun es im stillen
doch. Sie kennen ihre Tragik: zu einander zu gehören, aber
einander nicht festhalten zu können. Weil sie die Reinheit
dieses Glücks nicht finden, beschmutzen sie sich; weil man
sie ganz nicht haben will, zersplittern sie sich. So geht es Genia,
so geht es den anderen. Durch das Stück dröhnt nicht pathetisch
und wimmert nicht sentimental, sondern spricht bald gefaßt
und mit gütigem Lächeln, bald hinter Scherzen verborgen ein
tiefer Schmerz über die Unsicherheit aller menschlichen und
gar aller erotischen Beziehungen, über die furchtbare Einsam*
keit jeder feineren Seele und über die Aussichtslosigkeit jedes
Kampfes gegen diesen traurigen Zustand. Von vierzehn
Menschen sind mindestens elf unglücklich — und diejenigen,
die schlecht und recht auf der goldenen Mittelstraße und im
Dutzend geblieben sind, womöglich noch unglücklicher als
die Libertiner der Phantasie oder des Fleisches, die doch ihre
blauen Jugendsehnsüchte oder ihre höchst erdhaften Genüsse
55
gehabt haben. Drei von den Vierzehn sind glücklich, und
das sind Trottel.
Also könnte ,Das weite Land' genau so gut ,Der einsame
Weg* heißen. Manches in beiden Dichtungen stimmt nicht
bloß wörtlich, stimmt erst recht nach Stimmung und Umständen
überein. Wie die junge Johanna Wegrath zu dem alternden
Sala bedingungslos sagt: „Ich liebe dich!", so sagt bedingungs*
los zu dem alternden Hofreiter die junge Erna Wahl: „Ich
liebe dich!" Aber der , Einsame Weg', der den Vorzug hatte,
früher da zu sein, war auch voller, wog auch schwerer. Ge#
wiß, Herr Friedrich Hofreiter ist durchaus von Stefan von
Salas Geschlecht, Um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts
hießen beide William Lovell und Roquairol; bei Bourget
heißen sie Dorsenne und Armand de Querne. Diese Menschen,
so grundverschieden sie im einzelnen sind, waren doch samt
und sonders nie jung und von jeher skeptisch, früh friedlos
und schnell leergebrannt; hatten immer zu viel Wissen und
zu wenig Willen, das vielfältigste Nervensystem von schmerz*
lieber Erregbarkeit und keinerlei Unmittelbarkeit. Ihre Fähig*
keit zur Selbstbeobachtung verwehrt ihnen die Hingabe
an den Augenblick. Jede Empfindung geht ihnen zuerst ins
Hirn, wird da zersetzt und erreicht selten das Herz. Sie sind
unersättlich neugierig auf sich selbst, fühlen sich fühlen oder
eben nicht fühlen und haben eine helle Freude an ihrer Un«
greifbarkeit. Die Kühle ihres Naturells schafft allmählich
einen Abgrund um sie, in den sie am Ende versinken. Sala
versinkt, und Hofreiter versinkt. Aber vorher hat Sala eine
ganz andere Existenz gewonnen als Hofreiter, dem ich entweder
die Glühlichterfabrikation oder seine Differenziertheit glaube.
Es handelt sich nicht um die Branche: da geht einfach nicht
alles zusammen. „Hineinschauen in mich kannst du doch
nicht — das kann keiner", versichert er seiner Frau. Bis auf
den Dichter, versichern wir Schnitzlern, der es leider unterlassen
hat. Hofreiter wird für jeden undeutlich bleiben, der nicht
die Erinnerung an jene seine Gefährten zu Hilfe nimmt. Wer
die nicht kennt, den werden mehr die mäßig komplizierten
56
Menschen bereichern, die hier vor ihm entfahet werden, und
er wäre berechtigt, zu erklären, daß es ihm nicht darauf an#
kommt, in wie tiefe Menschen, sondern mit wie scharfen
Bücken ein Dichter in Menschen hineinsieht. So ist an Hof:=
reiter vielleicht nur ein Zug — wie er lügt, mit wie feinem
Bewußtsein er lügt, und daß er sich dabei selbst nicht be*
lügt — nur dieser eine Zug ist vollkommen geglückt. Aber
um ihn lebt es. Das Theater hat Arbeit.
Brahm hat der Dichtung das Herz herausgebrochen und
sie zur Entschädigung in ein , prächtiges' Gewand gesteckt.
Indessen will ich den richtigen Schnitzler lieber zwischen
Fetzen als den verbrahmten zwischen echten Hölzern und den
bunten Zaubern eines wienerischen Gartens hören. Für die
Halle eines Dolomitenhotels herrscht auf der Bühne ein an#
gemessen reges, für Schnitzlers Gesprächskomödie ein viel zu
reges Leben, da es von ihr ablenkt. Gerade im Lessingtheater
müßte man wissen, daß der Schein niemals die Wirklichkeit
erreichen soll, oder doch nur die dichterische Wirklichkeit.
Die aber wird nicht erreicht. Ein Hauch von wienerisch
süßer Stimmung, von lächelnder Sentimentalität und melan*
cholischer Heiterkeit — das fehlt und noch viel mehr. Von
den drei wichtigen Menschen der Komödie — Erna, Friedrich,
Genia — werden zwei ganz unzulänglich dargestellt. Frau*
lein Herterich als Erna Wahl gibt diesem klugen und tapferen
Geschöpf zuerst ein Dauerlächeln, zuletzt eine Schmerz*
grimasse, die keine Empfindung verrät und keine erweckt.
Herr Monnard hat weder Geist genug, uns Herrn Hofreiter
zu erklären, noch Persönlichkeit genug, sich selbst als einen
deutlichen Menschen an die Stelle einer verschwimmenden
Figur zu setzen. Ihr Ton ist leer, sein Ton ist subaltem, und
wenn sie von ihrer Liebe sprechen, so hat man das unbehag*
liehe Gefühl einer Unappetitlichkeit. Die Helferin des Dichters
ist die Triesch. Welche Freude, sie nach so langer Zeit wieder*
zusehen! Sie füllt die Bühne mit ihrer rührenden Gegenwart.
Ihr Schicksal beklemmt uns, auch wenn sie nicht redet. Sie
ist, als diese gequälte Frau, wahrhaft von Schmerz umflossen.
57
In ihren Augen, in ihrer Haltung, in den müden Abwehr*
Bewegungen und im Ringen der Hände — darin Hegt alles,
was Schnitzler mit seiner Dichtung hat sagen wollen: daß
wir immer allein sind, daß es keine Verschmelzung von Seele
und Seele gibt.
DER BETTLER VON SYRAKUS
Da Arratos, des Feldherrn Clewing Freund, von Pohl ge#
spielt wird, so weiß man gleich, daß es ein falscher Freund
ist, und daß die Sache eine üble Wendung nehmen muß. Wir
sind in einem Felsenkessel, steile Berge des Hoftheatermalers
Kautsky dräuen, Nachtlastetschwer, und der gefangene Kartha*
ger Kraußneck zeigt mit einer Fackel, daß Syrakus, die Heimat
Pohls und Clewings, fast rettungslos verloren ist. Die Tod«
bereitschaft der antiken Militärs trifft Sudermann mit unge«
schwächter Stimmungswucht. Der rauhe Hermann, er, dess'
düstre Waffen . . . hat seine furchtbaren Gestalten rings be*
schmiert mit grausamer Heraldik. Wer zittert nicht? Herr
SommerstorfF erscheint. In halber Bühnenhöhe steht er, ein
gemalter Wütrich — der Dämon der Vergessenheit] — vor uns
und Clewing da. Wenn dieser damit einverstanden ist, aus
der Erinnerung der Mit« und Nachwelt ausgelöscht zu sein,
so wird er siegen. Die Tat ist alles, nichts der Ruhm, sagt
unser wahrhaft wackerer Clewing mit ein bischen anderen, su«
dermännischeren Worten; und dieses wundervolle Vorspiel
ist zu Ende. Ich hoffe, daß ichs recht verstanden habe.
Zehn Jährchen später. Pohl — wer hätt' es nicht geahnt!
— ist gleich nach Schluß des Vorspiels der Tyrann von Syra«
kus geworden und schickt sich an, Regierungsjubiläum zu
begehen. ,,Er ist schlechtweg der König aus dem , Hamlet',
mit einem Zuge von Franz Moor", entscheidet weise und ge«
recht J. Landau. Zu diesem Rollenfach gehört es, daß die
Strafe dem Verbrechen zwar nicht auf dem Fuße, aber immer«
hin nach einigen Akten folgt. Also keine Bange : der fromme
Clewing wird gerochen. Er bricht zum Jubiläum seines fal*
58
sehen Freundes aus Karthagos Kerker aus, und zweierlei sind
wir nicht schlecht gespannt vom Dichter zu erfahren: wie
Clewing da hineingekommen ist, wie es mit jener Schlacht
und dem Verrat im Felsenkessel eigentlich war — und was nun
weiter werden wird. Ein paar verleumderische Rezensenten
haben Sudermann seit jeher dumm genannt. Das ist er nicht.
Ein dummer Autor würde, eins, zwei, drei, die nötige Klar^
heit schaffen und aus vernünftigen Voraussetzungen die ge*
gebenen Konsequenzen ziehen. Um Neune, spätestens, war'
alles aus. Dagegen Sudermann! Er füllt den Abend. Er
stiftet Wirrnisse, hüllt die Vergangenheit in möglichst dichte
Schleier und zeigt im ersten Akt zunächst nur, daß Herrn
Clewings Gattin Rosa Foppe inzwischen den Tyrannen Pohl
geheuert hat. Der Not gehorchend. Denn ihrer Seele Haus,
behauptet sie, hat sie mit tausend Schlüsseln zugeschlossen.
"Wird sie's jetzt wieder öffnen? Nur Helios vermags zu sa*
gen, der alles Irdische bescheint. Und, selbstverständlich.
Sudermann. Der aber findets vorteilhafter, unsere Neugier
ganz gemächlich zu erhitzen. Vorläufig munkelt man nichts
weiter, als daß vor Syrakusas Tor ein blinder Bettler wunder*
liehe Reden führt, und da auf dem Theaterzettel auch dieser
Bettler Clewing heißt, so liegt es für uns nahe . . . Beklom?
menen und doch freudigen Gemütes hören wir den Vorhang
fallen.
Zweiter Akt. Der rauhe Hermann, gleich Hyrkaniens
Leuen, schickt Kriegerhaufen gegen jenen Bettler aus. Pohl,
der Tyrann, bemüht sich selber. Die Luft ist dick von Un*
heil. Schlimm stehts um Syrakus, und Clewings Rolle brauchte
nur von einem anderen Autor als von Sudermann zu sein:
dann wäre jetzt Gelegenheit, Licht in die Dunkelheit des ersten
Zwischenakts zu bringen, die Stadt zu retten, das Haus von
Rosa Poppes Seele wieder aufzuschließen und uns befriedigt
zu entlassen. Clewing müßte reden, müßte ohne Scheu die
Wahrheit sagen. Aber, aber, der Kontrakt mit SommerstorflF,
dem Dämon der Vergessenheit! Er hat Herrn Clewing ja den
Sieg nur unter der Bedingung zugeschanzt, daß er für alle
59
Zeit auf Lohn und Ruhm verzichte. Doch da sich Som*
merstorfif, zufolge unserem Zettel, schon nach dem Vorspiel
abgeschminkt hat, vermutlich also den Kontraktbruch nicht
bestrafen würde, so könnte Clewing ihn getrost riskieren. Er
riskiert ihn nicht. Teils weil ein Bettler keine zwanzig Pfennige
für den Zettel hat, teils weil die Würde des Tragödienhelden
keine Unanständigkeiten zuläßt, teils weil wir erst im zweiten
Akte sind. Es wird nichts aufgeklärt. Dafür beginnt ein schelj=
misch Frag* und Antwortspiel, das weniger unsere Einsicht
in die seltsamen Veranstaltungen dieses Stückes als in das rät*
seihafte Leben selber fördert. „Nun ist zwar Arbeit noch
nicht Heldentum, doch Heldentum ist Arbeit." Möglich aller*
dings, daß dieser Spruch erst später fällt; auch möglich, daß
er bereits früher einmal fiel — wir wollen Sudermann nicht
Unrecht tun.
Der dritte Akt führt Clewing ins Tyrannenhaus zu seiner
einstigen Familie. Gott, was wird geschehen! Es geschieht
nichts als ein Akt, der wieder eine halbe Stunde frißt. Drollig,
denkt man: dieser Blinde ist, natürlich, blind, und doch erkennt
er auf der Stelle Frau und Sohn und Tochter; diese dreie
aber sehen und erkennen Mann und Vater nicht. Was muß
der Clewing für ein treflFlicher Versteller sein] (Und ist es dabei
gar nicht.) Unsere Ungeduld hat fast den Siedepunkt erreicht.
Wir sind geschwollen von der edlen Wißbegier, die nicht
mehr fragt, wie diese Tatbestände ausgehen werden, sondern
lediglich auf Sudermanns Artistentum gerichtet ist. Alle Ach*
tungl UnserTausendkünstler hat drei Akte'damit vollgemacht,
daß er die unvermeidlichsten Begebenheiten mühevoll ver*
zögerte, und hat sein Publikum doch nicht verloren. Denn
wenn die erste Hälfte jedes Aktes auch von Wilbrandt her*
zurühren schien, so war dafür die zweite Hälfte regelmäßig
von Philippi; und mehr verlangt kein Publikum der Welt.
^X^e aber wird es weitergehen? Die Lösung kommt dem
Schlußakt zu : in einem vierten Akt muß sie noch immer auf*
gehalten werden. Wie wirds der Dichter diesmal machen?
Es ist ja alles dagewesen: Krieg und Frieden, Treubruch und
60
Verrat, Gespensterei und helles Tageslicht, Heulen und Zähne*
klappern, Mut, Stolz, Kraft, ein unbezweifelbarer Heroismus
der Entsagung, Bettlerhumor und tragische Gewitterdrohung,
Enoch Arden, Belisar, Das dunkle Tor, Der Meister von
Palmyra und ,Des Feldherm erster Traum' von Siegfried
Trebitsch. Welche Neuigkeit wird Sudermann ersinnen?
Wer sich bereits bei Landau unterrichtet hätte, würde
wissen, daß „wirs mit einem Stück zu schaflFen haben, dessen
Grundmotiv an Shakespeares , Hamlet' stark erinnert", und
daraufhin erwarten, daß der vierte Akt die bis dahin nicht
eingetretene Erinnerung endlich bringen wird. Doch da auch
Landaus Impressionen erst am nächsten Tag erscheinen, so
ist man ganz auf Phantasie und Zettel angewiesen. Der nun
verzeichnet neun Hetären, und von einem Prinzen hieß es,
daß er sich in Lüsten wälzt: also werden wir wohl eine Orgie
haben. Hei, gehts da hoftheatermäßig schamlos zu! „Es riecht
nach Weibern", sagt der Schöpfer der Frau Adah selbst im
griechischen Gewand. Achte sind wahrscheinlich recht he«
tärisch; eine aber kokettiert mit ihrem unverstandenen Seel#
chen. Seht, daß auch in dieser Schicht nicht nur getändelt
wird, daß sogar hier auf Herzen Schmerzen reimen! Mühelos
füllt man mit solchen Mitteln einen halben Akt, Der Rest be«
nötigt einen Knall und Krach. Dazu nun wird ein großer Topf
herangezogen, durch den Herrn Kraußnecks tückenreicher
Kopf in Scherben geht. Dieweil der fünfte Akt in Sicht ist, war
es höchste Zeit, energisch gegen das Gesindel einzuschreiten.
Der lasterhafte Prinz wird v plötzlich;l^Mann und Held und
dadurch seines Vaters Clewing würdig. Erzittre, feiger Schurke
Pohl!
Das Volk steht auf, der Sturm bricht los und ins Tyrannen«
haus. „Ein Anklang an die , Räuber'", sagt J. Landau. Der
rauhe Hermann ist jetzt rote Farbe von Haupt zu Fuß, Scheuß«
lieh geschminkt mit Blut der Väter, Mütter, Töchter, Söhne
von Syrakus. Zu Pohl, den alle diese Schrecken bleichen,
dringt die Freudennachricht, daß Clewing auf dem Wege
zum Palast erstochen worden sei. Die Götter leben noch.
61
Die Götter leben nicht mehr. Denn Clewing ist nur ange==
stechen worden. Er schleppt sich vor den Thron. Er reizt,
soweit man folgen kann, ringsum die Mannen und die Schran*
zen auf. Er redet Dolche. Wenn Reden töten könnten, war*
Pohl tot. So aber muß er selbst sein Messer zücken und seine
eigene hassenswerte Existenz beseitigen. Leider, leider über*
dauert ihn Herr Clewing nicht. Bevor er eingeht, ahnt man, wer
er ist. Und irgendeiner weiß sogar. Aus irgend einem Munde
kommt der Vers : ,,Dich, der die Tat getan, hat man vergessen I
Sei ohne Groll: es geht uns allen so!" Uns allen? Der rauhe
Hermann meint damit zunächst sich selbst; allein wie jedem
großen Künstler weitet sich auch ihm das eigene Schicksal
zum Symbol. Er ist ja zweifellos vergessen. Das alte Schwert
gehorcht nicht mehr dem Arm. Es zischt kaum noch, ge#
schweige daß es trifft. Es haut daneben, weil der Arm ge*
lähmt ist. Die zweite Hälfte des Symbols stimmt also ohne
weiteres. Und gar die erste Hälfte I Hat unser Dichter etwa
keine Tat getan? Von Alma Heinicke bis zu Melide, seinem
Braunkind, ist dieses Dasein eine einzige Tat. Schämt euch,
daß ihr nicht dankbar seid, daß ihr den Dichter zwingt, auf
seine alten Tage Elegien anzustimmen, sich — eine andere Art
von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinski
— bis tief in die Antike zu begeben, um seine heißen Schmerzen
euern kalten Augen zu verbergen. ,,Was je den Menschen
schwer gefallen. Eins ist das Bitterste von allen: Vermissen,
was schon unser war. Den Kranz verlieren aus dem Haar;
Nachdem man sterbend sich gesehen. Mit seiner eigenen Leiche
gehen." Das fühlte Grillparzer, das fühlt jetzt Sudermann.
Und unsere Tränen fließen, wie's Bächlein auf den Wiesen.
FANNYS ERSTES STÜCK
Fannys erstes Stück möge ihr letztes bleiben. Shaw täuscht
vor, vortäuschen zu wollen, daß eine junge Gräfin eine
dramatische Übung vor ihrem Vater und vier Kritikern auf*
führen läßt. Leider spielt er sich zunächst viel zu gut in seine
62
Rolle hinein. Zwei Drittel des dreiaktigen Stücks könnten
wirklich von jeder beliebigen Fanny sein. Im ersten Akt stellt
sich heraus, daß der Corsetfabrikantensohn Bob Gilbey mit
der „Tochter der Freude" Dora Dellaney die Polizei angeulkt
hat, und daß sie dafür je vierzehn Tage Gefängnis bekommen
haben; im zweiten Akt stellt sich dasselbe von der Corset*
fabrikantentochter Margarete Knox und dem Sohne Franks»
reichs Leutnant Duvallet heraus. Aus der Hartnäckigkeit,
womit hier ein lumpiger Vorfall gleich vier Personen ange*
dichtet und anderthalb Stunden breit und lang getreten wird,
ist zu schließen, daß eine Dilettantin wie Fanny ihn in irgend*
einer Wirklichkeit erlebt hat, und daß ein Sozialreformer wie
Shaw entschlossen ist, ihn zum Anlaß einer öffentlichen An=
klage zu nehmen. In tyrannos, das heißt: wider londoner
Polizisten, die für freiheits* und vergnügungsdurstiges Jungs»
volk kein Verständnis haben. Wenn dieser Kampf uns anginge,
dürfte er allenfalls mit so sprudelnder Wortfülle geführt
werden. Da er uns nicht angeht, fällt uns Fräulein Fannys
Mangel an Esprit doppelt und dreifach auf die Nerven. Dem
Shaw zum Glück nicht minder. Nach diesen beiden Akten
ist er des trockenen Tones satt und wird zwar nicht den
Teufel spielen, aber witzig werden. Nur wird ein Witz durch
Wiederholungen nicht besser. Nach diesen beiden Akten
schmeckt uns freilich alles. Nach anderen Akten Shaws, die
wir in der Erinnerung haben, überwältigt es nicht weiter, daß
gegen England Bosheiten ausgeheckt werden; daß mancherlei
auf den Kopf gestellt und der Philister ein bischen verblüfft
wird ; daß Bob statt Margareten Dora und Margarete weder
Bob noch Leutnant Duvallet, sondern den Diener Punch heira*
tet, das Muster guter Lebensart — weil nämlich, wie urplötzlich
offenbar wird, eines Herzogs Sohn. Was noch? Die Eins»
rahmung. Der Einfall, daß vor und nach diesem leichten
Spiel für ein kleines (und für unser Kleines) Theater vier
Kritiker so viel Unsinn schwatzen , wie Tageskritiker nicht
bloß in London tun. Auch das ist eine Art, eine zweite Art
von Verkleidung. In jedem der vier Kritiker steckt Shaw,
63
der aus der Vogelperspektive auf sich heruntersieht und durch
diese selbstironische Überlegenheit beweist, daß seine Produk*
tion in eine sterile Periode eingetreten ist. Möge sie bald
wieder aus ihr heraustreten!
TURANDOT
Es war' so schön gewesen! Man hätte nichts weiter ge#
braucht als : für die Vorstellung eine Turandot und für
die Generalprobe einen Polonius, den niemand mit seinem
Barte zum Barbier hätte wünschen dürfen, wenn ihm ganze
Scenen zu lang, zu lang erschienen wären (also eigentlich keinen
Polonius, denn dem scheint zu lang, was gar nicht zu lang
ist). Vollmoeller ist nicht schuld. Sein Vorgänger Schiller
hat von der Übersetzung, die er vorfand, das Gefühl gehabt,
daß ihre „pedantische Steifigkeit überwunden werden" müsse.
Aber erst Vollmoeller ist das vollständig gelungen. Seine
Übersetzung ist locker, beweglich, genügend phantastisch
und rücksichtslos, das heißt; voll von der Gegenwart unserer
Sprache. Es ist Vollmoellers Hauptverdienst, daß er das
komische Element aus dem einschnürenden Vers zu einer
derben, deftigen Prosa erlöst hat, deren Witz nur da, wo sich
das Stegreiftalent losgehender Groteskkomiker seiner bemäch*
tigt, faekalisch ausartet. Sein einziger Fehler: daß er sich ge*
scheut hat, diese und jene Glanzstelle von Schiller wörtlich
zu wiederholen. „Ist etwas unübertrefflich gut gesagt, so muß
man Abstand davon nehmen, es übertreffen zu wollen; Ent#
lehnung kann Armut sein, aber auch feineres Kunstverständ*
nis." Mit Fontane hätten wir also Wert daraufgelegt, Schillers
vielsagende Rätsel nicht schwächlich ersetzt zu finden; oder
gar das geflügelt gewordene Wort: „Sieh her und bleibe
deiner Sinne Meister!" durch den klang* und belanglosen
Vers: „Nun schau mir ins Gesicht und bleibe fest!" Aber
weder dadurch noch überhaupt ist Vollmoeller schuld ge*
worden an der langsam versiechenden Wirkung dieses höchst
künstlerisch beabsichtigten Abends. Eher schon Busoni.
64
Gewiß, Gozzi selbst hat viel Musik vorgeschrieben. Busoni
gibt zu viel und, vielleicht, für ein, für dieses leichte Spiel
zu schwere Musik. (Ich beurteile sie hier als Theaterkritiker,
nicht als Musiker.) Sie untermalt nicht, sondern überpinselt.
Sie stimmt nicht immer nur für .Turandot', sondern nimmt
zum Teil für sich in Beschlag. Das tut Beethoven im ,Egmont',
tut Mendelssohn im , Sommernachtstraum' auch? Aber gerade
diese Erinnerung wird Busoni am gefährlichsten. Schließlich
ist seine Instrumentation — das sechzigköpfige Orchester hatte
mir gleich einen Schreck eingejagt — fast durchweg zu laut.
Wenn man sich in der vierten Stunde der Aufführung buch*
stäblich die Stirn trocknen mußte, weil man vor dieser un#
erschöpflichen, immer neu andrängenden Fülle der Genüsse
Angstzustände bekam, so mag Busoni allerdings mitschuldig
sein.
Die Hauptschuld trägt Reinhardt. Sein Plan ist wunder*
bar. Aber nicht nur sein Plan. Er kann ja auch, was er will.
Er baut ein Fabelland mit der nicht genug zu schätzenden
Hilfe seines Ernst Stern, der nie geistvoller, nie phantasier
reicher, nie farbentrunkener, nie prachtstrotzender war als hier,
und der doch immer graziös, immer schwerlos bleibt. Das
Auge sieht sich nicht satt. Ein lustiges Gewimmel von bun*
tester Lebendigkeit. Lack, Porzellan und Bambus, Lampions,
Vorhänge, Gitterwerk. Zierliche Thrönchen, Türmchen, Fähn*
chen. Ein Nicken, Trippeln, Wippen, Hüftenwiegen. Emaille*
gesiebter, Puppenfüßchen, Fächer und Frisuren. Zu chine*
sischen Herrenmenschen kontrastieren japanische Sklaven mit
gelberen Gesichtern und zopflosen Köpfen. Die Schauder*
nisse sind skurril gesänftigt, die Schlagetots von Knütteln
Kinderspielzeug. Man köpft zum Spaß. Uns schrecken nicht
Samarkands noch andere pappene Häupter, auf Pekings
Brücke höchst unblutig aufgesteckt. Dies alles will nichts
sein als Farbenrausch. Orgien in mannigfachem Grün, in
Lila, Rosa, Gold, in Kobaltblau, Orangegelb und Iris*
weiß. Fabelhafte Wesen, Drachen, Kraniche und mystisches
Geflügel jeder Art, Lilien, Glyzinien und hingehauchte
5 65
Blüten fremder Gegenden schlingen sich prunkvoll und
kunstvoll, dräuend oder erheiternd, durch schwarze, stumpf*
rote und violette Vorhänge, die einer nach dem anderen in
die Höhe schweben, wenn im Halbdunkel Eunuchen und
Krieger, Schranzen und Prinzen mit Papierlatemen, Schwer*
tern. Schirmen, Sänften und Baldachinen daran vorbeigezogen
und ^gegeistert sind: eine Phantasmagorie von bezaubernd
fremdartigem Geschmack, und die nicht einmal zu lange
dauert. Noch hunderterlei. Vasen wachsen sich zu Türmen
aus. Hinter Torbogen huschen zu tupfenden Tönen die Palast*
Wächter hin und her. Durchblicke gibts auf Berge und in
Gassen, hinauf zu Schlössern und in einen Tempel, wo Chinas
Gottheit wie ein Nilpferd thront. Beleuchtungskünste trium*
phieren. Helligkeit und Dämmerung und Finsternis und ihre
Zwischenstufen wechseln. Sterne glitzern über die Giebel
und Dächer von Häuschen, die teils im Schlafe liegen, teils
durch ihre Fensterchen ein Scheinchen auf die winzigen Straßen
senden. Dort und allenthalben ein Gezirpe, ein Geklirre,
ein Gefunkel, ein Gegaukel von echt komödischer Unwirk*
lichkeit. Aus alten Märchen winkt es. Köstlich. Der hal*
bierte Serail dreht sich, bis er zum ganzen, großen, säulen*
getragenen Diwan wird. Vergnügte Kandelaber aus Papier
und Stäbchen baumeln vom Plafond, Sublim bestickte Kissen
bieten Sitzgelegenheit. Zeremonien werden possenhaft ent*
feierlicht. Eh es auf Tod und Leben geht, wird Tee ge*
trunken. Des Harems Oberwächter schlägt den Takt dazu.
Wenn jetzt so etwas wie die Glöckchenarie des Monostatos
erklänge, hätte ein Szenenkünstler, wie er niemals da war,
den congenialen Musiker gefunden — ein Szenenkünstler,
dem das Buch nur noch ein Anlaß und ein Vorwand ist.
Denn dieses hier ist nicht von Gozzi, nicht von Schiller
und nicht von Vollmoeller. Wir kennen — von ,Sumurün'
und ,Lysistrata' her — die Weise, wir kennen den Text, wir
kennen auch den Verfasser. Er heißt Max Reinhardt und
hat ein unbestreitbares Recht, zwischen der Erneuerung großer
klassischer Dramen und der Entdeckung zukunftsvoller Dich*
66
ter der deutschen Gegenwart jezuweilen phantastische Spiele*
reien zu ersinnen, die ganz auf sich und auf ihn gesteUt sind.
Nur eine Bedingung hat er dabei zu erfüllen: er muß solch
einer Spielerei ihren eigenen Stil geben. Sie muß scherzhaft,
menuetthaft vorübertänzeln, vorüberschweben, vorüberhu*
sehen und trotzdem fugendicht geschlossen sein. Sie muß
es wagen, auf Seele und ähnlichen Ballast zu pfeifen. Ihre
Seele muß in den Zehenspitzen sitzen, auf denen sie über
die Bühne flitzt. Da sind es denn also die drei entscheidenden
Fehler dieses wahrhaft entzückenden Plans einer märchenhaft
witzigen Abendunterhaltung: daß Reinhardt noch nicht den
letzten Mut gehabt hat, seine Vorlage kurz und klein zu
schlagen und nur ein paar passende Enden und Szenen als
Material zu verv\'enden; daß er von den beiden Hauptfiguren,
gegen alle Vernunft und alle aesthetischen Gesetze, die eine
menschlich, die andere automatenhaft aufgefaßt hat, statt sie,
gerade sie auf ein und denselben Stil zu bringen; und daß
er schließlich die Aufführung während der Proben hat Fett
ansetzen, daß er sie über die Bühne nicht hat springen, sondern
schleichen lassen.
Vor ,Turandot' hätte er wirklich keinen Respekt zu haben
brauchen. Er ist doch sonst nicht so. Ein drolliger Wider*
Spruch: dem Aischylos drei Viertel seiner unentbehrlichen
Chorlyrik zu streichen, und dem Gozzi keine seiner entbehr*
liehen Episoden anzutasten, ja diese noch zu vermehren. Bei
Schiller, der die Clownerien vernachlässigt hat, wäre es eine
Verbesserung und Verstärkung, dem allerersten Auftritt einen
rüpelhaften Auftakt voraufzuschicken: für Reinhardts Steg«
reif komödie, in deren Verlauf die Harlekine von ihrer Rede*
freiheit einen so ausschweifenden Gebrauch machen, ist ge*
nau dasselbe eine Verzögerung und Verschleppung, also eine
Abschwächung. Weiterhin tritt schon bei Gozzi eine drama*
turgisch sündhafte Stockung ein. Er hat selber gewußt, wie
schwer es sei, aus drei Rätseln zwei volle Akte zu gewinnen;
aber wie viel schwerer erst, aus der simpeln Aufgabe des
Prinzen Kalaf, zwei Namen zu erraten, noch drei Akte.
5» 67
Immerhin hat er damit sein PubUkum nur „drei Stunden lang"
im Theater festhalten wollen. Reinhardt sind jene Schwierig*
keiten keineswegs groß genug. Er traut sich fast vier Stunden
zu und plustert die letzten drei Akte, die irgendwie zu drei
Szenchen zusammengehauen werden müßten, selbständig auf.
Diese Maßlosigkeit ist ein altes Laster von ihm. Er sollte
doch künftig zu seinen Generalproben ein paar Kenner laden,
denen nicht die Teilnahme an den Proben die notwendige
Distanz zu seiner Arbeit vermindert hat.
Die hätten ihn auch darauf hingewiesen, wie grundfalsch
es ist, dieTurandot von der Eysoldt parodistisch und den Kalaf
von Moissi ernst nehmen zu lassen. Entweder kümmert man
sich als selbstherrlicher Regisseur um die Absicht des ur*
sprünglichen Stücks überhaupt nicht mehr und macht sich
über Kalafs Werbung und Turandots Weigerung lustig: dann
hätte man die Auffassung der Eysoldt durchsetzen müssen.
Selbst dann freilich . . . Im Bezirk der Kunst gibt es keine
Pflichten der Galanterie. Nach der Karikatur der Penthesi*
lea hätte man die Eysoldt nicht wieder mit einer Rolle bebürden
dürfen, die jeden wahrheitsliebenden Kritiker zwingt, einer
so außerordentlichen Künstlerin Unfreundlichkeiten ins Ge#
sieht zu sagen, weil es eben nicht das Gesicht dieser Gestalt
ist. Aber noch ärger: von der Penthesilea, die für die Eysoldt
nicht zu bewältigen war, aber durchaus, mit Anspannung
aller Kräfte und Mittel bewältigt werden sollte — davon hat
sie einen verzerrten Ton, eine Künstlichkeit und Affektiert*
heit zurückbehalten, die ihreTurandot auch innerlich zerstört
haben. Einer von den vier Clowns mag die Prinzessin ,,eine
hysterische Bachstelze" nennen: sobald wir ihm das von ihr
nachsagen, ist die Figur aufs lächerlichste verfehlt. Wenn
der Prinz Kalaf schon nicht von ihrer Schönheit berückt sein
kann, so müßte er es wenigstens von ihrer Anmut, Beseelt*
heit und Geistigkeit werden. Früher wären der Eysoldt diese
Eigenschaften mühelos erreichbar gewesen. Jetzt piepst sie
in einer forciert hohen Stimmlage Turandots Männerfeind*
Schaft wie ein unerzogener, gräulich gezierter Backfisch aus
68
sich heraus und geht, diese ehemals denkende Schauspielerin,
sogar so weit, in einem Monolog wie ein ungewöhnlich blödes
Kälbchen zu nöhlen und sich zu haben. Das alles war um
so empfindlicher, als die ,übrigen Akteurs uns die reinste
Freude machten.
Moissis Kalaf war ein einziger Glanz: ein exotisch braun
angestrichener Prinz mit blitzenden Zähnen, schön, adlig,
feurig und T^lühend jung. Als er zuerst Turandots Medail»»
lonbild, dann sie selbst erblickte, gab er mimische Meister«
stücke, wie sie in dieser Vollendung vielleicht immer nur
einem romanischen Schauspieler gelingen werden. Man sah
hier und überall, daß es ihm ganz ernst um die Durchführung
eines Seelenprozesses zu tun war. Sein Kalaf brennt lichter«
loh, schreit nicht zum Spaß „Tod oder Turandotl", ist völlig
an ein tiefes, ungemeines, unentrinnbares Erlebnis hingegeben.
Diesen Kalaf vor Augen, hätte Reinhardt im Text ent#
decken müssen, daß ja auch Turandot nicht unbeteiligt
bleibt, daß ihr von Selbstbehauptungsdrang und weibchen«
haftem Unterwerfungstrieb genügend heftig zugesetzt wird,
und daß sie schließlich selig ist, in diesem Kampf um ein
vermeintes freies Menschentum zu unterliegen. Immerhin soll
jeder Regisseur sich nach Belieben zu Herrn Moissi oder zu
Frau Eysoldt schlagen dürfen. Hier wird eine menschliche
Komödie, dort wird ein verwegener Schwank entstehen, und
beides kann auf seine Weise wertvoll sein. Aber es bleibt
eine Barbarei, des einen wegen auf das andere nicht verzichten
zu wollen. Dabei war die Wahl schon darum nicht schwer,
weil durch eine seriös gemeinte Turandot das Spiel ein Ge«
wicht bekommen hätte, das ihm jetzt bitter fehlt.
Wo im übrigen ein Stilmischmasch sichtbar wurde, war
er beabsichtigt und richtig beabsichtigt. Die Eibenschütz,
die, im Gegensatz zu Turandot, dumm scheinen muß, gelangte
zu einem beängstigenden Grade von Echtheit. Fräulein Kurz
verrenkte sich zu parodistischen Posen, und Herr Kühne
lieferte besonders stillvergnügt einen Bramarbas der ältesten
Schule. Pagay half durch seine würdige Erscheinung, Herr
69
Danegger durch seine sicher reifende Sprechkunst. Diegel*
mann als Kaiser konnte E. T. A. Hoffmanns Beschreibung
einer itaUenischen Aufführung der ,Turandot' gelesen haben:
so erstaunlich traf er die Mitte zwischen Ernsthaftigkeit und
Scherzhaftigkeit, zwischen Schauspiel und Operette, zwischen
SonnenthalsVerwandtschaft und Sonnenthal*Persiflage. Es
war wirklich eine rührende Lächerlichkeit um ihn: in seinem
furchtsam*zärtlichen Verhältnis zur Tochter, in seinem patri#
archalisch#vertrauten und immer wieder vergeblich um Würde
bemühten Verhältnis zu Kanzlerchen und Privatsekretär. Er
schlug damit die Brücke von den getragenen Teilen des Stücks
zu den possenhaften, in denen die vier Harlekine Arnold,
Biensfeldt, Tiedtke und Waßmann schwelgerisch und, jeder
auf seine Art, unendlich komisch einherwatschelten, wackelten,
hüpften, stotterten und falsettierten. Ob im einzelnen der
eine hier, der andere dort übertrieb, war, bei der Originalität
und Saftigkeit dieser Künstler, vollkommen gleichgültig (so*
weit sie es nur als Schauspieler, nicht auch als Dichterkom*
pagnons taten).
Aber gar nicht gleichgültig war es, noch einmal, wie
sehr Reinhardt im ganzen übertrieben hatte. Diese Über*
treibungen sind so gefährlich. Sie geben mir Zeit, mich zu lang*
weilen, und die Langeweile gibt mir die Möglichkeit, über
diese Richtung von Reinhardts Tätigkeit nachzudenken. Was
will er? Er will Drama, Schauspielkunst, Malerei und Musik
zu einer höheren Einheit, zu einem neuen Gesamtkunstwerk
verbinden. Schön und gut. Aber ich bin auch ein Gesamt*
kunstwerk. Ich habe nicht nur die Augen, denen Reinhardt
eine Weide liefert, sondern ich habe auch eine Art Herz und
sozusagen ein Gehirn, die hier leer ausgehen. Darum wäre
Reinhardts ,Turandot' als hurtiges Intermezzo ein erlesenes
kleines Kunstwerk geworden. Durch den ungeheueren Auf*
wand hat es gelitten. Es ist, als würde ein einfacher Ländler
von drei Wagnerorchestern auf einmal gespielt. Zu dieser
Instrumentierung gehört ein anderer Inhalt, ein anderes Stück,
ein anderer Dichter. Der maßlose Reinhardt hat die Wahl:
70
entweder doch allmählicii maßhalten zu lernen oder für
seine verschwenderischen Kräfte andere Gegenstände als solch
eine .Turandot' zu suchen. Ich empfehle ihm immer wieder:
Wallenstein, Tasso, Egmont, Emilia Galotti, Julius Caesar,
Macbeth, den Sturm, Heinrich den Vierten, Richard den
Zweiten und den Dritten. Wo nichts ist, hat schließlich selbst
Reinhardt sein Recht nur dann nicht verloren, wenn er aus
diesem Nichts nicht allzuviel machen will.
PAUL APEL
Das ist ein wohlschmeckender Autor. Auch über ihn muß
man die Hand halten, wie man sie über Korfiz Holm
halten mußte. Denn hier kommt ein erfreulicher Schlag auf:
Humoristen eines nicht großen, aber ebensowenig zu kleinen
Formats, die ohne ranziges Seelenschmalz und ohne das Ge*
grinse eines feuilletonistischen Esprits auf einfache und rein*
liehe Weise zu unterhalten suchen und zu unterhalten vers»
stehen. Die Blumenthal und Kadelburg haben vorläufig keine
rechten Erben. Wäre es da nicht nett, wenn die nächste Gene*
ration der deutschen Bourgeoisie ihre Abende bei wertvolleren
Spaßmachern zubringen könnte als die Eltern und Kinder
der letzten Jahrzehnte? Würde davon mit der Zeit nicht irgend
etwas auch in die Tage, in den Ton, in die Lebensführung
dieser Bourgeoisie übergehen? In Schnitzlers wundervollem
,Weiten Land' fällt einer Frau auf, wie sehr sich seit ihrer
Jugend die Welt verändert hat, wie viel leichtfertiger der
Nachwuchs in seiner Lebensauffassung geworden ist. Das
gilt für Oesterreich. Nicht auch für Deutschland? Es ist keine
Überschätzung, für diese Entwicklung die Wirksamkeit unserer
Literatur* und Bühnen*Amüseure von Lindau bis zu Julius
Freund mitverantwortlich zu machen. Wer eine Sittengeschichte
der jüngsten Vergangenheit mit den Gründerjahren anfinge,
müßte diesen Zusammenhängen mit besonderer Aufmerksam*
keit nachgehen.
In einem solchen Kapitel wäre also Paul Apel schon
71
wieder als Lichtblick und Hoffnungsstrahl zu bezeichnen.
Ich sehe seinen Erstling noch vor mir, der vor vierthalb Jahren
im Hebbeltheater uns allen Freude bereitete. Der Schauspieler
Richard Leopold war da ein lächerlich rührender Kandidat
der Philosophie, der mitsamt einem noch jüngeren Kollegen
von der musikalischen Fakultät drei Akte lang ein „reines
Weib" anbetete und durch keine Enttäuschung von der
Lüderlichkeit der Dame zu überzeugen war. Diesem Kon*
trastzustand der Verblendung hatte Apel alle Komik ab;»
gewonnen. Sie wurde zum Humor durch die Innigkeit und
Unberührtheit der zwei großen Kinder und durch die Zart*
lichkeit, mit der ihr Schöpfer sie umhegte. Er wußte, daß
Peters und Hänschens Schlemihltum sich mit der mitleids*
losen Realität des Daseins und der Gemeinheit der Mit*
menschen niemals abfinden würde. Aber wenn er sie dieser
Gemeinheit immer wieder gegenüberstellte, in einer einzigen,
nur notdürftig variierten Situation, so war es fast, als wünschte
er sich im stillen, sie dadurch doch für diesen harten Lebens*
kämpf zu stählen. Es zeugte von der Stärke seiner Emp*
findung und von der Lebendigkeit seiner Anschauung, daß
uns die ewige Wiederholung der einen einzigen Situation
nicht im geringsten langweilte. Durch den berlinischen Dialekt,
eine entschlossene Milieuschilderung und einen handfesten
Witz wurde sie immer wieder höchst lebhaft und ergötzlich
aufgemuntert. Der Knabe Peter bekräftigte uns an einer Stelle
sein Philosophentum, indem er Kant zitierte. Kant hat ein
ander Mal den Schlaf, die Hoffnung und das Lachen die Wohl*
taten des Lebens genannt. Der Autor der Komödie , Liebe'
machte uns oft und herzlich lachen und durfte darum schon
damals zu denen gezählt werden, die im kleinen der Mensch*
heit Wohltaten erweisen.
,Hans Sonnenstößers Höllenfahrt', das ,heitere Traumspiel',
wird Abel sein Anrecht auf diesen Titel nicht schmälern.
Ein wirklich lobenswert lustiges Volksstück, dessen erziehe*
rische Tendenz aus Grillparzers ,Traum ein Leben' vertraut
ist. Der Dichter Apel schickt einem anderen, jungen und un*
72
bemittelten Dichter, dessen Seelenheil ihm, in selten anzu*
treffender Kollegialität, am Herzen liegt, einen schweren Traum,
zeigt ihm darin, wie grauenvoll die geplante Ehe mit einer
reichen Spießbürgerpute ausfallen würde, und reinigt dadurch
Herrn Hans Sonnenstößer so gründlich von seinem schlechten
und gefährlichen Gelüst, daß dieser sich mit dem ersten Blick
aus wachen Augen einer armen, aber sauber gekleideten Else
zuwendet. Zwei Szenen, die Anlaß und Folge des Traumes
schildern, umrahmen die drei Szenen des Traumes selbst.
Apel ist ein ordentlicher Mensch: er läßt seinen Hans nicht
nur ausschließlich von Dingen träumen, die irgendwie in der
ersten Szene vorkommen, sondern er läßt auch keinen Vor*
fall, keine Person, keine Wendung dieser ersten Szene für
den Traum ungenutzt. Weil Sonnenstößer sich mit dem holden
Leichtsinn und dem ganzen Mut seiner Jugend danach sehnt,
endlich einmal den ,Ring des Nibelungen' zu hören, klingelt
es in seiner ehelichen Traumwohnung nach Wagnerschen
Motiven. Das ist nur ein Beispiel. Dieses System wird streng
durchgeführt. So restlos arbeitet wohl kein Traum die Wirk*
lichkeit auf. Aber Apel hat eben Bühnenkenntnis genug,
um zu allererst Klarheit und Übersichtlichkeit anzustreben.
Auch wo er die Unlogik des Traumes gibt, ist er von muster*
hafter Logik. Er verliert in allem blitzschnellen Hin und
Her niemals den Faden, trotzdem gerade das ja zur Glaub*
haftigkeit des Traumes beitragen würde. Die Hauptsache
für uns ist, daß er durch seine sorgfältige Disposition nicht
gehindert wird, von dem dankbaren Thema eine Fülle von
Schrullen und Bizarrerien in sich entfesseln zu lassen. Aus
Fetzen der Wirklichkeit macht der Traum Fratzen, die ins
Reich einer künstlerischen Phantasie langen. Tante Pauline
etwa, die den Schreckensgehalt des ganzen Familienlebens
mühelos in sich allein vereinigt, schwillt immer entsetzlicher
an, bis sie der verkörperte Albdruck wird. Apel geht der
Atem nicht aus. Er findet hier und anderswo Steigerungen,
die das Theaterglück des Stückes machen werden. Uns wieder
besticht am meisten, wie sich in den drei Traumszenen Hans
73
Sonnenstößers Gestalt abrundet. Er ist und wird keineswegs
kompliziert, dieser deutsche Dichter. Aber was an und in
ihm ist, das reißt Apel schließlich ebenso sinnfällig wie launig
zusammen. Wenn Sonnenstößer, der sich von seiner kleinen
Spießerin nicht anders als durch ihre Ermordung befreien
konnte, in der spukhaft verdüsterten Gerichtsverhandlung
unter der Stehlampe sitzt, rauchend und lachend, den Papagei
auf der Schulter, ein bißchen neugierig auf das Urteil und
dabei doch seelenruhig seine Eindrücke von dieser grotesken
Begebenheit niederschreibend: so ist das wie von einem Jean
Paul, der in der Zeit Thomas Theodor Heines gelebt hätte.
Nach dieser Szene wäre von Paul Apel auch einmal ein Wurf
zu erwarten und zu verlangen, der seine charmanten Unter*
haltungsstücke nachträglich im Wert erheblich sinken lassen
würde. Vorläufig aber haben wir alle Ursache, ihm für beide
dankbar zu sein.
Das Neue Schauspielhaus hat sich um das Traumspiel
mannigfach verdient gemacht. In erster Linie hat es ihm den
Musikhumoristen Friedrich Bermann geliefert, dessen Or=
ehester die Ehe von Künstlertum und Biederwelt durch eine
Verquickung von Wagner und Victor Hollaender aufs ver*
gnüglichste illustriert. Der Regisseur hatte die Stimmung der
zweiten und dritten Traumszene so vollständig getroffen, daß
man nicht versteht, warum er in der ersten Szene die Traum*
haftigkeit der Vorgänge nicht wenigstens angedeutet hat.
Auf der Seite der Pfahlbürger exzellierte Herr Paschen als
ein rüder Familiensohn und namentlich Frau Valetti, die
immer zügellos übertreibt, hier aber gerade durch die äußerste
Drastik eine Tante wurde, wie sie in keinem Familienbuch
und deshalb eben in Apels Traumbuch steht. Als Sonnen*
Stößers Freund vom Theater schritt Herr Ziegel umgürtet
mit der ganzen Würde eines Oberregisseurs durch das Stück.
Zu der armen Else dagegen paßte der Hauch von Getragen*
heit, den Erika von Wagner entweder der Figur gab oder an
sich hat, viel weniger gut. Immerhin hätte ein schönheits*
durstiges Auge wie Hans Sonnenstößers sie schon vor dem
74
Traum allen anderen Frauenzimmern vorziehen müssen. Herr
Salfner war, nach manchen Fehlschlägen, hier wieder einmal
der liebenswürdig herzliche Naturbursch, als der er uns so
sympathisch geworden ist. Salfner und Sonnenstößer sind
Brüder; aber Sonnenstößer ist geistiger. Auch Sonnenstößer
und Apel sind Brüder ; aber Apel ist erst recht geistiger. Es
wäre schade, wenn seine Geistigkeit für den Philister so be*
schämend fühlbar würde, daß dieses geschmackvolle und
innerlich fröhliche Stück nicht zu den hundert Aufführungen
käme, die ihm zu wünschen sind.
SCHAUSPIELERIN
Das ist ein schlechtes, zum größten Teil ungekonntes
Stück. Trotzdem erregt es. Von der Bühne herab und
erst recht aus dem Buch heraus hat mich wenigstens ein
Hauch getroffen, den ich bei viel wegsichereren Versuchen
nicht verspürt habe, und den ich schwerlich für jedes unan#
fechtbar runde Drama hergeben würde. Was ist es? Man
verdächtigt sich zunächst selber, daß man die tiefe Dankbar*
keit für den alten Romandichter Heinrich Mann ein bißchen
auch auf den jungen Dramatiker ausdehne. Aber der Fall
ist verwickelter. Möglich, daß man sein Herz, daß man so*
gar sein artistisches Interesse den Krämpfen und Kämpfen
entziehen kann, die sich in und unter den Figuren der Ko*
mödie oder Tragödie abspielen; unmöglich, ohne Anteil auf
einen Dichter zu blicken, dem die saftige Ernte seines Fei*
des nicht mehr genügt, weil sie ihm zu leicht zuwächst, und
der auszieht, einen neuen, steinigen Boden zu erobern, zu
entsteinen, anzubauen, ertragreich zu machen. Muß man ihn
nicht ermutigen? Es ist gerade bei dieser Gelegenheit zu
billig, den Schöpfer des , Professor Unrat' andächtig zu ver*
ehren. Seien wir lieber gelinde und streichelnd gegen den
dramatischen Anfänger. , Schauspielerin' hat ganz den Duft der
Unreife, den kargen Reiz einer Übergangsform: nicht mehr
Knospe und noch nicht Blüte, geschweige denn Frucht. Ein
75
embryonales Zwittergewächs von einer schwermütigen Blässe
und einem schwachen, halb bitteren, halb süßen Geschmack.
Kosten wir [dankbar auch ihn aus und lassen wir Heinrich
Mann nicht einmal das entgelten, daß er weit weniger be#
scheiden ist als wir und mit seinem ersten größeren Drama
gleich eine neue Gattung Dramatik heraufgeführt zu haben
glaubt.
Was wäre das für eine Gattung? Mann sagt, daß es jetzt
nötig, obzwar nicht eben bequem sei, die vorgeschrittenen
Seelen dieser Zeit dramatisch zu gestalten: ihren schwan*
kenden Willen, ihre Doppelrassigkeit, die Klarsichtigkeit
ihres Gefühls. Ja, was um Himmels willen hat Ibsen in
seinem ziemlich ,zielbewußten' Leben anderes getan? Was
tut Schnitzler seit zwanzig Jahren anderes? Daß aber dem
zeitlichen Abstand zwischen diesen beiden und Heinrich
Mann nicht eine fortschreitende Komplizierung der mensch*
Hchen Seele entspricht, ist nebenbei vielleicht auch daraus
zu schließen, daß es bei Kleist und Hebbel psychische Ver^j
kettungen, Windungen, Zwischenstufen und Lichtbrechung
gen gibt, gegen die alle späteren Subjekte und Objekte einer
dramatischen Analyse grob anmuten. Nein, Manns Absicht
ist wahrhaftig alt. Immerhin könnten seine Mittel neu sein.
Dazu gesteht er, daß er seine neue innere Welt (von der
wir also wissen, daß sie längst entdeckt ist) durch starke alte
Situationen sichtbar machen wolle. Aber wieder muß man
ihn darüber belehren, daß nicht er dieses Mittel gefunden
hat. Bei Ibsen scheint die sogenannte Handlung nicht sei*
ten einem Kolportageroman entnommen, und Schnitzler hat
im , Ruf des Lebens' wie im , Weiten Land' plump theatralische
Zusammenstöße mit solcher Ungeniertheit verwendet, daß
er von den Goldmanns mit Sudermann verwechselt worden ist.
Darüber ist selbstverständlich nicht zu reden. Hier ist im
Augenblick auch nur wichtig, wodurch sich Heinrich Mann,
der im Zuge der Ibsen und Schnitzler steht, von ihnen unter*
scheidet, unterscheiden muß, da er ja ihre Wirkung nicht ent*
fernt erreicht.
76
Der Unterschied ist der, daß sie den Sardou, den sie irgend*
wie gebrauchten, zu verhüllen verstanden, und daß er das
noch nicht versteht. Bei ihm sieht sich das Mittel zum
Zweck wie Selbstzweck an, oder richtiger: es hört sich so an.
Denn wenn bei Schnitzler Leidenschaften gekeucht, geflüstert,
zwischen den Zähnen hervorgepreßt werden; wenn Gift
herumgereicht, ein Dolch gezückt und ein Revolver ge* und
entladen wird; wenn der Liebhaber hinter einem Vorhang
hervor und der Gatte durchs Fenster springt: dann ist freilich
die Geste genau so von Sardou wie bei Mann. Darin hat
dieser Recht. Aber — aber die Rede ist von Schnitzler! Bei
Mann ist auch die Rede häufig von Sardou (und manchmal
sogar von Sudermann). Ich meine nicht etwa, daß die Schau*
Spieler, die im Stück vorkommen, zögern sollten, in die ge*
schwollene Sprache ihres Metiers zu verfallen : da es das Thema
des Stückes verlangt, daß ihre Gefühle sich immer wieder
übersteigern, so ist dieser gekräuselte Ausdruck ihr natür*
lieber Ausdruck. Aber gegen den Komödianten soll der
Bürger in jeder Hinsicht kontrastiert werden, und in dieser
Schicht ist es allerdings nicht möglich, daß der Geliebte die
Geliebte „Unglückliche!" und den Nebenbuhler ,, Unglück*
lieber I" anredet. Von solchen Wendungen, die leider meistens
länger geraten sind, ist der Dialog voll. Dazwischen stehen
Sätze, so blitzend prägnant, daß sie jedem Roman von Hein*
rieh Mann zur Zierde gereichen würden. Einem Roman!
Sie fassen mit unübertrefflicher Schärfe weite psychologische
Entwicklungen zusammen, von denen gewöhnlich nur gerade
der nichts weiß, in dem sie sich vollzogen haben. x\ber selbst
wenn Mensehen über die Klarsiehtigkeit des Gefühls verfügen,
die dieser freigebige Dichter ihnen verleiht, selbst dann ist
es selten, daß sie ihr Gefühl so schrankenlos aussprechen,
und nahezu undenkbar, daß sie es so druckreif aussprechen.
Das müßte denn der Stil des ganzen Werkes sein! Zum
Glück führt mindestens ein Drittel die einfache Sprache des
Lebens, die zugleich die Sprache des Dramas ist, und daraus
geht für mich hervor, daß Mann sie durchweg angestrebt hat.
11
Vorläufig also ist er noch rechts in die Theatralik, links in
die Romanhaftigkeit geglitten. Davon hätte von Haus aus
nicht viel Aufhebens gemacht zu werden brauchen. Ein
Dichter dieses Ranges dürfte selbst für eine Arbeit seines
eigentlichen Gebiets verlangen, daß man sich weniger mit
ihren hoffnungslosen als mit ihren hoffnungsvollen Partien
befaßt. Aber der Wahn von der neuen Gattung mußte ein
für alle Mal zerstört werden. Erst jetzt wird zu sagen sein,
was Heinrich Mann mit diesem Produkt einer alten Gattung
gewollt hat.
Nicht mehr und nicht weniger, als zu zeigen: wie die
Halbheit der Geringen alle Großen zur Lüge um ihrer höchst
sten Wahrheit willen herabzwingt, wie in dieser Welt tapfere
Seelen die Wahrheit ihrer Persönlichkeit mit Lügen ihrer Lippen
erkaufen müssen. Die siegreiche Schauspielerin Leonie Hallst
mann steht gegen die Durchschnittsmenschheit, die ihr Glanz
und ihre Entrücktheit lockt, und bei der wieder sie Frieden,
Wärme und Sicherheit zu finden hofft. Aber diese Sphären sind
unvereinbar. Das wird mit schmerzhaftester Folgerichtigkeit
dargetan. Da es Leonies Beruf ist, mit Gefühlen zu spielen,
die sie nicht hat, so werden ihr im entscheidenden Moment
die Gefühle nicht geglaubt, die sie hat, oder gar nur dann
geglaubt, wenn sie auch diese spielt. Daran geht sie zugrunde,
vielfach zerspalten, wie sie sich empfindet. Sie wird hin* und
hergerissen zwischen Harry Seiler und Robert Fork, zwischen
ihrem Menschentum und ihrem Künstlertum, zwischen Selbst*
bewunderung und Selbstverachtung und noch zwischen der
Wollust und der Qual ihrer Zerspaltenheit. Sie braucht beide
Männer um ihrer Gegensätzlichkeit willen : sie braucht Harrys
Feinheitund Roberts Brutalität; siebraucht Reinheit und Laster*
haftigkeit, anbetendes Sklaventum und befehlendes Herren*
tum; sie braucht den Typus, auf den sie ,fliegt', und den Typus,
der erst lange um sie werben muß; sie braucht lodernde
Flammen und ein stilles Herdfeuer. Sie belügt keinen, und
nicht einmal sich selbst, wenn sie fast mit den gleichen Worten
jedem von beiden gesteht, daß sie im ganzen Leben niemand
78
weiter als ihn geliebt habe. Aber sie ermattet sich zwischen
beiden zu Tode, weil der grenzenlosen Aufrichtigkeit des
Künstlers nicht das Vertrauen der Bürger zu dieser Aufrich*
tigkeit entspricht. Sie entgleiten und schwanken. Sie sind
entweder zu weich oder zu kalt. Sie wissen nicht, daß proble*
matisch organisierte Menschen, wie diese Leonie, nur die
Umwege zum Ziel führen. Sie selber gehen den kurzen und
geraden Weg von Impulsen zu Worten und von Worten zu
Taten, und gehen irre, weil die Impulse schwach, die Worte
zahm und die Taten klein sind. Es ist eine fast zu grelle Ironie,
die Heinrich Mann zum Schluß gegen die Bürger kehrt, wenn
er Robert Forks Frau es der toten Leonie zum Vorwurf machen
läßt: nur sich gekannt, nur gespielt, sich sogar ihren Tod
gespielt und nicht daran gedacht zu haben, daß sie, Herr und
Frau Fork und Herr Harry Seiler, „fühlende Menschen" sind.
Es ist eine überdeutliche Erklärung der dichterischen Ab*
sichten, die obendrein zu spät kommt. Der Dramatiker Hein*
rieh Mann hat eben vorläufig noch zu selten die Fähigkeit,
die unberechenbaren Plötzlichkeiten temperamentvoll han*
delnder Menschen anders als durch Knalleffekte, die jäh auf*
flutenden Stimmungen differenzierter Seelen anders als durch
direkte Formulierungen auszudrücken. Die Personen eines
guten Dramas haben Selbstverrat zu treiben und nicht vom
Autor verraten zu werden. Daß der Verfasser der , Schau*
Spielerin', an Handwerkszeug und Arbeitsmethode des Epikers
gewöhnt, nicht durchweg kann, was er soll, scheint mir ent*
schuldbar. Es ist ja viel, daß ers doch schon zu einem Drit*
tel kann.
Das Theater in der Königgrätzerstraße hat sich mit der
Tatsache der Aufführung ein größeres Verdienst erworben
als mit der Art der Aufführung. Es schmälert von vornherein
den Kredit eines Stückes, wenn man es am Montag und für
eine einzige Sondervorstellung ansetzt, und es erhöht nicht
die Verständlichkeit eines ausgesprochen geistigen Werkes,
wenn man einzelne Rollen lieblos oder geradezu sinnwidrig
besetzt. Auch ein unbegabterer Regisseur als Herr Bernauer
79
würde sich einen Kommerzienrat, eine Rivalin der gefeierten
Leonie Hallmann und gar einen Dämoniker anders vorstellen,
als sie uns hier gezeigt wurden. Wie viel mehr hätte für die
äußere Irrwischhaftigkeit der Komödiantenpartei, für die
äußere Solidität der Bürgerpartei geschehen können! Manch*
mal legt Heinrich Mann die Nerven seiner Menschen bloß,
als ob er sie auf dem Seziertisch hätte. Dann fröstelt es
uns. In diesen Fällen hätte jeder Darsteller seine Rolle be*
sonders eindringlich, besonders drastisch »verkörpern' müs*
sen. Was der Dichter gewollt hat, wurde ganz greifbar nur
in dem leis philisterhaften Harry Seiler des Herrn Lindner
und in der wundervoll zerquälten, kultiviertshysterischen
und auch wieder einfach rührenden Leonie der Frau Durieux.
NATHAN DER WEISE
Iessing hat es zwar nur vom Schauspieler ausdrücklich ver#
klangt, daß er für den Dichter denken solle, wo diesem
etwas Menschliches passiert sei. Aber es ist ja selbstverständlich,
daß das auch, daß es zu allererst für den Regisseur gilt.
Wofür ein denkender Regisseur bei , Nathan dem Weisen'
zu sorgen hat, liegt klar auf der Hand. Das ist ein Mittel*
ding zwischen Oper und Abhandlung. Zu allzu gutartig
arrangierten Vorgängen wird eine Wortmusik gemacht, die
ein bißchen holpert und trotzdem zur unbestochenen Nächsten*
liebe genau so unwiderstehlich aufreizt wie die Marseillaise
zur Revolution. Ohne Zweifel: hier ist ,, Charakter und Geist
und der edelsten Menschheit Bild". Aber ist das wirklich
,, alles"? Fehlt es den Personen oder doch einigen nicht an
Körper? Nicht an Blut? Ist also das Bild nicht vielleicht
bloß gezeichnet, statt gemalt? Wenn Hollaender die abstrakte,
die lehrhafte Natur des Gedichts möglichst getreu treffen
wollte, so ist gegen seine Inszenierung wenig zu sagen. Nur:
daß es dann mit einer Vorlesung auch getan wäre. Sobald
man überhaupt Dekorationen anfertigen läßt und Schau*
Spieler zusammentrommelt, sollte etwas mehr erstrebt und er*
80
zielt werden. Hier riecht es nach Kalk. Der reiche Nathan,
der ja wohl in Jerusalem seßhaft sein wird, hat kaum eine
so uneingewohnte ärmliche Diele; und Saladin, mag er sich
sein Schloß auch erst eben erobert haben, hat sicherlich von
jeher Luxusbedürfnis genug gehabt, um sich gleich ein paar
Teppiche an die kahlen Wände seines allzu engen Zimmers
zu hängen. In dieser Unbehaglichkeit müßte es der Atmo*
Sphäre von „heiterer Naivität", die uns der red* und schreib*
selige Regisseur als Grundmotiv der Darstellung zugesichert
hat, unter allen Umständen schwer fallen, zu entstehen und
sich mitzuteilen. Hier soll sie herbeigezwungen werden und
wird gerade dadurch weggescheucht. Nur von außen her
sind allerlei humoristische Lichterchen aufgesetzt. Das steht
nicht im gemessenen Abstand von Deklamatoren bei einander,
sondern rückt familiär und liebevoll zusammen und betont
diese Neuerung nachdrücklich. Das hockt sich mit unter*
einandergeschlagenen Beinen hin und macht dazu verschmitzte
Gesichter. Das schickt sich an, Kindertänze aufzuführen und
auf die Palmen zu klettern. Das gestikuliert und tollt umher
und zerreißt sich und erreicht, daß wir langsam schwermütig
werden. Hätte Hollaender jemals eine gute Aufführung dieses
Stückes gesehen, so würde er sich zwar nicht einbilden, daß
er jenen Ton von heiterer Naivität „gegen die Tradition" an*
geschlagen habe; wohl aber würde er wissen, wie dieser Ton
auf der Bühne zum Klingen zu bringen ist. Es ist nur nötig,
daß neun herzhafte Schauspieler halbwegs das Maß für Les*
sings Figuren und dazu die Fähigkeit haben, seinen ziemlich
unsterblichen Text gläubig zu durchfühlen und kraftvoll, schön
und menschlich zu sprechen. Nur . . .
Familie Saladin ist ganz unmöglich. Man dürfte nicht dar*
an erinnern, mit welcher inneren Anmut früher Maximilian
Ludwig und die Poppe die Geschwister und ihr freund*
schaftliches Verhältnis dargestellt haben, wenn Hollaender
für diese Rollen nicht die Herren Moissi und Winterstein,
die Damen Dietrich und Heims zur Auswahl gehabt hätte.
Was ist ein Saladin, der nicht eine selbstverständliche Über*
6 81
legenheit über den Tempelherrn hat? Eine Sittah, deren Alt*
jüngferHchkeit nicht durch Esprit gemildert ist? Leider sind
das erst zwei von den sechs Gestalten, die ausfallen. Der
Patriarch ist für uns belustigend, für Nathan beunruhigend:
Herr Tiedtke aber, ein sonst so zuverlässiger Charakteristiker,
wirkt weder gefährlich noch komisch. Auch auf die Dame
Daja, über die jeder von uns schon herzlich gelacht hat, müssen
wir verzichten : Frau Kupfer macht sie mit einem nichtssagenden
Dauergrinsen ab. Die volkstümlichsten Typen sind plötzlich
lederne Gesellen geworden — woher um Himmels willen soll
die heitere Naivität da kommen? Zierig und dalbrig ist
Camilla Eibenschütz darum bemüht. Zum Schluß wird end*
lieh der ersehnte Eindruck — heiterer? der heitersten Naivität
erzielt. Recha heißt plötzlich — wie? Blanda von Filneck.
Wir alle glaubten: Kiewe Cohnreich. Man kann sich denken,
wie vortrefflich Bruder Kayßler zu der Schwester paßt. An
sich betrachtet, ist Herr Kayßler nahezu ein idealer TempeU
herr. Zwar hat er nicht einen orientalischen Vater und eine
deutsche Mutter, sondern ein kerndeutsches Elternpaar ge*
habt; zwar ist seiner Zärtlichkeit zu Recha eine Dosis Süß*
lichkeit beigemischt (durch die sich dieser Schauspieler ge*
wohnlich davor schützt, gar zu barsch zu werden) ; zwar weiß
man nicht, woraufhin Nathan behauptet, daß Wolf sich so
die Brauen mit der Hand gestrichen habe, da er den Tempel«
herrn ja nur in unserer Gegenwart gesprochen und dieser
sich kein einziges Mal die Brauen mit der Hand gestrichen
hat. Aber im Grunde erhöht es noch das Verdienst des Herrn
Kayßler, daß er sich so ehrwürdiger Charakterisierungsmittel
entschlagen und seinem Ritter trotzdem die leibhaftigste Rea*
lität geben kann. Er hat die rauhe Tugend und den guten
trotzigen Blick, er ist der plumpe Schwabe und der deutsche
Bär. An diesem Theaterabend ist eine größere Freude als
die: Herrn Kayßler poltern, lachen und einherstampfen zu
hören, höchstens die: ihn das alles neben Fagays Klosterbruder
tun zu sehen. Wir kennen diese tröstliche Menschenoffen*
barung seit Jahren; aber sie ist nicht schwächer geworden.
82
Dabei fehlt dem alten Pagay bekanntlich das wichtigste schau*
spielerische Mittel: das Organ. Mit seiner bis zur Tonlosig*
keit eingerosteten Stimme muß er die Worte aus einer hohlen
Brust heraus mehr stoßen als sprechen. Wie er trotzdem
moduliert und schattiert, weil die lebhaften Äuglein mit der
behenden Mannigfaltigkeit des Ausdrucks das Manko er*
setzen: das ist nur erstaunlich; wie aber diese Äuglein dem
treuen Gesichte einen Zug frommer Milde aufprägen: das
ist wunderschön. Von Kayßler und Pagay und gar von ihnen
gemeinsam wurde das programmatisch verkündete Ziel der
Aufführung mühelos erreicht. Wenn also die Schauspieler
ihre Natur nicht ohne weiteres daraufzutreibt, so wirds kein
noch so witziger Regisseur erjagen. Auf seine neue Auffassung
des Derwisch hat sich Hollaender wahrscheinlich viel zugute
getan. Wegener unterschied den Derwisch von allen früheren
Derwischen, nur leider auch von allen seinen früheren Ge*
staltungen. Er hätte, so wie er ist, ein herrlicher Derwisch
sein müssen — erdig, sonnig, stürmisch: er war ein entsetz*
lieber — clownhaft, gewaltsam, eunuchisch. Besonders sein
Falsett ging auf die Nerven. Gab es bei den Proben kein
einziges musikalisches Ohr, das empfand, wie nötig es ge*
wesen wäre, gegen Bassermanns ungleichmäßiges Organ ein
schweres, volles, ausladendes Organ, wie eben Wegeners, zu
setzen, und wie sinnlos es ist, diesem Organ ohne jede Not
grelle, spitze, quiekende Fisteltöne abzuzwingen? Mag sein,
daß man im Deutschen Theater gar nicht merken würde, was
einem in den Kammerspielen ganze Szenen verdirbt.
Auch Bassermann schien bald durch den Raum, bald durch
die Trockenheit und Glanzlosigkeit der meisten Partner be*
engt zu sein. Er tastete, traute sich manchmal nicht recht
aus sich heraus und wurde kaum mehr als ein halber Nathan.
Vornehmlich darum, weil er für sein Teil die konfessionellen
Verschiebungen der Aufführung mitmachte. Er hieß gar nicht
Nathan, sondern etwa Friedrich Christian Wilhelm. Für mich
wenigstens gewann der Mann keine Existenz. Er war nie
mit Kamelen durch die Wüste gezogen, hatte nie kostbare
6* 83
Stoffe eingekauft und wurde zu Saladin wirklich nur gerufen,
um eine Parabel musterhaft zu zergUedern und machtvoll zu
steigern. Seine Hände waren rein von Geld. Es ist ein
Dilemma. „So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon
nicht"; denn Nathan ist Freigeist und Kosmopolit. Es ist
der Fall der meisten jüdischen Darsteller, die selten imstande
sind, sich über ihre Nationalität emporzuschwingen. „Doch
ganz und gar kein Jude, geht noch minder." Das ist Basser*
manns Fall, dessen schauspielerische Meisterschaft ich an vielen
Stellen bewundere, dem die Liebenswürdigkeit aus den Augen
strahlt, der die Noblesse eines Grandseigneurs hat und die
Gutmütigkeit, vielleicht die Güte selber ist. Aber ich werde
nicht warm. Was mir fehlt, sind die Merkzeichen, die Blut*
körperchen, die Imponderabilien, die Nerven und die Striemen
meines Stammes. Es ist ein Nathan für Christen. HoUaender
hat sich begeistert zu ihm bekannt.
DER ROSENKAVALIER
Jetzt haben auch wir ihn und können froh und dankbar
sein. Das Entzücken, in dem man aus der dresdener General*
probe lief, hat sich zum zweiten Mal eingestellt. Das spricht
für das Werk, das nicht auf den Reiz der Überraschung an;
gewiesen ist; aber es spricht nicht minder für die berliner
Aufführung, die selbst die mürrischsten Gesellen unter den
Musikkritikern zu Straußens Oper bekehrt hat und mir zum
ersten Mal einen Lobgesang auf den Grafen Hülsen entlocken
wird. Es war ein Sieg, dem sogar die letzte Bestätigung nicht
fehlt: der Geifer Oscar Blumenthals, der auf die Welt ge*
kommen ist, um Kunstwerke als solche kenntlich zu machen.
Das Leben ist ein Labyrinth, der Künste sind viele und ihre
Erzeugnisse bunt und trügerisch. Man wüßte nicht, wie man
sich zurechtfinden, wie man Kunst und Kitsch unterscheiden
sollte, wenn eben nicht der Dichter des .Weißen Rößls' wäre.
Wo er hinschimpft: da kniet nieder und betet an.
Im Anfang war das Wort. Hofmannsthal hat als freiwillig
84
dienender Künstler und nicht als beauftragter Librettist eine
.Komödie für Musik' geschrieben. Stil und Ton, Inhalt und
Kolorit stellen diese Komödie ungefähr zwischen den ,Aben*
teurer und die Sängerin' und ,Cristinas Heimreise', deren
Bedeutung sie gar nicht erreichen will. Der Zusatz: ,für
Musik' kündigt schon an, daß auf die Würden einer selb*
ständigen Dichtung verzichtet wird. Diese Entsagungsfähig*
keit, von der nicht gut anzunehmen ist, daß Impotenz sie er*
zwungen hat, sollte Nachahmung finden. Unsere Opern*
literatur könnte aufblühen. Es fehlt uns nicht an begabten
Opernkomponisten: es fehlt diesen an ebenbürtigen litera*
rischen Helfern. Schillings etwa ist noch immer an seinen
Büchern gescheitert. Hofmannsthal also hat sich stark genug
gefühlt, den Bannfluch Stefan Georges und der Kleinsten
von den Seinen zu ertragen, die Straußens Genossen des
Hochverrats zeihen. Wie töricht! Es gibt kein künstlerisches
Genre, das einen Mann erniedrigt; es gibt nur Männer, die . . .
Hofmannsthal war ein schlechter Kunsttheoretiker, als er Strauß
erlaubte, seine atmende und gradgewachsene ,Elektra' lange
nach der Entstehung mit Haut und Haaren zu vertonen; aber
er war kein schlechter Künstler, als er für Strauß den , Rosen*
kavalier' verfaßte.
Das Wien Maria Theresias wird lebendig. Die Alltags*
spräche der Zeit ist mit allen Finessen nachgebildet, und
diese teils zu altertümelnd, teils zu prosaisch klingende Sprache
hat Hofmannsthal dadurch komponierbar gemacht, daß er
sie in freie Rhythmen gegliedert hat. Der Charakter der Zeit
ist nicht schlechter getroffen. Wie im Rokoko immer der
Zartheit die Derbheit, dem Seufzer die Zote, dem Nymph*
lein der Faun nah benachbart ist, so stehen auch in diesem
wienerischen Rokoko grobe Elemente neben den feinsten,
drastische neben den innigsten, und was heiter aussieht, ist
eigentlich traurig und umgekehrt. H ier ist wahre Tragikomödie.
Dieses gehetzte und hetzende Treiben, dieses Durcheinander
von keimenden Gefühlen und Resignationsstimmungen, von
wildem Zorn und derbem Gelächter, von Leichtsinn und
85
Schwerblütigkeit, von Habgier und Liebe, von abge*
zirkeltem Zeremoniell und lasterhafter Zügellosigkeit, von
beruhigtem Alter und unschuldiger Jugend und lüsternem
Alter und Treibhausjugend, dieses Getümmel von Intriganten
und Tenören, von Aristokratie und Gesinde, diese Ab*
wechslung von geräuschvollen Empfängen und intimen Zart*
lichkeiten und wieder von jauchzender Lust und wühlendem
Schmerz und lächelnder oder elegischer Lösung des Schmerzes :
das ist ein Abbild des Lebens, das ist, wie Hofmannsthal es
früher einmal genannt hat, das kleine Welttheater, Das alles
ist mit einer Maestria gemacht, die man als Kenner artistischer
Absichten und Wirkungen bestaunen würde, wenn man nicht
als einfacher Mitmensch so ergriffen wäre. Ich werde nicht
von der Musik sprechen; aber was ich hier zum Ruhm des
Werkes sage, gilt erst, nachdem Hofmannsthals ungewöhnlich
geglückte Vorarbeit von Richard Strauß volles Leben, Reich*
tum, Duft und Seele empfangen hat.
Die sogenannte Handlung? Der Rosenkavalier ist der
siebzehnjährige Graf Oktavian Rofrano, der dem Fräulein
Sophie von Faninal die silberne Werbe* und Verlobungsrose
des alternden Barons Ochs von Lerchenau überbringen soll.
Es gibt zwischen diesen beiden jungen Menschen Liebe auf
den ersten Blick, die glücklich endet, weil Rofrano die Sophie
dem grauen Trottel und sich selber einer reifen Feld*
marschallin zu entwinden weiß. Diese Vorgänge, die Ver*
mummungen und Belauschungen und Verwicklungen und
Zweikämpfe und Zaubereien theatergemäß machen, sind
nicht etwa bloß spaßhaft. Wenn der Lerchenauer, der es auf
die Mitgift seiner kleinen Base Sophie abgesehen hat und zu*
gleich der Schürze des verkleideten Rosenkavaliers nachjagt,
zum Schluß um alles betrogen ist, dann steht ein armseliges
Menschenkind da, mit dem man trotz seiner Scheußlichkeit
Mitleid hat. Das ist ein Augenblick. Was aber durch das
ganze Stück geht und tönt und trauert und uns Tränen kostet,
weil es sich selbst die Tränen tapfer verbeißt, das ist die
Einsicht der Feldmarschallin in das Los der Frau, der die
86
Haut früher welkt als das Herz. Ihre gefaßte Wehmut unter*
malt die Fröhlichkeit des Textes und der Partitur dunkel, aber
nicht zu dunkel. Vielleicht ahnt die Feldmarschallin mit
tröstlicher Genugtuung, was wir wissen: daß Oktavian nicht
vom Stamm des Cherubin ist, der seinem Bärbchen treu
bleiben wird, sondern vom Stamm des Faublas, der seiner
Sophie schon während der Flitterwochen untreu werden,
und dessen Amouren ein anderer Louvet de Couvray be«
dichten wird. Welch ein Dickhäuter muß einer sein, um vom
Reiz dieser Fabel und ihrer sublimen musikalischen Ver*
schlingungen, Abzweigungen, Durchleuchtungen und Aus=
deutungen nicht berührt zu werden! Wie verkümmert muß
ein Organismus sein, der bei diesem Schmaus aller Sinne
stumpf bleibt und sich langweilt!
Denn tatsächlich haben Strauß und Hofmannsthal es an*
gestrebt, alle Sinne zu beköstigen. In Dresden hatten sie mit
Hilfe von Reinhardt, Roller, Seebach und Schuch eine musik*
dramatische Bühnentotalität zustandegebracht, auf der kunst*
göttliche Gnade sichtbarlich ruhte. Roller hatte Inhalt und
Stimmung des Werkes in drei kostbare und zeitechte Bilder
gefaßt, der Graf Seebach hatte in diese Bilder ein Ensemble
von blühenden Stimmen gestellt, und Reinhardt hatte den
Besitzern dieser Stimmen jede opernhafte Steif heit genommen,
um sie zu anmutigster Ungezwungenheit zu befreien. Der
Ton des ersten Bildes war golden, des zweiten porzellanen,
und das dritte hatte jene nächtliche Anrüchigkeit eines kupp*
lerischen Gasthauszimmers, die wir aus ,Cristinas Heimreise'
kennen. Alles war ins Große gereckt und behielt doch die
Zierlichkeit des Rokoko. Durch diese Räume flutete und
wallte und wogte es von farbigen und blassen, zierlichen und
grotesken, leidenschaftlichen und beherrschten Menschen
und Puppen, denen man anmerkte, daß Reinhardt sie auf*
einandergestimmt hatte, daß sein Temperament sie zusammen*
ballte und durcheinanderwirbelte. Schuch schließlich leitete
mit gesänftigtem Feuer sein Orchester und seine Sänger.
Jeder Teil hatte seine Schönheit für sich, und alle griffen in
87
mustergültiger Geschlossenheit in einander. Im Gleichmaß,
in der Abgetöntheit, in der Begeisterung und der angespannt
ten Energie sämtlicher Kräfte auf, hinter und vor der Bühne
lag der Zauber dieser Vorstellung. Es schien nicht möglich,
sie zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen,
. Die berliner Aufführung ist auf eine andere Art nicht
minder wertvoll. Sie ist nicht so fein und nicht so leicht,
sie schwebt nicht, und es haben nicht so zarte Künstlerhände
jede Einzelheit betreut. Aber sie beweist, daß die dresdener
Aufführung doch in einer bestimmten Hinsicht zu überbieten
war. Nicht nur, daß Strauß offenbar in zahlreichen deutschen
Städten gesehen hat, was Eindruck macht, und daß er darum
in Berlin jeden legitimen Effekt mit einer Schärfe heraus*
arbeiten lassen konnte, für die in Dresden einfach die genaue
Kenntnis der Publikumsempfänglichkeit fehlte — nicht nur
das ist es. Es hat auch eine Verschiebung des Schwer*
gewichts stattgefunden, die den burlesken Szenen von Nutzen
ist, ohne den sentimentalen zu schaden. Jetzt sehen wir, daß
in Dresden von dem Dreigestirn Siems#Osten#Nast ein Glanz
ausging, der die Männer mehr als nötig, mehr als richtig
beschattete. Bei uns ist Ochs von Lerchenau kein pere noble,
sondern ein oesterreichischer Falstaff in den besten Jahren,
Herr von Faninal kein bescheidener Hausvater, sondern ein
rücksichtslos auftrumpfender und aufstampfender Haustyrann.
Mit prachtvoll festem Griff haben Knüpfer und Hoffmann
die Figuren an sich gerissen. Wenn sie erscheinen, wenn sie
mit der Wucht ihrer Stimmen und ihres Humors einher*
gefahren kommen, dann ist es immer, als ob Sturm und Sonne
das melancholische Gewölk eines üppigen Lyrismus in dem
Augenblick zerteilten, wo es zu dicht zu werden droht. Sie
reinigen die Luft und berechtigen das Gewölk, sich von
neuem zu bilden. Es zeigt sich, daß es am Himmel einer
dramatischen Landschaft gar nicht wetterwendisch genug
zugehen kann. Vielleicht hat es auch einen ähnlichen Vor*
teil für das Werk, daß Muck jünger ist als Schuch. Schuchs
breitere Tempi wiegten wundervoll ein. Muck ist nervöser
88
und setzt die Lustigkeit gegen den Ernst kräftiger ab — wo*
bei schwer zu entscheiden ist, ob mit dieser klaren Kon*
trastierung er sich der Regie oder die Regie sich ihm an=
gepaßt hat. Schheßhch bleibt es ja gleichgültig. Die Haupt*
Sache ist: es gibt eine Einheit, wie wir Berliner sie in einem
Opernhaus noch nicht erlebt haben, weil Hans Gregor, dem
sie vorgeschwebt hat, zwar niemals die dramatischen, aber in
jedem anspruchsvollen Falle die musikalischen Mittel gefehlt
haben. Mag sein, daß auch hier die Unersättlichkeit sich zu
beklagen hat: Lola Artöt de Padilla ist als Rosenkavalier
— zufällig bloß heute oder überhaupt — weder ganz auf der
Höhe der Aufgabe noch ihrer eigenen Leistungsfähigkeit,
und Fräulein Ciaire Dux als Sophie greift nicht ordentlich
durch. Tut nichts: die Hempel wiegt alles auf. In Pisa habe
ich einmal Kirchenglocken gehört, die von der Mischung ihres
Metalls oder von der atmosphärischen Gunst gerade dieser
Stunde einen Klang hatten — so rein, so hell, so überirdisch,
daß ich niemals geglaubt hätte, ihn in einer menschlichen
Stimme wiederzufinden. Irgendwo hat die Hempel diesen
Klang in ihrer Stimme — aber welche Klänge hätte sie nicht!
Wer Susannens Gartenarie von ihr kennt, versäumt nur
schweren Herzens einen ihrer Abende. Durch Straußens
Marschallin hat sie auch die Schauspielerin in sich entdeckt.
Vor sieben Wintern war sie in Reinhardts ,Sommernachtsü
träum' eine Choristin wie viele. Sie ist unter unseren Augen
üügge geworden. Jetzt fliegt sie davon.
Und das ist der bittere Nachgeschmack, den dieser fest*
liehe , Rosenkavalier' — glänzendes Schaustück und hohes
Kunstwerk zugleich — bei aller Süßigkeit in uns zurückläßt,
daß wir fragen: Ist eine Stadt von der Größe und dem
Reichtum Berlins wahrhaftig nicht in der Lage, eine Wohl*
täterin ihrer Bevölkerung wie diese Frieda Hempel dauernd
an sich zu fesseln? Und dürfen Aufführungen von diesem
Rang, von dieser Reife, für die das Theater des deutschen
Kaisers alltäglich die künstlerischen wie die materiellen
Kräfte hätte, uns wirklich nur alle Jubeljahre und nicht ein*
89
mal alle Jubeljahre beglücken? Hat die preußische Hofoper
nicht am Ende doch die Verpflichtung, diese Sorgfalt, dieses
Verständnis, diese Opferwilligkeit und diese Vertiefung ge*
nau so wie dem Richard Strauß, der in der Mode ist, den
Mozart, Gluck und Verdi zugute kommen zu lassen? —
die immer wieder in die Mode gebracht werden müssen,
wenn sie jemals haben verdrängt werden können!
AGNES BERNAUER
Hie Mensch, hie Menschheit! Hie Mannesrecht, hie Für«
stenpflicht! Hie Leidenschaft, hie Staatsraison! Kühl,
klar und scharf stellt Hebbel diese Antithese auf. Wer in
der Mitte des dritten Aktes noch nicht weiß, worauf der
Dichter hinauswill, den belehrt ein Redekampf zwischen
Herzog Albrecht und Kanzler Preising: „Ich soll dem Weibe,
mit dem ich vor den Altar trete, so gut wie ein anderer Liebe
und Treue zuschwören — darum muß ichs so gut wie ein
anderer selbst wählen dürfen!" „Ihr sollt über Millionen
Herr sein, die für Euch heute ihren Schweiß vergießen,
morgen ihr Blut verspritzen und übermorgen ihr Leben aus*
hauchen müssen: wollt Ihr das alles ganz umsonst? Einmal
müßt Ihr auch ihnen ein Opfer bringen." Unsere Antwort
wäre: wo denn geschrieben steht, daß jene Millionen Schweiß
und Blut und Leben lieber für den Gatten einer Fürsten«
tochter als für den Gatten einer Bürgerstochter lassen würden.
Aber darauf kommt der junge Herzog nicht. Er prüft und
zweifelt nicht — er glaubt. Auch Hebbel ist konservativ und
gläubig. Er rührt nicht an den Schlaf der Welt. Vor alters
ist einmal beschlossen worden, daß Herrscher gleichgeborene
Frauen haben müssen, und so ists recht — so ists vernünftig,
eben weil es ist. Aus Gründen der Vernunft, die unvernünf«
tig sind, wird Schönheit, Licht und Wärme aus der Welt ge«
schafft, wird Agnes hingemeuchelt. Albrecht, ihr Gatte, müßte
unversöhnlich rasen. Hätte Hebbel dieses deutsche Drama
ausgedichtet und nicht bloß gedacht, dann würde es ja wohl
90
so sein. Aber vor dem Ende zaudert er hamletisch, wägt er
ab und grübelt nach Gerechtigkeit. Auf fünfthalb Akte, die
in Augsburg, München, Vohburg, Regensburg und Strau*
bing spielen, folgt ein halber Schlußakt, dessen Schauplatz
das Gehirn des Dichters ist. Hier ist Herzog Albrechts
Haltung zwar von höchster Sittlichkeit, aber — aber auch
unmenschlich. Die Verkürzung, die der Dichter vornimmt,
nimmt er gar zu heftig vor. Bis dahin hat jeder Vorgang dieses
Dramas so viel Zeit gebraucht, wie er in Wirklichkeit ge*
brauchen würde. Plötzlich überschlägt der Dichter Jahre.
Er ersetzt den blut* und lebensvollen Gatten eines Frauen*
Wunders ohnegleichen, der vom grauenvollsten Mord ins
Mark getroffen ist, zu unversehens durch den Erben Bayerns,
der erst nach lange durchgelittenem Schmerz und mit ver*
harschten Wunden, weise, mild und resigniert das W ohl des
Landes über sein privates Unglück stellen würde. Albrecht,
ein simples Menschenkind, wird, eins, zwei, drei, groß und
abscheulich. Wenn man sich fragt, warum man schließlich
unergriffen bleibt: da liegt der Grund. In Handlungsweise
und Geschick jedwedes Dramenhelden müssen wir uns selber
wiederfinden. Der Grieche Gyges und der Lyderfürst Kan*
daules sind mir Brüder, weil ihre Taten, ihre Leiden täglich
irgendwie auch meine werden können. Der alte Herzog Ernst,
der Schleier, Kronen, rost'ge Schwerter höher achtet als ein
blühend junges Menschenleben, und sein Sohn Albrecht,
ders begreift und reuig vor dem Vater niederkniet: sie sind
für mein Empfinden Posten im Exempel eines Dichters, der
aufhört, es zu sein, sobald die Rechnung aufgeht.
Und doch! Noch Hebbels Homunculi haben mehr Exi#
stenzberechtigung, weil sie zum mindesten den Geist ihres
Ersinners haben, als die drallsten Geschöpfe der meisten
übrigen Dramatiker. Darum sollte man ein Theater, das
Hebbel spielt, ohne es eigentlich nötig zu haben, auch dann
nicht entmutigen, wenn es nichts weiter als den guten Willen
hätte. Hebbels Worte deutlich zu hören, wäre ja schon Ge*
winn. Aber an der Aufführung des Neuen Schauspielhauses
91
ist diesmal mehr zu loben. Zunächst hat man das allzu aus*
führliche Stück mit Geschmack und Geschicklichkeit auf das
Maß eines Theaterabends, auf dreizehn gedrungene Bilder
gebracht. Diese Bilder sind in Rahmen gefügt, die manchmal
heben und niemals drücken. Mit den sparsamsten Mitteln
hat Herr Svend Gade eine mittelalterliche Atmosphäre ge#
schaffen, die nur einmal sich nicht in einem Theater des
Jahres 1911, sondern des Jahres 1861 auszubreiten scheint:
da nämlich, wo die Zuschauer des Turniers von Regensburg
auf den Prospekt gemalt sind — wie wenn es nicht wesentlich
schwerer wäre, diese Zuschauer für Menschen zu nehmen,
als sich die nötige Menge Volkes hinter dem Vorhang zu
denken. Daß die Drehbühne blitzschnell funktioniert, erhöht
den Eindruck, den von den Darstellern keiner schädigt, und
den drei nachdrücklich fördern. Wenn man vor Frau Erika
von Wagners Agnes die Augen schlösse, so wäre sie verloren;
wenn man sich bei ihren Reden die Ohren zuhielte und
immer nur ihren Partnern zuhörte, so könnte man sich diese
passive Figur nicht bezaubernder wünschen. Nach drei
Rollen läßt sich leicht feststellen, daß wir es hier nicht mit
einer Schauspielerin zu tun haben; aber gerade in Berlin,
wo Häßlichkeit fast schon eine Empfehlung für die Bühne
ist, können wir auch Schau^Spielerinnen gebrauchen. Herr
Willy Loehr wirkt vorläufig wie ein feisterer und trotzdem
intelligenterer Christians ohne Manieriertheit und Gefallsucht.
Für Herzog Albrecht war ihm günstig, daß er weniger jung
aussieht, als die Gestalt gemeint ist, weil dadurch die Uns=
glaublichkeit der letzten Szene abgeschwächt wird. Alles in
allem aber sind mir die alten Mitglieder des Neuen Schau*
spielhauses lieber als die neuen. Herr Lind als Bernauer: ein
ehrenfestes Haupt von hitzigem Bürgerstolz, ein herzlich guter
Vater und ein Mann, dem die Beschäftigung mit der Antike
durchaus zuzutrauen ist. Herrn Ziegels Kanzler: ein feiner
Graukopf voll von Menschlichkeit, die hier und da ein biß*
chen übertropft. Am wuchtigsten Herrn Hartaus Herzog
Ernst. Tief aufgewühlt und dennoch streng und karg gefaßt.
92
In jener letzten Szene — über die kein Mann und keine Frau
hinwegkommt — deklamiert er, weils unmöglich ist, sie durchs
zufühlen. Bis dahin hat sein bloßer Anblick schon gebannt.
Nie gibt er einen , Herzog', immer einen Menschen. ,, Alles,
was den Staat angeht, läßt die Menge kalt", schrieb Hebbel
nach der münchner Aufführung an seine Frau. In Berlin wars
umgekehrt: hier hat nur, was den Staat angeht, die Menge
und den Kenner interessiert.
HERMANN, STERNHEIM UND BASSERMANN
Schäm' dich, Georg Hermann. Erfolge verpflichten. Ich
weiß nicht, wie mir dein Jettchen Gebert erschienen wäre,
wenn ich die Fähigkeit gehabt hätte, mit kritischen Augen
auf sie zu blicken. Aber ich blickte mit einem stadtgenössi*
sehen und einem glaubensgenössischen Auge auf sie, und
beide gingen mir über vor Vergnügtheit und Ergriffenheit.
Ich konnte mich um so unbedenklicher hingeben, als zum
Glück kein Blatt Romankritiken von mir verlangt. Jetzt aber,
wo mich keine Konfession und keine Lokalfarbe besticht,
muß ich mithelfen, die öffentliche Meinung über dein Lust*
spiel zu machen. Die Freude an dieser Tätigkeit entspricht
genau der Freude, die du mit deiner Arbeit bereitet hast.
So etwas tut man doch nicht. Das schreibt man als iuvenis
obscurus, entfaltet dabei unter allen Umständen ein bißchen
mehr Witz und Geschmack und läßt es sich eines Tages,
weil Not am Gelegenheitsdichter ist, für ein Familienfest ent#
reißen. Die Tanten werden sich über deine Moral entsetzen,
ein paar apoplektische Onkels aber werden entzückt sein,
wie es die neue Richtung abbekommt. Beides wird dich ver#
führen, eine richtige Aufführung für möglich zu halten. Nur
eine kluge Cousine, die es gut mit dir meint, wird dich warnen:
sie wird dir erklären, daß deine Satire nicht allein über die
Maßen schwächlich, sondern auch völlig schief geraten ist,
daß ihre Stumpfheit noch durch ihre Unappetitlichkeit über*
boten wird, und daß du das — wie ist es möglich! — gar
93
nicht merkst. Du wirst knurren und wirst doch am Ende
kuschen (weil, nebenbei, kein Thespis eines Unbekannten
Dramen Hest). Aber wartet nur, balde! Es kommt, wie es
kommen muß. Ein paar Jahre später bist du berühmt, um*
worben, kritiklos, dem Einfluß der klügsten Cousinen ent*
rückt, Schliemann deines eigenen Schreibtischs und reif für
den Durchfall. Er kam, wie er kommen mußte — und unter
achtungsvollen Grabgesängen bevölkerte sich Meinhards
Totenreich.
Rosen aber für den Scheitel des Herrn Sternheim. Dieser
Autor hat es abgelehnt, sich über seine .Kassette' selber zu
äußern, weil am Tage nach der Premiere in der berliner Presse
stehen werde, was über sein Werk zu sagen ist. Zu seiner
Entschuldigung: er ist nicht von hier. Heute wird er wohl
nicht mehr glauben, daß von ihm die Mißgeburt stammt, die
in den meisten Morgenblättern als Komödie von Carl Stern:»
heim verhöhnt worden ist. Er hat in Wahrheit einen Wurf
getan, wie wir ihn lange nicht erlebt haben. ,Der Riese' des*
selben Dichters war eine Talentprobe, die viel erwarten ließ ;
aber das doch nicht. Nicht diese unerbittliche Härte, nicht
diese zähe Leidenschaftlichkeit, nicht diesen spielenden Reich*
tum bei aller Starrheit eines einzigen Motivs. Denn es geht
ja nichts weiter vor, als daß eine Aussicht zur fixen Idee
wird, daß ein Trieb hypertrophisch entartet, daß ein leichter,
luftiger Schneeball zur bedrohlichen Lawine anschwillt. Wer
hätte das von Heinrich KruU gedacht! Dieser rötlich*blonde
Oberlehrer kommt gesund und munter von der Hochzeits*
reise mit der zweiten, zwanzig Jahre jüngeren Frau zurück,
erfährt, daß seine Tante Elsbeth ihr Vermögen, das er erben
möchte, in die gemeinsame Wohnung hat transportieren
lassen, und malt sich die Wonnen seiner gesicherten Zukunft
mit einer so brennenden Gegenständlichkeit aus, daß sein
armes Hirn davon versengt zu werden anfängt. Es wird ein
Aschenhäuflein sein, sobald die Tante mitteilt, daß sie ihn
enterbt hat. Da Sternheim kein plumper Handwerker ist, so
sehen wir nur, wie die Tante den Partherpfeil aus dem Köcher
94
zieht, nicht, wie der Neffe getroffen wird. Ich habe sogar
den Verdacht, daß selbst diese Vorbereitungen für das Pu*
bUkum geschehen. Dem Stil der Komödie, die Marotten und
Einbildungen für \'C'irklichkeiten nimmt und gibt, entspräche
mehr ein irgendwie gespenstischer als dieser kompakte Ab*
Schluß. Das Ziel der Vorgänge ist ja ohnehin nicht zweifei*
haft. Überraschungen entstehen hier auch nicht daraus, daß
etwa der Weg zu diesem Ziel unerwartete Wendungen nimmt.
Trotzdem fünf Akte gefüllt sein wollen, hat Sternheim keiner*
lei theatralische Hilfsmittel nötig. Er verwickelt nicht — er
entwickelt: das ist alles. Er faltet sein Thema aus einander.
Überraschungen, die sein müssen, weil Abwechslung sein
muß, entstehen einfach daraus, daß sich überall auf jenem
Wege die weitesten Ausblicke eröffnen.
Es ist erstaunlich, welche Perspektive allmählich diese
simplen Menschen, diese alltäglichen Begebnisse, diese Requi*
siten bekommen. Tante Elsbeth, die sich teuflisch rächt,
weil man sie „nicht um ihrer selbst willen" geliebt hat, ihr
Neffe Krull, der sich aus Habgier von früh bis spät vor ihr
demütigt, und sein Schwiegersohn, dem er vor Toresschluß
schnell auch noch die Seele verwüstet: die drei werden zu
Repräsentanten der Menschen, die krüppelhaft blind, schäbig
und schlecht sich und einander quälen, statt vernünftig, hilf*
reich und gut zu sein. Die wilde Jagd nach dem Gold, in
die sich hier Bürger mit gesicherter Existenz bis zur Besinnungs*
losigkeit stürzen, wird zum Abbild des Lebens, das immer
das Mittel zum Zweck erniedrigt. Und die Kassette? Sie
bedeutet erst recht mehr als sich selbst. Sie braucht nicht
nur bayrische Staatspapiere zu enthalten: es können noch wert*
und wesenlosere Dinge sein, um derentwillen man das Leben
versäumt. Mit solcher Kassette wird jede Frau als ein Stück
Natur von dem verbohrten, im Instinkt geschwächten Männer*
Volk betrogen. Es ist eins von den vielen Verdiensten des
Dichters, daß er diese seine Tendenz nicht überspitzt und
übersteigert: daß er den Mann nicht etwa zwischen Weib
und Welt stellt, sondern zwischen Weib und Scheinwelt.
95
Aber eigentlich war das niemals eine Gefahr, weil Sternheim
von Menschen ausgeht und nicht von Absichten. Wir sind
bei ihm in der dünnen Höhenluft einer Intelligenz, die trotz
allem satirischen Ingrimm die Fähigkeit bewahrt, sich von
den Erscheinungen zu distanzieren. Während gewöhnlich in
die Erscheinungen eine allegorische Bedeutung hineingetragen
wird, wachsen sich hier die Erscheinungen wie von selbst zu
Symbolen aus. Bei jener scharfen, finsteren und galligen In«
telligenz ist es fast rätselhaft, bei dieser anschauenden Ge«
lassenheitist es wieder ganz selbstverständlich, daß wir schließ«
lieh in einen prachtvollen Wirbel gerissen werden, der wie
das Chaos selber und doch künstlerisch beherrscht und
zweckvoll gesichtet ist. Nur könnte ich ebensogut das eine
selbstverständlich und das andere rätselhaft nennen. Aesthe*
tische Wirkungen bleiben letzten Endes unerklärlich. Man
spricht nicht umsonst von göttlichem Funken. Dieser Carl
Sternheim hat ihn. W^ie kommt es, daß sein Stück wie Dunst
und glühendes Erz zugleich ist? Daß man an Heinrich Mann,
an Goldoni, Balzac, Moliere, E. Th. A. Hoffmann und Tho#
mas Theodor Heine denkt, und daß dieser Sternheim trotz«
dem kein Eklektiker ist? All das ist nur des Stückes Kleid
und Zier. Sternheim ergötzt sich und uns mit spaßhaften
Lichtbrechungen, ulkigen Schattierungen, bizarren Projek«
tionen und parodistischen Verkürzungen, die ja wohl von
klassischer, romantischer und moderner Literatur und Malerei
beeinflußt sein mögen. Er umspielt sein Thema mit Witz und
mit Witzigkeiten, mit einem bewußt kuriosen Pathos und
schillernden Exzessen einer Sprachgewandtheit, die selbst aus
den trockensten Ausführungen über die Zinsgarantien der bay«
rischen Forsten eine Fülle komischer Wirkungen schlagen kann.
Immer wieder aber packt er dieses sein Thema mit eiserner Faust
und hämmert es, daß die Funken, eben die göttlichen Funken
sprühen. Er hat den Griff, mit dem man die großen Komödien«
Stoffe an sich reißt, und schon jetzt die Meisterschaft, mit der
man ihnen ihre endgültige Form für ein oder mehrere Jahr«
hunderte gibt. Nichts törichter, als gegen die .Kassette' den
%
»Geizigen* auszuspielen! Wenn man ihn nach ihr zur Probe
aufführte, so würde sich zeigen, daß er tot und in ihr wieder
auferstanden ist — wie die antike Iphigenie in der Goethe*
sehen. Es ist ein Fall, der in künftigen Literaturgeschichten
als ergänzendes Schulbeispiel für die wahre Erneuerung eines
ewigen Komödienvorwurfs dienen wird.
Immerhin: das sind spätere Sorgen. Wer leben wird . . .
Wer aber lebt, der sollte sich Bassermanns Oberlehrer Krull
ansehen. Es ist das tragikomische Gegenstück zu seinem
komitragischen Oberlehrer Traumulus, und das besagt von
vornherein, daß es eine der größten Leistungen der modernen
Schauspielkunst ist. Auch hier, wie bei Sternheim, diese un*
erklärliche Vereinigung von Schärfe und Breite. \^ele Schau*
Spieler können, besonders in Episoden, die Essenz, den Ex*
trakt eines Menschen geben. Viele Schauspieler können,
besonders in fünf langen Akten, mit aller Gemächlichkeit
die zahlreichen Züge eines Menschen ausbreiten und manch*
mal sogar zusammenfassen. Wie aber Bassermann beides
zugleich kann: wie er immer förmlich die Abstraktion der
Habgier und doch in jedem Augenblick dieser ganz bestimmte
nur einmal vorhandene Heinrich Krull ist — das ist schlecht*
weg genial. Er wagt alles, weil er bei dieser unbegrenzten
Herrschaft über die Technik seiner Kunst alles wagen darf.
Er zerreißt mit einer einzigen überrumpelnden Grimasse
den Ernst einer Situation und macht im nächsten Moment
durch einen einzigen schmerzlichen Ton aus einem Harlekin
einen mitleidswürdigen armen Teufel. Durch ihn allein müßte
das Stück Großflächigkeit bekommen, wenn es sie nicht hätte.
Aus den Fliegenden Blättern geht es bis tief in Callots nach*
tiges Reich. Dieser stelzende Hahnenschritt des potenten
Männchens und dünkelhaften Paukers, diese schmierigen
Bartzotteln, dieser duckmäuserisch lauernde Blick, diese bald
süßlich devote, bald lüsterne, bald feige zitternde, bald zügel*
los wütende Stimme — ja, wo anfangen und wo aufhören,
um die einzelnen Bestandteile einzufangen, die hier zu einer
Gestalt von grotesker Großartigkeit zusammenschießen! Das
7 97
flackert wild phantastisch herum und ist doch mit außer*
ordenthcher Energie sparsam und klar umrissen. Das hat die
äußerste Schnellkraft der Intuition und schlendert doch be*
haglich auf der Nuancen wiese einher. Aber wenn ich noch
weit mehr Worte machte, so wüßte ich am Ende immer, daß
ich ein Wunder der Kunst nicht aufgeklärt, sondern nur an*
geschwärmt hätte. Das ist freilich die Bestimmung der Wunder.
Also gehet hin und schwärmt mit mir.
BRAHM UND HARDT
Dafür wurde gekämpft. Dafür wurde die Freie Bühne
gegründet. Dafür wurden die Rudolf Baumbach und
Julius Wolf entthront, die Dame Heimburg und die gewissen
dichtenden Professoren der Mythologie mit Schimpf und
Hohn aus dem Tempel gejagt. Dafür, Dafür, daß durch
eine Ehrenpforte Ernst Hardt einziehe, der von jenen zwei
Sängern der deutschen Vergangenheit den pseudolyrischen
Blasenkatarrh, von Wilhelminen die Kenntnis der weiblichen
Seele und von dem Barden Felix Dahn das Monopol für
den deutschen Mythus geerbt hat. Brahm steht an der Pforte,
segnet den Kömmling und lächelt das undurchdringliche Lä#
cheln der Mona Lisa. Seine Jugend war Kleist und Gottfried
Keller, sein Mannesalter Ibsen und Hauptmann gewidmet.
Was er, zäh und ungemein erfolgreich, für sie tat, war ohne
leidenschaftliche Beteiligung nicht zu tun. Wir schätzten
ihn darum, und mußten wir ihn schelten, so bewiesen wir
durch unseren zornigen Eifer nur, wieviel wir von ihm
hofften, und wie groß in jedem Falle die Enttäuschung war.
Dieser Eifer wurde in dem Maße schwächer, wie die Ein*
sieht zunahm, daß das Theater nun einmal der Konzessionen
und der Kompromisse nicht entraten kann. Um die .Kassette'
aufzuführen, die durch die dicken Felle unserer Kritiker
nicht bis ans Publikum gelangen wird, braucht Reinhardt
seine ,Turandot' und ihre Buntheit, Massenhaftigkeit und
Stil verworrenheit, die dem Berliner dieser Tage, sei er Kommis,
98
sei er Reporter fürs Theater, rundherum gefälh. Um Ibsen
durchzusetzen, brauchte Brahm den Sudermann oder hielt
ihn wenigstens für nötig. Ich zweifle nicht, daß er darunter
manchmal litt, daß er auch als Direktor diesen ewigen Suder*
mann, der auf verschiedene Namen hörte, schlechterdings
zum Speien fand. Sein Trost war, denk' ich mir, die Zuver*
sieht, mit diesem Zugeständnis seinem Ideal den Sieg und
sich nicht allzu spät ein nettes Rentnertum zu schaffen. Er
hats erreicht. Er selbst ist seit geraumer Zeit geborgen, und
Ibsen wird nicht mehr umstritten. (Daß eine nicht zu ferne
Zukunft gegen ihn mit neuen Waffen aufbegehren wird,
kommt hier und jetzt nicht in Betracht.) Brahms Tagwerk
ist getan. Sein Erbe wiegt nicht schwer.* Nachdem er fünf*
undzwanzig Jahre zwischen Kunst und Kitsch einhergependelt
ist, wird unter seinem Publikum kaum jemand sein, der fähig
wäre, Kunst von Kitsch zu unterscheiden, einen empfundenen
Vers von einem aus Papier, einen Knalleffekt von einer legi*
timen Wirkung. Das Ensemble, das er ausgebildet hat, ver*
fällt und zerfällt. Er könnte sich zur Ruhe setzen oder aber,
da ihn noch Verträge fesseln, bis zum Jahre 1914 für die
Götter seines Lebens endlich Opfer bringen. Nicht jenes
billige Opfer seiner Überzeugung, das er stets gebracht hat,
sondern materielle Opfer. Lag' es dem Herold Ibsens nicht
doch ob, vor Toresschluß daran zu denken, daß er , Brand',
,Peer Cynt*, , Kaiser und Galiläer' zwanzig Jahre übersehen
hat? Und gar die Liebe seiner Jugend? Von den deutschen
Direktoren, die uns eine Ehrung Kleistens schuldig waren, hat
allein der preisgekrönte Biograph des Dichters sich gedrückt.
Hingegen ziert den Aufruf einer Stiftung, welche „ringende
poetische Talente" davor beschützen soll, „im Lebenskampfe"
zu erliegen, selbstverständlich auch der Name Brahm, weil
das nichts kostet und zu nichts verpflichtet. Wenns ver*
pflichtete, dann wäre ja wohl niemand besser in der Lage,
jungen Dramendichtern von Bedeutung förderlich zu sein,
als der Direktor eines führenden Theaters. Aber was tut
Brahm? Auf seine alten Tage öffnet er gastfreundlicher als
1* 99
je sein Haus dem „einen Gegner", den zu vernichten anno
1889 die Revolutionäre feierlich geschworen haben, „dem
Erb* und Todfeind: der Lüge in jeglicher Gestalt". Seit
zwei Jahren haben die beiden gefährlichsten Mittelmäßigkeiten
der letzten deutschen Dramengeneration an Brahm ihren
mächtigen Beschützer, Denn gefährlicher als etwa jener ver*
Schollene Sudermann, der in meiner Kindheit bekämpft
werden mußte, sind die Herren Schönherr und Hardt, weil
sie nur zu einem Drittel aus sudermännischen Elementen be*
stehen. Das zweite Drittel ist vertrauenerweckender Wilden*
bruch, und das dritte Drittel, das selbst Juden und gar erst
Universitätsprofessoren widerstandsunfähig macht, ist hie Erd#
geruch, hie Sagenstimmung. So war , Glaube und Heimat'. So
ist, Gudrun'. Gegen , Gudrun' aber sind Sudermanns .Strand*
kinder' ein liebenswert harmloser, simpler und einfältiger
Schwindel. Daß Ernst Hardts treues deutsches Auge un*
zweifelhaft in ebenso holdem und ehrlichem Dichterwahn*
sinn rollt wie Schönherrs und Sudermanns Augen, wäscht
ihn nicht rein. Hier geht es nicht um die Makellosigkeit
der Absichten — hier gehts um weiter nichts als ums Ver*
mögen.
Dann aber wolle man mir erklären, wodurch sich Melide,
mein Braunkind, das rührendste der , Strandkinder*, von
Gudrun, meinem Nordvogel, unterscheidet. Die Abneigung,
eine steinigte nordische Heldenwelt durch so sentimentale
Rufnamen zu befettflecken, kann es nicht sein. Ist Gudrun
vielleicht in eine andere , Handlung' gestellt? Wie von An*
fang an Sudermanns aequatoriale Maid den westpreußischen
Blondkopf Heimeringk Rynkesohn liebt, von ihm wieder*
geliebt wird und als Magd bei seinem Bruder Püffe dulden
muß — genau so oder ähnlich liebt die Königstochter Gud*
run den Normannenkönig Hartmut, wird von ihm geliebt
und dient bei seiner Mutter Gerlind. Dem Glück beider
Pärchen steht nichts im Wege als die Entschlossenheit
ihrer oekonomischen Erzeuger, vier oder fünf Dramen*
akte zu füllen Wie füllt man sie? Von der Wilhelmine
100
Heimburg — welche die Mutter des Theaterbastards Gudrun
ist, während sich um die rühmHche Vaterschaft die Herren
Wilbrandt, Kruse und ihresgleichen noch im Grab gesittet
raufen werden — von der Heimburg also nennt sich ein Roman :
.Trotzige Herzen'. Hardt und Sudermann verleihen ihren
Helden, die in Wahrheit zahm und weich und durchaus
konziliant sind, einfach für die Dauer des Theaterabends
trotzige Herzen. Aus der Trotzigkeit dieser Herzen entstehen
Emotionen, Schrecklichkeiten, Verkennungen und Hindere
nisse, die nicht ohne Raffinement zu einem scheußlichen
Klumpen geballt, aber mit einer versöhnend kindlichen Will*
kür wieder entknäuelt werden, sobald der Theaterabend sich
seinem Ende nähert. Erst in der Art der Lösung trennt Hardt
sich von Sudermann, dessen Werk er kaum gelesen haben
wird. Es genügt ihm, das Gudrunlied mißverstanden zu
haben. Braunkinds Schöpfer ist für Hochzeit; Hardt ist füi
Nordvogels Tod. Im Ernst, weil der gefällige Kitsch ja tat*
sächlich ein groß Publikum und zahlreiche Apostel gefunden
hat: dieser Tod ist genau so unmotiviert wie Nordvogels
Dasein und alle ihre übrigen Verrichtungen und Unter*
lassungen in unserem Theaterstück. Damit aber ist der Tat*
bestand jener Wirkungen ohne Ursache gegeben, gegen die
wir uns gewendet haben, als Sudermann sie erfolgreich ent*
fesselte, und vor denen wir am allerwenigsten in einem Falle
kapitulieren wollen, wo die Mache um so viel geschickter
verhüllt wird. Ernst Hardt ist nämlich wirklich nicht dumm.
Er hat schon begriffen, wozu solch eine alte Sage gut zu
sein pflegt. Auch er entlehnt alle Rechte von ihr und läßt
sich durch sie von allen Pflichten dispensieren. Sein Plan
ist, aus dem lustig begrünten Felsen dieses dräuenden Idylls
die (nicht bloß wasserhaltigen) Tränenbäche eines Trauerspiels
zu schlagen. Das ist an und für sich nicht leicht, weil Gud*
run weder einen dramatischen noch gar einen tragischen Zug
hat. Was tun? Hardt kompHziert die starr und steile Jung*
frau. Was weißt du Gotenfrau von meiner Seele? fragt sie
den alten Drachen Gerlind. Davon weiß Gerlind freilich
101
nicht viel mehr als Gudruns mittelalterlicher Dichter. Diese
Seele ist Hardts Eigentum, der sie erfinden mußte und durfte,
um überhaupt unser Interesse zu erwecken. Wenn wir dann
aber über mancherlei erstaunt sind, wenn wir nicht glauben, daß
diese Gudrun voll von Stolz und Stärke sich mit dem König
Herwig so verblüffend schnell verlobt, daß selbst der Ur*
großvater Wate seinen waldbewachsenen Hohlkopf zweifelnd
schüttelt — dann, ja dann erklärt Ernst Hardt, daß die Ver*
lobung in der Sage stehe!
Es ist eine Sage zum Auf* und Zuklappen, mit der solch
ein Dichter genau so hantiert wie mit seinen anderen Requi*
siten: mit rasselnden Harnischen auf den Hünenleibern ge*
fühlvoller Seefahrer; mit urtümlich*wölfischen Zügen einer
guten alten Pfefferkuchenmutter; mit den blaublümchenhaften
Regungen seines wilden Nordvogels. Je nach dem, was im
Augenblick besser zu gebrauchen ist, wird der weiche Kern
oder die rauhe Schale strapaziert. Es ist und bleibt doch
wohl nobelster Sudermann — mit einer Abweichung, die
unwesentlich ist, aber immerhin die Blamage einiger sonst
unterscheidungsfähiger Kritiker verschuldet haben mag.
Während nämlich Meliden, meinem Braunkind, Leihbiblio*
theksromane das zu sagen gaben, was es leidet, und Gudruns
vorletzter Dramatisierer, Julius Grosse, der blasse Epigone
hoffnungsloser Schiller#Epigonentwar, folgt Hardt errötend
anderen Spuren. Aber ist das schöner? Wenn ein , Dichter'
keine eigene Sprache hat, so ist es belanglos, wessen Sprache
er spricht. Man schlage Hofmannsthals ,Elektra' auf, und
man weiß sofort, in welcher Dichterschule Hardt gelernt hat.
„Nimmst du die Worte selber in die Hand, ganz nackt und
bloß, so ists ein hämisch schief gewachsen und geifernd klein*
lieh Ding, geplatzt wie Teig. Und geil nach Größe wie
Schierlingskraut." Wer Ernst Hardt überschätzte, könnte
bestreiten, daß das gewöhnliche Hofmannsthal*Kopie sei.
Er könnte behaupten, daß es eine raffinierte Literaturspielerei
sein solle: zu zeigen, wie Hofmannsthal selber versuchen
würde, den Hofmannswaldau zu persiflieren. Aber es wird
102
wohl nichts sein, als aufgedunsenes Unvermögen. „Jedes Werk
der unechten Kunst, das von den Kritikern in den Himmel
gehoben wird, bildet eine Tür, durch welche die Mittel?
mäßigkeiten eindringen." Darum ist , Gudrun' nicht ein un*
schuldiger, sondern bedrohlicher Schmarren und mußte mit
größerem Nachdruck zurückgewiesen werden, als bei einer
maßvoller fälschenden Tagesblätterkritik nötig gewesen wäre.
. . . Aus der ziemlich anständigen Aufführung des Lessing*
theaters ragten die beiden Frauen, Gerlind und Gudrun, nicht
nur weit, sondern so weit, wie überhaupt möglich, heraus.
Was sie gaben war: schlichte Vollendung. Die Triesch litt
mehr, als sie leiden machte, und machte darum auch uns
leiden. Lina Lossen aber, diese herbe und hohe Blondheit,
entwertete durch ihr bloßes schweigendes Da^Sein Hardts
glibbrige Zuckerbäckerei vollends. Sie sollte sich aus diesem
Theater, wo sie nach anderthalb Fastjahren an eine solche
Gudrun vergeudet wird, schleunigst an eine Bühne retten,
wo man ihr zuliebe das ganze spezifisch deutsche Repertoire
aufrollen würde. Eine solche Künstlerin darf nicht mehr
lange in Berlin sein, ohne uns Clara Anton und Genoveva
in ihrem Bilde gezeigt zu haben.
JEDERMANN
Eine sterile Sache, die keinerlei Folge haben kann, und an
die deshalb, auch deshalb so viel Zeit und Fleiß nicht
hätte gesetzt werden sollen. Reinhardt wird langsam, oder schon
nicht mehr langsam, instinktschwach. Früher wußte er, welchen
Raum, welchen Darstellungsstil, welche Sorte Publikum ein
Werk gebraucht. Früher hätte er sich bei diesem Spiel von
,Jedermann' gesagt, daß es in eine Kirche oder auf die Ger*
manistenkneipe gehört : vor ganz heiße oder ganz kalte Gemüter,
vor Gläubige oder vor Durchschauer, vor Anwärter des
Himmels oder vor uns Mephistos — auf keinen Fall aber vor
jedermann. Jetzt bringt er es gleich vor fünftausend Jeders=
manns, in deren Gefühls* und Interessensphäre es niemals
103
eindringen wird. Die innere Fremdheit eines so massenhaften
Publikums, das seine Gebetriemen aus StaatsobHgationen
schneidet oder doch am Hebsten schnitte, erzeugt zusammen
mit seinem Snobismus einen Brodem, worin auch der rein
sachHche Anteil des kühl betrachtenden Kenners schlecht ge*
deiht. Wir werden verärgert und gelangweilt. Was denn?
Buhlt ihr um den Beifall der Menge von heute, so gebt ihr
entweder ihre lebendige Gegenwart oder ein Stück der Ver*
gangenheit, das sie noch empfindet. Wendet ihr euch an uns,
so ladet uns in die Kammerspiele und rekonstruiert eine
primitive Kunstform mit primitiven Mitteln. Auch die lon#
doner Aufführungen solcher Lehrhaftigkeiten finden in kleinen
Häusern statt.
Dabei ging es im Zirkus nicht etwa protzig her. Der reiche
Jedermann sprang in das völlig kahle Rund und ersuchte uns,
seinen Grundbesitz mit Augen des Geistes zu umfassen. Man
hat ihn sich dort zu denken, wo unsere Garderobe aufbewahrt
wird. Wo aber vor sechs Wochen das Haus der Atriden
brütete, erhebt sich heute eine Art Mysterienbühne. Vom
Parterre zum Hochparterre führt eine Treppe; das Hochpar*
terre bildet ein Plateau, auf dem für das Gastmahl Jedermanns
ein Tischlein*deck*dich aus der Versenkung auftauchen wird;
der erste Stock birgt hinter gotischen Spitzbogen und schwarz*
goldenen Vorhängen Mönche, Weihrauch, Heiligenscheine,
Orgeln und andere hieratische Gegenstände; und den zweiten
Stock hat sich Gott selber vorbehalten, um uns entweder
seinen Hofstaat zu zeigen oder aus einem Strahlenkegel heraus
den Tod gegen Jedermann aufzuhetzen. Wie nun der Tod
den armen Reichen mitten in seinen Genüssen antritt, ihm
gar keine Frist gibt, ihn gleichwohl aber in den Himmel läßt,
weil zwei Schwestern — die ,Werke', die er nicht getan, und
der , Glaube', den er nicht gehabt hat — feurige Kohlen auf
sein Haupt sammeln und sich für ihn verwenden: das ist der
Inhalt des allegorischen Spiels, das aus der altjüdischen Literatur
über England, Holland und Hans Sachs bis ins zwanzigste
Jahrhundert und nach Rodaun gelangt ist, wo Hugo von Hof*
104
mannsthal es jetzt wieder aufgezeichnet hat. In Bescheidenheit,
wie er selber richtig sagt. Denn es wäre nicht leicht, gerade
ihn als Erneuerer dieser dramatischen Parabel zu entdecken.
Soweit ich vergleichen konnte, unterscheidet sich seine Fassung
— abgesehen von den kleinen Einschiebseln, die er als solche
kenntlich gemacht hat — von der mittelalterlichen Fassung
nur dadurch, daß er die aufrichtige Erschütterung Jedermanns,
der dieser schließlich die Fürsprache der beiden mildtätigen
Schwestern verdankt, wesentlich früher eintreten, daß er den
Tod als Gast beim Mahl erscheinen, und daß er der Gottheit
nervöser, unruhiger, verzückter huldigen läßt. Der moderne
Wortkünstler hat im übrigen wenig Gelegenheit. Der Dialog
soll eine bibhsch*kräftige Einfalt, soll Knüttelreim*Derbheit
neben fröhlich*naiver Frommheit haben ; und da tut Hofmanns*
thal am besten, seine Besonderheiten zu verleugnen. Aber
jene drei oder vielleicht auch mehr Veränderungen erweisen
sein dramatisches Temperament, das auf Steigerung, Kon*
trastierung, Zirkulation gerichtet ist.
Hätte er nicht nur dramatisches Temperament, wäre er
Dramatiker von Geburt und Geblüt, so hätte er im Interesse
seiner Arbeit Reinhardt von der Manege abgebracht und damit
auch diesem genützt. Nach drei Zirkusspielen weiß man, was
sie gemeinsam haben, was also dem Raum anhaftet, und daß
das dem Wesen des Dramas fremd und schädlich ist. Ich
meine nicht die komischen Unzulänglichkeiten dieses be*
stimmten Pferdezirkus, die Reinhardt selber kennen wird: ich
meine die immanenten Gefahren der Arena, die ihm vorschwebt.
Die ungeheure Größe des Raums erfordert auch eine unge*
heure Verbreiterung der Darstellung, deren Charakter dadurch
undramatisch wird. Bis eine Einheit von fünftausend Zu*
schauern begreift, was bisher ein* bis allerhöchstens zweitau*
send vorgespielt worden ist, vergeht dreimal so viel Zeit. Je*
der weiß, wie viel schneller eine Schulklasse von fünfzehn Kin*
dem vorwärtskommt als eine von sechzig. Hier der Lehr*, dort
der Anschauungsstoff muß aus Rücksicht auf die Schafsköpfe
faßhcher, allzu faßlich dargelegt und bis zum Überdruß aller
105
helleren Hirne wiederholt werden. Man sehe sich daraufhin
die Aufführung von Jedermann' an und wende nicht ein,
daß ,Turandot' ja eigentlich weit gröber ausgefallen ist. Dem
Regisseur der,Turandot' hatte der Zirkus bereits den Maßstab
für das Theater genommen; der Regisseur von Jedermann'
kam wiederum aus dem Theater in den Zirkus zurück. Wie
dem aber auch sei: zu Hofmannsthals Buch und seinem Ge«
wicht oder seiner Leichtigkeit, zu der Schlankheit der Fabel,
die gar keine Fabel ist, und der Jachheit ihrer Abwicklung
steht diese Umständlichkeit und Schwerfälligkeit in einem
argen Mißverhältnis. Reizend, lustig, anmutig, wie Jeder*
manns Gäste zum Mahle getanzt kommen — wenn nur dieser
Tanz ein bißchen kürzer gefaßt wäre! Von buntester Drastik
dieses Mahl selber — wenn nur das Volk ein bißchen früher
aufhörte, sich ganz kannibalisch wohl zu fühlen! Vielleicht
könnte sogar jede Einzelheit für sich so lange dauern, wie
sie hier dauert. Aber daß alle Einzelheiten gleich lange dauern :
das spannt uns so ab. Die, Solisten' sindnichtschuld. Bisauf das
Vorspiel im Himmel, das von Gott und Tod zu gleichmäßig
lautheruntergeschrien wird, ist die Vorstellung schauspielerisch
vollkommen geglückt. Von der ersten Szene, wo Moissis
Jedermann und Wintersteins Guter Gesell wie aus einem
alten Holzschnitt hereinhüpfen, in die Hände klatschen, die
Köpfe werfen, die Worte hacken, die Bewegungen abzirkeln
und Interjektionen juchzen, bis zu der vorletzten Szene, wo,
wie auf einem alten Altargemälde, die blaue Mary Dietrich
vor goldenem Grunde in himmlischer Schönheit des Angesichts,
der Seele und der Kehle mit Biensfeldts überlebensstruppigem
und «ruppigem Volksbuchteufel um Jedermann kämpft: von
Anfang bis zu Ende böten die Schauspieler einem Regisseur,
wie sie ihn nicht besser finden, ein Material, wie er es nicht
besser findet. Hätte er sich nur auch das richtige Publikum
gesucht und es in das richtige Haus gesetzt!
106
OFFIZIERE
Ein vieraktiges, sechsbildriges, zerfallendes, handlungsarmes,
langsames und langatmiges Schauspiel, das keinen ganz
kalt entläßt. Es tolpatscht herum wie ein junger Hund, dem
man gut sein muß. Von einer fast rührenden Unschuld.
Auch die Knalleffekte hat dieser Autor nur aus kindlicher
Freude am Knall, nicht aus listiger Berechnung des Effektes
hingesetzt. War' er besonnen, hieß er nicht: von Unruh.
Es gärt in ihm selbst, wie in diesen Leutnants aller Spiel*
arten, deren Gesamtheit ungefähr die Jugend des preußischen
Heeres darstellen soll und wohl auch darstellen wird. Jeden*
falls ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich das Milieu besser
kenne als Herr von Unruh, nicht groß genug, um mich zu
einer Kritik an wunderlichem Detail zu ermutigen. Wenn
ein dichtender Offizier behauptet, daß auf Kasinobällen mit
adligen Fräuleins so fragwürdig umgegangen wird, dann
werde ich eben über Kasinobälle meine Meinung ändern, noch
bevor es sich mir gelohnt hat, eine zu haben. Aber es zeugt
für unsere Armee, daß selbst die mittelmäßigsten Kavaliere
dieser kleineren oder größeren Garnison es süß und ehren*
voll finden, für das Vaterland zu sterben, sobald es in Gefahr
gerät; und es zeugt für Unruh, daß er die Sachlage lange
nicht so pathetisch ausdrückt, wie ich es hier getan habe.
Der Patriotismus unseres patriotischen Dramas wird nirgends
übertrieben betont. Er ist da, und diese Selbstverständlich*
keit entspricht der volksstückhaften Ungezwungenheit der
Technik, ohne daß mir beides gleich lobenswert erschiene.
Auf der Bühne läßt die Zeit nicht ungestraft mit sich aasen.
Daß die Wirkung gerade da schwach wird, wo gehalten
werden müßte, was die kräftige Einleitung versprochen hat,
liegt aber nicht daran, daß Unruh gewissenhaft jede ange*
fangene Figur zu Ende führt, sondern daran, daß er es mit
solcher Gemächlichkeit, daß er es nicht mit den Mitteln der
dramatischen Kunst tut. Gewiß entsteht gerade aus der Fülle
der Gesichte und Schicksale, aus ihrer Ähnlichkeit und ihrer
Verschiedenheit, die besondere Lebensluft des Werkes. Dieser
107
Schlichting, der im Fieber des kriegerischen Ehrgeizes den
Fehltritt des Homburgers begeht, aber mit einer tödUchen
Verwundung büßt; dieser Mister Albemarle, der mit der
Liebe zu SchHchtings Braut halb brackenburgisch, halb toggen*
burgisch herumläuft ; dieser Werckmeister, den Pfiffigkeit und
unverwüstliche Gutgelauntheit nicht hindern, im Ernstfall an*
dächtig zum Himmel aufzublicken und sich als ganzen Kerl
zu erweisen; dieser Detlefsen, der das Leben der Hellenen
in jeder Beziehung nachleben möchte; dieser Rüxleben, der
gar nicht so trocken ist, wie er sich stellt; dieser Henner, der
solange den Windhund und Galgenstrick und Macao spielt,
bis er seinen letzten Heller und die Charge verliert, der aber
im Felde nur ein Gefecht braucht, um wieder zum Leutnant
befördert zu werden — : sie sind alle unentbehrlich, weil erst
sie alle zusammen die Melodie der Dichtung hervorbringen.
Wenn sie nur auch das Tempo eines Dramas hervorbrächten!
Die Gefühlsspannung ist da. Aber es fehlt die Energie, die
zusammenschweißt, der Druck, der Extrakte erpreßt — es
fehlt vorläufig die Fähigkeit, hart, sachlich, eben: dramatisch
zu charakterisieren. So darf in einem Roman der eine Wagen
immer ein Stück vorwärtsgeschoben und dann wieder stehen
gelassen werden, bis der andere Wagen nachgerückt ist. Der
Witz des Dramas ist, daß ein einziger Tritt zugleich zehn
Fäden regt. Davon weiß Unruh so viel, wie ich von den
Eigentümlichkeiten einer gefährdeten Signalstation im Lande
der Ovambos oder Hereros. Wenigstens verrät er nicht, daß
er mehr davon weiß. Selten hat ein Erstling so vollzählig
alle Schwächen der Anfängerschaft vereinigt. Aber freilich
zeigt er daneben alle Vorzüge der Jugend. Unruhs Naivität
hat Ungestüm. Sein Geist schwärmt sympathisch. Auch ihm
könnte man, wie seinen Vorgängern Hartleben und Beyerlein,
nachsagen, daß er die Buntheiten des Milieus zu harmlosen
Nebenspäßen ausbeute, wenn er es nicht zu wohltuend un*
geschickt anstellte, als daß man ein so aktives Verbum ge*
brauchen dürfte. Diese burschikosen Humore blühen ihm —
hier üppiger, dort spärlicher — zu. Er ,macht' überhaupt wenig.
108
Er verzichtet ganz auf die grelle Kontrastierung des Militärs
zum Bürgertum. Er bleibt in seinem Stande und nährt sich
redhch von dessen Tragiken und Glücksmöglichkeiten. Be*
quemlichkeit und Schmählichkeit des Friedens, Not und
Herrlichkeit des Krieges: das wird geschildert, aber weder
renommistisch zugunsten des PCrieges noch quietistisch zu«
gunsten des Friedens bewertet. Was Unruh für besser hält, ist
höchstens daraus zu schließen, daß im Frieden die Laster, im
Kriege die Tugenden seiner Offiziere hervorbrechen. Wenn wir
mit Recht indirekte Charakteristik im Drama verlangen, so ist
Unruh zuzugestehen, daß er indirekt charakterisieren kann: er
müßte eben nur noch lernen, dramatisch zu charakterisieren,
falls es zu lernen ist. An der Sprache liegt es nicht. Unruh
versteht nicht nur, seine Personen reden, er versteht sogar,
sie schweigen zu lassen. Auf dem Schiff teilt ein Offizier
seine Todesangst den anderen und uns ohne Worte und dar«
um beklemmend mit. Kurze Ausrufe bewirken ebensoviel.
„Geliebter Bengel!" murmelt der Oberst hinter seinem
Schwiegersohn her und beleuchtet damit sich und sein Ver*
hältnis zu Schlichting. Für den Schlenderdialog der lustigen
Episoden hat Unruh Wendungen von volkstümlicher Dra«
stik benutzt, die sicher auch Offizieren geläufig sind. Wo es
ernst wird, werden die Sätze zu einer prachtvollen soldatischen
Knappheit gehämmert, die manchmal sogar in unnatürliche
V^errenkungen ausartet, und auf Grund deren Unruh viel*
leicht sein ursprüngliches Dramatikertum behaupten wird.
Das wäre eine Verwechslung. Es kann in den längsten Sätzen
ein mustergültig dramatisches Gespräch geführt, es kann in
den kürzesten endlos breit geschwätzt werden. In den beiden
mittleren Bildern dieses Stückes wird die Geschwätzigkeit
unerträglich.
Hier hätte die Hilfe des Deutschen Theaters einsetzen
müssen. Künstler sein, auch Regiekünstler sein, heißt: opfern
können. Aber nicht nur wurde dem Dichter kein Sterbens«
wörtchen geraubt: man zelebrierte ihn obendrein wie einen
Klassiker. Jede Stimmung wurde liebevoll mit Lichtern und
109
Schatten versehen und lastete, statt vorüberzufliegen. Bei der
Besetzung hatte man den Fehler begangen, nur die erste und
die siebente Garnitur heranzuziehen. Die wichtigen Rollen
wurden so vollendet gespielt, wie es in keinem anderen Hause
als diesem möglich ist, die unwichtigen gleich so erbärmlich,
wie es nicht an allen kleinen Provinztheatern möglich wäre.
Auf dem Kasinoball konnte man fast glauben, daß nicht die
Figuren des Stücks, sondern die Darstellerinnen zur Strafe
für ihren Mangel an Menschenähnlichkeit, Talent und Ge#
schmack so schlecht behandelt wurden, und daß es Schlich*
tings Braut bloß darum besser erging, weil Frau Gebühr seit
Moritz Heimanns |,Joachim von Brandt' an Schönheit und
Vornehmheit nicht verloren, an Schauspielkunst aber ein biß«
chen zugenommen hat. Von den Männern wetteiferten sieben
mit einander. Diegelmanns kameradschaftlicher Pfarrer strahlte
von Milde und Menschenfreundlichkeit. Bei Wintersteins
Rüxleben bedauerte man, daß die Rolle nicht größer ist.
Wegeners Oberst war die vorbildlich gute preußische
Kargheit selber. Biensfeldts schottischer Liebesschmerz bHeb
vor jeder Komik gefeit, was bei einem Komiker dieses Ranges
nicht wenig heißen will. Auch Waßmann traf mühelos nach
der Schnurrigkeit die Warmherzigkeit und Zuverlässigkeit
des Barons Werckmeister. Kayßler gab bewegt und bewegend
und mit dem nötigen Schuß Hysterie Ernst von Schlichting,
diesen tapferen, hochgemuten Jungen. Bassermann schließlich
machte aus dem Henner, der im Buch einer von mehreren ist,
die Hauptperson des Stücks und die Glanzleistung der Auf*
führung, ohne die Bescheidenheit der Natur um ein Haar zu
verletzen.
DIE NIBELUNGEN
Trotzdem der Kaiser von Hebbels Werken dieses für das
stärkste hält (und nach der schlechten Aufführung des
Schauspielhauses sicherlich weiter dafür halten wird) — trotz*
dem gehört es zu seinen schwächeren. Wenigstens als Gesamt*
110
heit. Man muß die Triiogie schon an der „dicken Barbarei"
der Wagnerschen Tetralogie messen, um sie auch als Gesamt*
heit hochzuschätzen. Dann bezwingt ihre ethische Reinlich*
keit, ihr nicht bloß angemaßtes Gefühl kultureller Verantwor*
tung, ihre Ungedunsenheit. Sie leidet erst, wenn man an den
Griff, die Konzentrationskraft und die selbstverständliche Pro*
blematik und Symbolik der dramatischen Großtaten dieses
Hebbel denkt. Dann ist der Reihe nach zu sagen: daß aus
dem uneinheitlichen Nibelungenlied mit seinen verschiedenen
Welten und seinen allzu zahlreichen Helden ein Drama im
strengsten Sinne überhaupt nicht zu machen war; daß trotz
dieser unüberwindlichen Widerspenstigkeit der Vorlage Heb*
bei ihrer epischen Natur erfolgreicher hätte zu Leibe gehen,
daß er nämlich im zweiten wie im dritten Stück je zwei Akte
auf einen hätte bringen können; daß schließlich der weltge*
schichtliche Ausblick der Dichtung, der Sieg des Christen*
tums über das Heidentum, sich nicht von selbst eröffnet, son*
dem ein bißchen künstlich, ein bißchen gewaltsam am Ende er*
öffnet wird. Was aber als Gesamtheit unvollkommen ist,
braucht es durchaus nicht in seinen Teilen zu sein. Das gilt für
Menschen, das gilt für Dramen. Der Wert der , Nibelungen' ruht
in Einzelheiten, die schlechtweg vollkommen sind : in einzelnen
Aufzügen, Auftritten, Worten, Visionen, Naivitäten, Balladen*
Stimmungen, Verdichtungen, Zusammenstößen und Steige*
rungen. Diese Triiogie ist eine Folge von riesenhaften Idyl*
len mit tragischem Unterton, Gehalt und Ziel. Das klingt
paradox. Aber es ließe sich zeigen, wie hier in Wahrheit
Pastorale und Eroi'ca gemischt, Helden unheldisch und Wal*
küren menschlich sind, wie Todgeweihtheit lyrisch, Nächtig*
keit leuchtend, entfesselte Sturmmusik melodiös, Chaos zweck*
voll gesichtet und urtümlich wütende Grausamkeit förmlich
zivilisiert ist. Künstlerisch ist hier nicht Heidentum von Chri*
stentum besiegt worden, sondern Heidentum in unvergleich*
lieber Weise mit Christentum durchdrungen. Es mag gar
nicht leicht sein, diesen bestimmten Charakter einer monu*
mentalen Gebrochenheit, einer klugen Zauberhaftigkeit, einer
111
würdevoll gehaltenen Ekstatik, die Abenddämmerung einer
untergehenden, die Morgendämmerung einer entstehenden
Welt auf der Bühne zum Ausdruck zu bringen und dazu
noch irgendwie durch mutige dramaturgische Arbeit und
durch Farbe und Flamme die Einheit zu schaffen, die Heb*
bei nicht erreichen konnte. Aber ob leicht oder nicht leicht:
wenn eine Aufführung uns mehr leisten soll als die Lektüre
der Dichtung, so muß der Regisseur sich zunächst einmal
über ihre Besonderheit klar geworden sein und sie den Schau:«
Spielern klar gemacht haben. Wie weit es ihm gelungen ist,
seine Auffassung durch* und umzusetzen: davon wird der
Grad unserer Anerkennung abhängen.
Auffassung? In der Neueinstudierung des Schauspielhau*
ses wäre dergleichen schwer zu entdecken. Diese Regie ist
stumpf gegen den Unterschied von Geibel und Goethe, von
Kleist und Körner, von Halm und Hebbel. Bei Brahm wird
alles wie Hauptmann: hier wird alles wie Schiller gespielt,
ohne daß Schiller etwa schön gespielt würde. Für diese Regie
sind die , Nibelungen' ein Rinnsal von Versen, von denen im
Hinblick auf die schickliche Länge zweier Theaterabende
eine genau zu berechnende Anzahl gestrichen wird. Es ist
nur Zufall, daß dabei mehr unentbehrliche als entbehrliche
fallen. Der Rest wird gesprochen, wird grauenhaft, zuläng*
lieh, gut, besser, am besten gesprochen — wie eben der Schau*
Spieler es kann, der aus irgendeinem Grunde gerade diese
Rolle bekommen hat. Für unsereinen ist der Grund nicht immer
zu finden. Die Stärke dieses Theaters liegt in der Verwaltung,
und so werden wohl heimliche oder unheimliche bureaukra*
tische Erwägungen bei der Besetzung mitzureden haben. An*
ders ist kaum zu erklären, warum für ein so wichtiges und
anspruchsvolles Werk nach jahrelanger feierlicher Ankündi*
gung ein paar der besten Kräfte überhaupt nicht verfügbar sind ;
und warum Herr Patry, der dem Volker gewachsen wäre, mit
der Regieführung überbürdet wird. Auf diese Weise wird
weder sichtbar, was Hebbel gewollt hat, noch was das Schau*
spielhaus am Ende doch vermag. ,Penthesilea', nur dem Um*
112
fang nach eine kleinere Aufgabe, war nicht nach unserem Ge*
schmack, aber immerhin so anständig bewähigt, daß sich dar*
über reden ließ. Hier herrscht die verdrießlichste Glätte,
Verwaschenheit, Konvention. Es formen sich Gruppen von
unnatürlich symmetrischer Korrektheit und lösen sich wieder
auf, um besonders lederne Gesellen für den Einzelkampf ge*
gen Hebbel freizugeben. Wie das schreitet, sich dreht, die
Augen rollt, die Mähne schüttelt, den Kopf auf die Schulter
legt, den rechten Arm ausstreckt, die gespreizte Hand zum
Busen führt, sie zur Faust ballt, sich langsam beruhigt und
zurück in Reih und Glied tritt! Hat das die Oper vom Schau*
spiel, oder ist es umgekehrt? Am ehesten sind noch die Herr«
Schäften möglich, die aus dem ,modernen' Schauspiel und
Lustspiel stammen, weil sie wenigstens den Gang und den
Ton von Menschen haben, wenn auch leider nicht von „Hei*
den, Christen oder Menschen". Gerade das aber wäre hier
nötig, weil ja die Welt dieser Trilogie in drei Welten zer*
fällt, deren Wesen Wildheit, Weichheit und Widerspruch*
lichkeit ist. Es wird kaum zu beweisen sein, daß die Regie
das nicht gewußt hat. Aber auf die Thora will ich schwören,
daß die Wildheit meistens als ein struppiges, schrecklich mas*
sives, vorsintflutliches Pathos, die Weichheit als schwächliche
Süßlichkeit und die Widersprüchlichkeit überhaupt nicht her*
ausgekommen ist. Siegfried ist ein liebes Jungchen, das Mat*
kowskys Armbewegungen, Schritte, Tonfälle, Schreie und Hu*
more in einer niedlich gesänftigten Fassung noch ein paar
Jahrzehnte am Leben erhalten wird; und nachdem man die
Leistungen von achtundzwanzig seiner Partner mit dem Schwei*
gen der Achtung oder Mißachtung übergangen und der kleinen
Thimig für ihre holdselig befangene Gudrun die Hände ge*
küßt hat, behält man von den Hauptgestalten zwei übrig,
von denen eine Kritik und eine Lobpreisung verdient.
Kraußneck bemüht sich redlich um den Hagen. Aber
was ist Hagen nicht alles! Der geschmeidigste Diplomat,
der rücksichtsloseste Realpolitiker, der furchtloseste Ritter,
eine dunkelprächtige, tiefzerklüftete Seele und sogar eine Art
8 113
Liebhaber; denn er, der Siegfried fast ebenbürtig ist, rächt
Brunhild nicht bloß, weil er seinem König ein treuer Vasall
ist, sondern auch, weil er sie im stillen liebt. Für diesen
Hagen hat Kraußneck aus seiner Natur die seltene physische
Kraft, die durch elf Akte nicht zu ermüden ist, und aus sei*
ner Schminkschatulle die Blässe und die hohlen Todesaugen,
die ihm nachgesagt werden. Nur daß beides nicht genügt.
So kann man Hagens Zwiespältigkeit allenfalls plakatieren,
aber nicht gestalten. Weil der Grundzug des Schauspielers
Kraußneck die zuverlässige Biederkeit eines Lerse und eines
Stauffacher ist, kann er — ohne Regisseur! — nicht anders,
als Hagens heroische Verschlagenheit teils durch Trotzigkeit
vereinfachen, teils durch Brunnenvergiftertum fälschen. Aller*
dings ist seine Sprechkunst so außerordentlich, daß an ein
paar Stellen die rechte Hebbelsche Luft wie von selbst ent*
steht. Manchmal wieder wird er nur von seinen Partnern im
Stich gelassen. Die souveräne Sterbensstimmung der Szene,
wo Hagen im Burghof sitzt, seine Lage kennt, die Heunen
scheucht und Volkers Spiel in sich einsaugt, muß bei diesem
Volker und bei den melodramatischen Absichten der Regie
verpuffen. Was bleibt? Brunhild. Die Poppe hat einen dop*
pelten Erfolg gehabt. Wir haben ihre Brunhild bewundert
und uns nach ihrer Kriemhild gesehnt; denn Frau Willig
ist keinen Augenblick Hebbels Kriemhild oder sonst ein
menschliches Geschöpf gewesen. Die Poppe steht da und
ist einfach Brunhild: aus dem Mythos entsprungen; mit
dem Profil Melpomenens selber; mit Augen, die Brände
zum Himmel lodern; mit Erzklängen in der Stimme; von
einem überlebensgroßen Schicksal gezeichnet. Ein mäch*
tiges Bild, und mehr als ein Bild. Sie redet, wo sie früher
rädete; ja, sie ist gegen diese ihre Untugend allzu energisch
vorgegangen: sie wünscht jetzt, daß er keeme. Wenn sie sich
auch die neue Übertreibung schnell wieder abgewöhnt und
sich darüber klar wird, daß sie bei tragischen Erschütterun*
gen nicht umherzuwanken und keine einzige Fratze zu schnei*
den braucht, daß sie uns, im Gegenteil, ihr aufgewühltes In*
114
nenleben ohne Gliederverrenkungen und mit starrem Gesicht
noch viel eindrucksvoller übermitteln kann: dann wird sie
den Glücksfall einer deutschen Heroine rein und groß ver*
körpem.
Zwei Abende, drei Dramen, elf Akte, an die dreißig Dar*
steller — und der Ertrag? Die winzige Episode der Gudrun,
ein paar Reden des Hagen und die gewaltige Episode der
Brunhild, Solch eine Aufführung gibt also in Wahrheit be*
trächtlich weniger als das Buch. Das Buch beflügelt meine
Phantasie: solch eine Aufführung erdrückt sie. Wenn zwischen
charakterlosen Dekorationen, die gestern zu den .Karolingern'
gepaßt haben und morgen zu , Arria und Messalina' passen wür*
den, ein paar Dutzend Beamte in ehrlicher Nüchternheit oder
falscher Begeisterung an einander vorbei deklamieren, so
geht wohl oder übel mit Hebbels Spiritus auch meine Ein*
bildungskraft zum Teufel. Mein Aug ist zugefallen, ich sank
in tiefen Schlaf. Trotzdem richtet sich mein Groll nicht gegen
Hülsen, Lindau und Patry, sondern gegen Reinhardt. Sie
brächten mit heißester Mühe kein Kunstwerk in unserem Sinne
zustande. Er aber brauchte seine Gaben nur zu nutzen. Mit
Moissi als Günther, Kayßler als Hagen, Winterstein als Vol*
ker, Wegener als Etzel, Diegelmann als Rüdiger, Bassermann
als Siegfried, der Dietrich als Brunhild und Kriemhild — so
wären seine .Nibelungen' auch unsere .Nibelungen', Leider
lockt ihn dergleichen nicht mehr. Er stellt im Herbst sein Thea*
ter durch ein Ausstattungsstück wie ,Turandot' sicher, um
während der beiden Hauptwintermonate, frei von Repertoire*
sorgen, allabendlich die Gunst von zwanzigtausend Londo*
nem durch eine Wunder* und Monstre*Pantomime gewin*
nen zu können. Als es ihm noch auf die Gunst der zwei*
hundert besten Berliner ankam, war unsere Theaterkunst im
Aufstieg. Jetzt ist sie im Abstieg. Wer am Schluß des Jah*
res keine größeren Sorgen hat, der bete, daß im neuen Jahr
sich Reinhardt wieder auf sich selbst besinnen möge.
8* 115
DER SCHEITERHAUFEN
Scheiterhaufen? Holz wird von unten nach oben geschieh*
tet und mit einer einzigen Flamme von oben nach unten
erhitzt, durchstrahlt, entzündet. So ist auch Strindbergs
, Scheiterhaufen'. Vom letzten Akt her werden zwei hölzerne,
demonstrative, eintönige, monomanisch verzerrte Anfangs«
akte nachträglich legitimiert und in Glut gesetzt. Bis dahin
ist ,die Mutter' ein Monstrum, das den Hauptreiz jeder
besseren Schreckenskammer bilden könnte. Sie hat das Wirt*
Schaftsgeld nicht verwendet, um Mann und Kinder und
Dienstboten zu ernähren und die Wohnung zu heizen, son*
dern um einen Liebhaber auszuhalten, mit dem sie zuerst nur
den Mann, später die Tochter dazu betrügt. Seit jener, dank
jener grauenhaften Kindheit schleppen Tochter und Sohn einen
schwachen Körper, ein verkümmertes Herz, eine scheue Seele
durch ein wertloses Dasein. Da schon einmal abgerechnet
wird, kommen durch einen Brief des toten Vaters immer neue
Schändlichkeiten dieses Mütterchens zutage — gemacht, uns
völlig abzustumpfen. Aber Strindbergs Künstlerschaft versagt
auch hier nicht. Eh' es zu spät ist, schlägt sein blinder Haß
die Augen auf und sieht, daß die Verbrecherin genau so
leidet wie die Opfer; daß sie nicht wärmen konnte, weil sie
selbst gefroren hat; daß sie gewürgt hat, weil sie selbst als
Kind nie frei hat atmen dürfen. Die Sünden der Eltern
werden heimgesucht . . . Durch den dritten Akt ist dieser
, Scheiterhaufen' ein Vererbungsdrama geworden, gegen das
die , Gespenster' ein bißchen spießbürgerlich wirken.
Strindbergs Härte ist herrlich. Nur zweimal wird er weich :
da er das Zärtlichkeitsbedürfnis der Mutter enthüllt, und da
er Bruder und Schwester in einem balladesken Gemisch von
Bangigkeit und Seligkeit einander umschlingen läßt. Soweit
er sonst Mitleid mit dem überkommenen Jammer der Krea*
tur äußert, knirscht ers so wild zwischen den Zähnen hervor,
daß es sich wie besinnungslose Wut anhört. Er beweist
schließlich sein Mitleid weniger durch Worte als durch die
Tat. Er erträgt es nicht, daß der Jammer sich fortzeugt. Er
116
beendet ihn. Er rottet die Familie aus. Wohltätig wird des
Feuers Macht, das die Kinder zeitlebens zu ihrem körper«
liehen und seelischen Schaden entbehrt haben. Es sind die
Einfälle eines Genies, von einer schauerlich#skurrilen Wirkung
ersten künstlerischen Ranges: daß die Mutter entlarvt wird,
weil sie sogar das Feuer, das den verräterischen Brief auf*
fressen sollte, zu sparsam entfacht hat, und daß der Sohn
deshalb die Reste findet; daß zweitens wiederum durch
Feuer die Mutter zum Freitod getrieben und das Geschwister*
paar vom Leben erlöst wird. Zum Schluß glüht das Haus,
das so viel Elend gesehen, feuerrot wie Strindbergs Zorn
gegen eine Welt, die die Armen schuldig werden läßt und sie
dann der Pein überantwortet. Hier ist es nicht bloß der Zorn
gegen das Weib, der repräsentative Zorn des ganzen Männer*
geschlechts, der Strindbergs Lebenswerk pantherhaft schön
und erhaben durchtobt. Jetzt ist die ganze Menschheit seinem
Zorne reif. Der Eidam ist nicht besser als die Mutter und
die Tochter nicht schlechter als der durchschnittsgute Sohn.
Aber tief ergreifend , wie der Schmerz der Tochter über die
Nichtigkeit des höchsten Glücks, ist Strindbergs Schmerz
über die Nutzlosigkeit auch dieses großartigen Zorns. Sie
kommt ihm hin und wieder zum Bewußtsein. Dann ver*
schieiert sich seine Stimme. Er weint nicht, aber er muß sich
der aufsteigenden Tränen erwehren. Er dürfte weinen. Wei*
nende Männer sind gut, sagt Goethe. Aus diesem Stück,
auch aus seinen Bösartigkeiten, Düsterkeiten, Grausamkeiten
und Unerbittlichkeiten, spricht, ruft, schreit Strindbergs Güte.
Wenn dieses Stück im Buch ungefähr zehnmal stärker
wirkt denn im Theater — als Kunstwerk, nicht als Nervenfolter!
— so gibt es drei Möglichkeiten: daß es ein Lesedrama ist;
daß die Schauspieler schlecht waren; daß der Regisseur sich
ihm nicht gewachsen gezeigt hat. Es ist trotz den Langwierig*
keiten und Wiederholungen der ersten beiden Akte ein klares,
normal gebautes Theaterstück, dessen Sprache von Akt zu
Akt an aufwühlender Kraft gewinnt. Es hat drei bekannten
Talenten und einem begabten Anfänger Gelegenheit gegeben,
117
Strindberg treulich zu helfen, nämlich seine Menschen ent*
weder zu analysieren oder zu zeichnen oder zu verkörpern
oder aus sich herauszustöhnen. Also trifft die Verantwortung
für die ungenügende und schiefe Wirkung — und dafür, daß
der und jener Schauspieler in der und jener Szene nicht aus*
gereicht hat — den Regisseur dieses .Berliner Künstlerischen
Theaters'. Herr Adolf Lantz hatte zwar den dankenswerten
Mut, dieses Stück zu spielen, aber nicht das Ohr, seine Musik
herauszuhören, nicht die Faust, es zusammenzuballen, nicht
die Verwegenheit, auch gegen Strindberg Akzente zu ver*
schieben. Die Spukelemente mußten zurückgedrängt, die
Worte aller dieser Abrechnungen mit äußerstem Nachdruck
eingehämmert werden. Hier wurde die billige, in ihrer Über*
triebenheit dilettantische Stimmungsmache zur Hauptsache,
der kostbare Text Nebensache. Kein Wunder, daß man das
Stück erst im Buch richtig kennengelernt hat. Aber auch Herr
Lantz wird zugeben, daß wir dazu keine neue Freie Bühne
brauchen.
HYGIENISCHE ABENDE
Zwischen Weihnachten und Neujahr konnten in Berlin
die Theaterbesucher aus Beruf oder Neigung und der
eine Theaterbesucher aus Beruf und Neigung die beiden
gesündesten Tätigkeiten ausüben, die dieses Dasein über*
haupt zu vergeben hat: Schlafen und Lachen. Allerdings
wird es für die Theater auf die Dauer doch ersprießlicher
sein, ihre Besucher zum Lachen zu bringen, weil ja der un*
entbehrliche Schlaf an anderer Stelle vielfach ohne Eintritts*
geld zu haben ist. Immerhin: wen seine Jahresbilanz ver*
schwenderisch gestimmt hat, der gehe in den , Heiligenwald'.
Über seinen sämtlichen Wipfeln ist Ruh — warte nur, balde
ruhest auch dul Wenn dich dann irgend einmal das Ge*
schnarch der Nachbarn weckt, so brauchst du nur auf die
Bühne zu blinzeln, um gleich wieder hinüberzudämmem.
Da oben ist alles beim alten: auf eine wahrhaft herzige Weise
118
werden im zweiten Akt genau dieselben schalkhaften Situa*
tionen wie im ersten dadurch hervorgerufen, daß man einen
Kameralstudenten für einen Arbeiter, die Prinzessin von
WaldstauffensErnstadt für eine Kretschmarn, ihre Hofdame
Gudrune von Hasselohe für ihr Tantchen, ihren fürstlichen
Bruder für einen schlichtbürgerlichen Gelehrten und einen
lumpigen Schauspieler namens Enterich für diesen Fürsten
hält. Im Schlußakt wird die witzige Wirrnis höchstwahr«
scheinlich witzig entwirrt: mit Anmut, Esprit und Seelenadel
wird wohl jeder jedem die Vorteile verzeihen, die er etwa
aus der Verwechslung gezogen hat. Du weißt es nicht, denn . . .
Kurz vorm Ende aber wirst du, zum letzten Mal, durch eine
herzogliche Hupe aufgeschreckt. Du kommst gerade dazu,
wie die Kretschmarn voller Abschiedswehmut das Stück und
seine pädagogische Absicht erklärt: daß hier der Zauber
einer deutschen Märchenwelt gewaltet hat, und daß du auch
im neuen Jahre streben und schaffen sollst, weil einzig Arbeit
deine Schmerzen töten wird. Wessen Arbeit? Halms und
Sandeks, glaube mir, genügt für alle, die so stark sind, vor
ihr wach zu bleiben. Denn der herbste Schmerz läßt nach,
wenn beide Dichter veilchenblaue Augen machen und dich
über die bedrohte Zukunft der alten Briefträger*Agerl be*
ruhigen. Im Ernst: du darfst ihnen nichts weiter vorwerfen,
als daß sie das junge Waldhexchen Eva, genannt Huschel,
schließlich nicht mit dem großen Glück beschenken, mit dem
sie ihr gewinkt haben, und das sie denn doch wohl verdient
hätte. Hier mangelts an poetischer Gerechtigkeit. Und da*
bei hatte Ida Wüst eine solche Fülle von Waldesduft, nek*
kischer Laune, Herzensholdheit, Taufrische, Süßigkeit und
echt mädchenhafter Keuschheit über Huschel ausgestreut,
daß den theaterhistorisch gebildeten Schläfer ein besonders
willkommenes Traumbild umgaukelte: Die tote Jenny Groß
ging durch den Heiligen wald!
*
Im Berliner Theater aber konnte man nicht schlafen,
weil vom Orchester immerzu gelärmt und von den zu*
119
friedenen Zuhörern ebenso ununterbrochen und mit furch«
terhcher Vehemenz applaudiert wurde. Die unzähhgen
Text*, Ton* und Tanz*Dichter der neuen ,Originalj=Posse'
haben den vorjährigen Schlager desselben Hauses kopiert,
der bereits eine Kopie des vorvorjährigen Schlagers war, ohne
sich beizeiten über alle Faktoren dieser beiden rechtschaf*
fenen , Bombenerfolge' klar zu werden. Hier wie dort
stammte Handlung und Musik von guten alten Handwerkern
eines anspruchslosen Genres, das in seiner Zeit wurzelte,
und war von reimenden, witzelnden und komponierenden
Kindern unseres vorgeschrittenen Jahrhunderts nur .aktuell'
aufgeputzt worden. Dies war so geschickt geschehen, daß
sich ein doppelter Reiz ergab: ein antiquarischer und ein
durchaus lebendiger Reiz, die einander nicht totschlugen,
sondern förderten. Jetzt aber hat man sich ganz ,auf eigene
Füße' gestellt, auf denen man am vorigen Silvesterabend
darum so sicher stand, weil sie Heinrich Wilken gehörten.
, Große Rosinen oder Berlin hats eilig' lautet der vielver*
sprechende Titel. Wir werden sehen, wie unsere junge Welt*
Stadt sich dicke tut, mit welcher unmäßigen Hast sie wachsen
will und wächst, was in dieser Hast verkümmert, was ge*
deiht — kurz: wir werden für ein humoristisch * satirisches
Spiegelbild des modernen Lebens, für eine Art gereinigter,
überlegener und mutiger Metropoltheater« Revue, die ihre
Berechtigung hätte, bis zu einem gewissen Grade dankbar
sein können. Oder aber auch nicht. Die Jagd auf den Ka#
lauer und auf die Gelegenheit zu einem Tanzduett: das wäre
der angemessene Titel. Der Ehrgeiz der Herren Bemauer
und Schanzer erschöpft sich in ein paar treffenden Beobach«
tungen des berliner Volkscharakters, in ein paar glücklichen
Erinnerungen an die Skandalchronik des abgegangenen Jahres
und in einer zwar drastischen, aber ungewöhnlich taktlosen
Persiflage auf Reinhardts Zirkusspiele. Zwischendurch und
drumherum schwemmen sie ungeheuere Mengen von , Stoff'
auf die Bühne, für alle Fälle und Geschmäcker, nämlich in
der Hoffnung, daß die einzelnen Schichten des rätselhaft
120
gemischten Publikums schon ihre Auswahl treffen werden.
Sie knickern weder mit leicht*sentimentalen Liedern noch mit
Maskeraden, Quodlibets und Finales im Stil des seligen
Adolph Ernst, weder mit Varietetricks noch mit Verlobungen,
weder mit bescheidenen Ausstattungskünsten noch mit schäm*
haften Verspottungen ihrer eigenen Einfallsarmut — und lassen
im übrigen, wie der ulkige Herr Sabo sagen würde, Terpsichore
die Stunde regieren, ohne daß sie sich genügend souveräne
und reiche Beherrscher Polyhymnias dazu ausgesucht hätten.
Je später der Abend, desto fauler die Witze, desto matter die
Melodien, desto unkomischer die Situationen. Man kann da*
bei nicht schlafen ; aber man wird wenigstens dadurch todmüde.
Herrn Tristan Bernard aber ist mit dem , Kleinen Cafe'
eine charmante Komödie gelungen. Ein Vergnügen, sich an
die geräusch* und absichtslose Virtuosität solch eines Parisers
zu erinnern, nachdem man von acht und noch mehr deut*
sehen Stirnen den Schweiß sauer und vergeblich hat rinnen
sehen. Hier gibt es keinen gewaltigen Apparat, keine Ge*
fühlskisten, keine Verwicklungen, keinen schwelgerischen
Frohsinn, bei dem einen der Menschheit ganzer Jammer an*
faßt: hier gibt es nichts als eine Anekdote, der säuberlich,
gelassen und liebenswürdig ihre ganze Heiterkeit abgeluchst
wird. Ein Kellner hat achthunderttausend Franken geerbt,
macht aber von seinem Reichtum nur nachts Gebrauch, ohne
die geringste Freude daran zu haben, und bleibt am Tage
Kellner, weil sein Wirt ihn mit einem Kontrakt hineingelegt
hat. W^e das alles vor sich geht, ist völlig unwahrscheinlich.
Dies wäre ein Fehler, wenn es wahrscheinlich sein wollte.
So plumpe Absichten hat Bernard gar nicht. Er schreibt
Spiele, kultivierte Spiele für Erwachsene, die Sinn für distan*
zierende Ironie, für den weltmännisch lächelnden Gleichmut
eines geistvollen Unterhalters haben und nicht fragen, ob es
mit den Gesetzen der Logik oder auch nur der Psychologie
übereinstimmt, daß der Kellner so überraschend schnell zu
seiner Wirtstochter kommt. Bernard will nach zwei trefflich
121
angewendeten Theaterstunden einfach Schluß machen — basta!
Deutsche Autoren würden das regelrecht in die Wege leiten,
die gewissenhafteste Begründung nicht scheuen und der
Komödie damit das zufügen, was ihr zu unserem Vorteil
fehlt: Fett, Schwerfälligkeit, Wichtigkeit. Sie würden so*
gar eine Moral verkünden, die hier spricht, ohne ausge*
sprochen zu werden: Geld allein macht nicht glücklich —
man muß es auch auszugeben verstehen. Wer es hat, der
sei so verständig, es weder fürs Neue Schauspielhaus noch
fürs Berliner Theater, sondern fürs Trianontheater und seinen
Hans Junckermann auszugeben und sich unterm Stadtbahn*
bogen Appetit für die ,Fünf Frankfurter' machen zu lassen.
Bei diesen fünf Frankfurtern hat noch keiner sein Geld
verloren. Es sind die Erben Meyer Anselm Rothschilds, also
gute Leute, solide Leute, jüdische Leute. Die Stimmung
solch eines alten Stammhauses in der frankfurter ,Judegass'
trifft Carl Rößler mit ein paar Strichen, mit den sparsam*
sten und eben darum eindrucksvollen Strichen meisterlich.
Unsereiner gewinnt sofort das intimste Verhältnis zu der
ganzen Familie. Muttersprache, Mutterlaut! Es duftet nach
Chanukalichtern, nach Kreppchen und nach all den anderen
Leibgerichten, die die alte Frau Gudula mit dem silbernen
Haar und dem goldenen Gemüt für jeden der fünf adlig
gewordenen Herren Söhne zur Feier des Tages kocht. Aber
auch sonst werden diese Söhne nach Möglichkeit unter*
schieden, damit so etwas wie dramatische Bewegung in die
Geschichte kommt. Der Frankfurter Amschel scheint mit
seiner Schlagfertigkeit und seiner einfachen Rechtlichkeit
das Ebenbild des Vaters. Der Londoner Nathan ist so klar
und nüchtern, daß es für Amschel ein Vergnügen ist, mit
ihm zu rechnen. Der Neapolitaner Carl hat einen brauchbaren
Kern in einer stutzerhaft verzierten Schale. Den Wiener
Salomon macht das stolze Bewußtsein des Besitzes erst kühn
genug, sich und den Brüdern die Baronie zu kaufen, dann
sogar tollkühn genug, eine Verheiratung seiner einzigen Toch*
122
ter mit dem Herzog vom Taunus anzubahnen. Der Pariser
Jacob schließlich, Jacöble, der Benjamin, das Nesthäkchen,
der verschwärmte Musiker und Freund Rossinis, hat eine
doppelte Bedeutung. Es ist kaum möglich, auf dem deut*
sehen Theater mit einem ganz unsentimentalen Lustspiel Er*
folg zu haben. Rößler will den Erfolg, aber auch unsere
Hochachtung. Es wäre eine Fälschung, fünf jüdische Brüder
zusammenzubringen, ohne einen mehr oder minder sentimen*
tal sein zu lassen. Mit einer Geschicklichkeit nun, die nicht
Berechnung, sondern Begabung ist, mischt Rößler in seine
Komödie genau so viel Sentimentalität, wie er nötig hat, um
als professioneller Stückeschreiber das Publikum zu fangen
und als Künstler das Milieu zu treffen. Es ist der seltene
Fall eines deutschen Dramatikers, der es fertig bekommt,
zween Herren zu dienen und von beiden gehätschelt zu
werden. Das lyrisch bewegte, gefühlvolle Jacöble aber hat
auch noch die dramatische Aufgabe, vermöge dieser seiner
Veranlagung Salomos Lottchen, die der Herzog vom Taunus
mit märchenhafter Entschlossenheit zu heiraten bereit ist,
für sich zu erobern. Es gelingt ihm in einer Liebesszene von
anderthalb Minuten und von der Zartheit und Verhaltenheit
berühmt gewordener Liebesszenen, mit deren Dichtern man
Rößler bisher nicht zusammen genannt hat. Dieser Ernst ist
gerade in seiner Unauffälligkeit schön. Keinen Augenblick
vergißt Rößler darüber sein Humörchen und seine Klugheit.
Er bleibt sich bewußt, wodurch unsere Sympathie zu ver*
scherzen wäre. Also treten die Witze niemals an Stelle des
Witzes; und wenn jeder Akt mit einem überraschenden Bon*
mot schließt, so macht das nur darum Glück, weil es der Situa*
tion entspringt. Rößler hat in die Zeit und in jüdische Herzen
und Hirne mit so scharfen Augen gesehen, daß seine drei
Akte Ansprüche erheben könnten. Aber das ist zuguterletzt
ihr nettester Zug: daß sie sich vollkommen anspruchslos
geben. Sie wollen mit literarischen Mitteln eine Atmosphäre
schaffen, in der man lächelt und lacht und sich wohl fühlt,
und schaffen sie. Diese anheimelnde und erheiternde Atmo*
123
Sphäre würde vermutlich selbst da entstehen, wo das Stück
nicht so echt zu spielen ist wie von den meisten Darstellern
des Hebbel* .... des Theaters in der Königgrätzer Straße.
Drollig: solange dieses Theater Hebbeltheater hieß, konnte
man sich nicht an den Namen gewöhnen; seitdem es nicht
mehr so heißt, kann man sich den Namen nicht abgewöhnen.
Die Hauptsache ist freilich, daß sich das Publikum endlich
in das Theater hineingewöhnt. Das wird dank Rößler jetzt
geschehen, und so wird sein Stück in jeder Beziehung hy*
gienische Kräfte bewähren.
DAS TÄNZCHEN
Das Tänzchen eines Bahr, der auch ein Bär sein und die
plumpsten Sprünge machen kann. Atta Troll, der einst
die Freiheit Über alles hielt in Ehren, Tanzt auf seine alten
Tage Um des Pöbels schnödes Geld. Hoffentlich. Denn der
Fall läge ja viel schlimmer, wenn wirklich anzunehmen wäre,
daß Bahr diese schäbigen Possenreißereien um ihrer selbst
willen treibt. Mit einem Schriftsteller, der auf den Standpunkt
seines eigenen Generaldirektors Lavin gekommen wäre, ließe
sich wenigstens streiten. Lavin verkauft den dummen Deutschen
monatlich siebenunddreißigtausend Flaschen Lavinol, um sich
ein Automobil und eine adlige Schwiegertochter zu halten,
lehnt aber für seinen persönHchen Bedarf dieses Schwindel*
fabrikat entschieden ab. Solch einem literarischen Lavin würde
man zu erklären suchen, daß die dummen Deutschen auch
zu unterschätzen sind, und würde ihn fragen, wie er es mit
seiner Publikumspsychologie vereinbar findet, daß von seinen
zwölf Stücken gerade das beste, das »Konzert', den größten
Erfolg gehabt hat. Einen Bahr jedoch, der an die Schönheit
oder die Anmut oder die Lustigkeit dieses, Tänzchens' glaubte,
würde man aufgeben müssen und aufgeben können, weil sein
Geist bereits tot wäre. Da mir also ein zynischer Bahr lieber
ist als ein geistig toter, werde ich seinen Schwank nicht als
ein dramatisches Produkt, sondern als eine geschäftliche Speku*
124
lation ansehen und mich in seinem Interesse freuen, daß sie
mißglückt ist. In seinem Interesse will ich sogar sagen, warum
sie mißglückt ist.
Weil er zwei Irrtümer begangen hat. Er hat erstens Aristo*
phanes mit Philippi verwechselt. Wenn wir unsere Lustspiel«
dichter immer wieder anstacheln, hinein ins volle Menschen«
leben zu greifen, so heißt das, daß sie Komödienstoffe von
Gegenwartswert entdecken, daß sie in den Ereignissen des
Tages und in den öffentlichen und nichtöflFentlichen Personen
dieser Tage die Komik aufspüren, einfangen, gestalten — bei«
leibe nicht, daß sie fix und fertige Komödien der Zeitgeschichte
dramatisieren sollen. Die Affäre des Herrn von Jagow, die
wir im vorigen Jahr belacht haben, war eine runde, schlagende
und sogar eine moralische, eine pädagogische Komödie, weil
den lieben Leuten, die die Grube gegraben hatten, monate«
lang von ihrem Reinfall die Glieder schmerzten. Wer aber
hätte geahnt, daß zu allem Unheil, das die Geschichte an«
gerichtet hat, nachträglich auch noch dieser Schwank kommen
würde! Er treibt das Epigramm zu drei Akten auseinander,
worin einmal ein satirisches Wörtchen mit dem preußischen
Junker geredet wird. Mag der nun tatsächlich so schlimm
sein, wie die liberale Presse behauptet (trotzdem diese Gegner«
Schaft eigentlich für ihn einnimmt): schlimmer als der
schlimmste preußische Junker ist jedenfalls der Witz dieses
Wieners überihn. Wie albern, ja, wie ordinär Bahr hier wird, bis
zu welchem Grade ein Kopf und ein Geschmack sich selbst
verleugnen können: das war die Überraschung des Abends.
Möglich, daß Bahr sich gegenüber dem Vorwurf der Über«
deutlichkeit, der Absurdität seiner Figuren, der lächerlichen
Tollkühnheit seiner Motivierungen auf die Ungebundenheit
des Schwanks beruft, der sich aus der platten Wirklichkeit
in phantastischere Gegenden hinaufwinden darf. Dürfte! Denn
wenn ein Schwank nicht in einem Restaurant, sondern ,bei
Borchardt', nicht in einem Hotel, sondern ,bei Adlon' spielt,
so muß er sich schon den Maßstab der Wirklichkeit gefallen
lassen. Da rächt es sich, daß Bahr mit Anspielungen kitzeln,
125
daß er bei der Einschiachtung einer Sensation auch im Detail
Sensation machen wollte. Er hat in jeder Hinsicht bewußt
unter seinem Niveau gearbeitet — und es war sein zweiter
Irrtum, daß damit der Erfolg zu zwingen ist. Das Geheimnis
der Philippi und Sudermann und des Schöpfers der ,Fee Ca*
price' und all der anderen goldglänzenden Vorbilder Bahrs
ist eben, daß sie durchaus nicht kaltherzig auf Tantiemen
ausgehen, daß es um ihre erhitzten Schädel rauscht, und daß
sie von der Herrlichkeit ihrer Dichtungen inbrünstig über*
zeugt sind. Darum ist es auch ihre Gemeinde. Bahr aber
hält das .Tänzchen' für einen Schmarren, gerade gut genug
für das Pack, und das läßt sich kein Pack gefallen. Es will
respektieren können und wittert einfach, ob es das kann, oder
ob ein Autor sich ihm zuliebe dümmer und ärmer macht, als
er ist. Nicht oft hat man das Publikum so empört gesehen
wie bei diesem ,Tänzchen'.
Es ist anzunehmen, daß ein Teil der Empörung Brahm ge*
gölten hat. Warumhat der Mann eigentHch niemals den wahren,
den tragischen Philippi aufgeführt? Und wie lange wird er
noch zögern, sich offen zu Robert Misch zu bekennen? So
oft ich Brahms Taten beim rechten Namen nenne, mahnt mich
Bahr väterlich, mir doch einmal Berlin ohne Brahm vorzustellen.
Ich stelle mir vor. Es ist wirklich furchtbar, was uns droht:
daß man uns nämlich kraftlose Theaterdirektoren, die in einem
Winter drei brauchbare und drei unbrauchbare Stücke an*
ständig oder miserabel spielen, nicht mehr auf Grund längst
verwirkter Verdienste als Wohltäter der Menschheit anpreisen
wird, und daß für eine Unappetitlichkeit wie dieses, Tänzchen'
nur noch Bühnen in Betracht kommen werden, die nicht ein*
mal ihr Verfasser für sie in Betracht zieht.
DER ZORN DES ACHILLES
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus (dem
Agamemnon seine Briseis genommen hat) : so beginnt der
erste Gesang der Ilias, und so könnten auch alle folgenden
126
Gesänge beginnen, weil dieser Zorn nicht wenig Zeit braucht,
um sich auszutoben. Denn erst am Ende des vierundzwan*
zigsten Gesanges ruht Achilleus im innersten Raum des Ge#
zeltes, und ihm Hegt zur Seite wieder des Brises rosige Tech*
ter. Aus dieser Geschichte hat Wilhelm Schmidtbonn ein
Drama — leider nicht von drei Akten, sondern von acht Sze*
nen gemacht, für das vor allem Homers Schluß nicht in Be*
tracht kam. Es ist das Vorrecht des Epos, unzählige männer*
mordende Kämpfe in einen stattlichen Festschmaus ausklin«
gen zu lassen. Um für ein Drama tauglich zu werden, mußte
Achill sterben. Um seinen Tod nicht untragisch wirken zu
lassen, mußte der Dichter .Schuld' auf ihn laden. Bei Schmidt*
bonn wird Achill ein Michael Kohlhaas der Antike, der, ein*
mal erregt, ganz außer sich gerät und blindlings rast, um zu
seinem Recht zu gelangen. Diesen Achill trifft es weniger
schwer, daß er Brisei's entbehren soll, als daß man ihn zu
Unrecht um sie gebracht hat. Man hatte sie ihm geschenkt:
man durfte sie ihm nicht bloß deshalb rauben, weil Agamem*
non seine Chryseis hatte hergeben müssen. Darüber kommt
er nicht hinweg. Unrecht ward mir getan! Hier sitzt ein
Mann, dem Unrecht ward getan! Ist Vaterland ein Ding, das
Unrecht tun darf ohne Scheu? Um diese eine Frage kreisen
unablässig seine Gedanken. Sie vergiftet sein Blut, benebelt
sein Hirn, verhärtet sein Herz. Erst als sein Zorn vertobt ist,
weil er großartig und mitleidslos wie ein Naturereignis auf
die Griechen und auf Hektor niedergegangen ist, erkennt
oder ahnt er doch wenigstens: daß erlittenes Unrecht nicht
berechtigt, es hundertfach, an Schuldigen wie an Unschuldig
gen, zu vergelten; daß höchstes Recht höchstes Unrecht wird;
daß diese kluggefügte Welt die Maße seines Selbstgefühls,
seiner Herrschsucht, seines Trotzes und seiner Zerstörungs*
kraft zu sehr beengt; daß, kurz, des Adlers Platz nicht unter
Krähen ist. Diese Erkenntnis oder Ahnung macht ihn schwach
und stark zugleich: er springt freiwillig, freudig, ungerüstet
und laut singend zu sicherem Tod dem Feind entgegen.
Es schadet nicht, sondern nützt, daß Schmidtbonn hier
127
zwei Tragödien zu einer vereinigt: daß er das Schicksal des
arglos reinen Menschen, der nicht groß zu sein brauchte,
unter den arglistigen und unreinen Menschen, und daß er
das Schicksal des Genies, das weder naiv noch untadelig zu
sein brauchte, unter den Durchschnittsmenschen dargestellt
hat. Dies oder das allein hätte das Drama vielleicht mono:«
ton bleiben lassen. So aber ist Achilles reich genug, um uns
von Anfang bis zu Ende in Atem zu halten. Wo er ist, wären
Götter, auch wenn über ihm keine wären. Und in Schmidt*
bonns Gedicht sind keine. Kein ApoUon betäubt den tapferen
Patroklos, kein Zeus sendet den Achaiern stäubenden Wind
entgegen: Achilles grollt, und schon entvölkert sich die Erde.
Aber was wäre die bloße Bären* oder selbst Löwenhaftigkeit!
So ist denn nicht wahr, was ein Schmeichler zu Agamemnon
sagt: „Er ist nur stark, du klug." Achills wundervolle Tumb*
heit und Dumpfheit wird niemals Dummheit. Zum minde*
sten verfeinert seine Stärke sich da, wo er liebt, zu Scharfblick
und Seelenzartheit. Wenn es um Patroklos geht, so wittert
er in jedem Falle, woher ein gefährlicher Rat stammt; und
wenn es um Briseis geht, so ist er nicht Herr und Gebieter,
sondern Ritter. Sie hat er lieb; allein mit Aug und Armen
hängt er an dem Jüngling. Der ist ihm seines Lebens tiefste
Freude. Zum Glück nicht mehr. Auch Unterlassungen sind
dichterische Verdienste. Freilich war von Schmidtbonns Ge*
schmack nicht zu befürchten, daß er Achills Beziehung zu
Patroklos erotisch trüben würde. Aber daß er die Episode
der Briseis nicht ausgebeutet, daß er, zum Beispiel, die Szene
vermieden hat, wo sie sich den Agamemnon nicht zu nahe
kommen läßt: dafür soll ein Dichter besonders bedankt sein
in der Zeit Ernst Hardts, der aus solch einer Szene fünf Akte
zu machen pflegt und uns nach seiner , Gudrun' hoffentlich
auch eine , Briseis' schenken wird. Schmidtbonn ist in diesem
Männerstück prachtvoll und unbeirrt und in jedem Sinne
männlich geblieben.
Aber warum hat er, der mit gutem Recht den Homer bald
ganz aus dem Spiel gelassen, bald wörtlich übernommen, der
128
also vor einer Vorlage von wahrhaft kosmischer Größe sich
selbst weder überschätzt noch unterschätzt hat und jedenfalls
so mit ihr umgesprungen ist, wie ein freier Künstlersinn es sich
immer erlauben sollte : warum hat er nicht noch viel entschlos*
sener alles Beiwerk abgestreift, das aus dem Epos stammt?
Es ist schuld, daß auf einen kunstreich gedrungenen, eminent
dramatischen ersten Akt zwei Akte folgen, die eben nicht
geschlossene Akte sind, sondern in Szenen zerfallen, zersplit*
tem. Am Schluß des ersten Aktes vergräbt Achill sein Schwert
und seine Rüstung: am Anfang des zweiten Aktes sind die
Griechen bereits in Verzweiflung. Diese Kurzangebundenheit
wäre auch für den weiteren Verlauf eine dramaturgische Not*
wendigkeit. Daß nach neunjährigem Krieg Troer wie Griechen
den Frieden herbeiflehen, daß aber hier wie dort bestimmte
Elemente einen endlosen Krieg einem ehrlosen Frieden vor*
ziehen würden: das setzen wir als selbstverständlich voraus.
Diese Mischstimmung von Friedenssehnsucht und National*
gefühl hätten uns dreißig flammende Verse viel eindringlicher
übermittelt als die beiden langwierigen Szenen, die Schmidt=
bonn nicht entbehren zu können glaubt. Aus lauter Angst, am
Ende nicht gründlich genug zu motivieren, ermüdet er den An*
teil an der seelischen Entwicklung Achills, auf die nicht bloß
uns, sondern doch auch ihm alles ankommt. Er durchmißt treu
und gerade den Weg, den er sich vorgesetzt hat. Er weiß noch
nichts von Verkürzungen, Überschneidungen, zeitersparenden
Abzweigungen. Dabei ist bemerkenswert und für Dramatiker
höchst lehrreich, wie hart gehämmerte Verse ihren stählernen
Charakter in demselben Augenblick verlieren, wo sie in ge*
mächlichen Szenen gesprochen werden. Je nach dem, ob das
Drama stürmt oder schleicht, wirken Schmidtbonns homeri*
sehe Helden, die in beiden Fällen kaum ein überflüssiges
Wort reden, ehern oder geschwätzig.
Es gab trotzdem eine fast leidenschaftlich lebendige Auf*
führung, dank den wichtigen und auch einigen unwichtigen
Einzelleistungen. Die Regie war einen kräftigen Hauch von
Meer, vor allem aber die Belebung, die Durchglutung der
9 129
Massen schuldig geblieben. Das fiel um so mehr auf, als
ganz offenkundig Schmidtbonn in der Gestaltung seiner Mas*
senszenen sich von Reinhardt beeinflußt zeigt, und als es in«
folgedessen das Theater eigentlich nicht schwer gehabt hätte,
dem Dichter das nachzuschaffen, was es ihm selber vorge*
schaffen hat. Nur daß eben nicht Reinhardt der Regisseur
war, sondern HoUaender. Er hat die Talente des Ensembles
keineswegs gehindert, Poesie, Phantastik, Farbe, Würde und,
was sonst etwa nötig ist, aus sich herauszuschleudern oder
zu stellen. Der junge Herr Danegger durchleuchtete und
formte zugleich den kurzen Bericht des Eurypylos wie ein
alter Meister, der das Glück gehabt hat, künstlerisch nicht
im geringsten zu altem: wenn dergleichen schicklich wäre, hätt'
ich Da Capo geschrien. Patroklos war Moissi, also die Jung*
lingshaftigkeit, der Wohlklang, die Liebenswürdigkeit in Per?
son: Achill ist zu verstehen. Wegener hat denn auch am
meisten mit der klaglosen Klage um den Freund ergriffen, mit
dem tonlosen Ton eines Menschen, der hinfort zu schauriger
Einsamkeit verdammt ist — oder zum Tode. Nachdem We*
geners Achill sich zum Tode verdammt hat, stirbt er, wie er
zu Lebzeiten seines Patroklos gelebt hat: randvoll von ele*
mentarer Kraft, unbändig wild bis an die Grenze der Tierheit
und dabei doch geadelt, königlich, bezwingend schmerzen*
reich. Möglich, daß Wegener anders aussieht, als man sich
den Achill bis heute vorgestellt hat. Aber nicht das Gesicht
entscheidet, sondern die heroische Wesensmelodie eines Man*
nes von strotzender, von wahrhaft reifer Männlichkeit, und
sie hat Wegener so vollkommen getroffen, wie sie nach Mat*
kowskys Tode kein sichtbarer deutscher Schauspieler zu tref*
fen vermöchte.
EINE GLÜCKLICHE EHE
Ein Stück für Analphabeten. Die nämhch Peter Nansens
Novelle nicht lesen können. Darin erzählt der charmante
Däne leise lächelnd, hebenswürdig, lebenskennerisch, leiden*
130
schaftslos und doch lebhaft, langsam und doch niemals lang*
weilig die Geschichte einer Ehe, vieler Ehen. Der Bund
zwischen dem behäbigen Postassistenten Christian Mogensen
und dem leichtfüßigen Fräulein Nancy Schmidt, der sich
zunächst trüb anläßt, wird allmählich glücklich und immer
glücklicher, weil die kleine Frau es lernt, sich durch einen
Liebhaber in gute Laune zu bringen und durch diese dauernde
Gutgelauntheit sich selber ihrem Manne reizvoll und ihr
Haus behaglich zu machen. Nansen stellt seine glückliche
Ehe nicht bloß verlockend dar, sondern verteidigt sie noch
nachdrücklich. Er findet es falsch, daß der moralische Wert
einer Frau davon abhängen soll, ob sie etwas häufiger oder
seltener küsse. Wichtig sei nur, ob man schlecht gegen je*
mand handle oder nicht, und einer treuen Frau, deren Mann
ein freudloses Dasein führe, sei unter allen Umständen diese
untreue, aber leuchtende und verschwenderisch wärmende
Frau Nancy vorzuziehen. Es ist der Lauf der Welt, daß das
Kind auf den Geschmack kommt, und daß dem ersten Lieb*
haber ein zweiter folgt. Peter Nansen, auch er ist in seine
Nancy verliebt und Kavalier genug, nicht ihr die ganze Schuld
an dem Bruch mit dem Ministerialrat Jermer zuzuschieben
Obendrein vollzieht dieser Bruch sich erst nach einem Jahr,
in aller Gemächlichkeit, und nicht ohne daß beider Herzen
ausgiebig bluten, nicht ohne daß beider Wunden noch eine
Zeitlang bei jeder Berührung schmerzen. Wenn dann der
zweite Liebhaber dem dritten erheblich schneller weichen muß,
so wird das wohl eher daran liegen, daß Herr Martin seinem
Vorgänger nicht gewachsen, als daß Nancy inzwischen ver#
derbter geworden ist. Denn das ist Nansens größte Kunst:
diese pendelnde Nancy bleibt reizend unschuldig. Sie ist ein*
fach zu viel für einen Mann. Ihre Begierden sind natürlich
und erhalten sie jung und schön, weil sie sie als natürlich
empfindet und es aufgibt, sie zu bekämpfen. Sie ist wirklich
wie Hebe, jene anmutige häusliche Göttin, die still und be*
scheiden mit dem Labetrank zwischen den durstenden Göt#
tern umherwandelt.
9» 131
Als Nansen daran ging, diese funkelnde, sanft malitiöse
und virtuos abgewogene Novelle für die Bühne umzuschrei*
ben, schien es ihm vor allem nötig, die Feder mit dem Zauns*
pfähl zu vertauschen. Immer wieder ist es erstaunlich, wie
vollständig graziöse Geister von ihrer Grazie und ihrem
Geist verlassen werden können, sobald es sie nach dem Theater*
erfolg gelüstet. Wer hätte Bahr das , Tänzchen' zugetraut,
wer Peter Nansen diese taktlose Eindeutigkeit! In seinem
Lustspiel wird Nancy gerade das, was sie nicht werden darf,
wenn die Geschichte ihrer Ehe einen Sinn haben und sie
selbst uns durch vier Akte fesseln soll: sie wird eine Dirne.
Nachdem Jermer bei seinem ersten Besuch fünf Minuten
neben ihr auf dem Diwan gesessen hat, küßt sie ihn, duzt
sie ihn, verspricht sie ihm, morgen abend zu kommen, und
bedauert nur, daß es heute abend nicht gehe. Warum geht
es eigentlich nicht? Man wundert sich, daß sie nicht gleich
die Tür zuriegelt. An sich wäre gegen eine so offen einge*
standene Geschlechtlichkeit gewiß nichts einzuwenden. Man
kennt Nancys genug, die keineswegs erpicht sind auf die
zarten Schwingungen des Anfangs, die Katzbalgereien der
Zwischenstadien, die Sensationen des Todeskampfes, die wol«
lüstige Witwentrauer und die zarten Schwingungen des nach*
sten Anfangs. Aber ein dichtender Erotiker wie Nansen
hätte zu wissen, daß für kultivierte Zuschauer der Weg alles,
das Ziel fast nichts ist. Er gibt immer wieder das Ziel und
spart sich die Nuancen, die Übergänge, die Untertöne, die
Unmerklichkeiten, die Entwicklung. Damit wir doch an einer
Stelle der Komödie erfahren, wie das innere Verhältnis Nan*
cys zu Jermer sich gestaltet hat, muß das Liebespaar sich dar*
über in demselben kleinen Zimmer unterhalten, wo Mogensen
mit dem Weihnachtsbaum beschäftigt ist. Weiter. So oft in
der Novelle Nancy bei Jermer ist, lachen sie darüber, daß ihr
Mann sie bei der alten Tante Lene glaubt. Als dann einmal
Jermer mit dem Mann zusammensitzt und von ihm hört, daß
sie bei Tante Lene sei, weiß er, wie weit sie mit Herrn Martin
ist. Es ist ein Muster von geschmackvoll und witzig indirekter
132
Charakteristik, Auch auf der Bühne sitzen beide Männer zu#
sammen: aber hier tritt Nancy vor sie hin und teih ihnen
mit, daß sie jetzt zu Tante Lene gehe — ohne daß Nansen sie
etwa eine BrutaHtät gegen Jermer begehen lassen will. Von
solchen Plumpheiten wimmelt das Stück, Sie steigern sich zu
unbegreiflichen Klobigkeiten, wenn zum Schlüsse Jermer so
weit aus der Rolle eines zuverlässig diskreten Menschen fällt,
daß er Hern Martin deutlich genug seine eigenen Beziehungen
zu Nancy verrät. Nur die bemitleidenswerte technische Hilfs
losigkeit des Stückes schützt den Autor vor dem Verdacht,
daß er sich bei der Dramatisierung seines kleinen Kunstwerks
heimlich der Hilfe eines budapester Freundes bedient hat.
Nansen hat es seiner Vergangenheit als Novellist zu ver*
danken, daß ich ein Corpus liebevoll viviseziert habe, das
ich sonst mit ein paar wütenden Hieben in die Pfanne ge*
hauen hätte. Da er behauptet, schon vor der Premiere ge*
wüßt zu haben, wie unbarmherzig die berliner Theaterkritik
ist, wird er durch meine Milde angenehm überrascht sein.
Da er femer versprochen hat, diese Kritik mit Verständnis
aufzunehmen, so wird er aus ihr ja wohl auch herauslesen,
daß mir seine Zukunft als Dramatiker hoffnungslos erscheint,
und daß ich es bedauern würde, wenn er öfter seinen guten
literarischen Ruf aufs Spiel setzte, und sei es das Spiel des
intimen Theaters der Schumannstraße, Höchstwahrscheinlich
würde diese Komödie überall sonst noch grauenhafter, noch
undelikater wirken. Hier wurde doch nach Möglichkeit ab*
gedämpft und vermenschlicht. Geradezu ein Glück für das
Theaterschicksal des Stückes war es, daß Moissi eine ganz
andere Figur spielte, als Nansen sich gedacht hat. Der will
einen höchst soignierten Herrn von grader, gemessener, distin*
guierter Haltung, den Typus eines jungen dänischen Mini*
sterialbeamten comme il faut, halb Diplomat, halb Geistlicher.
Hätte Moissi sich daran gekehrt, so wäre der Verlauf der
Sache vollends unerklärlich und unerträglich geworden. Er
gibt einfach einen lieben, netten, frischen, verführerischen
Jungen mit dem entzückendsten Lächeln von der Welt, weiß
133
erfreulicherweise die Hälfte des Textes nicht und nimmt dem
Rest jede Peinlichkeit. Trotzdem sollte mit einer kostbaren
Kraft wie Moissi nicht so wenig sparsam umgegangen werden,
daß er von Premiere zu Premiere kaum Zeit hat, die Rolle
zu lernen. Seine Geliebte ist Fräulein Terwin, die hiermit den
Platz gefunden hat, den sie ungefähr ausfüllt. Weswegen man
aber selbst diesen Abend nicht als verloren bezeichnen kann, das
ist Arnolds Mogensen. Ein anspruchslos zufriedener, dumpf
ahnungsloser Bürger von ergötzlichster Kurzsichtigkeit, um#
schimmert von der Glorie derer, deren das Himmelreich ist.
Man malt sich unwillkürlich aus, was Mogensen empfände,
wenn er hinter das Treiben seines Weibchens käme. Den
Mogensen des Nansenschen Stückes könnte unsertwegen der
Teufel holen. Mit Arnolds Mogensen würde man ein biß*
chen mitleiden. Der Schauspieler gab den Humor, den der
Dichter durchweg schuldig geblieben ist.
SCHWANK UND GROTESKE
Als Paul Lindau die schlechte Kunst, die er heute in rüsti*
XA.ger Altersschwäche macht oder wenigstens verantwortet,
noch in seniler Jugendlichkeit kritisch erforschte und förderte,
nahm er einmal folgende erleuchtende und erlösende Ab?
grenzung vor: ,, Vielleicht ließe sich, besser als aesthetisch,
empirisch der Unterschied zwischen der Posse und dem Lust?
spiel in der Weise bezeichnen, daß das Lustspiel keine Cou*
plets enthält und nur ein freundliches Lächeln hervorruft,
während die erstere mit Gesangseinlagen gegeben wird, die
Zuschauer bis zu Tränen zum Lachen zwingt und ihnen,
während sie sich köstlich amüsieren, den Schmerzensruf ent*
lockt: Herr Gott, ist das dumml" Ein großes Muster weckt
Nacheiferung und gibt dem Urteil höhere Gesetze. Ich
werde also als unzweifelhaft empirischer Besucher des Resi*
denztheaters und des Neuen Schauspielhauses den Unter*
schied zwischen dem gallischen Schwank und der germanischen
Groteske am einfachsten so bezeichnen: daß mir zwar in
134
beiden Fällen der Lindausche Schmerzensruf ohne die ange*
nehme Beigabe von Lachtränen entlockt worden ist, daß
aber der Schwank anspruchslos, die Groteske anspruchsvoll
auftritt. Das bestimmt den Ton der Ablehnung.
Die Herren Maurice Hennequin und Georges Mitchell
haben keinen anderen Wunsch, als ein gesättigtes Publikum
zwei Stunden lang zu unterhalten. Der deutsche Theater*
direktor nun, der ein Stück von ihnen oder ihren Brüdern
herübemimmt, sollte niemals außer acht lassen, daß wir
vor dem Abendbrot ins Theater gehen und uns einigermaßen
satt lachen wollen. Bedingung ist demnach eine gewisse
Dichtigkeit der Komik. Ein öder erster Akt macht verdrieß*
lieh, ein dünner zweiter Akt muntert nicht genügend auf,
und wenn endlich der dritte Akt imstande wäre, seine
Schuldigkeit zu tun, dann ist es immer noch nicht leicht,
über zwei Hindernisse hinwegzukommen. Man glaubt zu*
nächst Alexander den ,aime des femmes* nicht mehr. Wie
er auf Hutnadeln sitzt: das ist nach wie vor zum Schreien.
Aber wo von der frischesten Probiermamsell bis zur abge#
takeltsten Großfürstin alles besinnungslos in einen verliebt
ist, da muß es schon eine verführerischere und vermutlich auch
jüngere Männlichkeit sein. Es ist für uns und für Alexander
ganz gut, daß dies seine letzte Rolle im Residenztheater war :
wir werden jetzt hoffentlich erfahren, daß er nicht bloß eine
»Spezialität' ist, und er selbst wird sich freuen, von einem
Genre befreit zu sein, das sich überlebt hat. Freilich: , Alles
für die Firma' ist, trotz der Abgenutztheit der Bauart und
der Altertümlichkeit vieler Züge, doch meines Wissens das
erste Exemplar eines neu und besonders zusammengesetzten
Fabrikats. Nennen wir es: pornographischer Benedix. Ein
moralischer Schwank. Zwei Frauen wollen ehebrechen und
bleiben notgedrungen treu. Ein schlaues Jüngferlein hält
mit sich Haus und wird denn auch zum Schluß geheiratet.
Also: ein Spiel für Hofbühnen, das erst durch Zoten,
gesprochene und zur Schau gestellte Zoten residenztheater*
fähig wird. Da aber wird es wohl eine übertriebene Zimper*
135
lichkeit von mir sein, daß ich Zoten in unserer plumpen
deutschen Sprak weder aus dem Munde eines Mannes noch
gar einer Frau mitanhören kann, und daß es mir höchst
genierlich ist, zusammen mit achthundert Menschen ein Mäds=
chen weiter als bis auf den Unterrock entkleidet zu sehen.
Diese Massivitäten waren bei mir das zweite Hindernis einer
heiteren Wirkung. Die Zensur, die das alles erlaubt, rechnet
wahrscheinlich nicht damit, daß blütenweiße Gemüter wie
ich das Residenztheater besuchen, und wird überhaupt wissen,
warum sie seit Jahrzehnten hier nicht denselben Maßstab
anlegt wie an anderen Orten. Wenn nur auch wir wüßten,
warum sie immer wieder reine Kunstwerke verbietet!
Damit ist beileibe nicht ,Fiat Justitiar gemeint. Diese
, Kriminalgroteske in drei Instanzen' hat so lange geatmet,
wie die Zensur in ihrer Finsternis sie zärtlich betreute, und
ist mit dem ersten Schritt ins rosige Licht der berliner Öffent*
lichkeit schmählich verblichen. Da Lothar Schmidt und Hein*
rieh Ilgenstein verlangen, sogar mit Ausrufungszeichen ver#
langen, daß Gerechtigkeit ohne Unterschied der Person
herrsche, so werden sie sicherlich nicht gerade für sich selber
eine ungerecht milde Justiz beanspruchen. Also: Kopf ab I,
weil sie ihn nicht dazu gebraucht haben, sich über das Wesen
der politischen Satire, das Wesen der dramatischen Groteske,
das Wesen des lebendigen Theaters klar zu werden. Der
Satiriker braucht ein Objekt, jUm es jmit einem Dolch zu
Tode zu kitzeln. Wenn er ihm aber mit einem Dreschflegel
zu Leibe geht, so ist es nach einem Schlage tot und kein
Objekt mehr. Die Autoren werden mich, solange sie nicht
weitergelesen haben, mißverstehen und triumphierend darauf
hinweisen, daß das Leben nachträglich einen ähnlichen Fall
wie den ihren geliefert hat. Genau so wie in diesem Stück
war tatsächlich im Mordprozeß von Dabendorf, den wir
eben erlebt haben, das Opfer verschwunden. Der Staats*
anwalt beantragte Todesstrafe, die Geschworenen erkannten
auf Freisprechung. Trotzdem das Opfer verschwunden blieb.
Irgendwie durfte, ja mußte selbstverständlich solch ein Fall
136
verzerrt werden, um eine Satire abzugeben. Im Stück aber
erscheint das Opfer gesund und vergnügt vor Gericht,
ohne daß das für Richter und Geschworene ein Grund
wird, das Urteil aufzuheben. Dagegen wird ein Graf, der
sich selbst bezichtigt, einen seiner Knechte erschossen zu
haben, im Gefängnis mit Lampreten, im Gerichtssaal mit
Klubsesseln traktiert und freigesprochen. Das heißt so kraß
übertreiben und so hanebüchen kontrastieren, daß wirklich
nur die durchgeführte Form der Groteske die Vorgänge
künstlerisch glaubhaft machen könnte. Ein wilder Witz, eine
freche Genialität, ein verwegenes Temperament, ein — wo
gerate ich hin! Wir sind leider nicht in tropisch bunten und
glühenden Geländen der Absurdität, sondern bei Schmidt
und Ilgenstein, die gewiß eine Groteske, aber eine unfrei*
willige Groteske verfaßt haben. Ihr Stück, das ein Epigramm
breit und entzwei walzt, ist mit seinem unscharfen Gerede,
seiner matten Witzelei, seinen unbedenklichen Geschmack*
losigkeiten und seiner asthmatischen Technik wie ein greulich
entarteter Körper, der keine Nerven, keine Sehnen, keine
Knochen, sondern nichts als Muskeln und noch dazu schlappe
Muskeln hat. Erst im dritten Akt straffen sie sich. Da ist
es denn zu spät. Daß man nämlich einen erträglichen dritten
Akt mit um so größerer Freude begrüßen wird, je schlechter
die ersten beiden Akte waren, das ist ein Irrtum kurzsichtiger
Dramaturgen. Man ist, besonders wenn man die beiden
Akte in der plumpen und geistlosen Darstellung des Neuen
Schauspielhauses gesehen hat, einfach nicht mehr aufnähme*
fähig. Witze, die sonst gezündet hätten, verpuffen. Hier gar
ist die Pointe (daß der Ermordete plötzlich erscheint) nicht
einmal neu, Fiat justitia: Werft das Scheusal in die Wolfs*
Schlucht und habt keinen Respekt vor dem Freisinn, dem
Republikanertum und dem Mut von Leuten, denen es so
große Herzensnot bereitet, wie die Gerechtigkeit bei uns
mißbraucht wird, daß sie selber diese Gerechtigkeit zu einem
groben, flüchtigen, armseligen Theaterstück ohne einen Hauch
von echtem Zorn mißbrauchen.
137
Aber, o Freunde, nicht diese Töne! Lohnt es denn? Und
bin ich nicht tadelnswerter als sämtliche schwachen Autoren,
daß ich von ihnen und ihrer Blöße spreche, statt von meinen
Genüssen? Am Abend vor dem Schwank war .Figaros
Hochzeit*, am Abend nach der Groteske ,Die Entführung
aus dem Serail' (und dazu noch, ausnahmsweise, im Schau*
spielhaus — wo Mozart freilich regelmäßig gespielt werden
sollte, weil man erst hier der Partitur in jede Falte blicken
kann, weil durch die wunderbare Intimität des Raums jeder
Klang zugleich verstärkt und verfeinert wird). Da wallfahrtet
hin. Da gibts kein Premierenvolk, gibts nicht einmal ein be*
kanntes Gesicht. Aber da habt ihr Schwank und Groteske
und politische Satire, Witz und Geist und Seele, Zartheit,
Grazie und Güte, Sehnsucht, Erfüllung und Verklärung,
adligstes Menschentum und alle, alle Süßigkeit der Kunst.
Bestaunt den kleinen Lieban, der ein Genie ist und nicht
altert und aus Pedrillo und Basilio voll Komödenwirbligkeit
den farbenfrohsten Funkenregen schlägt. Hört, von der
Hempel, Susannens Gartenarie, bei der euch vor Seligkeit
das Herz stocken wird, es sei denn, daß ihr keins habt. Er*
lebt das Finale des , Figaro', erlebt diesen brausenden Auf*
Schwung, diese zusammenschießende Leidenschaft von zehn
menschlichen Stimmen, hinter denen es wie von einer Orgel
und einem unsichtbaren Chor zu schallen scheint, und über
denen sich der Himmel öffnet. „Hinauf, hinauf! die Erde
flieht zurück!" Da waltet eine Kraft der Entrückung, der
man sich mit ekstatisch ausgebreiteten Armen überläßt, auch
wenn man kühler ist als ich. Denn schaut euch um: die
innigste Rührung in allen Mienen, Glanz in den Augen, ein
beglücktes Lächeln, das verbindet und verbündet, eine Atmo*
Sphäre von Reinheit, Schönheit, Helligkeit und Leichtigkeit
im ganzen Hause und Freude, Jubel, Dankbarkeit wie nir*
gends sonst. Dies sind die wahren Feste des Theaters von
Berlin.
138
VON SCHNITZLER, SCHÖNHERR UND BRAHM
So oft ich das Lessingtheater unsanft behandle — und das
muß ja neuerdings leider nach jeder Aufführung geschehen,
weil entweder das Stück oder die Darstellung nichts taugt —
setzt es Beschimpfungen, Bedrohungen und Denunziationen.
So oft ich Reinhardt unsanft behandle — und selbst heute,
wo meine Begeisterung nicht mehr oft genug gelockert wird,
braucht das ja zum Glück nicht allzu oft zu geschehen —
im Falle Reinhardt also werde ich bedankt, gehätschelt
und mit allen Künsten mündlicher und schriftlicher Über*
redung aufgestachelt, diesen Götzen doch nun endgültig zu
verbrennen. Armer Brahm! Ihn hat das harte Schicksal ge*
troffen, auf seine alten Tage ein Liebling zu sein. Die Trunken*
heit ist so allgemein, daß wohl auch die paar Vorzüge, die
ich seinem Theater immer noch zuerkenne, gar nicht vorhanden
sein werden. Ich will nächstens schärfer zusehen. Indessen wütet
ruhig weiter. Über euern Racheschwur lach ich nur Ich
weiß längst, daß es schwerer ist, Kritiken zu erfassen als zu
verfassen. Wer mir aber nicht einmal nach elf Jahren einer
ziemlich planvollen Tätigkeit draufgekommen ist, daß ich am
liebsten juble; wem es entgangen ist, daß meine Ablehnungen
keinen anderen Zweck haben, als Raum für die Dinge zu
schaffen, über die ich jubeln kann: der gehe endlich zu den
Kritikern über, denen sein Gehirnchen gewachsen ist. Wenn
ein Enthusiast von Geblüt sich einem Theater abkehrt, das
er manches liebe Mal mit Überschwang gepriesen hat, so gibt
es drei Möglichkeiten. Entweder ist der Enthusiast allmählich
ein Griesgram geworden. Aber eh' siehst du die Loire zu*
rückefließen, eh' daß aus mir ein Griesgram wird. Oder
es haben sich, wie ein anonymer Schubiak mutmaßt, gute
persönliche Beziehungen in schlechte verwandelt. Aber weder
hat hier jemals die leiseste persönliche Beziehung bestanden,
noch wäre mein bedauerlicher Sachlichkeitsfanatismus durch
dergleichen zu brechen. Was bleibt demnach drittens?
Daß Brahms Theater sich erschreckend verschlechtert hat.
Aber diese Erklärung liegt zu nah, als daß ich meinen An*
139
klägem und Angebern zumuten dürfte, gerade darauf zu
verfallen.
Ich werde mir auch heute wenig Mühe geben, durch Freund*
lichkeit der kritischen Sitten bei Brahms unheilbarer Gemeinde
Anklang zu finden. Was wäre denn um alles in der Welt an
diesem letzten Abend groß zu loben, soweit Brahms Leistung
in Betracht kommt? Ohne jeden Zweifel: Schnitzlers ,Kom«
tesse Mizzi oder Der Familientag' ist ein äußerst amüsantes
kleines Kunstwerk. Die Menschen, unter denen ,Das weite
Land' vor sich geht, sind hier geadelt und (dadurch?) um
die Fähigkeit gebracht, zu sterben, wenn sie lieben. Sie kriegen
Kinder, ob sie auch gräfliche Fräuleins sind; sie machen diesen
Fräuleins Kinder, ob sie auch mit Fürstinnen verheiratet sind ;
und sie treffen sich nach achtzehn vergnügten und in jeder
Beziehung abwechslungsreichen Jahren, um einander aus ihrer
unfeierlichen Lebensauffassung kein Hehl mehr zu machen,
aber vielleicht doch noch nachträglich dem illegitimen Sohn
leidlich legitime Eltern zu verschaffen. Was Schnitzler hier
vermeidet, das allein bezeugt seinen unfehlbaren Geschmack.
Er unterdrückt die Erkennungsszene zwischen der ledigen
Mutter und ihrem erwachsenen Kind, um derentwillen die
meisten anderen Dramatiker einen solchen Einfall überhaupt
nur ausgeführt hätten. Er läßt sein Spiel leicht und frei von
wehmütiger Nachdenklichkeit, die es vielleicht ein bißchen
vertieft, sicherlich aber übermäßig beschwert hätte. Er be*
moralisiert diese spöttischen, entweder aus Dummheit oder
aus Klugheit spöttischen Epikuräer durch nichts anderes als
durch die milde, unauffällige Ironie seines Tons. Bis hierher
hätte die Geschichte ebenso gut eine Novellette werden können.
Ein Dramolet wird sie nicht durch irgendeinen Konflikt,
sondern durch eine Parallele zu dem Hauptvorgang. Komtesse
Mizzi also kommt nach achtzehn Jahren zu ihrem Kind und
ein bißchen später wahrscheinlich zu einem Mann. Mizzis
Vater aber wird nach achtzehn Jahren von seiner Balleteuse
verabschiedet, weil es sie unwiderstehlich zu einem Fiaker
140
zieht. Mizzi, ihr letzter Liebhaber, ihr erster Liebhaber, sein
und ihr Sohn, ihr Vater, seine Freundin und deren Verlobter,
sie treten nach einander und mit einander auf: das ergibt den
Familientag und das lustige Drama. Sie schwatzen, scherzen,
plänkeln, beobachten und lassen sich beobachten, schleifen
aus ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft einen
deliziösen Dialog und erzeugen zugleich den vollen Schein
des Lebens und die runde Realität der Kunst, der leider das
Lessingtheater nur halb gewachsen ist. Es entsteht nicht die
Atmosphäre, die Schnitzler sich gedacht hat, weil nicht alle
seine Menschen entstehen. So kunstvoll die Triesch Komtesse
Mizzi durch lächelnden Gleichmut von ihrer schwerblütigen
Schwester Genia Hofreiter unterscheidet: sie ist für diese Mizzi
noch immer zu viel, ohne daß sie etwa zu viel macht. Ihr
künftiger Mann dagegen ist gar nichts, und ihr Vater macht
zu viel. Reicher hat einen verhängnisvollen Zug nach dem
Osten. Neulich hat er Bahrs Generaldirektor aus dem Lavin
in den Levin und aus der Tiergartenstraße in die Rosenstraße
zurückgespielt; jetzt hat er, als oesterreichisch^ungarischer
Graf, das wiener Cottage allzu tief in die Fuszta verlegt. Herr
Monnard aber, der ein Fürst sein sollte, hätte hier hoch*
stens Fürst geheißen, wenn das ein christlicher Name wäre.
Es folgte, statt voranzugehen: ,Erde' von Schönherr. Zu
dieser Ausgrabung hat Brahm der Kassenerfolg von »Glaube
und Heimat' ermutigt. Die Wirkung war erheblich schwächer,
da die , Komödie des Lebens' immerhin ein bißchen stärker
ist als die ,Tragödie eines Volkes*. Man ersieht hoffentlich
schon aus diesem Satz, daß ich entschlossen bin, mich gegen
den gefeierten Schönherr entsetzlich blasphemisch zu be*
nehmen. Im Ernst: Was ist , Glaube und Heimat' denn
Großes? Ein wackeres Theaterstück, mehr nicht. Ein drama*
tischer Defregger. Eine Monumentalität aus Gips, der ich
vor einem Jahr prophezeit habe, daß sie in ein paar Jahren
zerbröckelt sein würde, und die, siehe da, gar nicht einmal
so viel Zeit dazu gebraucht hat. Heute murmeln die wütend*
141
sten Vorkämpfer des Reißers, deren Autorität den Schönherr*
Rummel überhaupt erst heraufbeschworen hat, schämig etwas
von , Überschätzung'. Welche Blamage für sie und für ihre
lieben Deutschen! Man mußte wohl ein guter Christ sein,
um sich vor einem Drama mit der Freude zu begnügen, daß
es Fragen des evangelischen Glaubens behandelt und diesen
Glauben verherrlicht. Kein Wunder, daß sich zu den guten
Christen die schlechten gesellten und die Begeisterung orga#
nisierten. Erst recht kein Wunder, daß die schlechten Juden
sich benebeln ließen und vertrauensvoll den Schwindel mit*
machten. An den guten Juden war es schon damals, die
Begeisterung auf ihren Ursprung zurückzuführen und nach*
drücklich zu erklären, daß und warum , Glaube und Heimat',
angeblich das Werk einer neuen , reicheren , saftigeren , erd*
haften Kunst, überhaupt kein Kunstwerk geworden ist.
Glaube und Heimat sind in der Weise kontrastiert, wie
etwa der selige Wildenbruch Kaiser und Reich, Pflicht und
Liebe, Laster und Tugend, Zwang und Freiheit kontrastiert
hat oder kontrastiert hätte. Weil Ferdinand der Zweite zum
Kardinal Kiesel gesagt hat, daß er lieber eine Wüste als ein
Land voll Ketzer haben wolle, stellt Schönherr seine Ober*
oesterreicher vor die Wahl zwischen dem Glauben und der
Heimat. Im ganzen Stück gibt es nichts als diese beiden
Begriffe. Von jedem Punkt des einen zu jedem Punkt des
anderen werden Drähte gelegt, die Funken, nämlich Theater*
effekte sprühen, sobald sie aufeinandertreffen. Es ist un*
wahrscheinlich, daß Schönherr irgendeine Möglichkeit, eine
knallende Szene herbeizuführen, ungenützt gelassen hat. Seine
Bauern sind ihm nur Mittel zu diesem Zweck. Sonst haben
sie keine Funktionen. Selbst in friedlichen Zeiten wären sie
außerstande, einen Acker zu pflügen, eine Kuh zu melken,
eine Sense zu dengeln und anderes Stroh als das Stroh dieses
Dialogs zu dreschen.
Denn es ist ja keineswegs richtig, daß diese Sprache
durchweg von deutscher Markigkeit, von asketischer Karg*
heit, von naiver Rauheit ist. Manchmal scheint sie es wirk*
142
lieh. Aber noch immer sind genug Schlupfwinkel für Roman*
floskeln da, die dadurch nichts von ihrer Phrasenhaftigkeit
verlieren, daß sie ziemlich einsilbig sind. Die Leute nennen
sich selber so, wie allenfalls wir sie nennen dürften, aber aus
Gründen des guten Geschmacks nicht nennen würden.
Vater, Mutter und Sohn sind ein Dreigespann, eine Groß*
mutter ist eine Gluckhenne, ein Unmündiges ist ein Spatz,
Schwalbennester spielen eine sentimentale Rolle, Herzen
stehen sperrangelweit offen, und wenns zum Äußersten kommt,
dann „ist sie da, die blutige Stund", dann „geht es erst ans
große Leiden".
Der Zuschauer leidet nur mit, wenn er sich dumm machen
läßt. Mit scharfen Ohren bleibt er gegen so geschwollene
Formulierungen mißtrauisch, mit scharfen Augen sieht er
die Nähte. Der wilde Reiter, der das große Leid über das
Dorf bringt, der es entweder in eine Wüste verwandeln oder
den Dörflern das Ketzertum austreiben soll — dieser halb
allzu harte, halb allzu weiche Kerl hat weder den Verstand
seines Kaisers noch seinen eigenen, sondern den Verstand
des Autors, der ihm immer gerade das auszuhecken und aus*
zusprechen aufgibt, was dem Stück weiterhelfen und es um
eine krasse Situation vermehren kann. Man wird dagegen
einwenden, daß ich den Stil des Dramas nicht erfaßt habe,
wenn ich von dieser Balladenfigur eine volle Menschlichkeit
verlange. Ich habe schon erfaßt, welchen Stil Schönherr an*
gestrebt hat; aber ich bin allerdings der Meinung, daß
Schönherr seinen eigenen Stil mißverstanden oder zum min*
desten nicht durchgeführt hat.
Ein Beispiel. Von den zwei kurzen Szenen der Sand*
pergerin hat die zweite drei Sätze : „(Sinkt zu Boden) Bluet,
rinnl Mein* Bib'l laß i nitl" (Mit brechenden Augen) Reiter,
stich noch einmal! Mein' Bib'l laß i nit! (Zu ihrem Mann)
Red' nit viel . . . und . . . geh . . . dein' Glauben nach . . .
(Fällt tot zurück)." Lebensinhalt und Lebensende der Frau
sind in diesen drei Sätzen gestaltet. In solche drei Sätze ist
Herz und Hirn auch jeder anderen Figur einzufangen. Für
145
sie aber hat Schönherr dreißig, sechzig und neunzig Sätze
gebraucht, in denen eigentlich immer dasselbe steht. Das
macht dieses Drama so gedankenarm und fleischlos, das
macht alle Szenen, in denen es nicht pufft und wettert,
schlechtweg langweilig. Diese Leute, die einander nichts zu
sagen haben, haben auch uns nichts zu sagen. Erst wenn
aus der Theaterwolke der Kolophoniumstrahl zuckt, kommt
Leben auf die Bühne. Da der Strahl hier nicht, wie bei
anderen Brettergöttern, ohne Wahl zuckt, sondern mit ruh*
menswerter Akkuratesse nur da hervorgespult wird, wo es
sich gehört, wo die Kulissenatmosphäre geladen genug ist,
so ist wenigstens an dem Theaterstück nichts auszusetzen.
Von diesem Theaterstück hätte auch ich mit Achtung zu
sprechen keinen Augenblick gezögert. Wir sind ja an tüch*
tigen Theaterstücken nicht reich. Aber weil wir an großen
dramatischen Dichtungen noch ärmer sind, deswegen plötz*
lieh Karl Schönherr zum Erlöser auszurufen — das geht
wahrhaftig nicht an, das durfte kein ernster Kritiker mit«
machen. In den Literatur« und Theatergeschichten werden
mit ganz besonderen Ehren diejenigen Dramen bedacht, vor
denen Deutschland durchgefallen ist. Die künftigen Histo*
riker werden mit ganz besonderen Unehren diese »Tragödie
eines Volkes' bedenken, auf die Deutschland hineinge*
fallen ist.
,Erde' aber, eine Komödie des Lebens, wird gar nicht
vermerkt werden. Sie ist zwar viel lustiger als die Tragödie
und dazu tatsächlich kunstähnlicher. Trotzdem wird sie der
Zukunft als Symptom unserer Sehnsucht nicht bezeichnend
genug und als Kunstwerk schließlich doch zu gleichgültig sein.
Auch sie ist ja nach vier Jahren schon ziemlich tot. Wenn
sie ganz tot ist, sollte man, um nichts umkommen zu lassen,
aus den Regiebemerkungen einen Gartenlaubenroman machen
und den Text zuweilen kropferten tiroler Bauern vorspielen,
die beim geseufzten Tirili und beim unverdient frühen Tode
eines gefühlvollen Jungknechts hoffentlich weinen werden,
und denen man die Gefräßigkeit eines Roßknechts dreimal
144
demonstrieren muß, bis sie begreifen, daß ihr Dichter einen
gefräßigen Roßknecht hat darstellen wollen. Gott helfe mir:
aber hier sitze ich und kann nicht anders, als die Primitivität
solcher Stücke unerträglich heißen. Was wars um diesen
Schönherr? wird man nach fünf, allenfalls noch nach zehn
Jahren gefragt werden. Es sah so aus, wird die Antwort
lauten, als ob nach einer fast übertriebenen Seelenzerfaserung
eine Kunst der Muskeln gut tun würde. Da erwählte man
kein Patrizierkind, Da erwählte man einen vom Plebse. Da
ernannte man diesen Sohn der "Wildnis zum Dichter. Und
wirklich: sein Geist, sein Denken blieb Ganz frei vom Ein«
fluß abstrakter Philosophie! Er blieb er selbst! Der Kobes
war ein Charakter. Aber es kam allzu schnell auf, daß das
allein doch nicht genügt, und da wurde der Sohn der Wild#
nis wieder abgesetzt.
Immerhin: heut atmet er noch im rosigten Licht und
hat die kleine Genugtuung, daß ,Erde' von derselben Bühne
begehrt wird, die ihm die Komödie vor dem Kassenerfolg
von , Glaube und Heimat' zurückgegeben hat. Was lange währt,
wird selten gut. Wollte Brahm mit seiner Aufführung beweisen,
wie weit das Hebbeltheater von 1908 bereits nach einjähriger
Übung das jahrelang eingespielte, gerade auf derlei Stücke
eingespielte Lessingtheater überboten hat? Herrn Lessings
Regie — durch läppische Unterstreichungen, durch stumpf«
sinnige Ausmalung ,naturwahrer' Nebenzüge verhindert sie,
daß herauskommt, was Schönherr vorgeschwebthat: der Rhyth«
mus, die Melodie, das Lebensgefühl erdenseliger, erdeneifer«
süchtiger, erdenschlichter Menschen. Diese Menschen selber?
Reicher bemüht sich redlich und für sein städtisch«jüdisches
Wesen nicht einmal ohne Glück, den Ackersmann vorzutäu«
sehen, hat aber nichts von der Dämonie, die dem alten Grutz
zugedacht ist, und die ein genialer Schauspieler ihm zuteilen
würde. Eine anständige Leistung, an der nichts überrascht.
Sein Sohn wird uns interessanter, weil Herr Stieler mit jeder
neuen , Charakterrolle' klarerbeweist, wieviel wertvolle Jugend«
10 145
jähre ihm Brahms Kurzsichtigkeit, die ihn solange als ,Lieb*
haber' sah, ziemlich unwiederbringlich geraubt hat. Als seine
Trine hat den Erfolg nicht Fräulein Sussin, sondern nach*
träglich Maria Mayer. Dafür gibt die Lehmann, Trines Ri*
valin Mena, förmlich die Titelrolle, solange sie nicht spricht.
Dann aber deckt Herr Forest durch die Echtheit seines Dia*
lekts ihr Kauderwelsch auf und zeigt, wie sehr die Glaub*
haftigkeit eines Menschen von seiner Sprache abhängt. Ein
Regisseur, der Beziehungen zur Kunst hätte, wäre keinen
Augenblick im Zweifel gewesen, daß für die Lehmann aus
dieser Mena eine schlesische oder märkische Magd, die den
Tirolern zugewandert ist, gemacht werden mußte. Der Rest?
Theater. Dickes und dünnes, pathetisches und übernatura*
listisches, provinziales und großstädtisches Theater, Die
ganze Aufführung: eine belästigende Überflüssigkeit. Wie
denn? Nach zwei schönen Dichtungen von Eulenberg und
Schnitzler, die sich bei so unzulänglicher Gesamtdarstellung
unmöglich halten konnten; nach jenem epigonenhaften Vers*
gerinnsei von Ernst fiardt, dem der Geschäftsmann Brahm
wieder einmal seine literarische Überzeugung geopfert hat;
nach Bahrs hochsensationellem und pseudopolitischem
Schmarren schließlich, den herauszustellen noch würdeloser
war, als ihn herzustellen : nach solchen fünf Monaten wird
eines Dichters bildhübscher Einakter, den alle anderen Thea*
terstädte seit Jahren kennen, teils gut, teils schlecht und das
gleichgültige alte, selbst für Berlin abgeklapperte Schiller*
preisstück einer Eintagsgröße wesentlich schlechter gespielt
als im Hebbeltheater — und auch da soll man loben? Be*
schwerliche Briefschreiber, schreibt eure Beschwerdebriete
an Brahm. Er möge seine letzten paar Theaterjahre nützlicher
und schöner anwenden. Dann werdet ihr euch über mich
nicht mehr zu beklagen haben. Wie es in den Kritiker hinein*
schallt, so schallt es wieder heraus.
146
ROMEO UND JULIA
Der Wille ist höchlichst zu loben. Der Wille: zu bewah*
ren, was einmal erobert; ganz zu erobern, was beim
ersten Anlauf nicht ganz erobert worden ist. Diesen Willen
braucht ein Theater, das nach seiner Vergangenheit und nach
den Gaben seines Leiters die Pflicht hat, mehr als ein hasti*
ges Eintagsleben zu führen. Die Neueinstudierung von , Romeo
und Julia' ist ein Anfang. Mag sie auch nur der Not, näm*
lieh dem Mangel an einem Zugstück entsprungen sein, so
sollte den heimgekehrten Reinhardt doch die Dankbarkeit
des überfüllten Hauses endgültig darüber belehren, daß die
Zugstücke auf der Straße liegen. Er hat wirklich nichts weiter
nötig, als sie aufzuheben. Er greife in sein eigenes Repertoire.
Er nehme die wichtigsten Aufführungen seiner zehn Jahre,
die gewiß nicht alle geglückt sind, die aber eben vervoll*
kommnet werden können und werden müssen und jedenfalls
niemals verschwinden dürften. Er erneuere oder lasse nicht
veralten: die Gespenster, das Friedensfes^t, den Revisor, den
Erdgeist, den Marquis von Keith, Candida, Caesar und Cleo*
patra, Aglavaine und Selysette; Gyges und sein Ring, den
Prinzen von Homburg, die Räuber, Fiesco, Kabale und Liebe,
Don Carlos, Clavigo, Faust, Minna von Bamhelm, Tartüff, Kö*
nig Lear, Hamlet, den Sommemachtstraum, den Kaufmann von
Venedig, Othello und Der Widerspenstigen Zähmung. Das
sind vierundzwanzig Dramen, die für die Struktur der letzten
vier Theaterjahrhunderte entscheidend charakteristisch sind.
Wenn Reinhardt diesem kunst* und kulturgeschichtlich gleich
bedeutsamen Bestand alle drei Wochen abwechselnd ein klas=
sisches und ein modernes Drama hinzufügt und es, bei einem
Erfolg, nicht öfter als zweimal in der Woche gibt, so kommt
von meinen vierundzwanzig Dramen jedes einmal in ändert*
halb Monaten an die Reihe. Für das eine Stück, das dem
Bestand im Jahre zuwächst, wird ihm dasjenige abbröckeln,
dessen Anziehungskraft am empfindlichsten nachläßt. Dieses
System kann Reinhardts Theater gesund machen. Die Schau*
Spieler bleiben frischer als jetzt, wo ,Penthesilea' und ,Turandot'
lö«
147
je vierzigmal hinter einander heruntergespielt und dann
weggeworfen werden. Die ganze Aufführung wirkt immer
wieder jung und verführerisch. Wer sie sieht, rät seiner Sippe,
ihm zu folgen. Die korrumpierende Jagd nach dem Schla*
ger wird auf Bühnen beschränkt, die außerstande sind, ein Re*
pertoire zu bilden. Hier hat man Schlager und Repertoire
zugleich, nämlich ein Repertoire von lauter Schlagern. Vor*
aussetzung ist freilich, daß Reinhardt die geschäftliche Rieh«
tigkeit meines Exempels anerkennt und trotzdem mit der alten
Künstlerlust an die Erhaltungs« und Erneuerungsarbeit geht.
Halb widerwillig ist sie nicht zu leisten. Ich möchte diese
Künstlerlust nach Kräften nähren und bedaure selbst am
meisten, daß der erste Abend mich dazu nicht froh genug
gestimmt hat. Aber wenn mein hilfsbereiter Tadel fähig ist,
den Mann nach einem Schritt schon wieder zu entmutigen,
so ist auf eine Dauer dieses Unternehmens ohnehin nicht
zu vertrauen.
Die ursprüngliche Aufführung von , Romeo und Julia'
hat ungefähr ebenso viel gewonnen wie verloren. Reinhardt,
dem häufig vorgeworfen worden war, daß er zu wild streiche,
hatte vor fünf Jahren einmal die Probe vom Gegenteil ge*
macht und fast gar nichts gestrichen. Von zweiundzwanzig
Szenen gab es einundzwanzig, also einen Theaterabend von
annähernd fünf Stunden und eine ungeheure Abgespanntheit
des Zuschauers. Diesmal gibt es sechzehn Szenen, die sich
in kaum dreieinhalb Stunden so geschwind abwickeln, daß
man in die jähe Handlung förmlich hineingerissen wird. Gleich
die turbulente Anfangsszene wird in ein Tempo gehetzt, das
für die Katastrophen des Verlaufs maßgebend bleibt. Bei
diesem Gesamttempo ist es nicht mehr möglich, Nebenfigu«
ren allzu liebevoll auszutuschen und Nebenzüge vorwiegen
zu lassen. War aber dieser Vorteil nur durch den Verzicht
auf drei der farbigsten Szenen zu erkaufen? Ich erinnere mich
noch, wie es bei Capulets unablässig treppauf und treppab
ging, vom Untergeschoß ins Erdgeschoß und ins Zwischen«
148
geschoß, von rechts nach Hnks und von hinten nach vorn,
und wie auf diese Weise das lebensvolle Bild eines italieni*
sehen Adelshauses von Reichtum und üppigster Gastfreund*
Schaft entstand. Das verhängnisvolle Fest zog sich dann durch
drei Stockwerke, und Spaziergänger des nächtlichen Verona
hatten das Vergnügen, hinter den Fenstern die Gäste schatten*
haft tanzen zu sehen. Zum Schluß fiel man von der ebenen
Erde des Friedhofs in ein Grabgewölbe, das eins der unver*
geßlichsten Einfälle des Szenenkünstlers Reinhardt war. Dies*
mal? Capulets Behausung hat keine Physiognomie, der an*
mutige Schattentanz ist gestrichen, und die scheintote Julia
liegt in — Bruder Lorenzos Gartenhöfchen, aus dem der eine
Baum entfernt worden ist. Zum Glück erneuern sich andere
Eindrücke. Die Montecchi und Capuletti geraten — bei Sha*
kespeare am Anfang des dritten, bei Reinhardt, und das ist
ein vortrefflicher dramaturgischer Eingriff, am Schluß des
zweiten Aktes — die feindlichen Häuser also geraten so hart
und heiß aneinander, daß die ganze erschreckende Roheit
der Zeit hochsteigt und überschäumt. Die Montecchi allein
scherzen mit Juliens Amme so liebenswürdig, wie es nach den
lyrischen und vor den tragischen Szenen zur Abwechslung
nötig ist. Ein Höhepunkt ist wieder die Trauung. Sechsund*
dreißig schnelle Zeilen hat der Auftritt und jagt hier wie ein
Wirbelwind vorüber, ohne daß eine Silbe, ein Blick, eine
Regung verloren ginge. Aber es hätte wenig für sich, wenn
in allen Szenen gleichmäßig viel Zug und Wurf und Schmiß
wäre. Ein Presto von drei Stunden würde genau so ermüden
wie ein Lento. Reinhardts Hauptkunst zeigt sich, wie immer,
in Abschattungen und Abstufungen, in Einschnitten und
Steigerungen, in Finessen der Beschleunigung und Verlang*
samung, die nur darum nicht immer zur Geltung kommen,
weil ein Shakespearesches Trauerspiel eine größere Anzahl
guter Schauspieler braucht, als selbst Reinhardt beschaffen
zu können scheint.
Aber weniger als ungute Schauspieler wird er doch ent*
fernen können? Gräfin Capulet ist endlich seinem Grimme
149
reif. Wo sie hintritt, ist Tirschtiegel , wenn ich Tirschtiegel
nicht unterschätze. Man wünschte, auch ein graphisches
Mittel zu haben, um den Abstand zu bezeichnen zwischen
dieser Frau Vera und Herrn Kühne, dem für Bruder Lorenzo
der Ton gütiger Menschlichkeit fehlt. An Winterstein hat
Tybalt mehr verloren, als Mercutio an ihm gewonnen hat.
Diegelmann versucht einen veronesischen burbero, der zwar
nicht malefico, aber auch nicht sonderlich benefico ist, und
dem eine falsche Beflissenheit dieses Schauspielers schadet:
schärfer zu charakterisieren, als er es bei seiner ausgiebigen
Natur zu tun brauchte. Soweit war früher die Darstellung
lobenswerter. Frau Kupfer wird vielleicht noch. Aber schon
jetzt ist man ihr dafür dankbar, daß nicht, wie bei ihrer Vor*
gängerin, die Amme beherrschend im Mittelpunkt von
, Romeo und Julia' steht. Durch Herrn Daneggers nach«
drückliche Rhetorik bekommen die drei Auftritte des Prinzen
Escalus einen stärkeren Akzent als zuvor. Und Waßmann
schlägt mit immer geringeren Bemühungen immer größeres
Gelächter für den Dichter heraus. Soweit ist diesmal die
Darstellung lobenswerter. Aber das wäre nicht viel, wenn
nicht auch Romeo und Julia zugenommen hätten. Es ist tat«
sächlich nicht viel, weil Romeo und Julia nicht genug zu«
genommen haben.
Fräulein Terwin übertrifft Fräulein Eibenschütz ebenso
weit, wie sie Shakespeares Julia fern bleibt. Sie hat bewiesen,
daß sie routinierter ist, als man bisher geglaubt hat; und das
ist immerhin etwas. Sie sieht aus wie eine entjudete Triesch
und entfaltet einen unleidenschaftlichen Spieleifer, durch den
die naive Holdheit der unerweckten wie der erweckten Julia
umgebracht wird. Wenn es dann Julien schlimm ergeht,
schreit Fräulein Terwin so laut, daß man bei schwachem
Unterscheidungsvermögen wie von wahrem Schmerz berührt
werden mag. Wir anderen werden von Juliens Liebstem leb«
hafter gefesselt. Moissi ist wenigstens bis zum Abschied von
Julien auf seine Art ein Romeo. Seine schauspielerische
Technik hat sich erstaunlich, seine Sprechkunst bewundems«
150
wert entwickelt. Er holt Töne des Leids nicht aus der Seele
(wenn er eine hat), sondern löst sie von einem gottbegnadeten
Gaumen ab. Mit dieser Stimme macht er, was er will; ja,
vielleicht behandelt er sie bereits ein bißchen zu virtuos.
Jedenfalls reicht das auch für uns so lange aus, wie den
Romeo selbst sein Leid nicht tiefer zu packen hat. Romeos
Schwermut um Rosalinde geht vorüber und steckt uns bei
Moissi dennoch an. Romeos Liebe zu Julia dauert übers
Grab und zündet bei Moissi dennoch nicht. Er ist köstlich
in seiner Ungebärdigkeit, seinem Überschwang. Er hat einen
überzeugenden Ausdruck für Hitze, wie er einen für Kälte
hat. Aber er ist heute — und war es vor fünf Jahren, scheint
mir, nicht — am Ende aller seiner Künste, sobald man ihm
Juliens Tod berichtet hat. Dann zeigt es sich, daß er keinen
Ausdruck für Wärme, für ein schlichtes menschliches Gefühl,
für einen tiefen, trostlosen, tödlichen Liebesschmerz hat
(wenigstens keinen, der anderswo als im Zirkus echt klänge).
Diesen Ausdruck hatte ja auch Julia nicht. Aber steht und
fällt damit nicht die Tragödie? Wenn man keinen Romeo
und keine Julia hat, dann lasse man die Hand von ihrem
Schicksal, bis ein Romeo und eine Julia nachgewachsen
sind. Darum war dies kein rechter Anfang. Allein der Wille
soll so herzlich anerkannt werden, daß Reinhardt sich zu
denjenigen Aufführungen angespornt fühlt, an denen nicht
bloß der Wille anerkennenswert sein wird.
UND DAS LICHT SCHEINET IN DER FINSTERNIS . . .
In diesem Drama, das keins sein will, keins zu sein brauchte
und schließlich doch eins geworden ist, sind alle Adlig*
keiten des Herzens, auch die größte, die schönste: Gerech*
tigkeit. Von einem Abend voll lautloser Erschütterungen,
wie ihn das berliner Theater seit Jahren nicht zu vergeben
gehabt hat, bleibt als tiefster Eindruck bestehen : der Anblick
eines Menschen, dem es um nichts als um die Wahrheit geht.
In dem eine Überzeugung, ein Glaube, eine Sehnsucht lebt,
151
aber nicht die bornierte Sicherheit, daß er die Weisheit ge*
pachtet hat. Der grübelt und zweifelt, mit sich ringt und für
andere kämpft, Probleme wälzt und jeden Einwand abwägt,
Anläufe nimmt und zurückweicht, sich nicht ängstigt in dieser
Welt und doch davor ängstigt, Unrecht zu haben und Un*
recht zu tun. Aus dem Gewissen einen Feigling und einen
Heiland macht. Fünf Bilder zeigen einen skeptischen Evan*
gellsten, einen sündig*schwachen Bußprediger, einen unter*
liegenden Asketen: Leo Tolstoi, der sich hier Sarynzewa
nennt, nicht um sich zu verstecken, sondern um sich zur Strafe
für seine Fehlbarkeit noch fehlbarer zu schildern, als er war.
Es entsteht ein Bekenntniswerk hohen Ranges und seltenster
Art zugleich: worin der Bekenner zu schlecht wegkommt,
zu wenig leistet, zu glanzlos erscheint. Sarynzewa führt die
Worte der Bergpredigt im Munde, aber setzt es nicht durch,
darnach zu handeln: das war auch Tolstois Schicksal. Saryn*
zewa will sein Flab und Gut den Armen geben, wird aber
durch die Rücksicht auf seine Familie aus der Bahn gelenkt:
so ist es auch bei Tolstoi gewesen. Sarynzewa eifert gegen
die Kunst: das hat auch Tolstoi getan. Und nur durch eins
unterscheidet er sich zu seinem und unserem Vorteil von
Sarynzewa. Der erlahmt an der Umwelt, läßt resigniert alles
beim alten und begnügt sich damit, am Grabe die Hoffnung
auf bessere Zeiten aufzupflanzen. Kein Tadel soll ihn treffen :
er hat immerhin einmal aufbegehrt; und das wird nicht ganz
vergebens gewesen sein. Tolstoi dagegen? Auch er also ist
als Täter seiner Gedanken ermattet (und erst in seinen aller*
letzten Tagen doch noch in den Schnee gelaufen). Vorher
aber hat er — nicht bloß seine Lehre zum tausendsten Mal
ausgesprochen, sondern seinen Zwiespalt, seine Halbheit,
seinen Zusammenbruch gestaltet, gestaltet! Der unerschrok«
kene Mensch hat sich vor allem Volk die Brust aufgerissen,
und der Feind der Kunst hat als Künstler eine leuchtende
Schönheit geschaffen.
Denn mögen die Vorgänge auch durchaus kunstlos an#
einandergefügt sein: unkünstlerisch, wie die meisten Ten*
152
denzstücke sind, ist dies in keinem Zuge geworden. Man
sitzt drei Stunden vor — ja, vor Gerede und würde in unermüd*
licher Andacht noch einmal drei Stunden davorsitzen, weil
unter der Hand, unter solchen Händen dies heilige Gerede
eine Form gewinnt, von der ein hypnotisierender Zauber
ausgeht. Sarynzewa steckt mit seinen Ideen einen jungen
Fürsten an. Der muß es infolgedessen ablehnen, seine Mit*
menschen zu erschießen, und gerät schnell genug in Konflikt
mit den Militärbehörden. Es brauchte nicht einmal undich*
terisch zu sein, diese Vertreter der Staatsgewalt, und gar der
russischen, als besonders verhärtet zu malen ; und es brauchte
der Makellosigkeit der ganzen Dichtung keinen x\bbruch zu
tun, wenn sie für die fünf Minuten ihres Bühnendaseins
hingewischt wären. Tolstoi aber kann nicht anders als be*
haupten, daß alle Kinder Gottes im Grunde gut sind; und
er kann nicht anders als aus noch so unbedeutenden Neben*
figuren runde, volle, leibhaftige Menschen machen. Man sehe
diesen General, diesen Gendarmerieoffizier, diesen Militär*
arzt. Man sieht sie wirklich. Sie gewinnen — wer weiß, wie
das geschieht! — durch drei Sätze Gesicht, Haltung, Person*
lichkeit, kommen dem Fürsten nicht mit Brutalität, sondern
mit Verständnis entgegen und haben genau so recht wie er.
Durch die Widersetzlichkeit dieses Fürsten wird das Bühnen*
stück bunt, durch seine Auslegung von Sarynzewas Lehre
wird es dramatisch. Es hätte nämlich nicht genügt, dessen
Lehre nur durch ihn selber vertreten und ihn mit ihr Schiff*
bruch leiden zu lassen. Sie mußte auch, eben von dem
Fürsten, konsequent befolgt werden. Wohin führt sie dann?
Zum Irrsinn. Kapitulation oder Irrsinn: dies oder das ist das
Ende eines hochgearteten Daseins, das nichts weiter erstrebt
hat, als den Mühseligen und Beladenen wohlzutun und mit*
zuteilen, als, mit einem Wort, das Reich Gottes auf Erden
begründen zu helfen. Die Frauen fallen von solchen Man*
nem ab, die sie und sich selbst enttäuschen und Schaden
über Schaden anrichten. Die "Welt verlacht sie oder sperrt
sie ein. Die Kirche schließlich flucht ihnen. Tertullian hat
153
gesagt: Die menschliche Seele ist von Natur eine Christin.
Aber wenn sie eine Christin sein will, so wirkt das als eine
Unnatur, gegen die mit Feuer und Schwert angegangen wird.
Das ist das Ergebnis, zu dem Tolstoi kommt, und von dem
man annehmen sollte, daß es niederschmettert. In Wahrheit
tröstet, stärkt und erhebt es. Warum? Weil Leo Tolstoi es
ist, der zu diesem Ergebnis kommt; und weil er als Leo
Tolstoi auf einem Wege dazu kommt, in dessen Finsternis
das Licht scheinet: das Licht seines Genies und das Licht
seines heißen, edlen, unendlich demütigen Herzens.
. . . Herr Barnowsky wird geraume Zeit Fhilisterschwänke
und die belanglosesten Einakter geben können, bis man das
Recht erlangen wird, ihm diesen Abend zu vergessen. Wo
waren Brahm und Reinhardt, als die Reichtümer solch eines
Dichternachlasses verteilt wurden? Warum spielt nicht einer
von ihnen wenigstens den »Lebenden Leichnam', der dieser
Herrlichkeit nachsteht, aber doch auch von diesem Tolstoi
ist? Brahm hätte schon um Sauers willen an Sarynzewa
nicht vorübergehen dürfen. Reinhardt hat immerhin zu Bar#
nowskys Unternehmen beigetragen, indem er ihm in Kayß*
1er denjenigen berliner Schauspieler geliehen hat, der nach
Sauer am ehesten für die Gestalt in Betracht kommt. Ge#
wachsen ist er ihr freilich bei weitem nicht. Er hat die Un«
antastbarkeit des Wesens, die Schwerblütigkeit, das Grübler*
tum, die Gabe, mit äußerster Mühe unausführbare Gedanken
aus sich herauszuwühlen. Er hat vorwiegend die Finsternis.
Was ihm fehlt, ist das Licht, das visionäre Licht des schwär*
merischen Gottsuchers. Dieser Mangel wurde noch empfind*
lieber, weil Kayßler den fragwürdigen Einfall gehabt hatte,
seinem Sarynzewa Tolstois Gesicht zu geben. Da aus der
ersten Szene hervorgeht, daß Sarynzewa tatsächlich Tolstoi
selber sein soll, so versuchte man fortwährend, sich Tolstoi
als Kayßler vorzustellen, wobei Kayßler schlechter als nötig
wegkam. Diese Maske wäre nur dann angebracht und er*
laubt, wenn Tolstoi sich in seinem Stück einfach Tolstoi ge*
nannt hätte. Alles in allem wäre Kayßler mit seiner geringen
154
schauspielerischen Modulationsfähigkeit trefflicher als für
den Meister für den entschlossenen Schüler geeignet gewesen,
den Abel freilich ausreichend fest und klar hinstellte. Über*
haupt konnte Herr Barnowsky die Freude erleben, keinen
von seinen vier Gästen aus seinem Ensemble herausragen zu
sehen. Die Fehdmer hat in ihrer gar nicht robusten, sondern
nervös belebten Blondheit einen Frauen* und Menschenreiz,
dem ihr Reiz als Schauspielerin niemals entsprechen wird;
Frau Gebühr glich dieser ihrer Mutter nicht bloß aufs Haar;
und selbst eine Künstlerin wie Frau Renier sah diesmal nur
wundervoll aus. Sie wurden sämtlich im Preise gedrückt
von Ilka Grüning: die vertrat den nüchternen Verstand der
Frau Welt mit einer entwaffnenden Schwatzhaftigkeit und
ließ doch immer die Anständigkeit der Gesinnung durch*
spüren, durch die der gütige Tolstoi auch diesen Menschen
seiner Liebe würdig macht. Von den drei Vertretern der
Staatsgewalt war einer immer besser als der andere. Die Ge*
sellschaftsszenen hatten Leben. Der Bühnenbilder hätten sich
die Kammerspiele nicht zu schämen brauchen. Es war die
Kunst im Haus, die wir uns wünschen. Dank, Heil und
Siegl
KÖNIGIN CHRISTINE
Oder: Erdgeist. Oder: Die Büchse der Pandora. Beide
Wendungen gebraucht Strindberg an einer einzigen Stelle
seines halbhistorischen Dramas, als wolle er ausdrücklich auf
dessen Verwandtschaft mit Wedekinds Doppeltragödie hin*
weisen. Lulu, das rein triebhafte Kind; diese herkunftlose,
ganz charakterbare Inkarnation der Sinnlichkeit; Naturkraft,
Elementarerscheinung, Verkörperung einer Zwangsgewalt, die
all unser Leben durchtobt — was unterscheidet Christinen auf
den ersten Blick von ihr? Was wir aus der Geschichte von
ihr wissen, und was sie am Schluß des Dramas als das Ziel
verkündet, das sie angestrebt habe : diese rohe Nation zu bilden
und in ihr Interesse noch für anderes als Krieg zu erwecken.
155
Im Verlauf des Dramas ist freilich nur zu sehen, was sie zum
Schaden des Landes begeht und unterläßt. Die Rechnungen
stimmen nicht, das Eigentum der Krone wird verschleudert,
ein Ballettabend darf dreißigtausend Kronen kosten, die Armee
existiert allenfalls auf dem Papier, die Flotte verfault, die Reichs*
stände werden wie ein Gemeinderat behandelt, der Reichsrat
rekrutiert sich aus Unteroffizieren — und das Königsschloß
ist ein Hurenhaus. Wenigstens vor Beginn des Stückes. Da
ist Christine wirklich Lulu. Da liebt sie alle, weil sie keinen
liebt. Ihre größte Lust ist: immer wieder frei zu werden, um
jede Spielart von Maskulinum kennen zu lernen und jede so
weit, wie es ihr gefällt. Den Freund, den sie sich erhält, weil
sie sich ihm versagt; den Liebhaber, den sie anbeißt und weg*
wirft; den Geliebten, dem sie das Herzblut austrinkt; den
Hypnotiseur, der ihren Willen lähmt; den Sklaven, der sie
halb zur Beglückerin, halb zur Sadistin macht; den Mann
schließlich, durch den sie Mensch und Tragödienheldin wird.
Am Anfang des ersten Aktes schießt Christine wie ein Habicht
auf Klaus Tott nieder und fängt ihn sich ein — am Ende des
vierten Aktes, wo ihre Vergangenheit lebendig wird, stößt er
sie als Dirne von sich. Ihre Tragik: daß sie es gerade da nicht
mehr, gerade dank Klaus Tott nicht mehr ist.
Es soll ihre Tragik sein. Die Absicht des Dramas ist stark.
Wenn es nicht tief genug dringt, wenn man die Tragik nicht
mitempfindet, so liegt das hauptsächlich daran, daß für die
entscheidende Rolle, die Klaus Tott in Christinens Leben spielt,
sein Format nicht ausreicht. Von ihm weiß man so wenig, daß
er das Recht hat, sich beim unverhofften Einblick in Christinens
Leben als gräßlichen Philister zu entpuppen. Aber von ihr
weiß man zuviel, aus der Geschichte und aus Strindbergs
Werk, als daß man ihren Schmerz über seinen Abfall begriffe.
Mögen immerhin ihm die Augen über sie aufgehen: dann
müssen sie ja erst recht ihr über ihn aufgehen, weil sie ihm
aus solchem Anlaß aufgegangen sind. Die Entwicklung stimmt
nicht zur Voraussetzung. Christine, die aus hundert fast un*
vereinbar scheinenden Zügen bereits eine überzeugende Ein?
156
heit geworden war, wird durch einen einzigen Zug zerstört,
weil Strindberg durch ihn nicht ihr Bild abrunden, sondern
einen Beweis führen will: daß ein Weib durch keine Aufgabe,
durch keine Idee, durch keine Krone zum Menschen wird,
sondern nur durch Liebe. Nach drei lebensvollen Akten hat
man von diesem vierten leblosen Akt ungefähr den Eindruck,
als ob einem Körper, dem zur Totalität noch der Kopf fehlt,
eine klug abgefaßte und schön gedruckte Beschreibung samt*
lieber Gliedmaßen auf den blutigen Halswirbel gelegt würde.
Wie schade! Denn diese ersten drei Akte zu hören, ist ein
geistiger Genuß. Da ist dramatischer Dialog. Da wird nicht
an der historischen Bedeutung der Figuren schmarotzt: ihre
Seelen, nicht ihre Namen machen uns warm, solange sie uns
warm machen. Da wird nicht eine Silbe mehr gesagt, als für
die Aufdeckung der Vergangenheit und für die Fortführung
der Handlung nötig ist, und doch wird auf diese Weise nicht
bloß die Handlung entwickelt und die Vergangenheit erhellt,
sondern auch Welt und Umwelt und Atmosphäre geschaffen
und übermittelt. Das Geheimnis ist eben, daß die Gesetz?
mäßigkeit einer Kunstform wahrhaft erfüllen bereits ihren
unentbehrlichen Überschuß geben heißt. Wenn in diesem
musterhaft knappen Dialog Hart auf Hart trifft, so wissen
wir, daß Nordländer sprechen, daß ihre Liebe von kalter und
um so jäherer Entschlossenheit ist, und daß diese Liebe von
einem Dichter gestaltet wird, der sie erlitten hat und mutig ihre
große Flamme und jedes kleinste Strählchen eingesteht. Aber
vor der Zeiterhebtsich ein rauherWind, Flamme und Strählchen
erlöschen, und Dialektik versucht vergeblich, sie wieder an*
zufachen. Ach, daß dem Menschen nichts Vollkommenes
wird!
Das gilt auch für die Vorstellung des Theaters in der König*
grätzerstraße. Den Direktor Bernauer muß man loben, daß
er, ohne durch ein eigenes literarisches Vorleben dazu ver*
pflichtet zu sein, ab und zu eine von den Versprechungen
erfüllt, auf die Brahm ehedem Vorschuß genommen hat. Der
Regisseur Bernauer scheint mir nicht ebenso lobenswert. Von
157
seiner Bühne ging nicht viel aus. Das Buch erlaubt, ja, ge*
bietet: in Ritterholmskirche, Rechnungskammer, Schneider*
werkstätte und Gartenpavillon den Hauch einer Stadt dringen
zu lassen, die von einer j ungen, ahnungslos verschwenderischen,
berauschten und berauschenden Königin regiert, nämlich
nicht regiert wird. Nun, dergleichen war kaum versucht worden.
Die Räume hatten die zulänglichen Dimensionen, waren aber
schlecht belebt. Trocken, pedantisch, schwunglos reihte sich
Akt an Akt. Den stürmischen Augenblicken fehlte die Wild*
heit, den funkelnden der Glanz, den spukhaften das Halb*
dunkel — nicht der Beleuchtung, sondern der Stimmung. So
verpufften selbst Szenen, denen der Leser eine unwiderstehliche
Schlagkraft zugetraut hatte. Wenn ich, in dankbarer Erinne*
rung, nach diesen Szenen applaudierte, so fielen drei Leute
aus Mitleid mit mir und voll Verwunderung ein. Glaubt mir:
Strindberg hat keine Schuld. Dabei hatte Herr Bernauer kein
unzulängliches Material. Herr Lindner als Klaus Tott wird
erst im vierten Akt, also erst da papieren, wo höchstens die
zwei großen toten Schauspieler helfen könnten. Für Totts
Vorgänger hat Herr Bergen nicht das Wesen, aber eine be*
merkenswert zuverlässige Routine. Herr Siebert, als Christinens
mannhafterer Brackenburg, bewährt seinen schönen Ton
schlichter Treue. Herr Zelnik ist ein schwerblütiger, gutartig
düsterer Oxenstjerna. Herr Gebühr schließlich stellt in dem
schnapsfreudigen Carl Gustav einen wohltuend struppigen
Kerl hin. Was will ein Regisseur mehr? Reinhardt hätte hier
keine Umbesetzung vorzunehmen brauchen, um aus den ersten
drei Akten das Feuer zu peitschen. Und dazu kam dieTriesch!
Daß es Brahm nicht mehr lohnt, sich vor Toresschluß sonderlich
anzustrengen, dem Verfall seines Ensembles zu steuern, ein
paar zeitlebens versäumte wertvolle Experimente nachzuholen :
das ist, so sehr wir es bedauern, allenfalls begreiflich. Daß
er aber selbst dazu zu bequem ist, die Reste seines Ensembles
auszunutzen: das ist eine Übertreibung. Wenn man noch
drei Schauspieler von Rang hat, so dürfte keiner von ihnen
für ein fremdes Theater zu haben sein. Was ein wechselndes
158
Repertoire ist, hat Brahm freilich nie gewußt, lernt er selbst
in Zeiten, wo die Not es ihn lehren müßte, nur stümperhaft.
Mit der Triesch ist viel anzufangen. Liegt es an mir, liegt
es an ihr, daß sie mir von Jahr zu Jahr lieber wird? Als
Christine kann sie das Kind, kann sie Klein*Christel nicht
gut sein, ohne sich zu verstellen. Sie ist klug genug, sich
nicht zu verstellen, zu geschmackvoll, um zu minaudieren.
Sie gibt einfach das Weib Christine, das Zähne und Klauen
und Habichtsfänge hat. Das nimmt der Figur von ihrem spielen*
den Reichtum, aber es macht sie wunderbar hart und soweit
nordisch, wie es die südländische Schwärze der Schauspielerin
irgend zuläßt. Mit dem letzten Akt plagt sie sich nicht weiter
ab. Dafür gibt sie über Strindbergs Schluß hinaus einen Be?
griff von der geschichtlich beglaubigten Zukunft der Königin
Christine. Sie ist am Ende, was sie von Anfang an gewesen
ist: ein ungewöhnlicher Mensch.
DER KLEINE UND DER GROSSE REINHARDT
Nach einem großen Abend ein übertrieben kleiner. War
das unbedingt nötig? Zu , Pierrots letztem Abenteuer'
sollte man Menschen nicht aus den entlegeneren Vororten
locken. Dazu sollte man eine Kraft wie Bassermann nicht
mißbrauchen. Zum Schluß liegt er selbstgemordet am Boden:
im einen Arm hat er sein goldlockiges Töchterchen, für das
der Papa nur schläft, das ihm den Gutenachtkuß aufs graue
Haar gehaucht und sich dann zu ihm gebettet hat; im anderen
Arm hat er Herzblättchens Lieblingspuppe. Auf dieses Bild
aus dem , Kaiserpanorama' — Entree zwanzig Pfennige, Kinder
und Militär die Hälfte — fällt das bengalische Licht, das
Barnays Oberbeleuchter auf den Chef und Star zu gießen
pflegte, damit das Ende eines Shakespearischen Aktes bei
der Galerie möglichst schallenden Anklang fände. Bis dahin
hat die Pantomime der Kammerspiele weniger kurzweilig als
ergreifend ausgemalt, wie der Sohn eines alterslüsternen
Pierrots weiß und weich und erzieherisch veranlagt genug
159
ist, um dem Vater als Mädchen zu nahen und ihn dann durch
die Aufdeckung des Betruges zu beschämen; und was das
für schreckliche Folgen hat. Darauf steht nämlich der Tod.
Auf die Abfassung solch eines Schmarrens auch.
Der Autor Victor Arnold möge trotzdem am Leben
bleiben, um noch Jahrzehnte lang komische Menschengestalten
zu formen, wie es außer ihm höchstens zwei, drei Männer
der berliner Bühne imstande sind. Margot könnte uns wirk«
lieh gestohlen werden, wenn nicht eben Arnold es wäre, dem
sie gestohlen werden kann. Georges Courteline ist allein
mehr als mit Pierre Wolff zusammen. Allein ist er ein un*
gerührter Menschenbelächler; als Compagnon ist er ein
rührungsbeflissener Stückemacher. Margot ist das kleine
Mädel, das dahin fällt, wohin man es stößt; das nicht wider*
steht, geschweige denn will; das sich lieben, mißhandeln, ver*
schenken, rauben und heiraten läßt, wie es dem Herrn und
den Herren gefällt. Es müßte uns Spaß machen, das nette
Ding. In diesen zwei Akten ist sie Trauerweide, ohne daß
es ihr Schöpfer uns abzwingt, sie seriös zu nehmen. Es bleibt
ein Zwiespalt zwischen der Belanglosigkeit und Alltäglichkeit
ihres Geschicks und der ununterbrochen fließenden Tränen*
flut, die ihre Äuglein einer vernünftigeren Bestimmung ganz
entfremdet. Oder war ein neuer Regisseur schuld? "Vielleicht
hätte er, wofern das bei einer so papierenen Übersetzung
erreichbar ist, ein bißchen Heiterkeit auch in diese Hälfte
des Stückes tragen sollen. Für die andere Hälfte sorgt also
Arnold. Er gibt Margots Besitzer, der auf sie pfeift, solange
sie ihm nach seiner Meinung sicher ist, und um sie weint,
sobald sie ihm abhanden zu kommen droht. Da lohnt es
sich, Arnold zu sehen : erst seine pfiffige Beschränktheit und
seine ohnmächtige Energie; dann aber seinen Übergang vom
Scherz zum Ernst. Es ist gar kein Übergang, sondern ein
Übersprung. Unser Gelächter über einen Narren wird haar*
scharf abgeschnitten, und wir sitzen beklommen vor einem
Menschen, der irgendwie leidet, aus niedrigen Motiven, aus
Eitelkeit, Bequemlichkeit, verhinderter Rachsucht leidet —
160
aber leidet. Dieser Umschwung wird nicht vielen Komikern
gelingen; und man würde einen Komiker, dem er so voll*
kommen gelingt wie Arnold, künftig zu den Humoristen
zählen müssen, wenn man das nicht schon seit Gogols
.Heiratsgeschichte' täte.
Der große Abend war: Viel Lärm um Nichts. Aus dieser
Aufführung schwingt man sich mehr, als man geht: feder*
leicht, wie im Takt von Beatricens Werbehopser, noch immer
lachend und voll Dankbarkeit gegen den Künstler, der einen
in diese lebensbejahende Stimmung geschmeichelt, geleitet,
gezwungen hat. Vergessen ist, daß man am Anfang Ein«
wände hatte. War die Introduktion nicht ein bißchen zu
pedantisch genommen? Überschätzt Reinhardt nicht die
Resultate, zu denen diese Gespräche führen, daß er jedes
Wort so gewissenhaft stehen und bringen läßt? Aber es ist
nur der erste Akt, der sich hinschleppt. Dann wird wirklich
der Titel der Komödie, die Komödie dieses Titels, gespielt:
es gibt viel Lärm, dessen nicht so viel wird, daß irgend eine
Wendung von Wichtigkeit umkäme; und es wird doch im
Grunde um nichts gelärmt. Um nichts und wieder nichts.
Darauf kommt es an; und das hat keiner vor Reinhardt
durchgesetzt. Wenn nämlich der Intrige, die das Fräulein
Hero häßlich verdächtigt, nicht von vornherein die Gefähr*
lichkeit geraubt wird, ist das Stück unerträglich, weil für
die bloße Möglichkeit des Ernstes alle Maße und alle Tö*
nungen anders sein müßten. Reinhardt entzieht also die
Rolle des verleumderischen Juan dem Charakterspieler und
läßt seinen verdienstvollen Komiker Biensfeldt das Kinn
lächerlich zuspitzen, einen Schnurrbart nicht kleben, sondern
pinseln, die Farbe der Leberkrankheit in die Visageschmieren
undtvon Zeit zu Zeit ein schadenfrohes, dumpfes Gewieher
aus dem Halse holen. Dieser Kinderschreck ist Rechtfertigung
und Voraussetzung zugleich für die neue Auffassung der
Kirchenszene. Anderswo erfolgt erst auf einen langwierigen
und weihrauchenden Umzug der armen Hero Beschimpfung,
11 161
die dadurch, und nicht allein dadurch, ein Tragödiengewicht
bekommt. Hier stehen, wenn der Vorhang aufgeht, Claudio
und Hero bereits am Altar, Biensfeldt schneidet im Vorder*
grund Fratzen, und der Priester ist so drollig hilflos, daß
man fast versucht ist, auch das für eine Absicht des Regis«
seurs zu halten: wir sollen nicht ernst werden. Das Ge*
witterchen entlädt sich. Hero fällt zwar in Ohnmacht, aber
Diegelmann poltert seinen Schmerz wie ein echter Komödien*
vater heraus, und da parodiert ihn schon Benedikt, und
Beatrice wird munter und lacht mit, und Benedikt nutzt das
aus und zieht sie an sich und küßt sie, und beide sind glück*
lieh, und es gibt das lustigste Hinundher, und keiner weiß
mehr, daß und warum vor fünf Minuten ein Tränchen ge*
flössen ist — : Viel Lärm um Nichts. Selbst Reinhardt hat
selten mit so sicherem Griff den Sinn eines Stückes gefaßt.
Hier ist er wieder einmal ganz auf seiner Höhe.
Dieser Sinn wird keinen Augenblick verdunkelt oder be*
einträchtigt , sondern naturgemäß nur noch schärfer ausge*
prägt dadurch, daß märchenhafte Rüpelspäße, Exzesse eines
phantastischen Witzes und die Ausgeburten einer delikaten
Farbenfreude immerzu ein festliches Geraschel machen. Die
Bühne dreht sich bei offenem Vorhang, aber gesperrter Be*
leuchtung zu einer reichlichen Tanz*, Tupf* und Tändelmusik,
die den Ton für die Inszenierung anschlägt, wenn sie ihn
nicht von ihr genommen hat. Was wir sehen, ist niemals
überladen; ja, Reinhardt muß sich jetzt schon manchmal
sagen lassen, daß er nicht üppig genug ist. Solange seine
Aufführungen so mitreißend belebt sind wie diese, mag eine
Straße von Messina ruhig ein wenig zu eintönig, ein Kirchen*
ausschnitt meinetwegen unwahrscheinlich schmal sein. Um
diesen Preis wird das Tempo erkauft, das ein Lustspiel nöti*
ger braucht als geräumige Schauplätze. In den meisten Szenen
bleibt übrigens nichts zu wünschen. Leonatos rotausge*
schlagener, kerzenerhellter Saal ist gewiß nicht untauglich
für den Maskenball eines Stadthaupts. Seine Tochter wohnt
in einer blauen Pracht, deren Hauptreiz ihre geschmackvolle
162
Unprächtigkeit ist. Sein Garten, ob man ihn jenseits der
Mauer nur ahnt oder mit seinen riesenhaften Hecken im
Mondschein und bei Tageslicht vor sich hat, ist so weit in die
UnwirkHchkeit stilisiert, daß scherzhaft abwechselnde und
abgezirkelte Belauschungen mit programmäßigem Verlauf
eigentlich nirgends anders stattfinden können. Das alles
stimmt zu heiterer Empfänglichkeit. Aber es ist wertlos,
wenn es Staffage bleibt, wenn wir uns mit unserer Empfang*
lichkeit begnügen müssen und nicht tatsächlich das empfangen,
was Shakespeare lebendig erhalten hat: seine Menschlich*
keiten und seine Menschen.
Da ist es denn freilich wundervoll, mit welch energischer
Handbewegung Reinhardt den Staub von der Komödie ge*
wischt hat, um ihr unsterbliches Teil sichtbar zu machen.
Halb glaubt man es zum ersten Mal zu sehen, halb glaubt
man das nicht nur. Hat man gewußt, was für ein Herr, wie
elegant, von wie junkerlicher Grandezza der Prinz von Ära«
gon Don Pedro ist? Was für rührende Taperfritzen die
Brüder Antonio und Leonato, und was für gute Brüder sie
sich sind? Daß die Kammerzofen Gesichter haben? Daß
Borachio ein Kerl ist? Daß sogar der Gerichtsschreiber her*
vorstechen kann, ohne sich hervorzudrängen? Dies alles
sind kleine Meisterstücke der großen Gestaltungskunst
dieses Reinhardt, die man um so gieriger aufnimmt, je länger
man sie entbehrt hat. Aber auch dies alles wäre wertlos ge*
wesen, wenn nicht von den siebzehn Leutchen, die hier zu*
sammentreten, zusammentreffen, zusammentorkeln, um viel
Lärm um nichts zu machen, die zwei Hauptpaare zu drei Vier*
teln die schauspielerische Vollkommenheit erreicht hätten. Da*
bei ließe sich von drei Hauptpaaren reden, wenn Reinhardt
die Hero für Fräulein Terwin zu schade und Moissi für den
Claudio nicht zu schade gefunden hätte.
Die beiden schwachsinnigen Gerichtsdiener sind, selbst*
verständlich, Waßmann und Arnold. Somit steht ausnahms*
weise Schlehwein gleichberechtigt neben Holzapfel, und das
ist gut, weil durch zweier Zeugen Mund noch überzeugender
n* 163
die Wahrheit all der Spruch* und Bibelworte kund wird,
die von der Nützlichkeit der Dummheit reden. Waßmann
sieht aus wie ein Küken und Arnold geradezu wie die
blinde Henne, die auch einmal ein Korn aufpickt. Was die
beiden treiben, hat einen Stärkegrad der Komik, der seit
Jahren auf keiner berliner Bühne überboten worden ist.
Sie schwatzen viel mehr, als Shakespeare vorschreibt; aber
das bedeutet nicht, daß sie karikieren. Denn sie verdicken
damit nur den Umfang ihrer Rollen, nicht die Konturen ihrer
Gestalten. Im Gegenteil: beide fügen ihrem alten Trottel
einen Zug der Zuneigung zum anderen bei, der ihn verfeinert,
der ihn aus der Clownsphäre in unsere Regionen hebt. Ja,
wenn Holzapfel seinen „lieben alten Schlehwein" zärtlich
tätschelt und mit Innigkeit in der Stimme einen , .guten alten
Mann" nennt, so gehört schon wieder Waßmanns ganze
Drastik dazu, um solche Momente nicht sentimentaler wirken
zu lassen, als es bei dem klaren, germanischen Realisten Shake*
speare angebracht wäre.
So vortrefflich nun, wie diese beiden unwiderstehlichen
Schafsköpfe, passen die Esprits von Benedikt und Beatrice
nicht zusammen, weil die Heims zu wenig davon und über*
haupt nicht den rechten, sondern einen berlinischen hat. Sie
macht ab und zu ein Doppelkinn, ist schnippisch, hüpft
hurtig aus dem hellsten Sopran in den tiefsten Alt und kann
nicht verbergen, wie sehr der Regisseur Reinhardt sich be#
müht hat, seine und ihre Bemühungen um Beatricens spezi*
fische Eingeteufeltheit zu verbergen. Eine Lücke? Nicht nur
daß die Heims ja auch hier eine zuverlässige und herzliche
Schauspielerin ist, nicht nur, daß die Totalität der Vorstellung
zu uneinnehmbar rund und fest geraten ist: vor allem kommt
Bassermann für zwei und mehr auf. Er ist mühelos geistreich,
ist Herr aller Liebenswürdigkeiten und Tollheiten, ist sou*
verän genug, um noch seinen Übertreibungen den rechten
Komödienstil zu geben. Er darf sogar gelegentlich aus der
Rolle herausfallen, weil er auch das in die Rolle einzubeziehen
versteht. Man achte auf Einzelheiten: wie romantisch*grotesk
164
er mit seinem Schatten spielt; welche anmutige Kraft er in
die Maßregelung des Claudio legt; wie wahrhaft berückend
er den Schlußreigen kommandiert. Lichtenberg sagt von
Garricks Benedikt: „Auch in dem Tanz unterscheidet er sich
vor anderen durch die Leichtigkeit seiner Sprünge ; als ich ihn
in diesem Tanze sah, war das Volk so zufrieden damit, daß
es die Unverschämtheit hatte, seinem Roscius encore zuzu*
rufen." Die Berliner fänden dergleichen in einem ernsten
Theater nicht schicklich; aber alle hätten Bassermann gern
länger tanzen sehen. Er ist von echtem Übermut randvoll.
Das ist der ganze Zauber, den er übt. Damit führt er. Da*
mit durchdringt er bis in die letzten Winkel eine Aufführung,
die mir seit dem , Othello' von allen Reinhardtschen Auf*
i^ührungen die beste geworden zu sein scheint.
TANZMÄUSE -
W''as macht dieses .Satyrspiel in dreizehn Momentbildern'
letzten Endes so unerfreulich? Nicht daß es kein so*
genanntes dramatisches Rückgrat hat; nicht daß die Zahl der
Momentbilder unsere Ansprüche übersteigt; nicht daß es
gar keine Momentbilder, sondern meistens Einakter sind. Der
Grund der Geringwertigkeit liegt um eine Windung tiefer.
Der wahre Satiriker ist ein Enthusiast, Prophet, Erlöser, dessen
Sehnsucht durch Enttäuschungen bitter, gallebitter geworden
ist. Der undämonische Mephisto von Kopenhagen aber hat
„seine Freude dran"; ja, er lebt von nichts anderem, als daß
sein Mitmensch schäbig und der Weltlauf grausam genug ist,
um Anlaß zu einem Satyrspiel zu geben. Freilich brauchte
das noch immer kein Einwand zu sein. Warum sollte nicht
ein Dichter einmal ohne jeden Rest von Unzufriedenheit aus
der Vogelperspektive auf das Gehudel unter sich blicken oder
blinzeln und aus vollem Halse lachen? Nur daß ein so un*
bedingt amüsierter Dichter auch unbedingt und im höchsten
Grade amüsant sein muß. Und das ist Wied diesmal leider
nicht. Er spürt es selbst und glaubt, seine Position nachträg*
165
lieh dadurch zu verbessern, daß er seine Spaße in einen pech#
schwarzen Rahmen steUt, eine Nachdenklichkeit vorspiegelt,
die er zum Glück nicht hat, das beneidenswerte Los der ober*
flächlich vergnügten, gierigen, dummen, streberischen, bos*
haften, leeren Menschen tendenziös in Gegensatz bringt zu
dem betrüblichen Los der Charaktere, Talente, Genies. Aber
diese ruckartige Vertiefung macht die Sache schlimmer. Wied
hat falsch gerechnet. Eine Spekulation auf das Zwerchfell
des Publikums droht zu mißlingen. Was tun? Man speku*
liert schnell auf die Tränendrüsen des Publikums — das nun
endlich lacht. Schade, Keinem glaubt man so leicht und gern
wie Wied den guten Willen, an der richtigen Stelle unbän»»
dige Heiterkeit hervorzurufen. Er hat den Wunsch, seine
Tanzmäuse so rapid durcheinanderzuwirbeln, daß sich die
bizarrsten optischen Täuschungen ergeben: daß sie uns als
Schweine, Schafe, Füchse, Wölfe, Geier und anderes \^ehzeug
erscheinen. Er stachelt seine malitiöse Laune. Aber sie bockt.
Jeder Versuch, diese Momentbilder zu lesen, würde mißlin*
gen. Denn was im Kleinen Theater wach erhielt und fröhlich
machte, stammte von Barnowsky und seinen Mitarbeitern,
nicht von Wied.
Man zerbricht sich seit einiger Zeit die Hohlköpfe dar*
über, ob dieser Barnowsky berufen ist, das Erbe des heiligen
Brahm anzutreten. Das ist darum so sinnlos, weil ja Bar*
nowsky von Brahm weder ein Programm noch das Ensemble,
sondern gar nichts weiter als das Haus übernimmt. Wenn
aber schon verglichen werden muß, dann ist es allerdings
eine Ungerechtigkeit gegen Barnowsky, bei einer Regieleistung
wie dieser seiner jüngsten überhaupt an Brahm zu denken.
Mit soviel Witz und Phantasie kommt außer Reinhardt kein
berliner Regisseur einem schwachen Bühnenwerk zu Hülfe,
Es handelte sich darum, dieser dürftigen, nicht übermäßig
zusammenhängenden Folge von Bildern den Kinematographen*
Charakter aufzuprägen, der mit ihrer unzulänglichen Geistig*
keit am ehesten versöhnte, das Auge reichlich beköstigte und
die Dauer einer nicht ganz schmerzlosen Exekution einiger*
166
maßen abkürzte. Bamowsky ließ nun erstens einen scherz*
haften Sondertitel für jede der dreizehn Szenen vor Beginn
jeder einzelnen auf einem dunkeln Vorhang aufleuchten. Aber
damit war noch nichts für die Beschleunigung der Aufführung
getan. Barnowsky hatte also zweitens von seinem Svend Gade
die Ausstattung für jede der dreizehn Szenen auf einen Bett*
schirm von Überlebensgroße malen lassen, der eins, zwei,
drei im stumpfen Winkel zwischen denselben zwei festen,
mit Türöffnungen versehenen blauen Seitenpfosten aufgeklappt
werden konnte. Da sogar die meisten Versatzstücke und
Requisiten gemalt waren, so entstanden allerlei kleine Be*
lustigungen. Über diese gemalten Schaukelpferde stolperten,
in diese gemalten Kakteen griffen Darsteller, die, mit einer
Ausnahme, nicht bedeutend genug sind, um sich selbst zu
loben, aber treu, geschmackvoll und gestaltungskräftig ge=
nug, um dem Regisseur Bamowsky seine mehr als sorgfältige
und saubere, seine künstlerisch untadelige Arbeit zu ermög*
liehen. Wenn man einer Vorstellung nachsagt, daß siebzehn
Schauspieler zweiundzwanzig Figuren erschöpften, so klingt
das wie eine Übertreibung, ohne doch eine zu sein. Dabei
ist das noch gar nichts gegen den Lobgesang, den man auf
Ilka Grüning anstimmen muß. Sie gab nicht nach einander,
sondern durch einander eine Millionärin im gefährlichsten
Alter und eine völlig eingetrocknete Proletarierv\'itwe und
gab sie so, daß man keinen Augenblick diese wahrhaftig
ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit bestaunte, sondern sich
jedesmal von der Blutwärme eines strotzend lebendigen
Menschen unendlich wohltätig berührt fühlte. Das Spiel
dieser seltenen Frau ist bei der äußersten Groteskkomik nie*
mals um eine Spur zu laut; die Reichhaltigkeit ihrer drasti*
sehen Töne scheint unbegrenzt; die Güte, mit der sie auf
ihre Gestalten blickt, veredelt irgendwie sogar die niedrigste
von ihnen. Wled hätte in alle dreizehn Szenen Rollen für
die Grüning hineindichten sollen, und , Tanzmäuse' wären,
mit all ihren Mängeln, ein Riesenerfolg geworden.
167
DIE SCHÖNE HELENA
abwechselnd trifft Reinhardt ins Schwarze oder ganz da*
x~Xneben. Er erneuert zu unserem Entzücken von Grund
auf Werke, die man kaum noch ansehen konnte; und er
schlägt oder drückt andere tot, die eben noch höchst leben*
dig erschienen waren. Demgegenüber wird er für seine
,Schöne Helena' hoffentlich nicht auf die stolzen Kassen*
rapporte zahlreicher Städte Deutschlands verweisen. Das
nämlich weiß ich allein, daß eine so beschaffene Inszenierung
den Gaumen der Plebs aufs wonnigste kitzelt. Hier hat sie:
Klimbim jeder Axt, Massenumzüge, Buntheit, Fett, Lärm,
Kalauer, Exzentrizitäten und, nicht zuletzt, das schmeichel*
hafte Gefühl, von den dii maiorum gentium, von Reinhardt,
Fried und Offenbach die Entzückungen zu erhalten, die
sonst Richard Schultz, Monsieur Meschugge und Victor
Hollaender austeilen. Wohl bekommsl Ich für mein Teil
bleibe hungrig, weil ich wissen will, was ich esse, und das
hier nicht erkenne. Die beiden Köche sind sich nicht einig
geworden. Reinhardt hat Offenbachs Operette für eine alte
Schuhsohle gehalten, die ohne seine üppigen, vielfältigen,
saftigen und pikanten Garnierungen nicht mehr zu genießen
sei; Fried aber hat den erlesensten Leckerbissen vor sich zu
haben geglaubt, von dem jedes einzelne Fäserchen bloßgelegt
und ausgekostet werden müsse. Schon jedes für sich ist
falsch: Offenbach ist weder so abgetan noch so groß. Immer*
hin wäre es denkbar, daß durch eine energische und einheit*
liehe Durchführung die eine oder die andere falsche Auf*
fassung eine Evidenz empfinge, die sie für den Theaterabend
auch künstlerisch erfolgreich, also richtig machte. Aber beides
zusammen geht gewiß nicht.
Mit dem Blumensteg aus ,Sumurün', der sich durchs
Parkett zieht, fängt es an. War er nicht bereits damals zum
mindesten überflüssig? Es entsteht eine Anbiederung der
ein* und abmarschierenden Komödianten an die Zuschauer,
die den groben von diesen wohlgefällig sein mag, den feinen
bestimmt lästig ist. Dazu kommt, daß der umständliche und
168
anspruchsvolle Apparat wesentlich kräftigere Heiterkeiten
und Sensationen verheißt, als sich schließlich ergeben. Wenn
dann die Herrschaften endlich auf der Bühne sind, macht
der Regisseur den zweiten Fehler. Er hat eine Parodie vor
sich. Diese Parodie müßte nun wenigstens naiv gespielt
werden. Aber sie wird noch einmal parodiert und verliert
dadurch an Schlagkraft genau in dem Maße, wie die Berech*
tigung der Mimen, sich über Offenbach zu stellen, abnimmt.
Die Bewußtheit geht bis in die Äußerlichkeiten. Früher trug
solch ein Operettengrieche ein Trikot, einMonocle und einen
Strohhut, und alles schrie. Jetzt ist er über dem Trikot nach
der neuesten Mode ausstaffiert, dreht sich teils in mensch*
lieber, teils in aesthetischer Eitelkeit hin und her und her
und hin, und ich werde schwermütig. Denn das ist das
Malheur: es werden so viele, so gewissenhafte, ja, förmlich
pedantische Vorbereitungen getroffen, um mein Gelächter zu
erkaufen, daß die Pointe mich nicht mehr zahlungsfähig
findet. Wolle Gott, daß meine französische Theatergeschichte
nicht aufschneidet: dann hat die pariser Premiere der , Schönen
Helena' fünfundvierzig Minuten gedauert. Das entspräche
durchaus dem inneren Tempo des Werkes. Wahrscheinlich
hat zwischen Lied und Lied nur gerade der unentbehrlichste
Text gestanden. Erst in Deutschland werden sich die Ko*
miker seiner bemächtigt und ihre Extempores wie eine ewige
Krankheit vererbt haben. Bei Reinhardt ist vollends, was
sich bis zum Jahr 1911 angehäuft hat, von der Elefantiasis
befallen worden. Hier werden die Vierhundertelf besten
Anekdoten des Simplizissimus, das Buch der jüdischen Witze
und zwei Sammlungen von Roda Roda ausgebreitet. Dauer?
Von halb Acht bis Viertel Zwölf.
Und alles ohne Schöne Helena. Die hat man nicht für
nötig gehalten. Ihr Paris singt trefflich genug, soweit ihn
nicht das andächtige Orchester aus dem Cancan ins Maestoso
verschleppt, Kalchas ist ungewöhnlich liebenswürdig, und
Menelaus steht im Mittelpunkt. \X^ie gut muß Herr Pallen*
berg gewesen sein, als er noch nicht wußte, wie gut er ist!
169
Mehr freilich, als daß er heute seiner Wirkungen zu sicher
ist und sich zu lange auf ihnen festsetzt — mehr kann man
ihm nicht vorwerfen. Wie sieht er einem altersschwachen
Affen gleich, zumal wenn er vom Apfel frißt! Wie putzig
ist es, wenn er auf den Thron weniger steigt als fällt und
immer wieder herunterkollert I Wie taktvoll, daß er darauf
verzichtet, diesen Ehemann tragikomisch zu vertiefen! Aber
was nützt das alles? Helena fehlt (trotzdem in Deutschland
viele, in Berlin manche und sogar am Theater des Westens
ein bis zwei Sängerinnen zu haben gewesen wären, die Fräu#
lein Jlona Hajdu aus Budapest an Schönheit, Jugend, Charme
und Esprit übertroffen hätten), und damit fehlt Nerv und
Seele. Sobald in Helena nicht von Anfang an das ganze
Publikum verliebt ist, sollte man die Aktrice allenfalls für Kly*
taimnestren heranziehen. Kurzum: da keine Helena dieses
mächtige Aufgebot an selbstgefälligen, aber auch an ge*
schmackvoll kitzelnden Raffinements gerechtfertigt und be#
schwingt hat, so ist für die Kunst nicht viel herausgekommen.
Was im Gedächtnis haftet, ist eine Vorstellung — gedunsen,
dickblütig, schleppfüßig; für den , Export', nicht für Rein*
hardts beste Freunde.
DER FEIND UND DER BRUDER
Diese Tragödie glaube niemand zu kennen, der sie nur
aus den Kammerspielen kennt. Wenn es in schwierigen
Fällen die Aufgabe des Theaters ist, den Zuschauer aus der
Dunkelheit in die Klarheit zu führen, so hat es hier die Ver#
wirrung erst gestiftet. Denn Moritz Heimanns Buch ist zwar,
glücklicherweise, vieldeutig, aber keineswegs undurchdring*
lieh. Freilich wirtschaftet ein wesentlicher Autor wie dieser
schon mit den tatsächlichen Vorgängen nicht so unbedenklich
herum, daß der winzigste unterschlagen werden dürfte. Des«
wegen hatte man eine Szene von neunzehn Seiten zunächst
einmal vollständig gestrichen. Was hinterher über den Unter*
gang des Stephan Badoer bekannt wird, genügt nicht, um
170
dem Jüngling die Stellung im Drama zu geben, die er braucht,
und die er ja bei Heimann auch hat.
Er ist der Bruder der kaum erblühten Pallas, die ihn
liebt, wie er sie liebt. Beider Stolz auf ein gemeinsames
höheres Menschentum ist so eifersüchtig, daß für keinen
von ihnen ein anderer außer ihrer Mutter überhaupt in
Frage kommt. Aber wie die Luft um das Landhaus der Badoer,
so ist die dramatische Atmosphäre gleich am Anfang unheil*
voll geladen. Das Schicksal in Gestalt des venetianischen
Grafen Barbaro da Brazza streckt die linke Hand nach Ste*
phan, die rechte nach Pallas aus. Des Bruders Leben wird
sinnlos, weil es einen Sinn erst durch den Staat Venedig er?
halten soll und ganz und gar nicht auf Sozialgefühl gestellt
ist; der Schwester Leben wird unrein, weil sie Ersatz für die
erotisch gefärbte Beziehung zum Bruder in der ehebreche«
rischen Liebe zum jungen Tuzio Tuzi findet und nicht weiß,
daß auch der ihr Bruder ist. Stephan treibt der Schmerz
über der Schwester Untreue — nicht gegen den Gatten, son*
dern gegen ihn — zum Selbstmord. Da ist es nun in jeder
Hinsicht der Höhepunkt der Tragödie, wenn die Mutter
vor dem Rat der Zehn den Tod des Sohnes und das Doppel«
verbrechen der Tochter erfährt, jenen beweint, dieses nicht
einmal als einfaches Verbrechen anerkennt, die Zusammen*
hänge aufdeckt, mit der Hoheit einer Erbin und Vererberin
aristokratischen Geblüts ihren Anspruch gegen den Dogen,
gegen seine Abweisung ihres eigensüchtigen Geistes und
seine Verherrlichung des Gemeinwesens verficht und sich am
Ende ruhig verbannen läßt, Pallas aber vergiftet den Boten
ihres Gatten Barbaro, der ihr den Tuzio Tuzi als ihren Bruder
enthüllt, ersticht darauf diesen Bruder, weil ihm ein anderer
doch die Augen öflfiiet, und ersticht schließlich sich selbst.
Über ihrer Leiche behauptet der Graf in einem shakespeari«
sierenden Nachruf, daß nicht er, sondern der Bruder Tuzio
ihr Feind gewesen sei. Die letzte Szene zwischen den Ge*
schwistern hatte bereits das Martyrium dieser wie jeder
großen Liebe, ihren Todeskeim sichtbar gemacht.
171
Das wären die Grundzüge der »Handlung*. Den Inhalt
des , Hamlet* will ich angeben, und getreu und lückenlos an*
geben, ohne ahnen zu lassen, daß wir hier mehr als ein starkes
Drama, daß wir ein Werk voll aller Weisheit der Welt vor
uns haben. Es spricht gegen den Dramatiker Heimann, daß
man seine Fabel nicht nacherzählen kann, ohne zugleich seine
geistigen Absichten anzudeuten. Richtiger: daß man es wohl
könnte, daß aber dabei eine Begebenheit ohne Zweck und
Ziel und Bedeutung herauskäme. Wenn ich mir irgend rieh*
tig erkläre, warum eine so tiefsinnige Arbeit auf keine zehn
Menschen gewirkt hat, dann liegt es daran, daß eben jene
geistigen Absichten früher da waren als die Menschen und
die Aktion, in der diese Menschen sich entfalten. Es sollte
nicht zuerst ein Stück Dasein geformt, sondern der Mecha*
nismus ewiger Kräfte bloßgelegt werden. Aus dem Verfall
der Familie Badoer sprießen nicht allerlei Lehren auf, sondern
diese Familie verfällt, damit allerlei bewiesen werde. Etwa:
daß Inzucht verderblich ist und unter besonderen Umständen
zum Inzest führt. Oder, noch einmal: daß die Tragik der
blutschänderischen Liebe keinen Schutz bietet vor der Tragik
der Liebe. Oder, vor allem: daß zwischen Staat und Indi*
viduum Kampf gesetzt ist, daß aber beide nicht ohne ein*
ander leben können, daß also für das Individuum der Staat
und für den Staat das Individum der Feind und der Bruder
zugleich ist. Es war ja von vornherein sicher, daß bei Hei*
mann hinter einem so mythisch tönenden Titel mehr zu suchen
sein würde, als eine Bezeichnung für das Verhältnis zweier
einzelner Menschenkinder,
Das wären ein paar von den wichtigsten Erkenntnissen,
die für mich aus der Tragödie herausspringen. Aber es ist
trotzdem zu einfach : weil sie Geist im kostbarsten Sinne hat,
und weil dieser wahrscheinlich früher da war als der Körper
— ihr deswegen schlankweg den Charakter einer Dichtung abs
zusprechen. Gewiß, das Werk eines ungewöhnlich skeptischen
Kopfes wird nicht gerade von der Flamme der Leidenschaft
durchglüht sein. Nur ist Heimanns Skepsis mit der Zeit so
172
fruchtbar geworden, daß ein dramatisches Opus seiner Reife
— wenn nicht poetisches Erdreich, so doch zum mindesten
poetische Leuchtkraft haben muß. Seine Gestalten sind wohl
nicht plastisch, aber sie sind transparent. Sie sind nicht von
dunkeln Säften genährt, aber geheimnisvoll am Leben erhalten
durch die Entschlossenheit eines starken Denkers, seine Ge*
danken in keinem kunstunähnlichen Gebilde auszudrücken. So
ist es fast unvermeidlich, daß sie Ich#Psy chologen, Selbst* Analy«
tiker, Theoretiker ihrer Blutnotwendigkeiten, Kommentatoren
ihres eigenen Geschicks werden. Ist das solch Unglück? Sind
das nicht Hebbels Menschen im Grunde auch? Ich erinnere
mich daran , daß man ,Gyges und sein Ring' und .Herodes und
Mariamne' vor sechzig Jahren nicht besser verstanden und
nicht besser behandelt hat als unsere Tragödie, und vertröste
Heimann, falls er Trost braucht, auf die Nachwelt. Sie wird
hoffentlich schärfere Ohren haben als die Mitwelt und Verse
wie diese zu würdigen wissen. Der Philosoph ist voll Musik,
der Grübler hat einen prachtvollen Schwung, der Aufdrösler
führt zugleich einen Hammer. Der Denker ist eben doch
ein Dichter. Es ist bei dieser Doppeltheit Moritz Heimanns
nur natürlich, daß seine Verse einen intellektuellen Rausch
erzeugen. Man liest die anderthalbhundert Seiten drei*, vier*,
fünfmal und entdeckt immer neue Schönheiten, immer neue
Tiefen. Aber freilich: wem hätte die Aufführung der Kam*
merspiele Lust gemacht, das Buch überhaupt kennen zu
lernen!
Selten genug kommen Werke so hohen Ranges auf die
Bühne ; noch seltener werden sie so verstümmelt. Reinhardt
mag Operetten spielen, wieviel er will; er mag das Ausland be*
glücken, wie oft er will; er mag seine Theater aufgeben, wann
er will. Aber solange er noch nomineller Herr im Hause ist,
muß er einigermaßen auf Würde halten, müßte es unmöglich
sein, daß eine Potenz wie Heimann dermaßen geschädigt
wird. Kein Mensch zwingt Reinhardt, Dichtungen so un*
gemeiner Art je darzustellen. Daß er diese annahm, bewies
ein Verständnis, das jeder Kenner des Buches höchlichst pries.
173
Wenn er dann die Lust verlor, so hatte er sich von der Ver*
pflichtung loszukaufen. Niemals aber durfte er das Stück
so mißhandeln lassen. Die Tragödie braucht bei ihrer Kom*
pliziertheit den Regisseur Reinhardt : also erhielt sie Hollaender.
Sie braucht bei der Weite ihres Schritts das Deutsche Theater:
also kam sie in die Kammerspiele. Sie braucht bei ihrer Geistig*
keit Farbe, Sonne, Sinnlichkeit : also wurde sie in das schäbigste
Gewand gesteckt. Sie braucht bei ihrer ziemlich beispiellosen
Gedrängtheit Respektierung jedes Wortes: also wurde min*
destens ein Drittel getilgt. Sie braucht für Stephan, Brazza,
Tuzio Kayßler, Wegener, Moissi: also las man andere,
wesentlich geringere Namen. Auf der Höhe Heimanns und
des Hauses stand nur Mary Dietrich als Mutter. Wie weit
es einem neuen Fräulein Gina Mayer gelungen wäre, die
Entwicklung der Pallas von einer wundervoll unberührbaren
Mädchenhaftigkeit zu einer wundervoll überlegenen Weib*
lichkeit und Menschenhaftigkeit zu verkörpern, war in der
zweiten (letzten!) Aufführung nicht festzustellen, da die junge
Dame als Kranke spielte. Aber auch ein anerkanntes Talent in
blühender Gesundheit hätte den Gesamteindruck nicht ent*
scheidend ändern können. Warum hat Heimann sich das
gefallen lassen? Hat er sich etwa über die Schmählichkeit
der Aufführung getäuscht? Ist es denkbar, daß ein kritischer
Kopf dieses Grades jede Kritik in dem Augenblick verliert,
wo es sich um die Darstellung des eigenen Werkes handelt?
Es ist schwer zu glauben. Wenn er aber klar gesehen und
trotzdem nicht verzichtet hat, dann will ich ihn freilich
nicht länger mit meinem Beileid behelligen. Volenti non fit
iniuria.
DAS FRIEDENSFEST
Dieser Hauptmann! Man glaubt, ihn in* und auswendig
zu kennen. Und wenn man dann eins seiner alten Dramen,
freilich das stärkste, vor einer neuen Aufführung wieder liest,
so entdeckt man, daß man zwar gewußt hat, wie weit es über
174
die Erde, aber nicht, wie weit es unter die Erde reicht. Wie
fest es im Humus wurzelt, wie unaufhörlich es also wächst,
Schößlinge treibt, Kronen ansetzt, dürre Zweige und faules
Laub abstößt, kurz : sein Gesicht verändert. Sieht das .Friedens*
fest' heute nicht wirklich ganz anders aus als vor zweiund*
zwanzig Jahren? Gewiß: ,Vor Sonnenaufgang' auch. Der
Unterschied ist nur, daß das , Friedensfest' in dieser Zeit nicht
älter, sondern jünger, nicht kleiner, sondern größer, nicht
blasser, sondern bunter geworden ist. Keiner denkt mehr
daran, daß es einmal das Schulbeispiel einer , Richtung' war;
daß einmal die Frage nach der Pathologie der Personen die
Sorge um ihr Seelenheil zurückdrängte; daß man einmal im*
Stande und begierig war, den Finger auf die Stellen zu legen,
die den , Einfluß' von Ibsen und Zola und Strindberg ver*
rieten. Der Naturalismus, oder was sich dafür ausgab, war zu
überwinden. Aber dies hier ist eben kein Naturalismus. Dies
ist durch eine Welt getrennt von den Exaktheiten fleißiger All*
tagsbeobachter. Dies ist einfach Poesie: nicht weil am Schluß
durch das Gewölk ein Sonnenstrahl bricht; sondern weil unter
dem düsteren Himmel Menschen wimmeln, die einander und
uns Geschwister sind — die Hitze und Frost schüttelt, die
sich in Angstdelirien winden, die blind umhertasten, die hoch*
streben und niedergeworfen werden, die glauben möchten
und zweifeln müssen, die ihr Geblüt, als sich selber, abwech*
selnd lieben und hassen und öfter hassen, die gestreichelt sein
und streicheln wollen, aber aus Scham über ihre Weichheit
wütend um sich stechen. Es ist das Ziel jedes Tragikers, daß uns
der Menschheit ganzer Jammer anfaßt. Glaubt etwa noch
jemand, dazu der Menschheit ragende V^ertreter oder gar ihre
sogenannten großen Gegenstände nötig zu haben? Was sich
auf diesem Schützenhügel bei Erkner unter den Mitgliedern
der bügerlichen Familien Scholz und Buchner abspielt, ist
weder erhaben noch allzu selten. Trotzdem: es macht mich
erschaudern, sträubt mir das Haar, schlingt mich unwider*
stehlich in seinen dunkeln "Wirbel ein. So grauenhafte Vor*
gänge zusammenzuballen, sind andere Dramatiker auch nicht
175
faul gewesen. Aber das Dichter« und Menschentum dieses
Gerhart Hauptmann hat die mitleidsvolle Gebärde, den eksta«
tischen Blick, die tiefen Naturlaute, die mir das Herz auf*
brechen.
Allerdings darf man das Drama nicht durch Brahm kennen
lernen. Der hält noch im Jahre 1890. Er ist bestenfalls den*
jenigen Jugendwerken seines Hauptmann gewachsen, die nie*
mals eine Zukunft hatten. Die anderen, die sich, mit uns, ent*
wickelt haben, gibt er falsch, nämlich historisch. Aber selbst
historisch gibt er sie nicht gut. Das .Friedensfest' im beson*
deren hat er schon vor dreizehn Jahren nicht spielen können.
Immerhin hat er im Deutschen Theater Schauspieler gehabt,
die sich nicht hindern ließen, wenigstens ein paar Gestalten
für sich zu erschöpfen. Im Lessingtheater dagegen sieht die
Familienkatastrophe so aus : daß ein fleischgewordener Mangel
an Regiebegabung die Atmosphäre zu schaffen verabsäumt
hat, in der die Reste des Brahmschen Ensembles durchweg
den Eindruck von schönen Resten gemacht hätten. Haupt«
manns Vorschriften sind befolgt, aber nicht belebt. Diese
Halle birgt kein Geheimnis, hat keine Geschichte, erzeugt
keine Stimmung. Hier jagt nicht das lebendige Drama vor*
bei, das für uns das , Friedensfest' geworden ist: hier rollt sich
gemächlich das Zustandsbild einer verflossenen Literatur*
periode ab. Hier wird die Hysterie dieser Familie nicht ge*
peitscht: hier wird sie pedantisch auseinandergebreitet. Hier
glühen keine Fieberfarben auf: hier lastet eine einzige Grau*
heit. Man klebt an Hauptmanns Buchstaben, an seiner anfän*
gerhaften Vorliebe für die getreue Wiedergabe des Umgangs*
gestotters. Man soll zwischen fünf Menschen diejenige Ahn*
lichkeit des Wesens erzielen, die alle Zusammenstöße und
Erschütterungen erst herbeiführt und erklärt, und kann sie
nicht einmal zum simpelsten Zusammenspiel abrichten. Wenn
Wilhelm ohnmächtig wird, dann gruppieren sich die Ver*
wandten so hölzern um ihn, daß man auf die Bühne springen
und Unordnung unter sie bringen möchte. Woran fehlt es
hier eigentlich nicht? Es fehlt an den Grundbegriffen und
176
an den Finessen, an Verständnis für jede unalltägliche Dich=
tung und an Phantasie.
Kann man auch nur mit den Einzelleistungen dieser Vor*
Stellung viel anfangen? Reicher ist aus Robert Scholz der
Vater Scholz, aber damit nicht künstlerisch reifer geworden.
In Brahms guter Zeit war fast jeder Darsteller reicher, als er
für seine Rolle zu sein brauchte. Aus diesem Überschuß ahn«
lieh gerichteter Naturen entstand ohne eigentliche Regie die
Luftschicht der Aufführungen, für die wir dem Brahm der
Vergangenheit verpflichtet bleiben. Als Vater Scholz gibt
Reicher gerade einen alten Mann, und nicht einmal diesen
alten Mann, der das Schicksal seines Hauses zur Hälfte ver*
schuldet und doch wieder nicht verschuldet hat. Zur anderen
Hälfte schuldig und unschuldig ist seine Frau. Daß sie hier
nicht genug Gewicht und schwerlich das richtige Gesicht
bekommen hat, muß an der Regie liegen. Denn warum sollte
die Grüning nicht eine Person spielen können, der man es
glaubt, daß sie den Mann aus dem Hause getrieben und die
Kinder falsch erzogen hat? Bei dieser zu leisen, zu unner*
vösen, zu gutartigen Frau Scholz hätte es keine Familienkata*
Strophe gegeben. Man sieht in der Darstellung der Grüning
förmlich alle Kühnheiten der Charakteristik, alle mimischen
Einfälle, die nicht da sind, weil sie den Rahmen, das heißt:
diesen Rahmen gesprengt hätten und darum verboten wurden.
Reinhardts Fähigkeit: die Schwachen zur Höhe der Starken
emporzustacheln. Brahms Fähigkeit: zugunsten der Mittel*
mäßigkeit das Talent zu dämpfen. Da die Eltern nicht stim*
men, hätten die Kinder es selbst dann nicht leicht, wenn sie
alle ausreichten. Fräulein Sussin ist zuzutrauen, daß sie sich
als Auguste in anderer Umgebung mehr herausnehmen würde
als hier. Aber Herr Stieler als ihr Bruder Wilhelm ist ganz
unzulänglich. Für so anspruchsvolle Aufgaben hat er noch
nicht die innere Fülle. Seine Aufgewühltheit glaubt man ihm
um so weniger, je mehr Grimassen sie glaubhaft zu machen
suchen. Vom Künstler Wilhelm Scholz ist nichts als die
Perücke da. Aber man versuche einmal, sie Herrn Stieler
12 177
abzunehmen und dem hoffnungsvollen Herrn Loos aufzu*
setzen, und wir werden kaum merken, daß die Rollen ver*
tauscht sind. Die Forderung des Dichters, daß die Scholzens
eines Blutes scheinen müssen, ist nirgends recht erfüllt. Nur
bei den Brüdern ist sie so übertrieben erfüllt, daß der drama«
tische Gegensatz fast aufgehoben wird. Was bleibt vom ,Frie#
densfest'? Das Friedensfest. Und selbst das ist für Brahm nicht
mehr ganz zu bewältigen. Fräulein Herterichs Ida ist von Zuk*
ker und Anis, nicht von Fleisch und Blut; von Moser, nicht
von Hauptmann; die Tochter Hansi Arnstaedts, nicht Else Leh*
manns. Ich möchte gern noch einmal hören und sehen, wie
die Lehmann als Frau Buchner das Geständnis ihrer Liebe
zu Wilhelm herausstößt, die Hände vors brandende Gesicht
schlägt und in einer jähen Wendung wegstürzt. Aber selbst
ich würde dafür all diese lähmende Gleichgültigkeit nicht
ein zweites Mal auf mich nehmen.
GEORGE DANDIN
Reinhardt scheint, erstens, historisch recht zu haben. Wie
er dieses , Lustspiel in drei Akten mit Tänzen und
Zwischenspielen von Moliere' gibt, fast genau so ist es 1668
in Versailles gegeben worden. Fast. Denn nicht nur fehlt
bei uns von den vier intermedes das vierte, das den betrogenen
Ehemann von der erlösenden Flüssigkeit seines Teiches zu
der betäubenden Flüssigkeit des Gottes Bacchus hinüber*
zulocken versucht: es fehlt ja, vor allem, das Publikum, das
eine Theateraufführung erst rund und fertig macht. Da das
Publikum aber niemals wiederherzustellen ist, so wird eine
historisch noch so richtige Aufführung schließlich doch immer
unrichtig, nämlich unvollständig sein. Was tun? Wie soll
man , George Dandin' spielen? Vor zwanzig Jahren ist diese
Frage in Paris wütend erörtert worden. Der kunstdumme alte
Sarcey entschied, daß der Schauspieler Got mit seiner tra*
gischen Auffassung der Gestalt gründlich geirrt habe, daß
George Dandin für Moliere lächerlich sei, und daß der Re#
178
gisseur kein anderes Mittel habe, das Stück zu bewältigen,
als dieses : de le toumer en bouffonnerie. Lemaitre, der gra#
ziöser schreibt als Sarcey, aber auch kein untrügliches Kunst*
gefühl hat, stimmt begeistert zu. Oh! la la, que d'affaires!
Je relis , George Dandin' et je n'y retrouve rien de tout cela.
Amere! Oh! Dieu, non. Wer den Dichter will verstehen,
muß aus Dichters Lande gehen. Der Übersetzer VoUmoeller
spricht von der „grausamsten Komödie des mitleidlosen
Menschenschilderers", und man begreift nicht, wie sie je*
mals verkannt werden konnte.
Reinhardt scheint also, zweitens, theoretisch recht zu haben,
wenn er die Grausamkeit und die Komödienhaftigkeit des
Stückes gleich scharf herauszuheben trachtet. Trachtet. Er
stellt einen ehrlich leidenden Menschen in eine lachende oder
höchstens spielerisch leidende Umgebung. Von dem Glanz
versunkener Tage beschwört er einen kräftigen Schimmer
herauf. „Nichts als Liebe, Liebe, Liebe" ist das unaufhörHch
gesungene Leitmotiv dieser glücklichen Schäfer und Schafe*
rinnen. Sie tanzen durch einen bald sonnigen, bald verführe*
risch dunkeln Rokokopark, in dem sich die Küsse wie Nachti*
gallengezwitscher anhören. Sie hüpfen aus eingebildetem
Gram über den schöngeschwungenen Sandsteinrand eines
Karpfenbassins, aus dem sie zwar mit mächtigen Netzen
herausgefischt werden müssen, aber in dem es sich offenbar
auch für eine höhere Klasse der Wirbeltiere stundenlang
leben läßt. Man merkt, worauf es hinausgeht: Phantastik;
Spielzeugschachtel; Getändel; Ballett; porzellanene Pierrot*
traurigkeiten ; Kontraste des Rüpeltums; Gequäk der quer*
gehalsten Flöte und Empfindsamkeit des Spinetts; Lully ; Louis
Quatorze; der Schein, der nie die Wirklichkeit erreichen soll
und sie hier durch ein Bindeglied doch erreicht. Von der
Schwerlosigkeit dieses Schäfertums, das so unreale Namen
trägt wie Tirsio und Philen und Cloris und Climene, fühlt sich
die Flatterhaftigkeit eines Adels angezogen, dessen jauchzende,
aber oberflächliche Daseinsfreude sich weder trüben noch
vertiefen würde, wenn er ahnte, wie es ihm hundertzwanzig
12*
179
Jahre später ergehen wird. Dichter und Regisseur sind sich
in der Schilderung dieser Schicht einig. Sie lebt nicht aus
sich, sondern führt eine marionettenhafte Existenz. Sie voll«
zieht ihre Begrüßungszeremonien zum Takt der Musik, ist
in jeder Beziehung abhängig vom leersten Formelkram und
bezahlt ihr neumodisches Schloß mit dem Gelde des Bauern,
den sie zum Dank verachtet und mißhandelt. Damit sind
wir bei der Tragik des Stückes. War es wirklich Gots Schuld,
daß die Pariser von 1891 aus dem Theater gingen — oppresses
et tristes ä mourir? Ich wüßte nicht, wie ein Darsteller, er
sei denn ein unvernünftiger Possenreißer, diesen Eindruck
verhüten sollte. Daß George Dandin sich sein Schicksal
selbst bereitet hat und das einsieht, kann unseren Anteil
nicht vermindern. Auch nicht, daß die Frau aus zarterem
Stoff gegen dieses plumpe Element, das ihre verarmten Eltern
ihr aufgezwungen haben, sich mit Fug empört. Es kommt
mit unerbittlicher Konsequenz, wie es kommen muß. Daß
es so kommt, stimmt tieftraurig. Daß es so kommen muß,
daß man für alles einmal bezahlt, daß man um so teurer be#
zahlt, je weniger man schuld und schuldig ist: das ist der Lauf
der Welt. Darüber könnte man wieder lachen. Aber wer ein
Ohr für die Dominante von Dichtungen hat, der hört, daß
dem Mann der Armande Bejart hier das Lachen vergangen ist.
Mit seinem Ebenbild, mit dem Sprachrohr seiner Qualen,
mit George Dandin lächern wollen, hieße also literaturge«
schichtlich fälschen. Das wäre nicht schlimm. Nur hieße es
auch psychologisch fälschen. Deshalb würde es gar nicht
gelingen. Das weiß Reinhardt, Er hat überhaupt mit den
meisten Einzelheiten der Aufführung historisch und theo«
retisch recht. Aber ....
Was soll der Theatermann in erster Reihe? Den Augen«
blick, der sein ist, ganz erfüllen. Was darf er um keinen
Preis? Den einen Augenblick, für dessen Dauer er mich in
der Gewalt hat, unausgefüllt lassen. Er mag gegen alle
Historie mein Herz und gegen alle Theorie mein Zwerchfell
erschüttern. Aber ich pfeife auf seine sämtHchen Tugenden,
180
*
wenn er mich langweilt. Lieber will ich schlechter werden
als mich ennuyieren. Nun denn: diese betont vollständige
und nach Möglichkeit stilgetreue Aufführung ist zu einem
beträchtlichen Teil langweilig. Es war ein schädlicher Ein«
fall, den Charakter der Zwischenspiele zu verändern: sie ab
und zu in die eigentliche Handlung und die Handlung
wieder in sie übergehen und die Figuren beider Welten mit
einander in dramatischen Verkehr treten zu lassen. Wenig*
stens ist dieser Einfall zu pedantisch durchgeführt worden.
Er hat Wiederholungen hervorgerufen, die aufhalten und
lähmen. Das ist ja seit einiger Zeit der Geburtsfehler von
Reinhardts Einfällen: daß sie eitel sind und von sich selber
nicht genug kriegen können. Davon bekommt solche Auf*
führung häufig einen Embonpoint, der sie verhindert, sich in
dem Rhythmus vorwärts zu bewegen, der des Werkes Rhyth*
mus ist. Bei diesem Werk aber weiß man nicht einmal,
welches sein wahrer Rhythmus ist. Denn es sind doch eben
zwei Werke: eins, das Moliere mit seinem Blut, und eins,
das er auf Bestellung geschrieben hat. Auch darum, und
darum besonders, war es falsch, die beiden Teile nicht aufs
schärfste zu trennen. Dandin mußte fest und breit die Erde
treten, zu der er gehört, und die anderen mußten um ihn
herum, an uns vorbeihuschen. Vollmoeller hat den Sinn des
Spiels gedeutet: der nackte Mensch in einer Welt von Larven.
Weshalb aber hat er seine Deutung nicht auf der Bühne
durchgesetzt? Wie sollte dieser Sinn aufleuchten, da Dandin
als Pierrot geschminkt, also dem Anschein nach eine Larve
war wie die anderen? Oder hat Reinhardt darauf vertraut,
daß Victor Arnold auch mit der Larve unter Larven die ein*
zige fühlende Brust sein würde? Dann hat ihn Arnold frei*
lieh nicht im Stich gelassen. Dieser Dandin wäre selbst im
Bauerngewand kein Bauer gewesen: aber er war und ist
immer ein Mensch. Er erregt bald Mitleid, bald Grauen und
niemals Heiterkeit. Er hat ergreifende Augenblicke des
Schmerzes, Augenblicke im wörtlichen Sinne, und durch*
dringend lautlose Töne des Hasses gegen ein Geschlecht, das
181
ihm ungleich, und dem er nicht überlegen ist. Aber was
hatte man von dieser Meisterleistung eines Humoristen, der
vor unseren erstaunten Augen von Mal zu Mal wächst?
Reinhardt hatte es sich stilecht gedacht, Dandin mit seinen
Nöten ans Publikum zu verweisen; und so mußte Arnold
die eigene Gestaltung immer wieder zerbrechen und die
einzelnen Stücke von fremdem Gerank überwuchern lassen.
Es entstand keine Einheit der Stimmung, des Tempos, des
Interesses. Schade nur, daß dieser Mangel den äußeren Er#
folg eher herbeirufen als verscheuchen wird. Sonst nämlich
gäbe es für mich keinen Zweifel, wie dem , George Dandin'
mit Arnolds George Dandin ein großer künstlerischer Erfolg
zu bereiten wäre. Man dürfte nicht den Abend mit einem
Stück füllen wollen, das in Deutschland noch nie den Abend
gefüllt hat. Das Motiv ist in anderthalb Stunden und schneller
erschöpft. Um es uns einzuprägen, braucht man Larven, ge#
wiß; aber nicht unbedingt die Larven der Zwischenspiele.
Die Larven der Komödie genügen als Gegenspiel. Man
wende ihnen mehr Aufmerksamkeit zu, dränge Dandin mit
seinen Leiden nicht über die Rampe, gebe der Firma De Wit
in Leipzig ihr Spinett zurück und schicke dem Moliere die
,Mitschuldigen* oder den , Zerbrochenen Krug' voran — und
man wird eine klassische Komödienvorstellung haben, die
wahrscheinlich sehenswert sein wird.
WEH DEM, DER LÜGT!
Weh dem, der lügt, indem er bestreitet, daß diese Vor*
Stellung des Königlichen Schauspielhauses durch ihre
Schalheit und Stillosigkeit eine förmlich körperliche Pein be*
reitet. Was tut Herr Lindau eigentlich in der Zeit, wo er nicht
den ,Austauschleutnant' für die nächste Saison erwirbt und
bei Sigwart Friedmanns siebzigstem Geburtstag deutsches
Schrifttum und deutsche Theaterkunst zugleich vertritt? Selbst
diese Leistungen müßten ihm Kraft lassen, auf die General*
probe solch einer Neueinstudierung zu kommen. Dann aber
182
müßte er schon nach fünf Minuten zu dem Regisseur (Keßler)
hinaufschreien, weshalb er denn aus den vielen ungeeigneten
Dekorationen gerade eine sommerliche Gartenvegetation her*
ausgegriffen habe, wenn, nach Leons Behauptung, die Szene
in rauher und kalter Frühlingsluft spielt! Man darfauch sonst
nicht hinsehen. Die Bühne ist vollgestopft mit hunderterlei
toten Gegenständen, die deshalb noch keine künstlerische
Daseinsberechtigung haben, weil sie vielleicht in einer wirk*
liehen Landschaft anzutreffen sind. Am Opernhaus ist Gregor
nicht spurlos vorübergegangen: nach allen Eindrücken des
Theaterjahrs behauptet sich Herrn von Hülsens, Rosenkavalier'
als einer der stärksten. Warum versperrt sich das Schauspiel*
haus so stumpfsinnig gegen Reinhardts , Errungenschaften',
denen es sich nach zehn, zwanzig Jahren ja doch öffnen wird?
Das Prinzip der Zahmheit ist in diesem Hause so mächtig,
daß Troglodyten und Christenmenschen kaum von einander
unterschieden werden. Bei Kattwald wird ungefähr so bar*
barisch gekneipt wie um die Polizeistunde in unserer »Hopfen*
blute'. Dann wieder läßt man das betrunkene Untier eine
Solonummer aufführen, die Reinhardt einmal wagen sollte.
Ergo: man ist nicht derb, wo es die Charakteristik verlangt,
sondern nur, wo man die albernsten, die übelsten Posseneffekte
herausschlagen kann. Grillparzers halb sanft*moralisches,
halb märchenhaft*rüpliges Lustspiel ist im Schauspielhaus ein
süßlichspappiger Koppel*Ellfeld mit gelegentlicher Berück*
sichtigung eines knotigen Galeriegeschmacks.
Das brauchte es nicht einmal hier zu sein. Freilich wäre
dazu nötig, daß dem schwächsten Regisseur der erträglichste
die Arbeit abnähme und in ihrem Interesse auf die Aussonde*
rung der unzulänglichsten Beamten bestünde. Am besten ge*
rät Galomir, weil Herrn Vallentin die ergiebige, trotz oder
wegen der Unartikuliertheit des Textes ergiebige Rolle zu keiner
der üblichen Übertreibungen verleitet. Und als Kattwald zeigt
Herr Zimmerer, soweit ihn eben die törichte Regie nicht
schädigt, daß seiner Begabung Unrecht geschieht, wenn man
ihr heldischen Ernst abfordert. Damit ist das Lob der Dar*
183
Stellung erschöpft. Der Darsteller des Atalus dürfte noch
nicht als Solist beschäftigt werden, und sein Onkel . . . O laßt
uns wahr sein, vielgeliebte Brüder, so schwer es fällt, bejahrten
und nicht verdienstlosen Männern harte Worte zu geben.
Was ist aus Herrn Pohl in dieser Umgebung geworden! Er
geht nicht mehr, sondern wackelt; er blickt nicht, sondern
rollt die Augen; er öffnet den Mund nicht, sondern kriegt
einen Kieferkrampf; er spricht nicht, sondern zischt; und er
ist nicht der Bischof von Chalons, sondern der Rebbe von
Rogasen. War kein Kraußneck da? Die Lehrhaftigkeit ist ein
Wesenselement dieses Lustspiels, kein bloßer Zusatz, und seine
Weisheiten wollen verkündet, nicht zernuschelt sein. Aber
es kommt der Leitung dieses Theaters offenbar weniger darauf
an, eine Dichtung zur Geltung zu bringen, als irgendwelche
geheimnisvollen Gesetze der Anciennität zu befolgen. Wie
wäre es sonst möglich, daß man bei Edriten an eine andere
als an Helene Thimig, daß man gar an Fräulein Arnstaedt ge*
dacht hat! Die Literaturgeschichte macht sich darüber lustig,
daß bei der Premiere das Naturkind von der Heroine Julie
Rettich auf den Kothurn gestellt worden ist. Aber man male
sich die Poppe als Edrita aus, und man wird sie bei weitem
einer Salondame vorziehen, die nichts als eine flaue Geleckt«
heit einzusetzen hat und nur darum nicht so auf die Nerven
geht wie ihr Leon, weil sie nicht auch die Unbescheidenheit
der Mittelmäßigkeit hat. Herr Clewing nämlich ist nicht
wiederzuerkennen. Kann das Schauspielhaus ein Talent in
einem Jahre ruinieren? Andere Talente haben sich selbst hier
Jahrzehnte lang gehalten. Ist sein Entdecker Bernauer ein so
großer Regisseur? Das hat er sonst noch nicht bewiesen.
Hat Herr Clewing bisher nur das Fach der dankbaren Rollen
gespielt? Leon ist wahrhaftig eine der dankbarsten Rollen,
und Herr Clewing spielt sie schrecklich. Er hat nicht die
Schlauheit Leons, sondern des gefallsüchtigen Komödianten,
der jede Augenblickswirkung herauskitzelt, unbekümmert um
die Grundlinien der Gestalt, ja, um die Glaubhaftigkeit der
Situation. Wenn Kattwald von Atalus spricht, benimmt sich
18-i
Herr Clewing so, daß das gefräßigste Monstrum Leons Be*
freiungsabsichten durchschauen und ihn unschädlich machen
würde. Dieser Leon ist gewandt, aber nie graziös, gefühls*
nüchtern bis zur Hundeschnäuzigkeit und so glanzlos und
poesieverlassen, daß sogar das berühmte Gebet verpufft. Wahr*
scheinlich haben wir Herrn Clewing überschätzt. Keinesfalls,
das steht nach dieser Probe fest, wird er stark genug sein,
um das Klima unserer Hofbühne zu vertragen.
DIE FALSCHE NESTROY.FEIER
Vor fünfzig Jahren, also viel zu früh, ist Johann Nestroy
gestorben. Das Neue Schauspielhaus, als einziges berliner
Theater, beschloß, durch eine Gedenk*Aufführung sich selber
zu ehren. Aber statt ein einzelnes Stück von Nestroy zu be*
leben, ließ es zwei einander totschlagen. Das Rezept vom
Rollmops und der Chocoladensauce taugt auch für die Bühne
nicht, es sei denn, daß sie völlig auf die Unterlage eines
mehr oder minder literarischen Textes verzichtet. Als der
,Talisman' nach zwei Akten durch zwei Szenen von ,Judith
und Holofemes* unterbrochen wurde, da wars um die Persi*
flage geschehen. Kein Wunder. Welch ein drolliger Wider*
Spruch, Nestroy als einen Autor anzusehen, der nach einem
halben Jahrhundert noch gefeiert zu werden verdient, zu*
gleich aber als einen Autor, an dessen Werken man beliebig
herumschnipseln darf, um sie bequemer übereinanderstülpen
zu können! Weil es Possen und Persiflagen sind? Die Re*
spektlosigkeit dieser Hebbel*Travestie ist nicht bloße Un*
Verschämtheit. Wenn satirische Tief blicke in die Eingeweide
eines Dichters diesen töten könnten, müßte Hebbel oder
doch seine ,Judith' seit Jahrzehnten tot sein. Daß beide noch
leben, daß sie diese Parodie überlebt haben, spricht für ihre,
aber auch für Nestroys Stärke, der nicht nötig hatte, sich
mit Kleinigkeiten abzugeben. Hebbel selbst verkennt „durch*
aus nicht sein gesundes Naturell". Für uns heißt das so viel,
daß Nestroy das schärfste Ohr für klingende Phrasen, für
185
geschraubten Ernst und verstiegene Gewichtigkeit hat. Was
ist Holofernes denn Großes? fragt er, und sobald die Frage
überhaupt gestellt wird, ist es allerdings mit seiner Größe
aus. Es ist ein Triumph für Nestroy und die beste Legiti*
mierung seiner Satire, daß er die Tiraden des Holofernes
gar nicht immer zu persiflieren braucht, sondern zum Teil
wörtlich aus Hebbels Text übernehmen kann, ohne daß man
einen Unterschied merkt und zu lachen aufhört. Man hört
erst in Bethulien zu lachen auf, und auch das ist lehrreich.
Satire ist die Bundesgenossin der Kritik, ist selber Kritik
und fruchtbarste Kritik. Was vor der Kritik bestehen kann,
ist kein Objekt der Satire. Die Szenen in Bethulien sind
unantastbare Meisterstücke; also prallt selbst Nestroys Witz
an ihnen ab. Aber wo der Größenwahn der Judith und die
Gottähnlichkeit des Holofernes Funkenschlagen mit einander
spielen: da trifft dieser Witz wieder ins Schwarze.
Nestroys Persiflage wird so lange bleiben wie Hebbels ,Ju*
dith' selbst; und von Nestroys Possen hat der Dichter dieses
Dramas, als er sich bereit erklärte, für einen ihrer Witze eine
Million gewöhnlicher Jamben zu opfern, nicht einmal genug
gesagt. Denn es sind ja nicht bloß Sammlungen von Witzen,
sondern geschlossene Gebilde. Gewiß hat Nestroy vielen
seiner Figuren das lose Mundwerk gegeben, das er selber
hatte. Daraus sprudelts von kaustischer Bosheit und bitterem
Sarkasmus, von ungemütlichem Spott und gottlosem G'spaß.
Aber das ist nicht alles. Diese stechend und schlagend
witzigen Reden mitanzuhören, ist mehr als erheiternd, weil
sie von einer bewundernswerten Sprachkunst zugeschliffen
sind; sie zugeschliffen zu haben, ist mehr als eine feuille*
tonistische Leistung, weil die Sprecher doch auch irgendwie
Gestalten werden. Nestroy war mit seiner Vaterstadt ver*
wachsen und hat von ungefähr den Lebensinhalt ihrer Be*
wohner in Typen verkörpert, die sich über die Vergänglich*
keit der primitiven Mache hinaus ihre Echtheit erhalten
haben. Titus Feuerfuchs, der in jeder Haarfarbe eine andere
üppige Wittib perückt, aber schließHch ehrlich und dankbar
186
an einer kargen Feuerfüchsin hängen bleibt: er ist Wiener
und Mensch und ein kleines Sinnbild fürs Oesterreichertum
zugleich. Will man ihm ein Gegenstück in der ,höheren'
Literatur dieses Landes suchen, so findet man es in Grill*
parzers Rustan. Diesen Feuerfuchs nun herzunehmen und
aus heiler Haut einen schmählich kastrierten Holofernes
gaukeln zu lassen; seine Partner in dem Augenblick, wo sie
gerade in unserer Vorstellung Wurzel fassen, als geists= und
leblose Puppen in den Zuschauerraum zu verteilen; zugunsten
eines so verbrauchten Einfalls Nestroys Couplets zu streichen
und das Schlächter* und Stopplerwerk durch den abge*
schmackten Titel ,Titus und Salome bei Judith und Holo*
fernes' zu krönen: Herr Halm wird sich inzwischen selbst
gesagt haben, wie ahnungslos, wie barbarisch er mit alledem
gehandelt hat. Am meisten wird ihm Herr Eugen Burg
grollen. Dem hat er die Komik seines Titus unnötig ge#
schmälert, indem er ihn mitten im besten Zuge zu einem
Holofernes zwang, nach dessen Hintritt wie die ganze Posse,
so ihr Held kein rechtes Leben mehr gewinnen wollte.
Nestroy ehren, ist Verdienst; aus Nestroys Humoren berliner
Bouletten machen, ist Verbrechen.
KITSCH UND KULISSENWARE
Es muß schon schlimm kommen, wenn man sich in den
Wochen der Erdbeeren, des Spargels, der Destinn, des
.Monsieur de la Palisse', der Batistblusen, des Zyklus heiterer
Opern und der Reisepläne ärgern soll. Aber die , Spiele ihrer
Exzellenz' sind so schlimm. Das geht denn doch nicht. Das
läßt man selbst als Sommertheaterdirektor, selbst als Erbe der
Komischen Oper von Frau Aurelie Revy ruhig in der süd*
östlichen Gegend, auf die der eine Autorname Zoe Jekels
hinweist. Der Sozius Rudolf Strauß hat in der , Goldenen
Schüssel' einen unwählerisch derben Geschmack, aber auch
Talent gezeigt. Hier fragt es sich, was peinlicher ist: die
Talentlosigkeit oder die Geschmacklosigkeit. Das einfachste
187
Schicklichkeitsgefühl hätte noch so gierigen Sensationsmachern
zu sagen, daß man einer ordinären Moritat, die mit der Maurer*
kelle fürs Panoptikum hingeklext wird, als Hintergrund nicht
die russische Revolution malt; daß man deren Größe, den
schwermütigen Zauber ihrer sehnsüchtig aufbegehrenden,
namenlos verreckenden oder gebrochen resignierenden ,Hel*
den' nicht zu schäbigen Kraßheiten ausbeutet. Unappetit«
lichstes Schmarotzertum ist es, für das es nicht einmal die
Rechtfertigung gibt, daß wenigstens die illegitimen ,Wir*
kungen' ihre Schuldigkeit tun. Man lacht, so oft Bomben
geschmissen, Revolver gehoben und Dolche geredet werden,
und es gruselt einen immer nur da, wo nach Esprit geschnappt
und Aphorismen geschmatzt und geschweinigelt werden. So
nämlich, wie sich hier russische Aristokraten unterhalten, stellt
man sich den Verkehrston in budapester Bordells vor, die
aber wohl, um Geschäfte zu machen, ein bißchen mehr Charme
anbieten müssen. Die meisten Plumpheiten hat Fräulein Wüst
hinzulegen. Man würde sich für sie als Frau schämen, wenn
sie nicht die liebenswürdige Fähigkeit hätte, durch parodistische
Nebengeräusche den lästigsten Text zu übertönen. Herr Halm
aber könnte einem leid tun. Er war nicht von vornherein
entschlossen, sich dem Schund zu verschreiben. Auch diesen
Winter hat ihn erst die Not in solche Regionen getrieben.
Freilich : wohin er gehört, weiß man nach sechs Jahren noch
immer nicht. Seine Experimente sind letzten Endes wertlos,
weil ihm jede Physiognomie fehlt. Aber nicht minder fehlt
ihm die besondere Begabung, ein Stück zu finden, das von
Leben und Kunst weit genug entfernt und dabei theatersicher
genug ist, um ein breites Publikum zu unterhalten.
.Mein Freund Teddy' ist solch ein Stück. Wenn die Kammer«
spiele es, statt im Mai, im Oktober gegeben hätten, so wäre
es bis in den Mai hinein gegeben worden. Das heißt, daß
die Kammerspiele ihrer ursprünglichen Bestimmung längst
entfremdet sind, und daß sie sich ihrer nur zu erinnern brauchen,
um gemieden zu werden, daß sie ihrer nur zu spotten brauchen,
um überfüllt zu sein. Dieses Lustspiel von Andre Rivoire
188
und Lucien Besnard ist jenes harmlose, sanfte, behagliche,
sympathische, rechtschaffene, gutgelaunte, saubere, freund*
liehe, gemütvolle und gottverlassene Konversationsstück der
siebziger Jahre, in dessen Verachtung wir von der Freien Bühne
aufgezogen worden sind, und das jetzt aus Paris zu uns zu*
rückkehrt. Was einmal war, in allem Glanz und Schein, Es
regt sich fort; denn es will ewig sein. Oder werden künftige
Jahrzehnte einen besseren Salonhelden erzeugen als den Jung*
ling aus der Fremde, der . . . ja, gibt es etwas, was unser Freund
Teddy nicht kann? Nämlich außer der deutschen Sprache —
aber selbst dieses Manko ist für sein Bühnendasein eine un#
erschöpfliche Tugend. Sonst plätschert er noch im Golde,
lenkt die Geschicke, löst Ehen, knüpft neue, macht glücklich,
wird glücklich und ist wesentlich talentvoller als der liebe
Gott, weil ihm nichts schief geht. In der ersten Szene sagt
er, wie es kommen wird, und ob ihrs glaubt oder nicht: genau
so kommt es auch. Wer nicht weiß, daß es genau so kommen
wird, weil er Teddys Väter und Vettern nicht kennt, ist un*
säglich gespannt. Wer es weiß, hält sich an die Darstellung
und wünschte, sich zügelloser über sie freuen zu können.
Wie posensch sich Herr HoUaender französische Minister, Ge*
sandtschaftssekretäre und Kunstberühmtheiten ausmalt, erfährt
man hier nicht das erste Mal; auch nicht, daß Frau Bertens
zu der Verwechslung neigt, eine aufdringliche Frau mit den
Künsten aufdringlicher Schauspielerei herzustellen ; auch nicht,
daß . . . Aber es ist das Geheimnis von wahren Menschen
und wahren Begabungen, daß sie immer wieder neu erscheinen.
Was Waßmann und die Heims hier zeigen, werden sie früher
erreicht und überboten haben. Trotzdem bildet man sich ein,
sie nie so leicht und hell und schön und innig, ihn nie so warm
und fest und delikat und putzig gesehen zu haben. Man mag
es beklagen, daß man kein wertvolles Stück zu diesen wohl*
tuenden schauspielerischen Schöpfungen zubekommt; aber
den Genuß an ihnen beeinträchtigt es nicht.
189
VON GIRARDI
Nach Jahren soll man ihn wiedersehen. Aber weder als
Valentin noch als alten Weigelt, der ja durch ihn gleich*
falls zu einer Gestalt von Raimund geworden ist; noch in
einer ähnlichen Aufgabe. Sondern in irgendeinem wiener
Fabrikat von heute. Es wird vom Schema kaum abweichen.
Danach werden wohl wieder einmal ein paar Gesangstexte
zu einer Art Operette, ein paar Narrenzüge zu einer Haupt*
und Gastierfigur zusammengemanscht worden sein. So ist
man darauf gefaßt, über Girardis Leistung zu lachen und
über sein ,Los' wehmütige Betrachtungen anstellen zu müssen.
Aber es kommt ganz anders. Man bemerkt keine Musik,
keinen Dialog, keinen Partner, die dieses Künstlers unwürdig
wären: man bemerkt nur ihn, am ersten, am siebzehnten Abend
nur ihn, und ist eben deshalb weit davon entfernt, ihn zu
bedauern. Nie vorher habe ich die schöpferische Gewalt des
wahrhaft großen Schauspielers so stark empfunden. Denn
wenn Mitterwurzer den Coupeau, Matkowsky den Kean,
Kainz den Janikow, Bassermann den Narziß spielte, so stan*
den sie in einem wertlosen Stück, aber in einem Stück, und
hatten als Material eine unmenschliche Rolle, aber eine Rolle.
Girardi hat nichts, das heißt: nichts als sich — also doch genug.
Er schleudert sich auf die Bühne, als wäre er kein Sech*
ziger, sondern ein Zwanziger. Mit Schritten, die einen Meter
lang sind, nimmt er sie in Beschlag und uns. Aus dem Gang
jedes Menschen will ich sein Wesen erkennen. Wie gar ein
Schauspieler vor uns tritt oder schleicht oder springt: das ent*
scheidet fast immer für ihn oder gegen ihn. Dieser hier rüt*
telt uns auf, spannt uns an, schärft unseren Blick und unser
Ohr, noch bevor er den Mund geöffnet hat. Er scheint die
,Frohnatur* eines Gemeinwesens zu verkörpern, das sich selbst
genügt oder doch ehedem genügte und heute noch sich lie*
ber an sich selbst berauscht als Einkehr hält. Diese Frohnatur
blitzt dem Girardi aus den Italieneraugen, leuchtet ihm um
den feinen Mund, zuckt ihm aus allen Gliedern eines wunder*
bar geschmeidigen Leibes. Sein Gesicht gleicht einer Ver*
190
einigung von Kainz und Emil Thomas, Schlichtheit und Grad
der Künstlerschaft erinnern uns am ehesten an Vollmer. So*
bald Girardi nur an die Rampe und an ihr entlang geschos*
sen ist, dem Chor abgewinkt und sich für sein Antrittslied
in Positur gereckt hat, ist uns klar, daß der Mann allen Gefah?
ren einer vierzig Jahre währenden und wärmenden Berühmt«
heit entgangen ist: daß ihm auch für die Operette das Gesetz
der Einfachheit in unverbrüchlicher Geltung steht.
Dann beginnt er, Unsinn zu singen. Aber wichtig ist nur
die Tatsache, daß er singt, weil sich im Gesang die blühend
reiche künstlerische Persönlichkeit: Alexander Girardi entfal*
ten wird. Vielleicht war die Stimme einmal frischer und grö*
ßer. Das ist durchaus unerheblich. Ihr eigentlicher Zauber
ist unversehrt: daß in ihr Blutvs'ärme, Lebensfreude, un wider*
stehliche Liebenswürdigkeit, Noblesse, Zartheit, Naivität und
alle übrigen guten Gaben einer vollen Menschennatur schwin*
gen und klingen. Mit seiner Stimme müßte Girardi die Gemein*
heit selber adeln. Einzig auf diese Stimme kommt es an. Im
Ernst: der Text könnte das Alphabet, die Musik von Paul
Ottenheimer sein.
Aber sobald der Text ein bißchen ergiebiger ist als das
Alphabet, triumphiert noch eine Tugend des Künstlers, die
für mein Gefühl artistisch nicht geringer zu schätzen ist als
Kainzens Fähigkeit, einen Monolog zu durchleuchten, zu
gliedern, zu steigern. Wie Girardi eine Pointe abschnellt, einen
Vers schattiert, eine Strophe aufbaut und das ganze Couplet
zu einem runden Kunstw^erk erhöht: man sollte meinen, daß
auch ein unbegabterer Librettist das nur einmal zu beobachten
brauchte, um davon für immer zu profitieren. Ein frommer
Wahn. Man sehe sich an, was für Lieddichtungen solch ein
Buch zieren, und was für Reden sie mit einander verbinden.
Zum Glück müssen schon andre als Girardi diese Reden
halten, damit man sie überhaupt hört.
Er nämlich schämt sich ihrer und unterschlägt oder erschlägt
sie. Er ersetzt sie entweder durch die gewissen altbewährten
Bühnenscherze, die in seinem Munde wieder jung und schön
191
werden, oder er macht Dialektkunststücke, die freilich nichts
vom Dialog übriglassen. Er zerfetzt die Sätze, zerkaut die
Worte, zerreibt die Konsonanten, gurgelt die Diphthonge und
brummt oder trillert die Vokale — eine erquickend Volkstum*
liehe Musik, die wieder ganz Girardis Eigentum ist. Was
stammt denn eigentlich von den Lieferanten des Rollenheftes?
Sie schreiben an einerStelle einenSchwips, an einer anderen einen
Tanz vor. Nun ja: ohne ihre Vorschrift würde Girardi weder
torkeln noch tanzen, also auch nicht so überwältigend drastisch
und dabei förmlich aetherisch torkeln, nicht so graziös, so
elegant, so erstaunlich jugendlich tanzen. Aber jene Vorschrift
ist für diese Leistung nicht notwendiger, als daß vor zweiund*
zwanzig Jahren der Zimmermeister Prause ein paar Bretter
zur Bühne des Lessingtheaters zusammengeschlagen hat.
Ein einzigartiger Mensch, dessen Kunst aus noch rätsei*
hafteren Untergründen strömt als alle echte Kunst. Denn:
dieser Possenreißer ist auch da keiner, wo er offenkundig
Possen reißt. Auch da verliert oder verleugnet seine Stimme
nicht ihren besonderen Ton, der an Beseeltheit dem Ton von
Ysayes Geige nichts nachgibt. Es besagt noch immer zu
wenig, daß dieser Ton voll Bewegtheit und dabei zu unend*
lieber Milde sublimiert ist. Es ist in dem Rhythmus seiner
Vibrationen und der zwingenden Kraft seines Anlasses ein
lyrischer Ton, und wer ihn vor Gericht stellen wollte, müßte
selber Lyriker, nicht Kritiker sein. Herrlicher Girardi! In
seiner Nähe wird das Dasein reicher. Man lacht, so oft er
anhebt. Aber lange bevor er geendet hat, ertappt man sich
in einem Zustand der Rührung, der Verzückung und der Ver*
sunkenheit, in den einen nur die Genies hineinreißen. Dies
hier ist das größte, das die Bühne deutscher Sprache heute hat.
GABRIEL SCHILLINGS FLUCHT
Einige versichern, Eunosthus sei ihnen begegnet, ans Meer
eilend, um sich zu baden, weil ein Weib sein Heiligtum
betreten habe." Das ist ein Wort von Plutarch, das Haupt*
192
* mann seinem Drama vorangesetzt hat. Nach diesem aggres*
siven Motto wäre die bitterböse, fanatisch misogyne Dichtung
eines neuen Strindberg zu erwarten. Eine Dichtung, die alle
Schuld an allem Unglück auf das Weib wälzte; die etwa
zeigte, wie das Weib sich an den Mann ansaugt, wie sie ihm
Hände und Füße delilahaft bindet und ihm Herz und Hirn
austrinkt. Eine Dichtung, die bis zur Sinnlosigkeit ungerecht
wäre; der die Wut auf die Verderberin den Atem benähme;
aus der Flammen des Hasses glutrot und anklägerisch zum
Himmel schlügen. Eine Dichtung, die vor lauter Tendenz
kaum noch Dichtung wäre. Aber es kommt anders. Wenn
Hauptmann sein Drama in so furioser Stimmung geplant
hat, so ist sie ihm jedenfalls bei der Arbeit, durch die Arbeit
verloren gegangen. Das Motto bezeichnet nur seinen Aus*
gangspunkt. Wollte man für das Ziel, für den Endpunkt,
für das Lebensgefühl des ganzen Werkes ein Motto suchen,
so würde man es bei Dehmel finden. „Hie Weib, hie Welt!
Wen das noch quält. Wer da noch wählt, Wer sich sein
Weib nicht so vermählt. Daß es für seine Welt ihn stählt
— Der ist kein Held!" Das hört sich gleich beträchtlich
ruhiger an. Diesen Spruch hat Hauptmann nicht bloß dich*
terisch ausgeweitet, sondern gewissermaßen regelrecht drama*
tisiert. Ja, mehr Dramatiker als in diesem Sorgen* und Schmer*
zenskind, das wir nicht von der Bühne herab kennen gelernt
haben, ist er selten gewesen. Hier sieht man wieder einmal,
daß das Wesen des Dramas primitivste Kontrastierung ist.
Denn Hauptmann stellt einfach das Positiv und das Negativ
unseres Spruches gegen einander: das Weib, das den Mann für
seine Welt stählt, und die Weiber, die ihn für seine Welt
schwächen; den Mann, der gestählt wird, und den Mann,
der sich schwächen läßt und darum zwar kein Held in Deh*
mels Sinne, aber wie geschaffen zum Helden, zum halben
Helden eines Hauptmannschen Dramas ist. Gabriel Schilling
ist ein gealterter Wilhelm Scholz, ein unalkoholischer Harry
Crampton, ein bürgerlicher Florian Geyer, ein Meister Hein*
rieh in Prosa. Sein Name gibt der Dichtung den Titel; aber
13 193
wie er ihr nicht den ganzen Titel gibt, so gibt er ihr auch
nicht den ganzen Inhalt. Vielleicht trägt das dazu bei, daß
der Eindruck tiefer ist als bei Hauptmannschen Werken, die
auf eine einzige, nicht hinreichend starke Persönlichkeit ge*
baut sind.
Es sind sechs Menschen, die leben sollen. Hauptmann ge^
staltet mit leisen und doch unverrückbar festen Strichen eine
augenfällige, greif*, hör*, schmeck* und riechbare Wirklichkeit,
in der sie leben können. Es ist an der Ostsee, wahrscheinlich
auf Hiddensee. Meer und Erde, Luft und Sonne, Wind und
Wolken bilden eine pantheistische Einheit von Elementen,
mit der von unseren sechs Menschenkindern zwei ein bißchen
verwandt sind, während die anderen sich nur nach ihr sehnen
oder nicht einmal nach ihr sehnen. Ottfried Maurer, der
Bildhauer, und seine kleine Lucie Heil, die Geigerin, die er
nicht heiraten will, weil das für seinesgleichen immer die
Klippe ist, die aber mit ihm zusammenbleiben wird, solange
es dauert in dieser Welt: beide sind echte, freie, gesunde,
innerlich blonde Naturen, die lachen und arbeiten und sich
lieben und uns all in ihrer Unverwickeltheit doch durchaus
interessant werden. Kein Wunder: so wie Hauptmann kann
heute keiner durch winzige, unauffällig angebrachte, förmlich
unter der Hand erblühende Züge einen Menschen rund und
schön machen. Diese helle, lebenstüchtige Lucie ist reich
genug, um jedem eine andere, jedem eine freundliche Seite
zuzukehren und trotzdem immer ganz und gar sie selbst zu
bleiben. Nicht umsonst ist ihr Lieblingsdichter die Droste.
Sie ist gebildet, geschmackvoll, gerecht und hat Takt und
Humor und keine Spur Sentimentalität. Sie freut sich, daß
auf ihrer Insel alles so gespenstig ist, weil sie sich in dieser
dunstigen Atmosphäre mit ihrer toten Mutter inniger ver*
bunden fühlt. Sie liebt ihren Maurer zuzeiten schwesterlich
und zuzeiten wieder so leidenschaftlich, daß sie an sich halten
muß, wenn die junge Russin Majakin ihn irritiert. Daß
Maurer für sein Teil diese schwarze Verehrerin, an der ihn
schon der ungewohnte Typus lockt, nicht ems, zwei, drei
194
nimmt und dann ruhig zu seinen Statuen zurückkehrt, Hegt
nur daran, daß im Augenblick wichtigere Dinge um ihn vor*
gehen. Denn sonst ist er so. Ein strammer, kurznackiger
Kerl. Voll schmunzelnder Schalkhaftigkeit, aber klug und
ernst und zuverlässig, wo es darauf ankommt. Da er in jeder
Hinsicht auf sich zählen kann, so darf er sich gelegentlich
verlieren. Man läßt sich fallen — trotzdem man weiß, was
man an einer solchen Lucie hat; man hebt sich auf — aber
nicht nur, weil man solche Lucie hat. Die Hauptsache ist
daß man Richtung behält. Maurer behält Richtung weil Manns
genug und wohl auch Künstlers genug in ihm ist.
Gabriel Schilling ist anders. Wenn das Stück beginnt,
flieht er vor seinen beiden Frauen auf die Insel; wenn es
authört, ist er vor ihnen ins Wasser geflohen. Es blieb ihm
nicht viel übrig. Seine angetraute Eveline ist ein abgehärmter
deutscher Dürrling, vor dem freilich der stärkste Mann die
Flucht ergreifen würde; und mit Hanna Elias läßt sich nicht
leben, weil Eveline da ist, vor dem kranken Mann ihren Haß,
ihren dicken, geschwollenen Vipernhaß auf die Nebenbuh*
lerin aus sich herausgeifert und diese dadurch zwingt, des*
gleichen zu tun. Hauptmann übertreibt nicht, verzerrt nicht,
verallgemeinert nicht. Er entfesselt zwei Frauen, die das
Schicksal haben, denselben Mann zu lieben, entfesselt sie
bis zur Raserei. Er verurteilt sie nicht, er beurteilt sie nicht
einmal. Er sagt, wie Eveline aussieht, und wir wissen, was
ein Maler an ihr haben wird. Hanna wieder gestaltet er durch
die grundverschiedenen Empfindungen, die sie weckt. Maurer
ist ihr Feind, weil sie seinen Freund entnervt. Die Majakin
hängt an ihr in jugendlicher Schwärmerei. Lucie kann ihr
nicht böse sein, weil sie alles, also auch dieses arme Geschöpf
versteht. Schilling selber war ihrer Intellektualität, ihrer spie*
lerischen Verlogenheit, ihrem hysterischen Temperament, ihrer
Schneekühle, ihrer wächsernen Blässe, ihrer orientalischen
Faulheit, der Exotik ihres Blutes und ihres Geistes verfallen.
Dann aber steht er plötzlich vor den beiden losgelassenen
Hyänen, bewegungslos, mit weit aufgerissenen Augen voll
13» 195
Wasser, vom Ekel gewürgt, mit unendlichem Grauen im
bleichen Gesicht — und findet dieses Leben keinen Augen-
blick mehr lebenswert. Er hat nicht Richtung behalten, weil
nicht Manns genug und wohl auch nicht Künstlers genug
in ihm war.
Man hat darum ihn mit Johannes Vockerat, das Drama
mit den , Einsamen Menschen' verglichen. Zu einer Ver*
gleichung der äußeren und inneren Vorgänge böten höchstens
ein paar zufällige Gemeinsamkeiten, zu einer Vergleichung
der Kunstwerte bietet meines Erachtens nichts einen Anlaß.
Der junge Hauptmann hat nicht gekonnt, was er gewollt
hat. Der reife Hauptmann hat vielleicht nicht gemacht, was
er gewollt, aber vollkommen gekonnt, was er gemacht hat.
Der junge Hauptmann will einen geistigen Entscheidungs*
kämpf zum tragischen Abschluß bringen — und läßt geistige
Energielosigkeit sich zu Tode ermatten. Sie ist das Gepräge
jenes Werkes. Johannes Vockerat wimmert und poltert sich
durch fünf Akte, daß es ein Graus ist. Er klagt, daß man
ihn gebrochen hat, ohne daß je ein Knochen in ihm gewesen
wäre, der gebrochen werden konnte. Er verlangt die zarteste
Rücksicht und behandelt Frau und Mutter mit einer flegel*
haften Brutalität, die auch die unbestrittenste Gelehrtengröße
nicht entschuldigen würde, und die bei einigem menschlichen
Wert unmöglich wäre. Den Beweis für diese Größe und
diesen Wert brauchte er nicht ausdrücklich zu führen; aber
er führt ja mit jedem Wort und jeder Handlung den Gegen*
beweis, Johannes Vockerat ist im Kern mißraten, ein Jammer*
ling, dem man nicht einmal die Fähigkeit zum Selbstmord
zutraut, und mit ihm steht und fällt die Tragödie.
Dagegen sehe und höre man Gabriel Schilling an. Ge#
wiß: auch er ist durch und durch hilflos und deshalb schließ*
lieh wert, daß er zugrunde geht. Aber er hat, was Johannes
Vockerat niemals hat: er hat von Anfang bis zu Ende unseren
Anteil, den er sich durch kein unvornehmes, kein protziges
Wort verscherzt. Es ist eine stille Trauer um ihn, die noble
Schwermut eines Kunstmenschen, bei dem es zum Künstler
196
nicht gereicht hat. Er klagt keinen an und jammert nicht
eigenthch, sondern hängt höchstens schwächHchen Ahweiber*
Sommermeditationen nach, die sich nicht als Weisheiten aus*
geben und von ihm selbst und den anderen durchschaut wer*
den. Er weiß um sich Bescheid, weiß, daß es zu spät, daß
seine Existenz verpfuscht ist, und zieht die Konsequenz.
Der Zwanziger Vockerat begeht mit seinem Selbstmord ein
Verbrechen an seinen Eltern, seiner Frau und seinem Kind.
Der Selbstmord des \^erzigers Schilling ist eine mutige, rein*
liehe Tat. Die herrliche Lucie spricht auch hier das erlösende
Wort. Sie hat den Maler gern gehabt und seine Leiden mit*
gelitten. Aber eben deshalb gesteht sie vor seiner unerkalteten
Leiche mit dem ganzen Freimut ihrer klaren Seele, daß ein
neues, frisches Gefühl über sie komme, weil sie glaube, daß
Schilling jetzt für ewig geborgen sei. Über die Welt der un*
selig*untauglichen erhebt sich in Wort und Tat die Welt der
tauglichen und darum glücklichen Menschen, „Manche frei:!
lieh müssen drunten sterben. Wo die schweren Ruder der
Schiffe streifen. Andere wohnen bei dem Steuer droben, Ken*
nen Vogelflug und die Länder der Sterne . . . Doch ein
Schatten fällt von jenen Leben In die anderen Leben hinüber.
Und die leichten sind an die schweren Wie an Luft und Erde
gebunden." Auch diese Verse — von denen man wünscht, daß
jeder sie kennt oder zum mindesten als Hofmannsthalisch
erkennt — auch sie gäben für .Gabriel Schillings Flucht' ein
passenderes Motto ab als das Zufallswort des Plutarch. Es
ist wundervoll, mit welcher gelassenen Sicherheit, mit welcher
meisterlichen Bildnerruhe Hauptmann seine beiden Welten
formt, wie er sie auf einander wirken, einander durchdringen,
wie er die eine von der anderen betrübt und getrübt, die
andere von der einen vorübergehend gehoben und doch nicht
gerettet werden läßt. Das Meer, das deutsche Meer, macht
zu diesen Kämpfen eine stimmende und verstärkende Begleit*
musik. Es ist, alles in allem, bester alter Hauptmann. Der
Dichter erwähnt irgendwo die Eigenschaft des ,Wafelns', die
Fähigkeit, mit dem zweiten Gesicht zu sehen. Er hat in
197
seinem letzten Jahrzehnt häufig den Fehler begangen, zu wa*
fein — den Fehler, weil er diese Fähigkeit in Wahrheit gar
nicht hat, sondern nur den Wunsch, sie zu haben. Hier sieht
er einfach wieder mit seinen klaren Menschen* und Künstler*
äugen, und was er sieht — es sei, wie es wolle, es ist doch
so schön.
Dieses Drama stammt aus dem Jahre 1906 und ist bis zum
Jahre 1912 unbekannt geblieben, weil Hauptmann eine Auf*
führung „mehr gescheut als gewünscht" hat. In sechs Jahren
hat sich wenigstens die Scheu vor der Veröffentlichung ver*
flüchtigt. Die Scheu vor der Aufführung schwindet schneller.
Noch in der Begleitnotiz zum ersten Abdruck behauptet der
Dichter, daß eine „einmaHge Aufführung vollkommenster
Art im intimsten Theaterraum" sein „unerfüllbarer Wunsch"
sei. Wie? Kann er sich und seine Geltung wirklich so unter*
schätzen? Sobald er diesen Wunsch dem Direktor der Kam*
merspiele geäußert hat, ist er erfüllt. Hauptmann nun äußert
nichts dergleichen, sondern erklärt aufs entschiedenste, daß
er das Drama keinesfalls „auf den Hasardtisch einer Premiere"
würde legen mögen. Im Januar 1912. Ein Viertel] ährchen
später liest mans anders. Da wissen die Gazetten zu melden,
daß der Hasardtisch in Lauchstedt aufgeschlagen wird, daß
gleich drei Aufführungen stattfinden, daß Festspielpreise er*
hoben werden, daß Sonderzüge laufen, und daß man dabei
gewesen sein muß. Von allen zweiundzwanzig Dramen Ger*
hart Hauptmanns ist schließlich rücht eins mit solchem Trara
vorbereitet worden wie dieses, das ursprünglich „keine An*
gelegenheit für das große Publikum, sondern für die reine
Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kreises" sein sollte.
Reinheit? InnerHchkeit? Beseht die Gönner in der Nähe!
Es gab in Lauchstedt vorder Vorstellung Zusammenrottungen^
deren geräuschvolle Mitglieder die Verabredung trafen, den
angebrochenen Nachmittag mit einer Pokerpartie zu be*
schließen; und man suchte vergebfich die Jugend, die in
Berlin gegen diese Sippschaft das Gegengewicht zu bilden
198
pflegt. Aber es war doch wohl von vornherein sicher, daß
das Unternehmen durch seine Seltenheit alle Protzen und
Snobs herbeilocken, durch seine Kostspieligkeit die empfang*
lichsten Elemente fernhalten würde.
Das spürt man außerdem gleich, wenn man ankommt:
gegen das Theater der Vergangenheit, das überall auflebt,
wird es das Theater der Gegenwart nicht ganz leicht haben.
Erinnerungen auf Schritt und Tritt: an Schiller und an Goethe,
an den siebzehnjährigen Studenten Joseph von Eichendorff
und den einundzwanzigjährigen Richard Wagner, der hier
als Kapellmeister beginnt, ,Don Juan' und ,Lumpacivaga*
bundus' dirigiert und, zu seinem Unheil, Minna Planer ken*
nen lernt. Dergleichen schaflFt schon eine Atmosphäre. Aber
auch sonst könnte man nicht ergründen, weshalb der Ort auf
Wagner einen, wie er sich in seinen Memoiren ausdrückt,
„sehr bedenklichen Eindruck" gemacht hat. So winzige deut*
sehe Städte wie dieses Lauchstedt sind eigentlich immer
irgendwie schön. ^X^^le lieblich ist dieser kleine Kurpark mit
seinen schmalen Arkaden, seinen alten hohen Kastanien, mit
seinem einfachen Brunnenhäuschen und seinem weidenum*
standenen Schwanenteich! Wie atmet rings Gefühl der Stille
(solange keine Berliner da sind)! Das Theaterchen scheint
aus der Spielzeugschachtel genommen: ein adrettes, stumpf*
gelbes, längliches Häuschen, dem man von außen gar nicht ein
so ausgiebiges Parkett und am allerwenigsten noch einen
Balkon und Logen zutraut. Trotzdem müssen unsere Vor*
fahren auf einander gesessen und gestanden haben, wenn tat*
sächlich, wie Goethe erzählt, auf einmal gegen tausend Per*
sonen in diesen Zuschauerraum gingen. Er ist vor vier Jahren
frisch und hell gestrichen worden; aber die Patina hat zum
Glück nicht übertüncht werden können. Der schmale und
kahle Wandelgang wird durch Kupfer zum ,Wallenstein' und
durch gerahmte Theaterzettel aufgemuntert, aus denen man
erfährt, daß die , Räuber' hier unter dem Titel ,Carl Moor'
aufgeführt wurden, weil sonst am Ende die Studentenschaft
revolutioniert worden wäre; daß auf diesen paar Quadrat*
199
meiern Holz ,Götz von Berlichingen', Julius Caesar*, die
Jungfrau von Orleans', offenbar ohne Dekorationen, unter*
zubringen waren; und daß die Plätze, die heute Stück für
Stück zehn Mark kosten, in jenen löblichen Zeiten vier bis
sechzehn Silbergroschen gekostet haben.
Hat Max Liebermann es für nützlich und möglich gehal*
ten, einen Hauch von jenen Zeiten zu beschwören, einen Zu*
sammenhang zwischen Saal und Bühne herzustellen, indem
er Gardinen, Bettstellen und Kommoden auf die Kulissen
malte und diese selber auf recht altvaterische Manier be#
handelte? Dergleichen war schwerlich seine Absicht. Auch
ihm wird es wichtiger erschienen sein, zwischen diesem Bühn#
chen und dieser Dichtung den Zusammenhang herzustellen.
Er hat sich einfach den Raumverhältnissen angepaßt und
eine Bettstelle gemalt, weil ein einziges richtiges Möbel das
Bühnchen vielleicht nicht ausgefüllt, aber keinesfalls sechs
Personen Platz zu einer leidenschaftlich bewegten Szene ge#
lassen hätte. In den Strandbildern wieder hat er sich damit
begnügen müssen, die stille Trauer des dramatischen Spiels
zu fixieren. Es wird lebendig, wovor diese Menschen flie#
hen, nicht wohin sie sich retten; was ihnen das Herz he^
drückt, nicht was ihnen die Seele weitet: das Meer. Wenn
es bei Hauptmann zu den Kämpfen der freien und der un*
freien Erdenkinder eine stimmende und verstärkende Begleit*
musik macht, so ist diese Musik bei Liebermann zu einem
undeutlichen Gemurmel abgeschwächt. Ohne seine Schuld.
Kein Zweifel nach dieser Probe, bei dem lichten Ton sei*
ner Prospekte, der Festigkeit seiner Linienführung und dem
angeborenen Zug zur Schlichtheit und Selbstverständlich*
keit der Natur — kein Zweifel, daß er der berufene Helfer
für den Hausdichter des Lessingtheaters wäre, dem in Goe*
thes Theater nicht recht zu helfen war. Aber selbst ange*
nommen, daß man Gabriel Schillings Flucht ins Meer ohne
Meer spielen kann: ohne Gabriel Schilling kann man sie
nicht spielen.
Die Frauen waren ihres Dichters würdig; alle vier. Sie
200
kamen von vier Bühnen und schienen von einer zu kommen.
Soweit in dieser ziemlich schleppenden Aufführung die Ar«
beit eines Regisseurs zu merken war, war sie hier zu merken.
Gegen zwei Russinnen haben zwei Deutsche zu stehen.
Fräulein Gina Mayer als das blutjunge Fräulein Majakin hat
ganz die Feinheit, die ihre reife Freundin Hanna Elias gar
nicht haben soll, und die Frau Durieux im x\nfang nicht
völlig unterdrückt. Aber vielleicht ist es eine Schauspiele*
rische Finesse, daß sie erst nach und nach die Züge zu dem
Bilde liefert, das man sich aus den Schilderungen ihrer Mit«
menschen von ihr gemacht hat. Sie spricht mit berückend
tiefer Stimme und tanzt verführerisch, selbst wenn sie sitzt.
So sehen lemurische Nachtgespenster aus? Dann versteht
man Schilling, der dieser Hanna verfallen ist. x\ber sobald
sie gekratzt wird, kommt die Tatarin zum Vorschein und
rast entsetzlich und mordsordinär. Frau Bertens singt die
andere Stimme in dieser schaurigen Katzenmusik. Sie mutet
nicht gerade deutsch an, sondern eigentlich auch slawisch.
Es schadet nichts. Sie ist so zerbeult und zerknujEFt und zer?
grämt, so kleinbürgerlich giftig und so befähigt, ihr Gift zu
tödlicher "Wirkung in schmerzende Wunden zu senden, daß
durch sie an der Dichtung klar wird, was bis dahin etwa
nicht klar war. Höchstens daß sie ein bißchen zu alt scheint —
wie Helene Thimig für Lucie Heil um drei, vier Jahre zu
jung ist. Der liebenswürdigste Fehler, der sich einer Schau«
Spielerin nachsagen läßt. Sonst ist dieses blonde, warme, feste
und doch zarte Stück Natur wie geschaffen für Hauptmanns
Gestalt. Ihr Blick strahlt Güte und Klugheit, und ihre frohe,
entschiedene Mädchenstimme reinigt die Luft von allen Ba«
zillen des Hasses.
Aber was hilft dies und das und noch mehr, da Maurer
nur in Duodez und Schilling gar nicht vorhanden ist! Der
lustige Herr Gebühr hat nicht die menschliche Schwere für
einen Mann von vierzig Jahren, der sich Leben und Kunst
und Weiber und Weib nach seinem Willen gezwungen hat.
Ihn erhebt über Hauptmanns Schilling nichts als die kreuz«
201
fidele Unempfindlichkeit eines verfetteten Bourgeois. Aber
gegen Herrn Grunwalds Schilling ist selbst so einer ein nütz*
liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Es wäre un«
gerecht, den vortrefflichen Darsteller komischer Chargen zu
tadeln, weil er einer Rolle nicht gewachsen ist, für die Sauer
gerade gut genug wäre. Wenn schon getadelt werden muß,
dann mögen Hauptmann und seine Berater vor Herrn Grün*
wald treten, der sich gewiß die Seele aus dem Leibe gespielt
hat. Leider hat er keine. Er kann sie nicht einmal vortäu*
sehen. Solch ein Grad von Untransparenz ist unwahrscheinlich.
Schillings Nerven müssen bloß zutage liegen. Herr Grunwald
schminkt sich kreideweiß und unterscheidet weder den er*
starrten von dem erwachten noch diesen von dem todbereiten
Schilling, Allenfalls .schreitet' er ,visionär'. Man weiß nicht,
was dieser Maler mit Kunst zu tun hat, und man begreift
nicht, weshalb sich um diesen Mann zwei Frauen reißen und
zerreißen. Damit verliert die Figur ihren Sinn, die Dichtung
ihre Überzeugungskraft. Damit hatte aber auch die Auffüh*
rung ihre Existenzberechtigung verloren. Wer nach Lauch«
stedt gekommen war, um .Gabriel Schillings Flucht' über*
haupt erst kennen zu lernen, war vergeblich gekommen, da
er ein falsches Stück zu sehen bekam. Wer sich nach der
Lektüre den Eindruck von vollendeter Bühnenfähigkeit be*
stätigen oder abschwächen lassen wollte, war gleichfalls ver*
geblich gekommen, da der Eindruck dieser Aufführung nicht
maßgebend sein kann. Ihr Ertrag ist, daß Hauptmann seine
Scheu überwunden hat: er legt das Werk auf den Tisch
Otto Brahms, der nun kein Hasardtisch mehr, ist.
DER WEDEKIND*ZYKLUS
Wenn Reinhardt uns und sich das Versprechen erfüllt,
im Herbst dieses Jahres den Wedekind*Zyklus zu
wiederholen, so ist es möglich, daß er ihn vervollständigt,
eine chronologische Ordnung hineinbringt und seine stärk*
sten Schauspieler dazu hergibt. Das alles würde mancherlei
202
für sich haben. Die Besonderheit eines , Zyklus' und das
Ansehen des Deutschen Theaters: beides würde gewahrt
bleiben. Wer Wedekinds Entwicklung nicht kennt, könnte
sie hier kennen lernen; und wer für seine Wirkungen als
Darsteller oder Sprecher der eigenen , Ideen' stumpf ist, könnte
sich an den regelrechten Leistungen großer Berufsschauspieler
schadlos halten. Aber es fragt sich, ob der überraschende,
der ungeahnte Erfolg dieses ersten Versuchs nicht auch auf
seine Mangelhaftigkeit, seine Überstürztheit, seinen durch*
aus fragmentarischen Charakter zurückzuführen ist. Es fragt
sich, ob der erregende Atem von Wedekinds Wesen, der
aus diesen sechs nachhinkenden, schlecht vorbereiteten, schäbig
eingekleideten, stillosen oder bestenfalls stilwirren Vorstellung
gen herausschlug, nicht leiden würde durch den ganzen um*
ständlichen Apparat einer eingereihten, durchgearbeiteten, her«
ausgeputzten, in jedem Sinne würdigen Veranstaltung. Es fragt
sich wirklich. Denn so gewiß Reinhardt sich nicht zur För*
derung des NX^edekind^Zyklus mit der Auslese seiner Truppe
nach Frankreich begeben hatte: so gewiß war gerade diese
ofifenkundige Interesselosigkeit wie eine letzte Rechtfertigung
für den Wedekind, der sich unterschätzt, verfolgt, gefoltert
glaubt und sich deshalb unter markerschütterndem Geschrei
die Kleider vom Leibe und die Brust aufreißt. Man hat ihn
diesmal endlich angehört, beweint, bezahlt, gefeiert und zum
Teil vielleicht sogar verstanden. Er ist, nach zwanzigjährigem
Kampf, mit diesem Zyklus , durchgedrungen'. Aber ist es
ausgeschlossen, daß das Glück, ein so fragwürdiges Glück,
zugleich sein Ende ist? Vor noch nicht drei Jahren bot
Bruno Cassirer seine Werke feil und trat sie einem anderen
Verleger ab: dabei ließ sich leben. Jetzt hat Paul Cassirer
ihm ein Fest gegeben : das ist Grund zum Selbstmord. Trotz*
dem: Hoffen wir auf Wedekind! Er wird selber fühlen, daß
eine begüterte Angesehenheit die Sphäre ist, in der seine ja*
kobinische Frechheit zu königstreuer Friedlichkeit, sein bürger*
schreckender Satanismus zu langweiliger Sentimentalität, sein
Philisterhaß zur Philisterähnlichkeit werden könnte oder gar
203
werden müßte. Als Mitglied der Gesellschaft wäre Frank
Wedekind reizlos und wertlos. Als Feind der Gesellschaft
war er ein originaler Künstler oder richtiger wohl : ein künst#
lerisches Original. Wer das etwa nicht gewußt hat, dem hat
dieser Zyklus es bewiesen. Dessen sechs Dramen gehören
drei verschiedenen Perioden an: der »Erdgeist' von 1895 und
der , Marquis von Keith' von 1900 der Periode der Meister*
Schaft; ,So ist das Leben' von 1903 und .Hidalla' von 1904
der Periode der angstvollen Selbstbemitleidung; ,Musik' von
1907 und ,Oaha' von 1908 der Periode der beginnenden
Rückkehr. Selbst die schwächste dieser Arbeiten ist durch
den Schein, der von den anderen auf sie fiel, und durch
Wedekinds Interpretation irgendwie belangvoll und auf*
schlußreich geworden.
Die schwächste ist ,Oaha', weil von vier Akten nicht
zwei, und obendrein die letzten beiden, versagen dürfen.
In diesen beiden Akten ermattet zwar nicht die Wirbelwind*
verve der Personen, aber der Geist ihres Ersinners. Die eben
noch atemlos die blitzenden Klingen des witzigen Wortes
kreuzten, scheinen plötzlich, bei unverminderter Atemlosig*
keit, Besenstiele in den Händen zu halten. Bis dahin hatte
Wedekind mit einer unbeweglichen, manchmal wie ver*
steinerten Boshaftigkeit auf die Menschen gesehen, an denen
er sich rächen wollte: auf die Mitarbeiter des ,Simplicissi*
mus', auf dessen Begründer und auf seine Sippe. Unter dem
kalten Blick seines Hasses wurden Künstler zu Kretins, smarte
Geschäftsleute zu schmierigen Schurken, europäische Dichter
zu salbungsvollen Komödianten. Ob ihnen damit Unrecht
geschah, ob sie die Hiebe verdienten, war gleichgültig. Wichtig
war nur, daß sie als Dramenfiguren lebten. Die ersten beiden
Akte gelangen Wedekind so vollständig, daß er entgiftet
sein konnte. Er war es nicht. Er drosch weiter — ohne Maß,
ohne Selbstkontrolle, allmählich erhitzt und mit verzerrtem
Gesicht, also ohne Schlagkraft. Der Satiriker mag aus Wut
an die Arbeit gehen; aber er darf nicht bei der Arbeit wütend
bleiben, wenn er nicht als ein Kläfferchen erscheinen will.
204
Davor ist Wedekind durch seine Schauspielkunst und durch
unsere Erinnerung an seine anderen Werke geschützt. Außer«
halb dieses Zyklus, für sich allein ist ,Oaha' zu schwach.
Wie vor vier Jahren , Musik' zu schwach gewesen ist.
Damals sah es aus, als ob Wedekind einen Vorfall des Tages
zu einer grimmigen Kolportagedramatik verarbeitet habe,
um gegen den Paragraphen Zweihundertachtzehn des Straf«
gesetzbuches zu protestieren. Vielleicht war die Aufführung
falsch ; vielleicht hatten wir uns falsch eingestellt. Jetzt wenig*
stens, wo der tatsächliche Anlaß des Stückes längst vergessen
ist und Wedekind selber es inszeniert hat und spielt — jetzt
fühlen wir uns von keiner fördersamen Tendenz belästigt,
finden nichts von dem nassen Elend des Schauerstücks und
freuen uns an den karikaturistisch verzogenen Konturen.
Wir sehen Wedekind wieder auf dem Wege zu seiner Ver«
gangenheit. Eine Ausbauchung der Linie — und ein sakro«
sankter Begriff ist entheiligt. Eine skurrile Verkürzung —
und ein Ideal ist zerstört. Durch eine Veränderung des Ge«
sichtswinkels wird aus Vernunft Unvernunft, aber auch aus
Unvernunft Vernunft; aus Clara Hühnerwadel ein Gretchen
und aus dieser volksstückhaften, volksliedhaften Figur wieder
eine Komikerin. Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! In
,Oaha' peitscht er lachend auf seine Feinde los, bis sein
Arm, zu früh, erlahmt, und in ,Musik' gibt er, wenngleich
nicht mit solcher Bildnerkraft wie ehedem, jenen Ernst ohne
Pathos, der sich von der anderen Seite wie Spaß ausnimmt —
nachdem er ein paar Jahre lang über sich und Gott und die
Welt gejammert hatte.
Des sind Zeugnisse: ,Hidalla' und ,So ist das Leben'.
Was diese Dramen wollen und sollen, verkündet die eine
Figur mit der Seele des Dichters, die durch die Werke aller
mutigen Bekenner geht. Bei Byron hieß sie: Manfred oder
Toscari oder Mazepa. Bei Wedekind heißt sie : König Nicolo
und Karl Hetman. Die Angst, daß man eines Tages über
dem Bänkelsänger den Dichter in ihm vergessen haben könnte,
hat ihn damals gestachelt, ein Mal ums andere Mal poetische
205
Selbsteinschätzungen zu versuchen. „Mir ekeh in dieser kur*
zen Spanne Daseins vor Possenspiel." In dieser Stimmung
allegorisiert er sein eigenes Leben mit seinen wirklichen In*
teressen und Konflikten, mit seinen Nöten und Krämpfen,
seinen Scheinsiegen und seinen Niederlagen. Ein verzwei*
feltes Gefühlsringen wird laut und lebendig. Der Adels*
mensch hält der Gier und der Niedertracht nicht stand, wird
von der Meute für wahnsinnig erklärt, um seines Wahnsinns
willen von einem Zirkusdirektor umworben und erhängt sich
daraufhin. Das ist ,Hidalla' oder mindestens der Kern dieses
viel*, aber dünnhäutigen Stücks. Dem König Nicolo von
Umbrien oder dem geistesköniglichen Menschen überhaupt
gelingt es nicht eher, sich in diese Welt zu schicken, als bis
er aufhört, er selbst zu sein, und anfängt, sich selbst zu
spielen. Da hat er Beifall. Aber man glaubt ihm nicht, daß
sein wahres Wesen nur notgedrungen die Zuflucht zu dieser
Art der Aeußerung genommen hat — und das ist seine Tra*
gödie, die Tragödie des Künstlers, der den Leuten als Schei«
nender, als Königsvortäuscher gilt und doch zugleich der König
ist. Stets wird der Schlächtermeister herrschen, und der König
arm und verkannt und ganz gering und unter Masken durch die
Lande irren. ,So ist das Leben' nicht bloß Wedekinds.
Vorher, und später wieder, hat dieser Wedekind unge*
rührt auf das keuchende Gehudel unter sich geblickt. Hier
aber treiben ihn siedender Ingrimm und Mitleid mit sich
selber. Seht her: Vor euch steht einer, der sich maßlos quält,
der mit dem Gott im Himmel und dem Gott in seiner Brust,
nicht minder heftig als Bellerophon mit der Chimäre, kämpft!
Das wird so inbrünstig vorgetragen, daß ein Zweifel an der
Echtheit dieser Empfindungen und dem Ernst dieses Kampfes
gar nicht möglich ist. Leider wird es nur vorgetragen. Auch
jener Bellerophon saß einstmals auf dem Pegasus, und dieser
Pegasus hat auch unseren Dichter eines Tages unsanft ab*
geworfen. In der Königstragödie gibt es einzelne unvergeß*
liehe Farbstücke, wie die Elendenkirchweih, die in fähige*
spenstigem Licht märchenhaft vorüberhuscht ; gibt es einzelne
206
Szenen von ergreifend grotesker Kraft wie die Gerichtsver*
Handlung; einzelne Worte von einer schmerzlichen Fieber?
Schönheit; einzelne Nebenfiguren von steifer Unschuld und
knapper, einfältiger Leidenschaft. Aber alle diese Einzel«
heiten schießen zu keiner Einheit zusammen: das Werk zer#
rinnt zu phantastischem Dunst, zu genialem Spuk, In ,Hidalla'
ist eigentlich nur der gaunerische Verleger Launhart, dank
Wedekinds persönlicher Antipathie, fest und faßbar geworden.
Die anderen verschwinden knochen* und umrißlos in einem
dicken Nebel, einem monotonen Grau. Diese Verschwommen«
heit könnte einen phantasmagorischen Charakter haben. In
ihr könnten die Gestalten auf ähnliche Art wesenhaft sein,
wie die bleichen Seelen der Schattenheroen, die Odysseus
in der Unterwelt aufruft, den homerischen Helden vor Troja
gleichen. Diese Gestalten aber sind, wie logische Schemata oder
mathematische Zeichen, für die Einbildungskraft gar nichts ;
sie sagen nichts weiter, als daß sie eben nichts sind. Wenn
der konsequente Naturalismus mit seinem Wirklichkeitsfana«
tismus einen Endpunkt der Kunst bedeutete, so ist diese
Kunstübung in entgegengesetzter Richtung an einem Abgrund
angelangt, worin abgenagt und ausgedörrt abstrakte Gedanken«
typen liegen. Der Rückweg brauchte gerade Wedekind nicht
erst gewiesen zu werden.
Dieser Rückweg führt zum .Erdgeist' und zum ,Marquis
von Keith'. Die sind heute beinah schon ,klassisch'. Es ist
ja kein Zufall, daß in ,Oaha' Bouterwek, in .Musik' Linde«
kuh, in der Königstragödie Nicolo, in ,Hidalla* Hetman nur
Pseudonyme für den Namen Wedekind sind. Diese vier
Stücke sind eben künstlerisch nicht fertig geworden und müssen
vom Autor mehr oder minder deutlich kommentiert werden.
Wo aber ist Wedekind im , Erdgeist' und im »Marquis von
Keith'? In keiner besonderen Figur, weil er in jedem Wort
und jedem Winkel ist. Diese beiden Dramen bilden mit
.Frühlings Erwachen' und ,Der Büchse der Pandora' das Teil
von Wedekind, das nicht bloß um seines biographisch*
psychologischen Wertes willen auf die Nachwelt kommen
207
wird, wie etwa ,Hidalla', sondern das um seines aesthetischen
Wertes willen der Nachwelt noch eine ganze Weile lebendig
bleiben wird. Es sei denn, daß diese Dramen an der Armut
ihrer Ideen — das heißt keineswegs : der Armut an Ideen —
viel früher sterben, als wir Zeitgenossen des Dichters glauben
möchten; daß Dramen lebendig bleiben können, die, statt
den Sinn des Daseins zu deuten, die Sinnlosigkeit des Daseins
wenn auch nicht predigen, so doch darstellen. Der Moral*
reformator Wedekind ficht mit starken Worten, aber ohne
klare oder gar neue Gedanken für — ja, wofür eigentlich?
Er trauert um die verlorene Schöne : das merkt man und fühlt
seine Trauer mit. Nur daß er wenig an ihre Stelle zu setzen
hat. Man müßte ein schlechtes Ohr für den Ursprung von
dichterischen Wehklagen haben, um nicht zu hören, daß
Wedekind über nichts so wehklagt wie über seine leeren
Hände. Seine Dramen bekommen dadurch allein den Stempel
von Geistigkeit, daß er selber ihren Mangel an erlösender
Geistigkeit insgeheim so tief empfindet. Er eröffnet zum
Beispiel den Freiheitskampf der Menschheit für den Feuda*
lismus der Liebe. Einfacher ausgedrückt: er ist der Meinung,
daß die Unberührtheit des jungen Weibes zu hoch einge*
schätzt wird ; daß die Zeit nicht fern ist, wo die Gesellschaft
die Lebensführung der Mädchen nicht mehr überwachen wird,
um ihre geistige und körperliche Entwicklung möglichst zu
hindern, sondern um sie möglichst zu fördern. Sollte Wede#
kind nun wirklich nicht wissen, daß — von Friedrich Schlegel
und George Sand gar nicht zu reden — vor zwanzig Jahren die
gute Laura Marholm es liebte, auf dieselbe Weise und zum
selben Ziel ihre Schwestern zu entflammen? Damals sprach
man von der Sünde, die nie vergeben wird: von Evas Sünde
gegen ihr Geschlecht. So oder so : es ist nicht eben bestürzend,
dergleichen heute zu sagen. Aber für Jahrzehnte oder zum
mindesten für die Mitwelt verdienstlich ist es, ein Pandae*
monium unserer Zeit aus sich herauszuschleudern wie den
, Marquis von Keith' und ein Organ für das Wesen der dra*
matischen Form, für den spezifisch dramatischen Ausdruck
208
eines tragischen Weltbilds zu bewähren, wie es Wedekind
in dem Crescendo des , Erdgeists' bewährt hat.
Wenn dann noch er selbst . . . Der Schauspieler Wede#
kind war vom ersten Tag an eine Schwärmerei von mir, trotz*
dem oder weil er gar kein Schauspieler war. „Es ist ein großer
Unterschied", läßt er in ,Hidalla' zu sich selber sagen, „ob
Sie Ihre Lehren in Ihrer begeisterten Sprache zum Vortrag
bringen, oder ob man sie Schwarz auf Weiß vor sich sieht."
Der , ungelernte' Schauspieler Wedekind bannt mit der Macht
und dem Nachdruck einer unwiderstehlichen Hypnose. Wie
erreicht er das? Bei einer bestimmten Replik seines Kammer*
Sängers, die er sehr erregt sprechen könnte, ist angegeben,
daß er sie ,,sehr sachlich" spricht. Das ist das Kennwort für
Wedekind. Die Prinzipien eines Künstlers sind die Ver*
Schleierungen seiner Schwächen. Wedekind hat sich von
vornherein mit einsichtiger Beschränkung zum sachlichen
Sprecher erzogen — wahrscheinlich weil er nicht hoffte, je*
mals ein gestaltender Schauspieler zu werden. Er hatte mit
der Ungefügigkeit seines Körpers, mit der Plumpheit seines
Ganges, mit der Befangenheit seiner Gebärden und mit der
Widerspenstigkeit seines Gedächtnisses zu verzweifelt zu
kämpfen, als daß zunächst die Illusion eines lebendigen
Menschen entstehen konnte. x\ber er kämpfte auch wirklich
.verzweifelt'. Das gab ihm schon vor Jahren diese erstaun*
liehe Intensität, die seine Zuhörer vor der Bühne und auf
der Bühne hinriß (und namentlich seine Frau der Reihe nach
zu einer rührend hingegebenen Gehilfin, zu einer zuverlässigen
Partnerin und mit der Zeit sogar zur Schauspielerin, aus einer
Sprecherin zu einer Darstellerin gewisser Gestalten gemacht
hat). Diese Intensität Frank Wedekinds war anfangs durch*
aus unterschieden von der Intensität schauspielerischer Ge*
staltungskraft : es war die Intensität dichterischer Schöpfer*
freude, die mit der Vollendung des Dichtwerks nicht befriedigt
ist und sich als Rhetorik fortsetzt — als eine Rhetorik, deren
Ziel die Stärkung der poetischen Suggestion ist. Der Wort*
künstler Wedekind war auch auf der Bühne ein Priester des
Wortes. Er sprach scharf, stoßend und fast gleichmäßig laut,
vor allem bemüht, den Inhalt seiner Rede deutlich zu Gehör
zu bringen. Aber wo es nötig war, glühte die Leidenschaft
seiner großen grünen Augen auch aus seiner Stimme. Diese
Stimme und diese Augen waren seine einzigen Schauspiele*
rischen Mittel. Sie genügten für die Figuren, in denen Wede*
kinds Herz schlug. Heute ist er um einen Schritt weiter.
Er stellt bereits farbig und rund ein Lümpchen aus sich her*
aus und weit von sich weg wie den Verleger Sterler, gegen
den ,Oaha' geschrieben ist. Er legt die drastischen Pointen
mit einer Unauffälligkeit hin, die der diskreteste Schauspieler
nicht überbietet. Er wird am Ende noch ein leidlicher Interpret
für anderer Dramatiker Rollen. Seine ungeheure Wirkung be*
ruht freilich darauf: daß es eben doch seine eigenen Werke
sind, in denen er bis zur äußersten Selbstvergessenheit aufgeht;
daß er mit der Schamlosigkeit der Größe vor tausend Men*
sehen sein Blut verströmt ; daß es ihm unfehlbar gelingt, sich
geheimnisvoll schreckend zu machen und das Rauschen seines
entfesselten Schmerzes zu erschütternder Stärke anschwellen
zu lassen.
210
REGISTER
Abel 155
Aischylos 44f. 67
Alexander 135
Apel 71 f.
Aristophanes 125
Arnauld 26
Arnold, Victor 41. 70. 134. 160 f.
163 f. 181 f.
Arnstaedt 178. 184
Arrene 36
Artot de Padilla 88
Bachur 14
Bahr 124 f. 132. 141. 146
Balzac 31. 96
Barnay 14. 37. 159
Barnowsky 35. 154 f. 166 f.
Bassermann 12. 83 f. 97 f. 110. 115.
159. 164f. 190
Baumbach 98
Beethoven 30. 65
Benedix 135
Bergen 44. 158
Bermann 74
Bernard 121 f.
Bernauer 35 f. 44. 79 f. 120. 157 f.
184
Bertens 189. 201
Besnard 189
Beyerlein 108
Biensfeldt 41. 70. 106. 110. 161 f.
Blumenthal 37. 44. 71. 84. 126
Bonn 10
Bourget 56
Brahm 1. 34. 37. 57. 98 f. 112. 126.
139f. 154. 157f. 166. 176f. 202
Burckhardt, Jakob 6
Burg, Eugen 187
Busoni 64 f.
Butze 26. 29
Byron 205
Caillavet 36
Cassirer, Bruno 203
Cassirer. Paul 203
Clewing 58 f. 184 f.
Commichau 24 f.
Conrad, Paula 38
Dahlberg, Leopold 21 f.
Dahn 98
Danegger 27. 70. 130. 150
Dauthendey 37 f.
Defregger 141
Dehmel 37. 193
Destinn 187
Dickens 34
Diegelmann 70. 110 115. 150. 162
Dietrich, Mary 27. 41. 50. 81. 106.
115. 174
Droste 194
Dumas 2. 36
Durieux 38 f. 44. 80. 201
Dux 89
Eibenschütz 19. 69. 82. 150
Eichendorff 199
Ernst, Adolph 121
Ernst, Paul 20
Eulenberg 31 f. 146
Eysoldt 23. 27 f. 68 f.
Fehdmer 155
Feldhammer, Anna 50
Flers 36
Fontane 64
Forest 34. 146
Freksa 4 f.
Freund, Julius 71
Fried 168
Friedmann, Sigwart 182
Fulda 21. 29
Gade 92. 167
Garrick 165
Gebühr, Cornelie 110. 155
Gebühr, Otto 44. 158. 201
Geibel 112
Geisendörfer 26
213
George 85
Girardi 190 f.
Gluck 90
Goldoni 96
Got 178
Goethe 1. 2. 16. 30. 97. 112. 117.
199. 200
Gozzi 65 f.
Gregor 89. 183
GriUparzer 21 f. 62. 72. 182 f. 187
Gross, Jenny 119
Grosse 102
Grüning 35. 115. 167. 177
Grunwald 202
Hajdu 170
Halbe 22
Halm. Alfred 21 f. 119. 187. 188
Halm, Friedrich 112
Hardt 98 f. 128. 146
Hartau 92
Hartleben 108
Hartmann, Ernst 36
Hauptmann 16. 98. 112. 174f. 192f.
Hebbel3.21.76.90f. llOf. 173.185f.
Heimann 110. 170f.
Heimburg 98 f.
Heims 81. 164. 189
Heine, Thomas Theodor 74. 86
Hell, Ludmilla 44
Hempel 89. 138
Hennequin 135
Henrich 41
Hermann, Georg 93 f.
Herterich 35. 57. 178
HofFmann, Baptist 88.
Hoffmann, E. Th. A. 70. 96
Hofmannsthal 22. 30. 48. 84 f. 102.
103 f. 197
Hofmannswaldau 102
Hollaender, Felix 23 f. 80 f. 130.
174. 189
Hollaender, Victor 74. 168
Holm, Korfiz 42 f. 71
Homer 128
Hülsen 84. 115. 183
Ibsen 21. 76. 98 f. 175
Ilgenstein 136 f.
Jekels, Zoe 187
Junckermann 122
Kadelburg 44. 71
Kainz 30. 190f.
Kant 72
Kautsky 58
Kayßler 19. 82f. 110. 115. 154. 174
Keller 98
Kessler 183
Kleist 2. 3. 21. 23f. 76. 98f. 112
Knüpfer 88
Koppel.Ellfeld 183
Körner 112
Kotzebue 2
Kraußneck 26f. 58f. 113f. 184
Kruse 101
Kühne, Friedrich 41. 69. 150
Kupfer, Margarete 82. 150
Kurz, Emilie 69
Landau, I. 58 f.
Lantz 118
Laube 1
Lehmann, Else 146. 178
Lemaitre 179
Leopold 72
Lesage 31
Lessing, Emil 34. 145
Lessing, Gotthold Ephraim 46. 80 f.
Lichtenberg 165
Lieban 138
Liebermann 200
Liliencron 37
Lind, Emil 22. 92
Lindau 2. 3. 23 f. 71. 115. 134. 182
Lindner, Emil 39. 80. 158
Loehr 22. 92
Loewenfeld, Max 37
214
Loos, Theodor 178
Lossen 35. 103
Louvet de Couvray 87
Ludwig, Maximilian 81
Lully 179
Mann. Heinrich 75 f. 96
Mann, Thomas 43
Marholm 208
Matkowsky 23. 28. 30. 113. 190
Mayer. Gina 174. 201
Mayer. Maria 146
Meinhard 37. 94
Mendelssohn 65
Metenier 38
Misch 126
Mitchell 135
Mitterwurzer 190
Moissi 12. 28. 50. 68f. 81. 106. 115.
130. 133f. 150. 163. 174
Moliere 96. 178 f.
Molina, Tirso di 41
Monnard 57. 141
Moser 178
Mozart 90. 138
Muck 88
Nansen, Peter 130 f.
Nast, Minnie 88
Nestroy 185 f.
Niemann, Hedwig 38
OfFenbach 168 f.
Osten, Eva von der 88
Ottenheimer 191
Pagay 69. 82 f.
Pallenberg 169 f.
Paschen 74
Patry 112. 115
Paul, Jean 34. 74
Philippi 38. 60. 125f
Plutarch 192
Pohl, Max 58 f. 184
Polgar 16
Poppe 23. 27 f. 59.
Poppenberg 54
Prasch 37
81. 114f. 184
Raimund 34. 190
Reicher 141. 145. 177
Reinhardt 7 f. 18 f. 23 f. 37. 39. 46 f.
65 f. 87. 89. 98. 103 f. 115. 120.
130. 139. 147 f. 154. 158. 1591.
166. 168f. 173f. 177. 178f. 183.
202 f.
Rembrandt 30
Renier 155
Ressel 26
Rettich 184
Revy 187
Rivoire 188
Robert, Eugen 37
Roda Roda 169
Roller 87
Rosen, Lia 19. 27
Rössler 122 f.
Sabo 121
Sachs, Hans 104
Salfner 22. 75
Sand 208
Sarcey 178 f.
Sardou 2. 36. 38. 77
Saudek 119
Sauer 34 f. 154. 202
Schanzer 120
Schiller 2. 21. 64 f. 112. 199
SchiUings 85
Schmidt, Lothar 44. 136 f.
Schmidtbonn 127
Schlegel, Friedrich 208
Schnitzler 22. 52f. 71. 76f. 1391.
Schönfeld, Franz 36
Schönherr 100. 139f.
Scholz, Wilhelm von 39 f.
Schuch 87 f.
Schultz, Richard 168
Seebach, Graf 87
215
Serda 44
Shakespeare 50. 61. 147 f. 161 f.
Shaw 12. 62 f.
Siebert 158
Siems, Margarete 88
Sommerstorff 58 f.
Sonnenthal 70
Staegemann 28
Stern, Ernst 42 f. 6r5
Sternheim 10. 94 f.
Stieler 35. 145. 177
Strauß, Richard 84 f.
Strauß, Rudolf 3 f. 187
Strindberg 116f. 155 f. 175. 193
Sudermann 3. 58 f. 76 f. 99 f. 126
Sussin 146. 177
Terwin 134. 150. 163
Thimig, Helene 27. 113. 184. 201
Thomas, Emil 191
Tieck 54
Tiedtke 70. 82
Tolstoi 151
Trebitsch 61
Triesch 57. 103. 141. 150. 158
Unruh 107
Valetti 74
Vallentin, Hermann 183
Vera 19. 150
Verdi 90
Vollmer 29. 191
Vollmoeller 10. 47 f. 64 f. 179 f.
Voltaire 46
Wagner, Erika von 22 f. 74. 92
Wagner, Richard 15. 73. 74. 111.
199
Wassermann 70. 110. 150. 163 f. 189
Wedekind, Frank 155. 202 f.
Wedekind, Tilly 209.
Wegener 4 f. 12. 27. 41. 83. 110.
115. 130. 174
Wied 165 f.
Wilamowitz*MoeIlendorfF 45 f.
Wilbrandt 60. 101
Wildenbruch 17. 100
Wilken, Heinrich 120
Willig 26. 114
Winterstein 20. 41 f. 81. 106. 110.
115. 150
Wolff, Julius 98
Wolff, Pierre 160
Wüst 119. 188
Ysaye 192
Zelnik 158
Ziegel 74. 92
Zimmerer 183
Zola 31. 175
216
DIE SCHAUBÜHNE
Wochenschrift für die gesamten
Interessen des Theaters
Herausgeber: SIEGFRIED JACOBSOHN
Stimmen der Presse:
Maximilian Hardens Znknnft. Die .Schaubülme' ist die beste deutsche Theaterzeit-
schrift, die wir besitzen; eine der am würdigsten redigierten Zeitschriften. Ein Golf-
strom: I<ebendigkeit, Wärme. Geistigkeit, Kampf, Witz, Seele geht von ihr aus. Vieles,
was sie totschlug, kann nie wieder auferstehen, vieles, was sie lebendig machte, nie mehr
sterben. Fast alle jungen Dichter und Schriftsteller sind irgendwann in den Jahrgängen
der .Schaubühne' vertreten. In die Werkstatt großer Schauspieler dürfen wir blicken, in
Vers und Prosa geben sich Zartheiten und schamhafte Tiefen von unübertrefElichem Reiz.
Dresdner Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens dieser Zeitschrift, die damals
bereits an dieser Stelle mit Anerkennung begrüßt wurde, muß nachdrücklich betont
werden, daß wir in Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der ,Schau-
bühne' an Schärfe und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und glänzenden Auf-
sätzen vorangestellt werden kann. Sie ist unsere beste Theaterzeitschrift. In jahrelanger
aufmerksamer Prüfung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder Freund einer ehr-
lichen, freien imd eindringenden Kritik wird die ,Schaubühne' mit Genuß und reich-
lichem Nutzen lesen.
Hannoverscher Courier. Recht verschiedene Geister sind es, die sich hier im Rahmen
einer Zeitschrift zusammenfinden, aber eins eint sie: sie alle reden mit dtirchaus persön-
lichen Akzenten; es sind sämtlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber folgen als dem
Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im Ton der Leidenschaft, des Fanatismus.
Der Inhalt des Blattes ist in hohem Grade maimigf altig; auch die Form unterhaltsam
und abwechslungsreich.
Mannheimer Generalanzeiger. Die , Schaubühne' ist von allen Theaterzeitschriften die
aparteste, lebendigste imd anregendste. Siegfried Jacobsohn gibt sie heraus. Er ist von
denen, die heute über Theater schreiben, der einzige, der wirküch Kritik hat. Seine ganze
Absicht geht auf eine möglichst scharfe und schlackenlose Herausarbeitung der rein künst-
lerischen Werte, die die unendliche Mamugfaltigkeit der heutigen Theaterwirklichkeit
durchdringen. Von einer Idee für eine Idee, lücht von sich für sich zu schreiben, das
ist das Woher und Wohin seiner kritischen Art.
Nene Zürcher Zeitung. Die , Schaubühne' ist ein frisch redigiertes, inhaltlich an-
regendes Organ für alles, was näher oder femer mit der Bühne Lq deutschen Landen wie
im Ausland zusammenhängt. Sie ist eine jener Zeitschriften, die man stets gerne in die
Hand nimmt, weil man stets sicher ist, irgend etwas zu finden, was Interesse und Nach-
denken weckt, und die auch zu gesundem Widerspruch reizt.
Leipziger Tageblatt. Die .Schaubühne' verdient das Lob, eine unsrer besten Zeit-
schriften imd \inter denen, die sich mit dem Theater und der dramatischen Kunst be-
schäftigen, weitaus die beste zu sein.
Vierteljährlich Mk. 3^0, jährlich
Mk. 12.-, Einzelnummer 40 Pfg.
Probenummem gratis und franko
VERLAG DER SCHAUBÜHNE, CHARLOTTENBURG
SIEGFRIED JACOBSOHN
DAS THEATER
DER
REICHSHAUPTSTADT
IX und 154 Seiten
Stimmen der Presse:
Maximilian Harden in der Znknnft. I<est es; Ihr werdets nicht bereuen. Der Be-
trachter beweist auf jeder Seite eiferndes Verständnis für die Sache; auch den ernsten
Willen, gerecht zu sein.
Altonaer Tageblatt. Die Anordnung des Materials zeugt von großem historischen
Verständnis. Das Buch ist ebenso geistreich wie belehrend tind hält, was es in der Ein-
leitung verspricht.
Literarisches Echo. Die Charakteristiken der Bühnen und künstlerischen Richtungen
sowie einzelner Schauspieler sind sehr treffend in ihrer Knappheit; das Urteil bleibt
immer ruhig und sachlich.
Neue Zürcher Zeitung. Nirgends wird der I,eser durch weitläufige Quellenstudien
ermüdet, imd doch hat er überall die Empfindung, von einem wohlunterrichteten Ver-
fasser geleitet zu werden. Was besonders angenehm berührt und die Lektüre des Buches
zu einem Genuß macht, ist die stilistische Gewandtheit des Verfassers, seine prägnante Form.
'Wiener Montagszeitung. Auf dritthalbhundert Seiten gibt Jacobsohn einen gedrängten
Abriß der berliner Theatergeschichte von 1870 bis 1904. Alles wirbelt in kaleidoskopischer
Bimtheit an uns vorüber. Und dabei urteUt Jacobsohn so klug, schsirf und treffend,
daß man von je himdert Worten getrost siebenundneunzig unterschreiben kann.
Der Osten. Jacobsohns ungemeine psychologische Begabung »md seine absolute Sach-
lichkeit — beides lehrt sein trefflicher Überblick über die Theatergeschichte Berlins während
des letzten Menschen aHers schätzen. In sechs sachkundig den Stoff zusammendrängenden
Kapiteln wird mit tiefer Einsicht und weitem BUck die Geschichte der berliner Bühnen
seit den Tagen des großen Krieges dargestellt.
Dramatorgische Blätter. Die einzelnen Strömungen, die Persönlichkeiten ihrer Führer
sind scharf charakterisiert, das Ganze ausgezeichnet durch ein ernstes Streben, eine hohe
Begeisterung für ein großes Ziel.
Breslaner Zeitung. Hier ist ein Plus an Reichtum des Ausdrucks, an bildnerischer
Kraft, an — niemals protzig verwandter — Gelehrsamkeit.
Preis 2 Mark
ALBERT LANGEN, MÜNCHEN
MAX REINHARDT
von
SIEGFRIED JACOBSOHN
Mit einem Portrait von Max Reinhardt
und fünfzehn unveröfifentlichten ganzseitigen Illustrationen
nach Inszenierungen des Deutschen Theaters in Berlin
XII und 175 Seiten — Zweite Auflage
Stimmen der Presse:
Maximilian Harden in der Zukunft. Ein Buch, in dem mit tapferer junger Begeiste-
rung der Versuch gemacht wird, aus einer Kritikenreihe wie von selbst das Büd des
stärksten deutschen Theaterleiters sich gestalten zu lassen; ein Buch, dem die beste
Eigenschaft, die Liebe zum Objekt auch der im einzelnen anders Empfindende nicht
absprechen kann.
Bohemia. Wir lernen Reinhardt von seinen begeisterndsten Seiten kennen und lernen
zugleich die Schönheit einer Begeistenmg kennen, die von ihrem Gegenstand so viel
Klares imd Beweiskräftiges auszusagen hat.
Pester Lloyd. Ein außerordentüch interessantes, höchst instruktives Dokument.
Mannheimer Tageblatt. Wer den Verlauf von Reinhardts berliner Tätigkeit \md die
Entwicklung seiner Regiekunst verfolgen will, der greife zu diesem Werk aus der zu-
ständigen imd fachmännischen Feder des bekannten berUner Theaterkritikers.
Württembergische Zeitung. Mit glänzender DarsteUungsktmst gibt Jacobsohn seine
Eindrücke von den größten darstellerischen Taten Reinhardts veieder. Überall begegnen
wir einem scharfsichtigen Urteil, einem tiefen Erfassen, einem glühend lebendigen Gestalten.
Prager Tagblatt. Jeder, der den klugen, schnörkellosen imd doch durch Innere Fein-
heiten überraschenden Stil Jacobsohns schätzt, wird das Buch in einem Zuge auslesen,
als wäre es ein Roman.
Heidelberger Neueste Nachrichten. Ein Buch, das auf jeder Seite das lautere imd
gerechte Urteil eines von sachlichstem Ernst und innerUchstem Kimsteifer beseelten
Kritikers gibt.
Die Aktion. Ich halte Jacobsohn für den bedeutendsten lebenden Theaterrezensenten
Deutschlands.
Frankfurter Zeitung. Jacobsohns Buch wird als ein im Jubel wie im Tadel stets ab-
geklärtes Dokument der jüngsten deutschen Theatergeschichte seinen Wert behalten.
Rheinische Musik» und Theaterzeitung. Jacobsohn ist vielleicht der einzige berliner
Kritiker, der in Sachen des Dramas und der Bühne seine Stimme im Vollbewußtsein einer
spezifischen Überlegenheit erheben darf; der einzige, der zum Theaterkritiker geboren ist.
Die Zeit. Das Feinste und Herzlichste, was Jacobsohn zu sagen hatte, war immer den
Bühnen Reinhardts gewidmet. Es ist ein Buch auch für die Zukunft, ein Quellenwerk
für einen neuen Devrient.
Der neue Weg. Diese dreißig Kapitel sind von meisterhafter Knappheit und Geschlossenheit.
Hamburger Nachrichten. Jacobsohn , dieser stets frappant Sachkundige, zeichnet
schöpferisch nach, führt Andeutungen aus. Wenige besitzen so reiches und reifes Ver-
ständnis für Regie, Spiel, Dichtung.
Breslauer Morgenzeitung: Das Werk, das die stilistischen Vorzüge und die drama-
turgischen Kenntnisse seines Verfassers ins hellste Licht setzt, wird jedem Theaterfreunde
und jedem Theaterfachmann vollkommen sein.
Broschiert Mk. 5.-, gebunden Mk. 6.50
ERICH REISS VERLAG, BERLIN W 62
^
1
•
:n
•
o
«J
•r'j
I
CO
^
t>
tn
CO
■■.
r^
•
O
>
^
TJ
<J>
«
•t4
Q>
fa
$3
Vü
si
HO
::3
«
cq
•»*
CO
U
«
-d
c
Ä
ti
o
Ä
Ol
ei
^
•->
o
o
09
c$
Ol
»-»
O
u
o
a>
3
■M
<
H
ÜNIVERSITY OF TORONTO
LIBRARY
Acme Library Card Pocket
Under Fat. " Ref. Index File."
Made ty LIßRAKY BUEEAU
O 00